[Beta Ver.] CONDENSE von YukihoYT (An jenem schicksalhaften Regentag) ================================================================================ Prolog: Vol. 1 - Das bin ich, zumindest glaube ich das. ------------------------------------------------------- Wie jede Biografie eines Teenagers, der den ganzen Tag Selbstmonologe führt, beginnt auch meine damit, dass ich anders bin. Allein. Leer. Unvollständig. Das Übliche eben. Es gibt Dinge, von denen man glaubt, sie seien eben nur normal und langweilig, zum Sterben gewöhnlich, aber dann dreht sich alles um dreihundertsechzig Grad und du fragst dich, ob überhaupt irgendwas in deinem Leben genau das ist, wonach es aussieht und ob du genau der bist, für den du dich hältst. Du bist nie allein das, was du selbst glaubst, dass dich ausmacht. Du bist anders. Und dieses Anderssein befindet sich im stetigen Wandel seiner Selbst. Niemand bleibt gleich, auch ich war da keine Ausnahme. Ich bin nicht derselbe wie damals. Das ist keiner. Im Laufe dieser Geschichte haben sich alle Menschen irgendwo, wenn auch nur ein wenig, verändert. Manche dieser Veränderungen waren schleichend, während andere wiederum markerschütternd in ihrem Vorgang waren. Manche Teile dieses Lebens, welches ich mein Eigen nenne, waren so markerschütternd, dass diese Veränderungen sogar physische Spuren auf mir hinterließen. Fast schon könnte ich sagen, dass ich bereue, die Geschichte so zäh und austauschbar angefangen zu haben. Obwohl, was heißt bereuen? Es beginnt doch fast jede Geschichte mit dem Alltag, der sich kaum vom Gestern oder Vorgestern unterscheidet, dann explodiert etwas, in welcher Form auch immer und man kann nicht mehr aufhören zu lesen. Denk an dich und frag dich dann, was passiert, wenn alles, was du je zu kennen gemeint hast, niemals das war, als das es sich ausgab. Denk daran, was du fühlst, wenn du die allzeit versteckten Narben deiner Mitmenschen siehst, die so übel zugerichtet sind, dass du es kaum fassen kannst. Nachdem ich mich zurück in die Realität gekämpft hatte, war es schwer für mich, mit der Wahrheit hinter ihr klar zukommen. Nachdem ich glaubte, ich wüsste jetzt über alle Tatsachen und Details Bescheid. Als ich glaubte, alles sei okay, ich habe ja mein Bestes getan.   Ich rede nicht von physischen Verletzungen, sondern von den Schicksalen der eigenen Mitmenschen, die man oft nicht ansatzweise kennt, ja, welche teils sogar erfunden und erlogen sind, nur um die schwachen Nerven vor dem Kollabieren zu schützen. Mein Vergangenheits-Ich, dass sich mit seinem Dasein abgefunden hatte, denkt, dass es leer sei und ich als die Zukunfts-Version stimme ihm unverblümt zu. Es ist leer. Es trägt nicht nur eine Fassade, es ist eine. Es schreibt Bestnoten, zeigt nie, wie es denkt und lebt nur dafür, perfekt zu existieren. Etwas anderes hat es nicht. Keine Träume, nichts, wofür es sich zu kämpfen lohnt, zumindest nicht zu Anfang dieser Zeit, die sich später als die mit Abstand größte Lebenslektion meines Daseins entpuppte.   Familie und Freunde hin oder her, das ist doch so ziemlich der Standard der Gesellschaft. Dennoch gibt es Menschen, die dies nicht haben. Aber diese Person, meine Wenigkeit, gehört glücklicherweise zu diesem Standard. Was jedoch nicht heißt, dass sie auch glücklich ist. Wenn man sich trotz circa acht Milliarden Menschen auf der Welt wie der letzte seiner Art fühlt, dann ist das nicht schön. Wenn man nur noch lebt, um seinen Platz zu vertreten, dann ist das nicht schön. Dann ist das alles wertlos. Als selbstbewusstes Blumenglas mit Blumen so schön wie Jennifer Lopez zu zerbrechen und seine eigenen scharfen Scherben wieder aufzusammeln, ohne verletzt zu werden, ist schwerer als man glaubt. Über sein eigenes Schicksal und über die eigene Vergangenheit am wenigsten zu wissen, ist nicht leicht.   Das Leben eines jeden Menschen gleicht einer Vase. Fällt diese Vase auf den Boden und zerbricht, siehst du die einzelnen Bestandteile von diesem und erst dann wie scharf und gefährlich manche von ihnen wirklich sind. Wie sehr man sich an ihnen schneiden kann, hast du ja nicht wissen können. Diese Bestandteile sind das, was dein Leben zusammengehalten hat. Meist erst wenn es zu Bruch geht, sieht man welche in ihrer wahren Form. Als ganze Vase kannst du oft keine solchen Scherben sehen. Und selbst wenn doch, haben jene Scherben vielleicht eine ganz andere Form, wenn alles in Scherben vor deinen Füßen liegt. Und gleichzeitig heißt das alles noch lange nicht, dass alles verloren ist. Nichts davon ist ein unumstößliches Game Over. Solange es genug Sekundenkleber, auf der Welt gibt, ist jede Vase wieder einigermaßen zusammensetzbar. Diesen Sekundenkleber bilden die Mitmenschen deines Lebens, die dich lieben und die du wiederum liebst. Die daraus resultierende Hoffnung. Deinen Glauben an dich und an ein Happy End. Ich habe selbst gespürt, wie alles zerfällt, ich habe alle Formen der Scherben gesehen. Auch welche, deren Form mir nicht gefällt und die ich mir anders vorgestellt habe. Dennoch habe ich es geschafft, alles wieder dorthin zu platzieren, wo es hingehört. Selbst wenn es Probleme gab und geben wird, die Sekundenkleber nicht lösen wird, selbst, wenn es Vasen gibt, die Sekundenkleber in unserer Welt nie wieder vervollständigen kann. Man darf nicht aufgeben, daran zu glauben, dass es besser werden kann. Lügen können form- und erweiterbar wie Knete sein. Für den Anfang angenehm und zufriedenstellend für alle Beteiligten. Wenn du dich geschickt genug anstellst, kann dich die Lüge, die du immer weiter ausschmückst und ergänzt, zu Orten bringen, von denen ehrliche Menschen nicht den Hauch einer Ahnung haben. Doch nichts von diesem verlogenen Leben könnte dich jemals erfüllen, wenn du ganz ehrlich mit dir bist. Das menschliche Gewissen, das Herz, ist nicht im Stande, so eine schreckliche Last zu tragen. Nicht deins, nicht meins, von niemandem. Es tötet dich von innen, so ein Leben willst du nicht führen. Und da ist es völlig egal, wie scharf die Scherben sind, die die Wahrheit darstellen. Wahrheit, Lüge, beides kann in der einen auf der anderen Sekunde zerbrechen. Die Wahrheit bricht für den Gegenüber, wenn du dich dafür entscheidest, zu lügen. Doch bricht die Lüge und die Wahrheit kommt zurück, rächt sie sich auf grausame Weise, manchmal milder, manchmal schlimmer. Und trotz dessen, dass die Wahrheit das Leben, wie es bekannt und geliebt ist, so schrecklich auseinanderreißen kann, gilt es, sie zu wahren und zu beschützen, um die belogen Seelen vor weiterem Schaden zu bewahren. Am Anfang der Geschichte dachte ich, mein Leben würde sich nur in eine romantische Komödie aus einer einsamen Person der Beliebtheit, dessen vollbusige Freundin und dessen fast normales Leben verwandeln. Du weißt schon, Romantik, Zärtlichkeit, Spaß und hin und wieder etwas Streit und Drama. Rivalitäten unter Jungs, Intrigen innerhalb der eigenen Familie, die ersten angefassten Brüste. Das Übliche eben. Spoileralarm, das ist es nämlich wirklich nicht. Zumindest nicht nur. Ab einem bestimmten Zeitpunkt entpuppte es sich als mehr Thriller und Drama als ich es je zu Träumen gewagt hatte. Und genau dieser naive Wunsch, der durch das Unglück des Zufalls erfüllt wurde, führte dazu, dass ich fast draufgegangen bin. Wie sollte ich diese Tragikomödie meines Lebens denn also nennen? Das hier ist schließlich eine Biographie. Wenn ich so drüber nachdenke, dann kommt mir folgendes in den Sinn:   Eine melodramatische Mischung aus der ersten Liebe, Seitensprünge, Tod, Essstörungen und dem Bedauern, machtlos zu sein. Über ein Leben, dessen Lüge sich schlussendlich in eine Wahrheit verwandelt hat.  Eine Achterbahn des Entsetzen. Eine Geschichte darüber, wie du durch Unfälle und eigene Verletzungen, dich und andere Menschen verletzen kannst, sind sie dir auch noch so wichtig. Eine unzensierte Berichterstattung über das Leben und all seine Schattenseiten. Die beste und gleichzeitig schlimmste Sitcom, die je ausgestrahlt wurde. Alles und nichts. Das Leben vereint alle Genre die es gibt zu einem einzigen. Das war schon immer so und ich wusste es schon immer. Das ist eine Geschichte übers Leben.   Ein Leben voller Lügen und Fragezeichen, bei dem ich des Öfteren fast vergessen hätte zu atmen. Das Übliche eben. Kapitel 1: Vol. 1 - "Hinedere" Arc: Die Welt, in der ich lebe. -------------------------------------------------------------- Eine Schicht aus Eis ummantelt meine Knochen. Das ist, wie es sich anfühlt. Nichts als Kälte umgibt mich und gleichzeitig verbrenne ich. Ich spüre mich schwer nach Luft ringen. Meine Lungen bersten dabei fast. Schweiß läuft meine Schläfe hinab, in meinem Hals herrscht nichts als staubtrockene Dürre. Mein Kopf schmerzt unerträglich und mir ist, als müsste ich mich übergeben. In absoluter Aufruhr schlägt mein Herz so schnell, dass ich befürchte, es überschlägt sich sogleich.   Absturz, Absturz, Absturz!   Beim kopflosen Versuch, nach Tabletten zu greifen, werfe ich den mundtoten Wecker zu Boden und die Tablettenpackung gleich mit.   Zu früh, zu erbärmlich, zu unbefriedigend!   Das Gesicht immer noch in der einen Hand vergraben, suche ich den Boden mit der anderen nach den Tabletten ab.   Nicht so! Nicht jetzt! Er darf so nicht sterben!   Die Packung erfolgreich in meiner Hand spürend, hole ich sie hervor, richte mich auf und nehme welche.   Vorsichtig entfaltet die Wirkung ihren Zauber und der Körper entspannt sich wieder. Alles sieht wieder so aus, wie man es in Ordnung nennt.   Wie viele das sind, weiß ich nicht genau, aber solange die Zahl nicht im zweistelligen Bereich liegt, wird der seltsame Junge vermutlich noch unter ihnen weilen.   Sein Leben wurde erneut verlängert. Wäre das eben jetzt das Ende gewesen, hätten meine Schmerzen auch auf diese Weise ihr Ende gefunden. So, wie ich ihn gerade gerettet habe, habe ich meine Schmerzen auf eine Weise beendet, die auch weiterhin meine Effizienz erfordert.   Die furchtbare Unordnung in meinem Innern legt sich etwas und ich fühle mich wieder so, wie ich mich immer fühle. Mein bis in über beide Ohren schlagendes Herz lässt sich weniger unerträglich ertragen und der Geruch von Schweiß und Tränenflüssigkeit versichert mir, dass ich auch dieses Mal nicht versagt habe.   “Netter Versuch, Alter, fast hättest du mich. Wäre das eben auch nur einen einzigen verdammten Deut schlimmer gewesen, wäre das hier wirklich das Ende gewesen.”, flüstere ich leise zu mir selbst, wissend dass jemand zuhört und hämisch über mich lacht.   Dieser Schlaf war hundsmiserabel, unterirdisch, um mal ganz genau zu sein. Es war schon wieder einer Träume. Träume, die eigentlich überhaupt keine sind. Einbruch in meinen Seelenfrieden, auflauernde Patrouille, Heimsuchung, nenn es, wie du willst. Vorkommnisse wie diese sind reines Gift für jemanden wie mich. Für jemanden wie mich, der in dieser Welt niemals vorgesehen war zu existieren. Die damit einhergehende Erschöpfung, die ich aus diesem Dasein heraus empfinde, wird dadurch zu einer herzzerreißenden Last, mit der zu leben ich nicht stark genug bin. Warum ich ich so komisch betont habe? Weil vom Jungen, der da liegt, nur das Fleisch übrig ist und ich als Parasit nach zwei Jahren endgültig aufgegeben habe, das zu bekommen, was diesen Menschen von mir unterscheidet. Es vergeht kein Tag, an dem mir das nicht bewusst ist und es vergehen noch weniger Tage, an denen ich nicht mein Bestes gebe, trotz dieser Tatsache. Ich sehe aus dem Fenster und streiche eine verklebte Strähne aus dem Gesicht.   “Die Sonne scheint, das Aquarium ist sauber.¹”, murmle ich belanglos vor mich hin, einfach, weil ich es kann.   Ebenso belanglos schaue ich zu mir herab, wie ich da verschwitzt und ekelerregend verweile wie ausgeschissen.    “Aber ich bin es nicht.”, seufze ich, zwinge mich aus den Federn und mache mich auf den Weg in die Dusche.   Ich lebe und tue so, als wenn es weder die Narbe, die mich ziert, noch die Amnesie, noch die zusammenhangslosen Sequenzen aus meinem vermeintlichen Leben, je gegeben hätte.   Ich ziehe mich aus, schließe die Glastür hinter mir und gebe mich dem eiskalten Wasser hin. Ein erschrockenes Quietschen entfährt mir, aber schlussendlich ertrage den Kälteschock "wie ein Mann".  Ich habe mal im Fernsehen gehört, wie das jemand sagt.  Wie immer gewöhne ich mich langsam an die gnadenlose Temperatur und fange an, sie zu genießen.  Das kalte Wasser entfacht seine Wirkung.  Es erfasst meine Haut, wäscht den Schweiß von ihr und taut mich aus dem Schlaf aus. Ich schließe die Augen und seufze. In der Dusche, nass, nackt und verletzlich die Augen zu schließen, fühlt sich auf eine verstörende Art gut an. Ich spüre, wie ich wach werde und mein Kreislauf angekurbelt wird. Es ist wieder einer der Momente, in denen ich die Existenz in ihrer vollen Heftigkeit spüre. Die neutrale Temperatur des Boden unter meinen Füßen. Die kalten Wandfliesen hinter meinem Rücken.  Das Blut, dass in seinen alltäglichen Stundenkilometern durch meinen Körper schießt. Als wäre allein das Haften von Fleisch auf Knochen schon eine Schwerstarbeit. Ich werde wach. System fährt hoch. Dies kann einige Minuten dauern. Dann öffne ich die Augen und drehe das Wasser ab.  Ich bin wach. Ich bin startklar. Auf einen weiteren weiteren effizienten Tag.   Bereit, mich der Außenwelt aufs Neue auszusetzen, steige ich aus der Dusche und begegne dem Gesicht im Spiegel. Ich putze die Zähne, kämme die Haare und trage Deo auf. Schließlich wische ich die letzten Reste Zahnpasta aus diesem Gesicht und finde, dass ich so unter die Leute treten kann. Die Morgenhygiene ist wichtig für Menschen, die unter andere Menschen treten.  Alles erledigt verlasse ich die Wohnung.  Gefrühstückt habe ich nicht. Ich werde mir wohl unterwegs was holen müssen.  Als ich draußen bin, checke ich seine Nachrichten im Gehen. Eine Sprachnachricht vom Bruder des Jungen. Sogar noch brandneu.   "Morgen, Bruder, sorry, dass ich dich nicht wecken konnte, die Party von Hide ging irgendwie länger als wir erwartet haben und dann war da das Bier, ich bin eingeschlafen und... Du kennst die Geschichte, ich habe es gestern nicht nicht Hause geschafft. Muss zur Uni, bye!",   Über diese Sprachnachricht kann ich nur den Kopf schütteln. Welcher Vollpfosten geht denn bitte feiern und lässt sich volllaufen, wenn er am Morgen darauf wieder früh raus muss? Ach ja, dieser Kerl. Irrationaler Vollidiot, denke ich und folge dem unsichtbaren Pfeil, der mich zur Schule bringt.   ***   Bei der Kreuzung treffe ich, wie auch an fast jedem anderen Schultag auf die zierliche, blonde Schönheit, die meinen Schulweg ein Stück weit teilt. Hanako Hanazawa, man kennt sich und man kennt sich auch nicht. Als sie mich sieht, funkelt sie mich wie immer kurz böse an, ehe sie wieder so tut als wäre ich nicht da. Da gibt es kein “Hallo.” oder “Guten Tag.”, wir fragen einander auch nicht, wie gut oder schlecht wir jeweils geschlafen haben. Wir sprechen nicht besonders viel oder vertraut miteinander. Weder sie noch ich haben ein besonders großes Bedürfnis dazu. Aber sie erweckt heute irgendwie einen besonders wütenden Eindruck, weswegen ich frage:   “Und, wie waren deine Ferien so?”,   “Was interessiert es dich?”,   “Der Punkt geht an dich.”,   Stille. Es wäre sinnvoll, an der Stelle zu erwidern, dass sie "mich" nicht besonders mag. Was nicht besonders tragisch ist, weil ich sie auch nicht besonders mag. Sie ist hübsch, mehr Nettes kann ich über sie nicht sagen. Zickig, herablassend und eingebildet zu sein, wirkt nicht gerade anziehend und trotzdem hört sie einfach nicht damit auf. Es ist ja nicht so, als hätte ich ihr irgendwas angetan oder so. Ich kann Tsundere² nicht ausstehen.   “Kyokei-chan³! Hanazawa-san⁴!”, höre ich den Softie unserer Gruppe nach uns schreien, als er und die anderen zwei der Gang auf uns stoßen. Shuichiro Fujisawa, ein guter Freund des Jungen. Das Küken unserer Gang.   “Guten Morgen, Fujisawa-kun.⁵”, begrüßt sie ihn und sieht viel freundlicher aus als wenn sie mit mir spricht.   “Kyokei-san, du kannst ja immer noch keine Krawatten anständig binden.”, macht sich der Schlaue von uns sanft über mich lustig. Kaishi Kazukawa, ebenfalls ein guter Freund des Jungen. Der Vernünftige in unserer Gang.   “Ich gab mein Bestes.”, kontere ich.   “Ach, Kyocchi⁶, da gibt es Wichtigeres. Wie zum Beispiel, endlich mit der süßen Hanazawa auszugehen!”, macht sich der Idiot von einem Sozusagen-Anführers bemerkbar. Akira Egaoshita, erklärte sich selbst zum besten Freund des Jungen. Der unabdingbare Idiot in unserer Gang.   “Du spinnst ja wohl komplett, Egaoshita-kun! Was soll ich denn mit so einem?!”, schimpft das Mädchen und wird rot.   “Ach, komm schon, habt euch nicht so, wir sind jetzt im dritten Jahr der Oberschule. Da könntet ihr ruhig ein bisschen lustiger drauf sein.”,   “Wie schon gesagt, da läuft nichts zwischen uns!”, lasse ich ihn nur geringfügig strenger wissen, während Hanazawa, wie es ihrer Art entspricht, es förmlich ausspuckt.   “Ich fände es nicht schlimm.”, denkt Shuichiro “laut”.   “Fujisawa-kun, ich zeig’s dir gleich!”, droht sie, dieser erschreckt sich und versteckt sich hinter Kaishi.   “Dann lass uns mal zur Schule gehen, ihr überreifen Kindsköpfe.”, schlägt dieser vor und das tun wir dann auch.   Diese Leute sind gewollt oder ungewollt fester Bestandteil dieses Lebens. Sie sind Nebencharaktere, die ein bisschen weniger irrelevant sind. Hauptcharaktere, sozusagen.   Wir kommen an der Schule an. Wir wissen, wo wir hin müssen. Zu den Schildern, auf denen steht, wer in welcher Klasse ist. Ein paar bekannte und ein paar unbekannte Gesichter drehen sich nach mir um, als ich in ihrem Blickfeld erscheine. Sie winken, ich winke zurück. Die wenigen Ausnahmen, die mich nicht begrüßen, laufen entweder rot an, eilen weiter oder tun beides gleichzeitig. Auch das ist völlig bedeutungslos. Es ist nun einmal die Welt, in der ich lebe. Wir drängeln uns so vorsichtig wie es geht weiter nach vorne, um erkennen zu können, in welche Klasse wir müssen. Als ich noch ein wenig näher trete, stoße ich aus Versehen mit einem Mädchen zusammen. Gerade will ich mich bei dem Mädchen entschuldigen, da kommt es mir diesbezüglich zuvor.   "Bitte verzeih, ich habe dich nicht bemerkt. Einen guten Morgen, Kyokei-kun.", begrüßt mich das Mädchen, welches sich als Otosaka herausstellt.    "Das war mein Fehler. Guten Morgen ebenfalls, Otosaka.", erwidere ich. Rei Otosaka, ich kenne sie oberflächlich.   "Wie es scheint, sind wir dieses Jahr in einer Klasse.", lässt sie mich wissen und ihre Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben.   "Wie es scheint, sind wir das.", wiederhole ich quasi, was sie gesagt hat, weil mir nicht einfällt, was ich sonst tun sollte und mir das eigentlich relativ egal ist.   "Ich frage mich, ob ich es auch dieses Jahr schaffe, Klassensprecherin zu sein, jetzt wo wir im letzten Jahr sind.", seufzt sie leise, ohne dass es meines Erachtens nach einen Grund dafür gäbe.   "Ich wüsste nicht, warum es dieses Jahr anders sein sollte. Schließlich ist es dieselbe Otosaka, von der wir da sprechen.", gebe ich unüberlegt einen Kommentar ab, der aber so einen Einfluss auf ihr sogenanntes Empfinden hat, dass das Strahlen ihrer Augen sich in meine Netzhaut einbrennt.   "Das denkst du wirklich? Das freut mich sehr.", sagt sie und das überhaupt nicht so aufgedreht wie ein verliebtes Mädchen oder ein kleines Kind, sondern einfach wie jemand, der schlicht und ergreifend einfach das ist, was man "glücklich" nennt.   "Es ist nichts dabei, die Wahrheit zu sagen, egal wie sie aussieht.", finde ich und hoffe, mich bald aus der Affäre ziehen zu können.   "Genau aus diesem Grund hast du keine Freundin.", findet sie zurück und grinst dabei verschmitzt. Nebencharaktere, die können manchmal wirklich genauso anstrengend sein.   ***   Klasse 3-6⁷ also. Wer weiß, vielleicht werde ich trotz all der leichten Enttäuschungen und niedrigen Erwartungen im Leben am Ende das, was man "glücklich" nennt. Immer reden alle von diesem Glück. Aber was heißt das eigentlich?  Immerhin uns der Schulabschluss bevor, immer wenn davon die Rede ist, sind alle so... verrückt. Die aus dem dritten Jahr, die ich die letzten beiden Male den Schulabschluss habe machen sehen, haben immer gelacht und geweint. Sie waren emotional. Sie waren das, was man "menschlich" nennt. Aber was heißt das eigentlich?   Im für uns vorhergesehenen Klassenzimmer angekommen, setzt sich Hanazawa an den erstbesten Platz an der Tür vorne hin, während ich mit den Beatles⁸ vier Plätze in der hintersten Reihe als die unseren erkläre. Wo wir gerade bei den Beatles sind, der Vorname des Jungen ist übrigens Elvis. Elvis Kyokei. Das ist mein voller Ernst. Wie der Gitarrist, dem King of Rock'n'Roll, der Mann, der mit ein paar anderen die Musikwelt eroberte, nur um dann einen Herztod zu sterben. Und nein, Kyokei ist tatsächlich sein Nach- und nicht sein Vorname. Die meisten, die seinen Nachnamen hören, glauben zunächst entweder, dass sei ein Künstlername oder sie denken an diesen einen Kampfroboter⁹ aus diesem Spiel für die PlayStation. Eine komische Kombination zu einem komischen Namen, aber beschwer dich doch bei den Eltern des Jungen, wenn du gewillt bist, deine Zeit zu verschwenden.   Katsuoka-sensei¹⁰ begrüßt die Klasse, der Tag nimmt seinen Lauf. Die Frau am Pult sagt ein paar Dinge, es wird getuschelt und draußen zwitschern die Vögel zu dem Fall der Kirschblüten. Viele glauben, sie würde Vergänglichkeit symbolisieren. Ob das stimmt oder nicht, kann meines Erachtens nach jeder für sich selbst entscheiden. Aber wie auch immer. Es gab eine Zeit, in der ich mir eingebildet hatte, der Junge, den sie alle sehen, eines Tages tatsächlich werden zu können. Die Erinnerungen zu bekommen, die mich von ihm unterscheiden. Seine Vergangenheit. Ich dachte, wenn ich wüsste, was er gedacht, was er gesehen, was er getan hätte, würde es leichter sein, sich durch seine Welt zu bewegen. Dass ich mich besser verhalten könnte wie er es tun würde, wüsste ich, wer seine Freunde waren, was seine Träume waren, was er alles mochte und was er alles verabscheute. Ob es in seinem Leben so etwas wie den sogenannten ersten Kuss, das sogenannte erste Mal und die sogenannte erste Liebe gab. Ich wollte den Menschen, den ich ersetze, wirklich so gut kennen, als wäre ich er. Als wäre ich selbst dieser Junge. Mit dessen Gesicht die Menschen mich wiedererkennen. Mit dessen Händen ich nach Dingen greifen, sie erschaffen, sie zerstören kann. Mit dessen Penis ich jeden Tag pinkeln gehe. Es war egal, dass ich nicht wusste, ob ich, falls ich mich an sein Leben erinnern würde, als Parasit verschwinden oder zu einer neuen Kreatur werden würde, die die Eigenschaften von sowohl des Parasiten als auch des Jungen in sich vereinte und mir der Gedanke, um ehrlich zu sein, ziemlich Angst eingejagt hatte. Das war alles, was ich hatte. Und bis es soweit war, tat ich einfach, was man von mir wollte. Ich war gehorsam und zog die Fäden der Puppe, während ich trotz allem, daran glaubte, eines Tages mit ebendieser Puppe eins zu werden. Ich dachte, wenn es erst einmal so weit sein würde, würde ich dann weitersehen. Das einzige Problem bei diesem Wunsch war sein Verfallsdatum. Zwei Jahre nach der Einlieferung des Jungen ins Krankenhaus, sagte man mir, dass ich mich vermutlich nicht mehr erinnern werde. Die Leichtigkeit, mit der ich den einzigen Traum, den ich jemals hatte, aufgab, überrascht mich, um ehrlich zu sein, bis zum heutigen Tag.   Versteh mich nicht falsch, ich höre immer noch zu. Okay, ehrlich gesagt, nein, eigentlich tue ich das nicht. Ich kann hören, was sie sagt, darauf eingehen, wenn die Situation es erfordert, aber um ehrlich zu sein könnte es mich im Moment nicht weniger interessieren.  Obwohl ich physisch für das Leben auf dem Land, der Welt gemacht bin, fühlt es sich an, als befänden sich mein Herz und mein Verstand an einem Ort weit weg von hier. Weil ich darauf programmiert und nicht dazu befugt bin, den Posten von Elvis Kyokei zu verlassen.  Ich tue Freunden und Familie von Elvis den Gefallen und gebe mein Bestes, meine Pflicht zu tun und diesen Platz einzunehmen. Das jährt sich bald. In wenigen Monaten tue ich das seit drei Jahren. Und ein wenig später bin ich offiziell ein erwachsener Mann, der tun kann, wonach mir der Sinn steht. Wie dieser Sinn aussehen soll, wie ich leben soll - ein ganz normales Leben - , weiß ich nicht. Ich kenne nur das hier. Den monotonen Alltag als Gastarbeiter unter den Menschen. Und eines Tages wird es vielleicht schwerer.  Was will ich tun, die nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahre?  Wie lange ertrage ich es, sein Leben bis zum Schluss zu führen, nur um zu behaupten, dass es genug ist, dass ich mein Bestes gegeben habe?  Wenn ich wie heute morgen fast an meinem bloßen Dasein sterbe, weil ich es nicht ertrage? Belüge ich mich selbst, wenn ich sage, dass ich bis in alle Ewigkeit damit zufrieden bin?  Wie sieht das Leben einer solchen Person aus? Werde ich mich der Einsamkeit widmen und vielleicht sogar reich? Wie Bruce Wayne oder so? Denke ich an die Vorlage eines der Norm entsprechenden Lebens und suche mir eine Frau? Werde ich Kinder haben? Werden die eventuell genauso wie ich sein und wäre ich verpflichtet, ihnen Fragen zu beantworten, die ich mir nicht einmal selbst beantworten kann? Wäre jemand wie ich ein guter Ehemann Schrägstrich Vater? Und viel wichtiger… würde irgendeine Frau da draußen, in der großen weiten Welt unter acht Milliarden Menschen, mich - den fleischgewordenen Roboter, den heimlichen Parasiten, ohne Mimik, Sinn im Leben und abgestumpft, eines Tages als den Betrüger entlarven und dennoch als das akzeptieren, was er ist? Jemanden wie mich, der eine andere Person aus ihrem Platz gedrängt, sie quasi indirekt umgebracht hat und den hinter dieser fremden Hülle niemand jemals finden wird - wirklich genauso nehmen und lieben, wie ich bin?   Und als hätte ich irgendwas mit diesem Gedanken provoziert, zerreißt ein Knall meinen Gedankenfluss wie ein Wolf das Schaf.   “V-verzeihung, Katsuoka-sensei, t-tut mir aufrichtig leid! Ich hatte nicht vor, am ersten Tag direkt- Aua!”, der Störenfried fällt hin und erschreckt unsere Lehrerin.   “Ist alles in Ordnung mit dir? Das war ein ganz schön kräftiger Klang!”, diese daraufhin.   “Tut mir leid, tut mir leid, tut mir-, Mann, ist mir schwindelig…”, stöhnt der Störenfried, der sich als vollbusiges Mädchen herausstellt.   Als dieses seinen Kopf hebt und ihr Blick sich mit dem meinen kreuzt, ringt sie dramatisch nach Luft.   “Ellie, du hier?!”, haucht sie fast tonlos. “Wie wild ist das denn? Du glaubst nicht, wie sehr ich dich sehen wollte! Das ist so lange her, ich muss mich erstmal beruhigen. Ich atme und atme und hoffe, du erinnerst dich noch. Ich zumindest tue es. Wie könnte ich auch nicht? Das ist wie Schicksal! Wie Nutellabrot auf dem Teppich! Wie auch immer, das wird langsam peinlich und ich wollte nur sagen, wie froh ich bin, dich wiederzusehen.”, mit einem Lächeln im Gesicht sackt sie in sich zusammen wie ein Spielzeug ohne Batterien.   “Failman-san? Failman-san! Grundgütiger, sie ist bewusstlos!”, bemerkt Katsuoka-sensei ebenfalls und versucht, diese irgendwie zurückzuholen.   Als das nichts wird, steht sie wieder auf und sieht mich an.    “Kyokei-kun, kennst du dieses Mädchen?”, will sie wissen und schaut so, wie man es verstört nennt.   “Das nicht, jedoch scheint es an mir hängenzubleiben, wenn ich es schon bin, dem sie so einen komischen Spitznamen gibt.”, nicht wissend, was ich da tue, stehe ich von meinem Platz auf und knie mich zu dem bewusstlosen Frauenkörper runter. Ich lege zwei Finger an ihren Hals und bestätige, dass sie auf jeden Fall noch lebt.   “Ich bringe sie nach draußen. Ich weiß nicht, wie ernst es ist, aber auf jeden Fall kann sie hier nicht liegen bleiben.”, lasse ich die Lehrerin wissen, greife nach dem Arm des Mädchens und ziehe ihren ziemlich schweren Körper mit der Eleganz eines Baupraktikanten in die Freiheit.   ***   Im Flur, etwa fünfzehn Meter weit weg vom Klassenzimmer geht mir schlussendlich die Kondition aus. Dieser Körper ist nicht gerade für sportliche Aktivitäten vorhergesehen. Diese Aktivitäten sind viel zu selten, als dass es sich lohnen würde, ihn zu stählern. Kraftlos lasse ich mich neben ihr auf den Hintern fallen und verschnaufe kurz. Mein Blick streift sie von Kopf bis Fuß, als sie da liegt und ihre Augen zucken. Verdammt moosgrüne Haare, braungebrannte Haut, keine Ahnung ob echt oder nicht. Sie trägt ihre Schuluniform nicht ganz regelkonform, aber das ist ihre Sache. Den Rock etwas kurz, die Strümpfe umso länger. Da ist etwas Haut von ihren Schenkeln zwischen dem Rock und ihren Strümpfen, an der mein Blick unbewusst hängenbleibt. Ich schüttle den Kopf und schaue woanders hin. Das sind also die ungeahnten Kräfte des Zettai Ryouiki¹¹. Mir fällt die Tasche am Gürtel um ihre Hüfte auf. Mir kommt die Idee, dort nach einer Lösung zu suchen, aber ehe ich es schaffe, diese zu öffnen und weiterzukommen, hält mich eine schnelle Hand genau davon jedoch ab. Es ist ihre Hand, die das tut.   “Es geht mir schon wieder viel besser!”, piepst ihre zarte Stimme und sie sieht mich entschlossen an.   Sie lässt von meiner Hand ab und starrt mich an. Das Gold ihrer Augen glänzt geradezu wie echtes Gold dabei.   “Wie auch immer, wir sollten langsam zurück gehen.”, meine ich und stehe schließlich auf. “Du hast Katsuoka-sensei schließlich einen ziemlichen Schrecken eingejagt und es wäre komisch, wenn wir auch jetzt wieder negativ auffallen würden.”, zögerlich steht sie auf und sieht mich wieder an. Irgendwas an ihrem Blick sieht nicht so aus, als wäre alles mit ihr in Ordnung.   “Kann ich dir eine Frage stellen?”, frage ich unnötigerweise, weil das an sich ebenfalls eine Frage ist.   “Gerne! Was auch immer du fragen willst, Ellie!”, erlaubt sie es mir und grinst wieder ihr sanftes Grinsen.   “Wer um alles in der Welt bist du eigentlich?”, ihr unschuldiger Blick weicht daraufhin einen über allen Maßen geschockten.   “Tja, das ist wohl der Abend, an dem die Schlampen sterben.” - Stewie Griffin, Family Guy Kapitel 2: Vol. 1 - "Hinedere" Arc: Dieser Albtraum von Wahrheit ---------------------------------------------------------------- Es sind nicht nur ihre aufgerissenen Augen und das Zittern ihrer Lippen, sondern auch ihr scharfes Einatmen, das mir signalisiert, dass ich irgendwas ausgelöst habe, was ich absolut nicht hätte auslösen dürfen.    “W-was? Wer ich bin? Also...”, der Körper bebt, ihre Hand klammert sich verzweifelt an ihren Kragen und das Sprechen fällt ihr schwer.   “Hey, was ist los? Soll ich einen Lehrer holen? Wie geht es dir?”, frage ich, als ich mich ihr nähere.   “B-bleib weg…”, haucht sie. “Bleib ganz weit weg.”, ein Blick auf ihre aneinander reibenden Kiefer verrät mir, dass sie Schmerzen hat.   “Ich... Ich habe es doch eigentlich die ganze Zeit gewusst…”,   “Was wusstest du?”, frage ich.   “All die Zeit war ich... War ich mir dem bewusst, dass so etwas durchaus im Bereich des Möglichen liegt.”, stottert sie weiter und ich vermute die Quelle ihrer Schmerzen in Richtung ihres Herzens.   “Was liegt im Bereich des Möglichen? Sag es mir, Failman.”, dränge ich sie und packe sie an den Schultern, um dem Ernst der Lage mehr Ausdruck zu verleihen.   “Ich konnte trotzdem nichts weiter als zu hoffen, dass du mich immer noch liebst!", keift sie und überrascht mich von der einen auf die andere Sekunde auf allen Ebenen, die je existiert haben.   So rabiat, dass es eigentlich nicht geht, reißt sie an meiner Krawatte, dass ich nicht anders kann, als ins Straucheln zu geraten und ihr gefundenes Fressen zu sein. Auch wenn es nur ihre Lippen sind, die sich mit einer geradezu brutalen Vehemenz auf die meinen drängen, was da auf chemischer Basis zwischen uns passiert, ist so intensiv, dass mir die Worte fehlen.  Diese Lippen. Wenn es nur bei ihren Lippen enden würde, nein, es ist auch ihr Oberkörper, der sich so eng an den meinen drückt, dass ich fast spüren kann, wie wahnsinnig schnell ihr Herz schlägt.  Diese Brüste. Doch es wäre nicht sinnvoll, diese Szene mit auch nur einem Wort länger ausfallen zu lassen als sie tatsächlich ist, denn sie währt nicht länger als ein paar Sekunden, ehe sie mich von sich stößt und genauso schnell fallen lässt wie sie mich überrumpelt hat.   Das Letzte, was ich sehe, ist das Aufblitzen ihrer moosgrünen Haare, die im Wind wehen, als sie sich aus dem Staub macht. Völlig perplex und überhaupt nicht wissend, wohin mit mir, falle ich auf die Knie und seufze kraftlos. Mit zitternder Hand fahre ich über meine kribbelnden Lippen und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Liebe?  Hat dieses Mädchen allen Ernstes gesagt, dass es “mich”, also Elvis, liebt? So richtig… emotional?  Intensiv?  Romantisch?  Sexuell? Warte mal... Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Das ist wirklich überhaupt nicht gut. Das ist... schlecht. Das ist so schlecht, dass Leute, die für die Einführung neuer Wörter verantwortlich sind, sich ein neues Wort ausdenken müssen, um auch nur annähernd zu beschreiben, wie abartig schlecht das ist. Das ist so schlecht, dass-   “Kyokei-kun, was machst du denn so mutterseelenallein auf dem Boden? Hast du nicht Unterricht?”, reißt mich eine Stimme aus meinem Monolog.   “Sonoda-sensei, Sie haben mich aber erschreckt.”, seufze ich und stehe so schnell ich kann wieder auf.   “Im Ernst, was machst du hier?”, fragt er nochmal.   “Das Gleiche könnte ich Sie fragen.”, er starrt mich finster an.   “Tut mir leid, das ist nicht zielführend. Ich habe einer Mitschülerin geholfen, sich wieder zu fangen, aber dann ist sie mir leider Gottes abhanden gekommen.”, schildere ich die Lage.   “Oh, und wo ist sie jetzt?”, will er wissen.   “Weiß ich nicht. Deswegen erzähle ich Ihnen das alles.”,   “Der Punkt geht an dich.”, murmelt er.   Stille. Mir fällt ein, dass Sonoda-sensei erwachsen ist und ich ihn in meiner Position als Schüler um Hilfe bitten kann, wenn ich welche brauche. Na ja, ich kann es zumindest versuchen.   “Sonoda-sensei, glauben Sie als Erwachsener, dass man diese um Hilfe bitten kann, egal was passiert?”,   “Wo kommt denn diese Frage auf einmal her?”,   “Antworten Sie einfach.”, bestehe ich darauf.   “Nun, wenn du mich so fragst, ich würde schon behaupten, dass es viele Dinge gibt, bei denen man das kann. Kinder und Jugendliche sind ja nicht dumm, es fehlt ihnen schlichtweg an Erfahrungen, die Erwachsene wie Eltern, Lehrer und was nicht alles bereits gemacht haben. Trotzdem gibt es Dinge, bei denen auch Erwachsene sich wie Kinder fühlen, indem sie aufgeschmissen sind und nicht weiterwissen.”,   “Wie zum Beispiel... der Liebe?”,   “Ganz besonders der Liebe. Und jetzt geh zurück in den Unterricht und lerne fürs Leben, junger Mann.”,   “Was auch immer du sagst, Daddy.”,   “Nenn mich nicht so!”,   ***   “Kyokei-kun, da bist du ja wieder. Wo ist Failman-san?”, sind die ersten Worte, die mir zuteil werden, als ich wieder zurück in den Unterricht gehe, wie mir gesagt wurde.   “Offen gestanden, ich weiß es nicht.”,   “Aber du bist doch mit ihr raus, als sie bewusstlos war, oder irre ich mich da? Hast du denn wirklich gar keine Ahnung?”,   “Nicht die leiseste.”, sie seufzt überfordert, als ich das sage.   “Aber ich denke, sie ist sicher im Krankenzimmer. Es war sicher ihr Kreislauf oder so etwas Ähnliches. Ich denke, sie wird nicht besonders weit gekommen sein. Vermutlich wird sie, sobald ihr Zustand wieder stabil ist”, die Tür wird aufgerissen und ich sehe ihr Gesicht.   “Wieder bei uns sein.”, beende ich den Satz.   Failman geht an mir vorbei und baut sich vor Katsuoka-sensei auf.   “Es tut mir leid für diese weitere Unannehmlichkeit. Ich hoffe, Sie sind nicht so sauer, dass ich wieder ihren Unterricht gestört habe.”, entschuldigt sie sich leise und ernst.   “Aber nicht doch, du kannst nichts dafür.”, weicht unsere Lehrerin aus. “Jetzt such dir einen freien Platz und sei für den Rest des Tages doch bitte nicht der Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit.”,   “Wirklich, haben Sie vielen Dank!”, haucht sie wieder schrill und der Ernst weicht aus ihrem Gesicht.   Nachdem sie schließlich einen Platz für sich findet, beginnt der Unterricht. Das ist, wie der erste Tag im dritten Jahr angefangen hat. Er nahm seinen Lauf, als wäre nichts von alledem passiert. Mit Failman habe ich bis zum Schulschluss kein weiteres Wort mehr gewechselt.    *** “Kyocchi, sollen wir noch zur Karaokebar?”, schlägt Akira in Form einer Frage vor und boxt mir leicht auf die Schulter.   “Sicher.”, lautet meine Antwort, als sich das Klassenzimmer allmählich leert.    Mein Blick bleibt an Failman hängen, die meinen Blick über die Schulter erwidert, nur um sich wegzudrehen und aus meinem Sichtfeld zu verschwinden.   “Wisst ihr was? Geht schon mal vor und haltet die Plätze warm.”, bitte ich, ehe ich mich ebenfalls aus dem Staub mache und meinen Weg durch den Flur bahne.   Irgendwas sagt mir, dass ich den Klartext mit ihr längst noch nicht gesprochen habe. Also suche ich nach ihr. Aber ich kann sie nicht sehen. Egal, wie sehr ich meine Augen anstrenge, sie ist nicht da. Da sind nur Menschen. Wie eine Schule Fische versperren sie mir die Sicht auf diesen einen Fisch. Ich tue niemandem weh, ich renne nicht, trotzdem drücke ich mich dagegen und versuche, zu ihr durchzudringen. Aber egal, wie weit ich durch diese metaphorische Schule Fische in diesem metaphorische Meer schwimme, ich komme nicht an mein Ziel. Wohin ich sehe, da sind nur noch mehr Menschen. Mehr Nebencharaktere ohne Gesicht. Es ist nicht so, als hätten sie wirklich kein Gesicht. Fast alle Menschen haben von Geburt an die gleiche Anordnung von zwei Augen, einer Nase und einem Mund, die sich dann doch wieder durch individuelle Farbe, Form und den einen oder anderen Makel von der Anordnung anderer Menschen unterscheidet. Doch bei Menschenmengen ist das egal. Ich kenne diese Menschen nur vom Sehen und das auch nur für wenige Sekunden. Wenig später vergesse ich sie wieder, weil sie irrelevant für den Alltag sind, in dem mir die immer gleichen Gesichter begegnen. Jedes andere Gesicht, das aus diesem Raster fällt und in der Masse untergeht, ist in meinen Augen für den Moment nicht mehr als ein unbedeutender Platzhalter. So was wie ein Henohenomoheji¹. Nicht mehr und nicht weniger. Rasch wechsle ich die Schuhe und finde meinen Weg aus dem Schulgebäude. Als ich draußen ankomme und das Abendrot der Sonne das Ende der Episode ankündigt, sehe ich sie schließlich. Jetzt ist der perfekte Augenblick, um mit einem Flashback, der überhaupt nichts mit der gegenwärtigen Handlung zu tun hat, den Zuschauer zu ärgern.   Nachdem sein Bruder und ich zu Abend gegessen hatten, saßen wir tatenlos am Tisch und hingen jeweils unseren Gedanken nach. Morgen würde ich die Chinobara Oberschule betreten. Laut der Recherchen, Quelle an der Stelle die Eltern des Jungen, ging er nicht, wie ich erwartet hatte, zuvor an die Chinobara Mittelschule. Das erschloss sich mir zwar nicht ganz, da die Grundschule, die der Junge besucht hatte, ebenfalls in der Richtung lag, aber ich sagte nichts weiter dazu, dass die letzte Schule, die er besuchte, am anderen Ende der Stadt war und er jeden Tag mit dem Bus dorthin gefahren war. Wenn ich also morgen die Schule an seiner Stelle betreten würde, würde niemand wissen, wer “ich” bin. Diesbezüglich konnte ich mir sicher sein. Sein Bruder stand auf und machte Anstalten, sich in sein Zimmer zu begeben, als er sagte:   "Also, ich geh jetzt schlafen. Solltest du auch bald, ist schon spät. Aber, Elvis, warte mal. Deine Haare.", er machte eine unschlüssige Pause, als wäre er kurz davor, etwas zu sagen, das nicht leicht zu sagen wäre.   "Morgen gehst du doch das erste Mal seit langem wieder in die Schule. Willst du dir nicht, ich weiß auch nicht, die Haare schneiden? Sind ja ziemlich lang geworden, ist aber nur meine Meinung. Kannst machen, was du willst, Kumpel.", dann verschwand er wirklich und ich blieb allein zurück. Meine Haare? Was stimmte nicht mit ihnen?   Ich ging also schleichend langsam ins Bad, um nachzusehen. So quälend langsam, als würde mir dieser Anblick nicht gefallen. Dort angekommen hielt ich vor dem Spiegel inne. Dafür, dass ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und mich doch eigentlich ziemlich gut erholt hatte, war meine Haut nahezu immer noch schneeweiß und verstärkte so den Kontrast zu meinen tiefschwarzen glatten Haaren, die mir bis zum Kinn gingen. Mir war nicht klar, wie gut ich in der falschen Kleidung als Mädchen hätte durchgehen können. Dann war ich eben nur durchschnittlich groß, vielleicht ein wenig zu schlaksig und klang nicht besonders männlich, na und? Und wenn schon. Ich war trotzdem ein ganzer Kerl. Das sagte ich mir zumindest. Nein, ich hatte wirklich größere Probleme. Das hier war keines davon. Aber nun, wo ich mich doch bald wieder in die Öffentlichkeit traute, musste doch etwas geschehen, oder?   "Ich bin ein Junge.", murmelte ich flüsternd, als müsste ich mich vor meinem eigenen Spiegelbild für mein Erscheinungsbild rechtfertigen.   Ich drehte mich also um und sah mich nach einer Schere um. Vielleicht war, was ich vorhatte auch nur dumm, riskant und bescheuert.  Aber was, wenn nicht?  Die Schere fand ich schnell, ich schwenkte sie in meiner Hand ein wenig, ehe ich mich wieder meinem Antlitz stellte. Es musste sein, sagte ich mir. Ich wollte nicht schon an meinem ersten Tag für Verwirrung und noch weniger dafür sorgen, dass ich als Elvis ausgegrenzt oder schikaniert würde. Das hielte ich einmal als Parasit aus aus, das wusste ich jetzt schon. Aber weil da noch immer Angst im hintersten Winkel meines Verstandes verborgen lag, entschied ich mich dafür, mich von hinten nach vorn zu arbeiten. Ich griff an meinem Hinterkopf also so viele Strähnen gleichzeitig, wie in meine Faust passten und schob die Klingen der Schere, zwischen denen mein Haar lag, mit geschlossenen Augen aufeinander zu. Ich öffnete meine Augen und meine Hand, dann sah ich, was ich getan hatte. Es war mehr als ich dachte, doch ich bereute es nicht, als ich den Vorgang so oft wiederholte, bis meine Haare meinen Nacken nicht mehr unmittelbar berührten. Nun hätte ich nur noch die Seiten, die meine Ohren bedeckten, und meinen etwas zu langen Pony, der meine Augen ein wenig bedeckte, abschneiden können. Das hatte ich sogar wirklich fast getan, als ich im Stande, es zu tun, merkte, dass ich zögerte. Ich musterte mich nochmal im Spiegel. An den langen Seiten, die links und rechts an meinem Gesicht angrenzten und an dem geraden Pony hatte sich nichts verändert. Doch wenn man genau schaute, sah man, dass meine Haare im Großen und Ganzen eine relativ normale Länge hatten. Nicht mehr zu lang, aber auch nicht zu kurz. Ich fand nicht, dass ich noch weitergehen musste. Die Hauptaufgabe bestand darin, nicht augenblicklich als Mädchen fehlinterpretiert zu werden und deshalb etwas wegzuschneiden. Diese Mission war erfolgreich. Ich entsorgte also meine abgeschnittenen Haare, die im Waschbecken gelandet waren, im Mülleimer und ging schlafen. Letztendlich gefiel mir, was ich da angerichtet hatte.   Sie bewegt sich in der schnellsten Geschwindigkeit, die noch nicht als Rennen durchgeht, von mir und denkt nicht daran, auf mich zu warten. Ich gebe ihr zu verstehen, dass ich mich nicht mutwillig lächerlich machen und sie rufend anflehen werde, bei Gott endlich stehen zu bleiben und mich anzusehen. Ich folge ihr in der gleichen Geschwindigkeit, schweigend, konzentriert. Als wir dann auf das Schultor zuhalten und ich befürchte, dass unsere Wege sich gleich trennen, halte ich es nicht mehr aus und greife nach ihr. Aber als ich ihr Handgelenk dann tatsächlich zu fassen kriege, durchfährt mich ein stechender Schmerz auf der Handfläche. Daraufhin dreht sie sich um.   “Tut mir leid, die Armbänder trage ich immer, egal wie lang die Ärmel sind oder ob man sie sehen kann.”, entschuldigt sie sich. “Sie sind eine Art Schutzmechanismus, weißt du?”,   Mein Blick wandert von ihren Ärmel zu meiner punktierten Hand, an der ich noch immer die Druckstellen jener Stacheln pulsieren fühle. Spikes unter den Ärmeln? Dieses Mädchen ist gerissener als sie aussieht.   “Wieso bist du mir gefolgt?”, ihre Stimme ist belegt und leise.   “Weil ich das Gefühl habe, dass du irgendwas ganz Entscheidendes weißt und ich es nicht tue. Und das gefällt mir nicht.”, wissend, dass ich vermutlich absolut nicht das sage, was Elvis sagen würde, versuche ich dennoch, zu retten, was zu retten ist.    “Ich habe keine Ahnung, wer du bist, was du von mir willst oder wieso zur Heckenschere du hier aufgekreuzt bist, aber nach allem, was passiert ist, wäre es besser, dich näher zu durchleuchten. Wer oder was glaubst du für mich zu sein? Wer bist du?”, Failman beißt sich von innen auf die Lippe und sieht mich wieder fixierend an.   “Ich heiße Chika Failman, ich bin achtzehn Jahre alt und…”, sie senkt etwas den Blick und fährt sich durch die Haare.   “Und was?”, hake ich nach.   Failman sieht mich wieder an, doch es ist ein qualvolles Lächeln, das ihr Gesicht ziert. “Und ich liebe dich noch immer.”   Stille. Ich wiederhole in meinem Kopf, wie abartig schlecht das ist.   “Ich”, Kunstpause. “Tue das nicht. Es tut mir aufrichtig leid, Failman.”, sage ich das, was jeder anständige Mensch an meiner Stelle auch gesagt hätte.   Stille.  Sie senkt wieder den Blick.   “Es ist deine Verletzung, nicht wahr?”, jetzt bin ich es, der zusammenzuckt.   “Ich habe es irgendwie schon gespürt. Gespürt, dass etwas anders ist. Du hast dich damals so schwer verletzt, dass du dein Gedächtnis verloren hast, Ellie. Ist es nicht so?”, mutmaßt sie und ich frage mich, was Elvis an der Stelle gesagt hätte.    Doch mir fällt ein, dass es nichts gäbe, was er an der Stelle hätte sagen können. Denn durch diesen Vorfall ist er schließlich erst von uns gegangen.   “Das ist richtig. Ich erinnere mich nicht. Weder an dich noch an irgendetwas anderes. Das ist über zwei Jahre her. Weder meine Erinnerungen an noch meine Gefühle für dich könnten jemals zurückkehren. Ich werde niemals wieder der Junge sein, in den du dich verliebt hast. Du musst mich aufgeben, Failman.”,   “Das kann ich nicht.”,   “Warum nicht?”, stelle ich eine weitere unnötige Frage.   “Weil ich dir nicht glaube. Weil ich dir nicht glauben will. Ich will daran glauben, dass es nicht unmöglich ist und nicht, dass es unmöglich ist.”,   “Das musst du aber. Bitte sei doch vernünftig.”,   “Das tut aber weh!”, schnauzt sie schluchzend und erschreckt mich damit.   “Tut mir leid, ich… wollte dich nicht wieder anschreien. Du hast recht mit dem, was du sagst. Aber bitte… lass mich wenigstens daran glauben. Lass mich… dich weiter lieben. Ich verstehe das alles nicht. Lass mich das alles verstehen. Lass mich... atmen.”, haucht sie und ihr Blick ist genauso weich wie ihre Stimme.   “Verstanden. Ich lasse dich atmen.”,   “Wenn ich dir versprechen würde, dir deine Erinnerungen zurückzubringen, egal, was passiert, wenn ich das schaffe… liebst du mich dann?”, flüstert sie und ich sehe einen leichten Rotton auf ihren Wangen.   “Das kann ich nicht beantworten. Wenn ich dir sagen würde, dass es zwecklos ist, würdest du mir eventuell überhaupt nicht zuhören. Aber ich toleriere dich fürs Erste. Ob meine Erinnerungen zurückkehren oder nicht hat nichts damit zu tun, dass in dieser Welt derjenige überlebt, der sich so wenig Menschen wie möglich zum Feind macht.", ich weiß nicht, ob ich gerade ein guter Elvis war oder nicht und noch weniger, ob ich ihre Hoffnungen damit jetzt minimiert oder nur noch verstärkt habe.   Doch in ihrem Gesicht ist keine Spur von Einschüchterung. Sie lächelt einfach nur. So, wie man wehmütig oder verletzt nennt, aber sie lächelt.   “Nochmal fürs Protokoll, du kennst mich von vor drei Jahren?”,    “Genau so ist es!”   “Und wir beide waren... ein Paar?”,   “Sozusagen!”,   “Und wo warst du die letzte zwei Jahre?”,   “Hakodate!”,   “Das ergibt keinen Sinn.”,   “Ich weiß…”, grinst sie verlegen.   Dieses ständige plötzliche Nicken und Zustimmen bei allem, was ich sage, ist ja fast schon beängstigend. Ist sie so etwas wie eine Undere, die zu allem ja und Amen sagt?   Sie hat Tage, Wochen, Monate, Jahre darauf gewartet, dass sich “unsere” Wege kreuzen. Völlig unabhängig davon, dass “wir” weder Erinnerungen noch Gefühle teilen. Unabhängig davon, wie sehr “ich” ihren Schmerz und ihre Bemühungen mit Füßen trete, in dem ich absolut nicht weiß, wer sie sein soll oder was sie an “mir” eigentlich findet.   “Weißt du, es ist nicht schlimm, wenn das mit uns nichts wird. Die erste Liebe hält selten und die Legende von dem Einen, der für immer und ewig bei dir bleibt, ist schlicht und ergreifend einfach nicht wahr. Wäre sie wahr, müssten entweder alle exakt gleich lang leben oder unsterblich sein. Tu dir selbst einen Gefallen und vergiss das nicht.”, sie nickt stumm, als ich mich umdrehe und sie genauso links liegen lasse wie sie mich.   ***   Auf dem Weg zur Karaokebar klingelt mein Handy. Den Rucksack abgesetzt, ziehe ich es heraus und sehe, dass es sich um Akira handelt.   “Hallo?”   "Kyocchi, verdammt, wo bleibst du? Hast du echt vorgehabt, die Gangparty sausen zu lassen, du kleine, miese Trödeltante?!", will Akira gar nicht so belustigt wissen.   "Ach, die? Ich und sausen lassen? Niemals. Was denkst du denn von mir, Akira, mein Teuerster?", ärgere ich ihn.   “Du bist kein Stück lustig!”, höre ich Akira schnauzen.   “Und du bist kein Stück trocken.”,   “Das ist eine aalglatte Lüge!”, regt er sich auf. “Wo bist du denn gerade überhaupt?”,   “Ich bin drei Meter vom Konbini² entfernt. Und bevor du fragst, ja, ich war schon drin.”,   “Inhalt?”,   “Mini-Donuts, Pockys³ und vier willkürlich ausgewählte Flaschen Ramune⁴.”,   “Cool, komm so schnell du kannst, bevor Shuichiro die Verpackung frisst.”,   “Hey, das ist jetzt aber wirklich eine aalglatte Lüge!”, höre ich Shuichiro sich durchs Telefon empören.   “Gebt mir fünf Minuten, Leute.”, sage ich zum Abschluss und lege auf.   Liebe ist nicht wie Chemie. Sie erwacht - oder besser gesagt - explodiert nicht einfach, weil man irgendwas mutwillig in ein Glas kippt, was eine Explosionsquote von genau einhundert Prozent erzielt. Nochmal für alle Sterblichen, die nicht gerade Chemie studieren oder Breaking Bad⁵ zu ernst nehmen: Man kann sie nicht erzwingen. Kapitel 3: Vol. 1 - "Hinedere" Arc: Ihre Stimmen hinter dir ----------------------------------------------------------- “Kyokei-chan, du hast es geschafft!”, freut sich Shuichiro, als ich den Raum betrete.   “Ja, nachdem die Sonne verglüht ist.”, macht sich Akira über mich lustig und grinst.   Es herrscht eine gewisse Unordnung vom Vorgänger und im Hintergrund spielt die Karaoke-Version von irgendeinem Lied. LOVE & JOY¹ von Yuki Kimura, wenn ich mich recht entsinne.   “Wie auch immer, was habe ich verpasst?”, frage ich und lasse mich neben Kaishi auf die scharlachrote Lehne nieder.   “Wir haben uns hauptsächlich irgendwelche Theorien über dich und Failman-san ausgedacht. Da konnte ich auch nicht widerstehen.”, berichtet dieser.   “Über so was unterhaltet ihr euch, wenn ich weg bin? Na, jetzt weiß ich aber Bescheid.”, kommentiere ich.   “Das ist gar nicht so weit hergeholt, wenn man bedenkt, dass Failman-chan dich heute praktisch angebaggert hat und das ziemlich mutig von ihr war, so vor der ganzen Klasse.”, verteidigt Shuichiro den Sinn dieser Unterhaltung und zieht die blaue Flasche Ramune aus meiner Tüte.   “Das war doch keine Anmache, Shuichiro.”, widerspricht ihm Akira. “   “Wenn sie sich auf seinen Tisch gesetzt und Darling gesagt hätte, das wäre eine Anmache, mein Freund!”, findet dieser absolut überzeugt.   “Wer um alles in der Welt hätte so etwas gemacht?”, versteht Kaishi nicht.   “Zero Two? Das pinkhaarige Dinosaurier-Mädchen aus den Memes? Darling in the Franxx²? Lebst du eigentlich komplett hinter dem Mond?”,   “Ist das nicht die Serie mit den Mechas³, die von minderjährigen Pärchen in komischen Posen gesteuert werden?”, fragt Kaishi nach.   “Jep.”,   “Wieso sollte ich mir den Streifen geben, wenn ich Evangelion⁴ haben kann? Da schauen die Leute nicht wegen der Memes rein.”,   “Tun sie wohl!”, protestiert Akira.   “Aber viel wichtiger ist doch”, kommt auch Shuichiro zu Wort. “Was jetzt zwischen Kyokei-chan und Failman-chan läuft. Was genau war denn da los?”,   “Du willst wirklich wissen, was los war?”, stelle ich mich dumm.   “Und wie! Spann mich doch nicht so auf die Folter, Mensch!”, mault Shuichiro und macht ein Gesicht, wie man es flehend nennt.   “Wir haben... uns unterhalten.”, sage ich die Wahrheit, ohne zu viel zu verraten.   “Mensch, das kann es doch nicht gewesen sein! Wo bleibt die Liebe, die Light-Novel⁵-Action, die am Morgen so abgegangen ist? Kyokei-chan, dass du nichts sagst, ist so gemein von dir!”, brummt er grinsend und schmollt gespielt.   “Du bist heute ja gut gelaunt, Mann. Macht es dir wirklich so einen Spaß, in meinem unfruchtbaren Liebesleben herumzustochern?”, will ich wissen.   “Aber klar!", bestätigt der Blonde. "Wie sagt man so schön, alle guten Dinge sind… acht?”,   “Drei.”, hilft ihm Kaishi auf die Sprünge.   “Ist doch egal, wie viel alle guten Dinge sind, d-das spielt in der Liebe doch überhaupt keine Rolle! Fakt ist: Failman-chan steht total auf dich! Ich erkenne sowas, wenn ich es sehe!”, beharrt er auf seinen Standpunkt und sieht mir ganz tief in die Augen. Herrschaft nochmal, der meint es echt ernst.   “Seht, seht, vielleicht kommt Kyocchi diesmal ja wirklich mit dem Mädchen zusammen, nachdem sich niemand mehr getraut hat, ihn zu fragen. Ich glaube an dich, Sohnemann!”, pflichtet Akira ihm offenbar bei.   “Sohnemann?”, meine Stimme hat einen fragenden Ton.   “Wie auch immer, es gilt abzuwarten. Ihr wisst alle, dass man sich an mir die Zähne ausbeißt, wenn man von mir verlangt, jemandes Liebe zu erwidern. Das ist ja sehr zuvorkommend von Shuichiro, mich mit der Neuen zu shippen, aber es ist hoffnungslos.”, versuche ich, diese Jungs zumindest etwas mit der Vernunft vertraut zu machen.   “Ach, Kyocchi, Alter, mach dich doch nicht immer so steif. Das klingt wirklich so, als wärst du dreißig.”,   “Ich bin nicht dreißig.”,   “Und sie auch nicht! Was ich damit sagen will, es ist nicht schlimm, dass es aussieht, als wären alle guten Dinge… acht. Glaub mir, irgendwann sind alle guten Dinge vielleicht dreizehn und das klingt wiederum wie ein Todesurteil, auch wenn es das nicht ist.”,   “Falls du damit sagen willst, dass ich aufhören soll, nach der Einen zu suchen, im Grunde habe ich das sowieso bereits getan.”,    “Das meine ich nicht! Du musst einfach mehr…”, er sucht in sein Sprachzentrum⁶ nach diesem einen Wort ab.   “Offen sein?”, schlägt Kaishi vor.   “Genau! Offen. Wir sind jetzt zwar im dritten Jahr, aber so alt sind wir dann doch nicht. Meinst du nicht, du hast das Recht, dich ein kleines bisschen zu amüsieren?”, jetzt bin ich es, der seine Worte absucht, nur diesmal nach ihrer tieferen Bedeutung.   “Mit anderen Worten… YOLO⁷?”, Akira verzieht etwas verstört das Gesicht und sagt dann aber doch:   “Ja… genau...”, das ist nicht gerade überzeugend.   “Außerdem…”, Akira grinst wieder sein typisches Grinsen und wirkt wieder überzeugt. “Fällt es dir bestimmt leichter, deine Hemmungen fallen zu lassen, wenn du sie erstmal im Bikini gesehen hast- Aua! Mann, was soll das, Kaishi?”, weicht sein perverses Lächeln, als er vom Brillenträger eins aufs Dach bekommt.   “So über neue Mitschülerinnen zu reden schickt sich nicht.”,   “Du schickst dich nicht!”,   “Ich glaube, was Egaoshita-san eigentlich damit sagen will, ist”, erregt Kaishi meine Aufmerksamkeit.  “Dass sich bei unserer Klassenfahrt ans Meer die Gelegenheit bietet, Chika Failman-san besser kennen zu lernen.", mimt Kaishi den Übersetzer für Akiras raue Ausdrucksweise. "Er meint es wirklich gut, nur hat er das Feingefühl eines Bären."   “Und was soll das jetzt heißen?”   ***   'Ein Bär?', dachte ich, als die etwas kleinere Frau den Bären auf dem Tisch platziert.   “Ich weiß, dafür bist du bald zu alt und überhaupt, aber... Mir hat er viel bedeutet, weißt du, Elvis-chan. Ich will einfach, dass du ihn hast. Kannst du mir den Gefallen tun und gut auf meinen Bären aufpassen?”, sie sah mich nicht direkt an, aber ich fühlte mies, weil ich es infrage gestellt hatte.   Ich nickte unmerklich, was bereits reichte, um ihre Augen zum Strahlen zu bringen. Sie schien vor Glück fast zu weinen. So toll war das nun auch nicht. Wenn man bedachte, dass ich, im Körper ihres Neffen, der nicht sprechen oder laufen konnte, einfach kein Arschloch sein wollte, dann war das meines Erachtens keine große Sache. Sie holte Luft, um noch mehr zu sagen. Diese ganze Situation schaffte sie.   “Die anderen Ärzte meinen, dein Aufenthalt wird sehr lange dauern, da deine Verletzungen sehr gravierend sind und der Schaden am Hirn sehr stark. Du wirst für eine lange Zeit nicht mehr zur Schule gehen können. Deshalb habe ich beschlossen, dich zu unterrichten, bis du wieder draußen bist. was hältst du von dieser Idee?”, ihre Augen strahlten wieder, wenn auch etwas verzweifelter. Heute war Verneinen wohl ein Tabu.   Wieder nickte ich mein stilles Nicken und das freute sie ebenso wie dass ich ihren Bären annahm.   Diese Frau war wirklich leicht zu beeindrucken.   “Ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst. Zehn Monate sind eine lange Zeit, ich werde alles tun, dass es dir besser geht, darauf kannst du zählen!”, versicherte sie mir.   Dann näherte sie sich meinem Bett und ehe ich weitere Zeichen hätte geben können, umarmte sie mich auch schon. Zaghaft und vorsichtig, da ich,  schwer verletzt, wie ich war, immer noch Gefahr lief, mich noch mehr zu verletzen.   “Dem Personal ist es nicht erlaubt, die Patienten so zu berühren. Aber du bist kein normaler Patient. Du gehörst zur Familie. Und ich bin froh... dass du überlebt hast.”, flüsterte sie mir ins Ohr.   Damals wusste ich nicht, was eine Familie bedeutete. Sie war einfach eine Ansammlung von Menschen, die “meine” Blutlinie teilen. Ein Haufen vorprogrammierter “Freunde”. Doch wenn ich ganz ehrlich war, irgendwas in mir sagte mir, dass der Junge, trotz der Amnesie, die mir den Zugang zu seinem internen Speicher verweigerte, im früheren Leben, ehe ich hier war, sowieso nie gewusst hatte, was dies eigentlich bedeutete.   ***   Der Tag klingt friedlich aus, so mein Gedanke, als ich durch die Straße gehe, in der mein Bruder und ich wohnen. Ein Vogelpaar fliegt vorbei und die Kirschblüten flattern durch die sich anschleichenden Dunkelheit, während im Hintergrund Kinder schreien und Failman mir auflauert. Und Failman mir auflauert. Warte mal…  Sofort verstecke ich mich hinter einem Strommast, bevor sie mich entdecken kann.  Jetzt reicht es. Jetzt reicht es auf allen Ebenen.  Sieh sie dir an. Wie sie geistesabwesend in den Himmel starrt und mit den Armen hinter dem Rücken ihre Tasche hält. Dieses Mädchen will doch, dass man es findet. Wie soll ich mich jetzt ins Haus schleichen, ohne, dass diese verrückte Hexe mich sieht? Sie kann die Klingel bimmeln hören, wenn ich sie drücke, sie kann das Rattern im Schloss hören, wenn ich den Schlüssel benutze, es ist völlig egal, was ich tue. Ich analysiere die bekannte Umgebung und komme auf die glorreiche Schlussfolgerung, dass sie mich hundertprozentig entdecken wird, völlig gleich, dass ich nicht mal an ihrem Haus vorbeigehen muss, um zu entkommen.  Ich will ihr wirklich nicht über den Weg laufen. Nicht, wenn ich weiß, dass sie in Elvis verliebt und absolut durchgeknallt ist. Das ist schlecht, das ist so abartig schlecht. Ein weiches, haariges Etwas streift mein Bein und damit ist die Tarnung, die ich mir in letzter Sekunde aus dem Hintern gezogen habe, dahin. Als ich mich erschrecke, fliege ich förmlich aus meinem Versteck raus auf die blanke Straße. Diese kleine Geräuschkulisse, die ich wegen eines bescheuerten Katzenschwanzes verursache, reicht für diese grünhaarige Psychopathin, um sich nach mir umzudrehen.   “Da bist du ja wieder, Ellie!”, begrüßt sie mich und lächelt friedlich.   Houston, wir haben ein ganz großes Problem⁸. Kapitel 4: Vol. 1 - "Hinedere" Arc: Als der Mond aufgeht und die Sonne vermisst wird ------------------------------------------------------------------------------------ Ich habe allen Grund, mich in diesem Moment absolut nicht wohlzufühlen. Erst platzt da aus dem Nichts jemand ins Klassenzimmer und lenkt alle Aufmerksamkeit auf mich, dann werde ich sexuell belästigt und jetzt auch noch gestalkt. Und die Tatsache, dass sie mich mit dem Absatz ihrer Springerstiefel oder was auch immer das für Schuhe sind, überragt, macht sie kein Stück weniger einschüchternd.   “Failman, du weißt schon, dass Stalking strafbar ist, oder?”, daraufhin schnappt sie wieder dramatisch nach Luft.   “Was, ich und Stalking? Wie kommst du denn auf so eine kranke Idee?”, fragt sie mich mit einem lebensechten Schreck in der Stimme.   “Weil du genau das tust.”,   “Nein, nein, nein, nein, nein, das verstehst du völlig falsch! Ich habe doch nur hier gestanden, weil ich den Schlüssel in der Wohnung vergessen habe und ich, na ja, gleich da drüben wohne!”, teilt sie mir ganz außer sich mit und zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die Wohnung, die durch die Straßenbreite von der meinen abgegrenzt wird.   Das ist jetzt nicht wahr.   “Verstehe. Und warum gehst du nicht zum Schlüsseldienst?”,   “Trau mich nicht…”, flüstert sie schüchtern.   “Wie alt bist du noch gleich?”, frage ich und daraufhin lacht sie.   “Schon wieder bringe ich dich in komische Situationen, was?”, resümiert sie gedankenverloren. “Wenn ich dir sage, dass das keine Absicht ist, würdest du mir das glauben?”,   “Nein.”,    “Verstehe. Nach allem, was heute passiert ist, willst du bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben, hab ich recht?”, sie sieht wieder so aus, wie man es traurig nennt. “Das verstehe ich wirklich. Ich denke, an deiner Stelle wäre ich auch aufgebracht. Wenn es wirklich dein Wunsch ist, dass ich fortbleibe, auch wenn es mir das Herz bricht, dann versuche ich vielleicht wirklich, dir keine weiteren Umstände zu-”, ich bin mir sicher, dass sie “bereiten” gesagt hätte, hätte ihr monströses Magenknurren diesen Plan nicht vereitelt.   “Failman, kann es sein, dass-”,   “Schau mal, Ellie, da hinten steht Harry Styles¹!”, unterbricht sie mich und zeigt mit den Finger hinter mich.   “Tut er nicht.”, warum sollte er auch hier sein?   “Schade…”, brummt Failman, immer noch mit leicht geröteten Wangen.   “Willst du vielleicht bei uns essen?”, biete ich an, weil mein Wille, ein guter Elvis zu sein größer ist als meine Abgebrühtheit.   “Ich… würde mich freuen.”,   Wieder muss ich an Shuichiros Worte denken. An die Light-Novel-Action, von der er sprach. Ich fasse es nicht. Dieser ganze Tag ist doch eine scheiß Rom-Com².   ***   Als ich die Tür zu unserer Wohnung öffne, läuft der Fernseher und das Licht ist an. Er ist also da.   “Ich bin zu Hause!”, raune ich im Eingang und versuche, den Fernseher zu übertönen.   “Okay!”, raunt er zurück.   Die Schuhe ausgezogen gehen Failman und ich ins Wohnzimmer, wo Elvis’ Bruder schon auf uns wartet.   “Wie war die Schule, El?”, fragt er, als er sich umdreht und uns sieht. “Und wer ist dieses süße Mädchen neben dir?”, ergänzt er und grinst.   “Das ist Failman. Sie hat sich ausgesperrt, also habe ich sie gezwungenermaßen zum Abendessen eingeladen.”,   “Oh, so ist das also.”, versteht er, erhebt sich von seinem Sitz und wuschelt mir durch die Haare.   “Hast du gut gemacht, Kleiner.”, lobt er mich und wendet sich an Failman, die sich dezent verloren im Raum umsieht.   “Ähm, also…”, murmelt sie verlegen, als er sie eindringlich anstarrt.   Ich gebe zu, an ihrer Stelle wäre mir das auch unangenehm. Wie er sie von oben bis unten abscannt, ist ja widerlich. Auf diesen Gedanken hin fällt mir ein weiterer ein, den ich heute morgen gedacht habe. Das sind also die ungeahnten Kräfte des Zettai Ryouiki. Ich korrigiere, wir sind beide gleichermaßen widerlich.   “Bruderherz, du hast ‘nen echt guten Fang!”, reißt mich der Typ aus den Gedanken.   “F-F-Fang?! Was soll das denn heißen?”, piepst Failman erschrocken.   “Genau, es ist ja nicht so, als würden wir miteinander gehen, oder so.”, schließe ich mich an.   “Wie, tut ihr nicht? Jetzt bin ich irgendwie enttäuscht.”, meint er belustigt.   “Ach, und ich dachte, du willst dich an sie ranmachen.”, lasse ich ihn wissen, wovon er leicht errötet.   “Was?! Ich würde mich doch nie an die feste Freundin meines Bruders ranmachen!”, ist er ganz empört.   “Das ist nicht mal eine normale Freundin. Außerdem hab ich doch ganz gesehen, wo du hingeschaut hast.”, sein Bruder zuckt zusammen.   “Unglaublich, wie dich diese Brüste so beeindrucken können, nachdem deine doch genauso- Aaaaahhhh…”, ich kann den Satz nicht beenden, weil meine Wangen gekniffen werden.   “Das sprichst du nicht vor dem Gast aus, du Ratte!”, faucht er und zieht mein Gesicht nur noch mehr.   “Wenn du mein Gesicht so in die Länge ziehst, leiert es noch aus.”, gebe ich ihm schwer verständlich zu verstehen.   “Gute Idee, dann strenge ich gleich noch mehr an!”, knurrt er und kneift so fest in meine Haut, dass ich wirklich fast glaube, er durchbohrt sie.   Aber dazu kommt es nicht, denn der Gast lacht.   “Ihr beiden seid echt urkomisch zusammen.”, haucht sie und sieht glücklich aus wie den ganzen Tag über nicht.   “Wie auch immer.”, sage ich und nehme die entspannten Hände aus meinem Gesicht. “Lasst uns den Tisch decken.”,   ***   "Und du gehst auch auf die Chinobara? Aber... wie kam es eigentlich, dass du im letzten Jahr der Highschool überhaupt umziehen musst?", versteht sein Bruder nicht ganz, als wir schließlich zu Abend essen.   "Nun ja, vorher, also in der Mittelschule, da habe ich die Schule gewechselt. Zu Hause konnte ich auch nicht bleiben, von daher zog ich vor knapp drei Jahren zu meinen Tanten ans andere Ende unseres Landes. Das war bis zum Ende des zweiten Jahres. Aber dann…”, Failman zögert.   “Aber dann… was? Was ist dann passiert?”, hakt er nach und Failman lächelt so, wie man es geheimnisvoll nennt.   “Unzulässige Information.³”,   “Ach, komm schon!”, jault er unbefriedigt auf.   War das gerade etwa eine Anspielung auf Die Melancholie der Haruhi Suzumiya⁴? Auf Mikuru Asahina, dem Mädchen aus der Zukunft? Sie wird doch wohl unmöglich…   “Und wie war die Schule heute so?”, macht er weiter mit dem Verhör.   “Auf allen Ebenen verstörend und obszön.”, gebe ich mir gar nicht erst die Mühe, über diesen verrückten ersten Schultag zu lügen.   “V-v-verstörend und… obszön?”, stammelt Failman schockiert, als hätte sie nichts damit zu tun.   Daraufhin sagt er nichts mehr und nickt unbeholfen, als hätte er auch nur ansatzweise verstanden, was ich gerade gesagt habe.   ***   “Danke, dass ich mit euch essen durfte.”, bedankt sich Failman nach dem Mittagessen, als sie sich die Schuhe anzieht.    “Ach, nichts zu danken, wir helfen doch, wo wir können, nicht wahr, Elvis?”, sucht sein Bruder nach seiner Bestätigung.   “Lass ich gelten.”, kommt es von der Seite des Gefragten und ich finde, ich mache mich gut.   “Ich komme immer noch nicht drauf klar, wie man es schafft, seinen Schlüssel neben der Tür zu lassen.”, schmunzelt er.   “Manno, das kann doch jedem passieren, Onii-sama!”, protestiert Failman.   “Du kannst mich auch Taiyo nennen, Kleines.”, informiert er sie.   “Taiyo?”, scheint sie, sich blöd zu stellen, keine Ahnung, was das soll.   “Das ist mein Name.”, erwähnt er.   “Alles klar, Onii-sama⁵.”, scheint sie zu verstehen, aber irgendwie auch nicht.   “Wenn ich’s mir recht überlege, so ist es auch gut.”, gibt er sich verlegen lächelnd zufrieden.   ***   Als ich Failman dorthin begleitet habe, wo sie hin musste und schlussendlich den gleichen Weg wieder zurück gehe, ist es schon ziemlich dunkel. Die Sterne funkeln und die Umgebung ist unkenntlich. Es ist die Zeit, in der man den Begleiter zu schätzen weiß. Das gilt hauptsächlich für mich, weil ich nicht kämpfen kann und Failman, nachdem sie heute so grob zu mir war, zutraue, dass sie mich im Notfall verteidigen kann, wenn ich es brauche.   “Du musst wirklich mehr auf dein Zeug aufpassen, Failman.”, tadele ich sie wie ein anständiger Mensch.   “Ja, ja…”, summt sie. “Ich danke dir, Ellie.”, flüstert sie.   “Fürs Abendessen?”, frage ich sie und unterm Schein einer Straßenlaterne sehe ich kurz ihr trauriges Lächeln.   “Fürs Tolerieren. Jeder andere hätte bestimmt die Nerven verloren, aber du bist immer noch hier. Das ist lieb von dir.”, rechnet sie mir unwahrscheinlich hoch an.   “Nichts zu danken. Wie mein Bruder schon sagte, wir helfen, wo wir können.”, spiele ich es runter, aber das zählt nicht für sie.   “Stimmt, das hat er gesagt.”, murmelt sie und mir fällt eine weitere Kleinigkeit von eben wieder ein.   “Kann es sein, dass du von uns beiden nur mich wiedererkannt hast, Failman?”, frage ich, um mir ein besseres Bild zu machen.   “Das kann nicht nur sein, das ist so.”, bestätigt sie mich. “Das weißt du natürlich nicht mehr, aber du hast mir damals nie etwas über deine Familie erzählt.”,   “Verstehe, dann war das wirklich das erste Mal.”, erkenne ich und füge das in Gedanken den Informationen über Elvis hinzu.   “Das war es, ja. Er scheint wirklich ein lieb zu sein. Ich bin froh, dass ich ihn sehen konnte.”, seufzt sie zufrieden.   “Ist das wirklich so von Bedeutung? Er ist doch auch nur ein ganz gewöhnlicher Mensch.”, erinnere ich sie daran, dass auch unter seinen roten Haaren und grünen Augen, nichts als Fleisch lauert.   “Er ist Teil deiner Familie.”, widerspricht sie kopfschüttelnd. “Ein Teil von Elvis Kyokei.”,   “Warum bleibst du stehen?”, frage ich sie, als sie im Licht einer anderen Straßenlaterne aufhört, sich fortzubewegen.   “Weil ich nicht will, dass dieser Tag vorbei geht.”, haucht sie fast unhörbar. “Und... ich mich deswegen schlecht fühle. Schließlich ist es das komplette Gegenteil von dem, was du möchtest, nicht wahr?”,   “Failman, bitte. Mach dir doch nicht solche Sorgen um mich. Nur weil ich gesagt habe, was ich gesagt habe, heißt das nicht, dass ich dich verachte. Du bist unverschämt, irrational und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wie ich mit jemandem wie dir umgehen soll. Trotzdem verachte ich dich deshalb noch lange nicht.”,   “Ach, Ellie…”, haucht sie. “Auch wenn du überhaupt nicht weißt, wer ich bin, weißt du, was zu sagen ist, um mich aufzumuntern.”, säuselt sie und lächelt ganz gerührt.   “Da ist nichts dabei, wirklich. Ich tue nur das, was ich für richtig halte. Und wenn das bedeutet, ein mir wildfremdes Mädchen zum Schlüsseldienst zu begleiten, dann mache ich das auch.”,   “Selbst, wenn du die Dunkelheit mit diesem unverschämten Mädchen verbringen musst? Wieso… wieso tust du das für mich?”, Herrschaft noch mal, ist die verzweifelt…   “Weißt du, mein Bruder scheint dich wirklich zu mögen. Vielleicht nicht auf die Weise, wie du mich, aber ich denke, ihm liegt wirklich was an dir. Glaubst du, es würde ihm gefallen, wenn ich ein Mädchen nachts einfach allein zum Schlüsseldienst gehen lasse? Wohl kaum, oder?”, das bringt sie zum Nachdenken.   “Ja, du hast recht. Wenn ich’s mir recht überlege, das sähe Onii-sama nicht ähnlich. Er kann sich glücklich schätzen, so einen tollen, kleinen Bruder zu haben.”, findet sie lachend.   Der Ausdruck in ihrem Gesicht scheint aufrichtig und zufrieden. Sie sieht aus, wie man es glücklich nennt und ich habe das Gefühl, dass es gut ist, was ich damit erreicht habe. Doch trotz der Dunkelheit, die uns jenseits des Lichtkegels umgibt, sehe ich die Feuchtigkeit in ihren Augen und das Zucken ihrer Gesichtsmuskeln. Zunächst denke ich mir nicht viel dabei. Ich nehme an, es sind Freudentränen, weil sie glücklich ist, "mich" zu sehen. Doch als sie leise schluchzt und Tränen ihre Wangen hinabrennen, werde ich skeptisch.   “Failman? Failman, was ist los?”, frage ich sie und trete einen Schritt näher.   “Es tut mir leid… Es tut mir so leid… Ich wollte nicht weinen, ich wollte wirklich nicht weinen.”, schnieft sie und wischt sich hastig die Tränen aus dem Gesicht. “Ich wollte stark sein. Den ganzen Tag über wollte ich stark sein. Ich wollte einfach nur glücklich sein, überhaupt in deiner Nähe zu sein. Aber das... reicht mir nicht. Ich weiß, dass ich selbst schuld bin. Das ist die Strafe für meine Gutgläubigkeit. Aber… ich glaube, ich kann es nicht mehr halten.”, die Arme fest um ihren Körper geschlungen, signalisiert sie mir, wie einsam und verlassen sie sich fühlt.   “Failman, bitte hör doch auf zu weinen. Du weißt, dass das zu nichts führt.”, rede ich auf sie ein und lege unbeholfen eine Hand auf ihre Schulter. Ich kann weinende Mädchen nicht ausstehen.   “Ich kann aber nicht anders!”, heult sie. “Wie im Regen damals, wie im späteren Regen, wie an jedem anderen Regen, den ich seither je gesehen habe, kann ich nicht anders als zu weinen.”,   “Mir ist wieder klar geworden, in was für einer Lage ich mich befinde. Mir ist klar geworden, dass ich einen Fehler gemacht habe. Dass ich dumm war. Mir ist gerade klar geworden, dass ich etwas verloren habe, was mir sehr wichtig war. Dass es tatsächlich so ist, wie ich es die ganze Zeit über nicht wahrhaben wollte. Dass der Junge, den ich liebe…”, sie atmet ein und wieder aus. “nicht mehr hier ist.”,   “Failman.”, großer Gott, sie hat es erfasst.   “Aber trotzdem… kann ich nicht aufhören, daran zu glauben. Es tut so weh. Ich bin so überglücklich, dass du noch am Leben und dass du gesund bist. Aber ich bin auch des Todes unglücklich, dass du mich vergessen hast. Und dafür hasse ich mich. Dafür, dass ich dich immer noch liebe, obwohl du es nie wieder erwidern könntest. Jetzt bin ich hier. Zurück am anderen Ende des Landes, zurück in einer Stadt, die ich vergessen wollte. Warum bin ich hier, Ellie? Wenn alles Leiden umsonst war, was mache ich dann immer noch hier?”, das ist der Moment, in dem ich meinen Griff um sie zurück an mich ziehe und ihren runterhängenden Kopf an meine Schulter drücke.   “Du hast mich sehr geliebt. Du liebst mich auch jetzt sehr. Du liebst mich mehr als jeder andere in dieser Stadt. Ist es nicht das, was dir gerade durch den Kopf geht?”, flüstere ich ihr unnütze Worte zu und lausche ihrem zitternden Schluchzen.    Ich spüre ihr schüchternes Nicken. Spüre fast schon den Schmerz, der genauso groß ist, wie ihre Liebe zu dem Jungen, der nicht da ist. Sie sagt noch ein paar andere Dinge, die ich nicht so gut verstehen kann.   “Schhhh, sag nichts mehr. Du hast genug gesagt.”, hauche ich und fahre mit der Hand ihren Hinterkopf hoch und runter. Elvis hätte das Gleiche getan.   “Aus Liebe zu handeln, macht dich nicht dumm. Es ist das, was dich zu einem Menschen macht.”, lüge ich an der Stelle, die für Elvis die Wahrheit gewesen wäre. Was soll das überhaupt heißen?   “Es war kein Fehler herzukommen.”, folgt eine weitere Lüge, die ihr Hoffnung gibt.   Daraufhin weint sie aber nur noch mehr. So sehr, dass es mir physische Schmerzen zufügt.  Es ist wieder einer der Momente, in denen ich die Existenz in ihrer vollen Heftigkeit spüre.  Failmans Tränen auf meiner Schulter.  Der schmerzhafte Druck in meiner Brust.  Das gleißende Licht der Straßenlaterne in meinem Gesicht.  Als wäre allein das Haften von Fleisch auf Knochen schon eine Schwerstarbeit.  Sie ist nicht das erste Mädchen, dass ich an Elvis’ Stelle zum Weinen gebracht habe. Wie Shuichiro bereits sagte, alle guten Dinge sind acht. Doch all diese Mädchen haben sich in den Elvis verliebt, der von mir gesteuert wurde. Die gehörten zu dieser Welt, die ich durch “seine” Augen sah. Wenn auch nur für wenige Sekunden. Wenn auch ihre Gesichter allesamt nur Henohenomohejis waren. Der Parasit nimmt Elvis’ Rolle ein, auch wenn er weiß, dass er ihn nicht wirklich ersetzen kann. Auch, wenn seine Familie irgendwo merkt, dass anstelle des Jungen nur noch ich da bin, meine Bemühungen reichen aus, um sie zufrieden zu stellen, da sie genau zu wissen glauben, was Elvis für einen Dachschaden davongetragen hat. Jeder andere Mensch in meinem Alltag tut das nicht. Jeder andere Mensch, ob Hauptcharaktere wie meine Freunde oder Nebencharaktere wie Lehrer, Klassenkameraden und Menschen im Hintergrund, auch für sie reichen meine Bemühungen aus. Wenn ein Mädchen “mir” seine Liebe gesteht, lehne ich es stets ab. Jemandem als Parasit, der sich als einen anderen Menschen ausgibt, eine Beziehung vorzugaukeln, ist mir noch nie richtig erschienen. Bedeutet hat es mir auch nie etwas. Doch zuzusehen, wie dieses Mädchen, dass in den Jungen verliebt ist, den ich aus der Existenz gedrängt habe, weinen muss... das tut weh. Dass ich sie angelogen habe, dass sie “mich” liebt, aber niemals mich lieben könnte, selbst, wenn sie wollte, das wird ihr in Zukunft noch wehtun.   “Der Mond ist heute übrigens wunderschön⁶.”, lasse ich den Protagonisten sagen und drücke das Mädchen an mich, als hätte ich das Recht, so etwas Irreführendes zu sagen und wäre fähig, es zu lieben und zu ehren, wie der Mensch, der ich vorgebe zu sein.   ***   Ich habe nur existiert, weil ich es ihm schuldig bin. Dem Jungen, der vor drei Jahren ums Leben kam. Elvis. Zurück blieb nur sein Körper und eine Seele, welche so zurückgesetzt und zugleich so derbe entstellt worden ist, dass sie nicht mehr mit der des Vorgängers übereinstimmt. Diese Seele bin ich. Aber mal angenommen, ich wäre tatsächlich imstande, mir etwas zu wünschen und würde keinen Platz einnehmen, weil es nun einmal nicht anders geht.  Wenn ich wirklich nicht existieren könnte, ohne mir etwas zu wünschen, wofür würde ich dann leben? Wenn meine Existenz nicht nur dem Zweck dienen würde, den Platz einer anderen Person einzunehmen, wäre es mir dann überhaupt erlaubt, sich nach etwas zu sehnen?   Und nun liege ich hier. In dem Bett, in dem ich immer liege. Ich sehe meine Hand an und frage mich, was um alles in der Welt ich mir dabei gedacht habe. Dabei, sie zu berühren, ihr diese Dinge zu sagen. Das ist nicht meine Hand, mit der ich sie berühre. Ich gebe seine Hand als die meine aus, weil es so leichter ist, sich in sein Leben einzufügen. In seinem Leben weiß ich das erste Mal seit langem auf allen Ebenen nicht weiter. Ich habe sie bereits abgewiesen, weil ich nicht Elvis bin und sie deshalb nicht liebe. Ob Elvis oder nicht, ich wollte vernünftig sein. Warum also habe ich ihr all diese Dinge gesagt? Wieso musste ich mich ausgerechnet in diesem Moment für diesen ganz gewöhnlichen Menschen nur so verantwortlich fühlen?   “Ich brauche ganz dringend Schlaf.”, flüstere ich mir selbst zu, als meine Socken abstreife und seufze.   Völlig egal, wie blöd ich mich am Ende dieses Tages angestellt habe, jetzt kann ich es sowieso nicht mehr ändern. Mehr als nach vorn zu sehen bleibt mir ohnehin nicht übrig. Ich muss jetzt einfach schlafen und mir einreden, dass die Welt, in der ich morgen aufwache doch wieder ganz anders aussähe. Ein Schaf, zwei Schafe, drei Schafe… Es funktioniert. Es funktioniert unerträglich langsam, aber es funktioniert. Mir fehlt die Kraft, weitere Gedanken zu formen und ich merke nach den letzten, wie erschöpft ich wirklich bin. “Mir fällt was ein, okay?”, flüstert mein Bewusstsein in meiner Unentschlossenheit ihr gegenüber und ich merke, wie sich mein Geist entspannt.   Die Decke ist nicht mehr zu spüren, überhaupt ist nichts zu spüren und ehe ich mich versehe gibt es nur mich und die unendliche Dunkelheit. So weit wie das Universum und weiter. Ich nehme nichts mehr war und vergesse, dass ich existiere. Ich fühle weder mich noch die Gedanken in meinem Kopf, mein Dasein oder die Tatsache, was ich bin und folglich tun muss. So sehr ich die Monotonie auch fürchte, diese Art von Leere betört mich immer wieder. Da ist nichts zu sehen, zu denken oder zu fühlen. Und das zu wissen, beziehungsweise, es nicht zu wissen, fühlt sich gut an. Denn nur so glaube ich wahrhaftig zu fühlen, was man "glücklich" nennt. Kapitel 5: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Fata Morgana ------------------------------------------------ Heute ist der große Tag. Heute gehen wir auf Klassenfahrt. Ich habe alles gepackt, mindestens dreimal kontrolliert und wieder ausgeleert, um ja nichts zu vergessen. Ich hasse Busfahrten. Ich habe einen schwachen Magen. Mir ist jetzt schon irgendwie schlecht. Super, echt! Aber ich versuche, gezwungenermaßen, positiv zu bleiben, bis ich wieder versuchen muss, meine Kotze zu behalten. Jetzt stehe ich hier mit den anderen und warte auf den Bus, während Akira das letzte Bisschen Dosenbier ausschlürft, bevor er eine ganze qualvoll lange Woche nichts mehr davon schmecken wird. "Akira-chan, da kommt nichts mehr. Lass los!", ermutigt ihn Shuichiro. "Da ist was drin. Da ist immer noch ein Rest drin, wenn du nur fest genug dran glaubst!", bleibt er stur wie ein Esel. Frag mich nicht, was er an dieser Beleidigung von Getränk findet. "Gib es auf, Egaoshita-san. Es ist leer und du weißt es. So viel von diesem Zeug zu trinken ist sowieso nicht gut für die Gesundheit.", entgegnet Kaishi. "Du bist nicht gut für die Gesundheit…", brummt er, während er die Bierdose ansieht wie einen Verstorbenen und einsieht, dass da nun wirklich nichts mehr zu holen ist. "Eeeeeeellie! Guten Mooooorgen!", ruft Chika mir in ihrer typischen Sanftheit nach und klebt mir wieder am Rücken. Wann lernt sie das endlich? "Ich bin zu spät gekommen, weil ich die ganze Nacht vor Aufregung gar nicht schlafen konnte, das wird so toll!", ihre Begeisterung ist durch nichts zu bremsen. Sie lässt wieder von mir ab und strahlt mich an. Herrschaft noch mal. Ich sollte eigentlich gar nicht überrascht sein. Ich bin es trotzdem. Ich sehe sie zum ersten Mal in etwas anderem als ihrer Schuluniform. Na ja, zumindest seit sie wieder in der Stadt ist. Die Chinobara Oberschule erlaubt das. Man könnte sagen, was die Schule und die doch recht liberale Klassenlehrerin angeht, so habe ich Glück. "Ellie, alles in Ordnung? Du bist so still.", reißt sie mich aus den Gedanken. "Verzeihung. Ich hab nur nachgedacht.", antworte ich kühl. Chika sieht kurz etwas verwirrt aus, dann grinst sie. "Gefällt dir, was du siehst?", versucht sie, mich zu ärgern. "Ich hasse es... zumindest nicht direkt.", formuliere ich um, was ich eigentlich meine. Sie trägt die gleichen Kniestrümpfe wie sonst, nur hat sie anstelle der Schuluniform eine ziemlich kurze Hose, ein schwarzes, tiefausgeschnittenes top und eine dunkelblaue Lederjacke. "Juhu, Ellie hat mich gelobt!", freut sie sich und fällt mir ein weiteres Mal um den Hals. Wenn sie bloß wüsste, wie sie aussieht. Ich kann nicht glauben, wie sehr mich ihre freizügige Erscheinung aus dem Konzept bringt. Das nervt. Ich verstehe es nicht. Das, was ich da sehe ist nichts als eine Demo-Version ihres nackten Körpers. Und wie nackte Köper aussehen, weiß ich. Wieso also bin ich so beunruhigt bei ihrem Anblick? Ich weiß fast alles, was es über die Chemie, Physik, Biologie und die Wissenschaft allgemein zu wissen gibt. Wenn der Kopf so leergeräumt ist, wie meiner es war, kann man ihn mit unsäglich vielen Informationen über diese Welt füllen und diese Leere ausgleichen. Dieser Ausgleich geht bei mir seit drei Jahren von statten. Einmal war ich sogar so neugierig, dass ich auf PornHub gelandet bin. Das endete damit, dass sich meine sprachbehinderte Wenigkeit über den PC meines Vaters übergeben, geschrien und geweint hat vor Schock. Ich habe tatsächlich vergessen, was ein Porno ist. Ich hatte nur noch die wage Vermutung, zu wissen, wie man Babys macht. Ich wusste bloß nicht, wie Menschen beim Akt aussehen. Meine Eltern sind dann reingekommen und haben gesehen, wie ich vollgekotzt und heulend auf dem Boden kaure, vor einem PC hocke, auf dem noch ein Porno läuft. Sie waren nicht mal böse auf mich. Mein Vater hat den PC saubergemacht und gewischt, meine Mutter hat mir Wasser gegeben und beruhigend auf mich eingeredet. Ich hatte mich beim Hören dieser hohen Frequenzen zu Tode erschreckt. Ich habe schon einmal jemanden in einer ähnlichen Frequenz schreien hören. Diese leise Erinnerung hat gereicht, damit mein Essen mich verlässt. Ich wurde schon wieder ins Krankenhaus gebracht, weil der Trigger der Erinnerung an den Schrei mich so zerstört hat. Das war das letzte Mal, dass ich den Begriff PornHub jemals wieder in die Suchleiste eingegeben habe. Wenig später sitzen wir alle zusammen im Bus. Vor mir sitzen Kaishi und Shuichiro, hinter mir Akira und neben mir aus dem Fenster spähend sitzt Failman. Ich kann Akiras Lennyface-Blick förmlich riechen. Kann er nicht wie alle normalen Menschen aus dem Fenster gucken oder Handyspiele zocken? Mist, wieso musste ich auch gestern so übertreiben mit dem Essen? Ich fühle mich ekliger als ein Brot in Gammelwasser. Widerlich. Aber ich muss mich zusammenreißen. Shuichiro dreht sich nach hinten zu uns und bietet uns Chips an, während ich versuche, mich möglichst nicht zu übergeben. Ich hasse Busfahrten. So sehr. Ich fahre nicht oft mit einem, aber meistens esse ich vor einer erwarteten zumindest nichts zu Abend. Nur habe ich bereits Tage vorher gepackt, sodass ich die Klassenfahrt nicht unbedingt im Kopf hatte. Warum haben Taiyo und ich gestern nochmal alle Folgen dieser spannenden Serie geschaut und dabei nicht aufgehört zu essen? Wieso habe ich heute morgen im Halbschlaf nach diesem komischen Joghurt auf ex getrunken? Elvis, du bist doch endblöd! Fuck, ich will die fröhliche Klassenfahrtsstimmung nicht ruinieren mit meiner Übelkeit. Ich muss mich zusammenreißen, wenn ich mich jetzt nicht komplett unbeliebt machen will. Jeder hasst den Geruch von Erbrochenem. Als einer der beliebtesten Jungs im Jahrgang hab ich umso mehr Angst. Wehe, du schreist jetzt Luxusproblem, ich habe jetzt wirklich ein bisschen Panik. Ein bisschen in Größe eines Dinosauriers. Von einem… der in Flammen steht. Die Fahrt soll angeblich nicht so lang sein. Gut für mich. Denn nach einer Stunde glaube ich, das Schlimmste hinter mir zu haben und nicht alles vollzukotzen. Entspann dich, Elvis. Entspann dich. Einen abgelaufenen Joghurt ohne volles Bewusstsein in dir drinzuhaben, hält dich nicht davon ab zu entspannen… Fahrerpause. Mir doch egal. In diesem Moment glaube ich fast, dass mein Unwohlsein komplett verschwunden ist. Ich lockere den Arm um meinen Bauch und seufze. Es wird alles gut. Ich habe alles unter Kontrolle. "Das hättest du wohl gern~", säuselt die altbekannte Stimme deren Klang ich mehr verachte als die jeder anderen jemals. Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Schlagartig, ohne, dass es einen weiteren vernünftigen Grund hat, zieht sich alles in mir zusammen. Ich schlage die Hand vor den Mund und renne kopflos aus dem Bus. Da ist nichts als pure Panik in meinem Innern. Ich bin fast an der Raststätte angekommen, stolpere über meinen Fuß und... übergebe mich mitten auf dem Asphalt der Raststätte. Mir war bei Busfahrten ja oft schlecht und so, aber das ist das erste Mal, das ich mich wirklich übergeben habe. Er war es schon wieder. Dieses verdammte Schwein. Auf Klassenfahrt, vor einer Raststätte, in der Öffentlichkeit, wo es jeder sehen kann! Das ist einfach nur grausam! Ich habe einen Ruf zu verlieren. Er nimmt mir alles weg. "So ein Scheiiiiiß!", schreie ich auf dem Boden kauernd, vor der gelblichen Pfütze, deren Anblick mich gleich nochmal zum Kotzen bringen könnte, wäre nicht längst alles draußen, was irgendwie drinnen war. Das mag zwar lächerlich klingen, für jeden, der nach dem Kotzen, wieder voll auf den Beinen war, aber nachdem ich die ganze Raststätte und den Bus mit meiner alles gesehen habenden Klasse zusammengeschrien habe, wird alles um mich herum schwarz. Wer hätte gedacht, das ich so schwach bin, dass ich sowas schon ohnmächtig machen könnte? Dass ich nach wie vor so ein zerbrechliches Kind bin? Aber das war wirklich bis zum Gehtnichtmehr peinlich und wirklich zu viel für mein armes Herz. Es war wirklich viel zu viel. Ich wäre bestimmt die Heulsuse in Zombiefilmen, die als Erste stirbt. Den genauso fühle ich mich gerade, denke ich, ehe mein Bewusstsein wie die Titanic im Meer aus endlosem Schwarz untertaucht und letztendlich ertrinkt. Nur gehöre ich nicht zu den Passagieren, die gerade sterben. Auch, wenn sich das so anfühlt. Dieser Kerl bringt mich von innen um. Er zerreißt meine Eingeweide. Dann springt er mir aus der Brust und grinst mich grausamer an als mein eigenes Gesicht überhaupt dürfte. Ich hasse dieses Gesicht. Dabei ist es gleichzeitig auch meins. Dann gibt meine Körperkraft nach und mein schwerer Kopf sinkt auf den kalten Steinboden. Das ist mir mehr als nur peinlich. Man hat alles gesehen. Ich wurde gerade, selbst wenn man ihn nicht sehen kann, live von diesem Kerl gedemütigt. Ich hasse ihn. Und jetzt bin ich eine Lachnummer. Das, was ich niemals sein wollte. Ich sah diese Menschen. Lagen da so, wie Gott sie geschaffen hatte und die Frau schrie immer lauter und lauter. Mein Herz raste wie verrückt, ich hatte das Gefühl, es würde mit jeder weiteren vergehenden Sekunde in meiner Brust explodieren. Kalter Schweiß rannte mir die Stirn hinunter, ich fühlte mich, als würde ich gerade innerlich sterben. Hör doch auf, hör doch bitte auf!, flehte ich in Gedanken, doch war unfähig, etwas zu tun. Als die Frau diesen einen Dezibel zu hoch kam, war es aus mit mir. Nicht so laut, nicht so laut, bitte nicht!, dachte ich stetig, doch war zu gefangen, um abzuschalten. Diese eine Oktave zu schrill und ich schrie. Das war das mit Abstand erste Wort, dass ich seit dem Krankenhaus jemals in den Mund nahm. "Neeeeeiiiiiin!!!!! Nein, nein, nein, nein, n-", keifte ich dem Computer entgegen und ehe ich zum nächsten Nein übergehen konnte, erbrach ich mich bereits auf den Bildschirm und die Tastatur. Immer noch heiser wimmernd ruschte ich dann vom Stuhl weinte. Ich hörte sie immer noch stöhnen und schreien, ich raufte mir die Haare und hielt mir die Ohren zu. Die Tür wurde aufgerissen und meine Eltern waren da. Die Eltern, deren Sohn sie vergessen hatte. "Elvis, Kind, was ist denn… PornHub? Kind, was ist los?", wollte meine Mutter energisch wissen, als sie sich bückte und an sich zog. Ihr war egal, dass Erbrochenes an meinem Shirt klebte. "Shun, mach das aus! Wir müssen ins Krankenhaus!", sagte die Frau ihrem Mann, der die vollgekotzte Maus betätigte, um den Tab zu schließen. Er verließ das Zimmer wieder, um Putzutensilien zu holen. Ich hielt mich noch an meiner Mutter fest und weinte. "Es wird alles gut! Es wird alles gut, Schatz. Du brauchst keine Angst zu haben! Wir sind da! Bitte wein nicht mehr, Elvis! Egal, was du gesehen hast, es ist nicht real und kann dir nicht wehtun! Hörst du? Nichts dergleichen ist echt!", flehte sie mich an, mich zu beruhigen.   Sie hörte nicht auf, mich zu halten, bis mein Vater alles saubergemacht, wir ins Krankenhaus gefahren sind und ich daran erinnert wurde, dass ich mich mit dem Erinnern nicht allzu stressen soll, da sonst sowas passiert. Damit endet der Flashback.   *** Schon wieder bin ich im Dunkeln. Eine Art Meer, nur ist es schwarz wie die Nacht. Es gibt keinen Sand und ich kann atmen. Ich bin also wieder hier. Als ich sitzend merke, dass ich unter mir wieder mein Selbst reflektiert bekomme, zucke ich, wie damals, zusammen, als es mich schon wieder zweimal gibt. Der gleiche Bastard. Das gleiche skrupellose Arschloch. "Du.", murmle ich und habe nicht weniger Angst vor meiner Kopie als früher. "Schau an, schau an, du bist noch ganz der Alte.", dieser Typ macht sich über mich lustig. So war er schon immer. Er reibt mir unter die Nase, wofür ich nichts kann. "Du verschwindest auch nie, oder, Idris?", antworte ich, stehe auf und zwinge mich zu einem herausfordernden hämischen Lächeln. "Am Ende bin ich am Steuer, miese Fälschung.", ich werde gegen ihn nicht verlieren. Anscheinend ist er schuld an allem, was mit meinem Kopf nicht stimmt. Die Seite an mir, die alles beendet hat. Idris. Im Grunde unterscheiden wir und vom Aussehen her gar nicht, außer dass meine Augen rot sind und seine grün. Er ist so etwas wie meine diabolische Seite. Bis jetzt habe ich sie im Zaum halten können und es gelang ihm nie, tatsächlich Besitz über mich zu ergreifen. Trotzdem kann ich nahezu spüren, wie viel mehr er kurz davor ist... "Ich sehe, du hast da eine ziemlich heiße Freundin am Start. Ich wusste gar nicht, dass Elvis auf solch oberflächlichen Weiber steht? Aber na ja, das bist du ja schließlich auch, nicht wahr?", "Träum weiter, ich bin nur so oberflächlich, weil es oben sicher ist. Du bist ja selbst aus den Tiefen meiner Amnesie entstanden. Tief. Unten. Merkst du was?", mache ich einen auf cool. "Tu was du willst, lange wirst du mich nicht aufhalten. Schließlich sind wir ein und die gleiche Person!" Ich liege in einem Bett. Als ich langsam wieder aufwache, ist das Erste, was ich wahrnehme, der Geruch von Birnenshampoo und Haare, die mich kitzeln. Obwohl, ganz so stimmt das nicht. Das wirklich Erste, was mir in den Sinn kommt, ist die Weichheit eines anderen Körpers nah an meinem Herzen. Ganz nah. Viel zu nah. "Wie schön, dass du endlich aufgewacht bist...", eine vertraute Stimme höre ich da. Sie. "Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, als du da plötzlich unsere schöne Runde verlassen, vor die Raststätte gekotzt und anschließend so komisches Zeug durch die Gegend geschrien hast. Hast die ganze Fahrt und das Auspacken verschlafen. Die Gang und ich habe geholfen, dich und dein Gepäck hier hoch zu schleppen. Shuichiro hat versucht, nicht zu weinen. Und dann habe ich diese Situation genutzt und dich dann als Kuschelkissen missbraucht. Tut mir leid, wenn das selbstsüchtig war.", erzählt sie mir und drückt mich stärker sich. Ich kann irgendwie nicht reden. Nicht nur, weil sich mein Mund so trocken anfühlt, sondern auch, weil ich wieder einmal am eigenen Leib spüre, wie viel Holz sie vor der Hütte hat. "Chika, ich-", Die Tür wird aufgerissen vor Schreck fallen und wir beide aus dem Bett. "Was zur Hölle..", entfährt es einer rauen Mädchenstimme. "Also... für sowas ist es wirklich weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Ich soll kommen, um euch zu holen.", meint das blonde Mädchen und ist etwas errötet. Erst verstehe ich nicht, worauf sie hinaus will, dann sehe ich herunter. "Ellie?", Chika ist verlegen, weil nicht von ihr runtersteige. Ich springe sofort auf. Ich sehe erst zu Chika, dann zu dem kleinen mürrischen Mädchen. "Es ist nicht das, wonach es aussieht.", brumme ich und schiebe mich an ihr vorbei. *** "Kotzbrocken, ahoi, wie schön, dass du endlich aufgewacht bist, oh Mann, was hast du dir dabei gedacht? Wir haben uns wirklich Sorgen gemacht!", Akira begrüßt mich mit einer Nackenschelle und ich bin etwas angefressen davon, wie er sich über mich lustig macht. "Blödmann, Idiot, ich hab mir voll Sorgen gemacht!", höre ich Shuichiros leicht erstickte Stimme, als er aus dem Nichts angestürmt kommt und mir in die Arme rennt. "Es tut mir ja leid. Gestern war mir auch nicht gut und sagen wir mal so, die nächsten Tage werde ich jeden Joghurt meiden, der sich mir in den Weg stellt, aber... jetzt ist alles wieder gut.", rede ich auf ihn ein und fahre ihm durch die blonden Haare, als ich sein leises Schluchzen höre.   Asahina verdreht im Hintergrund die Augen. Der konnte weder Shuichiro noch mich jemals leiden. Shuichiro, weil er ein melodramatischer Romantiker ist, dem man schnell zum Heulen bringen kann, mich, weil ich... ich bin. Und weil ich mal kurz davor war, ihm die Nase zu brechen, als er versucht hat, meine Narbe zu entblößen. Von da an, wusste ausnahmslos jeder Junge in Kabine 5, dass es keine gute Idee ist, mich ernsthaft wütend zu machen. "Herrschaft noch mal, hast du gerade meinen Pullover vollgeschleimt?!", stelle ich ihn entsetzt zur Rede, als wir uns voneinander lösen und sein Rotz uns noch verbindet. Shuichiro errötet etwas und sagt nur ganz kleinlaut: "S-sorry..."   *** Das war ein wirklich langer Tag. Ich bin, zu meiner Überraschung, nicht unbeliebt geworden oder so was. Jetzt weiß nur jeder, dass sich die Kombination Kyokei und Bus nicht besonders verträgt. Mir soll's recht sein. Nun sitze ich mit der Gang friedlich am Tisch und esse zu Abend. Das Essen hier ist besser als ich dachte. "Alter, wie langsam isst du eigentlich?", entfährt es Akira bei der gemeinsamen Nahrungsaufnahme. "Ich esse nicht zu langsam. Ich kaue bloß effizient.", verteidige ich mich. "Bitch, bis wir mit Essen fertig sind, ist es bei dir schon kalt, ich schwör auf alles.", findet er und ich finde, dass er übertreibt. "Dann bin ich auch fertig. Und dann ist es nicht kalt, sondern in mir drin.", erkläre ich ihm freundlicherweise. "Das hat deine Mutter letzte Nacht auch zu mir gesagt.", grinst er sein Lennyface-Gesicht und erwartet wohl, dass ich reagiere. "Noch ein Kommentar und ich ramme dir meine Wurst so tief in den Rachen, dass dir die Worte im Hals steckenbleiben.", hoffe ich, dass er sich damit zufriedengibt. "Das hat deine Mutter letzte Nacht- … Aua! Kaishi, warum kneifst du mich?!" "Du hast danach geschrien.", entgegnet Kaishi sachlich und unberührt. "Ich bin sicher, Kyokei-chans Mutter ist nicht so Eine.", versucht Shuichiro, die Ehre meiner Mutter wiederherzustellen. "Gewiss nicht.", bestätige ich, denn ich bin ebenfalls der Meinung, dass diese Frau nicht mit jemandem wie Akira verkehren würde.  "Ich bin gleich zurück.", lässt uns Kaishi wissen und macht Anstalten, aufzustehen. "Ich möchte mir noch etwas Milch holen." "Nicht nötig, da steht schon Asahina daneben.", teilt ihm Akira mit und raunt daraufhin durch den Raum: "Yo Asahina, lass das Tittenwasser rüberwachsen!" Dieser findet das gar nicht lustig. Weil er nämlich nicht nur Shuichiro und mich nicht ausstehen kann, sondern ebenfalls einen Groll gegen Akira hegt. "Du blöder Bastard, hol dir die scheiß Milch doch selber!", regt er sich und läuft mit der Milchpackung davon. Wohin genau, wenn nicht an seinen Platz zurück, werden wir wohl nie erfahren. Wissensbedarf nicht vorhanden. Asahina kann meinetwegen auch Zigaretten holen gehen. Die Milch hat er ja schon. Diesen Milch und Zigaretten Witz habe ich von Akira. Die Pointe besteht daraus, dass irgendein Vater Frau und Kinder zurücklässt und Milch beziehungsweise Zigaretten nur als Ausrede nutzt, um für immer zu verschwinden. Was genau daran jetzt so witzig ist, verstehe ich nicht.    Mein Blick fällt auf den Fenstersims und aus dem Fenster ins Freie. Draußen ist es inzwischen am dunkel werden, aber nicht zu dunkel, um den Sand noch glitzern zu sehen, der das Mondlicht reflektiert. Dieser Strand ist wirklich schön. Ich mag das Meer. Mir egal, dass ich nie wieder halbnackt dort herumschwimmen werde. Ich habe mich in der freien Zeit rausgeschlichen. Meine Gang spielt gerade Super Smash Bros. Ultimate. Ich habe ihnen gesagt, ich würde noch rausgehen wollen. Zuvor habe ich ihnen hoch und heilig versprochen, wieder hochzukommen und mit ihnen zu spielen. Es gibt keinen Grund, dieses Versprechen zu brechen, ich denke, ich halte es. Ich bin gerade dabei, den Strand entlang zu laufen, da sitzt dann wer. "Chika? Was machst du denn hier? Willst du nicht mit den anderen Smash spielen?", möchte ich wissen. "Nein, irgendwie nicht. Ich habe dich vorhin so begeistert aus dem Fenster gucken sehen, da dachte ich, du willst bestimmt zum Strand und habe auf dich gewartet.", erzählt sie mir. "War das falsch?", auf diese Frage antworte ich nicht. Auf mich zu warten, weil ich so aussah, als würde ich später hier aufkreuzen, ist auf allen Ebenen falsch. Ihre Augen sind auf das Spiegelbild vom Mond auf der Wasseroberfläche gerichtet, welches sich in ihren tränenfeuchten Augen widerspiegelt. "Ist alles in Ordnung?", wessen Augen so aussehen, der kann mir nicht erzählen, das mit ihm alles in Ordnung sei. Und weil sie es ist, interessiert es mich fast wirklich. Sie hat schließlich etwas, das mir gehört, darum sollte ich gut zu ihr sein. "Es ist nur, ich habe das Gefühl, als stünde ich dir im Weg oder würde ich dir mit meiner Art auf die Nerven gehen. Wegen der Sache von vorhin als du ohnmächtig warst... Ich dachte, du würdest dich besser fühlen, wenn du mit jemand Bekanntem im Bett aufwachst und ich... Das war absolut unverschämt von mir, es... es tut mir leid.", Reue erfüllt ihre Stimme, sodass ich mich berufen fühle, ihr zu sagen, was Sache ist. "In der Tat war, war was du getan hast ein ziemlicher Eingriff in meine Selbstbestimmung. Du bist mehr als nur im übertragenen Sinne über meinen wehrlosen Körper hergefallen, als ich bewusstlos war. Jeder andere Typ in der Klasse fände das Aufgrund deines Erscheinungsbildes vielleicht spitzenklasse oder wäre eingeschnappt, würde er Kaishi heißen und das Grundgesetz besser kennen als seine eigene Blutgruppe. Jedoch bin ich weder ein normaler Mensch herkömmlichen Sinnes noch habe ich das Bedürfnis, dich leiden zu sehen. Mit anderen Worten… alles in bester Ordnung." Wieder ist es so still zwischen uns und ich weiß nicht, ob ich etwas Falsches gesagt habe. Dabei ist es doch nichts als die Wahrheit. Einer der Wahrheiten, die zwar nüchtern und kalt sind, aber niemandem das Herz brechen. "Vielen Dank, für diese lieben Worte, Ellie.", bedankt sie sich bei mir. "Ich habe mich auch sicher gefühlt. Ich wünsche mir, dass du irgendwann wieder so in mir bist." "Wie bitte?", verstehe ich da etwas ganz gehörig falsch. "A-a-ach nichts! Ich meinte das nicht sexuell oder sowas! I-i-ich wollte auch gar nicht sagen, sagen, dass du in mir sein sollst, d-d-das ist gegen die Regeln! Nicht zweideutig denken, Ellie! Ich wollte nur… Ich wollte…", sie überlegt, was sie eigentlich sagen wollte. "Dass du irgendwann wieder so friedlich schlafend in meinen Armen liegst...", beendet sie ihren Satz und sieht mich an. "Wenn du dich anstrengst, bringst du mich vielleicht eines Tages dazu.", kommt es von meiner Seite und ich wünschte, ich wüsste selbst, ob das gerade konstruktiv oder destruktiv von mir war. Vielleicht ja auch beides. "Ja, das wäre schön..", flüstert sie kichernd und sieht zum Mond herauf.   Diese Nacht fühlt er sich besonders nah an. Und wieder einmal verharren wir in derselben Position länger als man meinen könnte. Wir beide starren in den Nachthimmel und obwohl wir nach der Lehre der Proxemik die nahe Phase der Intimzone des jeweils anderen nicht betreten haben und uns längst nicht mehr so nah sind wie nachmittags im Bett, liegt da doch eine komische Spannung zwischen uns, welche ich nicht ganz in Worte zu fassen vermag. Ob wie es auch spürt? Ich sehe sie an und studiere ihr Seitenprofil. Sie ist komplett in ihrer eigenen Welt versunken. Ein Ort weit weg von hier. Nicht wissend, was ich sonst tun soll, wende ich den Blick am und starre wieder dorthin, wo sie auch hinstarrt. Die Spannung verzieht sich nicht, ich kann sie noch immer spüren. Irgendwo zwischen Herz, Lunge und Zwerchfell. Ob uns irgendjemand sieht? Bald sollten wir schließlich wieder rein. Rein und mit den Jungs smashen, bis der Arzt kommt. Und doch bleibe ich fürs Erste hier. Mit ihr hier. Und das auf allen Ebenen verdächtig. Shuichiro und Akira freuen sich gerade vermutlich einen Ast ab, falls sie mir gerade auflauern. Vermutlich tun sie das gerade, aber ich mache mir nicht die Mühe, mich umzudrehen und nachzusehen. Ich habe zwar weder Sinn für Romantik noch bin ich gut darin, welche zu versprühen, aber dass in Serien solche Momente die Fangirls sterben lässt, erkenne sogar ich. Dass die Gang mich mit der da zusammen shippt, ist nichts worüber ich glücklich bin. Uns verbindet nur, was ich nicht habe. Ich könnte ihr so schrecklich wehtun. Niemand weiß, warum Chika an mir so klebt und ich sie nicht wie andere Mädchen der Wohlfahrt übergebe. Absolut niemand hat mich jemals so mit einer Mitschülerin umgehen sehen. Mein Blick fällt auf eins ihrer Armbänder. Schutzmechanismus. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht weiß. So schrecklich viel davon. Und hinterfragt habe ich schon lange nicht mehr, wie meine Welt aussieht. Ich brauche mich nicht zu fragen, wie ihre Haut unter dem Leder aussieht. Es ist ebenfalls nicht nötig, sich zu fragen, ob die blaue Schleife in ihrem Haar vielleicht eine tiefere Bedeutung hat. Genauso wenig muss ich mich zu diesem Zeitpunkt noch oder schon fragen, in was für einer Beziehung ich wirklich mit ihr stand. All das würde ich - oder würde ich nicht - herausfinden, würde sie ihre Wirkung entfalten und beweisen, dass sie stärker ist als die Gesetze der Neurowissenschaft. Ich muss mich, unabhängig vom Endergebnis unserer Handlungen, gedulden. Gedulden und weitermachen. Sie vorsichtig auf den richtigen Pfad zurückdrängen, weil das alles ist, was ich für sie tun kann. Ich stecke im Körper ihrer ersten Liebe, ich bin sie aber nicht. Alles, was ich in meiner Position tun kann, ist, sie vorsichtig über "mich" hinwegkommen zu lassen. Ich muss behutsam umgehen, mit ihren zarten Gefühlen für ihn, die sie glaubt, für mich zu empfinden. Ich muss behutsam vorgehen. Deshalb toleriere ich sie. Deshalb werde ich sie weiter tolerieren. Weil sie der erste Mensch seit meinem Erwachen ist, der alles hautnah miterlebt zu haben scheint. Ich weiß praktisch nichts, sie weiß praktisch alles. Es wäre nett von ihr, mir eine Zusammenfassung dessen zu geben, was sich abgespielt hat, als wir im Leben voneinander noch eine Rolle gespielt haben. Aber so etwas aus dem Nichts heraus zu verlangen und ihr damit den Traum zu nehmen, ich könne mich erinnern, wäre wiederum nicht besonders nett von mir. Auch wenn ich schlussendlich nicht besonders nett sein kann, weil ich sie nicht liebe. Ich muss mir gut überlegen, was ich sage oder tue, um keinen unnötigen Scheiß in seinem Leben anzustellen. Fürs Erste verschiebe ich die Sache mit der Zusammenfassung auf ein andermal. Wenn ich nichts anderes zu tun habe. Wenn mir sterbenslangweilig ist.  Denn diese Information hat für dieses normale Leben keinen Nutzen. Hier geht es nur darum, Failman sanft abzuschieben und ein möglichst normales Leben zu führen. Nicht mehr und nicht weniger. Dieses Leben ist geliehen und objektiv betrachtet würde mir dieses Wissen beim Ausführen meiner Pflicht weiterzuleben viel mehr im Weg stehen als dass es mir helfen würde. Ich bin zufrieden. Das Leben ist ganz nett und leicht zu bewältigen, wenn man es erstmal akzeptiert hat. Die Menschen um einen herum sind nett und leicht, wenn man erstmal lernt, wie man mit ihnen umgeht und sichergeht, dass sie keine Gefahr für einen darstellen.  Wissen ist Macht, aber Nicht-Wissen ist nicht direkt Machtlosigkeit. Es ist alles nur eine Frage des Lernens. Das Einschätzen der Situation, wann es zu akzeptieren und wann es zu lernen gilt. Zu wissen. Zu wünschen. Auch wenn ich weiß, dass alles Wünschen sich nicht auszahlt, wenn es von mir kommt, wäre ich imstande, mir als Elvis' Platzhalter tatsächlich etwas für mich zu wünschen, dann wünschte ich, ich würde zumindest einen Bruchteil von dem erfahren, was sie über mich erfahren hat. So viele Fragen würde ich stellen. Ich wüsste nicht, wo ich anfangen soll. Was liegt da alles zwischen uns, was ich verdrängt habe? Wie kommt es, dass du ununterbrochen meine Mauern einreißen willst, als hättest du längst alles gesehen? Und wieso um alles in der Welt liebst du mich überhaupt nur so sehr? Wieso liebst du "mich" weiter, obwohl der Mensch, den du einst liebtest, gar nicht mehr existiert? Das hier ist nur eine Hülle, Chika Failman. Nichts weiter als das. Unbekannt: Die Zielperson ist nicht allein. Diese Observationen von Missionen lösen gemischte Gefühle in mir auf. Es ist langweilig, wenn ich nicht gegen etwas oder jemanden kämpfe. Nichts reizt meine Sinne, was meinen Adrenalinspiegel lässt wie er sein sollte. Nicht, dass es ich liebe zu töten. So grausam bin nicht einmal ich. Es ist nur so, dass ich einzig und allein deshalb am Leben bin. Um der Meisterin von Nutzen zu sein. Und jene Meisterin will, dass ich diese Zielperson überwache und diese Informationen zur Verarbeitung an die Meisterin, und damit dem Clan, weitergebe. Doch diese Mission ist für die Machenschaften der Meisterin völlig nutzlos. Ich erfahre nichts, was mir helfen könnte, ihn dorthin zu locken, wo er erledigt werden kann. Lediglich das Mädchen könnte vielleicht noch von Wert sein. Dieses Mädchen, das bei ihm ist, könnten wir benutzen, um ihn zu brechen. Es wird ihm doch wohl irgendetwas an diesem Mädchen liegen. Und genau das wird eventuell sein Untergang sein... Ich schüttle den Kopf. Das kann man jetzt nicht sagen, es ist ja noch gar nicht so weit. Und dennoch ergreift mich das Bedürfnis, dieses Mädchen zu benutzen, um die Zielperson meiner Meisterin zu übergeben. Meine Kampfkraft gegen sie zu benutzen, ihr wehzutun. Ich bin mit allem einverstanden, wenn das heißt, den Sinn, den mein Leben hat, zu erfüllen. Es spielt keine Rolle, wie sehr mein Herz dabei zerreißt. Dabei habe ich, um so zu fühlen, noch nicht einmal das Recht dazu. Kapitel 6: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Verlass mich nicht. Bitte. -------------------------------------------------------------- Draußen in den Wäldern gibt es nichts und niemanden außer mir. Keine Geräusche von Eulen oder anderweitigem Wild weit und breit. Der Nebel ist alles. Mehr als Umrisse von Bäumen und Sträuchern ist nicht in Sicht. Was aber auch nicht weiter schlimm ist, denn ich weiß, wo ich bin. Es ist jener Wald, in dem ich schon öfters umher gewandert bin. Bestimmt taucht er bald auf. Mit dieser Erwartung gehe ich einige Schritte durch das Ungewisse. Die Luft ist kalt und feucht vom Fluss, den ich nie gefunden habe. Das Knacken der Äste unter meinem Gewicht lässt darauf schließen, dass der Boden wie auch sonst trocken ist. Je weiter ich gehe, desto lauter wird das undefinierbare Flüstern um mich herum. Ich spüre eine kalte Schweißperle meine Schläfe hinabrennen, doch bewahre mein Pokerface. Mir kann hier nichts passieren. Egal, wie real das hier ist, diese Realität ist nicht echt. Das penetrante Kichern um mich herum lässt auch weiterhin nicht nach. Ich bemerke, wie sich meine Umgebung verändert. In den grauen Wäldern ist grundsätzlich keine Farbe. Nie. Jemals. Nicht, wenn alles in Ordnung ist. Auf einem Ast, etwa so dick wie mein Arm, sind rote Sprenkel. Jetzt zumindest weiß ich, ist absolut nichts mehr in Ordnung. Dass nichts mehr in Ordnung ist, bestätigt das zusätzliche Knacken unter einem Gewicht, dass nicht von mir ausgeht. Es geht los. Auch wenn stehenzubleiben das alles beschleunigen würde, tue ich ihm nicht den Gefallen und renne um mein Leben. Doch ich komme nicht weit. Ich komme nie weit. Ehe ich den zweiten schnellen Schritt auch nur in Erwägung ziehen kann, packt eine Hand nach meinem Bein. Fest wie eine Fessel, die den Blutfluss unterbricht, ihn abtrennt. Eine zweite Hand drückt mich am Rücken zu Boden, sodass der pieksende Waldboden meine Gesichtshaut kratzt. Eine schwerfällige Drehung meines Kopfes offenbart mir die Fratze des Kerls. Das gruselige Grinsen dieses Gesichts hasse ich mehr als alles andere. Dass dieses Gesicht bis auf die giftgrünen Augen genauso aussieht, wie das von Elvis hasse ich mehr als alles andere.   “Du bist wirklich ein erbärmliches, kleines Wesen. Weißt du nicht, dass du mir nicht entkommen kannst, egal wie schnell du rennst?”, lacht er und schnürt die Versorgung meines Beines nur noch weiter ab.   “Das sind nun einmal meine Instinkte, dafür kann ich nichts, Idris.”, spucke ich den Namen aus, weil er widerlich ist.   “Meinst du nicht viel eher, dass es seine Instinkte sind? Für ein Überleben, dass keines ist? Wie ironisch, wie ironisch.”, säuselt er, wobei der Umfang von meinem Fleisch auf die Breite meines Knochens reduziert wird.   “Mich hier zu töten hat überhaupt keinen Mehrwert.”, flüstere ich unter Schmerzen.    “Bist du dir auch wirklich sicher?”, will er mit dem gleichen grausamen Grinsen wissen.   “Wenn ich hätte aussuchen können, ob er oder ich in die Schule gehen muss, dann hätte ich ihn gewählt!”, höre ich mich schreien. “Ich weiß, dass ich nicht hätte hier sein sollen! Ich steuere eine Leiche! Wenn sie wüssten, wer oder was ich bin, dann wäre es besser, wenn ich dafür sorge, dass er weg ist. So, dass kein Erwachen mehr möglich ist und sie seinem Tod ins Gesicht sehen müssen! Aber… ich bin zu schwach! Ich bin zu schwach, um diesen Körper zu entsorgen! Ich weiß, dass das alles nicht mir gehört. Trotzdem… dieses Schicksal… habe ich mir verdammt nochmal nicht ausgesucht!”, keife ich schluchzend und versuche, mit den Armen, die nicht mir gehören, davonzurobben.   “Du armes, armes Kerlchen, du.”, summt er und tut, als hätte er Mitleid. “Ich werde dir helfen, diesem Schicksal zu entfliehen.”, haucht er und tötet mich mit der subtilen Vorwarnung, weil ich weiß, was das heißt.   Mit voller Wucht reißt er das Bein, um das sich sein Griff legt, aus meinem Hüftgelenk. Das Abreißen von Knochen und das widerliche Schmatzen von Fleisch lassen mich Töne schreien, die nur Wölfe hören könnten, wären welche hier. Beim weiteren erbärmlichen Versuch, dem zu entkommen, werde ich von ihm auf den Rücken gedrückt und meines anderes Beines entledigt. Wieder schreie ich. Ich flehe ins Nichts, dass es aufhört, als er seine Finger mit meinen verschränkt, um sie abzureißen. Mit jedem Stück, mit dem er diesen Körper zerreißt, geht auch ein Stück von mir verloren. Jede gestohlene Gliedmaße, jedes ausgerissene Organ geht mit dem Leben fort von mir. Schlussendlich das Gesicht abgerissen ist der Körper nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein entstellter Haufen Menschenfleisch, der nicht länger imstande ist, sich zu bewegen. Ein Körper, der von innen verrottet, gehört nicht unter die guten.   ***   Wie am Ende einer jeden Nacht wie diesen, wache ich schweißgebadet auf. Wieder ist mein Atem schwerer als es für meine Lunge gut wäre und wieder tut mein Kopf so weh, als könnte er seine eigene Masse nicht mehr in Form halten. Wie an jedem Morgen, der so beginnt wie dieser, werfe ich die Tablettenpackung zu Boden, nur um sie wieder aufzuheben und zu öffnen. Ich weiß wieder nicht genau, wie viele das sind, aber solange die Zahl nicht im zweistelligen Bereich ist, wird, wie schon einmal erwähnt, der seltsame Junge noch unter ihnen weilen. Als ich sie auf meiner aktuellen Lektüre ablege, bin ich froh, dass Arme und Beine noch da sind. Solange ich mich bewegen kann, wird niemand sich in irgendeiner Weise zu einem Haufen Menschenfleisch verwandeln, sage ich mir, auch wenn ich nur für mich sprechen kann. Ich atme ein und wieder aus. Ich muss mich beruhigen, sage ich mir und ich finde, ich mache mich gut dabei. Unter die Dusche steigen, Zähneputzen, anziehen. Nachdem ich all das erfolgreich hinter mich gebracht habe, öffne ich den Kühlschrank und hole eine Schüssel raus. Weil ich nicht wirklich Lust habe, die Mikrowelle zu bedienen, gibt es heute wohl kalte Misosuppe zum Frühstück.    “Gut geschlafen, El?”, fragt mich sein Bruder und erschreckt mich damit zu Tode.   Beim Versuch, die Suppe auf ex zu trinken, verschlucke ich mich daraufhin natürlich. War dann wohl doch etwas zu kalt.    “Geht so, du?”, stelle ich eine Gegenfrage und er zuckt mit den Schultern.   Schließlich verlasse ich die Wohnung. Seit ich herausgefunden habe, dass Failman und ich Nachbarn sind, gehen wir gemeinsam zur Schule. Failman ist nicht verzweifelt genug, um mir direkt auf der Fußmatte aufzulauern, stattdessen lehnt sie wie immer lässig an einer Straßenlaterne. Sie lächelt, als sie mich sieht und mir näher kommt.   “Einen schönen, guten Morgen, Ellie!”, begrüßt sie mich und strahlt.   “Morgen, Failman.”, tue ich es ihr gleich, ehe wir laufen und wenig später auf Hanazawa treffen.    Wie immer wirft sie mir kurz einen bösen Blick zu, ehe sich ihre Mimik entspannt und sie die Unnahbare raushängen lässt.   “Guten Morgen, Failman-san.”, sagt sie mit einem Lächeln und blendet mich aus.    Wenig später treffen wir auf die Gang. Weitere Begrüßungen folgen, noch mehr Albernheiten werden ausgetauscht. So viele, dass ich wie immer nicht wirklich etwas beisteuern muss, um dazuzugehören. Ich tue es einfach, denn sie brauchen mich hier. Das hat sich auch heute, drei Tage nach der Klassenfahrt nicht ein Deut geändert. Der Weg in die Schule ist unsere alltägliche Seifenoper.   ***   Es ist ein weiterer wunderschöner Tag, um am Leben zu sein. Die Sonne scheint in unsere jungen Gesichter, da oben ist die richtige Anzahl Wolken vorhanden und alles um uns herum ist so bunt und friedlich. Ein blauer Himmel, Pflanzen und Gebäuden in allen Farben und eine von mehreren sorglosen Gruppen Jugendlicher in der Blütezeit ihres Lebens. Sie verärgern einander, vertragen sich miteinander und sie verlieben sich ineinander. Während der Endspurt ihrer Schulzeit ihnen das Leben zur Hölle macht, können sie trotz allem immer noch lachen. Wenn man weder gemobbt noch missbraucht wird, gibt es für jemanden wie uns keinen Grund, diese Welt zu verlassen. Sie ist friedlich und nett. Jene Umgebung ist eine sichere für Kinder und Jugendliche mit unschuldigen Träumen. Und trotzdem liegt da ein toter Vogel auf dem Asphalt. Ein winziger Bruchteil vergeht, in dem ich in seine leblosen Augen sehe. Ein Körper, der von innen verrottet, gehört nicht unter die guten. Mein darauffolgendes Stehenbleiben, einen Bruchteil später, ist nicht lange genug her, um von den anderen gesehen zu werden. Failman wird sicher gleich die Erste sein, die sich zu mir umdreht. Meine Ohren registrieren das Quietschen von Rädern. Ich sollte mich bewegen, sollte davonlaufen. Mich in Sicherheit bringen, um weiterzuleben. Doch wie an jenem Tag frage ich mich, zu welchem Preis? Wieso gebe ich mir so viel Mühe für Menschen, die nur an meiner Hülle interessiert sind? Natürlich liegt mir etwas an ihnen, es wäre seltsam, wenn sie allesamt auf einmal nicht mehr da wären. Aber ist das auch wirklich alles, was es braucht, um hier zu sein?  Wenn ich wirklich nicht existieren könnte, ohne mir etwas zu wünschen, wofür würde ich dann leben? Wenn meine Existenz nicht nur dem Zweck dienen würde, den Platz einer anderen Person einzunehmen, wäre es mir dann überhaupt erlaubt, sich nach etwas zu sehnen? Die Antwort, die ich forme, als der LKW mit voller Absicht immer schneller immer näher kommt, lautet: Ich weiß es nicht. Doch bevor ich von der tonnenschweren Killermaschine zermatscht werde, drängt sich eine weitere Stimme in meinen Kopf. Die Hände hat, die mich schubsen. Die realer, lauter und verzweifelter als alle anderen in meinem Kopf.   “Vorsicht, Ellie, da ist LK-”, doch sie wird unterbrochen, wie unser Blickkontakt durch den Wagen, der ihr das Wort abschneidet und sie aus meinem Blickfeld reißt.   Ich stolpere und schaffe es gerade noch, mich zu fangen. Ich kneife die Augen zu, als ich die Zähne zusammenbeiße. Wie es scheint, habe ich mir die Hand aufgeschürft. Weitere Bruchstücke von Sekunden braucht es, ehe die friedliche Umgebung in blanke Panik gerät. Die frischen Farbtöne um mich herum wirken vom einen Moment auf den anderen nur noch fehl am Platz und abstoßend. Ich stehe auf und mache mich, so gut mich meine zittrigen Beine tragen, langsam auf den Weg hinter den Wagen, um nach Failman zu sehen. Was ich sehe, sind die Freunde, die mit Schock im Gesicht in diese eine Richtung starren. Lange brauche ich nicht zu suchen, denn eine Spur führt meine Augen direkt zur ekelerregenden Sensation inmitten dieser friedlichen Stadt. Als ich realisiere, dass das Mädchen, dass mich geschubst hat, blutverschmiert mit dem Asphalt verschmilzt, schlage ich die Hand vor dem Mund. Blut. Alles dreht sich. Die Welt dreht sich viel zu schnell. Mir ist so schwindelig, mir wird schlecht. Schließlich können meine Knie nicht mehr standhalten und ich klappe zusammen. Das laute Pulsieren in meinem Kopf droht, ihn wieder zu zerreißen, doch ich habe nicht die Kraft, nach Hause zu rennen und meine Tabletten einzuwerfen. Es gab nie einen Grund, sie mitzunehmen, denn außerhalb seiner vier Wände war alles friedlich und nett. Diese Welt, die friedlich und nett ist… ich muss sie retten. Aber hier liege ich nun, zitternd, die Hand vor dem Mund und hyperventilierend.   “Junge? Hey, Junge! Brauchst du vielleicht was? Soll ich Hilfe holen?”, höre ich die energische Stimme eines Mannes im Alter von Elvis’ Bruder, der eine Hand auf meine Schulter legt.   Das ist der Moment, in dem ich mich auf den Asphalt übergebe. Es ist nicht viel, aber es ist schmerzhaft und widerlich. Mein Essen wieder hochzuwürgen kostet mich meine letzten Kräfte, ehe ich auf die Seite falle und spüre, wie ich bewusstlos werde. Da sind Schritte, die sich nähern, Rufe, die nach “mir” schreien und Sirenen. Mir ist komisch warm. Ich weiß nicht, ob ich gerade selbst ein Blutbad nehme oder mir in die Hose gemacht habe. Im Grunde ist es aber auch egal. Failman ist tot. Meinetwegen. Nicht wegen Elvis, sondern wirklich meinetwegen. Nur weil ich einen Moment lang geschwächelt habe, musste sie jetzt daran glauben. Völlig egal, was für ein fordernder Mensch sie für mein Denk- und Wahrnehmungsvermögen dargestellt und mich an die Grenzen meiner Fassung gebracht hat, das hat sie nicht verdient. Sie hat es nicht verdient, ein unkenntlicher Haufen Menschenfleisch zu werden, der zu hässlich ist, um geliebt zu werden. An meiner Stelle. Das ist nicht fair. Völlig egal, wie fehl am Platz ich in der Welt von Elvis bin, niemals war es vorhergesehen, dass ein Mensch aus seiner Welt wegen meiner eskapistischen Neigungen verletzt wird. Habe ich versagt? Hat man gesehen, dass Elvis’ Körper aufgehört hat, sich zu bewegen und im Gegenzug Failmans Körper dazu bewegt hat, sich vor den LKW zu schmeißen?  Ich weiß es nicht.  Ich will es auch nicht wissen.  Ich habe Elvis dazu gebracht, das Mädchen, das ihn liebt, sterben zu lassen. Nicht sie ist es, die nicht unter die Guten gehört. Nicht sie sollte verschwinden. Das sollte der Parasit. Ich, der das Leben einer Person zerstört hat, die es besser verdient hat. Ich, der nur eine einzige Aufgabe hatte. Nur einen einzigen Grund zu leben. Kapitel 7: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Du bist nicht sie. Wer bist du? ------------------------------------------------------------------- Eskapismus. Der Drang, das Begehren und die Ausführung, der Realität zu entfliehen. Zugunsten einer für das Individuum besseren Welt, oft einer Scheinwelt. Da ein jeder von uns sich gerne amüsiert, ist das keinesfalls immer eine Flucht vor der Wirklichkeit oder besorgniserregend. Es ist schließlich nichts falsch daran. Gefährlich wird es, wenn man es aktiv vermeidet, sich der Realität zu stellen und sie aus den Augen verliert. Wenn man selbst und andere durch dieses Verhalten unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen werden. Dann ist es krank.   Das Zucken meiner Augenlider suggeriert mir, dass mein Bewusstsein zurückkehrt. Ich spüre eine Matratze und eine dicke Decke um mich herum. Beim weiteren Versuch, meine Augen zu öffnen, werde ich von weißem Licht geblendet.   “Elvis-chan, wie schön, du bist wieder wach!”, höre ich jene weibliche Stimme, die ich auch gehört habe, als “ich” den Bären geschenkt bekommen habe.   Der Geschmack von Erbrochenem in meinem Mund macht sich bemerkbar und ich wünsche mir fast, wieder ohnmächtig zu sein.   “Akane, guten Morgen.”, begrüße ich sie, als ich mich aufrichte und das Zimmer mit den Augen nach einer Flasche Wasser absuche.   “Wie geht es dir?”, fragt sie mich und sieht mich besorgt an.   “Ein wenig ekelhaft und ziemlich durstig, aber sonst fehlt mir nichts.”, lasse ich sie wissen und sie sucht in ihrer grauen Handtasche nach etwas.   “Bitte sehr, das kannst du trinken.”, sie hat gefunden, wonach sie gesucht hat und bietet mir eine fast noch komplett volle Flasche Pocari Sweat an.   “Danke.”, sage ich und nehme sie guten Gewissens entgegen.   Der süße Geschmack fühlt sich gut an im Kontrast zur sauren Präsenz meines Mageninhalts. Gierig leere ich die Flasche bis zum letzten Tropfen in neuer Rekordzeit. Meine Lippen mit meinem Ärmel abputzend, fällt mein Blick auf die Bandage um meine Hand.   “Hey, Elvis-chan, meinst du, du kannst heute noch zur Schule gehen? Du weißt ja, es ist nicht schlimm, wenn du nach so einem Vorfall fehlst.”, informiert sie mich.   “Ich denk drüber nach.”, murmle ich. “Aber… Akane, weißt du vielleicht, ob…”, errege ich wieder ihre Aufmerksamkeit. “dieses Mädchen, das vom LKW erfasst wurde, noch lebt?”, es schleicht sich wieder ein Ausdruck in ihr Gesicht, der das ist. was man traurig nennt.   “Ich weiß es nicht. Die Notaufnahme ist nicht mein Bereich. Tut mir leid.”, gesteht sie mir und Tränen umhüllen ihre Augäpfel.   “Schon gut. Dafür kannst du nichts.”, beruhige ich sie auf irgendeine Weise.   Wenn ich gewusst hätte, dass ich hier enden würde, wäre ich heute morgen nicht aufgestanden. Hätte ich das gewusst, hätte ich vermutlich die Tabletten entweder komplett liegengelassen oder mit Absicht zu viele genommen.    “Elvis-chan, ich…”, seine Tante scheint die Situation genauso schwer zu finden. “Ich bin froh. Froh, dass du hier bist.”, im nächsten Moment umarmt sie mich wie damals.    Für Elvis erwidere ich ihren Druck und fahre ihr über den Rücken. Umarmungen geben einem das Gefühl, geborgen zu sein, auch wenn man es nicht verdient.   “Hey, Akane-chan, du hast diesem Takahashi-Typen vielleicht doch noch eine- Oh, störe ich gerade bei einem emotionalen Moment? Lasst euch nicht stören, ich bin nie hier gewesen!”, die Tür knallt sofort wieder zu, nachdem Erika Kurodate zur falschen Zeit am falschen Ort aufkreuzt und sich in den selben zehn Sekunden wieder verkrümelt.   Ich hätte mit dem Verschwindenlassen von Elvis vielleicht seine Mitmenschen traurig gemacht, aber ich hätte niemanden auf dem Gewissen gehabt. Nicht da zu sein ist besser als an seiner Stelle auf allen Ebenen versagt zu haben.   ***   Als ich aus dem Krankenhaus trete, sehe ich, wie Hanazawa auf einer Bank sitzt. Als würde sie ganz intensiv nachdenken oder in Gedanken versunken sein. Was um alles in der Welt tut sie hier bloß? Und wo sind die anderen?   “Hanazawa? Was machst du hier?”, löse ich sie aus ihrer Trance und sie sieht mich verlorenen Blickes an.   “Ich habe hier gewartet. Die anderen sind in der Schule, nur ich bin hier.”, teilt sie mir mit, ehe sie sich von ihrem Sitz erhebt und mir nähert.   “Lebt sie noch?”, fragt sie mich und starrt mir ein bisschen zu intensiv in die Augen.   “Das weiß ich nicht.”, antworte ich und spüre ein Zögern in meiner Stimme.   “So ist das also. Danke für die Auskunft.”, murmelt sie und wendet sich wieder ab.   Als sie wieder irgendwo in die Ferne sieht, fällt mir wieder ein, wie komisch diese Situation ist. Hanazawa und ich auf einem schattigen Parkplatz inmitten eines sonnigen Tages, an dem wir eigentlich in der Schule sein sollten.   “Eine Sache verstehe ich nicht ganz.”, drücke ich meine Skepsis aus. “Wieso bist du hier, während die anderen es nicht sind. Ich meine, dass das Mädchen, das mich offensichtlich auf den Tod nicht ausstehen kann, hier draußen auf mich wartet, während die fehlen, die wirklich meine Freunde sind, ist schon ein wenig merkwürdig, findest du nicht?”, Hanazawa macht einen angestrengten Gesichtsausdruck, als wüsste sie selbst nicht, was sie hier verloren hat.   “Ich wollte die anderen nicht dabeihaben. Ich wollte aber auch nicht in die Schule gehen, als sei nichts gewesen. Also habe ich sie weggeschickt. Falls dir das nicht passt, bist du ganz schön hart besaitet.”, ist Hanazawa wieder einmal ganz sie selbst.   “Das hat mit zart besaitet nichts zu tun, ich meine, wieso wolltest du überhaupt allein mit mir sein?”, hake ich grundlos nach.   “Mit wollen hat das wiederum auch nichts zu tun. Zumal sie sich, um ehrlich zu sein, auch nicht wirklich darum gerissen haben, mich davon abzubringen.”, erwähnt sie beiläufig.   “Das klingt aber nett.”, kommentiere ich.   “Nimm es ihnen nicht übel. Sie glauben, ich wäre in dich verliebt.”, erklärt sie schnaubend.   “Und wie sieht die Wahrheit aus?”, will ich sichergehen.   “Ich denke, das weißt du.”, meint sie mir schulterzuckend ins Gedächtnis zu rufen.   Um ehrlich zu sein, liegt sie absolut falsch. Klar, sie zeigt mir die kalte Schulter, funkelt mich jeden Tag böse an und einmal hat sie gesagt, dass meine Nase krumm ist. Aber auf der anderen Seite treffen wir so gut wie jeden Tag aufeinander, wenn wir in die Schule gehen und überhaupt scheint sie mich auf eine ganz subtile Art zu beobachten. Zu behaupten, dass ich ihr egal bin, ist irgendwie… falsch. Es könnte alles sein. Es ist Hanazawa.   “Aber Kyokei-kun, viel wichtiger ist doch”, sie kommt wieder näher, um meinen Kragen zu packen und mir wieder ein bisschen zu intensiv in die Augen zu starren. “was du für sie empfindest. Wie sieht es damit aus?”,   “Was ich für sie empfinde? Also-”, in dem Moment zerreißt mein Klingelton die friedliche Geräuschkulisse dieses weniger friedlichen Vormittags. Sagen wir mal so, es gibt Abermillionen Lieder, die sich in dieser Szene besser gemacht hätten als Ghost Rule.   Hanazawa lässt mich los und macht eine Kopfbewegung, die mir signalisiert, dass ich rangehen soll.   “Hallo, hier ist die Partnervermittlungsbörse von Shizukazemachi, was kann ich für Sie tun?”, rede ich irgendeinen Nonsens, um meinen Gesprächspartner zu verwirren, weil ich es kann.   “Kyokei-chan, wo bist du gerade? Wo ist Hanazawa-san? Seid ihr noch beim Krankenhaus?”, fragt mich Shuichiro übers Handy.   “Ja, sind wir. Wie kommt’s, dass du mich anrufen kannst?”,   “Bin im Flur. Hab gesagt, es gab einen Notfall und ich wollte mich nochmal melden. Wie… geht es denn… Failman-chan?”, erkundigt er sich mit der Vorsicht eines Chirurgen.   “Es ging ihr mal besser.”,   “Stimmt schon. Tut mir leid. Kommt ihr beiden noch?”, fragt er vorsichtig.   “Wir würden dich doch niemals im Stich lassen.”, ziehe ich eine bedeutungslose Floskel aus dem Register und lege schließlich auf. Danach gehen wir zurück in die Schule und sprechen kein Wort mehr über Failman oder darüber, was ich für sie empfinde und was nicht.   ***   Den Schultag einigermaßen hinter mich gebracht, sitze ich jetzt mit seinem Bruder auf der Couch und schaue fern. Allerdings sind meine Gedanken überall, nur nicht auf dem Bildschirm, wo sie hingehören. Stell dir die Blume deiner Wahl vor und jetzt reiß die Blütenblätter so lange raus, bis sie kahl und hässlich ist. Sie lebt noch, sie ist tot, sie lebt noch, sie ist tot. Ungefähr so etwas denke ich gerade und das geht heute schon so lange, dass es lästig ist. Und die Tatsache, dass ich weiß, wie nutzlos diese Gedanken sind, macht es nur noch lästiger, ich meine, was ist bloß los mit mir? Ich habe begriffen, dass das allein meine Schuld ist, warum also kann ich es nicht einfach darauf beruhen lassen, bis ich Klarheit habe. Das ist so anstrengend. Als die Episode fast fertig ist, scheine ich eingenickt zu sein, denn ich erschrecke mich, als ich auf dem Schoß seines Bruders lande.   “Ich denke, ich gehe bald schlafen.”, denke ich laut und unterdrücke ein Gähnen. Dieser Tag war wirklich scheißlang.   Aber um schlafen zu gehen, müsste ich aufstehen und das tue ich nicht. Das liegt nicht unbedingt daran, dass ich zu fertig bin, um meine Beine zu benutzen, viel mehr, weil mir nicht gefällt, wie ich diesen Tag ausklingen lasse. Irgendwas sagt mir, dass Taiyo wissen sollte, was passiert ist und er eben das nicht tut.   “Wegen dem Vorfall heute Mittag, hast du da irgendwas in den Nachrichten gesehen?”, kommt es von meiner Seite und irgendwas sagt mir, das bereue ich gleich hier und jetzt.   Der Bruder seufzt traurig und sieht mich an.   “Glaub mir, ich wünschte, ich hätte das nicht. Wie geht’s deiner Hand? Wie… geht’s Failman?”, seine Fragen versetzen mir einen Stich.   “Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen.”, wiederhole ich meine Worte von einer anderen Uhrzeit heute.   “Verstehe ich.”, seufzt er wieder. “Man will es meistens nicht wissen, wenn es damit endet, dass man noch trauriger ist.”, ich spüre, wie er den Arm um mich legt und etwas an sich drückt.   “Jetzt heißt es warten und Tee trinken, was?”, flüstert er und seine Stimme klingt dabei entfernt und rau.   Ich kann die Traurigkeit dieses Menschen nicht verstehen. Mir die Schuld zu geben, sich zu wünschen, besser gewesen zu sein, das alles ist nicht das Gleiche, wie das zu fühlen, was er fühlt. Das kann ich nicht, denn ich weiß nicht wie.   “Hey, Taiyo.”, errege ich seine Aufmerksamkeit.   “Was ist, Elvis?”, kommt es von seiner Seite.   “Hast du dich in sie verliebt? In Failman, meine ich.”, ich spüre sein Zusammenzucken an seinem Arm auf meiner Schulter.   Vorsichtig zieht er ihn weg und lässt ihn hängen.   “Geht’s dir nicht gut? Hätte ich das nicht sagen sollen?”, erkundige ich mich und lege zögerlich eine Hand auf seine Schulter.   Taiyo schüttelt den Kopf und sieht mich an. Die Röte in seinem Gesicht ist nicht zu übersehen.   “Ich…”, haucht er. “weiß es nicht. Klar, sie ist in dich verliebt. Das steht ihr ins Gesicht geschrieben. Und du wirst… dich bestimmt auch in sie verlieben. Oder hast es vielleicht schon, keine Ahnung. Sie ist ein tolles Mädchen. Du hast quasi keine andere Wahl. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr beiden zusammen wärt. Aber trotzdem… fühle ich mich so allein und das liegt nicht einmal nur daran, dass sie im Krankenhaus liegt und wir nicht wissen, ob sie überhaupt noch lebt.”, höre ich ihn schluchzen und daraufhin eine Träne entweichen.    “Du liegst falsch. Man verliebt sich nicht einfach, nur weil jemand anderes in einen verliebt ist. Das zu glauben ist idiotisch.”, rufe ich ihm ins Gedächtnis.   “Du bist idiotisch…”, kontert er trotzig.   “Was für einen Grund hast du, dich allein zu fühlen? Das verstehe ich einfach nicht.”, zeige ich mein Unverständnis.   “Du hast deine Freunde, unsere Eltern…”, ich kneife in seine Hand. “und du hast mich. Was also meinst du eigentlich damit?”, spiele ich die Rolle des verständnisvollen und zugleich verständnislosen kleinen Bruders mit der größten Präzision.   “Ich meine damit, dass ich mich erbärmlich fühle. Wie ein Idiot. Diesem Gefühl zu entfliehen, könnte so leicht sein, aber ich kann das einfach nicht. Stattdessen sehe ich die ganze Zeit bloß zu, wie Leute einander finden, während ich auf der Strecke bleibe. Das ist das erste Mädchen, das du mit nach Hause genommen hast. Das ist mehr als du dir vorstellen kannst. Und obwohl ich das beglückwünsche und das jetzt überhaupt nicht hierher passt, habe ich an diesem Tag zu spüren gemeint, wie verflucht neidisch ich war. Dass ich noch mehr allein wäre, wenn du im Gegensatz zu mir Glück hast. Und wie mies ich mich deswegen gefühlt habe. Dass sie jetzt ist, wo sie ist und wir alle beide darunter leiden müssen, macht es kein Stück besser. Es fühlt sich absolut scheiße an, Elvis!”, erfolglos versucht er, die Tränen aus seinem Gesicht zu löschen, doch immer, wenn er das tut, kommen nur noch weitere hinzu.   “Du doch endblöd.”, flüstere ich, rutsche näher und drücke in der Umarmung seinen Kopf an meine Brust. “Manchmal benimmst du dich echt mehr wie ein Teenager als ich es jemals könnte.”, werfe ich ihm hauchdünn vor.    “Du findest bestimmt noch wen. Ich habe Leute gesehen, die waren um Welten hässlicher als du.”, mache ich ihm leere Hoffnungen, denn es ist das, was Menschen in Momenten wie diesen hören wollen.   “Du wirst nicht allein sein. Wir sind doch Brüder, die halten sich den Rücken frei. Wir werden immer miteinander verbunden sein.”, ziehe ich eine weitere klischeehafte Lüge aus dem Register der schönsten Sätze, die man hören kann.   “Findest du?”, schluchzt er unsicher.   “Aber ja, warum auch nicht?”, bestätige ich, löse meinen Griff um ihn und mache mich auf den Weg ins Badezimmer. “Wieso sollte ich dich ausgerechnet in einem so emotionalen Moment wie diesem anlügen?”, weil das der mir gegebene Job ist. Und du, liebster “Bruder”, nicht mehr als eine weitere Figur in dem Spiel bist, das ich geschworen habe zu gewinnen. Kapitel 8: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Diese Hand ist nicht deine -------------------------------------------------------------- "Kyokei-kun, wir müssen in die Pause. Komm mit.", ordnet mir Hanazawa kalt an und knallt ihre Hand auf meinen Tisch.   "Ich kann mich nicht daran erinnern, von dir zum Essen eingeladen worden zu sein. Ich passe, aber danke für das Angebot.", versuche ich, der unerwarteten Offerte aus dem Weg zu gehen.   "Und ich kann mich nicht daran erinnern, dich nach deiner Meinung gefragt zu haben. Denkst du nicht, dass ich wie jeder andere meine Gründe haben könnte, dich mitzunehmen? Denk daran, dass ich niemals freiwillig mit dir essen würde, wenn es sich vermieden ließe.", ich frage gar nicht erst, wie ihre Eltern es geschafft haben, so eine rotzfreche Göre großgezogen zu haben.   "Jo, Kyocchi, lass uns rausgehen!", höre ich Akira durchs Klassenzimmer vorschlagen, nachdem er die Hausaufgaben bei Kaishi abgeschrieben hat. Darin sehe ich meine Chance. "Bitte verzeih mir, Hanazawa, aber ich esse schon mit den anderen.", gebe ich ihr zu verstehen und mache Anstalten, ihre Anwesenheit zu verlassen. Das passt ihr allerdings überhaupt nicht.   "Du bleibst gefälligst dort, wo ich dich haben will!", faucht sie, packt mich am Arm und will mit mir gerade von dannen ziehen. Das wäre ihr auch gelungen, wäre ich nicht mit dem Fuß an einem Stuhlbein hängengeblieben und hätte sie mit ins Verderben gerissen.   "Kyah!", macht sie, als wir beide wie zwei nasse Säcke zu Boden stürzen.   Als ich mich mit der Hand abstürze, um sicherzugehen, dass diesen Vorfall so wenig Außenstehende wie möglich mitbekommen haben, scheine ich mit der Annahme, es sei alles diskret abgelaufen, absolut falsch zu liegen. Als mein Blick dem verschmitzten von Akira begegnet, tanzt er mit den Augenbrauen, als habe ich in ller Öffentlichkeit meine Jungfräulichkeit verloren. Ich sehe zu mir nach unten, um zu schauen, ob Hanazawa diese Szene ebenfalls so anstößig findet wie der Rest des Publikums.   "Hanazawa, ist alles in Ordnung?", frage ich wie der höfliche junge Mann, der ich bin.   "Definiere in Ordnung, du reudiger Perversling.", grinst sie bedrohlich und zuerst verstehe ich gar nicht, worauf sie hinaus will.   Dann wandert mein Blick hinunter in andere Regionen. Ich bin so überrascht, dass mir ihr bedrohlicher Blick beim zweiten Mal gar nicht mehr so viel Angst macht. So ist das also, wenn man sein eigenes Bein zwischen denen eines Mädchens verliert. So also, wenn man...   "Verstehe, deshalb habe ich es nicht bemerkt. Es hat sich in meiner Hand schließlich zuerst wie ein Haufen Nichts angefühlt, aber wenn man fest daran glaubt, kann man ja doch noch was ertasten.", stelle ich fest, als ich mit meiner Hand zweimal zugreife, um Hanazawas Gefühle zu ergründen.   Von weiter hinten höre ich jemanden pfeifen.   "Du kleiner.... mieser... Dich mach ich kalt!", schreit sie, ehe ich in Sekundenschnelle eine Faust ins Gesicht bekomme.   Und ehe ich mich versehe bin ich es, der von uns am Boden liegt und der anderen Person völlig ausgeliefert ist.   "Du kleine Evolutionsbremse solltest besser damit aufhören, so zu tun, als wäre alles, wie es sein sollte. Denn das ist es bei weitem nicht.", sie hat meine Haare im Griff und droht damit, meine Augen mit ihren Fingern zu penetrieren.   "Besser du tust, was ich dir rate, denn bleibt es das nächste Mal vielleicht nicht nur bei einer Drohung. Es ist nicht viel, aber besser du fügst dich, wenn dir dein Leben lieb ist.", knurrt sie mit einem Blick schärfer als ihre Worte.   "Kyokei-kun?", wundert sie sich über meine Reaktion, die nicht eintritt.   "Welch bahnbrechende Entdeckung, von der Hanazawa gibt es ja auf einmal zwei.",   "Wovon zum Teufel sprichst du?", versteht sie nicht, was ich soeben herausgefunden habe.   "Was ist denn das für ein Radau? Ist nicht Pause? Ich könnte schwören, da hat jemand geschrien!", glaube ich, Katsuoka-sensei sagen zu hören.   "Sensei, heute dreht sich die Welt ein bisschen zu schnell...",   "Grundgütiger, geh ins Krankenzimmer!"   *** "Ich fasse es nicht. Wieso muss von allen ausgerechnet ich es sein, die den Rest der Pause mit dir verbringen muss?", schimpft sie vor sich hin, als ich wenig später im Krankenbett liege und die Fließen zähle.   Langsam hören sie auf, mir meinem Antlitz zu tanzen.   "Am Ende war es doch technisch gesehen das Ergebnis deiner eigenen Handlungen. Ich verstehe nicht, weshalb du so aufbrausend bist.", helfe ich ihr auf die Sprünge.   "Ist doch egal, welches Ergebnis wessen Handlungen das war, wieso... wieso das alles?", schnaubt sie und schlägt sich die Hand vors Gesicht.   "Wie blöd bin ich eigentlich?", murmelt sie.   "Kann es sein, dass unser beider Aufenthalt hier vielleicht ebenfalls für dich seinen Zweck erfüllt? Ich habe das Gefühl, das eben, als du versucht hast, mich zu entführen, du damit eigentlich Größeres bewirken wolltest. Liege ich mit der Annahme richtig?", die Welt scheint wieder zu ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit gefunden zu haben.   "In der Tat. Dabei hätte ich die anderen drei Jungs ebenso wenig gebraucht wie du Nachhilfe in Idiotie.", sie atmet ein, aus und sieht mich dann ernst an.   "Es geht mir um die Sache gestern. Es ist mir ein Anliegen und ich erwarte, dass du zuhörst und die Klappe hältst.", sie steht vom Stuhl auf, setzt ein Bein auf der Matratze ab und tritt näher um mir tief in die Augen zu starren.   Noch nie habe ich in den Augen eines Menschen derart viel Ernsthaftigkeit gesehen. Noch nie, nicht einmal Chika, hat je so einschneidend versucht, in die Abgründe meines Kopfes zu dringen, indem sie mich mit bloßem Starren absticht.   "Ich verlange, dass du auf der Stelle so tust, als hätte es den Kuss zwischen uns, nie gegeben. Kein einziges Wort an irgendjemanden. Auch das eben, unabhängig davon, dass jeder es gesehen hat, darfst du je wieder erwähnen. Falls du auf die Idee kommst, mich bloßzustellen, werde ich dich dafür bezahlen lassen. Hast du mich verstanden?", der starre Blick weckt die Illusion, dass die bedrohliche Spannung, die von ihr ausgeht, ihr nicht erlaubt, mich auch nur für einen einzigen Wimpernschlag aus den Augen zu lassen.   Sie ist wie ein Raubtier, dass nur darauf wartet, dass ich die Schwäche zeige, entweder voller Angst vor ihr davonzulaufen oder mich kampflos meinem Schicksal zu ergeben. "In der Tat, das habe ich. Es liegt wirklich nicht in meiner Intention, dich für deine Fehlerhaftigkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Du bist meines Erachtens nach zwar das mit Abstand rücksichtsloseste, launischste und gewaltbereiteste Mädchen, dem ich je begegnet bin und es wäre ein Leichtes, deinen Ruf in der Schule zu ruinieren und mich für deine Respektlosigkeit zu rächen. Allerdings kennen wir uns kaum. Und so wird es vermutlich auch bleiben. Das Leben fremder Leute, welche nicht Freunden, Familien oder Autoritäten zugeteilt werden können, dem engen Bekanntenkreis, ist für mich nicht weiter von Bedeutung. Was du unternimmst, im Schilde führst und gegen wen du einen Groll hegst, interessiert mich nicht weiter. Jedoch, eine Frage hätte ich da noch, Hanazawa.", "Die wäre?", "Gibt es jemanden, den du liebst?", Hanazawa weitet die Augen, nur um dann vom Bett zu steigen und das Fenster anzusteuern.   "Du sagtest, was ich tue, was meine Absichten sind und wen ich alles verachte, läge nicht in deinem Interesse. Darf ich fragen, wieso von allen Fragen du dich ausgerechnet für diese entschieden hast?", "Das hat liegt vielleicht daran... dass ich keine andere Antwort analysieren könnte, die ein solch abgebrühtes und zugleich verletzliches Verhalten erklären könnte. Schließlich muss ich dich einschätzen, ehe wir wieder Fremde sind wie bisher. Ich habe über alles nachgedacht. Über den Kuss, von dem niemand erfahren darf und die Wut in deinen Augen, als ich deine Brüste berührt habe.", "Ausnahmslos jedes Mädchen wäre da sauer!", "Wie auch immer. Wenn ich dir damit zu nahe getreten bin-", "Und wie du das bist, du ekelhafter Lustmolch!", "Ich fahre fort. Für jene Unannehmlichkeit entschuldige ich mich natürlich. Obwohl ich es für die Wissenschaft und die Erweiterung meines persönlichen Horizonts getan habe, darf man aus solchen Motiven die Würde eines Menschen unter keinen Umständen derart mit Füßen treten.", "Wie schön, dass dir das auch mal klar wurde, Pisser.", Ich nehme an, das ist Hanazawas Weise, meine Entschuldigung zu akzeptieren. Zumindest wünsche ich mir dies, da ich sie mir wie jeden anderen Menschen möglichst nicht zum Feind machen will. Dafür reicht Asahina schon aus. Sie würdigt mich keines Blickes und sieht aus dem Fenster. Sie sieht weniger verärgert als nachdenklich aus. Obwohl in diesem zarten Körper so ein vulgärer Geist steckt, scheint sie ebenfalls eine Seite an ihr zu haben, die dazu fähig ist, melancholisch aus dem Fenster zu sehen. Und so, wie sie in ihre eigene Welt abdriftet, so erlaube auch ich mir, selbiges zu tun. Seit gestern habe ich Chika nicht mehr gesehen. Seit gestern ist sie fort. Wie gerne würde ich sie besuchen, sodass sie tun kann, was sie mir versprochen hat. Sodass sie ihren Nutzen erfüllt und ich wenn auch mit schwindend geringerer Wahrscheinlichkeit wieder zu einem Menschen werde, der weiter ist als jener, der Elvis Kyokei heißt. Aber etwas hält mich auf, soweit zu denken. Immer, wenn ich in Gedanken die Türen des Krankenhauses öffne, geht das Bild vor mir wie ein alter Filmstreifen in Flammen auf. Ich will nicht daran erinnert werden, dass sie gestorben sein könnte und gleichzeitig will ich nicht herausfinden, ob sie vielleicht noch lebt. Ich weder mit ihrem Ab- noch mit Weiterleben fertig. Ich taufe dieses Szenario auf den glorreichen Namen... Schrödingers Wahrheitsmoral. Was rede ich da überhaupt? Verliere ich den Verstand? Bin ich krank? Soll ich nach Hause gehen und noch den Rest von Chikas Duft in meinem Bett einatmen, bevor er komplett verschwindet? Aus dieser weiteren Hirnrissigkeit an diesem sonnigen Tag schließe ich, dass ich wirklich das Bett hüten sollte. "Ist es dir denn wichtig? Ist es dir wichtig, dass sie es ist und nicht ich, die dich küsst?", fängt sie unerwartet eine neue Konversation mit mir an. "Ich verstehe nicht, wieso dich meine Meinung auf einmal doch interessiert.", verliere ich wieder den Glauben an meine Berechnungen für sie. "Sie liebt dich doch und das ist alles, was zählt. Um herauszufinden, ob das "Uns" aus dir und ihr wirklich eine Zukunft hat, sind die Gefühle beide von Bedeutung. Was empfindest du für Chika Failman?", jetzt sieht sie mir wieder direkt in die Augen, sie der Adler und ich die Maus. "Ich kann mich nicht erinnern, je derartige Gefühle für jemanden empfunden zu haben. Weder romatisch noch sexuell. Sie ist da keine Ausnahme. Jedoch hat sie etwas, das mir gehört. Und solange sie es nicht schafft, es mir zurückzugeben, bleibe ich an ihrer Seite. Nicht mehr und nicht weniger.", bin ich wieder einfach nur ehrlich. Daraufhin wendet sie wieder den Blick ab und seufzt. "Der Kerl war nie verliebt, das kann ja was werden. Dir ist doch echt nicht zu helfen. Wo du doch sonst mit diesem Aufreißer Egaoshita-kun abhängst und so beliebt bist. Erzähl mir bloß nicht, dass jemand wie du nach der Richtigen sucht?", spuckt sie förmlich aus. "Das direkt würde ich nicht behaupten. Andererseits hätte ich von einem Mädchen einen anderen Satz im Bezug auf die besagte Richtigen-Theorie erwartet. Ich dachte immer, die meisten von ihnen glauben an den Kitsch. Gene und so. Du bist doch ein Mädchen, oder?", frage ich ernsthaft. "Arsch.", ist ihre Antwort. Bei der Körbchengröße könnte sie wirklich behaupten, ein Crossdresser zu sein und ich hätte es geglaubt. Na ja, wäre ich nicht schon vorher zu der Erkenntnis gekommen, dass diese Nullnummer einer weiblichen Brust echt ist. "Du hast wirklich keine Ahnung von Frauen, oder? Wenn du so weiter machst, wird sie dir am Ende noch weggeschnappt.", warnt sie und starrt mich ernst an. "Wenn du meinst.", gebe ich mich mit ihrer Warnung halbherzig zufrieden und erneut denke ich an das Mädchen, um das es sich die ganze Zeit gedreht hat. Chika war mein Ticket zum Glück. Sie hat mir das gegeben, was mir kein anderer gegeben hat. Sie hat mich aus meinem monotonen Albtraum von Leben rausgeholt, die Zeit mit ihr habe ich genossen wie mit keinem anderen. Ich will all das zurückhaben, um weiterzukämpfen. Nur so kann die fleischliche Maschine, die sich Körper nennt weiterexistieren, ohne, dass der zurückgesetzte Geist weiter leiden muss. Ich will all das wiederhaben. Ich verlange danach. Nach ihrer Wärme, ihren Augen, ihrem Lächeln. Die Summe aus all diesen Eigenschaften, sie als Person, gibt mir den Teil zurück, der mich vervollständigen wird. Daran habe ich wirklich zu glauben versucht. Die Klingel zerreißt die Stille zwischen Hanazawa und mir. legt ihre Hand auf meine Wange und lässt diese auf meine Stirn wandern. "Du bist ja voll heiß, Kyokei-kun!", sie erschrickt. "Du glühst ja und bist total feucht!", "Kann sein.", sage ich nur, auch wenn es sich mieser anfühlt, als ich zugebe. "Stört dich das denn gar nicht?! Du brennst förmlich!" Jetzt greift sie nach meiner Hand. "Deine Hand ist auch total heiß und feucht!" recht hat sie, seit ich heute das Haus verlassen habe, geht es mir irgendwie nur noch schlechter. "Kyokei-kun, es ist besser, wenn ich deinen Blazer ausziehe.", "Es ist ja schon echt heiß hier! Aber ich kann das auch selbst, danke." Aber Hanazawa beachtet mich gar nicht, beugt sich vor und zieht mir die Jacke vom Leib. "Wenn ich schon dabei bin, kann ich auch gleich die Krawatte lösen! Das ist meine Art, sich erkenntlich zu zeigen, dass das klar ist. Versteh das bloß nicht falsch!", ich bin zu müde um mich zu wehren und lasse es über mich ergehen. Ein Teil von mir wünscht sich, den Hoodie, den ich immer unter unter der Uniform trage, nicht aus Faulheit und dem Fieber wegen, weggelassen zu haben. Dann wäre ich jetzt nicht so hilflos und angreifbar. Einer anderen Person den Pullover auszuziehen, dauert länger, ist schwerer und ist nicht annähernd so erotisch wie die Art, wie Hanazawa es gerade mit mir tut. Weg ist das Ding. Kann sein, dass ich es mir eingebildet habe, aber die Tür wurde einen Spalt geöffnet und dann ist wer weg gerannt. Haare. Diese grünen Haare. Nein, das ist sie nicht. Chika ist doch... "Was ist, Kyokei-kun?", "Es ist nichts. So ausgezogen zu werden, erotisiert mich bloß.", "Bitte was?!", "Ach nichts, es braucht schon mehr, um mich anzuturnen.", das ist gelogen. Nicht der Teil mit dem Anturnen, aber das andere. Da ist nicht nichts. Und Chika ist hier. Hier in der Schule. Aber ich werde nichts unternehmen. Rein gar nichts. Ich habe es nicht verdient, ihr vor die Augen zu treten. Sie hat es gesehen. Ich habe nicht länger das Recht, bei ihr zu sein. Selbst, wenn das, was ich von ihr gesehen habe eine Illusion ist. Oder ein Geist. Ob ihre physische Gestalt sich noch bewegt oder nicht, ist absolut nicht von Belang. Kapitel 9: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Eine Welt, eine Stadt, ein Junge. --------------------------------------------------------------------- Drei Wochen sind vergangen. Und ich habe mich noch immer nicht entschuldigt bei dieser Pflegerin. Noch nie habe ich mich so lange vor einer Sache gedrückt. Diese grüne Haarsträhne von letztens lässt mich echt nicht mehr kalt. Sie hat mich so gesehen, es ist so leicht, es zu fehlinterpretieren. Hanazawa hat mich ausgezogen und meine Krawatte gelöst, sie war mir so nah und ich glühend rot vor Stress und Fieber, wenn ich das hatte. Jetzt ist es auf jeden Fall weg, aber das lässt mich mich nicht weniger mies fühlen. Ich weiß nicht wie lange ich neben der Spur war, aber jetzt ist gleich mit hoher Sicherheit der Unterricht vorbei und ich werde nach Hause gehen. Nach Hause. Ohne sie. Jetzt wo ich so darüber nachdenke, fällt mir ein, dass mir die Pflegerin von letztens irgendwie bekannt vorkommt, vom Gesicht her. Von der Stimme. Das war mir eigentlich von Anfang an klar. Vielleicht ist gerade das der Grund, wieso ich sie nicht sehen will. Und je länger ich darüber brüte, desto mehr tut es mir leid, sie so fertiggemacht zu haben. Hanazawa hat über das Krankenhaus auch kein Wort mehr verloren. Als ob wir uns nicht etwa dort erst kennengelernt hätten.   "Ich finde, wir sollten hin.", reißt sie mich plötzlich aus den Gedanken.   "Ins Krankenhaus? Wieso denn genau jetzt?", will ich wissen.   "Weil wir seit fünf Wochen daran vorbeilaufen, ich wirklich versucht habe, Rücksicht auf dich zu nehmen, so langsam aber keinen Bock mehr habe und endlich wissen will, wie es ihr geht!", schnauzt sie mich an. Wow, sie scheint wirklich böse auf mich zu sein. "Meinetwegen. Gehen wir. Aber was soll das heißen, du nimmst Rücksicht auf mich?!", fühle ich mich in meinem Stolz verletzt.   "Weil du weder Manns genug bist, um zu überprüfen, ob das Mädchen, das dich liebt, noch am Leben ist, noch kannst du an den Vorfall erinnert werden, ohne dass ich mir sicher sein kann, dass du nicht wieder irgendwelche unschuldigen Frauen für deine Probleme verantwortlich machst!", blafft sie und ich zucke zusammen. Wow, das klingt ja echt nach einem Arschloch. Und das habe ich wirklich getan? Herrschaft noch mal, ich muss da hin! Dieses Mädchen. Wie kommt es, dass ich sie die ganze Oberschulzeit nie beachtet habe? Bislang waren wir nur nicht in der gleichen Klasse, es ist nicht so, als hätte ich ihren Namen noch nie gehört oder ihr Gesicht noch nie gesehen. Aber ich bin einfach niemand, der alles und jedem Aufmerksamkeit schenkt. Da kann ich ja wohl wirklich nichts für. Ich habe einfach meine Rolle in diesem Spiel namens Schule Schrägstrich Leben gespielt und damit war es eigentlich auch gut. Andererseits würde ich dieses kleine Mädchen nicht gerade als unauffällig bezeichnen. Ich meine, sie ist irgendwie genau das, was man sich unter einer der vielen Arten von Fanservice-Charakteren vorstellt. Klein, schmächtig, kleine Brüste, langhaarig und eine Schwäche für Lolita-Mode. Ich muss ganz schön blind gewesen sein. Na ja, irgendwann hätte ich sie sowieso irgendwann bemerkt. Dass ausgerechnet jemand wie sie, der doch glatt aus einem Dating-Sim entsprungen sein könnte, in meine neu zusammengewürfelte Klasse kommt, ist schon ganz amüsant. Ich war nach dem LKW-Unfall wahrscheinlich zu weggetreten, um die Informationen für Hanazawas Gesicht hervorzuholen. Sie hat irgendetwas mit Chika zu tun, wenn auch nur ein wenig. Sie war auf Informationssuche. Und dafür hat sie mich geküsst.   "Wir sind gleich da, schätze ich.", murmle ich vor mich hin, weil ich noch nie von der Schule aus direkt zum Krankenhaus gelaufen bin. Die Drehtür überwunden springe ich so normal wie möglich zum Tresen. Ich frage etwas unschlüssig nach der Pflegerin die am Tag, als Chika Failman eingeliefert wurde, bei mir war. Sie sind zwar verwundert, aber wenig später kommt sie tatsächlich, wenn auch von einer anderen Pflegerin her geschleift.   "Nein, ich will nicht, ich werde angeschrien, Erika-san. Angeschrien! Ich will nicht!", aber Erika-san lässt nicht locker und schmeißt mir die verängstigte arme Pflegerin frontal gegen die Rippen und das gar nicht mal so sanft.   "Bring Akane nicht wieder zum Weinen, ja?", warnt mich diese Erika-san eher, als dass sie mich bittet.   Die Pflegerin bewegt sich immer noch nicht und hält meine Schultern fest. Ihr Kopf ist direkt unter meinem Kinn, ihr Shampoo kämpft sich den Weg in meine Nase. Es riecht ziemlich penetrant aber frisch.   "Bitte nicht anschreien, du hast mir Angst gemacht.", schnieft sie in mein Schlüsselbein.   "Werde ich nicht, versprochen.", beruhige ich die Frau und schiebe sie vorsichtig von mir. Dieses Namensschild an ihrem Hemd! 'Kyokei'.   "Kyokei?!", schrecke ich auf und sie fährt zusammen.   "Du hast gesagt, du schreist nicht.", sagt sie mehr zum Boden als mir ins Gesicht.   "Tut mir leid, ich heiße nur auch so.".   Und als ich ihr dann noch mal ins Gesicht schaue, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Teddybärenfrau Schrägstrich Hauslehrerin Schrägstrich meine Tante! Ihre Haare sind ja auf einmal viel kürzer. Deshalb habe ich sie nicht wiedererkannt. Wie konnte ich meine Tante vergessen, nachdem sie...   "Tante Akane?! Aber was machst du denn hier?!".   "Na ja, ich... ich arbeite hier! Seit der Sache vor drei Jahren habe ich diesen Ort nie verlassen.".   "Tut mir auch echt leid, dass ich dich so angebrüllt habe, ehrlich, ich meinte das nicht so.",   "Ist schon gut, Elvis-chan, ist bin nur froh, dass du mich endlich wiedererkannt hast.", jetzt sind es Freudentränen, die sich auf ihren Augen abzeichnen lassen.   "Ich muss dann mal wieder zurück zur Arbeit, grüß Taiyo-chan von mir!", und weg ist sie.   Stille.   "Da wir das nun hinter uns haben, sollten wir nicht nach Failman-san suchen?", zerreißt Hanazawa diese im selben Moment.   "Sicher.", entgegne ich, doch keiner von uns bewegt sich. Hätte ich das Sicher doch stecken lassen. Denn sicher ist hier allemal gar nichts. Ich kann Failman nicht unter die Augen kommen. Sie hat mich gerettet. Sie ist für mich vielleicht sogar bereit zu sterben. Nein, definitiv. Ich stehe in ihrer Schuld. Ich weiß nicht, wie ich mit ihr reden soll. Was ich sagen soll. Wie ich es ihr sagen soll.  Ich will am liebsten gar nicht hier sein. Doch das bin ich nun mal.   Schritte. Ganz schnelle Schritte.   Von der einen auf die andere Sekunde wird mein Fluchtinstinkt aktiviert, ohne, dass meine Beine es auf die Reihe kriegen, davonzulaufen. Ich bin völlig lahmgelegt.   "Chika-sama...", stammelt Hanazawa, als sie in die gleiche Richtiung starrt wie ich.   Denn in dem Moment erscheint die Gestalt mit dem grünen Haar im Flur.  Als unsere Blicke sich treffen, erstarrt sie. Ein geräuschloses Schauspiel geht zwischen uns von statten. Ihre Augen leuchten wieder, nur ihre Haare sehen immer noch etwas klebrig aus. Ein Verband liegt um ihren Kopf. Ich denke wieder an das ganze Blut dass sie vergossen hat und meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Beim Gedanken daran tut mir das Herz weh. Wir starren uns einfach nur bewegungslos an. Wie zwei Menschen, die einander so nah sind und die dann doch wieder Lichtjahre trennen.   Dann renne ich. Ich habe nicht einmal gemerkt, wie ich es meinen beinen befohlen habe, es passiert einfach. Ich sprinte auf sie zu und umarme sie aus dem Nichts, bevor sie überhaupt daran denken kann, mir zuvor zu kommen. Sie ist es wirklich.   "Ellie, ich... ich...", höre ich sie schniefen, plötzlich weint sie einfach so. Dann drückt sie mich genauso fest an sich wie ich sie. Ich meine fast schon, zu spüren, wie ihre Zuneigung mich umhüllt und mir versichert, dass alles wieder in Ordnung ist. Dieses Gefühl kenne ich. Dieses Gefühl, wenn sie mich umarmt, wenn sie mir so nah ist, ich kenne es so gut.   "Ellie, es tut mir so leid! Meinetwegen musstest du das alles sehen, meinetwegen... Ich...!", ihre Stimme bricht ab, wird von den Tränen verschluckt.   Ich bin völlig steif und bewege mich nicht. Ich bin zu nichts mehr imstande. Ich kann nicht mehr, als sie festzuhalten. Ihre ganze Präsens lässt mich einfach nur einfrieren und zugleich lässt sie mich verbrennen. Ich habe mich geirrt, da ist noch ein anderes Gefühl, eins, dass ich in den drei Jahren seit meines Erwachens nie gekannt habe. Das meine Wangen in Brand steckt und meinen Magen kribbeln lässt. Das Gefühl, das mich nachts nicht schlafen lässt. Dieses bescheuerte Gefühl, dass in den Serien und Filmen entweder alles retten oder bis in alle Ewigkeit verdammen kann. Dass auch ich jemals ein Opfer dieses Gefühls werden würde, habe ich wirklich nicht geglaubt.   Ich entferne mich nur wenig von ihr, nur um ihr erneut in die Augen zu sehen.   "Idiotin. Wieso opferst du dich für einen wie mich?", höre ich mich hauchen und sie blinzelt nur aus verheulten Augen und schluchzt.   "Weil ich lieber mich selbst verliere, als dass ich zulassen könnte, dass dir was passiert.", erwidert sie fast unverständlich erstickt.   "Hohlbirne. Du bist die größte Idiotin, die je in mein Leben getreten ist, Chika Failman.", teile ich ihr im selben hauchdünnen Ton mit.   Sie lächelt nur.   "Wenn das heißt, dass du mich niemals vergessen wirst, bin ich gerne ein Idiot.", meint sie und irgendwie ist dieser ganze Augenblick unglaublich intim. Wie wir uns ansehen. Was für einen Blödsinn wir unserem Gegenüber erzählen. Ich streiche ihr über die Wange.   "Dich kann man nicht vergessen. Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe, aber... von nun an merke ich mir dich. Deshalb... Bitte, bitte bleib für immer und ewig an meiner Seite.", ihre Augen weiten sich und im nächsten Moment duellieren sich unsere Lippen.   Ihre sind trotz allem so weich wie am Tag unserer ersten Begegnung am Schuljahresbeginn. Der Tag unserer ersten Begegnung liegt ironisch in weiter Ferne, doch... in dem Moment, in dem wir uns küssen, schöpfe ich wieder, genau wie mein Körper gerade Dopamin ausschöpft, Hoffnung. Fast in Zeitlupe lösen wir uns voneinander und glotzen blöd einander an. Einfach so, dumm und dämlich. "Ellie, was war das?" "Ich hab dich nachgemacht." "Mich so zu überfallen ist gemein." "Das ist es vielleicht wirklich. Aber du bist noch viel schrecklicher." "Was meinst du damit?" "Dass wir quitt sind." "Hä?" "Dich in meine Gedanken einzuschleichen und zu sowas zu verleiten, ist viel gemeiner." "Ellie... ich..." "Chika... was ich eben gesagt habe, meine ich auch so..." "Du hast keine Ahnung, was das in mir auslöst, Ellie..." "Du hast keine Ahnung, was du in mir auslöst." "Bitte was? Also, jetzt ehrlich? Du..." Ich habe keine Garantie dafür, wie lange ich es noch aushalten kann, derart um den heißen Brei zu reden. Wenn ich nicht sofort loswerde, was mir unter den Nägeln brennt, werde ich diesen Mut vielleicht niemals aufbringen.   Nimm dir etwas vom Mut außerhalb deines eigenen Verstandes, irgendwo im Flur findet sich bestimmt welcher, den gerade niemand braucht., denke ich, ehe mir einfällt, dass das ein Krankenhaus ist. Ein Ort, an dem täglich gegen die Angst vor einer Spritze, einer Untersuchung, einer Diagnose oder dem Tod gekämpft wird. Ich nehme mir ganz schön was raus, mein Problem mit den ihren gleichzusetzen. Aber niemand sagt, dass irgendjemanden hier automatisch der Mut verlässt, nur weil er mich findet. Das ist nicht, wie er funktioniert. Der Mut ist eine Kopfsache. Und nichts dergleichen, was sich in deinem Kopf befindet, von Gehirn, Atemwegen, Gehör, Blutfluss und so weiter abgesehen, könnte in irgendeiner Weise in einem Flur zurückbleiben. Falls jemand in einem Flur anfängt, sich ins Hemd machen zu wollen, wird sich das nicht ändern, nur weil man ihn absucht. Reine Kopfsache. Benutz deinen Kopf, Elvis. "Ich unterbreche dich ja nur ungern, aber... Was zur Heckenschere ist falsch mit dir? Drei Jahre, nachdem ich vergessen habe, wie ich heiße, mit wem ich was hatte und was Pornos sind, meinst du einfach, du könntest feuchtfröhlich meine Klasse invadieren, meine Nachbarin sein und dich meinetwegen vor einen verdammten LKW schmeißen? Für irgendeinen Kerl ohne Gedächtnis, Emotionen oder auch nur einen Funken Menschlichkeit? Wie dumm kann ein Mensch eigentlich sein?", werde ich auf meine Weise mit meinen Gedanken fertig, spreche sie aus.   Es kommt nicht oft vor, dass Gefühle in meinem Innern mehr sind als das stille Echo ihrer verfallenen Version. Diesmal habe ich nicht nur das Gefühl, ich könnte schon ein wenig aufgewühlt sein. Ein wenig verwirrt. Ein wenig überfordert. Ein wenig schwach. Ein wenig selbstsüchtig. Ich habe das Gefühl, ich wüsste zum ersten Mal, was es wirklich heißt, dieserlei Dinge in ihrer vollen Heftigkeit zu empfinden. Was da auf chemischer Basis in mir abgeht, müsste schon die reaktionsheftigste chemische Reaktion allerzeiten sein, dass ich derart empfinde und so dringlich alle Karten auf den Tisch legen will. Nicht nur legen. Werfen. Schmettern. Schlagen. Danach soll der Tisch nur noch ein hölzerner Haufen Schrott sein, bereit für den Sperrmüll. Komm zum Punkt, Elvis. Hör auf, Zeit zu schinden. "Herrschaft noch mal, von allen Mädchen, die je etwas für mich empfunden haben, bist du das mit Abstand anstrengendste", seufze ich zu Anfang. Das kann ja was werden. "Wie lange hast du eigentlich vorgehabt, weiter von mir zappeln gelassen zu werden? Warum um alles in der Welt wurdest du nie müde, im Stil eines Cinderella-Komplex-Opfers an mir zu kleben und darauf zu warten, dass sich etwas ändert?", lass es mich verstehen. "Ich verstehe dich nicht. Dein ganzes Handeln mir gegenüber ist absolut irrational. Wie kann eine Frau für einen Mann nur so dermaßen ihre Selbstachtung entsorgen, in dem sie wie du so bedingungslos liebt?", ich will dich verstehen. "Ich habe nie jemanden weniger verstanden als dich. Und lass dir gesagt sein, dass ich insgeheim generell niemanden wirklich verstehe. Weniger als normale Menschen ohnehin einander. Weil ich objektiv gesehen aber trotzdem ein normaler Mensch bin, genau wie du, Hanazawa und alle anderen, sollte ich dir raten, weder an diesem Verhalten noch an deinen Gefühlen für mich weiter festzuhalten. Aber genau hier komme ich mit meiner Gleichung nicht weiter.", ich will dich unbedingt so sehr verstehen, dass es mich umbringt. "Aus einem mir unbekannten Grund widerstrebt es mir, dieser normale Mensch zu sein und die Vernunft zu üben, dich wegzustoßen. Jene Gleichung, die ich eben angeschnitten habe... ich will, dass sie aufgeht. Ich will, dass dieses Ungleich zu einem Gleich wird, das sie richtigstellt und beide Seiten verbindet. Sei du die passende Seite zu der meinen.", wenn du mir nicht gleich zu verstehen gibst, was ich verstehen will, werde ich vor Schwäche für nichts garantieren können.   Bleib hier und stell dich meinem egoistischen Wunsch. Bitte. Jetzt, wo ich ohne dich nicht weitermachen will. Zwing mich bloß nicht, meinen Spielstand zu löschen. Lass mich nicht Reset drücken, jetzt, wo ich nichts von unserer verbrachten Zeit jemals wieder verlieren und vergessen will. Kapitel 10: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Ein sogenanntes Liebespaar --------------------------------------------------------------- Das Einwirken ihres Lächelns verleitet mich zum Wunsch, ihre Lippen ein zweites Mal zu beanspruchen. Das Strahlen in dem Gold weckt in mir das Bedürfnis, im Gegenzug meine Lippen ein zweites Mal von ihr beansprucht werden zu lassen. Aber als ich versuche, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen, werde ich jäh davon abgehalten. "Stopp! A-auseinander, ihr beiden! F-failman-sama ist... ist nur meine!", fährt mich Hanazawa mit hochrotem Kopf an. Als sie Sekunden später realisiert, was sie da gesagt hat, schlägt sie sich die Hände vor den Mund, als würde das irgendeinen Unterschied machen. Was es nicht tut. Die Worte sind gesagt und die Bedeutung ist angekommen. Es gibt nichts, was sie dagegen tun könnte. Hanazawa ist meine Rivalin. Das erklärt ihre Neugier im Benug auf die Gefühle ihres Feindes und ihre Abneigung mir gegenüber. Ich bin sowohl Feind als auch Gegenüber. Ich bin ihr schlimmster Albtraum. Ich weiß nicht, ob ich Angst haben oder lachen soll. Vielleicht ja beides. Hanazawa ist verliebt in ein ganz besonderes Mädchen. Das ganz besondere Mädchen. Mein ganz besonderes Mädchen. Noch nie habe ich so sehr das Bedürfnis verspürt, jemand anderen so sehr jemand anderem vorzuenthalten. Das weckt noch mehr Gefühle, von denen ich nicht wusste, dass ich sie spüren kann. Gibt mir mehr Adjektive, von denen ich nicht glaubte, dass sie eines Tages zu mir passen. Besitzergreifend. Kampfbereit. Eifersüchtig. "In einer Hinsicht kann ich dir aber nicht ganz folgen, Hanazawa. Wenn du in Chika verliebt bist, wieso war ich es dann?", versuche ich, mir ein Bild ihrer Intentionen zu machen, ohne sie zu verraten.   "Wieso warst du was?", versteht Chika nicht und sieht etwas verunsichert aus.   "Glaub mir, Failman-sama, nichts dergleichen hätte ich ohne einen triftigen Grund getan. Dass ich Kyokei-kun geküsst habe, war nur meine Art, herauszufinden, was du an diesem Kerl findest. Schlau daraus geworden bin ich allerdings nicht. Aber damit endete es nicht. Es sind nicht nur seine Lippen, welche rau und kalt waren. Ich wurde auf allen Ebenen einfach nicht schlau aus ihm. Ich möchte mich nicht aufspielen oder dir vorschreiben, wer die bessere Person anhand der Vorgeschichte für dich wäre, jedoch bitte ich von Herzen, mir für diesen Kuss zu verzeihen.", dabei schaut sie ganz ernst in unsere Richtung als ginge es um Leben und Tod.   In ihrem Ernst liegt etwas, dass sich sowohl als Herzschmerz als auch als die Bereitschaft, mich auszulöschen, deuten lässt. Zwischen Hanazawa und mir ist soeben eine Art Kalter Krieg ausgebrochen. Nicht wissend, was ich sonst tun soll, sehe ich Chika an. Ihres verwirrten und zugleich peinlich berührten Blickes nach zu folgen, schätze ich, dass es sie ziemlich überrascht, dass sich neben mir auch noch ein anderes Mädchen in sie verliebt hat. Zwei Liebeserklärungen an einem Tag, selbst für ein so ungewöhnliches Mädchen ist so eine ungewöhnliche Situation sicherlich alles andere als einfach. "Nenn mich doch einfach Chika, so wie Ellie auch.", bietet sie Hanazawa zögerlich an, weil sie sich anders nicht zu helfen weiß.   "Wie du magst, Chika-sama.", willigt Hanazawa ganz kleinlaut bei. Es scheint ihr wohl peinlich zu sein, sie beim Vornamen zu nennen, selbst wenn das Anhängsel am Ende ja auch nicht gerade weniger peinlich sein dürfte.   "Chika, sag mal, wie hast du das alles überhaupt überlebt? Ich hab dein Herz nicht mehr schlagen gehört und das lag bestimmt nicht nur am Lärm um uns herum.", frage ich, um die Konversation noch etwas voranzubringen und ich wissen will, was damals eigentlich abgegangen ist. "Um ehrlich zu sein, war das größtenteils Glück, das ich hatte. Einige meiner Rippen waren geprellt, ich habe eine leichte Gehirnerschütterung. Dass mein Herz stehenblieb ist... war bestimmt wohl nur der Schock. Auch wenn ich hätte sterben können.", sie guckt so, als wäre das alles nur halb so wild. Dabei hätte sie um ein Haar das Zeitliche gesegnet! "Das wichtigste ist, das dir nichts passiert ist.", findet sie. Ich seufze. "Herrschaft noch mal, das mit der Gehirnerschütterung stimmt dann wohl." Ein paar weitere Tage vergehen, bis Chika aus dem Krankenhaus entlassen wird. Hanazawa und ich haben sie jeden Tag besucht, auch wenn kaum eine Woche verging nach diesem turbulenten Tag. Weder Hanazawa noch ich haben nach dem Vorfall weitere Versuche unternommen, uns Chika klarzumachen. Wir haben uns einfach nur amüsiert. Wir waren Freunde. Chika zuliebe. Jetzt laufen Chika und ich in dieser peinlichen Stille nach Hause. Es ist schon dunkel. Wir waren vorher noch im Arcade, um ihre Entlassung zu feiern. Wie schön zu wissen, dass das Mädchen, das ich mag, Videospiele genauso lieb hat wie ich. Ich mag sie. Ich mag sie wirklich. Obwohl ich fühle, dass ich es fühle, habe ich das, was ich fühle, noch immer nicht verstanden. Also ziehe ich es vor zu schweigen. Und so laufen wir einfach in der nächtlichen Stille nach Hause. Die Stille zwischen uns ist so voll und erdrückend, dass es mir unmöglich ist, einen Ton von mir zu geben. Als wäre ich unter Wasser und würde versuchen zu sprechen. Egal wie oft und weit ich die Lippen aufreiße und wie sehr ich mir die Kehle wundschreie, nichts von dem, was ich sagen will könnte meinen Gegenüber erreichen.   Ich höre sie plötzlich Luft holen, als sie ansetzt, etwas zu sagen. "Du hast also meine Gefühle erwidert. Das freut mich, Ellie.", erzählt Chika mehr dem Asphalt als mir. "Das habe ich.", bestätige ich. Was für eine so was von romantische Antwort, Elvis. "Aber im Gegensatz zu meinen Gefühlen für dich, hat sich an meinen Erinnerungen nicht wirklich etwas verändert. Meine Gefühle haben nichts mit unserer Vergangenheit zu tun. Dem solltest du dir besser bewusst sein, ehe wir fortfahren.", lasse ich sie wissen und es wieder still werden.  Ist mehr denn noch nötig? Ich denke schon, sonst ist es nichts Ganzes und nichts Halbes. Chika hat meine Hoffnung angezündet und es ist zu spät, zu versuchen, diese Flamme zu ersticken. Ich will meine Erinnerungen zurück. Ich brauche sie.  Ich will sie alle zurückhaben, egal wie sehr ich mich beim Anblick ihrer unfassbaren Grausamkeit übergeben muss.   "Das mit Hanazawa tut mir ehrlich leid. Bitte verzeih mir.", ich greife nach ihrer Hand und sehe sie an. "Hätte ich zuvor gewusst, was für Gefühle ich für dich empfinden würde und wäre ich darauf gefasst gewesen, dass das ihre Art ist, Dinge zu erfahren, dann hätte ich es verhindert. Darauf kannst du dich verlassen.", "Ellie.", murmelt sie. Sie sieht mehr überrascht als eifersüchtig aus. Ich halte weiter ihre Hand und denke über das Mädchen nach, welches mir sie wegnehmen will. Welches mir einen Kuss geraubt hat. Obwohl sie keine Gefahr darstellt, kann ich nicht aufhören, sie in meine Gedankengänge miteinzubeziehen. Ich sitze am längeren Hebel. Ich werde ihr wehtun. Ich habe das Zeug dazu und das zu wissen beunruhigt mich. Ich hasse es, mir Menschen zum Feind zu machen. Sie ist keine Ausnahme.  "Auch wenn sie so eine unverbesserliche Ziege ist, war sie trotzdem die ganze Zeit für mich da, verstehst du? Es sieht vielleiht nicht so aus, aber Hanazawa und ich, wir sind...", ich denke nach, überprüfe meine Definitionen und entscheide mich. "Freunde. Wir sind Freunde. Und meines Wissens nach will man Freunden wirklich nicht wehtun."   Freundschaft. Laut Wikipedia ein Verhältnis zweier oder mehrerer Menschen, welches auf gegenseitiges Vertrauen, Symphatie und Zuneigung beruht. Politisch gesehen bedeutes Freundschaft ein gutes und oft vertraglich geregeltes Verhältnis zwischen Völkern und Nationen, zum Beispiel Deutschland und Frankreich. In einer Freundschaft kann man sich gegenseitig ausstehen.   Ich versuche, die Definition auf Hanazawa und mich zu übertragen. Hanazawa kann mich nicht leiden, in ihren Augen bin ich ein überheblicher Eisklotz, der seinen Hype nicht verdient hat und außerdem ihren Groll verdient hat, weil ich minimal bessere Noten schreibe als sie. Ich würde Hanazawa nicht gerade zu meinem Lieblingsmenschen im platonischen Sinne bezeichnen, denn sie ist unberechenbar, gewalttätig und strahlt eine Aura aus, die mich klipp und klar spüren lässt, dass sie weder auf meine Maske hereinfällt noch in mir den normalen Menschen sieht, den ich mit so viel Mühe versuche zu mimen. Alles, was uns verbindet, ist... Vertrauen. Irgendwas sagt mir, dass Hanazawa mich nicht hintergehen würde. Und das gleiche Irgendwas sagt mir, dass ich das auch nicht bei ihr tun würde.   Wir vertrauen uns. Wir sind Freunde.   "Ich würde wirklich gerne sagen, dass ich ein so guter Freund bin, dass ich ihretwegen auf die Person, die ich liebe, verzichten kann. Das ist, was gute Freunde aus der logischen Schlussfolgerung, die ich gerade geschlossen habe, füreinander tun. Aber so lieb bin ich einfach nicht. So ein guter Freund bin ich nicht. Ich kann das nicht sagen, auch nicht für Hanazawa. Sie liebt dich, aber ich eben auch. Ich will, dass wir drei Freunde sind. Aber wie soll ich das anstellen, wenn wir dieselbe Person lieben? Vor allem, weil jeder weiß, für wen du dich schon von Anfang an entschieden hast? Ist das nicht furchtbar für sie?", mein Blick lastet immernoch auf meinen Schuhen. Eine echt verzwickte Lage. "Ich mag Hanazawa-chan wirklich. Sehr sogar, ich glaube sogar, dass sie die beste Freundin ist, die ich jemals hatte. Sie ist lustig, süß und eine liebenswerte Person. Aber so, wie sie für mich empfindet, kann ich nicht empfinden, selbst wenn ich es versuchen würde. Aber das ist es ja, ich will es nicht einmal versuchen. Mein ganzes Leben lang war ich in dich verliebt, Ellie. Ich habe nie jemand anderen in Betracht gezogen, trotz dessen, was alles zwischen uns lag und passiert ist. Wenn sie mich liebt, dann würde es ihr wehtun, mit eigenen Augen zu sehen, dass dieses Gefühl ein einseitiges ist. Dass man nichts tun kann, um irgendwas zu ändern. Das Gefühl, sich lächerlich zu machen, weil alles hoffnungslos scheint. Ich kenne diesen Schmerz. Man erträgt es nicht, von dieser bestimmten Person auch nur im Geringsten auf Ablehnung zu stoßen. Aber egal, ob wir ein Paar wären oder nicht, an meinen Gefühlen für dich würde sich nach wie vor nichts verändern. Wenn wir weitermachen, wie bisher... wird niemand glücklich. Wenn wir beide zusammen wären, wäre Hanazawa-chan traurig. Wenn wir es nicht wären, wären wir es alle drei. Wir beide müssten unsere Gefühle unterdrücken und sie, nun ja... und Hanazawa-chan hätte keine Chance, ihr potenzielles Glück in jemandem zu finden, da sie wüsste, dass ich offiziell ja noch zu haben wäre. Ich will der Freundin, die ich habe, lieber so früh wie möglich das Herz brechen, aber dafür auch so kurz wie möglich wehtun, als es die ganze Zeit im Schweigen zu tun. Ist es grausam, so etwas von sich zu geben?", ohne, dass ich es gemerkt habe, hat sie ihre andere Hand ebenfalls um meine geschlungen. Sie ist warm und weich. "Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung.", sage ich. Die Szene, in der ich Chika geküsst habe, spielt sich erneut vor meinem geistigen Auge ab. Wie gerne würde ich es nochmal tun. "Was du letztens gemacht hast, können wir das wiederholen? Es war so schön, Ellie. Nur am einem Ort, an dem nicht so viele Menschen sind, nur wir zwei. Ich war so glücklich, als wir uns geküsst haben. Du auch?", als hätte sie meine Gedanken gelesen. Nichts lieber als das. "Ich war auch sehr glücklich. Und ich will es wieder sein. Ich liebe dich, Chika. Ich liebe dich so sehr! Und ich will mich noch viel mehr in dich verlieben.", flüstere ich fast, so leise ist es, und nehme Chika in dem Arm. Wie sehr ich diese grünen Haare und diesen süßen Geruch vermisst habe. "Gehen wir in mein Zimmer, solange mein Bruder noch auf der Arbeit ist.", wispere ich ihr flüchtig ins Ohr. "Ja.", flüstert sie und erwidert die Umarmung meinerseits. Über uns leuchten die Sterne. Irgendwer muss ein Foto davon machen. Ach was, keine Kamera der Welt könnte aufzeichnen, wie schön sich dieses Standbild wirklich anfühlt. Wir lösen uns wieder voneinander und sehen einander einfach nur an. Fast meine ich, das Gold in ihren Augen trotz der Dunkelheit leuchten zu sehen. Die Wohnung ist dunkel, weil Taiyo noch auf der Arbeit ist. Wir sind ganz allein., flüstert eine Stimme in meinem Kopf, auch wenn ich keine Ahnung habe, wieso sie das extra nochmal betont. Dass wir allein sind, weiß ich schließlich. Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne, sehe ich in ihr schlecht beleuchtetes Gesicht, hoffend, irgendeinen Hinweis darauf zu bekommen, was hinter ihren Augen vorgeht. Ihr Blick ist wieder schwer zu deuten. Geht es ihr so etwa die ganze Zeit mit mir? Ich forsche weiter an diesem Blick. Darin könnten Nostalgie, Schmerz Wärme enthalten sein. Alles Gefühle, von denen ich nicht weiß, wo sie herkommen oder was ihr Auslöser war. Chika bemerkt mein Starren und unsere Blicke begegnen sich. Sie lächelt in sich hinein, grinst aus dem Nichts heraus.    "Habe ich irgendwas Seltsames im Gesicht?", frage ich.   "Ach, nein, Ellie, es...", sie fährt sich durch die Haare. "Ist nur eine komische Situation. Ich habe davon geträumt, wieder hier mit dir zusammen zu sein. Das zu beenden, was hätte werden können. Nach drei Jahren ich kann immer noch nicht fassen, dir erstens wieder zu begegnen und zweitens dein Herz zu gewinnen.", sie sieht mich forschend an. "Und da sind noch wir selbst in dem Ganzen. Während es sich anfühlt, als ob für mich die Zeit stehengeblieben ist, ist aus dir ein ganzer Mann geworden."   "Findest du?", überrascht sie mich.   "Klar!", bestätigt sie und hebt die flache Hand über meinen Kopf. "Du warst damals kleiner als ich."   "Ich mag ja gar nicht deine Illusion zerstören, aber ich glaube, uns trennen nicht gerade mehr als zwei oder drei Zentimeter. Ist das wirklich deinen Glückwunsch wert?", wieder lacht sie. Ihr Lachen ist ja so ein schönes Geräusch. Drei Jahre und sie empfängt mich, als ob nie etwas gewesen wäre. Als wäre ich alles, worauf sie jemals gewartet hätte. Als sei allein meine Existenz so ein Haufen Glück, dass ihr egal ist, wie lange unser Wiedersehen dauert oder ich mich an sie erinnern kann.    "Ich habe davon geträumt, wieder hier mit dir zusammen zu sein. Das zu beenden, was hätte werden können."   Ihre Worte hallen in meinem Kopf wider und mir fällt ein, dass wir, völlig egal, wie sehr ich Elvis und sie Chika ist, immer noch ganz normale Menschen sind. Jugendlich, meines Wissens nach unerfahren und frisch verliebt. Mein Bedürfnis nach Informationen nimmt wieder zu und ich greife nach ihrer Schulter.   "Chika."   "Ellie."   "Ist das ein Moment, in dem Menschen ihren Trieben nachgeben und Sex miteinander haben?"   Stille. Chikas Gesicht ist eingefroren und ihr Mund steht sperrangelweit offen. Ich versuche, mir im Klaren darüber zu werden, was ich da gerade gesagt habe.    Sex. Laut Wikipedia die praktische Ausübung der Sexualität als Gesamtes, inklusive Genitalien und einem lustvollen Empfinden. Dient unter anderem der Fortpflanzung. Da ich mein Gedächtnis verloren habe, weiß ich nicht, ob ich so etwas schon einmal erlebt habe. Ich weiß nur, dass in unserem Alter Menschen oft anfangen, sexuell aktiv zu werden. Das geht mit der Pubertät einher. Die Hormone bersten vor Verlangen, nur weil sie den Besitzer zu einem Erwachsenen mit unerfüllten Bedürfnissen machen. Und der Körper schreit danach, nur weil er ein bisschen geschlechtsreif geworden ist.   "Chika? Ist alles in Ordnung? Ist es dir durch die Regelblutung unangenehm, so etwas gefragt zu werden?"   "N-nein, das ist es nicht. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass wir heute so weit gehen würden. Ich meine, es überrascht mich nicht, dass du auch gewisses Interesse daran hast und ich...", komplett verloren hält sie das Gesicht in den Händen und weiß gar nicht, wie sie ihren Satz beenden soll.   Ich weiß, was sie meint. Worin das Interesse besteht. Schließlich kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man einen geblasen bekommt. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man die Innenseite seiner Freundin leckt. Und noch weniger weiß ich, wie es ist, wenn ich mein Ding an derselben Stelle versenke, in dem ich mir gerade die Zunge gedacht habe.   Freiwillige Hausaufgabe an mich selbst für die Zukunft: Schreibe einen Aufsatz über das Gefühl, seinen Penis in einer Vagina stecken zu haben.   Ich schnipse meinen Zeigefinger gegen ihre Stirn, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Für den Bruchteil einer Sekunde benommen, dann sieht sie mich wieder an.   "Was willst du denn eigentlich tun?", frage ich sie.   "Normalerweise würde ich sagen, dass das gegen die Regeln ist. Jedoch bist es auch du, der hier vor mir steht. Ich weiß gerade ehrlich gesagt überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht, Ellie. Ich würde es tun, wenn das dein Wunsch ist. Ich würde es auch nicht tun, wenn du das nicht willst.",   "Verstehe. Stimmt, gewissermaßen bin ich das. Physisch gesehen bin ich noch immer der, in den du dich verliebt hast. Gleiche Haut, gleiche Haare, gleiche Augen. Es ist nur der Körper, der älter geworden ist.", Chika sieht mich etwas unschlüssig an. Ich glaube, sie weiß nicht worauf ich hinauswill.   "Wenn du mich fragen würdest, ob ich mit dir schlafen will, würde ich ja sagen. Wenn du mich fragen würdest, ob ich jetzt mit dir schlafen würde, würde ich nein sagen. Es stimmt, dass ich auch diesbezüglich über keinerlei Erfahrungen mehr besitze. Ich weiß nicht, ob ich es je getan habe. Ich will wissen, wie das ist. Wie das mit dir zusammen ist. Aber das wäre auch verantwortungslos.", lasse ich sie wissen.   "Würde ich ohne jede Verhütung einfach so in dich eindringen, wäre die Wahrscheinlichkeit in unserem Alter sehr hoch, dass wir ungewollt Eltern werden, weil ich ganz genau weiß, wie grauenhaft das von mir für dich wäre, dich zur Abtreibung zu zwingen und wie ähnlich grauenhaft es für mich wäre, für das Geld, das wir nicht haben, die Schule abzubrechen und einen Job anzunehmen, dessen Lohn niemals ausreichen würde, um dich das zu machen, was man glücklich nennt.", daraufhin lacht sie.  "Oh, Ellie, du bist einfach zu gut." Unsere "Beziehung" ist gerade einmal ein paar Stunden alt. Wer da schon einlocht, hat meines Erachtens definitiv seine Moralen auf eBay versteigert. Chika setzt sich unsicher auf mein Bett. Wir wissen wohl beide nicht, wie man so was tut. So was? Herrschaft noch mal, wie klingt denn das bitte? Dennoch lasse ich mich darauf ein und setze zu ihr. "Sei bitte... sachte, ja?", bittet sie mich. "Bitte sag das nicht, als ob wir es gleich miteinander tun würden, das macht es nicht besser.", knirsche ich gepresst, weil ich wirklich nervös bin. Das ist nochmal was völlig anderes als im Krankenhaus. "Tun wir doch nicht. Das ist gegen die Regeln.", sieh sieht mich unverwandt an. Fast berühren sich unsere Nasen. "Was denn für Regeln?", stelle ich mich blöd und küsse sie erneut. Sie erwidert es mit gleichem Druck und wir landen längs. Wenn ich dachte, dass das letzte Mal krass war, dann ist dieses es umso mehr. Dieses kribblige Gefühl, mit dem die Menschen Liebe und Anziehung, die zwei Menschen füreinander empfinden, beschreiben, ist noch heftiger als... jemals. Wer behauptet, Schmetterlinge im Bauch würden einen in den Wahnsinn treiben, der ist ein maßloser Untertreiber. Das da sind keine Schmetterlinge, oh nein, das sind explodierende Todessterne! Ohne den Kuss zu unterbrechen drehen wir uns und ziehen uns gegenseitig in die Sitzposition zurück. Ohne, dass ich es merke, kämpft sich ihre Zunge den Weg zu meiner. Zutritt gewährleistet, sende ich eine telepathische Nachricht an ihren Verstand. Sichtlich unnötig, sie versteht es auch wortlos. Uns die Zungen geraten aneinander wie in einem DragonBall-Kampf. Sie umarmen sich, rangeln wie wild gewordene Hunde und kriegen nicht genug voneinander. So schnell wie sie kam, verschwindet sie wieder und wir schauen nur noch einander an. Mein ganzes Blut ist mir in die Wangen geschossen und ich frage mich, ob es ihr auch so geht. Das Rumknutschen zehrt an meiner ganzen Kraft. Gleichzeitig pumpt es mich mit noch mehr Kraft voll. Es ist eine Mischung aus Müdigkeit und hellwacher Aufregung, wenn man zu viel Cola oder Kaffee intus hat. Sie zieht den Pullunder aus und wirft ihn achtlos aus dem Bett. Den Blazer hatte sie heute gar nicht erst an. Sie scheint, den gleichen Blazer noch ein zweites Mal gehabt zu haben und die Schuluniform wurde ebenfalls ersetzt, weil die alte vom LKW so entstellt wurde. Na ja, genug der Hintergrundinfo. Sie sieht mich kurz an und dann wieder weg. Ich glaube, sie schämt sich ein bisschen. Ich ziehe meinen Blazer und den Kapuzenpullover ebenfalls weg, damit wir quitt sind. Sie sieht mich an und dass ich ihr nachgemacht habe. Wir beide kichern leise. Dann sieht sie wieder nachdenklich aus. "Wieso haben wir das gemacht?", will sie auf einmal wissen. "Weiß nicht, sag du es mir. Sah ziemlich danach aus, als wolltest du gegen die 'Regeln' verstoßen, wenn du mich fragst.", antworte ich frech. "Vielleicht, weil ich neugierig bin. Wie... du weißt schon was... N-nein, auch das ist ganz bestimmt gegen die Regeln! Ich habe doch nur meinen Pullunder ausgezogen, um mich besser bewegen zu können! W-w-was tu ich denn da?!", quengelt sie über ihre eigene Verwirrung. "Willst du es sehen?", frage ich aus dem Nichts. Sie will bestimmt den Grund wissen, wieso ich nie mein Shirt ausziehe und auch bei der Klassenfahrt nicht getan habe. Welch unangenehme Situation. "Ist es schlimm, es sehen zu wollen? Ein bisschen ahnen kann ich schließlich.", nuschelt sie fast unverständlich. Das muss ihr ja unendlich peinlich sein. "Nicht wirklich. Nur zu.", meine ich achselzuckend. Dann lachen wir beide, irgendwie ist es ja schon ganz lustig. Ist es in Ordnung, dass sie es sieht? Es ist ja nicht nur die Narbe. Sondern generell. Ich habe kaum sichtbare Muskeln und ein Sixpack habe ich auch kein richtiges, obwohl ich so ein Lauch bin. Echt blöd. Chika schmeißt uns um und ich bin wieder auf der Matratze der Tatsachen. Mein Hemd ist vollständig geöffnet. Sie beugt sich etwas runter und ich muss schlucken. "Diese Narbe.", haucht sie. Ich meine, ihren Blick spüren zu können auf die Stelle, die der Grund ist, wieso ich mich diesbezüglich so schäme und nicht etwa wegen der fehlenden Bauchmuskeln. Dann fahre ich zusammen, als sie beginnt mich vom Bauch bis zum Schlüsselbein zu lecken. Es ist nicht unangenehm aber das heißt nicht, dass ich die Fassung behalte. Ich bin in der Magengegend sehr empfindlich. Chika scheint meine Anspannung zu bemerken und küsst mich wieder. Nicht übel. Dann leckt mich sie wieder von oben bis zum Bauchnabel. Ich kralle mich an der Matratze fest, um nicht aufstöhnen zu können und beiße die Zähne zusammen. "Zu viel, oder?", fragt sie mich und sieht mich etwas verlegen an. Wenn du wüsstest. "Es... geht so. Ich bin da sehr empfindlich, weißt du? Aber es ist nicht so als hätte es mir nicht gefallen...", sage ich peinlich berührt und lache leise. "Es war also doch gegen die Regeln. Verzeih mir.", Chika fackelt nicht lange und knöpft sich dann selbst das Hemd auf. Ich halte kurz die Luft an. Was hat sie vor?! "Chi...? Was tust du da?!", trotz der Scham kann ich meinen Blick nicht von ihr abwenden, normalerweise hätte ich das getan, nur heute nicht. Sie antwortet nicht und öffnet es weiter, während sich Stück für Stück ein hellblauer BH abzeichnen lässt. "Als Wiedergutmachung darfst du sie anfassen. Nur dann ist es fair.", spricht sie leise. "Aber ich fand es doch gar nicht so schlimm, ehrlich, es hat mir fast gefa-", ehe ich meinen Satz beendet konnte, hat sie meine Hand genommen und an ihr Herz gelegt. Was soll das denn wieder werden, wenn es fertig ist? "Bitte lass mich mich revanchieren, sonst fühle ich mich schuldig.", diese Schreckschraube. Ohne großartig nachzudenken, ziehe ich meine Hand weg und zögere. Dann fasse ich Mut und greife ihre rechte Brust mit meiner rechten Hand. Sie verzieht fasst keine Miene, sie zuckt nur kurz und das war es dann. Als wäre sie es gewohnt, da berührt zu werden... Sie nimmt meine andere Hand und presst diese auf die linke. Ich habe ja vorher schon gewusst, dass sie ziemlich... ähm... gut gebaut ist, aber dass ich es irgendwann auch mal mit eigener Hand fühlen würde, darauf war ich wirklich nicht vorbereitet. Nein! Ich hätte mich auch in sie verliebt, wenn sie gar keine Brüste hätte! Ich drücke sie vorsichtig, aber nicht zu fest, um nichts kaputt zumachen. Wer weiß, wie empfindlich diese Dinger sind. Dann lasse ich vorsichtig von ihnen ab. Plötzlich schiebt sie sich unter meine Decke und vom einen auf den anderen Moment fliegen ihr Rock und ihre Kniestrümpfe zu ihrem Blazer und ihren Pullunder. "Kann ich heute Nacht bei dir bleiben?", bittet sie mich. Taiyo könnte morgens wieder reinkommen und sich über diesen Anblick über mich lustig machen, aber ich bin jetzt zu müde um die Wäsche zu verstecken oder mir wegen Taiyo Sorgen zu machen. Ich schmeiße einfach meine Hose mit auf den Wäschehaufen und schiebe mich ebenfalls unter die Decke, nachdem ich die Vorhänge zugezogen habe. Das erste Mal, dass ich so was gemacht habe. Rummachen meine ich. Ich werde nicht sagen können, dass es nicht das ist, wonach es aussieht. Denn es ist genau das, wonach es aussieht. So viel haben wir auch nicht gemacht, vom der Kopfverletzung ist sie vermutlich immer noch so geschwächt, dass ihr das wahrscheinlich den Rest gab. Auf positive Art. Ich habe dieses Mädchen getroffen, an das ich mich nicht erinnern konnte, ich habe ihr etwas versprochen, das sich so nach einer Schnapsidee anhörte, dass ich es selbst nicht glauben konnte. Ich bin mit ihr in einem Bett aufgewacht. Wir haben uns mehrmals geküsst, wir sind zusammen in mein Zimmer gegangen, um herumzumachen, wenn man das so sagen konnte. Dabei sind seit ihrem Auftauchen nur etwa zweieinhalb Monate vergangen. Wer weiß, vielleicht bin ich ein endperverses Schwein. Vielleicht bin ich das wirklich. Aber in diesem Moment ist mir das wirklich so scheißegal. Ich glaube es doch selber nicht. Es ist so viel passiert und ich weiß auch im Nachhinein auch nicht, ob sich alles so gehörte, wie es eben passiert ist. In so einer kurzen Zeit ist sie mir so sehr ans Herz gewachsen, dass ich es gar nicht fassen kann. Niemandem seit dem Unfall konnte ich mich so schnell so verbunden fühlen. Chika ist unglaublich. Was wir heute getan haben, ich weiß nicht, ob es richtig war. Aber ich höre mehr und mehr auf, darüber nachzudenken, als ich an sie gekuschelt friedlich einschlafe. Kapitel 11: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Jene Person, die ich nicht kenne. ---------------------------------------------------------------------- Als ich aufwache, überfluten mich die Erinnerungen an gestern und ich muss leicht grinsen. Und wenn meine Berechnungen stimmen, schläft Taiyo noch viel zu tief und fest als dass er mich wecken kommen würde. Es scheint wohl noch nicht so weit sein zu müssen, dass wir zu Schule müssen. Der Tag ist noch ganz frisch und wir haben noch Zeit. Wir haben also Zeit, ja? Das hatte wir doch schon mal. Einige Kapitel zuvor, als Taiyo Chika hier einfach hat reinlassen und ich noch gar nicht richtig angezogen war, da ist sie schon mit unter meine Decke gekrochen. Nur diesmal ist es viel schöner und wir beide gleichermaßen in Unterwäsche. Sie schläft immer noch. Ihr Rücken ist an mich gelehnt und ich kann immer noch ihre Zunge auf meiner Haut spüren. Meine Hand begibt sich auf Wanderschaft und streichelt sie etwas. Ich kann nicht glauben, was passiert ist. Wir hatten keinen Sex, haben die Linie nicht überschritten oder anderweitig etwas gemacht, dass diesen Satz rechtfertigt, dennoch... Wir reden immer noch von mir. Dem Typen, der sein Gedächtnis verloren hat, beliebt ist und etlichen Mädchen das Herz gebrochen hat, weil er abweisen musste. Und das nicht nur, weil es nicht die gleichen Gefühle waren, die sie gefühlt hatten, nein, hauptsächlich, weil ich im Geheimen absolut nichts über die Frauenwelt wusste und auch niemanden derart an mich heranlassen wollte. Sowohl romantisch als auch sexuell. Ich will dem Mädchen, dessen Taille ich gerade streichle, nicht genauso wehtun. Am Ende weiß ich wirklich nicht, wie ich hier reingeraten bin. Die Tatsache, dass nun auch ich romantische Gefühle für jemanden hege, erscheint mir immer noch so unwirklich. "Wach?", murmelt sie aus dem Bett und dreht sich so um, dass sie mir geradewegs in die Augen sieht. Ich nicke stumm. Sie lächelt und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. Wir starren uns einfach dämlich an. Nicht mehr und nicht weniger. Sie nähert sich mir zögerlich, zuckt aber augenblicklich zusammen und errötet leicht.   "Ist... etwas?", ich fühl mich etwas unwohl bei dieser Frage.   Denn die Antwort lautet ganz sicher Ja.   "Ähm, naja, Ellie... du... bist hart!", entfährt es ihr fast klanglos und ich sterbe tausend Tode.   Herrschaft noch mal, wie verdammt peinlich! "Hey, das hat wirklich nichts mit dir zu tun, ähm... Nein! So meine ich das auch nicht! Ich meine, du bist wunderschön! Aber... verdammt, dafür kann ich nichts, das-!", ich bin völlig verloren. Aber ehe ich meinen unbeholfenen Satz beenden kann, kommt mir dieses verrückte Mädchen wieder so gefährlich nah. Legt die Arme um mich und drückt ihr Herz an mein eigenes.   "Chika… du...", bleibt mir immer noch die Spucke weg.   "Solange es deines ist, stört es mich nicht.", das ist alles, was sie dazu zu sagen hat.   "Ich sterbe.", winsle ich. Dass sie sich von vorne so halbnackt an mich drückt, macht das alles nämlich wirklich nicht einfacher für mich. "Ellie, ich hab doch gesagt, dass du dich nicht zu schämen brauchst.", Chika, nachdem wir uns raus geschlichen haben und ich immer noch deprimiert bin.   "Du verstehst das aber wirklich nicht. Ich finde das furchtbar. Echt.", kommt es von meiner Seite.   Die Latte ist weg, aber die Scham ist noch präsent wie eh und je. Und das heißt, dass es sich noch genauso grauenvoll anfühlt wie vorhin.   "Reden wir einfach nicht mehr darüber, okay? Ich will nicht mehr daran denken.", schlage ich vor.   "Okay, ist gut.", sie sieht mich unverwandt wie heute morgen an und lächelt wie die Sonne an diesem Morgen.   Dann herrscht mindestens fünf Sekunden absolute Stille zwischen uns. Der Weg zur Schule fühlt sich heute ungewohnt lange an. Meine Augen streifen ihren Blick zu Chikas Hand die neben meiner eigenen umher schaukelt. Ohne groß darüber nachzudenken nehme ich sie und verschränke meiner Finger mit ihren wie gestern Nacht.   "Ellie?", Chika schaut verlegen in meine Richtung.   "Sieh es einfach als Entschuldigung wegen vorhin. Außerdem... wollte ich mal... deine Hand halten, so macht man das doch, wenn man zusammen ist... Wenigstens so lange, bis wir Hanazawa treffen.", Manuelle Ehrlichkeit ist Segen und Fluch zugleich.   "Klar! Jetzt sind wir also richtig zusammen, oder?", jetzt sieht sie noch glücklicher aus als vorhin und steckt mich damit an. Ich antworte mit einem zufriedenen Grinsen. Einem stillen "Aber so was von!" Das Schweigen ist nicht gebrochen, aber erträglicher auf jeden Fall.   "Chika-senpai!!! Kyokei-kuuuun!!! Wartet auf mich!", Hanazawa, kein Zweifel.   Wie vom Blitz getroffen ziehen wir unsere Hände wieder voneinander und starren wie eingefroren auf das kleine Mädchen.   "Morgen... Hanazawa-chan. Einen Guten.", purzelt dieser Satz in Bruchstücken aus Chikas Mund.   "Genau. Morgen.", begrüße auch ich sie.   "Hhhmmm, warum denn so still? Habt ihr etwas Unanständiges gemacht, habt ihr?", ihr Tonfall klingt eher schadenfroh als neugierig.   Und das trägt auch nicht gerade zu unserer inneren Ruhe bei, die genau jetzt ins Schwanken gerät. Das ist nur die halbe Wahrheit, also nein, haben wir nicht. Nur rumgemacht, nicht ganz unschuldig, aber es ist auch nicht so, als ob ich gestern dumm genug gewesen wäre, etwas anderes zu tun, als wirklich nur mit ihr einzuschlafen. Das wäre unvernünftig. Ist mir egal, ob in unserem Alter schon welche keine Jungfrau mehr sind, das Risiko, Chika zu schwängern, gehe ich nicht ein. Na ja, noch nicht. Was zum Fick rede ich eigentlich?! Bin ich bescheuert?!   "Das ist es nicht, Hanazawa-chan, wie haben uns nur erschreckt... hehe.", Chikas Vorhaben, uns zu retten, scheint gerade schief zu gehen.   Hanazawa starrt uns mit prüfender Miene an, besonders ich scheine ihr verdächtig zu sein.   "Na, wenn ihr das sagt, dann lasst uns schnell zur Schule gehen!", vom einen auf den anderen Moment hat sie diese Miene einfach fallen gelassen. Gerade noch so Glück gehabt, denke ich, als meine Gang dazustößt.   "Kyokei-chan! Failman-chan!", höre ich Shuichiro uns begrüßen.   "Hi.", sage ich.   "Na, Kyocchi, was geht so ab? Schön am rumknutschen?", macht sich Akira wieder über mich lustig, nur um dann von Kaishi eins aufs Dach zu kriegen.   "Egaoshita-san, das schickt sich nicht.", mahnt er.   "Du schickst dich nicht!", brummt Akira und reibt sich über die Stelle.   "Aber seid ihr denn jetzt eigentlich zusammen? Auf der Klassenfahrt wart ihr praktisch fast wie Kagome und Inuyasha.", fragt sich Shuichiro.   Oh Mann, was für eine Situation. In Serien spricht sich sowas ja wie ein Lauffeuer rum und dann wird alles ganz komisch. Jeder Beziehungsstress wird publik und jeder zerreißt sich das Maul darüber. Man hat nie wieder seine Ruhe.   "Ich muss los.", rede ich mich raus und renne weg.   "Ellie! Du kannst mich doch nicht einfach so zurücklassen!", höre ich Chika rufen, als ich sehe, dass sie alle wie das FBI hinter mir her sind.   Es endet in einem Wettrennen, bei dem einfach sorglos gelacht wird, nicht wissend, was das Kollektiv eigentlich so urkomisch findet. "Gehen wir heute nicht zusammen nach Hause?", frage ich Chika bei den Schuhfächern.   "Nein, leider nicht, ich muss heute zu meinem Bewerbungsgespräch für meinen neuen Job und ich glaube nicht, dass du da mit willst.", erklärt mir Chika, während sie von Hanazawa umklammert wird wie ein Schatz.   Versteckt sich hinter hier wie ein schüchternes Kind, wobei du den Teil mit der zurückhaltenden Schüchternheit meinetwegen auch gerne weglassen kannst.   "Und was ist mit Hanazawa?", ihr Blick wird mir langsam unheimlich.   "Sie wird auch arbeiten, dort wo ich arbeite. Aber du darfst nicht mitkommen.", zischt Hanazawa und funkelt mich an, als hätte ich sie verärgert.   Na ja, das ist bei ihr doch ein Normalzustand.   "Dann muss ich wohl oder übel gehen. Viel Erfolg, ihr beiden!", rufe ich ihnen hinterher, bevor sie am anderen Ende der Straße aus meinem Blickfeld verschwinden und ich allein am Schultor zurückbleibe.   "Elvis-chan, aus dem Weg, das ist gefährlich!", höre ich eine in Panik geratene Stimme, gefolgt von einem Motorrad, das mir nichts, dir nichts in die Szene brettert und mich ein paar Meter fliegen lässt.   Die Fahrerin landet mit Karacho ein Stück neben mir, während die Beifahrerin bei unseren Füßen liegt und mich anstarrt. Das ist doch meine Tante und Erika-san! Was machen die denn hier?   "Mensch, Erika-san, ich hab dir doch gesagt, dieser Führerschein ist keine gute Idee! Du hast gerade zugelassen, dass ich meinen Neffen über den Haufen fahre!", versucht sich meine Tante kläglich zu retten.   Ich will gerade auch etwas sagen, da fällt mein Blick auf Tante Akanes Tasche, die einen halben Meter neben mir gelandet ist. Ich schließe darauf, dass diese bei unserem gemeinsamen Unfall in Erika-sans Hand verweilte und raus flog. Die Tasche ist aufgesprungen und der ganze Inhalt ist auf dem Asphalt verteilt. Wenn ich mich nicht irre, liegt da ein Foto. Auf dem Bild ist Tante Akane und ein unbekannter Mann abgebildet, beide etwa Mitte Zwanzig. Ein Liebhaber vielleicht? Auf dem Bild ist eine andere Tante Akane als die, die ich kenne, zu sehen. Sie trägt keine Brille, vermutlich Kontaktlinsen. Ihr Gesicht ist glücklicher als ich es jemals gesehen habe. Und ihre Haare sind nicht weder rot noch kurz, sondern ellbogenlang. Sie ist ein völlig anderer Mensch.   "Elvis-chan, ist alles in Ordnung? Ich glaube Erika-san ist verle-", anstatt den Satz zu beenden, sieht sie mich an und starrt ins Leere.   Ihrem Blick nach zu Urteilen habe ich etwas gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen. In diesem Moment ist etwas in ihr gestorben. Und ich glaube, ich weiß sogar den Grund für diesen Blick.   "Tante Akane, ist alles okay?", frage ich vorsichtig und tue so als wüsste ich nicht, was hier abgeht.   "Akane-chan, ich muss dann los, ins Krankenhaus schaffe ich es auch so, ich... gehe jetzt lieber.", behutsam verschwindet Erika-san aus der Szene, ohne auch nur annähernd schmerzerfüllt zu gucken. Als hätte sie sich schon bei weitem schlimmere Verletzungen zugezogen und würde es deshalb nicht merken. Sie ist schon eine komische Frau.   "Keita.", flüstert meine Tante, steht auf und nimmt mir vorsichtig das Bild aus der Hand. Ihre Augen sind feucht.   "Wer ist... Keita?", frage ich mehr mich als Tante Akane.   Sie antwortet nicht. Stattdessen bricht sie in Tränen aus.   "Keita... Keita... Es tut mir leid... Es tut mir leid, dass ich nichts richtig gemacht habe. Ich wollte es wirklich. Ich habe so getan, als hätte sich nichts verändert, ich habe es wirklich versucht. Aber... Ich habe versagt.", winselt sie und zittert, als die ersten Regentropfen fallen.   Die Zeit ist für meine Tante stehengeblieben, so viel steht fest. Sie war immer sehr verschlossen und introvertiert. Wahrscheinlich habe ich sie von ihr, die Eigenschaft, die eigenen Gefühle und Gedanken für sich behalten zu wollen. Dieser Keita lag ihr offenbar am Herzen. Sie hat ihn geliebt. Liebe. Platonische Liebe. Romantische Liebe. Obsessive Liebe. Versteckte Liebe, von der niemand befugt ist, zu erfahren. Sie hat so viele Formen. Nicht jede ist schön, nicht jede macht glücklich. Jede Liebe auf Erden findet eines Tages ein jähes Ende durch den Tod. Ich weiß nicht, welche Art von Liebe meine Tante für diesen Mann empfunden hat. Es könnte mir theoretisch auch egal sein, so wie alles andere bisher. Das könnte es wirklich, wenn dieser Keita nur nicht mehr nach meinem Vater aussehen würde als mein richtiger Vater. Das ist gruselig! Die Informationen für Keita sind nicht vorhanden, als wären sie niemals da gewesen. Als wenn ich es nicht nur vergessen hätte, verloren, wie alles, woran ich denken konnte, nein, es ist so, als wenn ich es niemals besessen hätte. Diese Erinnerungen, nie waren sie für mich da, obwohl sie es sollten. Sie haben nie existiert. Irgendwas läuft hier extrem falsch. Da ist etwas, das sie mir verschweigen. Sie alle. Meine Tante. Mein Bruder. Meine Eltern. Meine Großeltern. Bis zu diesem Moment hat es drei Jahre gebraucht, um sie alle kennenzulernen, fünf Minuten, um zu befürchten, sie niemals gekannt zu haben. Dieser Mann muss ein Verwandter sein. Und zwar vielleicht auf dem Level der Relevanz für mich wie die Frau, die mich geboren hat.   "Tante Akane, ich... ich muss auch gehen. Es tut mir leid, dass ich dir mit dem Motorrad nicht helfen kann, aber ich muss wirklich weg. Bis dann.", verabschiede ich mich und renne so schnell ich kann durch den anfänglichen Regen nach Hause.   Vollkommen fertig und mich schlecht fühlend, meine wie ein Schlosshund weinende Tante einfach so im Regen stehen gelassen zu haben, stürze ich zu Hause angekommen auf den Holzboden.   "Bruderherz, bist du zurück? Ich hab schon-, Ach du Schande, Elvis!", erschreckt sich Taiyo bei meinem Anblick und steht mich auf den Rücken.   Ich fasse mir an den Haaransatz und registriere das Blut an meinen Fingerkuppen. Den Schmerz spürte ich beim Aufprall nicht, aber jetzt brennt er.   "Oh Mann, verletzt bist du auch noch und Nass, du kriegst noch Fieber, Mann!", Taiyo stürmt panisch in die Küche und holt ein feuchtes Tuch für meine Wunde an der Stirn bevor er mich in mein Bett schleppt.   Wann hatte er mich das letzte Mal so getragen?, frage ich mich als er mich zudeckt, ohne mich richtig anzusehen, wahrscheinlich ist es ihm selbst etwas peinlich, ist schließlich auch lange her. "Du wirst dich nicht übergeben, oder?", will er zum Schluss noch wissen.   "Neee.", brumme ich zur Zimmerwand.   "Dann ist ja gut. Gute Nacht, kleiner Bruder.", dann schließt er die Tür hinter sich, flüchtig wie so oft.   Stunden später kann ich immer noch keinen Schlaf finden, die Sache mit Keita lässt mir noch immer keine Ruhe, sodass ich fast verrückt werde. Ich muss mit ihnen reden. Ich muss einfach. Wenn sie nicht da sind, warte ich eben auf sie, egal wie lange ich warten muss. Ich kann nicht mit Taiyo darüber reden, ich kann mit niemandem reden. Ich stehe auf und schmettere mein Sparschwein auf den Schreibtisch, in der Hoffnung, Taiyo nicht damit zu wecken. Selbst, wenn er immer wie ein Stein schläft, man kann nie vorsichtig genug sein. Mein Handy lasse ich da. Ich nehme meine allseits bereite Sporttasche mit allem Nötigen in die Hand und lege, so viel Geld in die Vordertasche wie nur irgend möglich rein. Was ich da vorhabe, ist weder vernünftig noch respektvoll meiner Familie gegenüber, aber es gibt kein Zurück, bevor dieses Gefühl in mir versiegt und ich zweifle. Wie in Trance stehle ich mich aus der Wohnung und schleife meine Sohlen zum Bahnhof. Ich weiß, wo sie wohnen und ich übernachte vor dem Haus, wenn das heißt, dass ich Erklärungen bekomme. Rufe ich an, können sie mich ab wimmeln oder sonst etwas, das weiß ich. Ich werde alles herausfinden. Wer Keita Kyokei ist, warum er mir so ähnlich sieht und weshalb ich nie etwas von ihm gehört habe. Ich habe das Gefühl, als hätte er einen größeren Stellenwert als der meines Onkels. Ich fühle es. Dieser Mann hat mehr zu meiner Lebensgeschichte beigetragen, ich weiß es einfach. Ich werde dieses Gefühl bestätigen. Ich habe mich nierichtig mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt, jetzt ist der Moment, in dem ich es tun muss. Komme was wolle. Im Zug Befindet sich fast niemand anderes außer mir und ich falle in einen verlockenden Schlaf voller Ungewissheit, was das Morgen bringt. Der Traum wickelt mich ein und bevor ich in ihn hinein stürze, sehe ich zum letzten Mal das Gesicht dieses Mannes neben meiner Tante grinsen. Wer bist du? Und wo warst du mein ganzes Leben? Kapitel 12: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Was es heißt, innerlich zu sterben. ------------------------------------------------------------------------ Ich schrecke auf und zu meinem Glück habe ich meine Station nicht verpasst. Das muss wohl an der Paranoia des Verpassen liegen. Ich schäle mich aus der Menge, die sich in kurzer Zeit angesammelt hat, aus dem Zug. Wenig später bin ich an meinem aktuellen Elternhaus, jenes ich vor kurzem verlassen habe, um zum alten zurückzukehren. Eine Erinnerung macht sich zum Erscheinen bereit, aber ich kann jetzt nicht daran denken. Ich stehe vor diesem Haus und der Gedanke daran, sie könnten nicht da sein, bringt mich beinahe um. Es tut so weh im Herz und ich weiß, dass ich mich gerade wie der letzte Idiot benehme. Aber ich bin jetzt schon so weit gekommen, ich kann keinen Rückzieher machen, ohne es wenigstens versucht zu haben. Auf der Klingel steht mit verwaschener Schrift mein Familienname: Kyokei. Es ist fast mitten in der Nacht und es regnet noch immer. Ich kann jetzt aber nicht klingeln. Sie schlafen noch und überhaupt, selbst wenn ich tatsächlich Arschloch genug wäre, um die Klingel zu betätigen, bekäme ich bei der Wut, Empörung und mangelndem Schlaf keine Antworten, so viel steht fest. Warten. Ich werde mindestens sechs Stunden warten müssen. Mindestens. Ich entscheide mich, mich ins Gebüsch einzunisten, und zu warten, dass mich die kommenden Sonnenstrahlen noch wecken kommen, wenn die Zeit gekommen ist. Es ist nass und kalt, mein Fieber immer noch konstant und ich komme mir noch idiotischer vor als ohnehin schon. Im Moment bin ich nichts weiter als die Ausgeburt vom Gegenteil "Du sollst Mutter und Vater ehren.". Mir wird kälter, der Regen scheint nicht ansatzweise zu schwächeln und ich habe durchgehend Angst, dass mich irgendwer sieht, mich für einen geisteskranken Obdachlosen hält und mich der Polizei aushändigt. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte brav schlafen und am nächsten Morgen Tante Akane wegen Keita-san ausfragen, anstatt so eine unangekündigte Nacht-und-Nebel-Aktion wegen einem verstorbenen Onkel, dessen Gesicht ich teile. Aber nein, meine Gefühle haben meinen Verstand gelenkt und mich etwas tun lassen, was gegen jegliche Vorstellung von Intelligenz und Verstand verstößt. Wenn ich ehrlich bin, wusste ich doch schon immer, dass da was im Busch ist. Scheiße, war der schlecht. Ich falle in einen nassen Schlaf der Schuldgefühle. In meinem Traum bin ich nichts als Luft in der Szene. Er spielt dem Anschein nach in der Vergangenheit, in der meine Eltern mit Taiyo und mir in der Wohnung wohnen, in der jetzt nur wir beide wohnen. Ich sehe mich als Sechsjährigen in die Küche rennen, Taiyo als Elfjährigen auf dem Boden mit Actionfiguren spielen, sie können mich beide nicht sehen.   "Mama, sag mal, warum heiße ich eigentlich Elvis und Taiyo nicht?", fragt Klein Elvis meine Mutter aus dem Nichts.   Meine Mutter zuckt kurz zusammen und Klein Elvis guckt skeptisch in meine Richtung.   "Dein Vater war ein Elvis. Jemand der tanzt in einem weißen Kostüm und dabei super aussieht.", entgegnet sie mir.   In dem Moment kommt mein Vater von der Arbeit und als er den Satz hört, versteckt er sich hinter dem Jackenständer. Dann beruhigt er sich und kommt ebenfalls in die Küche, der Schweiß strahlt im abendlichen Sonnenlicht.   "Schatz, wir haben gerade von dir gesprochen, das Abendessen ist fast fertig.", macht meine Mutter auf sich aufmerksam und in ihrem herzlichen Lächeln liegt ein Hauch von Verzweiflung.   Der Blick von Klein Elvis verdunkelt sich. Er versucht so zu tun, als wüsste er nichts. Taiyo bemerkt ihn, lässt aber schnell von ihm ab und blickt zu unserem Vater hoch.   "Yay, Essen!", ich habe vergessen zu erwähnen, dass Taiyo früher noch nicht so durchtrainiert und schlank wie heute war, dass er Essen liebte konnte man förmlich spüren, wenn auch nur leicht.   Beim Abendessen sprach niemand ein Wort. "Elvis? Elvis! Was um alles in der Welt tust du hier? Beginnt nicht bald die Schule? Was hast du in meinem Garten verloren?!", eine weibliche Stimme, die ich schon eine ganze Weile nicht mehr gehört habe, dringt in mein Ohr.   Mein Mund ist trotz der Feuchtigkeit zur Wüste vertrocknet und ich kriege keinen Ton heraus.   "Antworte mir! Warum bist du hier? Das sieht dir so gar nicht ähnlich! Rede mit mir!", die Stimme, die sich als meine Mutter entpuppt, nachdem meine Pupillen ein Stück nach oben gerollt sind, um sie zu sehen, gewinnt noch mehr an Wut und Unverständnis.   "Elvis Kyokei, ich sag es zum letzten Mal: WARUM BIST DU HIER?!" Ihre Augen glänzen von den kommenden Tränen wie der Regen auf der Blumenerde.   Meine Hände umfassen ihren Knöchel, ich weiß selbst nicht, warum sie das tun. Sie zuckt zusammen, schimpft aber weiter fragend auf mich ein. Ich habe schon längst aufgehört, allem ganz genau zuzuhören. Ich beiße die Zähne zusammen, um mich nicht weiter wie ein Gefängnisinsasse beim Verhör zu fühlen. Der Speichel findet wieder den Weg zu meiner Zunge und ich spüre, wie die verlorene Kraft in mir erneut aufbrodelt.   Das Einzige, was ich hervorbringe ist: "Keita."   Die Tränen meiner Mutter treffen in Sekundentakt auf meine Haut und ich fühle, da ist mehr. Keita ist mehr. So viel mehr. Kapitel 13: Vol. 1 - "Tsundere" Arc: Der Eindringling im Paradies ----------------------------------------------------------------- "Woher kennst du diesen Namen?", flüstert sie hauchdünn. "Tante Akanes Bruder.", sage ich nur und ihre Augen weiten sich schon. Ich habe einen Nerv getroffen.   "Was ist mit Akane-chans Bruder?", fragt sie mich im Gegenzug und ich denke, sie will Tatsachen vertuschen.   "Wer um alles in der Welt ist dieser Mann?", hake ich nach, denn das ist das, was ein Sohn in so einer Situation sagen würde.   "Das, mein Sohn, ist eine Geschichte, die viel zu lang ist, um sie draußen im Garten zu erzählen.", informiert sie mich mit einem Unterton, der wohl das ist, was man eingeschüchtert traurig nennt.   "Verstehe. Dann lass uns doch bitte rein.", daraufhin nickt sie nur.   "Mutter, bist du sauer auf mich?", will ich wissen.   "Wenn du davon sprichst, dass du dich mitten in der Nacht rausgeschlichen hast, um im Garten zu übernachten und obendrein noch die Schule schwänzt, dann ja... dann bin ich tatsächlich ein bisschen sauer. Aber... viel mehr bin ich sauer auf mich selbst.",   "Das erleichtert mich.",   "Ich weiß.", "Kannst du wenigstens verstehen, wieso ich hier bin?", versuche ich, mich aus ihrer Lage zurück in meine eigene zu versetzen. "In der Tat, das tue ich sogar mehr als du denkst.", lässt sie mich wissen. "Da gibt es nämlich etwas, das du sehen solltest.",   *** Das Haus, in dem meine Eltern leben, ist größer als die Wohnung, in der Taiyo und ich leben. Anstelle von vier Zimmern, Wohnzimmer mit Küche, Badezimmer und zwei normalen, sind es sechs. Drei Zimmer, ein Arbeitszimmer, ein Wohnzimmer mit Küche und Badezimmer. Weshalb so ein verhältnismäßig bonzenhaftes Haus für den Umzug Hauptsache weg von Shizukazemachi sein musste, erschließt sich mir zwar bis heute immer noch nicht, aber das ist auch nicht der Punkt. Wieder besteige ich die Treppen dieses Hauses, still seiner Mutter nach, die kein Wort mit mir spricht. Oben angekommen zögert sie, die Klinke ihres eigenen Schlafzimmers runterzudrücken und als ihr Blick verloren umherwandert, trifft er den meinen. Peinliche Stille.   "Warte hier draußen auf mich, ja?", bittet sie mich, ehe sie hinter dem Holz verschwindet und mich zurücklässt.   Es dauert nicht lange, bis sie zurückkommt und das erste was ich sehe, ein mysteriöses, rotes Notizbuch ist, welches sie an ihre Brust drückt, als wäre es für einen einfachen Griff in der Hand zu schade.   "Ist es das, was du mir zeigen wolltest?", frage ich dumme Fragen, denn das ist, was Menschen hin und wieder ohne Grund tun. Sie nickt.   "Lass uns ins Wohnzimmer. Da ist sehr viel Lesestoff, weißt du?", jetzt bin ich es der bestätigend nickt. Was auch immer du sagst, "Mutter".   Im Wohnzimmer und auf der Couch angekommen trifft mich seine Mutter mit der Fläche sanft auf den Kopf. Ich nehme es ihr vorsichtig aus der Hand und fahre belanglos über das Leder.   "Und du bist dir absolut sicher, dass ich das lesen sollte? Ist das nicht ein... Tagebuch oder so ähnlich?", gehe ich sicher.   "Nicht nur so ähnlich.", antwortet sie.   "Ist dir das nicht peinlich?",   "Wo denkst du hin, natürlich ist mir das peinlich. Es ist so peinlich, dass, würdest du es laut vorlesen, ich schreiend aus dem Fenster springen würde. Aber...", sie hebt mein Kinn und sieht mich eindringlich an. "weil ich es selbst nicht über die Lippen kriege, wäre es besser, wenn du es wenigstens liest. Ich will, dass es um jeden Preis erfährst. Bitte tue mir diesen Gefallen."   "Verstehe, ich denke, ich kann das machen.", willige ich ein und sie nimmt ihren Finger von meinem Kinn.   "Ich setze etwas Tee auf. Willst du vielleicht etwas Bestimmtes?",   "Nicht wirklich, ich glaube, ich finde alle gut.",   "Also dann.", sagt sie schließlich.   "Also dann.", sage auch ich und sie verschwindet in der verbundenen Küche. Ich seufze, als sie sich nicht mehr unmittelbar in meinem Blickfeld befindet. Irgendwas sagt mir, ich solle das Buch aufschlagen und irgendetwas anderes sagt mir, ich solle es lassen. Wie viel von dem, was mir erzählt wurde, ist noch wahr? Werde ich Elvis' Leben danach besser oder schlechter bestehen, wenn ich erfahre, was sich hinter dem roten Leder versteckt? Ich atme ein und wieder aus. Muss mehr Sauerstoff zirkulieren lassen. Das wirkt tatsächlich Wunder, denn ich fühle mich besser. Also gebe ich mir einen Ruck, innerlich hoffend, dass es keinen Einfluss auf meine Effizienz haben wird, und schlage das Buch mit nahezu aggressiver Plötzlichkeit auf. Wären wir jetzt in einem Cartoon, würde von den Seiten ein gelb leuchtendes Funkeln ausgehen. Tut es aber nicht. Folgendes ist ein ganz gewöhnliches Tagebuch eines noch gewöhnlicheren Menschen und egal, was da drin steht, es bleibt genau so.   ***   6. April 1996 Das neue Schuljahr hat angefangen. Keita hat angefangen zu arbeiten und Akane-chan studiert. Der Schultag an sich war in Ordnung. Heute sind wir drei essen gegangen.   13. April 1996 Hotaru-san hatte Geburtstag. Und sie hat mich eingeladen.   25. März 2001 Ich habe meinen Abschluss. "Das Tagebuch der Setsuna Kyokei." Es fühlte sich seltsam an, so etwas zu schreiben, schließlich hatte ich bin vor ein paar Tagen noch Shizuhara mit Nachnamen geheißen. Ich hatte dieses Tagebuch erst heute gekauft. Zur Feier meines neuen Lebens! Es war so viel passiert, ich hatte geheiratet und war die glücklichste Frau der Welt! Es gab noch viel zu tun, immerhin mussten wir noch unsere Wohnung einräumen, weil wir umgezogen waren. Aber das Liebesglück schaffte es, mich immer wieder dazu zu bringen, ihn beim Aufbau unseres neuen Lebens zu unterstützen. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass wir geheiratet hatten, ich konnte mein Glück kaum fassen. Heiraten. Ich hatte nie gedacht, es so früh zu tun, das hatte ich gar nicht zu träumen gewagt. Dabei war ich doch erst zweiundzwanzig. Wie auch immer, ich musste jetzt Schluss machen, bevor der gute Keita unter der Couch begraben würde. Ich würde mich für eine lange Zeit und ziemlich oft nicht mehr melden, aber ich würde bald wieder schreiben, sobald ich Zeit haben würde. Für heute würde es gewesen sein. Bis in etwa zwei Wochen, wenn wir fertig sein würden.     "Endlich sind wir fertig, was, Setsuna?", keuchte Keita und ließ sich auf den Boden fallen.   Die leere Wohnung sah nun endlich bewohnbar aus.   "Wir haben und aber auch wirklich ins Zeug gelegt, Keita. Das wird bestimmt wundervoll in Zukunft...", schwärmte ich.   Wir waren endlich fertig mit allem und hatten sogar ein richtiges Bett. Wir haben länger gebraucht als wir eingeplant haben, weil wir so viele Möbel geschenkt bekamen und da noch so viel Geld zur Verfügung stand, welches wir für Zimmerpflanzen und Fische ausgaben. Es war ein wundervoller Anblick. Es war schon sehr spät, deshalb entschied ich mich dafür, das neue Bett auszuprobieren.   "Sollen wir langsam schlafen gehen? Du bist doch bestimmt auch müde von der ganzen Arbeit.", gähnte ich mehr als dass ich fragte.   "Ja, gehen wir schlafen, morgen müssen wir zwar noch nicht zu Arbeit, aber früh ins Bett zu gehen schadet heute ja wirklich nicht.", stimmte er mir zu, bevor wir nach oben schlurften.   "Ich geh mich noch umziehen, bin gleich wieder da-",   "Wieso musst du denn jetzt das Zimmer verlassen? Ich geh doch auch nicht extra ins Bad. Als Ehepaar können uns wir ruhig beide im selben Raum umziehen.", meinte er, als er meinen Arm griff.   Er schien sich nicht einmal zu schämen, so etwas vorzuschlagen.   "Kei...ta? Aber das... ist doch peinlich.", stammelte ich und holte mein Nachthemd aus dem Schrank.   "Wenn du dich schnell und geschickt anstellst, werde ich bestimmt nicht so viel sehen.", meinte er grinsend.   "Ich mach das Licht aus.", brummte ich beschämt und beeilte mich damit, so schnell und gleichzeitig so wenig wie möglich aus- und umzuziehen.   Ich drehte mich um und sah Keita sich umziehen.   "Ist was?", fragte er. Ich zuckte zusammen.   "Nein, es ist nur so, dass du kein Shirt anhast.", bemerkte ich und war wie jedes Mal, wenn ich etwas Haut sah, ein wenig verlegen.   "Du bist wirklich süß, Setsuna.", lachte er und musterte mich von oben bis unten im Mondlicht.   "Wirklich sehr süß.",   "Findest du?", ich spürte, wie ich errötete und legte mich zu ihm ins Bett, um ihn nicht ansehen zu müssen.   "Was macht man eigentlich in einem Moment wie diesen?", dachte ich auf einmal laut.   "Wie meinen?", verstand Keita nicht.   "Wir sind doch jetzt verheiratet. Wir haben ein neues Leben in einer neuen Stadt angefangen. Wir haben Schlechtwetterstadt hinter uns gelassen und wohnen jetzt in Windstillhausen. Wir sind nicht mehr dieselben wie damals in der Highschool. Wir haben uns verändert, alle drei. Du, Akane-chan und auch ich. Wir haben so unsäglich viel erlebt, so viel miteinander erlebt, gelacht und geweint. Dieses neue Leben hat vielleicht schon begonnen, jedoch glaube ich auch, dass... das alte Leben viel eher damit geendet hat, dass wir die neue Wohnung eingeräumt haben. Das war heute. Wenn wir morgen aufwachen, dann tun wir das in einem uns noch fremden Haus in einer fremden Stadt. Verstehst du, was ich meine? Ich sehe das als Startschuss oder so was. Natürlich freut mich das. Aber ich habe auch Angst. Deshalb werde ich heute Nacht vielleicht... nicht einschlafen können.", beendete ich meine Ansprache und atmete durch.   "Du bist der Wahnsinn, Setsuna. Du hast zwar von Veränderung gesprochen, aber wenn ich ganz ehrlich bin, bist du noch immer genau so melodramatisch wie früher!", ärgerte er mich.   "Manno, sag doch so was nicht!", brummte ich und zog mir die Decke weiter über den Hals.   "Ich ärgere dich doch nur. Weißt du, ich habe wie du auch ein bisschen Angst. Ich bin auch überwältigt von alledem. Meiner Schwester zu helfen. Dir zu begegnen. Dich zu heiraten, mit dir in diesem Bett zu liegen und über alles zu reden. Nichts dergleichen hätte ich mir je erträumt. Ich würde sagen, uns liegt die Zukunft offen.", teilte er mir mit und fand unter der Decke meine Hand.   Sie war trotz all der Zeit nicht besonders groß, jedoch immer warm und rau. Der Mann, den ich liebte, lag direkt hier bei mir und hielt meine Hand. Ich wusste noch genau, wie ich mich gefühlt hatte, als ich realisierte, mich in ihn verliebt zu haben. Dieses Gefühl war kein eindeutiges. Es war eine Mischung aus Schock, Angst, Enttäuschung und Belustigung. Schock, weil ich nicht geglaubt hatte, so etwas überhaupt fühlen zu können. Angst, weil ich nicht wusste, was ich tun und wie ich mich nun ihm gegenüber verhalten sollte. Enttäuschung von mir selbst, weil ich nicht stark genug war, ihm zu widerstehen und so mein empfindliches Herz vor weiterem potenziellen Schaden zu bewahren. Belustigung, weil es am Ende ja doch ein lustiges Problem war. Ein Luxusproblem. Liebe zu empfinden ist ein Vorzug des Lebens. Nicht jeder fühlt sie, nicht jeder hat den Mut, diesem Gefühl zu folgen. Falls aber doch, kann es deine ganze Welt verändern. Liebe ist der Beweis, das man ein Mensch ist, menschliche Gefühle hat und am Leben ist. Das hatte mir Keite beigebracht, ohne es zu wissen.   "Sag mal, Setsuna…", fing er einen weiteren Satz an.   "Was gedenkst du, in dieser Zukunft noch zu tun?", fragte er aus dem Blauen heraus. "Ich werde ja bald als Buchhalterin arbeiten, aber... ich weiß nicht. Ich habe nicht Literatur studiert, um mein Leben lang Bücher zu verkaufen. Irgendwann schreibe ich vielleicht selbst welche, um der Nachwelt zu beweisen, dass ich hier gewesen bin. Du so?", wandte ich mich ihm zu und sah ihn an.   "Ich werde vielleicht immer als Polizist arbeiten, um die Gerechtigkeit zu beschützen. Und die Menschen, die ich liebe zu beschützen. Dich und die Kinder, die wir haben werden.", fantasierte er und mir stieg das Blut in den Kopf.   "W-waaaaas?", entfuhr es mir. Kinder. Herrschaft noch mal, an die hatte ich in dem Moment wirklich nicht gedacht.   "Ach Setsuna, du bist so leicht aus dem Konzept zu bringen. Immer wieder lustig.", lachte er und hörte nicht auf, mich verschmitzt anzugrinsen.   Durch die Ritzen in den Rollläden, konnte ich sein Lächeln sehen.   "Es ist noch schlimmer, die Fassung zu bewahren, wissend, dass diese Kinder vielleicht gar nicht so weit weg sind, wie ich vor wenigen Sekunden dachte.", murmelte ich verschämt.   "W-waaaas?", war nun Keita an der Reihe zu empören.   "D-du hast damit angefangen, Keita... Mit den Kindern... und der Zukunft... Wenn es ums Empören geht bist du nämlich... noch mehr Wahnsinn als ich, wenn du mich fragst.", brachte ich nur schwer über die Lippen.   Dann lachte er wieder.   "Ach, Setsuna.",   "Wie oft willst du heute noch meinen Namen seufzen?", versuchte ich einmal, ihn zu necken.   "Öfter als du denkst.", flüsterte er und küsste mich im nächsten Moment.   Platt wie eine Flunder von der plötzlichen Nähe erwiderte ich es, wenn auch etwas unbeholfen. Im Küssen war er immer besser als ich. Ich legte dennoch jede Leidenschaft, die in mir zu finden war, in diesen Kuss hinein, auch wenn ich mich zusammenreißen musste, als seine Hand mein Nachthemd unterquerte und meine Brust erfasste. Diesmal erschrak ich nicht so sehr. Diesmal war nichts dergleichen eine böse Überraschung und nur im entfernten Sinne eine unangenehme Erinnerung an einen notgeilen Exfreund. Dann lösten wir uns nach einer Weile voneinander und sahen uns in die in Dunkelheit gehüllten Augen. Wie es jetzt weitergehen würde, wussten wir und gleichzeitig wussten wir es nicht. Er küsste mich noch einmal, nur kürzer und unschlüssiger.   "Ist es das, was ich denke, dass es das ist?", fragte er sich laut.   "Du hast angefangen, was fragst du denn mich?", wich ich etwas zögerlich aus.   Ich war überfordert. Ich atmete erneut durch. Was redete ich denn da von wegen, wer angefangen hatte oder nicht? Mein Körper glühte viel zu sehr, als dass ich so tun könnte, als wenn ich es nicht so genau so hätte tun können?   "Sollen wir es tun?", fragte ich vorsichtig.   "Ich denke, es wird uns nicht umbringen, es tun zu wollen. Wir sind schließlich verheiratet. Also... okay, tun wir es.", Keita, der sonst immer so selbstbewusst und lustig drauf war, war auf einmal so schüchtern und unsicher.   Ich berührte seine eine Wange.   "Wir sind keine Profis und viel zu aufgeregt, aber hey, es wird schon in Ordnung gehen.", mein Versuch, ihn zu beruhigen schien nicht besonders gut zu sein.   "Ach, Setsuna, du bist wirklich wundervoll, weißt du? Ja, du hast recht. Wir sind wirklich keine Profis. Aber wir lieben und vertrauen einander, das ist alles, was jetzt zählt.", hauchte er über meine Lippen, bevor wir einander näher waren als es jemals möglich war.   In dieser Nacht schliefen wir miteinander. Kapitel 14: Vol. 1 - "Nadeshiko" Arc: Die verblassenden Gefühle der Vergangenheit (Teil 1) ------------------------------------------------------------------------------------------ Seither waren zwei Wochen vergangen. Seitdem hatten wir keinen richtigen Augenkontakt mehr. Und die Atmosphäre... war grauenhaft. Jedes Mal, wenn Keita mir in die Augen sah, schaute er beschämt weg und traute sich nicht einmal mehr, mich in den Arm zu nehmen. Ich war da nicht besser. Es hatte sich alles so ergeben.   "Keita.", sagte ich und griff nach seiner Hand.   "Ich weiß nicht was los ist, aber ich will nicht, dass das bis in alle Ewigkeit so weitergeht. Bitte sieh mich wieder an, küss mich wieder, berühre mich und sei wieder wie vor dieser Nacht!", ich kniff die Augen zusammen, um nicht so viel von seiner Reaktion zu dieser peinlichen Ansprache zu machen.   "Setsuna.", begann er.   "Danke. Dass du dich in so einen Idioten wie mich verliebt hast. Und mir verzeihen kannst, wie schwach ich in den letzten zwei Wochen war. Du hast nicht verdient, dass ich dir aus dem Weg gehe und das weiß ich. Deshalb, danke." Dann umarmte er mich und ich fühlte mich das erste Mal seit zwei Wochen an diesem Morgen wieder eins mit ihm.   Früher oder später hätten wir uns so oder so vertragen, aber... es war trotzdem schön. Wir küssten uns und ich ging Duschen. Nachdem ich fertig war, putzte ich Zähne und plötzlich wie aus dem Nichts überkam mich eine riesige Welle von Übelkeit. Ich ließ wie vom Blitz getroffen die Zahnbürste fallen, stolperte zum Klo und übergab mich. Es war mehr, als ich gegessen zu haben meinte und es fühlte sich schrecklich in Hals und Brustkorb an. Eine Weile lang keuchte ich nur noch und rang nach Luft. Mir war so schwindlig, als würde ich mich gleich wieder übergeben, aber das tat ich nicht. Was war bloß los mit mir? Doch nicht etwa-... Ich beschloss, nicht weiter drüber nachzudenken, da ich langsam losmusste und nicht zu spät kommen wollte. Ich spülte das Erbrochene herunter und machte mich fertig für den Tag.   "Setsuna, ist alles in Ordnung? Du siehst gerade irgendwie blass aus.", bemerkte Keita. Ich zuckte zusammen.   "Mir geht es gut, keine Sorge, ich habe wohl nur das Abendessen von gestern nicht verkraftet, mach dir keine Sorgen... Schatz.", nach diesem Satz errötete er und ich ebenfalls.   "Soll ich dich etwa nicht so nennen?", wollte ich wissen und schämte mich ein bisschen.   "Es ist nur... na ja, das erste Mal, dass du mich so nennst. Aber das geht klar, glaub ich.", meinte Keita und kratzte sich hinterm Ohr. Obwohl wir uns wieder vertragen hatten, vergingen die freien Tage still und unauffällig, als wäre nichts von all dem passiert.   Ein Serienmarathon von Breaking Bad nach dem Abendessen in unserem Bett, dann passierte es wieder. Ich rannte wie eine Verrückte ins Bad und übergab mich wieder genauso schrecklich und qualvoll wie letztens.   "Setsuna! Ist wirklich alles in Ordnung? Du hast doch irgendwas! Bist du vielleicht krank?", Keita stürzte ins Bad und packte mich an den Schultern.   "Ich weiß nicht so. Jetzt, wo du sagst, es fühlt sich wirklich anders als eine normale Übelkeit an.", kam es mir knirschend über die Lippen.   "Mir geht es einfach nicht gut, seit letztens als du mich gefragt hast, ob alles in Ordnung sei. Da hab ich gelogen, weil ich dachte, das geht schon vorbei. Ich dachte, passt, es ist das Abendessen, oder sowas. Tut mir leid, dass ich es für mich behalten habe. Aber ich hab solche Magenschmerzen, das ist schon gar nicht mehr normal. Keita, ich...", beim Versuch ihn aufzuklären, sah er aus als ob er schon ahnen würde, was ich gleich sagen würde.   Und das machte mir Angst.   "Ich glaube, ich bin schwanger. Von dir, Keita.", jetzt war es raus.   Die Bombe geplatzt. Und blieb er bei mir, dann war es perfekt. Denn er war die Liebe meines Lebens und der Vater des Kindes, das nur unseretwegen zu existieren begann. Unsere gemeinsame Liebe nahm Form an. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Dieses Kind würde uns verbinden und ich würde es austragen, komme was da wolle.   "Setsuna, das sind ja wundervolle Neuigkeiten, ich freu mich!", teilte er mir mit und umarmte mich um die Taille.   Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war so glücklich, dass er bei mir blieb, bei unserer süßen kleinen Familie. Ich hatte einen Kloß im Hals und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich legte meine Hand auf die von Keita und eine Träne der Fröhlichkeit lief mir über die Wange.   "Weißt du noch, als wir uns kennengelernt haben? In der Oberschule. Ich, das schüchterne Mädchen, das vor der Liebe Angst hatte. Du und deine Begeisterung für Elvis Presley? Du hast sogar das Kostüm nachgeahmt und bist beim Schulfest aufgetreten, das fand ich lustig und wunderschön. Dann hast du mir auf der Bühne vor aller Augen deine Liebe gestanden. Ich war so glücklich, so überglücklich...", schwärmte ich.   "Elvis ist schon ein cooler Typ. Ich war wirklich sein größter Fan. Weißt du, was für eine Idee ich gerade hatte, Setsuna?", flüsterte er.   Vielleicht ahnte ich schon, was er mir sagen würde.   "Was denn?",   "Nennen wir es doch so. Das Kind. Irgendeine Anlehnung an diesen Typen. So was wie Elvis, wenn es ein Junge wird oder... Elvira, wenn es ein Mädchen wird... Schon eine verrückte Idee, ich weiß, wir müssen auch nicht, wenn du-",   "Doch, es... ehrlich, mir gefällt diese Idee!", fiel ich ihm ins Wort.   "Dann ist es jetzt beschlossen. Er oder sie wird Elvis oder Elvira Kyokei heißen.", fasste er zusammen.   Ich spülte den Rest des Erbrochenen noch vollends runter und wusch mir den Mund, nachdem ich aufstand. Ich umarmte Keita und dankte ihm f dafür, immer bei mir gewesen zu sein.   "Lass uns morgen zum Frauenarzt gehen, ja? Ich bin mir zwar sehr sicher, aber dennoch, einfach, weil es sich so gehört.",   "Sicher. Das wird wunderbar. Ich kann kaum erwarten, es endlich unter uns zu haben, unser Kind. Es wird sich bestimmt freuen, solche tollen Eltern zu haben.", sagte er durch sein Grinsen.   Wir standen da eine ganze Weile und bewegten uns nicht von der Stelle.     Heute beschlossen Keita und ich wieder zur Arbeit zu gehen, nicht nur, weil wir unbedingt noch mehr Geld wegen des Babys brauchten. Keita hatte inzwischen seine Ausbildung bei der Polizei erfolgreich abgeschlossen, während ich als Buchhalterin so vielen Leuten wie möglich die besten Bücher andrehte. Die Zeit raste und das Konto füllte sich. Die Geburt rückte näher und mit ihr meine Aufregung, bald zu dritt zu sein. Ich habe nie ein Datum beim Schreiben ins Tagebuch geschrieben, weil ich wollte, dass es nicht wichtig war, wann etwas passierte, sondern was. Das Datum sollte etwas Besonderes sein, wenn ich es erwähnte, ich wollte die Zeit zusammenfassen, ohne sie zu zählen, deshalb. Momentan bin ich im dritten Monat, habe extra lange gewartet, um das zu sagen, wie gesagt, das Datum hatte momentan keine Bedeutung. Ich gab mein Allerbestes, dieses Leben aufzubauen, dessen Sehnsucht danach immer größer wurde.   "Fantasy mögen Sie, Romance auch und Drama? Dann kann ich Ihnen dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen!", begeisterte ich das Schulmädchen, welches sich gerade umsah.   "Nachdem ich die Rückseite gesehen habe und sie so begeistert waren, werde ich es wohl kaufen. Danke, gnädige Frau.", höflich bedankte sie sich für meine Empfehlung und ging zur Kasse.   Meine Schicht ging zu Ende und ich ging noch etwas spazieren. Der Park war mäßig gefüllt und die Ruhe angenehm. Dann erspähte ich eine bekannte Person, in der übersichtlich kleinen Menge. Akane-chan. Als hätte sie meinen Blick bemerkt, drehte sie sich um und rief nach mir.   "Setsuna-san, Setsuna-san! Was eine schicksalhafte Begegnung an einem Tag wie diesen! Windstillhausen ist nach über drei Monaten immer noch gar nicht langweilig! Bist du auch so voller Elan?", sie rannte her, nahm meine Hand in beide Hände und strahlte mich an.   "Ich wusste gar nicht, dass du Zeitung austrägst, Akane-chan.", bemerkte ich.   "Geschweige denn, dass du um diese Zeit freihast. Bist du denn nicht Lehrerin geworden oder sowas in der Art?", "Hundert Punkte! Setsuna-sa...", sie beendete ihren Satz wieder nicht, sondern musterte mich von oben bis unten, bevor sie vor meinem Bauch aufhörte, sich zu bewegen. Ich würde wohl nie erfahren, was sie hierher verschlagen hatte.   "Interessant, ihr erwartet also ein Kind, was?", flüsterte sie fast.   "J-Ja, tun wir.", antwortete ich knapp.   "Ich freu mich für dich, Setsuna-san! Ich kann gar nicht glauben, dass ich schon Tante werde.", sagte sie und sabberte etwas.   Nach ein paar Sekunden pervers aussehender Freude trübte sich ihr Blick wieder.   "Der Grund, wieso ich hier bin... ist im Grunde kein besonders guter. Weißt du, es ist... etwas ist vorgefallen. Gestern um genau zu sein. Ich kann dir nicht sagen, was, aber... ich musste einfach die Schule deswegen schwänzen und das, obwohl ich neu in dem Business bin. Es hilft mir, hier durchzulaufen, wenn ich nach Antworten suche, weißt du? ich weiß nicht, wieso ich dir das erzähle, aber... du bist nun mal eine meiner wenigen Freunde!", Akane-chan lachte.   "Es freut mich, wenn du mir davon erzählst, Akane-chan. Du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn du meine Hilfe brauchst. Auch wenn... die Schule zu schwänzen sich nicht gerade für eine frischgebackene Lehrerin gehört!", tadelte ich sie scherzhaft, doch ehe sie darauf antworten konnte, hörte ich einen Knall, ganz fern, südlich der Stadt, bevor ein Haus in sich zusammenfiel.   Es folgten Feuer und zahlreiche Sirenen der Feuerwehr, der Polizei und weiß Gott noch was für Geräusche, die ich nicht hören wollte.   "Keita.", sagte ich leise.   "Wir müssen zu ihm, Akane-chan!", rief ich ihr zu und wir machten uns so schnell uns unsere Beine trugen zum Ort des Geschehens.   Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt dort sein würde, ob er hierfür eingeteilt war, aber die Wahrscheinlichkeit war viel zu groß als dass ich hätte im Park bleiben können. Ich sah das Gebäude in Trümmern, hier und da brannten Dach und Boden und der Haufen an Steinen machte mich wahnsinnig. Ich hastete dorthin, ohne Rücksicht auf die Polizisten, die mich verfolgten, oder die Rufe, ich solle das lassen. Ich wollte sie alle nicht hören. Ich kletterte auf den Haufen und schmiss einen Felsen nach dem anderen zur Seite. Als ich dort nichts fand, ging ich höher in Richtung Gebäude, zumindest das, was davon noch übrig blieb. In den Ruinen voller Trümmer und Verwüstung sah ich ihn. An der Ecke dieser Wand, welche er dem Anschein nach als Deckung benutzt hatte. Akane-chan folge mir und war ähnlich entsetzt.   "Keita! Oh nein, mein Gott, Keita! Was haben sie dir angetan?!?", schrie ich und hastete zu ihm.   Er war halb bewusstlos und öffnete die Augen, so gut er konnte. Es steckte ein Messer in seinem Bauch und da waren unzählige Schusswunden an seinem ganzen Körper. Das hier war ein Terroranschlag. Und Keita hatte nichts besseres zu tun, als sich einzumischen. Er war doch noch in Ausbildung. Was zur Hölle hatte er hier zu suchen?! Ich hätte so fuchsteufelswild auf ihn gewesen sein können, wenn der Schock nicht so mit meinem Herzen gespielt hätte.   "Setsuna. Onee-chan. Wie schön.", stammelte er und spuckte Blut.   "Nicht reden, du darfst nicht reden, Keita!", weinte Akane-chan.   "Ich werde aber vielleicht nie wieder reden können, wenn ich jetzt nichts sage. Ich habe etwas richtig Dummes gemacht. Ich habe wieder einmal den Mund zu voll genommen. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein und dennoch. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, sie wollten die Mitarbeiter töten, und haben eine Bombe... gezündet, sodass der Großteil dieses Gebäudes jetzt in Trümmern liegt. Ich habe einen Mann vor den Schüssen beschützt, damit er weglaufen konnte. Dieser blöde maskierte Kerl hat dann mich angeschossen, schön da, wo es mich nicht tötet, aber trotzdem unglaublich wehtut. Dann habe ich ihnen unter den Höllenqualen gesagt, dass das keine Probleme lösen würde und ich unbedingt noch weiterleben muss. Um zu tun, was getan werden muss und meiner Familie, dir und dem Baby wegen. Dann hat er mir das Messer in den Bauch gerammt und mir gesagt, dass es ihm egal wäre und ich keine Ahnung habe. Die Truppen der anderen haben mich auch nicht mehr gesucht und seitdem liege ich hier.", flüsterte er uns beiden zu.   Seine Augenlider zucken hastig, als wenn er mit sich ringen würde, wach zu bleiben.   "Onee-chan, bleib wie du bist und beschütze meine Familie, du bist nämlich ebenfalls ein Teil von ihr. Bitte vergiss niemals, dass dir geholfen wurde und du es verdient hast, aktiv zu leben und Freude zu empfinden. Und Setsuna...",   "Ich bin hier, Keita, bleib bei mir!", winselte ich und betrachtete seinen schlaksigen durchlöcherten Körper.   Er streckte die blutverschmierte Hand nach mir aus, in meinem Schock konnte ich nicht nach ihr greifen. Ihn verließ die Kraft und er ließ sie auf meinen Bauch fallen. Die Kälte von Blut, die durch mein Sommerkleid meine Haut erfasste, ließ mich beinahe sterben.   "Beschütze das Kind. Beschütze... Elvis oder Elvira... mit deinem... Leben...", mit den Worten, die seine trockenen Lippen verließen, wich auch das Leben aus dem Körper meines Geliebten.   Akane-chan war starr vor Schock und ihre Augen verdunkelten sich.   "Keita... Keita, das ist nicht lustig. Keita... komm zurück und rede mit uns. Keita. Keita. Lass mich nicht allein!!!", schrie ich unter Tränen, nahm seine leblose Hand, jene auf meinen Oberschenkel gerutscht war, weil ihr die Kraft fehlte und weinte.   "Das... das stimmt nicht... das ist ein Albtraum... Ich schlafe...", stammelte Akane-chan schluchzend.   Dann stand sie auf und rannte schreiend davon, in eine Ecke der Ruinen, in die mein Blick nicht mehr hinreichte. Mit tränenverklebten Augen und bebender Brust, Keita auf meinen Schoß gebettet und in die trostlose Ferne blickend, bekam ich noch entfernt mit, wie sie hinfiel. Ein dumpfer Sturz, der ihr, so wie ich sie kannte, bestimmt den Knöchel verstauchte. Dann schüttelte mich ein weiterer Heulkrampf, bis Hilfe anrückte. Die Polizisten führten mich mit dem Leichnam von Keita auf einer verdeckten Trage nach draußen. Davon bekam ich nichts mit, es fühlte sich alles wie ein schlechter Albtraum an, aus den ich jede Sekunde aufwachen sollte. Ich fühlte die blutige Stelle an meinem Bauch und erkannte schmerzlich, dass ich nie wieder aufwachen würde. Es tat so unglaublich weh. Akane-chan war nicht hier, sie war davongelaufen und hatte mich alleingelassen. Ich konnte ihr trotz dessen, dass es mich verletzte, einsam zu sein, absolut nicht böse sein.   Ich fand mich bei seiner Beerdigung wieder und konnte das alles nicht ertragen.   "Wir werden ihn schmerzlichst vermissen.", das waren die Worte des Pastors, bevor der Mann neben mir in Tränen ausbrach, die Zähne zusammenbiss und versuchte, keine Geräusche zu machen.   Die Zeremonie war nun vorbei. Auch das zog wie ein alter Film vor meinen Augen ab, doch es war wie im Kino mit offenen Augen zu schlafen: Man sah es, aber nichts davon blieb hängen. Später als ich immer noch an seinem Grab stand, dachte ich wie so oft an alles, was ich je mit ihm erlebt hatte. Was wir alles zusammen durchstanden. Und schlimmer noch: Was ich von nun an alles allein durchstehen musste. Dann hörte ich Schritte hinter mir. Ich war nicht allein. Eigentlich war mir seit dem Tod meines Mannes so ziemlich alles neben dem Wohl des Babys egal, doch ich weil ich glaubte, es könnte Akane-chan sein, drehte ich mich flüchtig um, nur um enttäuscht und überrascht zugleich zu werden. Und da sah ich ihn. Es war der Mann neben mir, der mehr geweint hatte als jeder andere. Und das war tatsächlich nicht leicht auf einer Beerdigung wie dieser. Er sah mich nicht an. Ich musterte ihn, ehe ich mich wieder umdrehte und den Stein anstarrte, der meinen Mann bewachte. Seine Augen konnte ich nicht erkennen, seine schlammbraunen Haare sahen zerzaust und ungepflegt aus. Alles in seiner Erscheinung zeugte von absolutem Ausnahmezustand, dem schlimmsten, dem ein Mensch ausgesetzt sein konnte: Dem Tod einer geliebten Person. diesmal hinterrücks. Plötzlich umarmte er mich von hinten. Ich erschrak so sehr, ich hätte fast geschrien. Ehe ich ihm sagen konnte, er solle sofort damit aufhören, spürte ich Tränen, als er mir zuvorkam und schluchzte:   "Es tut mir leid. Dass ich Kyokei nicht retten konnte." Es war keine Anmache, es war das gezeigte Schuldgefühl, welches mir dieser Mann offenbarte.   Er war einer der Polizisten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Schulter ruhen, seine Verzweiflung in seiner Stimme. Ich reagierte nicht. Weitere Tränen tropften mir auf die Schulter und lief mir in den Ausschnitt.   "Es tut mir leid.", flüsterte er.   Obwohl ich keinen Ton von mir geben wollte, so brach ich erneut in Tränen aus, in der Hoffnung, Keita würde aus seinem Grab wiederauferstehen. Aber das tat er nicht. Ich hatte noch nicht einmal die Kraft dazu, deswegen enttäuscht zu sein. Ich wusste doch, dass er weg war. In diesem Leben würden wir uns nicht mehr sehen. Ich war allein. Und ich hatte Angst. Ich wollte dem Kind eine solch graue Zukunft ohne Keita nicht zumuten. Ich fühlte nicht mehr die Kraft dazu, ihm eine gute Mutter sein zu können. Ich hatte nichts als meine blanke Panik und der unendlichen Leere in meinem Herzen, von der ich nicht einmal wusste, ob mein Herz durch diese Leere noch genügend Liebe für mich selbst, geschweige denn für das Kind oder geschweige denn für irgendeinen Menschen sonst übrig hatte. Hier waren nur ich und der Mann, der sich schuldig fühlte. Der Rest der Welt war menschenleer. Kapitel 15: Vol. 1 - "Nadeshiko" Arc: Die verblassenden Gefühle der Vergangenheit (Teil 2) ------------------------------------------------------------------------------------------ "Du bist einer der Polizisten, die an diesem Tag da waren, nicht wahr?", fing ich eine Konversation an, nachdem uns die Tränen ausgegangen waren. Er nickte stumm und schluckte.   "Es war alles einfach so furchtbar schnell. Kyokei hat es allein versucht, ist einfach dort hin, wo uns nicht gesagt wurde, dass wir hinsollen, er hat uns einfach ignoriert und ich schätze, ich weiß auch warum er das tat.", sprach er unter dem Druck des Kloßes in seinem Hals.   "Du willst das bestimmt nicht hören, aber Kyokei war nicht der Beste unserer Männer. Die anderen haben schlecht über ihn geredet und das tat ihm weh. Von wegen, er könne das nicht, er habe es nicht drauf und weitere verletzende Worte. So wollte er irgendwie beweisen, dass er es sehr wohl drauf habe, nur... nun ja, er schaffte es nicht. Und ich bin sicher, dass hat ihn unglaublich verzweifelt, es nicht geschafft zu haben. Immer muss er etwas beweisen, nie wollte er etwas auf sich sitzen lassen, hat immer bis zum Schluss gekämpft und sein Bestes gegeben. Er hat nicht viel Erfolg gehabt, dennoch war seine Einstellung einfach die mit Abstand beste, die man als Polizist überhaupt haben konnte. Er war... mein einziger Freund in der gesamten Zentrale. Und ich konnte ihm trotzdem nicht helfen, es tut mir leid.", sein Blick wanderte in mein Gesicht und sofort wieder auf den Boden.   Er konnte mir nicht einmal in die Augen sehen. Ich nahm seine Hand, um ihm zu zeigen, dass ich ihm nicht böse war. Er zuckte kurz zusammen, fing sich aber.   "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirklich ihre alleinige Schuld war, er hat mir alles gesagt und nicht annähernd so ausgesehen, als wäre er hintergangen worden. Ich bin mir sicher, vertrauen sie ihm. Dir die Schuld an seinem Tod und meinem Leid zu geben, holt ihn uns auch nicht zurück.", erklärte ich ihm und sah ihn an.   Wieder wanderte sein Blick, nur diesmal auf meinen Ringfinger. "Sind Sie die wundervolle Frau, von der er mir erzählt hat? Setsuna Kyokei-san?", fragte er und seine Augen leuchteten kurz auf.   "Das hat er über mich gesagt? Ja, ich bin seine Frau.", bestätigte ich und spürte, wie sich die traurige Stimmung langsam verzog.   "Ich bin übrigens Shun. Shun Takamiya. Freut mich, Setsuna-san.", stellte er sich vor.   Wir redeten noch eine Weile und so kam es, dass wir heute Abend bei ihm zu Hause zu Abend aßen. Ich erinnerte mich daran, dass zu Hause niemand auf mich warten würde und kam mit. Gerade weil ich wusste, dass Keita und er gute Freunde waren und ich Akane-chan nicht zur Last fallen wollte, war er der Einzige, den ich jetzt gerade sehen wollte, egal, wie fremd er war. Das klingt sicherlich idiotisch, aber manchmal will man eben mit Fremden sein, gerade, weil es für die Angehörigen so schmerzhaft ist, es auszusprechen. Takamiya-san und ich kamen an seinem Haus an und er öffnete leise die Tür, ehe ein rothaariges pummeliges Kind uns entgegenstürmte.   "Papa!!!", rief es und verstummte vom einen auf den anderen Moment, als es mich sah.   "Papa, wer ist diese Frau?", fragte es und bewegte sich noch immer keinen Zentimeter.   "Das ist Setsuna Kyokei-san, die Frau meines besten Kollegen.", erklärte er und schaute zu dem kleinen Jungen runter. Wir kamen rein und der Kleine sagte nichts mehr. Nachdem wir also den Tisch gedeckt hatten, zog sich die unangenehme Stille noch mehr in die Länge, bis Shun das nicht mehr aushielt und sie brach.   "Ich darf dich doch beim Vornamen nennen, oder, Setsuna-san? Ich meine, es fühlt sich seltsam an, Sie ebenfalls Kyokei zu nennen wie meinen Kollegen und...", er wurde rot vor Scham und starrte dann schweigend auf das Messer vor ihn.   "Das ist doch nicht so wild, Takamiya-san, ich kann Sie... sogar sehr gut verstehen..., ich-",   "Dann müssen Sie mich aber auch nicht Takamiya-san nennen, das ist sonst nicht fair. Nennen Sie mich doch bitte Shun...", immer noch rot bat er mich darum.   "Ist gut... Shun.", probte ich das für die Zukunft.   Wieder legte sich die Stille über den Tisch. Der kleine Sohn von Shun hatte sein Essen immernoch nicht angerührt, sodass ich mir Sorgen machte, ob mit ihm alles in Ordnung sei.   "Stimmt etwas nicht, Kleiner?", tastete ich mich vorsichtig an den Kleinen ran, der vom Blick her fast schon sauer zu sein schien.   "Mir geht es wundervoll. Ich hab mich nur gefragt, ob sie auch so blöd wie meine letzte Mama wären...", kam es ihm über die jungen Lippen. Ich zuckte.   "Taiyo! Sei bitte nett, hörst du?! Diese Frau hatte es nicht leicht!", zischte Shun und tauschte das schüchterne Gesicht der bisherigen Stille gegen ein zorniges.   "Ist schon okay. Ich kann verstehen, wenn ich nicht erwünscht bin.", flüsterte ich zu meinem Brot runter, welches sogleich mit einer Träne befleckt wurde.   Wie hätte ich auch nur einen Moment denken können, dass wenigstens heute die Einsamkeit nicht über mich siegt?   "Setsuna-san! Taiyo, auf dein Zimmer, du hast unseren Gast zum Weinen gebracht!", schrie er fast schon, ohne seinem Sohn in die Augen zu sehen.   Dieser riss die Augen auf, sprang vom für ihn zu hohen Stuhl runter und raste die Treppe rauf, im Versuch, nicht in Tränen auszubrechen. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, aber es war sinnlos. Die Tränen liefen mir weiter übers Gesicht und ich wünschte, es würde aufhören.   "Es tut mir leid. Ich hätte nicht weinen sollen. Es war nur... ich... dachte, ich wäre wenigstens keine Last und nicht so einsam... seit Keita weg ist, kann ich seiner Schwester nicht einmal sagen, dass es mir leid tut und sie stark sein muss. Es ist so schrecklich, in diesem großen Haus allein zu sein, so ganz ohne Familie und Keita...", der Kloß in meinem Hals lockerte sich, aber die Erinnerungen an die für immer verlorene Zeit mit ihm zerrissen mich.   "Setsuna-san... es ist nicht deine Schuld, du hast jedes Recht zu weinen. Das mit meinem Sohn ist auch nicht deine Schuld, es ist meine, weil ich ihm Hoffnung gemacht habe.", wieder mit von Schuldgefühlen geplagte Stimme begann er zu erzählen.   "Ich habe vor geraumer Zeit eine Frau kennengelernt, von der ich dachte, ich könnte den Rest meines Lebens mit ihr teilen, du musst wissen, die Frau, die Taiyo zur Welt brachte, ist bei seiner Geburt gestorben, deshalb wusste er nie, wie es war, eine liebende Mutter zu haben. Als wir zusammenkamen, war ich direkt Feuer und Flamme und hab Taiyo erzählt, dass er doch noch eine Mutter bekommen würde. Er hat sich natürlich riesig gefreut und umso trauriger war er, als wir uns in einem großen lauten Streit getrennt haben und er alles gehört hatte. Seitdem ist er allen Frauen, die dieses Haus betreten über feindselig gesinnt.", er seufzte und beschwor damit die jetzt noch viel unangenehmere Stille herauf.   "Das tut mir leid. Auch dem kleinen Taiyo wegen.", entschuldigte ich mich damit für alles, insbesondere für meine Anwesenheit.   "Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich geschwind hoch zu Taiyo-chan und rede mit ihm.", schlug ich vor.   "Die erste Tür rechts", sprach Shun zu seinen Händen, die auf dem Stuhl lehnten.   Ich hastete die Treppen hoch und klopfte an seine Tür, nur um dann sowieso auf zumachen und Taiyo in der Decke eingelullt zu finden.   "Taiyo-chan... hier ist Setsuna. Dein Vater hat mir alles gesagt und ich wollte sagen, dass es mir leid tut und ich verstehen kann, wenn du mich nicht hier haben willst. Aber bitte hasse mich nicht, ich würde dich doch nie verletzen wollen, kleiner Taiyo. Kommst du jetzt bitte aus der Decke raus?", wie vom Blitz getroffen schälte er sich aus dem Nest aus Decke und Kuscheltieren und sah mich mit geröteten Augen an.   Ich wollte gerade noch etwas sagen, da kam er mir zuvor und rief: "Diese Frau war überhaupt nicht nett, Papa war traurig und ich war auch traurig, diese blöde Hobelschlunze verdient Papa nicht. So eine Mutter will ich nicht!", diesmal konnte er die Tränen nicht zurückhalten und weinte. Ich umarmte ihn vom Bettrand aus.   "Es ist okay.", mehr sagte ich nicht.   Er weinte noch eine Weile, bis er sich beruhigte und dann ganz heiser war.   "Bist du denn meine neue Mama?", fragte er schließlich mit der Stimme, die nur so nah dran war, nicht mehr da zu sein.   "Das weiß ich nicht. So funktioniert das nicht, kleiner Taiyo. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber wer weiß.", versuchte ich, ihm keine Hoffnung zu machen. Ich meinte schon fast, seine Enttäuschung in seinem Atem zu hören.   "Du kannst uns weiter besuchen, Setsuna. Ich hasse dich nämlich nicht.", meinte er.   "Ich bin froh, das zu hören, Taiyo-chan." Ich war froh. Froh, mich wenigstens für diesem Moment teil einer Familie zu fühlen, die nicht schon starb, bevor sie erst entstand.   Von nun an trafen Shun, sein kleiner Sohn und ich uns häufiger, nicht nur, weil ich für Taiyo und seinen Vater da sein wollte. Ich dachte dabei auch an meinen eigenen Sohn. Irgendwie hatte ich das Gefühl als würde es ihm in der Gegenwart von Shun und Taiyo besser ergehen, einfach, weil wir nicht alleine waren. Der Tag der Geburt rückte immer näher und meine wachsende Angst, uns nicht versorgen zu können, war unerträglich. Ich arbeitete weiterhin im Bücherladen, obwohl ich wusste, dass das auf Dauer nicht reichen würde. Aber auch in dieser Situation stand mir Shun stets bei. Er sagte, er könne nicht mitansehen, wie mein Leben als Witwe und alleinerziehende Mutter seinen Lauf nehmen würde. Dazu sagte ich nichts mehr. Ich verstand es nicht. Weshalb sorgte er sich um mich? Ist es wegen Keita? Oder doch wegen Elvis? Ich konnte mir keinen Reim daraus machen, selbst, wenn ich wollte.   "Setsuna, warum bist du eigentlich so dick?", Taiyo riss mich aus den Tagträumen und sah mich unverwandt an.   "Taiyo, das ist nicht die Art wie ich dich erzogen habe!", versuchte Shun seinen Sohn zurechtzuweisen. "Ist schon gut, Shun, woher soll er das denn wissen? Ich erklär es ihm.", beruhigte ich den Vater des Kleinen.   "Taiyo, ich bin nicht dick. Ich bin schwanger. Da ist ein Kind drin, weißt du?", erklärte ich ihm und streichelte seinen Kopf.   "Oooooohhhh...", Taiyo legte sein Ohr auf meinen Bauch und die Hand dazu.   Er sagte eine Weile nichts und dann schreckte er kurz auf. "Papa, da hat sich was bewegt!", erschrocken fällt er auf den Po.   "Sie hat doch gesagt, da ist ein Kind. Du gehst doch auch jeden Tag in den Kindergarten. Mit den Füßen.", Shun sah erst Taiyo, dann mich an.   "Kann ich auch mal?", fragte er schüchtern.   "Klar.", erlaubte ich ihm, bevor er ebenfalls meinen Bauch streichelte.   "Welcher Monat?",   "Achter Monat.", in dem Moment dachten wir beide wahrscheinlich dasselbe.   "Es wäre möglich, aber bestimmt nicht schön. Mein Kumpel wird nicht da sein, um sein eigenes Kind beim Erwachsenwerden zusehen zu können. Jedes Mal, wenn ich dich so sehe, muss ich daran denken und fühle mich schlecht. Setsuna, ich muss doch irgendwas für dich tun können. Ich muss, denn sonst... auch weil Taiyo... ", ich verstand den Rest nicht, all die Worte wurden mit einem Tsunami aus Tränen davongespült.   Shun weinte. So laut und stark und ich wollte nur noch wissen, wofür seine Tränen flossen und weshalb es ihm so wehtat, mich so zu sehen. Ob ich schuld sei, wie auch immer, ich fühlte mich so. Er sackte mit dem Gesicht auf meine Oberschenkel, hielt sich mit Fäusten an meinem Rock fest und heulte verkrampft weiter, wie an der Beerdigung und dem Grab. Taiyo sagte wieder nichts und ich fühlte mich nicht gut dabei, dass wir über so etwas in der Gegenwart eines Fünfjährigen sprachen. Er bewegte sich kein Stück, noch nicht einmal, um seinen Vater zu trösten. Wie angewurzelt stand er da und beobachtete diese Szene. Nachdem Shun sich ausgeweint hat, zumindest etwas, lag er immernoch auf meinen Oberschenkeln und sagte nichts. Dann aber, fand er wieder Worte:   "Setsuna... ich will... für immer an deiner Seite sein. Ich will auch für immer an der Seite dieses kleinen Wesens bleiben. Wegen der Sache mit Kyokei fühle ich mich noch immer kein Deut besser und auch noch seine Frau und sein Kind im Stich zu lassen, halte ich nicht aus! Selbst Taiyo hat sich gefreut. Er hat mir gesagt, dass er dich mag und dich gern als Mutter hätte und wenn ich ehrlich bin, will ich auch, dass es so bleibt wie seit drei Monaten. Wir haben uns fast täglich gesehen und je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr wollte ich dich und dein Kind beschützen. Ich will dir beistehen, mein Leben lang, das ist es, das ist das Mindeste, was ich für Kyokei tun kann...", stammelte er mir durch den Stoff und hauchte mir warme Luft an die Beine.   Ich war sprachlos. Taiyo sagte immernoch nichts und zittere. Shun bewegte sich nicht. Es zogen Wolken und die unbeschwerte Atmosphäre war vergangen, auch wenn das Blau am Himmel teils immernoch zu sehen war. Ich legte die Hand auf seinen Kopf.   "Shun. Du bist wirklich toll. Ich verstehe es nicht, ich verstehe deine Gefühle und was du mir sagen willst, aber ich weiß nicht, ob ich diese Gefühle teilen werde. Es klang fast als würdest du mich lieben, es war so schön und gleichzeitig macht es mir Angst. Kann ich mich den nach seinem Tod denn wirklich so schnell wieder auf einen anderen Menschen einlassen? Ich meine, ich weiß nicht, ob das hier Liebe ist, aber selbst, wenn es keine ist, so hab ich Angst. Angst, dass wieder das Blut einer anderen Person an mir klebt und ich mich schuldig fühle, auch wenn ich nicht muss. Dennoch habe ich mich so sicher bei dir und Taiyo gefühlt, dass ich nicht mehr weiß, wie es jetzt weiter geht. Ich will immer so bei euch bleiben, aber darf ich denn überhaupt, nach so kurzer Zeit? Habe ich wirklich das Recht dazu?", der Raum in meinem Hals verengte sich zu einer kleiner kleinen Öffnung, viel zu klein, um vernünftig nach Luft zu schnappen.   Shun richtete sich wieder auf und wischte den Rest Tränen aus seinem Gesicht. Wir beide sagten nichts mehr und nickten nur einvernehmlich der unausgesprochenen Tatsache entgegen. Dass wir zusammenbleiben würden. Es so zu sagen klingt, als würde ich Keita hintergehen, doch was sollte ich tun? Er war nicht da und die anhaltende Einsamkeit, ihn nie wieder zusehen, war einfach zu grausam um wahr zu sein. Uns gegenseitig die Wunden zu lecken, das ist alles. Machten wir einen Fehler oder war das die universelle Lösung unserer aller Probleme? Wir wussten es nicht. Ein Teil von mir liebte Keita natürlich noch immer wie verrückt, doch der andere, wollte nichts lieber als mit diesen beiden Menschen hier diese brandneue These bestätigen: Dass ich nicht mehr allein war. Dass Elvis und ich in Sicherheit waren. Sollte ich Keita im nächsten Leben wiederbegegnen, werde ich ihm sagen, dass unser Baby in guten Händen war. Dass wir immer an ihn denken werden. Ich war nicht länger allein. Kapitel 16: Vol. 1 - "Nadeshiko" Arc: Die verblassenden Gefühle der Vergangenheit (Teil 3) ------------------------------------------------------------------------------------------ Heute beschlossen Keita und ich wieder zur Arbeit zu gehen, nicht nur, weil wir unbedingt noch mehr Geld wegen des Babys brauchten. Keita hatte inzwischen seine Ausbildung bei der Polizei erfolgreich abgeschlossen, während ich als Buchhalterin so vielen Leuten wie möglich die besten Bücher andrehte. Die Zeit raste und das Konto füllte sich. Die Geburt rückte näher und mit ihr meine Aufregung, bald zu dritt zu sein. Ich habe nie ein Datum beim Schreiben ins Tagebuch geschrieben, weil ich wollte, dass es nicht wichtig war, wann etwas passierte, sondern was. Das Datum sollte etwas Besonderes sein, wenn ich es erwähnte, ich wollte die Zeit zusammenfassen, ohne sie zu zählen, deshalb. Momentan bin ich im dritten Monat, habe extra lange gewartet, um das zu sagen, wie gesagt, das Datum hatte momentan keine Bedeutung. Ich gab mein Allerbestes, dieses Leben aufzubauen, dessen Sehnsucht danach immer größer wurde. "Fantasy mögen Sie, Romance auch und Drama? Dann kann ich Ihnen dieses Buch nur wärmstens ans Herz legen!", begeisterte ich das Schulmädchen, welches sich gerade umsah. "Nachdem ich die Rückseite gesehen habe und sie so begeistert waren, werde ich es wohl kaufen. Danke, gnädige Frau.", höflich bedankte sie sich für meine Empfehlung und ging zur Kasse. Meine Schicht ging zu Ende und ich ging noch etwas spazieren. Der Park war mäßig gefüllt und die Ruhe angenehm. Dann erspähte ich eine bekannte Person, in der übersichtlich kleinen Menge. Akane-chan. Als hätte sie meinen Blick bemerkt, drehte sie sich um und rief nach mir. "Setsuna-san, Setsuna-san! Was eine schicksalhafte Begegnung an einem Tag wie diesen! Windstillhausen ist nach über drei Monaten immer noch gar nicht langweilig! Bist du auch so voller Elan?", sie rannte her, nahm meine Hand in beide Hände und strahlte mich an. "Ich wusste gar nicht, dass du Zeitung austrägst, Akane-chan.", bemerkte ich. "Geschweige denn, dass du um diese Zeit freihast. Bist du denn nicht Lehrerin geworden oder sowas in der Art?", "Hundert Punkte! Setsuna-sa...", sie beendete ihren Satz wieder nicht, sondern musterte mich von oben bis unten, bevor sie vor meinem Bauch aufhörte, sich zu bewegen. Ich würde wohl nie erfahren, was sie hierher verschlagen hatte. "Interessant, ihr erwartet also ein Kind, was?", flüsterte sie fast. "J-Ja, tun wir.", antwortete ich knapp. "Ich freu mich für dich, Setsuna-san! Ich kann gar nicht glauben, dass ich schon Tante werde.", sagte sie und sabberte etwas. Nach ein paar Sekunden pervers aussehender Freude trübte sich ihr Blick wieder. "Der Grund, wieso ich hier bin... ist im Grunde kein besonders guter. Weißt du, es ist... etwas ist vorgefallen. Gestern um genau zu sein. Ich kann dir nicht sagen, was, aber... ich musste einfach die Schule deswegen schwänzen und das, obwohl ich neu in dem Business bin. Es hilft mir, hier durchzulaufen, wenn ich nach Antworten suche, weißt du? ich weiß nicht, wieso ich dir das erzähle, aber... du bist nun mal eine meiner wenigen Freunde!", Akane-chan lachte. "Es freut mich, wenn du mir davon erzählst, Akane-chan. Du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn du meine Hilfe brauchst. Auch wenn... die Schule zu schwänzen sich nicht gerade für eine frischgebackene Lehrerin gehört!", tadelte ich sie scherzhaft, doch ehe sie darauf antworten konnte, hörte ich einen Knall, ganz fern, südlich der Stadt, bevor ein Haus in sich zusammenfiel. Es folgten Feuer und zahlreiche Sirenen der Feuerwehr, der Polizei und weiß Gott noch was für Geräusche, die ich nicht hören wollte. "Keita.", sagte ich leise. "Wir müssen zu ihm, Akane-chan!", rief ich ihr zu und wir machten uns so schnell uns unsere Beine trugen zum Ort des Geschehens. Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt dort sein würde, ob er hierfür eingeteilt war, aber die Wahrscheinlichkeit war viel zu groß als dass ich hätte im Park bleiben können. Ich sah das Gebäude in Trümmern, hier und da brannten Dach und Boden und der Haufen an Steinen machte mich wahnsinnig. Ich hastete dorthin, ohne Rücksicht auf die Polizisten, die mich verfolgten, oder die Rufe, ich solle das lassen. Ich wollte sie alle nicht hören. Ich kletterte auf den Haufen und schmiss einen Felsen nach dem anderen zur Seite. Als ich dort nichts fand, ging ich höher in Richtung Gebäude, zumindest das, was davon noch übrig blieb. In den Ruinen voller Trümmer und Verwüstung sah ich ihn. An der Ecke dieser Wand, welche er dem Anschein nach als Deckung benutzt hatte. Akane-chan folge mir und war ähnlich entsetzt. "Keita! Oh nein, mein Gott, Keita! Was haben sie dir angetan?!?", schrie ich und hastete zu ihm. Er war halb bewusstlos und öffnete die Augen, so gut er konnte. Es steckte ein Messer in seinem Bauch und da waren unzählige Schusswunden an seinem ganzen Körper. Das hier war ein Terroranschlag. Und Keita hatte nichts besseres zu tun, als sich einzumischen. Er war doch noch in Ausbildung. Was zur Hölle hatte er hier zu suchen?! Ich hätte so fuchsteufelswild auf ihn gewesen sein können, wenn der Schock nicht so mit meinem Herzen gespielt hätte. "Setsuna. Onee-chan. Wie schön.", stammelte er und spuckte Blut. "Nicht reden, du darfst nicht reden, Keita!", weinte Akane-chan. "Ich werde aber vielleicht nie wieder reden können, wenn ich jetzt nichts sage. Ich habe etwas richtig Dummes gemacht. Ich habe wieder einmal den Mund zu voll genommen. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein und dennoch. Ich habe versucht, sie aufzuhalten, sie wollten die Mitarbeiter töten, und haben eine Bombe... gezündet, sodass der Großteil dieses Gebäudes jetzt in Trümmern liegt. Ich habe einen Mann vor den Schüssen beschützt, damit er weglaufen konnte. Dieser blöde maskierte Kerl hat dann mich angeschossen, schön da, wo es mich nicht tötet, aber trotzdem unglaublich wehtut. Dann habe ich ihnen unter den Höllenqualen gesagt, dass das keine Probleme lösen würde und ich unbedingt noch weiterleben muss. Um zu tun, was getan werden muss und meiner Familie, dir und dem Baby wegen. Dann hat er mir das Messer in den Bauch gerammt und mir gesagt, dass es ihm egal wäre und ich keine Ahnung habe. Die Truppen der anderen haben mich auch nicht mehr gesucht und seitdem liege ich hier.", flüsterte er uns beiden zu. Seine Augenlider zucken hastig, als wenn er mit sich ringen würde, wach zu bleiben. "Onee-chan, bleib wie du bist und beschütze meine Familie, du bist nämlich ebenfalls ein Teil von ihr. Bitte vergiss niemals, dass dir geholfen wurde und du es verdient hast, aktiv zu leben und Freude zu empfinden. Und Setsuna...", "Ich bin hier, Keita, bleib bei mir!", winselte ich und betrachtete seinen schlaksigen durchlöcherten Körper. Er streckte die blutverschmierte Hand nach mir aus, in meinem Schock konnte ich nicht nach ihr greifen. Ihn verließ die Kraft und er ließ sie auf meinen Bauch fallen. Die Kälte von Blut, die durch mein Sommerkleid meine Haut erfasste, ließ mich beinahe sterben. "Beschütze das Kind. Beschütze... Elvis oder Elvira... mit deinem... Leben...", mit den Worten, die seine trockenen Lippen verließen, wich auch das Leben aus dem Körper meines Geliebten. Akane-chan war starr vor Schock und ihre Augen verdunkelten sich. "Keita... Keita, das ist nicht lustig. Keita... komm zurück und rede mit uns. Keita. Keita. Lass mich nicht allein!!!", schrie ich unter Tränen, nahm seine leblose Hand, jene auf meinen Oberschenkel gerutscht war, weil ihr die Kraft fehlte und weinte. "Das... das stimmt nicht... das ist ein Albtraum... Ich schlafe...", stammelte Akane-chan schluchzend. Dann stand sie auf und rannte schreiend davon, in eine Ecke der Ruinen, in die mein Blick nicht mehr hinreichte. Mit tränenverklebten Augen und bebender Brust, Keita auf meinen Schoß gebettet und in die trostlose Ferne blickend, bekam ich noch entfernt mit, wie sie hinfiel. Ein dumpfer Sturz, der ihr, so wie ich sie kannte, bestimmt den Knöchel verstauchte. Dann schüttelte mich ein weiterer Heulkrampf, bis Hilfe anrückte. Die Polizisten führten mich mit dem Leichnam von Keita auf einer verdeckten Trage nach draußen. Davon bekam ich nichts mit, es fühlte sich alles wie ein schlechter Albtraum an, aus den ich jede Sekunde aufwachen sollte. Ich fühlte die blutige Stelle an meinem Bauch und erkannte schmerzlich, dass ich nie wieder aufwachen würde. Es tat so unglaublich weh. Akane-chan war nicht hier, sie war davongelaufen und hatte mich alleingelassen. Ich konnte ihr trotz dessen, dass es mich verletzte, einsam zu sein, absolut nicht böse sein. Ich fand mich bei seiner Beerdigung wieder und konnte das alles nicht ertragen. "Wir werden ihn schmerzlichst vermissen.", das waren die Worte des Pastors, bevor der Mann neben mir in Tränen ausbrach, die Zähne zusammenbiss und versuchte, keine Geräusche zu machen. Die Zeremonie war nun vorbei. Auch das zog wie ein alter Film vor meinen Augen ab, doch es war wie im Kino mit offenen Augen zu schlafen: Man sah es, aber nichts davon blieb hängen. Später als ich immer noch an seinem Grab stand, dachte ich wie so oft an alles, was ich je mit ihm erlebt hatte. Was wir alles zusammen durchstanden. Und schlimmer noch: Was ich von nun an alles allein durchstehen musste. Dann hörte ich Schritte hinter mir. Ich war nicht allein. Eigentlich war mir seit dem Tod meines Mannes so ziemlich alles neben dem Wohl des Babys egal, doch ich weil ich glaubte, es könnte Akane-chan sein, drehte ich mich flüchtig um, nur um enttäuscht und überrascht zugleich zu werden. Und da sah ich ihn. Es war der Mann neben mir, der mehr geweint hatte als jeder andere. Und das war tatsächlich nicht leicht auf einer Beerdigung wie dieser. Er sah mich nicht an. Ich musterte ihn, ehe ich mich wieder umdrehte und den Stein anstarrte, der meinen Mann bewachte. Seine Augen konnte ich nicht erkennen, seine schlammbraunen Haare sahen zerzaust und ungepflegt aus. Alles in seiner Erscheinung zeugte von absolutem Ausnahmezustand, dem schlimmsten, dem ein Mensch ausgesetzt sein konnte: Dem Tod einer geliebten Person. diesmal hinterrücks. Plötzlich umarmte er mich von hinten. Ich erschrak so sehr, ich hätte fast geschrien. Ehe ich ihm sagen konnte, er solle sofort damit aufhören, spürte ich Tränen, als er mir zuvorkam und schluchzte: "Es tut mir leid. Dass ich Kyokei nicht retten konnte." Es war keine Anmache, es war das gezeigte Schuldgefühl, welches mir dieser Mann offenbarte. Er war einer der Polizisten. Ich spürte seinen Atem auf meiner Schulter ruhen, seine Verzweiflung in seiner Stimme. Ich reagierte nicht. Weitere Tränen tropften mir auf die Schulter und lief mir in den Ausschnitt. "Es tut mir leid.", flüsterte er. Obwohl ich keinen Ton von mir geben wollte, so brach ich erneut in Tränen aus, in der Hoffnung, Keita würde aus seinem Grab wiederauferstehen. Aber das tat er nicht. Ich hatte noch nicht einmal die Kraft dazu, deswegen enttäuscht zu sein. Ich wusste doch, dass er weg war. In diesem Leben würden wir uns nicht mehr sehen. Ich war allein. Und ich hatte Angst. Ich wollte dem Kind eine solch graue Zukunft ohne Keita nicht zumuten. Ich fühlte nicht mehr die Kraft dazu, ihm eine gute Mutter sein zu können. Ich hatte nichts als meine blanke Panik und der unendlichen Leere in meinem Herzen, von der ich nicht einmal wusste, ob mein Herz durch diese Leere noch genügend Liebe für mich selbst, geschweige denn für das Kind oder geschweige denn für irgendeinen Menschen sonst übrig hatte. Hier waren nur ich und der Mann, der sich schuldig fühlte. Der Rest der Welt war menschenleer. Dass Keita tot ist, wusste ich ja schon, dennoch habe ich keine Ahnung gehabt, wie genau sich Tante Akane und meine Mutter bei seinem Tod fühlten. Ich wollte es wissen, weil ich immer gewusst habe, dass etwas mit meiner Familie nicht stimmte. Das tat mir weh. Wie sich der Schmerz anfühlt, jemanden auf ewig verloren zu haben, und nicht nur kurz, das war mir nicht klar. Es ist mir immer noch nicht klar, weil ich diese Gefühle schlichtweg nicht kenne. Sie existieren nicht für mich. Ich wusste nicht, wie sehr ihre Herzen wirklich verwundet waren. Jetzt weiß ich es. Und die Geschichte ist noch nicht vorbei. Ich werde weiterlesen. Weil ich es kann. Weil ich neugierig bin. Und sauer. Ich Arsch bin bloß verletzt und wütend auf alle beteiligten, weil sie mich angelogen haben und nicht, weil Keita tot ist und ich weiß, dass ich meinen eigenen Vater nie kennenlernen durfte. Ich denke nur an mich. Ich bin egoistisch. Und ich weiß das. Dennoch fühlt sich dieses beklemmende Gefühl in meiner Kehle zumindest ein bisschen so an, als wenn in meinem ausradierten Gedächtnis noch ein bisschen Empathie geschweige denn Menschlichkeit steckt. Ich habe keinen Vater mehr. Er ist nicht mehr da. Er war es nie. Und wird es auch nie wieder sein. Aber leider noch wichtiger: Mein ganzes Leben bestand aus einer einzigen Lüge. Kapitel 17: Vol. 1 - "Nadeshiko" Arc: Die verblassenden Gefühle der Vergangenheit (Teil 4) ------------------------------------------------------------------------------------------ "Du bist einer der Polizisten, die an diesem Tag da waren, nicht wahr?", fing ich eine Konversation an, nachdem uns die Tränen ausgegangen waren. Er nickte stumm und schluckte. "Es war alles einfach so furchtbar schnell. Kyokei hat es allein versucht, ist einfach dort hin, wo uns nicht gesagt wurde, dass wir hinsollen, er hat uns einfach ignoriert und ich schätze, ich weiß auch warum er das tat.", sprach er unter dem Druck des Kloßes in seinem Hals. "Du willst das bestimmt nicht hören, aber Kyokei war nicht der Beste unserer Männer. Die anderen haben schlecht über ihn geredet und das tat ihm weh. Von wegen, er könne das nicht, er habe es nicht drauf und weitere verletzende Worte. So wollte er irgendwie beweisen, dass er es sehr wohl drauf habe, nur... nun ja, er schaffte es nicht. Und ich bin sicher, dass hat ihn unglaublich verzweifelt, es nicht geschafft zu haben. Immer muss er etwas beweisen, nie wollte er etwas auf sich sitzen lassen, hat immer bis zum Schluss gekämpft und sein Bestes gegeben. Er hat nicht viel Erfolg gehabt, dennoch war seine Einstellung einfach die mit Abstand beste, die man als Polizist überhaupt haben konnte. Er war... mein einziger Freund in der gesamten Zentrale. Und ich konnte ihm trotzdem nicht helfen, es tut mir leid.", sein Blick wanderte in mein Gesicht und sofort wieder auf den Boden. Er konnte mir nicht einmal in die Augen sehen. Ich nahm seine Hand, um ihm zu zeigen, dass ich ihm nicht böse war. Er zuckte kurz zusammen, fing sich aber. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirklich ihre alleinige Schuld war, er hat mir alles gesagt und nicht annähernd so ausgesehen, als wäre er hintergangen worden. Ich bin mir sicher, vertrauen sie ihm. Dir die Schuld an seinem Tod und meinem Leid zu geben, holt ihn uns auch nicht zurück.", erklärte ich ihm und sah ihn an. Wieder wanderte sein Blick, nur diesmal auf meinen Ringfinger. "Sind Sie die wundervolle Frau, von der er mir erzählt hat? Setsuna Kyokei-san?", fragte er und seine Augen leuchteten kurz auf. "Das hat er über mich gesagt? Ja, ich bin seine Frau.", bestätigte ich und spürte, wie sich die traurige Stimmung langsam verzog. "Ich bin übrigens Shun. Shun Takamiya. Freut mich, Setsuna-san.", stellte er sich vor.   Wir redeten noch eine Weile und so kam es, dass wir heute Abend bei ihm zu Hause zu Abend aßen. Ich erinnerte mich daran, dass zu Hause niemand auf mich warten würde und kam mit. Gerade weil ich wusste, dass Keita und er gute Freunde waren und ich Akane-chan nicht zur Last fallen wollte, war er der Einzige, den ich jetzt gerade sehen wollte, egal, wie fremd er war. Das klingt sicherlich idiotisch, aber manchmal will man eben mit Fremden sein, gerade, weil es für die Angehörigen so schmerzhaft ist, es auszusprechen. Takamiya-san und ich kamen an seinem Haus an und er öffnete leise die Tür, ehe ein rothaariges pummeliges Kind uns entgegenstürmte. "Papa!!!", rief es und verstummte vom einen auf den anderen Moment, als es mich sah. "Papa, wer ist diese Frau?", fragte es und bewegte sich noch immer keinen Zentimeter. "Das ist Setsuna Kyokei-san, die Frau meines besten Kollegen.", erklärte er und schaute zu dem kleinen Jungen runter. Wir kamen rein und der Kleine sagte nichts mehr. Nachdem wir also den Tisch gedeckt hatten, zog sich die unangenehme Stille noch mehr in die Länge, bis Shun das nicht mehr aushielt und sie brach. "Ich darf dich doch beim Vornamen nennen, oder, Setsuna-san? Ich meine, es fühlt sich seltsam an, Sie ebenfalls Kyokei zu nennen wie meinen Kollegen und...", er wurde rot vor Scham und starrte dann schweigend auf das Messer vor ihn. "Das ist doch nicht so wild, Takamiya-san, ich kann Sie... sogar sehr gut verstehen..., ich-", "Dann müssen Sie mich aber auch nicht Takamiya-san nennen, das ist sonst nicht fair. Nennen Sie mich doch bitte Shun...", immer noch rot bat er mich darum. "Ist gut... Shun.", probte ich das für die Zukunft. Wieder legte sich die Stille über den Tisch. Der kleine Sohn von Shun hatte sein Essen immernoch nicht angerührt, sodass ich mir Sorgen machte, ob mit ihm alles in Ordnung sei. "Stimmt etwas nicht, Kleiner?", tastete ich mich vorsichtig an den Kleinen ran, der vom Blick her fast schon sauer zu sein schien. "Mir geht es wundervoll. Ich hab mich nur gefragt, ob sie auch so blöd wie meine letzte Mama wären...", kam es ihm über die jungen Lippen. Ich zuckte. "Taiyo! Sei bitte nett, hörst du?! Diese Frau hatte es nicht leicht!", zischte Shun und tauschte das schüchterne Gesicht der bisherigen Stille gegen ein zorniges. "Ist schon okay. Ich kann verstehen, wenn ich nicht erwünscht bin.", flüsterte ich zu meinem Brot runter, welches sogleich mit einer Träne befleckt wurde. Wie hätte ich auch nur einen Moment denken können, dass wenigstens heute die Einsamkeit nicht über mich siegt? "Setsuna-san! Taiyo, auf dein Zimmer, du hast unseren Gast zum Weinen gebracht!", schrie er fast schon, ohne seinem Sohn in die Augen zu sehen. Dieser riss die Augen auf, sprang vom für ihn zu hohen Stuhl runter und raste die Treppe rauf, im Versuch, nicht in Tränen auszubrechen. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, aber es war sinnlos. Die Tränen liefen mir weiter übers Gesicht und ich wünschte, es würde aufhören. "Es tut mir leid. Ich hätte nicht weinen sollen. Es war nur... ich... dachte, ich wäre wenigstens keine Last und nicht so einsam... seit Keita weg ist, kann ich seiner Schwester nicht einmal sagen, dass es mir leid tut und sie stark sein muss. Es ist so schrecklich, in diesem großen Haus allein zu sein, so ganz ohne Familie und Keita...", der Kloß in meinem Hals lockerte sich, aber die Erinnerungen an die für immer verlorene Zeit mit ihm zerrissen mich. "Setsuna-san... es ist nicht deine Schuld, du hast jedes Recht zu weinen. Das mit meinem Sohn ist auch nicht deine Schuld, es ist meine, weil ich ihm Hoffnung gemacht habe.", wieder mit von Schuldgefühlen geplagte Stimme begann er zu erzählen. "Ich habe vor geraumer Zeit eine Frau kennengelernt, von der ich dachte, ich könnte den Rest meines Lebens mit ihr teilen, du musst wissen, die Frau, die Taiyo zur Welt brachte, ist bei seiner Geburt gestorben, deshalb wusste er nie, wie es war, eine liebende Mutter zu haben. Als wir zusammenkamen, war ich direkt Feuer und Flamme und hab Taiyo erzählt, dass er doch noch eine Mutter bekommen würde. Er hat sich natürlich riesig gefreut und umso trauriger war er, als wir uns in einem großen lauten Streit getrennt haben und er alles gehört hatte. Seitdem ist er allen Frauen, die dieses Haus betreten über feindselig gesinnt.", er seufzte und beschwor damit die jetzt noch viel unangenehmere Stille herauf. "Das tut mir leid. Auch dem kleinen Taiyo wegen.", entschuldigte ich mich damit für alles, insbesondere für meine Anwesenheit. "Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich geschwind hoch zu Taiyo-chan und rede mit ihm.", schlug ich vor. "Die erste Tür rechts", sprach Shun zu seinen Händen, die auf dem Stuhl lehnten. Ich hastete die Treppen hoch und klopfte an seine Tür, nur um dann sowieso auf zumachen und Taiyo in der Decke eingelullt zu finden. "Taiyo-chan... hier ist Setsuna. Dein Vater hat mir alles gesagt und ich wollte sagen, dass es mir leid tut und ich verstehen kann, wenn du mich nicht hier haben willst. Aber bitte hasse mich nicht, ich würde dich doch nie verletzen wollen, kleiner Taiyo. Kommst du jetzt bitte aus der Decke raus?", wie vom Blitz getroffen schälte er sich aus dem Nest aus Decke und Kuscheltieren und sah mich mit geröteten Augen an. Ich wollte gerade noch etwas sagen, da kam er mir zuvor und rief: "Diese Frau war überhaupt nicht nett, Papa war traurig und ich war auch traurig, diese blöde Hobelschlunze verdient Papa nicht. So eine Mutter will ich nicht!", diesmal konnte er die Tränen nicht zurückhalten und weinte. Ich umarmte ihn vom Bettrand aus. "Es ist okay.", mehr sagte ich nicht. Er weinte noch eine Weile, bis er sich beruhigte und dann ganz heiser war. "Bist du denn meine neue Mama?", fragte er schließlich mit der Stimme, die nur so nah dran war, nicht mehr da zu sein. "Das weiß ich nicht. So funktioniert das nicht, kleiner Taiyo. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber wer weiß.", versuchte ich, ihm keine Hoffnung zu machen. Ich meinte schon fast, seine Enttäuschung in seinem Atem zu hören. "Du kannst uns weiter besuchen, Setsuna. Ich hasse dich nämlich nicht.", meinte er. "Ich bin froh, das zu hören, Taiyo-chan." Ich war froh. Froh, mich wenigstens für diesem Moment teil einer Familie zu fühlen, die nicht schon starb, bevor sie erst entstand. Ich habe inzwischen aufgehört, vor mich hin zu weinen und bin nur noch sprachlos. Taiyos Mutter ist nicht meine. Das war mir zwar schon im letzten Eintrag klar geworden, aber das so noch einmal zu hören, das war... belastend. Ich bin nicht sein Bruder. Zu welchem Zeitpunkt wurden wir das? Weshalb, nach so wenigen Tagen, so schnell, nach dem Tod meines Vaters... ich kann sie verstehen, meine Mutter. Und gleichzeitig schmerzt die Erkenntnis so sehr, dass ich nicht anders kann, als zu lesen, wie es jetzt weitergeht. Kapitel 18: Vol. 1 - "Nadeshiko" Arc: Die verblassenden Gefühle der Vergangenheit (Teil 5) ------------------------------------------------------------------------------------------ Von nun an trafen Shun, sein kleiner Sohn und ich uns häufiger, nicht nur, weil ich für Taiyo und seinen Vater da sein wollte. Ich dachte dabei auch an meinen eigenen Sohn. Irgendwie hatte ich das Gefühl als würde es ihm in der Gegenwart von Shun und Taiyo besser ergehen, einfach, weil wir nicht alleine waren. Der Tag der Geburt rückte immer näher und meine wachsende Angst, uns nicht versorgen zu können, war unerträglich. Ich arbeitete weiterhin im Bücherladen, obwohl ich wusste, dass das auf Dauer nicht reichen würde. Aber auch in dieser Situation stand mir Shun stets bei. Er sagte, er könne nicht mitansehen, wie mein Leben als Witwe und alleinerziehende Mutter seinen Lauf nehmen würde. Dazu sagte ich nichts mehr. Ich verstand es nicht. Weshalb sorgte er sich um mich? Ist es wegen Keita? Oder doch wegen Elvis? Ich konnte mir keinen Reim daraus machen, selbst, wenn ich wollte. "Setsuna, warum bist du eigentlich so dick?", Taiyo riss mich aus den Tagträumen und sah mich unverwandt an. "Taiyo, das ist nicht die Art wie ich dich erzogen habe!", versuchte Shun seinen Sohn zurechtzuweisen. "Ist schon gut, Shun, woher soll er das denn wissen? Ich erklär es ihm.", beruhigte ich den Vater des Kleinen. "Taiyo, ich bin nicht dick. Ich bin schwanger. Da ist ein Kind drin, weißt du?", erklärte ich ihm und streichelte seinen Kopf. "Oooooohhhh...", Taiyo legte sein Ohr auf meinen Bauch und die Hand dazu. Er sagte eine Weile nichts und dann schreckte er kurz auf. "Papa, da hat sich was bewegt!", erschrocken fällt er auf den Po. "Sie hat doch gesagt, da ist ein Kind. Du gehst doch auch jeden Tag in den Kindergarten. Mit den Füßen.", Shun sah erst Taiyo, dann mich an. "Kann ich auch mal?", fragte er schüchtern. "Klar.", erlaubte ich ihm, bevor er ebenfalls meinen Bauch streichelte. "Welcher Monat?", "Achter Monat.", in dem Moment dachten wir beide wahrscheinlich dasselbe. "Es wäre möglich, aber bestimmt nicht schön. Mein Kumpel wird nicht da sein, um sein eigenes Kind beim Erwachsenwerden zusehen zu können. Jedes Mal, wenn ich dich so sehe, muss ich daran denken und fühle mich schlecht. Setsuna, ich muss doch irgendwas für dich tun können. Ich muss, denn sonst... auch weil Taiyo... ", ich verstand den Rest nicht, all die Worte wurden mit einem Tsunami aus Tränen davongespült. Shun weinte. So laut und stark und ich wollte nur noch wissen, wofür seine Tränen flossen und weshalb es ihm so wehtat, mich so zu sehen. Ob ich schuld sei, wie auch immer, ich fühlte mich so. Er sackte mit dem Gesicht auf meine Oberschenkel, hielt sich mit Fäusten an meinem Rock fest und heulte verkrampft weiter, wie an der Beerdigung und dem Grab. Taiyo sagte wieder nichts und ich fühlte mich nicht gut dabei, dass wir über so etwas in der Gegenwart eines Fünfjährigen sprachen. Er bewegte sich kein Stück, noch nicht einmal, um seinen Vater zu trösten. Wie angewurzelt stand er da und beobachtete diese Szene. Nachdem Shun sich ausgeweint hat, zumindest etwas, lag er immernoch auf meinen Oberschenkeln und sagte nichts. Dann aber, fand er wieder Worte: "Setsuna... ich will... für immer an deiner Seite sein. Ich will auch für immer an der Seite dieses kleinen Wesens bleiben. Wegen der Sache mit Kyokei fühle ich mich noch immer kein Deut besser und auch noch seine Frau und sein Kind im Stich zu lassen, halte ich nicht aus! Selbst Taiyo hat sich gefreut. Er hat mir gesagt, dass er dich mag und dich gern als Mutter hätte und wenn ich ehrlich bin, will ich auch, dass es so bleibt wie seit drei Monaten. Wir haben uns fast täglich gesehen und je mehr Zeit vergangen ist, desto mehr wollte ich dich und dein Kind beschützen. Ich will dir beistehen, mein Leben lang, das ist es, das ist das Mindeste, was ich für Kyokei tun kann...", stammelte er mir durch den Stoff und hauchte mir warme Luft an die Beine. Ich war sprachlos. Taiyo sagte immernoch nichts und zittere. Shun bewegte sich nicht. Es zogen Wolken und die unbeschwerte Atmosphäre war vergangen, auch wenn das Blau am Himmel teils immernoch zu sehen war. Ich legte die Hand auf seinen Kopf. "Shun. Du bist wirklich toll. Ich verstehe es nicht, ich verstehe deine Gefühle und was du mir sagen willst, aber ich weiß nicht, ob ich diese Gefühle teilen werde. Es klang fast als würdest du mich lieben, es war so schön und gleichzeitig macht es mir Angst. Kann ich mich den nach seinem Tod denn wirklich so schnell wieder auf einen anderen Menschen einlassen? Ich meine, ich weiß nicht, ob das hier Liebe ist, aber selbst, wenn es keine ist, so hab ich Angst. Angst, dass wieder das Blut einer anderen Person an mir klebt und ich mich schuldig fühle, auch wenn ich nicht muss. Dennoch habe ich mich so sicher bei dir und Taiyo gefühlt, dass ich nicht mehr weiß, wie es jetzt weiter geht. Ich will immer so bei euch bleiben, aber darf ich denn überhaupt, nach so kurzer Zeit? Habe ich wirklich das Recht dazu?", der Raum in meinem Hals verengte sich zu einer kleiner kleinen Öffnung, viel zu klein, um vernünftig nach Luft zu schnappen. Shun richtete sich wieder auf und wischte den Rest Tränen aus seinem Gesicht. Wir beide sagten nichts mehr und nickten nur einvernehmlich der unausgesprochenen Tatsache entgegen. Dass wir zusammenbleiben würden. Es so zu sagen klingt, als würde ich Keita hintergehen, doch was sollte ich tun? Er war nicht da und die anhaltende Einsamkeit, ihn nie wieder zusehen, war einfach zu grausam um wahr zu sein. Uns gegenseitig die Wunden zu lecken, das ist alles. Machten wir einen Fehler oder war das die universelle Lösung unserer aller Probleme? Wir wussten es nicht. Ein Teil von mir liebte Keita natürlich noch immer wie verrückt, doch der andere, wollte nichts lieber als mit diesen beiden Menschen hier diese brandneue These bestätigen: Dass ich nicht mehr allein war. Dass Elvis und ich in Sicherheit waren. Sollte ich Keita im nächsten Leben wiederbegegnen, werde ich ihm sagen, dass unser Baby in guten Händen war. Dass wir immer an ihn denken werden. Ich war nicht länger allein.     "Wir werden zusammenbleiben." Schließlich zogen Shun, Taiyo und ich in eine neue Stadt in eine kleine Wohnung eines großen Wohngebäudes. Die Fische nahm ich mit und die alte Wohnung wurde frei, auch wenn ich mir wünschte, dass dort nie wieder jemand einzog. Shun und Taiyo hatten ihre Familiennamen geändert, weil wir zwar nicht wirklich vorhatten zu heiraten, es so aber nicht lassen wollten. Nun saßen wir vor dem Fernseher und guckten uns zusammen eine Folge Monster Rancher an. Taiyos Lieblingsserie, auch wenn er für meinen Geschmack noch etwas zu jung für diese Sendung war. Die Folge war geradezu pünklich zu Ende, als ich aufstehen und mir ein Wasser holen wollte, mich aber ein dumpfer Schmerz in dieser Position einfrieren ließ, nur, um mich dann Sekunden später aufschreien zu lassen. Mein Wasser lief aus und die Wehen setzten ein.   "Aaaaaahhhh..., oh mein Gott! Aaaaaaaaahhhhh!!!!! Das Baby kommt, bitte bring mich ins Krankenhaus, Shun! Aaaaaaaahhhhh!!!", jaulte ich auf ich kämpfte mich zurück ins Wohnzimmer.   Die Schmerzen wurden immer schlimmer und ich konnte kaum atmen, es schien sich alles um mich herum zu drehen.   "Okay, ich starte den Wagen und fahr dich hin, ich glaube, es ist nicht weit von hier!", sagte er panisch und lotste mich in Richtung Haustür, Taiyo hinterher.   Nachdem ich mich qualvoll zum Auto bewegte und mich auf den Beifahrersitz schälte, fuhren wir, so schnell es eine 30er-Zone erlaubte, ins Krankenhaus. Der Weg in den Kreissaal schien in Zeitlupe zu laufen, denn die Geburt könnte jeden Moment losgehen, zumindest hatte es sich so angefühlt. Dort angekommen wurden die Wehen dann stetig stärker und ich glaubte schon fast, den Verstand zu verlieren, so sehr tat es weh.   "Du schaffst es, Setsuna, es ist sicher gleich geschafft!", feuerte mich Shun hektisch wie unbeholfen an.   "Kyokei-san, sehr gut machen Sie das, noch einmal kräftig pressen!", ordnete die Hebamme an. "Ich kann schon fast den Kopf sehen!",   "Aaaaaaaaahhhh, aaaaaaaahhhh, AAAAAAAAAAHHHHHHHH, ICH GLAUB, ICH STERBE GLEICH!!!!!", weinte ich und krallte mich am Bettrand fest.   "Es wird alles gut, Kyokei-san, atmen sie weiter, es ist gleich geschafft.", versuchte mich die Hebamme erfolglos zu beruhigen.   "Und nochmal pressen!", ich fühlte mich, als würde ich gerade entzweit, auseinandergerissen, ich hatte das Gefühl, gleich kein einzelner Mensch mehr zu sein, sondern zwei Hälften.   "Aaaaaaaaaahhhhh, AAAAAAAAAAAAHHHHHHHHH!!!!!!!! ICH GLAUB, ICH SCHAFF DAS NICHT!", klagte ich keuchend und versuchte mich auf etwas anderes als auf den Schmerz zu konzentrieren.   Das klappte nicht. Ihm widmete sich meine ganze Aufmerksamkeit und ich konnte nichts dagegen tun. Shun verschränkte seine Finger in meine, sodass unsere Handflächen ineinander lagen. Er sah mich an und meinte:   "Es wird alles gut." Ich versuchte zu nicken und biss weiter die Zähne zusammen.   "Noch ein letztes Mal pressen, Kyokei-san!", munterte mich die Hebamme auf und ich gab mein Bestes, ihrer Aufforderung Folge zu leisten.   "Nnnnaaaaaaaaahhhhh..... AAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!", stöhnte ich und in dem Moment war es wirklich geschafft.   "Mmmmäääähhhhh, ääääääähhhhhh, ääääääähhhhhh......!!!!", schrie da etwas am Fußende des Bettes unter dem Laken, das meine nackten Beine verbarg.   "Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge!", gratulierte mir die Hebamme und Shun atmete erleichtert auf. Sie legte mir meinen Sohn in die Arme und ich drückte ihn an mich. So ein niedliches, zerbrechliches Wesen und ich hatte es in den Händen.   "Elvis...", flüsterte ich.   "Willkommen auf der Welt."   Taiyo hüpfte augenblicklich zu uns, um seine neue Art Bruder mit eigenen Augen anzusehen.   "Setsuna, wie heißt das?", will Taiyo wissen.   "Elvis heißt er.", sagte ich und lächelte, während Elvis noch weiter vor sich hin schrie.   Dies war der Beginn meiner Familie. Das Tagebuch endet vorerst hier. Vielleicht wird es mir irgendwann von Nutzen sein. Wie auch immer. Dafür, dass du meine Geschichte bis zum Ende gelesen hast, dafür, danke ich dir vom Herzen! In Liebe, Setsuna Kyokei. Meine Mutter, mein Vater und Taiyo. Und dann gab es da mich. Die einzige Person, die von all dem nichts wusste. Ich verstehe, warum sie mir das vielleicht nicht erzählen wollten, aber mit jedem Kapitel dieses Buches verliere ich mich mehr und mehr in diesen aufgedeckten Lügen. Ich als ganze Person fühle mich wie eine einzige Lüge. Es gibt vieles, dass ich nicht weiß, vieles, dass ich dir nicht erzählt habe, weil ich mir selbst nicht sicher bin. Die Vergangenheit wie ich sie kenne gerät ins Wanken und zerfällt. Mehr als sonst wird mir klar, dass ich selbst am wenigsten über meine eigene Geschichte weiß. Da sind unzählige Lücken und eine riesige Mauer, welche langsam zerbröckelt. Ich zerschlage sie zu Staub, das schwöre ich und blättere im Buch des Anbeginns meiner Existenz weiter. Kapitel 19: Vol. 1 - "Nadeshiko" Arc: Die verblassenden Gefühle der Vergangenheit (Teil 6) ------------------------------------------------------------------------------------------ "Wir werden zusammenbleiben." Schließlich zogen Shun, Taiyo und ich in eine neue Stadt in eine kleine Wohnung eines großen Wohngebäudes. Die Fische nahm ich mit und die alte Wohnung wurde frei, auch wenn ich mir wünschte, dass dort nie wieder jemand einzog. Shun und Taiyo hatten ihre Familiennamen geändert, weil wir zwar nicht wirklich vorhatten zu heiraten, es so aber nicht lassen wollten. Nun saßen wir vor dem Fernseher und guckten uns zusammen eine Folge Monster Rancher an. Taiyos Lieblingsserie, auch wenn er für meinen Geschmack noch etwas zu jung für diese Sendung war. Die Folge war geradezu pünklich zu Ende, als ich aufstehen und mir ein Wasser holen wollte, mich aber ein dumpfer Schmerz in dieser Position einfrieren ließ, nur, um mich dann Sekunden später aufschreien zu lassen. Mein Wasser lief aus und die Wehen setzten ein.   "Aaaaaahhhh..., oh mein Gott! Aaaaaaaaahhhhh!!!!! Das Baby kommt, bitte bring mich ins Krankenhaus, Shun! Aaaaaaaahhhhh!!!", jaulte ich auf ich kämpfte mich zurück ins Wohnzimmer.   Die Schmerzen wurden immer schlimmer und ich konnte kaum atmen, es schien sich alles um mich herum zu drehen.   "Okay, ich starte den Wagen und fahr dich hin, ich glaube, es ist nicht weit von hier!", sagte er panisch und lotste mich in Richtung Haustür, Taiyo hinterher.   Nachdem ich mich qualvoll zum Auto bewegte und mich auf den Beifahrersitz schälte, fuhren wir, so schnell es eine 30er-Zone erlaubte, ins Krankenhaus. Der Weg in den Kreissaal schien in Zeitlupe zu laufen, denn die Geburt könnte jeden Moment losgehen, zumindest hatte es sich so angefühlt. Dort angekommen wurden die Wehen dann stetig stärker und ich glaubte schon fast, den Verstand zu verlieren, so sehr tat es weh.   "Du schaffst es, Setsuna, es ist sicher gleich geschafft!", feuerte mich Shun hektisch wie unbeholfen an.   "Kyokei-san, sehr gut machen Sie das, noch einmal kräftig pressen!", ordnete die Hebamme an. "Ich kann schon fast den Kopf sehen!",   "Aaaaaaaaahhhh, aaaaaaaahhhh, AAAAAAAAAAHHHHHHHH, ICH GLAUB, ICH STERBE GLEICH!!!!!", weinte ich und krallte mich am Bettrand fest.   "Es wird alles gut, Kyokei-san, atmen sie weiter, es ist gleich geschafft.", versuchte mich die Hebamme erfolglos zu beruhigen.   "Und nochmal pressen!", ich fühlte mich, als würde ich gerade entzweit, auseinandergerissen, ich hatte das Gefühl, gleich kein einzelner Mensch mehr zu sein, sondern zwei Hälften.   "Aaaaaaaaaahhhhh, AAAAAAAAAAAAHHHHHHHHH!!!!!!!! ICH GLAUB, ICH SCHAFF DAS NICHT!", klagte ich keuchend und versuchte mich auf etwas anderes als auf den Schmerz zu konzentrieren.   Das klappte nicht. Ihm widmete sich meine ganze Aufmerksamkeit und ich konnte nichts dagegen tun. Shun verschränkte seine Finger in meine, sodass unsere Handflächen ineinander lagen. Er sah mich an und meinte:   "Es wird alles gut." Ich versuchte zu nicken und biss weiter die Zähne zusammen.   "Noch ein letztes Mal pressen, Kyokei-san!", munterte mich die Hebamme auf und ich gab mein Bestes, ihrer Aufforderung Folge zu leisten.   "Nnnnaaaaaaaaahhhhh..... AAAAAAAAAAAAAAHHHHHHHH!!!!!!!", stöhnte ich und in dem Moment war es wirklich geschafft.   "Mmmmäääähhhhh, ääääääähhhhhh, ääääääähhhhhh......!!!!", schrie da etwas am Fußende des Bettes unter dem Laken, das meine nackten Beine verbarg.   "Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge!", gratulierte mir die Hebamme und Shun atmete erleichtert auf. Sie legte mir meinen Sohn in die Arme und ich drückte ihn an mich. So ein niedliches, zerbrechliches Wesen und ich hatte es in den Händen.   "Elvis...", flüsterte ich.   "Willkommen auf der Welt."   Taiyo hüpfte augenblicklich zu uns, um seine neue Art Bruder mit eigenen Augen anzusehen.   "Setsuna, wie heißt das?", will Taiyo wissen.   "Elvis heißt er.", sagte ich und lächelte, während Elvis noch weiter vor sich hin schrie.   Dies war der Beginn meiner Familie. Das Tagebuch endet vorerst hier. Vielleicht wird es mir irgendwann von Nutzen sein. Wie auch immer. Dafür, dass du meine Geschichte bis zum Ende gelesen hast, dafür, danke ich dir vom Herzen! In Liebe, Setsuna Kyokei. Das ist das Ende dieser Geschichte, daraufhin folgen leere Seiten. Ich ringe nach Luft und fühle mich wie tot. Ich fühle so viele Emotionen gleichzeitig, es fühlt sich unwirklich an. Mein ganzes Leben ist eine Lüge und das weiß ich jetzt besser als alles andere. Ich schlage das Buch zu und schaue ins Leere. Dann fällt mein Blick auf meine Mutter, die in Tränen aufgelöst ist. Ich stehe auf und will gerade gehen, dann tut sie es mir gleich, baut sich über den Parkettboden schlitternd vor mir auf und umarmt mich. Keiner von uns sagt etwas und sie weint eine ganze Weile, ohne, dass ich es auch nur wage, sie von mir stoßen. Solange sie weint, werde ich ihr nicht sagen, wie zerbrochen ich mich genau jetzt fühle. Ich schweige, so wie ich es auch sonst getan habe. Ich erwidere ihre traurige Umarmung und denke daran, wie sie nur mich zu beschützen versucht hat und was für ein grauenhafter Sohn ich doch bin. Ich muss mit meinem Vater reden, oder zumindest mit dem, für den ich ihn zu halten versuchte. Nur dann kann ich nach Hause gehen und sagen, dass ich die ganze Wahrheit kenne. Zumindest bis auf weiteres. Zumindest das. Kapitel 20: Vol. 1 - "Onii-chan" Arc: Ich verstehe dich. Sehr gut sogar. ------------------------------------------------------------------------ "Elvis...", meine Mutter ist in Tränen aufgelöst. Sie zittert und mit der Kraft, mit der sie ihre Finger in den Stoff meines Shirts vergräbt, kratzt sie mich.   Es ist wieder einer der Momente, in denen ich die Existenz in ihrer vollen Heftigkeit spüre. Das zitternde Schluchzen meiner Mutter in meinen Ohren. Ihre Finger, die blutige Bremsspuren auf meiner Haut hinterlassen. Ihre Haare, die meinen Hals kitzeln. Als wäre allein das Haften von Fleisch auf Knochen schon eine Schwerstarbeit.   "Es tut mir so leid, Elvis... So... So schrecklich leid! Dass ich dich all die Jahre hab angelogen und verletzt habe... tut mir so... unsäglich leid! Ich brauchte es einfach nicht übers Herz, dir zu sagen, dass Keita in Wahrheit nicht mehr lebt! Ich konnte es nicht! Ich hatte Angst! Ich war verzweifelt! Ich wollte dich nicht auch noch verlieren! Genauso wenig wie ich Shun-san und Taiyo verlieren wollte! Als Mutter habe ich dich niemals belügen oder dir Dinge verschweigen wollen, in deren Fall du jedes Recht hast, sie zu erfahren. Ich wollte so viel besser sein als ich schlussendlich war. Aber... je länger ich mit dir, Taiyo und Shun-san zusammengelebt habe, desto schmerzhafter wurde es, daran zu denken, dir diese Illusion eines Tages zu nehmen. Ich habe es rausgezögert. Ich dachte, vielleicht sage ich es dir, wenn du alt genug bist. Wenn du reifer bist. Wenn du bereit bist. Aber... soweit kam es damals nicht. Ich... war nicht schnell genug.", sie schnappt nach Luft und ich lasse sie mich weiter kratzen.   "Als ich zu spät kam, lagst du bereits in einem Krankenbett. Du lagst im Sterben, Elvis. Du bist fast gestorben, Elvis! Als du dann aufgewacht bist, gab es schlussendlich weder Erinnerungen an den toten leiblichen Vater noch an mich, die noch lebende Mutter. Es brach mir das Herz. So sehr, dass ich es nicht schaffte, dich mit solch bedrückenden Hintergründen zu quälen. Zuzugeben, dass wir dich alle belogen haben. Zuzugeben, dass wir versagt haben, gute Eltern zu sein. Eine gute Familie. Völlig egal, ob ich dich angelogen habe, weil ich dich liebe, das... das ist abgrundtief grauenhaft gewesen. Völlig egal, wie grauenhaft das war, ich wünschte mir dennoch, dass du ebendieser Mutter... eines Tages verzeihst, Elvis. Auch, wenn das vermutlich überhaupt nicht geht...",   "Ach, Mutter.", rede ich auf sie ein und weil ich nicht weiß, was ich tun soll, fahre ich ihr vorsichtig durch die Haare.   "Elvis.", schluchzt sie wieder meinen Namen als wäre er eine Beschwörungsformel, die alles retten könnte, was noch zu retten ist.   "Ich habe verstanden. Keita lebt nicht mehr und weder Vater noch Taiyo sind die, als die sie sich ausgegeben haben. Ich habe jedes Recht, dir und allen anderen einen Vorwurf zu machen, indirekt tue ich das vielleicht auch. Jedoch kann ich damit leben. Ehrlich.", lasse ich sie wissen. Daraufhin lässt seine Mutter ein Stück weit von mir ab.   "Damit zu leben ist das Eine, aber das andere, ihnen und mir den Betrug zu verzeihen. Wir haben dich verletzt und wir wollen dich nie wieder verletzen, bitte sei dir dessen bewusst.",   "Definiere verletzt. Wenn du verletzt meinst im Sinne, dass mir ein Loch im Herzen klafft und ich traurig bin im Sinne dessen, massiv unglücklich durch diese Wahrheit zu sein, dann bin ich in der Tat nicht glücklicher als zuvor, aber auch nicht unglücklicher. Also nein, ich bin nicht verletzt. Ich weiß einfach Bescheid. Nicht mehr und nicht weniger.",   "Nicht mehr und nicht weniger?", wiederholt seine Mutter ungläubig.   "Nicht mehr und nicht weniger.", bestätige ich und mache mich sanft aus ihrem Griff los.   "Es ist nett von einem Außenstehenden, der zufällig selbst alleinerziehender Vater ist, sich um eine verwitwete Frau zu sorgen, die zudem noch schwanger ist. Freundlichkeit, Empathie und Nächstenliebe scheinen äußerst wertvolle Güter in dieser Welt zu sein, auch wenn es oft nicht so aussieht. Das habe ich ebenfalls gelernt, nachdem ich alles vergessen habe. Man war nett zu mir und das hat mir gutgetan, sanft zurück in die Realität zu finden. Deshalb sollte auch ich ein kleines bisschen nett sein.", "Elvis, mein Sohn... du bist wirklich erwachsen geworden.", findet sie und lächelt.    "Da fällt mir gerade ein, du hast mich einmal gefragt, wieso du eigentlich Elvis heißt, aber nicht, woher der eigentlich kommt. Weißt du denn, was er heißt?", das kommt überraschend.   "Genau weiß ich das gerade nicht. Ich habe irgendwann etwas recherchiert und kam dabei auf so was wie 'edler Freund' oder 'Freund der Elfen', was gar nicht mal so von Nutzen ist zu erfahren. Mit der nordischen Mythologie kenne ich mich nicht so gut aus., weißt du? Jedoch, warte, da war noch etwas. Aus dem Altenglischen...", überlege ich laut.   "Allwissend.", sagen wir beide leise wie aus einem Mund.   "Aber das hat keine Bedeutung, wenn man bedenkt, dass ich nur so heiße, weil die Liebes eines Fanboys zu seinem Idol so groß war, dass der Sohn gerade gelegen kam.", kommt mir der den Zauber zerstörende Gedanke und ich bin insgeheim heilfroh, dass ich schlussendlich nicht Hasselhoff oder Snoop Dogg genannt worden bin.   Seine Mutter lacht leise. Es ist ein Lachen, wie man es traurig nennt. So sehen die alle aus.   "Wenn du mich entschuldigst, ich habe noch einen anderen Beteiligten zu konfrontieren.", lasse ich sie wissen und sie nickt unmerklich.   Wissend, wo ich hingehen muss und was ich zu tun habe, verlasse ich das Wohnzimmer und stolpere die Treppe hoch zum Schlafzimmer meiner Eltern.   ***   Ich stoße die Tür vorsichtig auf und laufe zum Kopfende des Bettes. Mit gemischten Gefühlen nähere ich mich dem etwa ein Meter neunzig langen Himalaya-Gebirge aus Stoff und zucke zusammen, als die Person, deren Namen ich nicht mehr zu nennen vermag, aus der Decke gekrochen kommt. Diese erhebt sich auf, steigt aus den Federn und richtet sich zur vollen Größe auf, um mir tief in die Augen zu sehen. Wieder mustere ich ihn. Es war die ganze Zeit so offensichtlich. Es war so offensichtlich, dass dieser Mann nicht der ist, der in seine Mutter gewichst hat, sodass er entstanden bin. Ich kann nicht beurteilen, ob er überhaupt jemals in seine Mutter gewichst hat, aber das geht mich ja auch nicht im Geringsten etwas an. Er ist so oder so nichts weiter als ein Fremder. "Elvis... wie ich sehe hast du die Wahrheit erfahren.", murmelt er leise und in seinen Augen flackern Schuld und Bedauern. "Das habe ich. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet du so geradeheraus sein würdest.", kontere ich und denke im Traum nicht daran, den Augenkontakt mit diesem Mann zu unterbrechen.   Wenn es irgendjemanden gibt, der von uns beiden den Blick senken müsste, dann ist er das. Ich habe vielleicht nicht so ein fachettenreiche Mimik wie andere Menschen, vielleicht bin ich im Geiste tatsächlich nur noch das Ebenbild meiner Monotonie, aber nichtsdestotrotz gebe ich niemandem den Triumph, mir überlegen zu erscheinen, wenn er oder sie das offensichtlich nicht ist.   Der Mann seufzt.   "Warum bist du hierhergekommen?", will er wissen.   "Es begann alles mit einem Motorrad.", sage ich nur, was Verwirrung in sein Gesicht zeichnet.   "Verstehe, das ist vermutlich jetzt auch nicht weiter wichtig. So oft wirst du die Schule vermutlich nicht geschwänzt haben.",   "In der Tat.", wir tun das, was alle Menschen in Situationen wie diesen tun. Wir werfen mit Banalitäten um uns. "Ich kann verstehen, wenn du jetzt irgendwie... sauer auf mich bist. Ich kann das verstehen, ehrlich. Es tut mir leid, dass ich nicht die Person war, für die du mich halten wolltest. Es tut mir leid, dich belogen zu haben. Es tut mir leid, dass ich nie gut genug war.", entschuldigt er sich mit einer Miene, die wohl das ist, was man traurig nennt.   "Weißt du, ich habe schon immer irgendwie gespürt, dass du mir nicht ganz über den Weg traust. Irgendwo wusste ich wohl, dass dieser Tag kommen würde. Ich wollte es einfach nur nicht wahrhaben. Wahrhaben, dass du mich eines Tages so ansiehst wie jetzt.",   "Wie sehe ich dich denn an?",   "Wie menschlichen Abschaum."   "Du bist kein Abschaum.",   "Das sagst du, aber denkst du das auch? Fühlst du das?",   "Ich habe keine Ahnung, wovon du da sprichst."   Ich hasse es, derjenige zu sein, mit dem man Mitleid haben muss. So war es, seit ich aufgewacht bin. Ich verstand nicht, was die Menschen da empfanden und warum, doch immer, wenn sie mich so ansahen, wusste ich ganz genau, was das für mich bedeutete. Ich war in ihren Augen das Opfer. Der zu bemitleidende und erbärmliche kleine Junge. Es bedeutete, dass sie in mir nicht den sahen, der ich versuchte zu sein, völlig egal, wie viel ich dafür gab.   "Bist du sauer auf mich, Elvis?", darauf kann ich nicht antworten.   Ich wusste nicht, wie ich mit Menschen umgehen sollte, die ich nicht kannte, die ich nicht verstand, die ich niemals verstehen können würde. Die mich niemals verstehen konnten. Ich wollte nicht, dass man auf mich herabsah.   "Du musst ja so schrecklich wütend auf mich sein.",   Was bedeutet es überhaupt, ernsthaft wütend zu sein? Aggressionen, wenn das, was schön ist, zerstört wird? Wenn Bemühungen zerrissen werden und da nichts mehr ist? Wenn man Dinge erfährt, die einen zutiefst erzürnen? Was bedeutet das überhaupt? "Ich verstehe, wenn du so fühlst. Siebzehn Jahre lang habe ich schließlich zumindest versucht, dich im Glauben zu lassen, dein Vater zu sein. Wenn dir danach ist, mir eine reinzuhauen, dann erlaube ich dir das. Tu, wonach auch immer du dich fühlst.", wenn ich nur wüsste, was um alles in der Welt das schon wieder heißen soll. "Eine Sache, will ich noch wissen.", ich schließe die Augen und starre ihn wieder an.   "Jetzt mal von der Zeit nach meiner Amnesie abgesehen. Habt ihr mir jemals die Wahrheit gesagt oder habe ich diese zusammen mit dem Rest meiner Selbst in der Vergesslichkeit verloren?", er weitet die Augen, senkt den Blick und schüttelt mit dem Kopf.   "Nein. Das erfährst du zum ersten Mal.", Schmerzen im Thoraxbereich, das muss der Schleim sein, den ich abzuhusten habe.   Was soll das bringen, wenn ich ihn schlage? Wird er dadurch mein Vater? Macht das all die Lügen zur Wahrheit? Ist damit irgendjemandem geholfen?   Die Hand zur Faust geballt, hole ich langsam aus. Der Mann mustert meine Faust. Er scheint es allen Ernstes zu erwarten. Dieser Mann will das. Er will wirklich, dass ich ihn schlage. Er will wirklich, dass ich wütend auf ihn bin. Er will wirklich, dass ich es rauslasse, was auch immer es da rauszulassen gibt. Irrationaler Vollidiot.   Ich tue ihm den Gefallen. Ich schlage ihn.   "Das tut ja gar nicht weh.", murmelt er.   "Hätte es wehtun sollen?",   "Ich denke schon.",   "Verstehe.",   "Du verschonst mich. Was um alles in der Welt ist eigentlich los mit dir?",   Ich sage nichts und ziehe die Faust, die ich so sanft dort platziert habe, aus seinem Gesicht.   "Bist du denn sauer, weil ich die Schule geschwänzt habe?", frage ich etwas Banales aus dem Nichts.   "Nicht wirklich.",   "Verstehe."   Sein "Vater" starrt mich noch ein paar weitere belanglose Sekunden an, ehe er mich fragt.   "Kann es sein, dass du krank bist. Deine Augen sind schon die ganze Zeit irgendwie glasig.", fällt ihm auf und mir wieder ein, dass ich die Tatsache bei all den Informationen ziemlich in den Hintergrund verdrängt habe.   "Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.", bejahe ich zum Teil, auch wenn meine etwas kratzige Stimme mich nicht besonders glaubhaft wirken lässt.    "Na komm, bringen wir dich nach Hause, bevor du zusammenklappst.", schlägt er vor und strubbelt mir durch die Haare.   *** "Schaffst du es von hier?", will mein Vater sichergehen.   "Ja, ich glaub schon.", gebe ich ihm mein Wort. Er sieht mich prüfend an und sieht dabei wieder so aus, wie man es traurig nennen würde.   "Du kannst mir ruhig glauben. Es ist davon auszugehen, dass alles sogar so in Ordnung ist, dass ich definitiv kein zweites Mal in eurem Garten übernachten werde.", daraufhin lacht er etwas gequält.   "Ach, Elvis, du hast keine Ahnung, was für eine komische Situation ist. Ich hoffe, du nimmst mir nicht übel, dass ich Taiyo von deinem nächtlichen Ausreißer erzählt habe, damit er sich keine Sorgen macht.",   "Nicht doch, das ist das Beste, was ihm in so einer Situation passieren kann. Sicher ist er krank vor Sorge um mich. Ich sollte so schnell zurück sein wie ich kann.",   "Hast ja recht. Wir sehen uns dann.", verabschiedet sich mein Vater, ehe er in die andere Richtung saust und mich allein lässt.   Ich seufze. Ich mag mir gar nicht ausmalen wie abartig wütend er sein wird und was er aus dieser Wut heraus mit mir anstellen könnte. Ich laufe in normaler Schrittgeschwindigkeit zu uns beiden nach Hause, weil ich ihn auf der einen Seite nicht länger als nötig Sorgen machen will, mir auf der anderen Seite aber immer noch danach ist, mich vor Angst totzustellen wie ein Opossum.   ***   Bei unserer Wohnung angekommen bin ich buchstäblich im Begriff, die Klingel zu betätigen, da bekomme ich um ein Haar mit der Tür die Nase gebrochen. Was auch immer ich zunächst an Angst, Scham und dergleichen verspürt habe, allerspätestens in diesem Moment fällt mir ein, dass da noch andere Dinge zu fühlen sind. Mir fällt ein, dass ich auch jetzt verdammt noch mal wütend bin, verletzt und Taiyo, was auch immer er mir gleich zu sagen hat, kein Ass im Ärmel hat, um mich in die Knie zu zwingen. Wenn es irgendjemanden gibt, der von uns beiden den Blick senken müsste, dann ist er das.   Ich werde am Kragen gepackt und mir wird tief in die Augen gesehen. Schärfer als ich diese Augen je habe gucken sehen. Schärfer als an jenem Tag vor drei Jahren im Krankenhaus, ehe ich ihm panisch eine blutige Öffnung in den Arm gebissen habe.    "Du bist echt ein Wichser! Nein, Wichser ist zu nett, du bist so ein... verdammt, Elvis, es gibt keine passende Beleidigung, die deinem beschissenes Verhalten auch nur im Ansatz gerecht wird! Ist dir eigentlich klar, was du gemacht hast? Ist dir klar, was für eine Heidenangst ich hatte? Was für eine Heidenangst Chika-chan deinetwegen hatte? Wie kalt kann ein Mensch eigentlich sein, um die Gefühle anderer derart mit Füßen zu treten?! Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du es hier nicht aushältst? Wieso hast du mir nicht erzählt, dass ich von vornherein ein Witz für dich war? Warum das alles? Wir hätten darüber reden können! Ich hätte dir geholfen, wenn du nur gefragt hättest! Ich wäre nicht so sauer, wenn du mich nicht so hintergangen hättest! Ich-",    "Halt's Maul.",    "Was zur-",   "Ja, richtig, Onii-chan. Halt's Maul. Meinst du nicht, dass es langsam reicht?",   "Elvis-"   "Für wen gibt es keine passende Beleidigung? Wer ist sich seiner eigenen Taten nicht bewusst? Wem sind die Gefühle anderer nicht klar und wer tritt diese mit Füßen? Es war keinesfalls richtig, sich heimlich herauszuschleichen, das gebe ich ganz offen zu. Aber war es denn auch so falsch?"   "Das-",   "Ganz schön kleinlaut für deine Verhältnisse. Dagegen scheinst du recht wenig sagen zu können. Nur weil ich jetzt nun einmal bin wer ich bin, nur weil ich ebenfalls vergessen habe, wie man Gefühle zeigt oder ausreichend empfindet, heißt das nicht, dass man so tun kann als wären sie nicht da. Hier geht es nicht um den, der hier vor dir steht. Sondern um den, der damals sein Gedächtnis verlor. Hättest du den ebenso für sein Bedürfnis nach Wahrheit anschnauzen können wie mich? Hättest du den weniger belügen können, weil dessen Gefühle so sichtbar verletzt worden wären? Ich habe keine Ahnung, was du früher mit mir zu schaffen hattest, ob du nett zu mir warst oder nicht oder ob ihr verfluchten Sadisten meine Amnesie benutzt habt, um euch auf euren Fehlern und Lügen auszuruhen. Im Grunde ist es ja eigentlich auch egal. Dass ich am wenigsten über mich selbst weiß, damit habe ich mich abgefunden. Ich musste es akzeptieren. Das war eine Verweigerung meines Gehirns, über die ich keinerlei Macht besaß. Das war das Einzige, was ich aus eigener Kraft nicht schaffen konnte. Wobei ich Menschen gebraucht hätte, die wirklich ihr Leben mit mir zugebracht haben. Mich aber im Glauben zu lassen, mir alles über mein vergangenes Leben zu erzählt zu haben und mir dabei den entscheidendsten aller Punkte aus Bequemlichkeit vorzuenthalten, das ist ekelhaft. Es ist respektlos. Das ist wirklich beschissen."   Ich schaffe durch meine Ansprache wenige Sekunden Stille, ehe Taiyo sie erneut zerreißt und weiter verbal auf mich einschlägt.   "Dass das beschissen war steht außer Frage! Natürlich war das beschissen! Natürlich wäre es besser gewesen, dir die Wahrheit zu erzählen, sowohl vor als auch nach deinem Fast-Tod. Da ist so viel, was man hätte anders machen können, wirklich, die Liste geht bis nach Absurdistan, verdammt! Aber... hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie das für uns war? Wie schwer es war, irgendwie mit dir umzugehen, weil man Angst hatte, mehr zu zerstören als sowieso schon zerstört war? Was genau willst du jetzt von mir hören? Eine Entschuldigung? Eine Erklärung? Ich will gar nicht, dass das nach einer Rechtfertigung klingt, auch wenn es das vermutlich tut, aber wenn so ein blutiges Hundebaby fragt, ob seine Brüder und Schwestern noch leben, würdest du nicht lieber sagen, dass sie okay sind? Du warst verletzt und wolltest es nicht wahrhaben! Es war zu spät, Elvis! Viel zu spät! Es war bereits zu spät, als du gesprungen bist. Alles, was danach passiert ist, hat nie die Chance mitgebracht, es dir zu sagen! Es hätte im Weg gestanden, während du dich erinnert hättest. Es wäre nur eine weitere Last, mit der du nicht fertig geworden wärst. Wie hättest du sie in deinem Zustand auch ertragen können?!"   "Ich habe verstanden. Halt die Klappe.",   "Die Wahrheit, die besagt, dass dein Vater vor den Augen deiner Mom von irgendeinem Spinner abgestochen wurde?",   "Es reicht.",   "Die Wahrheit, dass ich dir nie erzählen wollte, dass ich nicht dein Bruder bin, weil du das erste Kind warst, dass mich wie einen geliebt hat?"   "Ich will davon nichts mehr hören.",   "Die Wahrheit, dass unsere Eltern dich mit Samthandschuhen anfassen, weil sie es weder übers Herz bringen, dir zu sagen, dass er tot ist noch, dass die beiden sich nicht lieben?",   "Sei endlich still.",   "Welche dieser Wahrheiten hätte nach deinem Aufwachen auch nur irgendeine positive Wirkung? Meinst du nicht, du überschätzt dich da massiv selbst? Hätten wir dir irgendetwas von deinem verkorksten Leben erzählt, was für eine Garantie hätten wir, dass du nicht schon wieder versuchst, dich umzubringen?!",   Dieser Kommentar reicht, um mein Fuß gegen sein Schienbein fliegen zu lassen. Sofort lässt er mich los und geht zu Boden.   "Dass Mutter und Vater sich nicht lieben hat nichts mit mir zu tun. Dass mein eigentlicher Vater tot ist, ist nichts, was man mir hätte verschweigen müssen. Dass wir beide Freunde waren und du nicht die Eier hattest, zu dem einzigen Freund, den du hattest, ehrlich zu sein, spricht weder für dich noch für diese Freundschaft. Wie könnt ihr von mir erwarten, euch zu vertrauen, wenn ihr es nicht einmal schafft, mir mit diesen Banalitäten zu vertrauen?"   "Wo ist das hier banal? Glaubst du wirklich, dass all diese Dinge... banal sind?",   "Exakt. Das hier ist nichts als ein weiteres Leben. Und weil sich diese Dinge nun einmal so ergeben haben, ist das jetzt mein Leben. Nichts weltbewegendes. Banalitäten eben.",   "Vollidiot!", keift er mich an, ehe er wenig später wieder auf den Beinen ist.   "Nur weil es im Großen und Ganzen nichts weltbewegendes ist, eins von vielen Leben auf der Erde, bedeutet das noch lange nicht, dass es unwichtig ist. Dass man einfach so lieblos drüber reden kann, als wäre das alles nichts! Du verstehst nichts, oder? Original nichts! Immer geht es nur um dich, dich und nochmals dich! Du denkst doch echt, die Welt dreht sich nur darum, dass du Übermensch, der gefühlt jeden Scheiß heimstudiert hat, du diese Kuudere*-Persona viel zu ernst nimmst und glaubst, dass du ja über alles erhaben bist, nur weil du nicht wahrhaben willst, dass es dich eigentlich doch trifft!",   "Inkorrekt.",   "Ich weiß doch, wie man dich behandelt hat. Ich weiß doch, wie du dich all die Zeit gefühlt hast, bis es nicht mehr auszuhalten war und du nicht mehr leben wolltest! Von Anfang an, genau wie ich, hattest du es alles andere als leicht. Niemand hat dich verstanden, Elvis! Ich nicht, unsere Eltern nicht, keiner! Du warst ein Außenseiter! Du bist verletzt worden. Und ich wünschte, ich hätte etwas tun können, sodass es nicht schlimm genug war, dass es so endete. Ich hatte Mitleid trotz allem, was mit mir los war. Aber... ich kann nicht mehr, Mann! Ich kann und kann einfach nicht mehr! Ich bin es leid! Daran zu denken, dass das alles umsonst war, die ganzen Schläge in den Sack, all die Demütigungen, diese hasserfüllten Spitznamen, da kommt's es mir echt hoch!",   in Taiyos Augenwinkeln glänzen Tränen, so außer sich ist er.   "Ich habe nicht einfach so knapp halb so viel abgenommen wie ich wiege, weil ich es zufällig ganz cool fand auszusehen wie ein verficktes Mitglied vom Baywatch-Cast! Das ist so was von nicht der Fall! Klar war ich es satt, Fettsack, Abrissbirne oder - mein Gott, Cartman! - genannt zu werden. Aber der Hauptgrund für den Wandel war, dass...", er atmet scharf ein.    "Dass ich endlich das bessere Vorbild eines Bruders sein kann, das ich schon immer für dich sein wollte! Ich bin halb durch die Hölle gegangen, so anstrengend war es. Ich bin fast durchgedreht, so besessen war ich von dem Wunsch, wiedergutzumachen, was ich verbockt habe. Es bis hierhin geschafft zu haben, ist es wert, so gelitten zu haben. Denn, ob du mir glaubst oder nicht, das habe ich. Glaubst du immer noch, du wärst der Einzige dem wehgetan wurde?!"   Ich stieg aus dem Auto aus. Und damit aus dem Leben, dass nicht mehr da war.   "Besucht uns ab und zu!", bat mich meine Mutter auf dem Beifahrersitz.   Ich nickte nur. Dann verabschiedete ich mich und lief. Verließ mein Zuhause. Warum ich es jemals verlassen hatte, wusste ich nicht genau. Es war ein Instinkt. Ich musste gehen. Ich hatte das Bedürfnis, all dem auf dem Grund zu gehen. An dem Ort, an dem sich dem Anschein nach alles abgespielt hatte. Das war eine Mission. Nicht mehr, nicht weniger. Irgendetwas fehlte an dem Ort, aus dessen Richtung ich kam. Meine Erinnerungen waren noch immer nicht vorhanden. Da war nichts, womit ich arbeiten konnte. Keine Zusammenhänge. Nichts als Handlungsfetzen, die keinen Sinn ergaben. Seit dem Vorfall und den Verletzungen, die alle inzwischen verheilt waren, wusste ich nichts mehr. Wenn man sämtlichen Schulstoff von der ersten bis zur neunten Klasse und dazu die Zusammenfassung der ganzen Weltgeschichte, alles, was ich mir zusammen mit meiner Tante angeeignet hatte, außer Acht ließ, waren da keine persönlichen Erinnerungen von der Zeit vor dem Erwachen da. Doch ich war entschlossen, darum zu kämpfen und trotzte gegen die Leere in meinem Innern. Und hier würde dieser Kampf beginnen. Hier würde er anfangen und Level eins bestand darin, mich erneut bei meinem Bruder blicken zu lassen. Nach so einem grottenschlechten ersten Eindruck, wenn man hier überhaupt von einem ersten Eindruck sprechen konnte, hoffte ich, er würde nicht mehr sauer auf mich sein, weil ich meine Zähne in sein Fleisch gerammt habe. Ich hatte zwar aus Angst und Schrecken heraus gehandelt, jedoch ist das nicht die Art, wie sich zivilisierte Menschen im 21. Jahrhundert verhalten sollten. Ich klingelte also und wartete nervös ab. Ich hatte Taiyo schon lange nicht mehr gesehen und es jetzt wieder zu tun, machte mich sehr nervös. Hier würde ich also wohnen. Mit Taiyo. Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen und wer da vor mir stand, lies mich mir die Sprache verschlagen.   "Hi, Elvis.", ohne raue und in dem Moment etwas verschüchterte Stimme, hätte ich nie geglaubt, dass das mein Bruder ist.   Ohne die typischen Merkmale, die ihn ausmachten. Die roten Haare unter der schwarzen Mütze und die intensiv grünen Augen. Er war das komplette Gegenteil von dem Taiyo, den ich immer zu kennen pflegte. Er war nicht mehr der fette, launische Typ aus dem Krankenhaus, sondern sah aus wie eine vollkommen andere Person, welche zudem noch regelmäßig ins Fitness-Studio zu gehen schien.   "Elvis, warum sagst du denn nichts?", er sah er mich etwas unsicher an.   Das war nicht zufällig der geheime, besser aussehende Zwilling von Taiyo? Ich verstand nichts mehr. Zögerlich näherte meine Hand sich dem neuen Taiyo. Erst verstand er nicht, was ich vorhatte, dann griff ich mit beiden Händen nach seinen Bauchmuskeln, um ihre Echtheit zu testen.   "Hey, Elvis, wo... wo greifst du denn hin? W-wenn du nicht aufhörst, werd ich noch verlegen!", meinte er und wurde rot. Ich zog meine Hände zurück und sah ihm nochmal ins Gesicht. Kaum zu glauben, dass er das wirklich sein sollte.   "Taiyo, du?!", verdattert hielt ich mich am Türrahmen fest.   "Jep, so heiße ich!", das war seine einzige Antwort. An diesem Tag traute ich mich nicht zu fragen, warum er so viel trainiert hatte.   Zum ersten Mal wurde ich so markerschütternd ausgeschimpft, dass ich kurz vergesse, dass er nicht auf mich, sondern auf Elvis sauer ist. Elvis hat all das erlebt. Ich bin nur ein Eindringling in seinen Körper. Der gutartige Parasit seines Lebens, welches er gewissenhaft und präzise wie ein Scharfschütze weiterlebt. Nichts weiter als die Seele in einem Toten, nach der nie jemand gefragt hat. Aber zu sehen, dass dieser Mensch Taiyo so viel bedeutet hat und immer noch bedeutet, die Erschütterung zu spüren, aus brüderliche Zuneigung angeschrien zu werden... zum ersten Mal finde ich das toll. Ich finde es toll, an seiner Stelle hier zu sein. Es erwärmt mein Herz, mir einzubilden, wirklich diese Person zu sein. Für alle anderen wirklich diese Person darzustellen. Der Platzhalter seines Bruders spürt einen fiesen Druck in seiner Brust, den er sich nicht erklären kann.   "Glaubst du denn, dass ich das glaube?", höre ich mich ganz leise fragen.   "Es kam so rüber. Ich weiß nicht, ob ich das glaube.", lässt er mich wissen und grinst ein schiefes Lächeln.   "Ich weiß auch nicht, ob ich das gedacht habe. Gerade weiß ich nicht einmal, was ich sagen oder tun soll. Du hast allen Grund, wütend zu sein. Vater hat das auch gesagt. Ich durfte ihn sogar ins Gesicht schlagen.",   "Grundgütiger, hast du das gemacht?!", entfährt es ihm so, wie Leute es empört nennen.   "Nur ganz sanft. Du musst aber nicht sanft sein, Taiyo. Hau mir ruhig eine rein.", biete ich ihm an.   "Wenn dir danach ist, mir eine reinzuhauen, dann erlaube ich dir das. Tu, wonach auch immer du dich fühlst.", hallt es dabei in meinem Kopf wider.   Aber ich merke schnell, dass Taiyo mich gar nicht schlagen will, als ich von der einen auf der anderen Sekunde von ihm an ihn gedrückt werde. Er umarmt mich ganz fest.   "Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?", verstehe ich nicht.   "Tut mir leid, das musste ich gerade tun. Weißt du, es hat Spaß gemacht, mit dir zusammen in dieser Wohnung zu leben. Ich glaube, irgendwo hatte ich einfach Angst, es kaputtzumachen. Es zu zerstören. Das... Vertrauen. Ich vertraue dir, Elvis. Auch wenn ich echt Mist gebaut habe und du mir das vielleicht nie verzeihst... ich will, dass du auch mir vertraust.",    Irrationaler Vollidiot. Als Antwort vergrabe ich mein Gesicht noch etwas tiefer in seinem Shirt und erwidere die Umarmung, weil das höflich ist. Es nicht zu tun, wäre hundsgemein, so gut kenne ich Menschen. Ich habe viel gelernt, um ein guter Elvis zu sein. All das Wissen zusammen ist größer als die Muskeln an meinem Körper je sein werden. Und doch ist mir klar, dass ich diesen Typen bis zum heutigen Tag nie richtig gekannt habe. Er war auch allein, genau wie ich, bevor ich aufgewacht bin. Ich war allein, weil ich niemanden kannte. Ich war allein, weil ich mir, je länger ich am Leben war, bewusst wurde, dass der, nach dem sie sich sehnen, nicht ich war. Die Seele, die seit drei Jahren in diesem Körper wohnt, es ist nicht die, die sie liebgewonnen haben. Sogar ein Kind wie ich eines war, bei dem die Ärzte Dinge wie Gedächtnisverlust und Gefühlsblindheit diagnostizieren, bleibt vor diesem unerklärlichen Schmerz nicht verschont. Mein Dasein allein hat einfach nur wehgetan. Und nicht in der Lage zu sein, Leuten zu erklären, was genau mir eigentlich warum tat und ihnen nicht sagen zu können, was diese denn für mich tun könnten, war... hart. Nur Idris war da und hat mir die Niederlage unter die Nase gerieben. Aber das kann man ja schlecht als etwas anderes als Einsamkeit bezeichnen. Immerhin ist er keine eigene Person, sondern lediglich ein Fremdkörper meines zersplitterten Geistes. Nicht mehr und nicht weniger. Das sage ich mir zumindest. Aber jetzt zumindest sage ich mir auch, dass ich nicht mehr allein bin, zu einem bestimmten Grad nicht mehr einsam. Ich habe Menschen, die sich um mich sorgen. Ich habe Freunde, Eltern und Taiyo. Am Ende ist er doch der beste Bruder, den ich mir wünschen könnte. Immerhin lässt er mich bei sich wohnen und behandelt mich nicht wie jemanden aus der Irrenanstalt, nur weil ich in Wirklichkeit eigentlich keine Ahnung habe, wer er ist und was er in meinem früheren Leben für eine Bedeutung hatte. Nur, dass wir definitiv nicht immer Freunde waren und er nicht immer so aussah wie er jetzt aussieht. Auch er hat sich von seinem Ich losgesagt. Der Einzige Unterscheid zwischen uns besteht darin, dass er das alles freiwillig durchgezogen hat. Ich erwidere die Umarmung und vergrabe mein Gesicht noch mehr in seinem Shirt. In diesem Moment ist es mir sogar egal, dass die Tür noch immer offen steht und uns jeder sehen könnte. Jetzt gibt es eben nur Taiyo und mich und unsere Versöhnung. Ob blutsverwandt oder nicht, ich vertraue dir. Als ich mich von ihm löse, kriege ich eine Faust ins Gesicht. Nein, nicht von Taiyo, sondern von Hanazawa.   "Au, was zur Hölle, Hanazawa?!", schimpfe ich, erschrocken über die Menge an Wucht, die in dieser kleinen Faust steckt. "Hau nie wieder einfach, ohne was zu sagen, ab, verstanden?", blafft sie und funkelt mich böse an.   "Taiyo, was macht denn Hanazawa hier?", will ich, immer noch vom Schlag leicht benommen, wissen. Taiyo zuckt einfach mit den Schultern.   "Weiß nicht. Chika-chan hat sie angerufen, dann ist sie hergekommen und hat mich auch fast verprügelt.",   "Das ist doch überhaupt nicht wahr! Du hast mich sauer gemacht, aber ich war kultiviert genug, um dich nicht umzulegen. Pah! Ihr habt doch beide 'nen Dachschaden, jawohl! Hm!", ist sie wohl wieder sauer und zieht ihre Schuhe an, bevor sie nach ihrer Tasche greift.   "Wohin gehst du, Hanazawa?", frage ich sie.   "Wohin wohl? In die Schule. Du hast echt Nerven, meinen guten Ruf dort zu zerstören, indem du einfach abhaust!", knurrt sie.   "Es war deine Entscheidung, hier auf mich zu warten.", grinse ich, nachdem mein Gesicht aufgehört hat, wehzutun.   "D-das ist nicht wahr! Ich habe das nicht für dich getan, Idiot! Pah! Ich hoffe, du wirst von Werwölfen verschleppt!", flucht sie, ehe sie sich wütend auf den Weg macht.   "Wie hast du es mit der Zicke den ganzen Morgen ausgehalten?", wundere ich mich anerkennend.   "Na ja, wie soll ich sagen? Am Ende haben auch Menschen wie sie eine schwache Seite. Hast du aus den Dating-Sims denn überhaupt nichts gelernt?", ich lache leise.   "Da könntest du echt recht haben." Kapitel 21: Vol. 1 - "Onii-chan" Arc: Da war etwas und ich wünschte, ich wüsste es nicht. ----------------------------------------------------------------------------------------- Ich rutschte aus und fiel. Es regnete und das Stahl war viel zu glitschig als dass ich hätte irgendwie die Balance halten können. Ich hörte mich schreien, bevor mich die Schwerkraft ruckartig herunterzog. Weg von diesem vertrauten Gebäude, welches aussah, wie die... Mittelschule. Dieses Wort hatte ich Ewigkeiten nicht mehr benutzt, ich zweifelte daran, es überhaupt jemals in den Mund genommen zu haben. Der Fall schien gar nicht mehr aufzuhören, der eiskalte Herbstwind umgab meinen ganzen Körper und ich nahm jeden Reiz stärker war, als er tatsächlich war. Alles kam viel zu schnell und gleichzeitig wahr alles um mich herum so unendlich langsam. Ich drehte den Kopf flüchtig auf den nassen Betonboden, der Schulhof des Worts, das ich mir so lange so sagen verbot, ich wüsste nur so gern weshalb. Ein dumpfer Knall wurde von meinen Ohren registriert, als ich nicht genau wusste, wie und worauf ich eigentlich landete. Das Einzige, was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich meine Beine nicht mehr spürte, ich um Hüfte und Bauch rundum blutete und mir mein Hinterkopf unglaublich wehtat. Ich wollte schreien, vielleicht hatte ich das auch, aber ich hörte nichts, ich spürte nur. Für einen Moment glaubte ich zu spüren, wie es gerade mit mir zu Ende ging, nicht nur für diesen Moment. Das ist es also. So fühlt es sich an zu sterben. Das dachte ich, und bevor alles schwarz wurde, hörte ich unlogischerweise noch ein letztes Mal dieses ekelhafte Geräusch meines Aufpralls und darauf folgend, das Blut, das mir aus der Magengegend spritzte. Dann bewegte sich nichts mehr und alles Gefühl aus meinem Körper verebbte. Die Perspektive änderte sich plötzlich und ich sah diesen blutigen Jungen, der sich vom Schuldach stürzte und jetzt qualvoll verblutete. Diese elendig sterbende Person, das war ich. "Aaaaahhhhh!!!!!", schreie ich, als ich aufschrecke und mir kalter Schweiß ausbricht.   Was zur Hölle war das denn? Okay, so ein bisschen hätte ich es mir ja denken können, aber... es noch einmal so zu erleben, ist einfach schrecklich! Ich habe trotz aller Wünsche, meine Vergangenheit zu erfahren, nie gewollt, so verstört zu werden. Ich habe es nicht wahrhaben wollen. Nicht ansatzweise. Ich habe gehofft, die Wahrheit würde nicht so grausam aussehen. Auch wenn ich eine Ahnung gehabt haben konnte, was ich getan habe, habe ich mich immer versucht, einfach nur zu vergessen und ein normaler Mensch zu sein. Das habe ich geschafft. Was ich aber nicht schaffe, und das kann generell kein Mensch auf diesem Planeten, ist, meinen Schatten hinter mir zu lassen. Ich atme immer noch unruhig und höre das Adrenalin mit dem meinem Blut durch meine Adern rasen. Dann stimmt es also. Ich habe mich umgebracht. Oder es zumindest versucht. Aber für mich ist es dasselbe wie wirklich zu sterben. Weil ich selbst weiß, dass ich, egal wie man es dreht und wendet, und dafür brauche ich keine Erinnerungen, so oder so niemals wieder die gleichr Person sein werde wie im mir unbekannten Damals. Den alten Elvis gibt es nicht mehr. Und da ist dann noch Idris, der meint, die Seite an mir zu sein, die alles beendet hat. Die Seite an mir, die sterben wollte. Ich kann mir vorstellen, dass meine Augen vor meinem Tod sowohl rot als auch grün waren. Dass es stimmt, dass ich nur noch ein Schatten meiner Selbst bin. Und nicht Idris es war, der mich getötet hat, sondern dass ich es war, der egoistisch genug war, von der Bildfläche zu verschwinden. Der Schultag zieht sich elendig und öde in die Länge und ich versuche dabei nicht an diese verdammte Narbe zu denken, dessen Hintergrund ich zu verdrängen versuche. Endlich ist er vorbei, ich will gerade gehen, da hält mich Shuichiro auf.   "Hey, Kyokei-chan, kommst du heute mit zu diesem Maid Cafe? Hanako-chan wollte es uns unbedingt zeigen und Failman-chan hat wohl auch was damit zu tun, und du magst sie doch so sehr, und-",   "Ersteres hätte wirklich gereicht, danke, und ja, warum nicht?", antworte ich so reserviert und gleichgültig wie möglich. Es ist mir überhaupt nicht gleichgültig. "Willkommen zu Hause, verehrtester Meister!", begrüßen unsere Gang Chika und Hanazawa.   In diesem Aufzug sehen sie wirklich unglaublich aus, egal, wie stark der Kontrast von dem schwarz-weißen Kleid und Chikas grünen Haaren auch sein mag.   "Cool, nicht wahr? Die beiden sehen echt scharf aus, oder?", freut sich Akira über diesen Anblick.   "Ganz besonders Chika-chan~!", flüstert er mir ins Ohr und bockst mich in die Seite.   "Mann, Akira, das ist doch Hanazawa-san gegenüber nicht fair!", gebe ich zurück und versuche es nicht so aussehen zu lassen, als wäre mir Chikas Erscheinungsbild peinlich. Sie sieht wirklich, wenn nicht sogar viel schöner aus, als Akira es je beschreiben könnte. Aber das gebe ich niemals zu.   "Ist noch nichts dabei, ihr seid doch schließlich ein Liebespaar und so'n Zeug...", denkt Shuichiro laut und starrt die Zimmerpflanze an. "Was... meinst du wirklich?", verlegen sehe ich auf den Fußboden. Ich habe mit keiner Silbe auch nur annähernd an meinen Beziehungsstatus gedacht, seit Chika in unserer Klasse ist.   "Darüber habe ich irgendwie auch nicht wirklich nachgedacht. Manche Dinge brauchen einfach keine Worte.", meint Chika naiv mit einem Lächeln. Das war zwar schön poetisch wie niedlich, aber wie ich meine Gang kenne, wird sie das missverstehen in drei, zwei, eins:   "Waaaaas?! Kyocchi, hattet ihr beiden etwa schon Sex?!", ruft Akira durch alle vier Wände, so laut auch nicht, aber laut genug. Mein Kopf brennt und ich bin zu verlegen, um darauf einzugehen. Der Kyokei, den Akira kennt, würde knallrot sofort vom Gegenteil reden und ihm fragen, was ihm einfiele, so etwas zu behaupten. Aber dieser Kyokei hatte auch noch nie in Betracht gezogen, sich etwas Naheliegendes wie Petting auch nur vorzustellen. Nicht nur das, da gab es auch niemandem, für den ich bestätigen musste, es nicht mit dieser Person getrieben zu haben. Schlagartig suchen mich die Erinnerungen an die halbausgezogene Chika in meinem durchwühlten Bett heim und ich werde rot.   "Du gehst aber ran, Kyokei-chan, das hätte ich wirklich nicht von dir erwartet.", Shuichiro ist gerade auch keine Hilfe und während Akira sich weiter über mich lustig macht, drohe ich, den Verstand zu verlieren.   "Das reicht jetzt, ihr beiden, wir sind hier an einem öffentlichen Ort, an dem wir nicht darüber reden sollten. Ob gemacht oder nicht, ich schätze eher nicht, geht uns nichts an. Der arme Kyokei-san ist schon ganz rot, lassen wir ihn.", erst jetzt registriere ich Kaishis Hand auf meiner Schulter, die er wahrscheinlich nach Shuichiros Satz dort platziert hatte. Shuichiro und Akira sehen erst einander, dann mich und dann Kaishi an.   "Hast recht, tut uns leid, Kyokei-chan.", entschuldigt Shuichiro sich schuldbewusst. "Hehe, also ich bereue gar nichts.", schmunzelt Akira schelmisch.   "Wie soll eine Hohlbirne auch bereuen können, Egaoshita-san?", fragt Kaishi grinsend.   "Du bist echt fies, Mann!", reagiert Akira.   "Okay, das reicht jetzt, kommt, wir stehen schon gefühlt eine halbe Stunde am Eingang. Suchen wir uns einen Platz.", beende ich die Diskussion und setzen uns hin. -Nach all dem- "Warte, Kaishi!", raune ich, bevor Kaishi und Shuichiro gehen.   "Also wegen vorhin, danke!", Kaishi schaut mich kurz eindringlich an, als ob er die Wahrheit nun doch hinterfragt. Dann lächelt er und sagt:   "Nichts zu danken, irgendwer musste dich ja retten!", die beiden verschwinden hinter der nächsten Ecke und Akira macht ebenfalls Anstalten, nach Hause zu gehen.   "Bis dann, Kyocchi! Ciao, Failman! Haut rein, ihr Turteltauben!", lautet seine Verabschiedung, ehe er uns verlässt und ich mit Chika zusammen vereinsame. Als mein Blick zum Gesicht meiner neugewonnenen Freundin wandert, verwirrt mich der Ausdruck ihrer Augen. Es scheint sich ein Nebel über die sonst so strahlend goldenen Sonnen gelegt zu haben. Abwesend schaut sie noch immer Richtung Akira, der längst nicht mehr da ist, um uns zuzuwinken. In ihrem Gesicht zeichnet sich eine seltsame Mischung aus Trauer, Argwohn und Machtlosigkeit ab. Nicht wissend, was in ihr vorgeht, tippe ich ihr mit dem Zeigefinger in die Wange, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.   "Das kommt vielleicht überraschend, aber kann es sein, dass Akira und du, wie wir beide früher, so etwas wie alte Freunde seid oder so?", kaum hat diese dumme Frage meinen Mund verlassen, weiten sich ihre Augen und ich deute diese neue Mimik ihrerseits unsicher als Überraschung. Sie senkt den Blick und schüttelt dann rasch den Kopf.   "Wir sind keine Freunde.", flüstert sie.   Ich spiele mit dem Gedanken, die Frage falsch verpackt zu haben, da der Begriff Freunde vielleicht doch ein wenig übertrieben war. Bekannte wäre ja auch eine Option gewesen. Aber wären sie bloß Bekannte, würde sie nicht so schauen. Sie wäre... gefühlsneutraler. Es hätte einen Streit geben können, der die beiden Freunde auseinandergerissen und nur die Leiche ihrer Freundschaft hinterlassen hat. Damit hätte sich auch ihre Trauer erklären lassen können. Aber sie sind keine Freunde. "Ich weiß, dass mein Verhalten absolut daneben ist.", sie holt Luft.   "Egaoshita-kun gibt sich so eine Mühe, mit allen Spaß zu haben und ein fröhlicher Zeitgenosse wie Freund zu sein. Ihr seid alle mit ihm befreundet und er mit euch. Sogar Hanazawa-chan scheint ihn nicht auf dem Kieker zu haben. Nur ich... schaffe es einfach nicht, mit ihm warm zu werden. Obwohl er dein bester Freund ist, Ellie... ist er mir unangenehm, ohne... ohne mir auch nur ein Haar gekrümmt zu haben. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Es ist doch die Aufgabe, der festen Freundin, den besten Freund des festen Freundes zu mögen. Aber... mein Körper bricht unter dieser Aufgabe schlichtweg zusammen. Ich... ich bin so eine Idiotin...", völlig überwältigt von diesem langen Text sehe ich dabei zu, wie ihr Körper zittert und ihr Tränen die Wange hinunterlaufen.   Sie... weint. Weint, nur weil sie es nicht schafft, meinetwegen mit jemandem befreundet zu sein. Eine natürliche Barriere, wie manche Menschen sie nun einmal haben. Es gibt Begegnungen, die von der ersten Sekunde an eine Kriegserklärung bedeuten. Eigenschaften, oder die ganze Person selbst, die traurige Erinnerungen wachrufen, die Verletzungen im Herzen aufreißen, selbst wenn dieses versuchen sollte, zu verzeihen. Das ist ein willkürlicher Mechanismus von unserem Körper ausgehend, ein Vorgang, gegen den das Herz nahezu keine Chance hat. Meine Hand berührt ihre Wange, streicht eine Träne von ihrem Auge. Im nächsten Moment ziehe ich sie am mich und drücke meine Lippen auf ihre. Was dieser Kuss für eine Bedeutung hat, kann ich nicht genau sagen. Es ist meine Art, ihr zu sagen, dass sie ihre Probleme nicht allein zu bewältigen braucht. Meine Art, ihr zu sagen, dass ich für sie da bin, weil ich keine Worte finde, dies auszusprechen. Der Kuss schmeckt nach Tränen. Ich ramme ihr meine Zunge in den Hals und drücke ihren Körper fester an meinen. Küsse und drücke sie so fest, dass sie keinen weiteren Gedanken an die Einsamkeit verliert. Chika wimmert leicht unter meiner Offensive, als ich merke, dass es für die Öffentlichkeit ein wenig zu heftig wird. Im Hintergrund sehe ich ein kleines Kind auf uns zeigen, während die Mutter seine Augen vor uns verdeckt und mir einen missbilligenden Blick zuwirft. Ich ziehe mich etwas zurück und verschnaufe etwas. Auch Chika ringt nach der Luft, die ich ihr abgeschürt habe.   "Alles in Ordnung? Es tut mir leid, wenn ich dir in irgendeiner Weise unsensibel war.", entschuldige ich mich und wische den Rest Tränen mit beiden Daumen weg. Sie schüttelt in meinen Händen den Kopf.   "Das ist es nicht.", Chika sieht mir in die Augen. "Ich habe nur nicht damit gerechnet, so hart geküsst zu werden, nachdem ich gerade gestanden habe, was für eine Zumutung einer Freundin ich bis eben gewesen bin. Du hast mich sehr überrascht, Ellie.", Chika lächelt.   "Chika. Bitte tu mir den Gefallen und zwinge dich für mich nicht zu Überstürzungen. Ich verstehe das Prinzip der natürlichen Feindschaft. Ich kenne das, wenn man einer Person zunächst skeptisch oder sogar verhasst gegenübertritt. Das muss nicht heißen, dass sich das nicht ändern kann. Du bist liebevoll, nett und glaubst an die Herzen der Menschen. Dass auch du an deine Grenzen kommst, ist völlig akzeptabel. Du kannst es ändern.", doch ehe Chika etwas darauf erwidern kann, weiche ich zurück und fahre mir durch die Haare vor Scham.   "Ellie?", sagt sie verwirrt meinen Namen, als sie nicht versteht, wie sehr ich mich gerade schäme.   "Versteh das bloß nicht falsch, ich meine, was ich sage. Jedoch... ist das aus deiner Perspektive sicher schwer, von mir einfach stumpf zu hören, dass es besser wird. Ich bin nicht gut darin. So etwas mit Mitgefühl zu sagen. Dabei nicht an mich zu denken. Von außen hin scheine ich keine Gefühle zu haben. Ich kann dich mein Herz nicht lesen lassen, wenn ich nichts sage. Es ist so schwer, zu zeigen, was in einem vorgeht und die Zähne auseinanderzukriegen, wenn es um einen selbst geht. Ich habe dir nie gesagt, dass ich Angst habe, dich durch meine Kaltherzigkeit zu verlieren. Du hast keine Ahnung, wie hart es für Menschen ist, wenn sie den Gegenüber nicht verstehen. Ich habe keine Ahnung, wie du trotz allem an meinen Gefühlen für dich festhalten kannst, Chika.",   "Ellie, also wirklich. Chika zieht meine Hand aus meinen Haaren, sodass ich sie ansehe.   "Du hast Gefühle. Und dass ich an sie glauben kann, liegt nur daran, dass du mir zuerst gezeigt hast, wie. Tu dir selbst doch nicht so weh, als ob du nie den Mut gehabt hättest, es mir zu gestehen. Selbst wenn du mir wortlos nicht mitteilen kannst, was du fühlst, weiß ich Bescheid. Du hast nämlich Gefühle.", ich zucke zusammen, als ich ihre Wärme auf meiner Brust fühle und sich mein Herz daraufhin erschrocken an ihre Hand schmiegt.   "Ich fühle sie. Und bis ich sie sehen kann, warte ich, Ellie." Dann verschwinden die beiden hinter der nächsten Kreuzung und ich bleibe allein zurück. Mir fällt ein, dass ich mich noch bei Tante Akane melden sollte, nach dem Vorfall mit dem Motorrad und Keita. Der Himmel ist genauso trüb wie an jenem Tag und wie in dem Traum von letzter Nacht. In dem ich mich selbst in den Tod stürzte. Ein kalter Schauer lässt mich am ganzen Körper erzittern und ich gehe weiter meine Wege, in der gescheiterten Disziplin, nicht an meine alte Wunden zu denken dessen Narben ich nicht wahrhaben will. Kapitel 22: Vol. 1 - "Onii-chan" Arc: Der Sekundenkleber für dein zerbrochenes Herz ----------------------------------------------------------------------------------- Ich klopfe an und hoffe, sie ist da. Wenn nicht, komme ich ich einmal morgen, selbst wenn ich jetzt reden möchte. Genau jetzt. Tante Akane öffnet vorsichtig die Tür und winkt mich zu sich rein. Die alten und lang angehaltenen Augenringe scheinen schon fast über ihre Brillenränder hinauszugehen, sie sieht völlig fertig aus. Sie setzt sich wortlos auf die Couch im Wohnzimmer und gibt mir das Signal, ebenfalls dort Platz zu nehmen. "Worüber möchtest du reden, Elvis-chan?", fragt sie mit einer Stimme, die so belegt klingt, als wüsste sie es schon. Sollte ich dies wirklich tun? Naja, irgendwann würde es sowieso dazu kommen, so gut kenne ich mich inzwischen. "Wie war Keita denn so?", beginne ich vorsichtig die Worte ihrer Antwort zu suchen. Sie seufzt kurz auf und antwortet mir schließlich. "Ich bin mittlerweile wieder so weit, den Namen Keita wieder in den Mund zu nehmen, ich sehe vielleicht nicht so aus, aber okay, ich sage dir alles, was ich weiß.", ohne mich anzusehen nippt sie weiter am Wodka, den sie zuvor hat auf dem Tisch liegen lassen. Ich will gar nicht wissen, wie viele Flaschen schon vorher hier waren, um ihre Sorgen die Speiseröhre runterzukippen. Meine Tante war doch eigentlich nie so der Alkoholtyp, wenn sie mal freiwillig was trinkt, dann weiß man, die Welt geht unter und die Apokalypse steht kurz bevor. "Ist wirklich alles in Ordnung? Du sagtest, du verabscheuest Wodka. Bist du wirklich bereit, über ihn zu reden?", gehe ich noch ein letztes Mal sicher. "Ja.", flüstert sie auf den Teppich und sieht mich das erste Mal seit langem wieder richtig in die Augen. "Also Keita war... der wichtigste Mensch in meinem Leben und mein bester Freund. Wir waren einfach immer zusammen und er hat mich immer vor den anderen gemeinen Kindern beschützt, weil ich so schüchtern und schwach war. Dabei war ich doch die Ältere. Er war immer so gut gelaut und cool. Und seine Begeisterung für Elvis Presley war einfach schön anzusehen, selbst, wenn ich nicht so viel von ihm halte wie er. Er sah in der Oberschulzeit genauso aus wie du in diesem Moment. Er und Setsuna-san haben mir wirklich sehr geholfen. Immer wenn ich dich ansehe, werden ein Teil der Erinnerungen an meinen Bruder hervorgeholt, aber waß heißt ein Teil, es sind einfach alle. Immer wenn ich dich sehe, dann sehe ich auch Keita. Ich glaube, Setsuna-san geht es genauso. Weil wir Keita nicht vergessen können. Deshalb habe ich geweint als du mich angeschrien hast, deshalb wollte ich nicht mit dir reden.", erzählt sie. "Es tut mir leid, dass du so viel durchmachen musst, nur weil wir dich angelogen haben!", schluchzt sie. "Da gibt es noch so viel, dass du nicht weißt, so viel, dass ich dir aber nicht sagen kann. Keiner kann das. Was die Familie angeht, gibt es nichts mehr, was du nicht schon weißt, aber über dich... seit dem Vorfall mit.... nein, ich glaube, du wirst es selbst wissen, wenn die Zeit gekommen ist... Das ist alles, was ich dir momentan sagen kann. Du wirst es herausfinden, ich gebe dir mein Wort.", dann ist sie leiser. "Hey, ähm... Tante Akane, also... Dass du mir damals im Krankenhaus Hausubterricht gegeben und mir Bücher geliehen hast... Danke.", spreche ich endlich aus, was schon viel zu lange fällig ist. Ich verdanke ihr so unglaublich viel. "Ach, das war doch nicht der Rede wert!", meint sie und errötet etwas. Dann schleicht sich leichte Trauer in ihre Mimik. "Ist alles in Ordnung?", will ich wissen. Sie antwortet nicht direkt. Als wenn es doch etwas gäbe, das sie mir vorenthält. "N-nichts, es... Es gibt nichts zu sagen. Ich bin nur ein wenig von der Arbeit durch den Wind. Ich weiß nicht, ob du es gemerkt hast, aber... Ich habe ein Sozialleben.", grinst sie, auch wenn mir diese Antwort komisch vorkommt. "Und wie du eins hast. Deshalb bist du auch sowas von gar nicht single!", ärgere ich sie. "H-hey! Die Beziehungskarte zu spielen ist unfair!", beklagt sie sich. Ich kichere etwas, dann verabschiede ich mich. Irgendwas gibt mir Prognose, dass mich meine Tante angelogen hat. Nur so ein kleines bisschen. Aber ich schüttle den Kopf und ziehe mir die Jacke über die Arme. Sie hat einfach wirklich ein Sozialleben. Das sage ich mir zumindest. Es ist schwer, diese Überzeugung abzuschütteln, aber ich finde, ich mache mich wie immer ganz gut dabei. Ich gehe gerade den Umweg durch den Park, obwohl es regnet, einfach nur, um nachzudenken. Das mit meinen Eltern und Taiyo ist nun um die zwei Wochen her. Es ist schon komisch, wie sich trotz meiner Aktion zwischen Taiyo und mir rein gar nichts verändert hat. Er ist mir so gut wie gar nicht mehr böse. Und ich kann ihm ebenso keinen Vorwurf machen, mich angelogen zu haben. Was hätte er denn auch anders machen sollen? Ich, sein kleiner Stiefbruder lande wegen Selbstmordversuch im Krankenhaus und kann mich an nichts erinnern. Innerlich völlig leer, unsicher in allem und des Todes bemüht, wieder ein normales Leben zu führen. Da anzukommen nach dem Motto "Hey, eventuell hätte ich deinen Fast-Tod verhindert, wenn ich damals ehrlich zu dir gewesen wäre oder vielleicht wusstest du es auch vorher.", hätte absolut niemandem geholfen und hätte mich damals vielleicht sogar noch auf dem Weg zur Besserung behindert. Ich meine... man tritt niemandem, der bereits am Boden liegt. Da spielt es keine Rolle, dass sie mir auch dann nichts gesagt haben, als sich meine Verfassung gebessert hat. Sie haben einfach nicht aufgehört, auf den ahnungslosen Elvis Rücksicht zu nehmen. Und obwohl mir die Tatsache, angelogen worden zu sein, ganze drei Jahre lang, noch schwer im Magen liegt, will ich alles tun, um mich weiter mit meinem Bruder zu verstehen. Ihn trifft keine Schuld. Zumindest verbiete ich mir, im Bezug auf meinen Selbstmordversuch Taiyo irgendwas in die Schuhe zu schieben. Das will ich einfach nicht! Ich komme gerade an einem Klohäuschen vorbei und sehe an der Ecke der Frontseite ein Pärchen. Bei Regen dumm genug zu sein, sich freiwillig nass machen zu lassen, beruht heute wohl auf Gegenseitigkeit. Als ich näherkomme, flüchte ich augenblicklich hinter den Baum nicht weit von ihnen. Ich bin nah genung dran, um ihre Stimmen zu hören. Viel zu nah, ich erkenne ihre Gesichter und das bringt mich vollkommen in Verwirrung. Ich habe nicht gelogen, als ich meinte, ein desinteressierter Egoist zu sein. Ich machte mir nichts aus Kleinigkeiten, dem Privatleben anderer Leute, geschweige denn ihrem Gedankengut. Ich habe einfach nur erledigt, was man mir auftrug, war effizient und habe keine unnötigen Fragen gestellt. Ich war einfach Elvis. Scheinbar allwissend und dennoch nicht ansatzweise im Begriff, irgendwie einzugreifen. Aber wieso... wieso bewege ich mich dann nicht? Was habe ich hinter diesem Baum zu suchen? Geh weg, Junge!, schnauze ich mich in Gedanken selber an. Ich bin zur Salzsäule erstarrt und blicke gebannt auf die beiden, für die ich unsichtbar bin. Ich gehe später nach Hause und lege mich hin. So wie ich mich gerade verhalte, kann es mir einfach nicht gut gehen. "Früher habe ich den Regen gehasst. Er hat mich traurig gemacht.", sagt das Mädchen und lehnt sich an den Jungen. "Magst du ihn denn immer noch nicht?", will er wissen. "Ich weiß es nicht. Er erinnert mich an früher, deshalb werde ich immer etwas melancholisch, wenn es regnet. Aber gleichzeitig mag ich ihn auch ein wenig. Er hat mich damals ebenso immer abgekühlt, beruhigt und... den Dreck von mir abgewaschen. Deshalb kann ich ihn nicht komplett hassen.", "Verstehe, so ist das also.", "Was ist mit dir? Magst du es, wenn es regnet?", "Bei mir ist es ähnlich wie bei dir. Eine Hassliebe. Ich mag ihn auf der einen Seite nicht, weil ich allein war, verletzt und einsam. An diesem Nachmittag, an dem es geregnet hat. Dazu noch klatschnass zu sein, fühlt sich einfach nur widerlich an. Auf der anderen Seite... Ist er wichtig für... alles Leben überhaupt. Wenn es nicht regnet, stirbt quasi alles. Das reicht mir, um ihn mögen zu können. Ich weiß, total albern.", "Ich finde nicht, dass es albern ist. Jemanden oder etwas zu akzeptieren, nur weil diese Sache existiert, dazugehört, es eben nicht anders geht, daran ist nichts falsch.", "Denkst du da wieder an diese eine Sache? Tut es weh, diese Sache zu akzeptieren, nur weil sie eine unausweichliche Tatsache ist? Dumme Frage, das weiß ich doch eigentlich schon.", lacht der Junge etwas schief. Nicht, weil es lustig ist, sondern um die Tragik in ihrer Unterhaltung zumindest ein wenig erträglich zu halten. "Dafür, dass du so strohdumm bist, bist du manchmal überraschend schlau.", höre ich das Mädchen murmeln und spüre, wie viel verwirrter ich werde, je mehr Sekunden verstreichen. "Was soll das denn heißen?!", ist der Junge sowohl empört als auch belustigt und neugierig. "Nur ein Scherz. Ich hatte das Bedürfnis, das zu sagen.", "Du bist echt Wahnsinn, was?", schnaubt er und bemerkt mich noch immer nicht. "Und ich weiß, dass du auch Bedürfnisse hast.", "Bitte was? Wo kommt das denn her?", aus der Entfernung ist es schwer zu sagen, aber vielleicht errötet er in diesem Moment etwas. "Ich bin unerfahren. Habe nur Blödsinn im Kopf. Ich habe immer noch die Kuscheltiere aus meiner Kindheit, nur um mich nicht allein zu fühlen. Ich verstehe dich einfach nicht. Wieso treffen wir beide uns? Wieso verschwendest du deine Zeit damit, dich um mich zu kümmern, während du in derselben Zeit, ich weiß auch nicht, dich mit Mädchen treffen könntest, die nicht deine kleinen Schwestern sein könnten? Du hast deine Probleme, genau wie ich. Deshalb blicke ich einfach nicht durch. Wieso gibst du mich nicht auf, wie ich aufgeben sollte? Ich bin so hoffnungslos, weil ich mich in jemanden verliebt habe, den ich nicht haben kann. Das ist so grausam.", Der Junge schweigt einige Sekunden und ich kann seinen Blick schwer deuten. Es ist eine Mischung aus Resignation, Melancholie und eine schwindend geringe Menge Frust. Er gibt sich wirklich Mühe. Und die Tatsache, dass ich nicht verstehe, wieso ausgerechnet er sich über ausgerechnet sie so den Kopf zerbricht, um zu helfen, bereitet mir selbt Kopfschmerzen. "Liebe ist grausam.", sagt er nach der Pause. "Aber weißt du, ich habe mindestens genauso viel Blödsinn im Kopf wie du. Jetzt zum Beispiel.", "Eh?", das Mädchen zuckt zusammen, als der besagte Typ ihre Schulter ergreift und sie eindringlich ansieht. "Nimm doch mich.", flüstert er und in der nächsten Sekunde, gebe ich mir Mühe, vor Absurdität nicht loszuprusten. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass die beiden, von allen Menschen, die ich kenne, die beiden so etwas mal miteinander tun würden. Im nächsten Moment küsst dieser Typ das Mädchen. Die Augen des Mädchens weiten sich, als der Kerl seine Lippen auf ihre presst und ihr durchs Haar fährt, holt dann aber auf, indem sie es mit selbiger Kraft erwidert. Da liegt Trotz in ihrer Berührung. Als würde sie sich denken "Na, warte, was du kannst, kann ich auch.". Die beiden kippen in die Liegeposition und küssen sich weiter. Das kleine Mädchen schiebt seine Hände auf den Rücken und die Taille des Jungen und dieser lässt seine rechte Hand über die linke Brust des Mädchens fahren. Dieses scheint überhaupt kein Problem damit zu haben, dass dieser Typ gerade Stellen berührt, welche er eigentlich gar nicht berühren dürfte. Allerspätestens da beschließe ich, genug gesehen zu haben. Und ich wäre damit davongekommen, hätte mich in diesem Moment nicht noch der Rest meiner Erkältung in der Nase gekitzelt. "Hatschi!", das Geräusch, das klingt wie das Niesen einer bekifften Straßenkatze, dringt trotz penetrantem Regen zu ihren Ohren. Das Paar erschrickt und sieht mich, wie ich nicht mehr so geschützt hinter dem Baum verharre. Taiyo geht runter von Hanazawa und startt mich verdattert an. Hanazawa sieht aus, als hätte ich sie eben nackt gesehen. Aber selbst dann hätte sie mich nicht so empört und beschämt angesehen wie jetzt. "Elvis?", das ist das Einzige, was er rausbringt, während bei Hanazawa überhaupt nichts rauskommt. Hanazawa starrt neben mich, steht auf und ergreift dann die Flucht, ohne sich wieder zu Taiyo oder mir umzudrehen. Taiyo weiß gar nicht, wo er hinschauen soll. Als er mich anschaut, ist da wieder eine Mischung an Gefühlen im Gesicht. Eine Mischung aus "Es tut mir leid." und "Bitte hilf mir.". Ohne meinen Kopf zu benutzen, folge ich so schnell ich kann Hanazawa. Ich renne ihr so schnell ich kann hinterher, in der Hoffnung, unsere Freundschaft nicht soeben verloren zu haben. Kapitel 23: Vol. 1 - "Onii-chan" Arc: Halte mich fest und sag mir, dass es okay ist. ------------------------------------------------------------------------------------ Hanako: Ich renne. Ich renne weg. Ich renne wie eine Irre durch diesen Regen, völlig atem-, kopf- und planlos. Ich renne weg vor allem, was ich ruiniert habe. Ich renne weg vor der Person, die ich jetzt am wenigstens sehen wollte. Ihretwegen, wegen dieser einen verdammten Person, habe ich das getan. Diesem Mistkerl von einer Person. Diesem Flachwichser eines Rivalen. Dieser Kerl ist schuld daran. Ich hasse, hasse, hasse diesen Kerl. Er treibt mich zur Weißglut, an die Grenzen, an die meines Glaubens an die Menschheit. So jemanden kann es doch nicht geben. Gegen so jemanden kann ich doch unmöglich verloren haben. Das ist alles seine Schuld. Wenn er nicht wäre, würde ich jetzt nicht vor Scham davonlaufen und das Bedürfnis verspüren, die Welt zu zerstören. Schon wieder. Wenn er nicht wäre, hätte ich mit ihr glücklich sein können. Ich hätte nicht meine Selbstachtung verloren, in dem ich ein totes Pferd reite. Ich habe von Anfang an verloren. Und die Tatsache, dass er es ist und wie er ist, hindert mich daran, eine gute Verliererin zu sein. Diese Person hat es nicht verdient, gegen mich zu gewinnen. Weil es sie gibt, habe ich mich mit ihrem idiotischem Bruder zurückgezogen. Weil sie mit der Person zusammen ist, die ich liebe. Taiyo-kun ist ein Idiot. Die Art Idiot, die mich ernsthaft zur Frage verleitet, wer von den Kyokei-Brüdern der größere Idiot von ihnen ist. Und trotz dass er ein Idiot ist, bin ich vielleicht genauso idiotisch wie er, weil ich ihn nicht weggedrückt habe, als wir rumgemacht haben. Mit diesem Idioten rumgemacht zu haben, auch das ist seine Schuld. Mich selbst daraufhin wie eine Idiotin zu verhalten, auch das ist irgendwo wieder seine Schuld. Ich habe nichts unternommen, weil ich nicht wollte. Ich habe diesem Idioten erlaubt, mich zu berühren, damit ich vergessen konnte, wie erbärmlich ich doch bin. Taiyo-kun war bei mir und hat mir das Gefühl gegeben, dass es okay ist. Dass es okay ist, sich genauso erbärmlich zu fühlen wie man ist. Er ist unverschämt, hirnlos und gibt niemals nach, aber er versteht, wie elend ich mich fühle, als Verliererin hervorzugehen. Ich durfte aussprechen, was ich fühle und das so oft ich es brauchte. Bei Chika-sama hatte ich von Anfang an keine Chance. Nur ein einziges Mal habe ich es ihr gesagt, was ich für sie empfinde und danach hab ich es nie wieder sagen können. Es war aussichtslos. Es wäre peinlich gewesen. Man kann kein verletztes Tier auflesen, das von selbst aufsteht und in die dir entgegengesetzte Richtung rennt, weil es dich nicht braucht. Dich noch nicht einmal sieht. Dich nicht beachtet. Sie liebt Kyokei-kun schon seit ihrer ersten Begegnung und das kann ich ihm nicht nachmachen. Ich bin nicht Kyokei-kun. Ich kann nicht anders, als über die beiden nachzudenken und neidisch zu sein. Wenn Kyokei-kun nicht wäre, wäre dann Chika-sama? Niemand weiß, wieso sie wirklich die Schule gewechselt hat. Im Grunde weiß niemand etwas über Chika-sama oder ihre Beweggründe, diese Schule zu besuchen. Ich weiß es auch nicht. Die einzigen Anhaltspunkte liegen in ihren Augen, die mit ihrem Glanz nahezu herausschreien, dass allein ihre Gefühle für Kyokei-kun es wert sind, dass man für sie die Schule wechselt. Wie zwei Glühwürmchen, die mit ihren Lichtorganen Signale in die Nacht aussenden. Taiyo-kun hat auch keinen Grund gebraucht, um zu lieben. Und am liebsten wäre mir, dass er mir die gleiche Aufmerksamkeit widmet, wie er sie ihnen gewidmet hat. Die beiden Male, in denen er sich verliebt hat, waren es Mädchen, die mindestens genauso alt waren wie er. Die in seiner Liga gespielt haben. Immer, wenn ich daran denke, wie ich nichts dergleichen erfülle, überkommt mich... Frust. Es ist so kindisch. Es nervt mich. Ich war, seit ich auf die Oberschule ging, nie nicht gut genug. Klar, ich bin klein und habe seit fünf Jahren die gleiche Körbchengröße, aber das konnte ich immer durch meine Schönheit und meinen Charakter ausgleichen. Das konnte ich durch meine Intelligenz ausgleichen. Man mochte mich. Wieso also kann ich nicht auch dann begehrt sein, wenn ich mich am meisten danach sehne? Ich hatte nicht wirklich vor, mit ihm zu schlafen. Nicht hier draußen. Weil keine Menschenseele draußen war, habe ich aber es zugelassen. Deshalb ließ ich das Gewicht dieses einsamen Jungen auf mir lasten.  Ließ zu, dass unsere Zungen miteinander kämpften. Ließ zu, dass er mich berührte. Da war mir alles egal. Ich vertraue ihm, obwohl ich gar nicht das Recht dazu haben sollte. Er vertraut mir, einfach nur, weil er es kann. Obwohl wir uns zuvor nie begegnet sind und uns ziemlich gerne in die Haare kriegen, verbindet uns irgendwas, für das ich keinen Namen finde. Wir vertrauen einander. Wir verstehen einander.  Ich fühlte mich von ihm verstanden und mochte die Art, wie er mich küsste. Leidenschaftlich, aber immer noch darauf bedacht, rücksichtsvoll zu sein, vorsichtig, aber nicht zu sehr. Er mochte mich. Nicht auf diese Weise, aber... er mochte mich. Genug, um mit mir rumzumachen. Niemand schiebt mit Leuten rum, die er oder sie nicht ausstehen kann. Ich brauchte diese Nähe und Wärme, um mir selbst einzugestehen, dass Chika-sama so etwas niemals mit mir tun würde. Ich ihre Lippen niemals auf meinen spüren würde, dafür aber seine.   Mir geht der Atem aus. Verdammt, ich kann bald nicht mehr. Ich renne wie eine Irre und weiß gar nicht, wie weit dieser Park sich eigentlich noch in die Unendlichkeit erstrecken will, nur um mich aufzuhalten. Kyokei-kun ist hinter mir. Je näher er mir kommt, desto schneller rast mein Herz. Stress, Erschöpfung, Scham, Wut, es gibt so viele Faktoren dafür. Vermutlich rast seins auch gerade. Kyokei-kun ist nicht der Sportlichste. Ich habe ihn noch nie so überanstrengt erlebt. Ich höre sein fast schon panisch klingendes Ringen nach Luft und meine fast zu hören, wie er hinter meinem Rücken zusammenbricht. Aber ich weiß, dass er das nicht tut. Er rennt schneller als jemals im Sportunterricht. Er holt mich fast ein. Mir ist nach Schreien. Er streift meinen Rücken, aber ich schaffe es noch, einen letzten Kraftschub einzusetzen, um noch ein kleines bisschen schneller zu sein. Fast ist es, als hätte ich gewonnen. Für einen Moment, gegen Ende des Parks, kann ich das Keuchen meines Verfolgers nicht mehr hören und fühle mich befreit. Dann fällt mir ein, dass ich mir das nur ausgedacht habe und mein Arm für die bessere Dynamik beim Flüchten ins Leere greift. Ich rutsche aus. Ich falle und lande im nassen Dreck, in einer Pfütze aus Gras und allem, was dazugehört. Ich rapple mich so schnell ich kann, auf, aber vergebens. Ich spüre Kyokei-kuns festen Griff um mein Handgelenk, wie er mich an sich reißt und die Arme so fest um mich schlingt, dass ich zum ersten Mal richtig Angst vor ihm habe. Noch nicht einmal, als er gedroht hat, an mir seine StreetFighter-Fertigkeiten unter Beweis zu stellen, war er so grob zu mir. Er krallt sich an mir fest und gibt mir nicht die Möglichkeit, meine Arme zu benutzen und drückt mich fester an sich. Schnell vermischt sich meine Angst vor seinem festen Griff um meinen Körper mit der Wut, die ich ihm gegenüber nicht vergessen habe. Ich bin stinksauer auf ihn.   "Fass mich nicht an! Pfoten weg, du ekelhafter Perversling! Hör sofort auf damit! Du sollst aufhören!", keife ich, dass ihm sicher die Ohren klingeln.     "Lass mich los! Loslassen, habe ich gesagt! Das ist sexuelle Belästigung! Was würde Chika-sama davon halten, wenn du mich so festhältst?! Sie ist deine Freundin, nicht ich! Denkst du überhaupt mal nach oder ist dein Kopf genauso leer wie dein Blick?! Was hast du davon, mich festzuhalten? Was für ein Ziel verfolgst du in Wahrheit?! Du kannst aufhören, so zu tun, als würdest als wären wir Freunde. Menschen, die nicht zu Freunden, Familien oder Autoritäten gehören, sind für dich bedeutungslos, ist es nicht so? Warum also?! Du tust doch sonst nicht so, als würdest du jemanden mögen. Das hast du nie und das wirst du auch nie. Warum führst du dich auf, als bedeutete ich dir etwas? Wir sind keine Freunde! Ich mag dich nicht einmal! Du musst keine Interesse an mir heucheln! Deine Masche funktioniert bei mir nicht, Kyokei-kun! Du bist vielleicht ein Musterschüler, die Mädchen stehen auf dich und jeder scheint sich auf dich zu verlassen! Aber dahinter ist nichts! Da ist nichts als Leere! Nichts als ein Wichtigtuer, der sich für etwas Besseres hält und nur an sich denkt. Dem alles in den Schoß fällt, weil er ja so cool, gutaussehend und intelligent ist! Was finden alle an jemandem, der keine Seele hat?! Wieso ist es bei dir alles mit schlagfertigen Antworten und Perfektion getan?! Es ist unfair, es ist herzzerreißend! Ich bin es leid! Ich bin dich leid! Ich hasse, hasse, hasse dich! Also hör auf, mich so festzuhalten, hörst du?! Flossen weg, bist du taub oder so?! Du sollst mich loslassen, du verdammter...", in meiner Rage fällt mir dann doch keine Beleidigung ein, die stark genug wäre, ihn zu treffen.   Ich schniefe und in nächsten Moment bemerke ich, dass ich anfange zu weinen. Ich bin es leid. Ich bin all das so leid. Ich bin es leid, dass er so viel besser ist als ich, obwohl er sich nicht ansatzweise mit so viel Herz und Seele ins Zeug legt wie ich. Ich bin es leid, dass er mir meine erste Liebe ausgespannt hat und ich fortan damit leben muss. Ich bin es leid, dass ihn alle so toll finden. Ich bin es leid, gegen ihn verloren zu haben und dass er es ist, in dessen Armen ich gerade so erbärmlich heule.   Mir ist die Kraft zum Schimpfen ausgegangen. Ich kann nicht mehr als zu... weinen. Es ist alles so zermürbend, dass ich zu etwas anderem keine Kraft mehr habe. Ohne, dass ich es will, halten sich meine dreckigen Hände an Kyokei-kuns Rücken fest. Er ist viel stärker als er aussieht. Ich habe immer gedacht, mit seiner Statur hätte er niemals den Hauch einer Chance gegen meine Kampfkraft. Wie sehr ich mich in diesen Jungen getäuscht habe. Ich weine noch etwas und er ist bei mir, näher als am Tag des Autounfalls mit Chika-sama, als wir kurz davor waren, uns gegenseitig die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Er lässt keine einzige meiner Tränen mit dem Regenwasser um uns verschmelzen, alles perlt an seiner Kleidung ab.   "Ich bin erbärmlich. Ich weiß es doch. Ich habe es immer gewusst. Weil ich wusste, dass du Chika-sama magst, du sie genauso magst wie sie dich, sah ich mich gezwungen mich anderweitig zu trösten.",   Stille von seiner Seite.   "Taiyo-kun hat etwa dasselbe, wenn nicht sogar Schlimmeres durchgemacht, weshalb wir uns verstanden. Wir vertrauen und verstehen uns. Deshalb habe ich mich nicht dagegen gewehrt, von ihm geküsst zu werden.",   Nach wie vor Stille.   "Ich wollte wenigstens für diesen Moment vergessen, dass ich nur die Klassenkameradin von Kyokei-kun und Failman-san bin.",     Nichts als Stille. "Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie ich fühlen muss?! Von Anfang an keine Chance bei Chika-sama zu haben, weil Kyokei-kun etwas in der Hand hat, was du nicht hast? Zu wissen wie er ihr jederzeit seine Zunge in den Hals rammen kann und du nur zusehen kannst, wie alles seinen Lauf nimmt?",   Es bleibt die Stille.   "Sie war meine erste Liebe und du hast sie mir weggenommen. Dass du Chika-sama immer an deiner Seite haben kannst, wenn du nur willst, das hat mich so eifersüchtig gemacht. Es tat weh. Es tat so unglaublich weh! Gegen dich zu verlieren, wieder einmal,... tat so unglaublich weh! Ich habe dich so gehasst! Seit du vor zwei Jahren auf die Chinobara Oberschule gewechselt hast, konnte ich nicht anders als mich mit dir zu messen! Du warst mir ein Dorn im Auge, mein Erzfeind.",   Er selbst ist Stille.   "Ich wollte auch geliebt und getröstet werden, ich wollte mit dir und Chika-sama auf einer Ebene sein! Ist es so schlimm, sich danach zu sehnen, begehrt zu werden? Was ist falsch daran zu lieben? Ist ein Mensch, der den geliebten Menschen eines anderen um jeden Preis ausspannen wollte, denn wirklich immer der Böse? An meiner Stelle hättest du dasselbe getan! Und durchgekommen wärst du damit sicher auch, weil du Kyokei-kun bist! Erzähl mir also nichts von wegen Vernunft oder Abstinenz. Rede mir nicht ein, ich würde in einem anderen Leben, einem anderen Universum oder einer anderen Dimension ihr Herz gewinnen können, obwohl sie nicht auf Mädchen steht! Jemandem so herzlos ins Gesicht zu lügen ist nämlich total grausam. Was falsche Hoffnungen und unerfüllte Sehnsüchte mit dem Herzen anstellen können, müsste selbst jemand wie du irgendwie wissen.", ich weine und schluchze weiter. Weitere Tränen treffen weiter auf seine Brust.   Es ist immer noch ganz still. Ich höre nur den kalten Regen prasseln und Kyokei-kuns Herz ganz heftig schlagen. Es zerberstet fast. Ich spüre nur seinen Atem auf meinen Scheitel und seine dünnen Arme, die mich festhalten. Sie erzittern unter der Kraft, die er auf mich ausübt.   "Du musst wissen, seit ich zurückdenken kann, war das Leben für mich eine einzige falsche Hoffnung und auch eine einzige unerfüllte Sehnsucht.", höre ich ihn plötzlich sagen. Seine leise Stimme bricht fast vor Erschöpfung.   "Im zweiten Jahr der Oberschule hat mich die Erkenntnis, dass die Hoffnung vergeblich war und die Sehnsucht unerfüllt bleiben würde, in etwa der Härte getroffen, wie der Zerfall eines Herzens, dessen Besitzer gesagt bekommt, dass der Mensch, den er liebt, nicht dasselbe fühlt. Aber jener Vergleich ist recht vage und ich kann nur näherungsweise das Gefühl beschreiben, das du meinetwegen verspürst. Dass meine Seele ebenfalls nur näherungsweise an die eines herkömmlichen Homo sapiens herankommt, brauche ich dir nach allem, was wir zusammen erlebt haben, wohl nicht mehr zu erzählen. Meine Seele wird niemals so lebhaft wie die deine sein, du wirst mich vielleicht dein Leben lang als nichts weiter als einen Wichtigtuer sehen, der die Züge eines sogenannten Gary Stu geradezu fehlerfrei an den Tag legt. Ich mache dir keinen Vorwurf. Jedoch.", er atmet ein und wieder aus.   "Überlasse ich Chika Failman unter keinen Umständen. Das könnte ich nicht. Und selbst wenn ich es täte, könntest du sie dir nicht einfach nehmen. Dieses Mädchen ist keine Ware. Kein Preis, den derjenige erhält, der objektiv besser ist. Der einzige Mensch, der über den Rastplatz ihres Herzens entscheiden kann, ist Chika selbst. Dass mein Wunsch mein Leben lang unerfüllt bleibt, ist nicht länger von Bedeutung, solange sie da ist. Ich habe mich noch nie einer Person derartig verbunden gefühlt. Was genau um alles in der Welt das schon wieder heißen soll? Ich gebe dir einen aus, falls ich je in der Lage sein werde, dir das zu schildern. Ich bin nicht gut darin, zu erklären, was in mir vorgeht. Jedoch weiß ich trotzdem ganz genau, dass ich sie an meiner Seite haben will. Sie ist meine Verbündete, meine Verstärkung, die moralische Unterstützung, von der ich nie wusste, dass ich sie brauche. Der Mensch, der von allen am meisten auf mich wartet. Ich bin ihr wichtig. Sie setzt ihre Hoffnungen in mich. Sie glaubt an mich. Ich spüre, dass sie es nicht verdient hat, allein zu sein. Ich beschütze sie, denn es gibt keinen guten Grund, sie zu verlassen. Das wäre ein Nachteil. Ein Verlust. Da ich ihr Freund bin, gehört auch, meine sogenannte Freundin mit allem, was ich habe, zu beschützen zu den zu erfüllenden Pflichten. Sei es auch vor dir oder sonst wem.", er atmet schwer und spricht weiter seinen Text.   "Was du und mein Bruder miteinander zu schaffen habt, geht mich nichts an. Das Einzige, was mich in dem Sinne etwas angeht, ist die Rivalität zwischen uns beiden. Ob du mir meinen ethischen Egoismus verzeihst oder dich weiter mit mir messen willst, habe ich nicht zu entscheiden. Was ich aber entscheiden kann, ist, wie ich über dich denke. Du bist der erste Mensch, der mich nicht so akzeptiert wie ich bin und trotzdem nicht von meiner Seite weicht. Das mag negativ klingen und ich konnte dich anfangs genauso wenig ab wie du mich, doch... das muss nicht zwingend etwas Schlechtes sein. So entwickelt sich schließlich vielleicht auch jemand wie ich weiter.", fast meine ich ein Schmunzeln in seiner sonst so apathischen Stimme herauszuhören.   "Also wirklich, wenn du es so sagst, sehe ich ja wieder aus wie die Böse von uns.", kichere ich.   "Du bist auch die Böse. Ich kenne niemanden, der bösartiger ist als du, Hanako.",   "Das... Moment mal. Hast du mich gerade Hanako genannt?!", entfährt es mir empört, als ich ihn an der Brust von mir schiebe. Wollen wir mal sehen, wie die Fratze aussieht, deren Besitzer sich rausnimmt, mich einfach so beim Vornamen zu nennen. Doch der Blick in sein Gesicht ist kaum sehr lang, da sehe ich auch schon wieder ins Leere. Und als ich zu Boden sehe, liegt er da.   "Kyokei-kun, ist alles in Ordnung mit dir?!", bin ich ganz erschrocken und verwirrt.   "Ich kann meine Beine nicht mehr spüren.", haucht er.   "Bitte... was?" "Wenn ich ganz ehrlich bin, spüre ich überhaupt gar nichts mehr. Wobei auch das irgendwie gelogen ist, wenn man bedenkt, dass es sich anfühlt, als würde mein ganzer Körper in Flammen stehen. Ich meine, die Milchsäure fast schon riechen zu können, so sehr schmerzt mich all das. Ich glaube, wir müssen gar nicht erst darüber reden, dass mein Herz im übertragenen Sinne aus mir raus springt, explodiert und eine große Sauerei auf dem Rasen hinterlässt. Bitte ruf Taiyo an und sag ihm, es war ein Unfall. Ich geh dann mal in Frieden ruhen.",   Nicht sein Ernst.   "Kyokei-kun, das was du gerade gemacht hast, nennt sich Sport. Wenn du von null auf hundert direkt so rennst als ginge es um Leben und Tod, dann endet das natürlich so. Du musst nicht sterben!", sage ich und unterdrücke ein Lachen.   "Du hast recht. Meine Berechnungen scheinen unter dieser herzzerreißenden Erschöpfung beeinträchtigt zu werden. Verzeih mir die Fehlmeldung.", daraufhin muss ich prusten.   "Du bist echt ein Vollidiot! Was ist überhaupt los mit dir? Erst verfolgst du mich, nur um mich festzuhalten, mich beim Vornamen zu nennen und anschließend vor meinen Augen zusammenzubrechen. Bist du irgendwie verrückt geworden?", lache und wische den Rest Tränen weg.   "In Momenten, in denen zwei Menschen so schmerzhaft ehrlich zueinander sind, sind sie am Ende so etwas wie richtige, wenn nicht sogar bessere Freunde. Ich habe das Gefühl, wir haben uns zum ersten Mal so richtig wie welche verhalten.",   "Sonst noch etwas? Dein Sinneswandel ist ja ganz was Neues.", verstehe ich noch immer nicht ganz.   "Ein weiterer Schritt in Richtung einer revolutionierten Freundschaft wäre das Ansprechen des anderen mit dem Vornamen, ist es nicht so, Hanako?", ich spüre schon wieder die Röte in meinem Gesicht.    "D-das...",   "Es ist in Ordnung, wenn du dazu nicht bereit bist. Es tut mir leid, wenn ich mit der Tür ins Haus gefallen-",   "A-aber nicht doch! Es hat sich schließlich wirklich was verändert! Schließlich... schließlich hasse ich dich nicht... komplett.", presse ich hervor.   "Zu wissen, dass du mich nicht komplett verachtest, erfüllt meinen Brustkorb mit einer schlecht zu erklärenden Leichtigkeit. Mit anderen Worten, du akzeptierst mich als das, was man einen Freund nennt?",   "D-das hast du jetzt gesagt! Es ist schließlich nicht so, als hätte ich gesagt, dass ich dich mögen würde, oder?!", er hat danach geschrien. Er wollte es so. Ich sage es jetzt. "E... Elvis.", einmal Applaus für das kleine Mädchen voller Dreck, bitte.   "Wie war das?", will ich wissen.   "Ich gebe dir sechseinhalb von zehn möglichen Punkten.",   "Arsch."   Stille. Wieder ist nichts als Regen zu hören. Kyokei-kuns, ich meine... Elvis' Herz hat genug Zeit gehabt, um wieder seinen normalen Rhythmus wiederzufinden. Die Stille zerreißt es nicht mehr.   "Liebst du ihn?", zerreißt sie dafür seine Stimme.   "Ist es schlimm, wenn ich darauf nicht antworten will?",   "Nein, für heute hast du genug geleistet.", findet er. "Du solltest trotzdem zu ihm gehen, finde ich. Nach allem was in den letzten zwanzig Minuten passiert ist, wäre das bestimmt das Beste.",   "Da könntest du recht haben. Elvis.", ein kleines bisschen Fröhlichkeit mischt sich in meine Stimme. Es fühlt sich gut an, die Feindschaft zumindest ein wenig abgelegt zu haben.   "Dann mal los, kleines Mädchen. Du hast einen perversen rothaarigen Emo-Kobold zu verführen.",   "Du bist unmöglich!", empöre ich mich wieder.   "Geh schon, ich komme schon zurecht.", ignoriert er mein Entsetzen und macht eine Insekten verscheuchende Handbewegung.   Ich nicke hastig und mache mich auf den Weg. Ich habe meine Tasche beim Klohäuschen vergessen, ich sprinte also als Erstes dort hin. Ist das getan, geht es weiter mit dem Rennen. Es ist anders als das Rennen zuvor, als ich einfach versucht habe, mich nicht von Kyo... Elvis erwischen zu lassen. Wie das ausgegangen ist, wissen wir ja. Diesmal aber wird es anders sein.  Ich laufe nicht mehr davon. Ich laufe auf jemanden... zu. Dieser jemand ist ein paar schnell zurückgelegte Meter später hinter dieser Tür. Das kann ja was werden. Kapitel 24: Vol. 1 - "Onii-chan" Arc: Die Liebe, wie es sie schon tausendmal gab. --------------------------------------------------------------------------------- Taiyo: Es klingelt an der Tür, als ich gerade halbnackt aus der Dusche komme. Bestimmt ist das die Kleine. Ich mache also die Tür auf und finde sie triefnass und zitternd vor.   "T-Taiyo-kun? Ähm, also... kann ich rein? Das von vorhin... tut mir leid, dass ich einfach weggelaufen bin.", erklärt sie mir mit zittriger Stimme im Versuch, nicht auf meinen entblößten Oberkörper zu sehen.   "Ach, nicht doch. Ich hätte nicht einfach nach Hause gehen sollen. Ich dachte nur, du würdest nicht mehr zurückkommen, also... Wie auch immer, komm erstmal rein.", sage ich und schließe die Tür hinter ihr.   Stille. Endpeinliche Stille.   "Willst du vielleicht... duschen oder so? Du erkältest dich noch.", teile ich ihr mit, als ich meine Hand an ihre Stirn lege.   Unter meiner Berührung zuckt sie zusammen. Sie ist total unterkühlt. Sie sieht mich unverwandt an, ehe ich begreife, was genau ich gerade eigentlich gemacht habe. Also ziehe ich meine Hand schnell weg.   "Tut mir leid, Hanako-chan. Ich wollte nur-",   "Nein, ist... ist schon okay. Duschen wäre toll.", antwortet sie, während sie still an mir vorbeigeht und davon ausgeht, sich dem Bad zu nähern.   Dabei hinterlässt sie Fußabdrücke auf dem Holz, die feucht und traurig sind.   Mein Blick bleibt an meinen Füßen haften. Sie hat mich nackt gesehen. Wo bin ich da nur wieder reingeraten?! Ich stürme in mein Zimmer und knalle die Tür hinter mir zu. Dort angekommen rutsche ich mit dem Rücken zur Tür zu Boden.   Was mache ich überhaupt hier?! Wieso habe ich das gesagt?! Warum habe ich sie geküsst?! Wo soll das alles bitte hinführen?!   Ich ruhe meinen brennenden Kopf aus, indem ich die Knie an mich drücke, sie mit meinen Armen umklammere und beschließe, ein bisschen in der Embryonalstellen zu verharren. So denkt es sich in so einer Situation irgendwie ein ganzes Stück besser.   Dass sie mich so gesehen hat, ist noch nicht einmal das Schlimmste an dieser Situation. Ich selbst bin es. Verdammt, ich weiß überhaupt nicht, wo mir eigentlich der Kopf steht.    "Argh!!! Ich kann so nicht leben!", widerwillig stehe ich auf und gehe Richtung Schrank. Ich sollte mir zuerst etwas anziehen, bevor ich irgendwas tue.   Es ist nicht so, als ob ich mich für die Dehnungsstreifen an meinem Körper schämen würde, aber ich fühle mich doch deutlich wohler, wenn ich ihr nicht wie Gott mich geschaffen hat gegenüberstehe. Dieses ganze Szenario ist doch auch so schon verrückt genug. Wir sind alleine hier. Sie duscht. Und ich habe ebenfalls gerade geduscht. Wir sind beide hier in meiner Wohnung splitterfasernackt. Ich atme ein und wieder aus. Was würde Hide tun? Hide weiß immer, was zu tun ist. Er wohnt schließlich mit Yuki zusammen. Würden er und Yuki also in ihrer gemeinsamen Wohnung allein sein - und das nackt -, hätten sie jetzt vermutlich ziemlich exzessiven Sex. Mein Kopfkino übermannt mich.   "Hey, Hanako-chan!", rufe ich in meinem Kopf. "Ich bin immer noch nackt. Lass uns da weitermachen, wo wir beim Klohäuschen aufgehört haben. Ich bin auch ganz sanft!"   Nein, nein, nein, nein, nein! So geht das nicht! Ich kann nicht mit Hanako-chan schlafen! Ich bin nicht Hide! Und außerdem... bin ich Jungfrau. Ich habe doch gar keine Ahnung, wie man so was anstellt! Wie könnte ich jemals damit leben, von ihr gesagt zu bekommen, dass ich eine Niete im Bett bin?! Das ist doch der allergrößte Scheiß!   "Oh mein Gott, was ist bloß los mit mir?!", jaule ich und könnte die Schranktür nicht aggressiver aufreißen. Noch nie habe ich mich so schnell angezogen und bin aus dem Zimmer gestürmt. Dieser Raum flößt mir Gedanken ein, die ich gerade nicht brauchen kann. Ich hätte mich erfolgreich in die Küche davongestohlen, wäre ich nicht ausgerutscht und würde auf dem Boden liegend in Hanako-chans erschrockenes Gesicht sehen.   Sie ist in einem unserer Handtücher gewickelt.   Einem unserer echt kleinen Handtücher.   Verdammt.   "Du... du hast doch nicht etwa unter das Handtuch geschaut, oder? F-Ferkel!",   "Hab ich gar nicht! Das lässt der Winkel doch überhaupt nicht zu!",   Stille.   "Gibst du mir etwas zum Anziehen? Meine Uniform ist nass und dreckig.", murmelt sie und wendet den Blick ab.   "K-Klar... ich hole dir geschwind was.", nach diesem Satz stürme ich wieder in mein Zimmer und suche nach einem Pullover und einer Hose, die nicht viel zu groß für sie ist.   Bei knapp dreißig Zentimeter Größenunterschied dauert es etwas, bis ich fündig werde und es zu ihr ins Wohnzimmer bringe.   "Hier, bitte.", sage ich und drücke ihr den Stapel Kleider in die Hand.    "Danke dir.",  murmelt sie und verschwindet wieder im Badezimmer.   Beim Gedanken, dass sie meine Klamotten trägt, fühle ich die Röte in meinem Gesicht. Ich habe noch nie einem Mädchen meine Klamotten geliehen. Nur einmal hatte ich eine Beziehung, die scheußlich endete.  Dazu kam es nie. Nur einmal habe ich mich in die Ex meines besten Freundes verliebt und mein Herz gebrochen zu bekommen. Dazu kam es nie. Ich sollte mich nicht so fühlen.  Mein Herz sollte nicht so heftig klopfen. Das kann ich ihr nicht zumuten, oder? Das kann ich einfach nicht.   Wieder seufze ich.  Weil ich mich schlecht fühle, mit ihr rumgemacht zu haben, ohne mir vorher zu überlegen, was ich wirklich für sie empfinde und sie für mich. Weil ich mit der Tür ins Haus gefallen bin, mehr oder weniger. Ich hätte besser auf sie aufpassen sollen. Ich hätte vernünftig handeln sollen. Ich hätte nachdenken sollen. Ich hätte sie nicht so egoistisch überfallen sollen. Ich bin schließlich der "Erwachsene" von uns. Ich schalte den Fernseher an, um mich abzulenken. Aber egal wie oft ich zwischen den Kanälen wechsle, nichts dergleichen ist als Ablenkung gut genug, um mich das alles auch nur für wenige Minuten vergessen zu lassen. Ich lasse den Fernseher laufen, gehe ich in die Küche und halte es für eine gute Idee, uns etwas zu essen zu machen. Damit meine ich Tiefkühlpizza. Die Pizza backt und ich überlege, was ich zu Hanako-chan sagen sollte, nach allem, was passierte. Sie lässt sich ganz schön Zeit. Sicher ist sie längst eingekleidet und traut sich nur nicht raus, weil sie diese ganze Situation als genauso abgefuckt empfindet wie ich. Denkt vermutlich nach, genau wie ich es gerade tue. Ich versuche wieder, einen klaren Kopf zu kriegen. Tatsachen zusammenzuzählen, um zumindest den Bruchteil einer Ahnung von dem zu haben, woran ich eigentlich bin.  Ich mag sie. Ich mag sie wirklich. Weiter erlaube ich mir nicht zu denken. Auch, wenn ich es eigentlich tue. Ich will nicht, dass sie mich abweist. Weil ich das nicht überleben würde, muss ich den ersten Schritt machen. Ich will nicht abgelehnt werden, also muss ich sie ablehnen, egal, wie weh es tut. Würde die Person, die behauptete, dass alle guten Dinge drei sind, noch leben und hätte sie mir diesen Satz verkauft, würde sie von mir eine Ein-Stern-Bewertung bekommen, weil sie mich schamlos angelogen hat.   Nach einiger Zeit meine ich zu riechen, dass die Pizza, wenn ich sie nicht bald aus dem Ofen hole, verbrennen wird. Noch etwas benommen von meinen eigenen Gedanken stolpere ich zurück in die Küche und tue genau das. Sieht das lecker aus. Die Pizza ist also fertig und ich stelle sie auf den Couchtisch. Ich setze mich auf die Couch und im selben Moment findet Hanako-chan ihren Mut wieder und tritt aus dem Badezimmer. Ich muss schlucken. In meinen Sachen sieht sie wirklich süß aus.    "Und, was machen wir jetzt?", frage ich sie so lässig wie nur möglich.   Wortlos setzt sie sich neben mich auf die Couch und bleibt dort.   "Lass uns die Pizza essen, solange sie... heiß ist.", Hanako-chan sagt immer noch nichts.   "Bist du sauer auf mich?", will ich wissen, werde aber nur ignoriert.   Das heißt dann wohl ja. Sie ist sauer auf mich.   "Tut mir leid, Kleines.", lasse ich sie wissen. Das tut es wirklich. Es begann alles an dem Tag, an dem mein Bruder verschwand und ich die Uni schwänzte. Hätten wir uns auch dann noch in einer Situation wie der hier gefunden, wenn weder das eine noch das andere eingetreten wäre? Beim Gedanken an diesen schicksalhaften Morgen sehe ich sie von der Seite an. Traurig ausschauend sieht sie nach unten und beachtet mich nicht. Ihre Haare.  Haben Menschen nasse Haare, sehen viel eher danach aus, als würden sie gleich in Tränen ausbrechen als gewöhnlich.  Diesmal sind es keine Fußabdrücke die feucht und traurig sind. Es sind Haare. Haare, die feucht und traurig sind.  Ich würde liebend gerne ihren Kopf streicheln, den Arm um sie legen und ihr sagen, dass alles gut wird. Aber was für eine Garantie habe ich schon? Sie muss damit leben, dass Chika in Elvis verliebt ist und er in sie. Ihr wurde das Herz gebrochen und ich habe sie im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen lassen. Oder viel mehr sie mich. Aber das spielt keine Rolle. Ich habe sie allein gelassen. Dabei ist sie die Letzte, die ich allein lassen will. Es ist egal, dass sie fünf Jahre jünger ist als ich. Es ist egal, dass sie auf Frauen steht. Es ist egal, dass sie mich nicht ausstehen kann. Das, was ich für sie empfinde, kann ich nicht damit auslöschen, indem ich mir all dem bewusst werde. Ich habe mir nicht ausgesucht, mich in sie zu verlieben. Ich hatte es weder vor, noch habe ich danach gefragt, noch ist es leicht. Das heißt aber nicht, dass ich es rückgängig machen würde, wenn ich könnte. Das ist ja das Verrückte an der Liebe. Sie schießt ein Kamehameha* auf jegliche Vernunft oder Logik.   ***   Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und ich hatte wunderbar geschlafen. Ich fragte mich, wie es wohl Elvis ging, nachdem dieser gestern triefnass vom Regen im Flur umgekippt war und vor Fieber förmlich in Flammen stand. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen, stand auf und ahnte nichts Böses. Alles war cool, bis ich mein Handy anmachte. Und alles änderte sich. Schon wieder hatte ich vergessen, meinen Wecker zu stellen. Ich würde es nicht mehr schaffen, pünktlich zu sein. Genervt schaltete ich es wieder auf Stand-by, ließ es im Bett zurück und verließ den Raum. Ich hoffte, dass zumindest Elvis es geschafft hatte, pünktlich aus den Federn zu kommen, als ich die Tür zu seinem Zimmer öffnete und mich bestätigt fühlte. Das hielt nur wenige Sekunden, ehe ich merkte, dass er seine Schuluniform auf dem Stuhl zurückgelassen hatte. Ich dachte nach.   Uniformfreier Tag? Neee...   Nackt-in-die-Schule-geh-Tag? Neee...   Also dachte ich weiter scharf über diese komische Begebenheit nach und trat derweil näher an sein Bett. Ich strich über seine Mattratze und dachte noch schärfer nach. Die Mattratze war kalt. Ich schärfte meine Sinne und versuche, die Sätze in meinem Kopf sinnvoll zu beenden. Nicht so warm wie eine, die man erst vor Kurzem verlassen hatte. Doch so scharf waren meine Sinne dann doch nicht und ich beschloss, dass meine in etwa zehn Minuten plus minus vielleicht genauso kalt sein würde. Aber dann viel mein Blick auf die Keramikscherben auf dem Boden, in welche ich fast getreten wäre. Die Uniform auf dem Stuhl, das zertrümmerte Sparschwein und das Gefühl, etwas Furchtbarem auf die Schliche gekommen zu sein, das alles lässt mich Schlimmstes erahnen.    Elvis ist abgehauen. Und das vor mehreren Stunden.    In dem Moment, in dem die Worte Elvis und Abgehauen meinen Kopf überschwemmten, hörte ich es an der Tür klingeln. Schnell rannte ich raus aus dem Zimmer und öffnete, egal, ob es sich dabei um Chika-chan, den Postboten oder einen Auftragsmörder handeln sollte. Ich war viel zu sehr durch den Wind als dass ich hätte nachdenken können.   Vor meinem Antlitz erschien tatsächlich Chika-chan.   "Onii-sama, guten Mo-",   "Elvis ist weg! Chika-chan, ich weiß nicht, wo er stecken könnte!", fiel ich ihr, ohne es zu wollen, ins Wort und ihre goldenen Augen weiteten sich.   "Ellie ist... Ellie...", stammelt Chika-chan, doch ehe ich ihr noch irgendetwas anderes wie zum Beispiel "Guten Morgen übrigens" hätte hinterherwerfen können, war sie auch schon weg.   Ich blieb allein zurück und fragte mich, ob ich die Polizei rufen sollte oder nicht. Es musste nichts Schlimmes passieren. Es konnte aber Schlimmes passieren. Wie hoch standen die Chancen, dass eins davon tatsächlich so passiert war? Wo um alles in der Welt war Chika-chan nur hingerannt? Hilfe holen? Etwas zu essen? Ich wusste nicht, wie lange ich so tatenlos herumstand und mit mir selbst kämpfte, doch als es erneut an der Tür klingelte, war Chika-chan schweren Atems zurückgekehrt und hatte ein Mädchen mitgebracht, welches genauso heftig nach Luft schnappte und selbst dabei einfach wunderschön anzusehen war. Ich trat zur Seite, damit beide die Wohnung betreten und verschnaufen konnten. Ich wusste nicht, worin die Daseinsberechtigung der anderen lag und wir nicht schon längst die Polizei verständigt hatten, doch wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich doch das Gefühl, dass von der Sekunde, in der die beiden einen Fuß hier rein gesetzt hatten, sich alles nur noch zum Besseren wenden konnte. Ob es nun wollte oder nicht.   Die beiden Mädchen und ich fanden uns im Wohnzimmer zusammen, um weiterzudenken. Chika fand ebenfalls ihren Atem wieder und sah mich an.   "Onii-sama, das ist Hanako Hanazawa-chan aus unserer Klasse. Ich habe sie zur Verstärkung hergebracht, falls wir welche brauchen. Mentale Unterstützung, heißt das ja. Ich weiß nicht genau, wie man sie als Verstärkung in so einer Situation gebrauchen kann, aber ich wollte sie dabeihaben, wenn wir Ellie zurückhaben. Tut mir leid, dass ich einfach weggerannt bin.",   "Ach, nicht doch.", kam es von meiner Seite. "Alles in Butter, je mehr kluge Köpfe, desto besser.", lachte ich, auch wenn ich nicht wirklich einen Grund dazu hatte.   "Bei der Versammlung wäre das eher nur einer.", hörte ich die Blonde murmeln. Ich räusperte mich extra laut, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.​   Die Kleine bemerkte es und sah mich unschuldig an. Wäre dieser Blick nicht so süß gewesen, hätte ich ihr gesagt, dass es sehr wohl drei kluge Köpfe waren, die hier versammelt sind. Oder auch nur zwei, sollte sie sich als dümmer rausstellen als sie zugab.    Stille.   "Ich werde die Polizei rufen.", beschloss ich nach wenigen Sekunden des Nichtstuns. Doch ehe ich es schaffe, nach dem Wandtelefon zu greifen oder mein Handy aus meinem Zimmer zu holen, ertönt plötzlich mein Klingelton aus dem Blauen heraus.    "Welcher Pisser ruft mich in so einer Situation an, verdammt?", fluchte ich, entschuldigte mich kurz und näherte mich der Geräuschquelle auf meinem Bett.   Als ich mein Handy aufhob, stellte sich raus, dass der besagte Pisser niemand Geringeres war als mein eigener Vater. Verwirrt, wieso er mich anrief, ging ich ran und sagte mein generisches Telefon-Hallo.   "Hallo, Taiyo. Ich kann mir vorstellen, dass das gerade ein ganz mieses Timing ist, aber es ist wichtig. Bist du in der Uni?",   "Nein, verdammt, ich bin zu Hause und schiebe Panik!", platzte es mir raus und ich war fast sauer auf ihn, dass er so gelassen war.   "Alles klar, also... was Elvis angeht. Er ist bei uns und es geht ihm gut."   Bitte was hat er gerade gesagt?   "Ähm... Papa, was hast du gerade gesagt? Ich glaube, da war eben ein ganz komisches Rauschen in der Leitung.",   "Elvis geht es gut. Er ist bei uns in Akutenkozaka.", sagte er nochmal extra langsam.   "Was-",   "Ich glaube, es wäre dir besser, wenn er dir das alles selbst erzählt. Das war es auch schon, mach dir keine Sorgen. Bis irgendwann mal, hab dich lieb.", dann piepte es.   "Ey, du kannst mich nicht einfach so wegdrück-... Alter, was stimmt nicht mit dem?!", seufzte ich. Manchmal ging mir die Kurzatmigkeit meines Vaters wirklich auf den Sack. Legte einfach auf und ließ mich schmoren, also echt.   Völlig platt stapfte ich zurück ins Wohnzimmer und hoffte, keiner der Mädchen hätte die Polizei an meiner Stelle gerufen. Bereit, ein paar verwirrte Blicke zu ernten, wollte ich gerade von der Neuigkeit erzählen, da hörte ich Chika-chan und die Kleine reden.   "Was ich eigentlich damit sagen will, Hanazawa-chan, ich habe dich geholt, weil ich dich hier haben will. Ich dachte, wenn es jemanden gibt, auf den ich mich jetzt verlassen kann, dann sind das Onii-sama und Hanazawa-chan. Auch wenn es keinen Sinn ergibt, ich musste dir von Ellies Verschwinden und allem erzählen, ich musste einfach. Ich habe dich... gebraucht.", teilte Chika-chan der Kleinen den Stand der Dinge mit, welche daraufhin etwas errötete.   "Du... brauchst mich wirklich?", stammelte sie ganz leise und hielt sich nahezu sofort den Mund zu, kaum waren die Worte gesprochen.   "Ja.", flüsterte Chika-chan etwas zögerlich. "Ich brauche dich, Hanazawa-chan. Tut mir leid, dass ich dich so selbstsüchtig herbestellt habe."   "Selbstsüchtig oder nicht, ich freue mich trotzdem. Danke, Chika-sama.", das kleine Mädchen wagte gar nicht mehr, sie richtig anzusehen.   In Chika-chans Augen flackerten Schuldgefühle und Mitleid. Meine Augen derweil blieben an denen der Kleinen hängen. Ich kenne diesen Blick., dachte ich, ehe ich mir überlegte, wie ich helfen könnte. Das alles hatte nichts mit mir zu tun und ich hätte einfach dazwischenfunken können, so wie ich ursprünglich dazwischenfunken wollte. Aber irgendwie wäre das... langweilig gewesen. Diese Konstellation der drei, bestehend aus meinem Bruder, Chika-chan und der Kleinen, die... interessierte mich brennend. Nein, wirklich, es war spannend, auch wenn es das eigentlich nicht sollte.   "Wir müssen Ich posierte in der Russenhocke vor dem Couchtisch und beobachtete Elvis' Freundin beim Schlafen. Irgendwie habe ich dafür einen kleinen Fetisch, Leute beim Schlafen anzustarren, meine ich. Mir fiel beim genaueren Betrachten dieses Mädchens auf wie hübsch sie war. Ein wenig gebräunt, moosgrünes Haar und Brüste. Mein Bruder schien das große Los bei der gezogen zu haben. Aber was wusste ich schon von Frauen? Ich hatte in meinem leben schließlich sage und schreibe eine einzige Freundin, die mich abserviert hatte, weil es jemanden gab, der weniger fett und hässlich war als ich. Davon wurde ich depressiv. Nun, ich hatte es ganz gut weggesteckt. Und ich hatte mich inzwischen so ziemlich darauf eingestellt lebenslänglich single zu bleiben, um dem gleichen Schmerz nicht schon wieder ausgesetzt zu sein. Doch nur, weil ich schlechte Erfahrung mit Beziehungen hatte, gab es mir noch lange nicht das Recht, meinem Bruder die Freundin auszuspannen, auch wenn es mir mein neues Erscheinungsbild, welches ich mir dank Hide aneignen konnte, möglich machte. Ich war doch trotz allem kein Arschloch. Nun, zumindest, seit ein paar Jahren. Ich hatte schon einmal Elvis bewusstlos geschlagen und mich dann verzogen. Ich hatte mich bis heute nicht entschuldigt. Aber auch nur, weil er es nicht mehr wusste. Als meine Gedanken weiter abschweiften, sah ich zu der Kleinen hoch, die neben der Couch stand und ebenfalls die Grünhaarige inspizierte. Sie schien meinen Blick nicht zu bemerken. Ich musterte sie etwas. Sie war recht klein, ihr blondes seidiges Haar reichte ihr bis zu den Waden, sie war ziemlich schlank und flachbrüstig. Wie ein Dating Sim-Charakter. Mein Bruder lebte wirklich in einer Parallelwelt. Und ich war verdammt noch mal neidisch auf ihn. Wann bekam ein Mann jemals die Chance, von so hübschen Mädchen, die fast nicht mehr real erschienen, umringt zu sein? Doch ich bemerkte noch etwas anderes an ihr. Dieses Glänzen in ihren dunkelbraunen Augen. Ich kannte diesen Blick. Er galt dem Mädchen, das vor sich hin schlummerte. Und er zeigte Sehnsucht. Und zwar die von der schmerzhaften Sorte.   "Bist du eine Freundin von ihr?", fragte ich einfach so und sah sie an. Sie brauchte einen Moment, um mir ins Gesicht zu sehen und zu antworten.   "J-ja... Gewissermaßen. Aber eher bin ich eine Klassenkameradin. Wir kennen uns noch nicht lange.", dann herrschte wieder langes Schweigen zwischen uns.   "Und, wie sieht deine Beziehung zu meinem Bruder aus? Ich glaube ja kaum, dass er zweigleisig fährt.", fantasiere ich laut.   "Ich bin immer noch eine Klassenkameradin. Mach dir um mich keine Sorgen.", diesmal klang ihre Stimme kälter.   "Tut mir leid, wenn ich nerve.", entschuldigte ich mich.   "Es wäre unhöflich, dir zu sagen, dass du wirklich nervst.", teilte sie mir unverblümt mit. Autsch.   "Hast du gerade, Kleine.", feuerte ich zurück und gab mir Mühe, nicht ganz so gereizt zu klingen. Die hatte ganz schön Nerven, die Kleine.   "Hab ich das?", stellte sie sich blöd. Dann verging wieder ein wenig Zeit. Und sie starrte wieder. Der Blick blieb der gleiche.   "Liebesdreieck?", wollte ich wissen und erahnte, dass von ihrer Seite aus nicht Elvis in der Mitte dieses Dreiecks stand. Sie schreckte auf.   "Ich wüsste nicht, wieso ich dir das sagen sollte.", wich sie aus und gab mir so das Gefühl, ins Schwarze getroffen zu haben.   "Also doch. Ist doch nichts dabei. Echt nicht. Außerdem kann ich mit der Info eh so viel anfangen wie unser Unratütox mit Seife.", scherzte ich, in der Hoffnung, sie zum Lachen zu bringen. Das tat sie aber nicht.   "Stehst wohl darauf, kleine verkorkste Mädchen wie mich durch den Kakao zu ziehen, was? Ist ja ganz witzig. An deinem Bruder habe ich kein Interesse, danke der Nachfrage. Aber jemand wie du ist sowieso zu oberflächlich, um das zu verstehen.",   "Okay, jetzt mach mal halblang.", ich erhob mich von meiner Russenhocke.   "Ich bin vieles aber nicht oberflächlich. Dass du nicht auf Männer stehst, habe ich mir bei dem Tonfall ja eigentlich schon denken können, aber halt mal besser den Ball flach.", okay, ihm Nachhinein finde ich das selbst ein wenig zu krass.   "Wieso sollte ich ausgerechnet vor dir den Ball flachhalten, huh? Es ist ja nicht so, als hätte ich Angst vor dir, Kyokei-kuns Bruder oder was auch immer. Unterschätz mich besser nicht, Student. Es gibt genug Leute, die meinetwegen ein paar Zähne zu wenig ha-", sie brach ab und starrte zu Boden. Jetzt musste ich wohl handeln.   "Ey, ähm... also, im Übrigen heiße ich nicht Kyokei-kuns Bruder sondern Taiyo. Und zweitens, tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe, das... war vielleicht eine Spur zu heftig.", versuchte ich, mich zu entschuldigen und platzierte vorsichtig meine Hand auf ihren Kopf, um sie zu trösten. Komischerweise verkloppte sie mich dafür nicht. "Ist das eine Falle, Kleines? Wenn, halte ich mich nicht zurück.", ging ich doch noch Nummer sicher.   "Hanazawa. Hanazawa Hanako heiße ich. Ich kenne diese Masche. Es sind immer die Lauten, die was verstecken. Du bist enttarnt, auch wenn ich nicht weiß, was du zu erzählen hast. Sollte ich besser auch nicht.", die war ja wie ausgewechselt. Da staunte ich nicht schlecht.   "Willst du, dass ich es dir sage?", forderte ich sie heraus, zu was auch immer.   "Ein andermal, Taiyo-kun. Ein andermal."   ***   "Hanako-chan, also ich...", das muss jetzt sein, ich muss das Richtige tun. "Ich will nur sagen, dass mir das alles wirklich, wirklich leidtut. Ich hätte nicht... nicht einfach über dich herfallen sollen. Mir nicht anmaßen, dich einfach so zu küssen oder dich zu berühren. Ich weiß, dass ich zu weit gegangen bin. Ich weiß, dass du jemand anderen magst, nicht mich. Ich weiß, dass es nicht hätte passieren sollen. Schließlich... sind wir das. Ich bin fast dreiundzwanzig und mit der Uni fertig, während du, siebzehn, noch die Oberschule besuchst. Es war auf allen Ebenen nicht richtig. Deshalb wäre es besser, von jetzt an-",   "Spar dir das!", unterbricht sie mich harsch. Bitte was?!   "Echt mal, was soll das eigentlich? Bist du blöd oder so? Wofür entschuldigst du dich bitte? Was ist falsch daran, zu dem zu stehen, was man fühlt und begehrt?! Ich dachte, gerade in der Hinsicht verstehen wir einander! Natürlich war ich überrascht, als du mich geküsst hast. Wie hätte ich das denn auch nicht sein können, wenn du so unverständlich mit mir sprichst? Dass wir zu weit gegangen sind, weiß ich doch! Wie alt wir jeweils sind, wo wir beide jeweils im Leben stehen, das war uns doch beiden schon von Anfang an klar! Mir ist auch klar, worauf du eigentlich hinaus willst. Aber ist es wirklich das, was du willst?!", fuck, ist die sauer!   "Zufälligerweise ist es genau das, was ich will! Das ist der einzige Grund, warum wir beide hier sind!", schnauze ich sie an und klinge verzweifelter als beabsichtigt.   "Lügner!", schnauzt sie zurück und funkelt mich erzürnt an. "Du bist so ein Lügner! Wie verlogen kann eine Person denn eigentlich sein?! Ich rieche es doch fast! Du willst es doch nur allen recht machen, weil es bequem ist! Du hast doch einfach nur Angst! Weißt du eigentlich, wie demütigend das für mich ist, wenn du so auf mich herabschaust?!",   "Weißt du eigentlich, wie demütigend das für mich ist?!", keife ich.   "Nein! Das kann ich auch nicht! Ich verstehe dich nicht! Aber trotzdem bin ich doch nicht blöd! Ich weiß doch schließlich, dass du mich magst! Sehr sogar! Ich weiß doch, dass du so was von abartig hart in mich verliebt bist!", faucht sie und sie klingt, als würde sie vor Rage gleich weinen.   Stille. Endpeinliche Stille.   Darauf kann ich nichts erwidern. Absolut nichts. Ich traue mich nicht, ihr ein weiteres Mal ins Gesicht zu lügen. Ich traue mich aber auch nicht, ihr zu sagen, dass sie so was von ins Schwarze getroffen hat und ich zu stolz bin, mir einzugestehen, dass ich mich in sie verliebt habe. Beide sagen wir gar nichts. Weder Hanako-chan noch ich haben die Kraft weiter zu streiten.   "Aber Taiyo-kun, warum sagst du denn nichts?", flüstert sie.   "Was soll ich denn sagen?",   "Irgendwas. Irgendwie.", ich sage wieder nichts.   "Schlappschwanz.",   Stille. Noch peinlichere Stimme.   "Selber Schlappschwanz.",   "Ich habe keinen Schwanz.",   "Dann halt Schlapparsch.",   "Hey, mein Hintern ist gut so, wie er ist.",   "Das Gleiche gilt für meinen Schwanz.",   "Was auch immer, jetzt sag endlich was, oder ich sage etwas Komisches.",   "Tu's doch. Nichts ist komischer als diese komische Unterhaltung über Schwänze.",   Als es schon wieder anfängt, peinlich still zu werden, denke ich schnell nach, ehe sie wieder verfliegt. Sollte ich ihr wirklich diesen Sieg gönnen? Bin ich nicht, so oder so, egal wie die Sache hier ausgeht, ein Schlappschwanz? Denk nach, denk nach! Okay, entspann dich, Taiyo, entschärfe diese Situation geregelt und klug...   "Wenn du nicht genau sagst, was und warum es so war, wie es war, dann siehst du aus wie ein elendiger Lustmolch, der Röcken minderjähriger Mädchen hinterherstarrt.", grinst sie und schaut mich an wie der letzte Schelm aus Absurdistan.   "A-a-aber so ist das doch überhaupt nicht! Und außerdem hast du den Kuss doch wohl so was von erwidert!", stammle ich völlig entsetzt über dieses verrückten Mädchen.   "Wie bitte? Du versuchst, dich rauszureden? Ich meine mich genau daran zu erinnern, wie du sagtest "Nimm doch mich." und daraufhin meine Brüste angefasst hast.", dieses Grinsen wird immer breiter und so auch mein Entsetzen.   "Oh mein Gott, nein!", jaule ich auf und fühle mich ihr völlig ausgeliefert.   "Oh mein Gott, doch! Du bist ein kleiner Lustmolch, den das so was von angemacht hat, als wir fast Sex vor dem Klohäuschen hatten. Wo es regnete, meine Uniform feucht war und du dich nicht bremsen konntest!", die ist doch irre!   "Das darfst du niemals, wirklich niemals auch nur irgendwem erzählen! Ich wäre eine Enttäuschung für meine ganze Familie!", heule ich auf und kann gar nicht mehr.   "Hat nicht schon dein Bruder alles gesehen, du kleiner Lustmolch?", dieser kleine blonde Dämon!   "Schnauze! Schnauze, Schnauze und nochmals, halt die Schnauze! Du hast gewonnen, okay? Ja, ich bin der kleine Lustmolch, von dem du da sprichst, okay? Es stimmt, ich fand es schön im Regen. Dich zu küssen hab ich insgeheim echt genossen. Aber nicht, weil ich ein irgendein Perverser bin, der es nur darauf angesehen hat, in dir abzuspritzen, sondern weil ich dich wirklich aufrichtig gernhabe!", Hanako-chans Augen weiten sich. Dann lacht sie.   "Was... was ist denn jetzt wieder so lustig?", brumme ich beschämt.   "Ach nichts, gar nichts, Taiyon-kun.", Hanako-chan lächelt süß. "Du hast nur endlich das, gesagt, von dem ich die ganze Zeit wollte, dass du es mir sagst. Irgendwie... wollte ich einfach, dass du ehrlich bist, anstatt auf Krampf die Rolle des Erwachsenen einzunehmen, die dir, mal ganz unter uns, wirklich überhaupt nicht steht."   "Okay, jetzt bin ich beleidigt.",   Schon wieder an diesem Nachmittag wird es peinlich still. Ernsthaft, wie oft denn noch? Aber diese Stille ist anders. Wir sehen uns einfach nur an. Und glaub mir, es ist genauso kitschig wie es sich anhört, wenn ich sage, dass wir im nächsten Moment von der einen auf die andere Sekunde wieder auf den Lippen des jeweils anderen liegen. Schleichend lege ich die Arme um ihren Körper und drücke sie derweil fest an mich. Ich spüre auch Hanako-chans Arme um meinen. Als wir uns wieder vorsichtig voneinander lösen, fahre ich ihr über die Haare.    "Im Ernst, verrat das bloß keinem.", hauche ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.   "Ich verrat das keinem.", flüstere ich. "Vorerst.",   "Du kleines, mieses Biest.", Hanako-chan grinst.   Sie setzt sich wieder gerade hin und lehnt an meiner Schulter.   "Schönes Wohnzimmer habt ihr da.", meint sie einfach aus dem Nichts.   "Ähm... danke.", entgegne ich daraufhin. Im Hintergrund tickt die Uhr und der Regen prasselt draußen auf das Dach. Was Elvis wohl gerade macht? Ich hoffe, er wird nicht wieder krank. Wenn man bedenkt, dass ich theoretisch nur seinetwegen hier mit diesem Mädchen auf unserer Couch sitze, dann verdient er im Gegenzug Gesundheit.   "Und du bist sicher, dass du mich magst?", fragt sie mich, obwohl sie die Wahrheit doch eigentlich schon kennt.   "Ich mag dich.",   "Romantisch?",   "Bingo.",   "Sexuell?",   "Das erfährst du, wenn du achtzehn bist.",   "Cool, cool. Ich denke, dass ist ausreichend.",   "Ausreichend wofür?", das verstehe ich jetzt echt nicht so ganz.   "Wie wäre es, wenn du mich nicht mehr Hanako-chan und ich dich nicht mehr Taiyo-kun nenne? Einfach nur die nackten Vornamen.",   "Und wozu genau? Ich meine, nicht dass ich etwas dagegen hätte...",   "Vom heutigen Tag an gebe ich dir die Erlaubnis, mit mir auszugehen.",   Warte, was?! Jetzt, echt?! Hat sie das... hat sie das jetzt wirklich gesagt?! Hat sie mich gerade wirklich einfach so ohne Weiteres abgeschleppt?!   "Wie bitte... was?!", kommt es mir überrumpelt über die Lippen.   "Willst du doch nicht?",   "Das ist keine Frage des Wollens! Hast du eigentlich irgendwas von dem, was ich gesagt habe, verstanden! Dieser ganze Tag war praktisch ein Verkehrsunfall!",   "Wie auch immer, ich geh nach Hause.", meint sie, steht auf und grinst mich über die Schulter hinweg an. "Ich muss dann langsam nach Hause. Bis dann, Taiyo.", verabschiedet sie sich und verschwindet im Badezimmer, wo ihre Uniform im Trockner bestimmt auch schon anziehbereit auf sie wartet.   Es dauert nicht lange, da spaziert sie mit denselben Sachen raus, mit denen sie die Wohnung betreten hat.    "Kann ich den Schirm da ausleihen?", will sie wissen und zeigt darauf.    "Klar!", antworte ich schnell. Hanako grinst, zieht ihre Schuhe an und greift danach. Wenige Sekunden später fällt die Tür hinter ihr ins Schloss.   Mein Blick fällt auf die Pizza, die wir letzten Endes überhaupt nicht angerührt haben.    "Die hab ich ja völlig vergessen.", murmle ich und schiebe mir ein Stück davon in den Mund.   Den ersten Bissen runtergeschluckt, seufze ich. Wie bin ich da nur wieder hineingeraten? Ich beiße ein zweites Mal ab. Ich weiß, dass ich nicht alles alleine essen und den Rest für Elvis übriglassen werde. Echt belastend, wie schnell ich von diesem und jenem immer zunehme.   "Na, schmeckt's?", höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir und fahre zusammen. Als ich mich umdrehe steht hinter meinem Rücken Elvis.   "Alter, nicht cool!", zische ich erschrocken und verschnaufe.   "Wie gut, zu sehen, dass Hanako wohlauf ist.", lässt er mich wissen und greift sich ein Stück Pizza.   "Wo warst du überhaupt?", fällt mir ein, dass ich das gar nicht weiß.   "Um ehrlich zu sein, ich habe neben der Tür gesessen und darauf gewartet, dass sie rauskommt. Ich glaube, das kam nur so mittelmäßig gut an.", ich verschlucke mich an meinem Pizzastück vor Lachen.   "Du bist unmöglich!", schnaube ich.   Elvis schluckt den Rest vom Käserand runter und geht ins Bad, ohne mir weiter Beachtung zu schenken. Wie das alles wohl aus seiner Perspektive ausgesehen hat? Werde ich wohl nie erfahren. Auch okay, mit meiner Version der Dinge bin ich absolut zufrieden. Ich meine, ich sitze mit einer Pizza auf der Couch. Und habe mit einem ziemlich süßen Mädchen rumgemacht. Ich habe... mit einem ziemlich süßen Mädchen rumgemacht, das... in die Klasse meines Bruders geht. Meines minderjährigen Bruders. Sekunde... Wie bescheuert bin ich denn eigentlich?! Was habe ich mir dabei gedacht? Warum dachte ich auch nur im Entferntesten, dass das mit uns eine gute Idee ist?!   "Ich bin ja mal so was von abartig.", piepse ich und vergrabe mein Gesicht in meiner Hand.   Ich muss das irgendwie in Ordnung bringen. Dieses Mädchen ist vielleicht nicht blöd, aber es hat keine Ahnung, worauf es sich da einlässt. Das kann nicht klappen, das sollte es nicht. Da wäre sogar Yuki die bessere Wahl. Aber die geht mit Hide und ich mag Hide. Nein, so was mache ich nicht. Nein, einfach nein. Aber was soll ich dann machen? Es wäre besser, über dieses Mädchen hinwegzukommen. Es wird schwer, das alles abzuschütteln, aber es ist nicht unmöglich. Auch wenn mein Herz dabei bricht, sie gehen zu lassen, tue ich schlussendlich das Richtige. Auch wenn sie vom dem "Ich bin erwachsen und du bist es nicht"-Gefasel nichts hören will, im Grunde habe ich doch immer noch recht. Also tue ich das, was Erwachsene in so einer verzwickten Lage wie dieser tun würden. Ich lösche ihre Nummer, unterdrücke meine Gefühle und suche mir eine Freundin, mit der ich in die Kiste steigen könnte, ohne verhaftet zu werden! Mann, ich bin so ein Genie, ich sollte einen Preis bekommen!   "Eins zu null für Fettbacke.", seufze ich wenig begeistert und schlucke den Rest Pizza runter, obwohl die von der bitteren Realität, der ich ins Gesicht sehen muss, wirklich überhaupt nicht mehr schmeckt. Kapitel 25: Vol. 1 - "Tomodachi" Arc: Über das, was ich nie auszusprechen vermochte. ------------------------------------------------------------------------------------ Akira: Ich versuche, so leise wie möglich die letzten Tropfen Erdbeermilch durch den Strohhalm zu ziehen. "Akira-chan, hey, Akira-chan!", Ich frage mich, wie alt dieser wohl Tisch ist. "Akira-chan, die radioaktiven Enten sind da. Wir müssen alle evakuiert werden!", Alle Hunde sind Tiere, aber nicht alle Tiere sind Hunde. "Akira-chan, zwing mich nicht, Dinge zu tun, die ich nicht tun will.", Warum suchen wir nach dem Sinn des Lebens? "Akira-chan, du wolltest es so.", Shuichiro haut mir volle Kanne ein Buch auf den Kopf. Ich stöhne auf vor Schmerz und sehe nach oben.   "Alter, was soll die Scheiße?! Merkst du nicht, dass ich gerade eine Existenzkriese durchleide?!", schnauze ich und ruhe meinen Kopf wieder auf meinen Armen aus.   "Mann, Akira-chan, so mies wird deine Arbeit ja wohl nicht gewesen sein. Und selbst wenn, was ist dabei?", versucht er, irgendwie auf mich einzureden.   "Ich war sonst immer die glorreiche Neunundsechzig. Ich meine, es hat sonst immer funktioniert, aber guck dir das mal an! Zwanzig, Alter, zwanzig. Dabei habe ich doch versucht, in jeder Arbeit die gleiche Punktzahl zu erzielen. Das ganze Jahr über. Die glorreiche Neunundsechzig. Und jetzt so was. Das ist so... unbefriedigend!", beschwere ich mich und höre das große Elend in meiner Stimme.   "Würdest du nicht die Nacht davor erst anfangen zu lernen, hättest du dieses Problem jetzt nicht.", meint Kaishi und streift mit der Hand meine Schulter.   "Ach, lass mich doch. Das hat immer irgendwie gezogen.", seufze ich und schließe die Augen.   Wir sind fast allein, weil alle so langsam gehen. Die Katsuoka hat nicht einmal versucht, mich aufzumuntern. Scheint es ja fast schon eilig gehabt zu haben. Aber was soll's. Ich habe ja noch meine Freunde, die diesen Job übernehmen können.   "Kyokei-san, sag doch auch mal was.", ermutigt ihn Kaishi.   "Was soll ich jetzt machen? Ist das nicht seine eigene Schuld?", autsch.   "Aber das sagt man nicht. Und ich glaube, er weiß das.", entgegnet er.   "Okay. Dann helfe ich mal nach.", beschließt er leise.   Ich höre seine Schritte hinter meinem Rücken. Was er jetzt wohl vorhat? Ich erschrecke leicht, als ich spüre, wie seine Hand zärtlich durch meine Haare fährt. Aufhören! So schön sich das auch anfühlt, das ist verfickt seltsam! Und ich schreie erneut an diesem Nachmittag auf, als er sie plötzlich krallt und so meinen Kopf gewaltsam in die Höhe reißt. Aber das fühlt ganz und gar nicht schön an!   "Hast du den Arsch offen?! Das tut verfickt weh!", knirsche ich und drehe mich zu ihm um.   "Komisch, ich dachte, es könnte die Gehirnzellen anregen, wenn man nur fest genug an den Haaren zieht.",   "So funktioniert das nicht!"   "Ach, ihr beiden. Yin und Yang, die Netflix-Adaption.", lacht Kaishi.   "Neflix-Adaption?", kommt es von Kyocchis Seite und er klingt leicht überfordert dabei.   Yin und Yang. Licht und Schatten. Hitze und Kälte. Alle möglichen Gegensätze, die es gibt. Das Gute im Schlechten, das Schlechte im Guten. Irgendwo wird er da wohl recht haben. Schlaumeier.   "Sag mal, Kyokei-chan, wo ist eigentlich Failman-chan?", will Shuichiro aus dem Nichts wissen. Stimmt, Failman gibt's ja auch noch.   "Chika wollte mit ein wollte mit ein paar Klassenkameradinnen irgendwie einen drauf machen. Auch... wenn sie mehr oder weniger dazu gezwungen wurde, glaub ich. Deshalb ist sie ohne mich los.",   "Tatsache? Das freut mich aber für sie.", lässt uns Kaishi wissen. "Ich hatte ehrlich gesagt etwas Angst, dass Kyokei-san vielleicht doch ihre einzig wahre Bezugsperson ist. Dass sie auch aus sich rauskommen kann, beruhigt mich schon ein wenig.", aber nicht viele Sekunden später bereut er seine Worte, als er Kyokei-san an den Schultern packt und aufgeregt ergänzt:   "A-aber das soll auf keinen Fall heißen, dass du dich schlecht um sie sorgst oder ihr zwei irgendwelche Probleme habt, auf keinen Fall! Dass sie so an dir hängt ist schließlich was Gutes! Also, ähm, ich hoffe, du verstehst, was ich gemeint habe... Oh Mann.",   "Ich verstehe viel weniger, warum du dich so aufregst. Passt doch alles.", daraufhin lässt Kaishi von ihm ab und lacht.   "Ach, dann ist ja alles klar. Und ich dachte schon, das käme irgendwie komisch rüber.", er fährt sich belustigt durch die Haare und sieht mich an.   "Was ist mit dir, Egaoshita-san? Geht's dir wieder besser?", fragt er mich.   "Ach, weißt du, ich glaub, ich will ins Arcade und ein paar Zivilisten abschießen. Ist das besser?", Kaishi hebt erst eine Augenbraue, versteht dann aber doch und formt ein stummes "Ach so."   "Ich würde liebend gerne dabei sein, wenn du unschuldigen Menschen zeigst, welche Religion im Bezug auf Leben danach recht hatte, aber... ich habe Hausarrest.", bitte was?!   "Warum ausgerechnet du?", versteht Kyocchi nicht ganz, wobei er nicht der Einzige ist.   "Sagen wir mal so, ich habe aus Versehen - wie sage ich das jetzt schön? - einen Geschäftspartner meines Vaters... - wie sage ich das jetzt schön? - vergiftet."   "Du hast was?!", entfährt es mir und meine Stimme überschlägt sich.   "Der Idiot hat gestern mit uns zu Abend gegessen. So ein richtig schmieriger Kerl war das. Alles an ihm war einfach... eklig. Mein Vater schien ihm blind vertraut zu haben, obwohl ich fast riechen konnte, dass der absolut nicht... vertrauenswürdig war. Weißt du, was er gesagt hat? 'Freut mich überaus, Kazukawa-san, mit meiner Hilfe wird schon bald nichts mehr wie vorher sein.' Wie klingt das denn bitte?! Ich war mir so sicher, dass der ihn ruiniert hätte. Also habe ich, als der anständige Erbe seines Labors, der ich bin, Kaffee angeboten, mir die Tasse von dem Kerl vorgenommen und... ein kleines bisschen verdorbenes... Eiweißpulver reingetan.",   "Das tötet Menschen!", erinnere ich ihn fassungslos. Warte mal, kann man Menschen denn wirklich mit vergammeltem Eiweißpulver töten?   "Ich wollte doch nur helfen!", verteidigt er sich. "Wie auch immer, der Kerl hat's geschluckt. Und... meine Mutter vollgekotzt. Am Ende hat sich rausgestellt, dass der schmierige Typ immer so redet! Woher hätte ich wissen sollen, dass es Leute gibt, die von Natur aus wie die letzten Psychopathen klingen? Das war so was von eine Falle! Aber egal, mein Vater war stinksauer deswegen. Und deshalb sollte ich eigentlich schon zu Hause sein.",   "Krass, Alter.", hauche ich. "Das sieht dir wirklich gar nicht ähnlich.",   "Vieles sah mir an diesem Abend nicht ähnlich, mein Guter. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe mich zu schämen.", sind seine letzten Worte, ehe er auf dem Absatz kehrt macht und dabei ist, den Raum zu verlassen.   "W-warte, Kaishi-chan, du kannst mich doch nicht einfach so links liegen lassen! Hey, wir haben immer noch den gleichen Heimweg!", ruft ihn Shuichiro hinterher, während er die Verfolgung aufnimmt und uns beide genauso links liegen lässt wie Kaishi ihn.   "Und weg ist er.", kommentiert Kyocchi lustlos.   "So kennen wir unser Küken schließlich.", grinse ich.   Kaishi und Shuichiro sind beste Freunde, so wie Kyocchi und ich. Shuichiro hat den Hang dazu, sich von ihm etwas zu schnell vernachlässigt zu fühlen, weswegen er ihm auch dann noch folgt, wenn der Rest es nicht tut. Einmal habe ich im Scherz behauptet, dass die beiden ein Paar sind, aber dann hat Kaishi mich gehauen und Shuichiro ist fast an den Chips erstickt, seitdem mache ich solche Witze nicht. Mehr. In ihrer Anwesenheit. Ich schätze, Kindheitsfreunde sind immer anders als Leute, die erst an der Oberschule Freunde werden. Ich schätze, es ist dieser Unterschied, der die Auseinandersetzungen der Gang so spannend macht.   "Willst du immer noch auf Zivilisten schießen oder schlafen wir heute hier?", reißt mich Kyocchi aus den Gedanken und ich fahre rum. Er schaut mich an. Und wie er mich anschaut.   "A-aber klar. Lass uns gehen, Kyocchi.", Kyocchi nickt und ich gehe an ihm vorbei. So ist das immer, ich laufe, er folgt. So war es und so ist es auch jetzt.    ***   Als es anfängt, draußen dunkel zu werden, treten wir aus dem Arcade ins Freie. Es hat Spaß gemacht, mit ihm zu zocken. Es ist ein angenehmer Abend. Ein cooles Ende zu einem noch cooleren Nachmittag.   "Akira.", sagt er aus dem Nichts meinen Namen.   "Ähm, ja, was denn?", frage ich eine Spur zu sehr durch den Wind.   "Ich möchte noch zum Supermarkt. Musst du da vielleicht auch noch hin oder hast du alles?",   "Ich glaube nicht, nein. Also, ich meine, ich habe nicht alles. Können da ja noch hin, wenn du willst, Kyocchi.", er nickt. Es ist immer dieses Nicken, das mir das Gefühl gibt, nicht auf ganzer Linie zu versagen.   *** Egal, wie oft du mir sagst, dass ich ein Idiot bin, dein Leichtsinn verrät, dass du genauso idiotisch bist. , solche Gedanken sind es, die ich denke, wenn ich daran denke, in was für eine Situation ich da schon wieder reingeraten bin.   "Hey, vielleicht hat Kaishi ja recht und ich sollte mich mehr anstrengen.", habe ich einfach so laut gesagt.   "Wäre vielleicht besser.", meinte er daraufhin.   "Wie gut hast du eigentlich abgeschnitten?", wollte ich wissen.   "Vierundneunzig.", nannte er mir seine Punktzahl. Gut genug.   "Hey, Kyocchi, wir sind doch so gute Freunde-",   "Lass mich raten, du willst meine Hausaufgaben abschreiben.",   "Quatsch, im Gegenteil! Ich mache sie so was von selber! Ich will nur... dass du mir wieder zeigst... wie.", kam mir zögerlich über die Lippen und Kyocchi starrte mir tief in die Augen.   "Meinetwegen. Mein Bruder wird vermutlich noch auf irgendeiner Party rumlungern. Wir sind also ungestört.",   Manchmal kann ich mich selbst am wenigsten fassen. Ich meine, bin ich verrückt? Vermutlich bin ich das. Wie auch immer, die Hausaufgaben sind gemacht und ich fühle mich tatsächlich schlauer. Kyocchi macht keine Anstalten, mich nach Hause zu schicken. Er liest einfach sein beknacktes Buch und tut als gäbe es mich nicht. Vermutlich wartet er jetzt darauf, dass ich nach Hause gehe. Warum also tue ich das nicht? "Okay, man sieht sich dann morgen, nehme ich an.", hat er gesagt und das vor bald zehn Minuten. Was um alles in der Welt hält mich noch hier?   "Also, Kyocchi, ich-", als ich mich zu ihm umdrehe, um mich zu verabschieden, bleibt mir der Rest vom Satz im Hals stecken.   Der Typ pennt einfach. Nein, wirklich, der... der schläft! Das Buch liegt neben seinem Kopf und ich höre ihn ganz leise atmen. Es ist ein gleichmäßiges Atmen. Niemand atmet so, wenn er mit beiden Augen wach ist.   "Hey, du... du kannst nicht einfach einschlafen, Mann.", flüstere ich und ziehe vorsichtig das Buch aus seinen Fingern, ohne dabei die Seite zu verlieren, an der er gerade aufgehört hat. Die schlafenden Schönen von Yasunari Kawabata.    "Was du so alles liest.", lache ich leise, lege ein Lesezeichen, das ich auf seinem Tisch finde, zwischen die Seiten und das Buch auf den kleinen Nachttisch neben den Tabletten, die da stehen.   Die schlafenden Schönen also. Fast so, als hätte Kyocchi diese Situation vorausgesehen. Jetzt liegt er da, schläft einfach so. Und dann gibt es mich, ich beobachte ihn dabei. Er ist der Schönste aller Schlafenden., denkt sich ein Teil von mir und ich könnte mich dafür ohrfeigen. Was soll die Scheiße schon wieder? Bin ich krank? Auch wenn ich es nicht wirklich will, denke ich in Momenten wie diesen zurück und frage mich, wie ich nach all dem überhaupt noch schlafen kann. Da gibt es viel, das ich nicht weiß und mindestens genauso viel von dem, das ich die Leute glauben lasse, es nicht zu wissen. Damit konnte ich mich mein Leben lang durchschlagen. Ich bin tatsächlich sehr einfach gestrickt, nicht besonders schlau oder tiefgründig, aber nicht blöd. Nein, blöd bin ich nicht. Na ja, zumindest nicht durch und durch. Ich weiß alles über diesen Jungen. Ich kenne ihn. Wie er fühlt, was er denkt, wer er ist, niemand kennt ihn besser als ich. Außer vielleicht... sie. Das Mädchen, das immer bei ihm ist. Die Verrückte, mit der ich ihn zusammensehen wollte. Failman. Failman kennt ihn vielleicht noch besser als ich. Beim Gedanken an die Vergangenheit knirsche ich mit den Zähnen. Kyocchi, wenn du nur wüsstest, wie froh ich bin, hier zu sein und zu sehen, dass es dir gut geht. Wenn du nur wüsstest, wie erleichtert ich war zu wissen, dass du dich an nichts, aber auch an nichts dergleichen erinnern kannst.   "Ich sollte wirklich nach Hause gehen. Bald kommt bestimmt dein Bruder nach Hause und es wäre komisch, ihm über den Weg zu laufen, wenn man bedenkt, dass ich nicht hier sein sollte.", hauche ich ganz leise und setze mich trotzdem zu ihm ans Bett.   Er sieht so sorglos aus. Ich seufze. Es ist schwer, nicht hinzusehen und es ist noch schwerer, nach Hause zu gehen, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach ihm umzudrehen.   Wissend, dass ich nicht sollte, fahre ich ihm durch die Haare und seufze. Wenn er aufwacht, schlage ich ihn.  Selbst ein Pazifist wie er kann verrückt werden, selbst so jemand Cooles lässt mal seine Deckung fallen und wird rot.  Ich habe alles gesehen, genug gesehen, um zu sagen, dass er nicht immer so kalt war. Es gab tatsächlich eine Zeitspanne, in der Elvis Kyokei nicht der war, den wir alle kennen. Bin ich allein der, der weiß, wer er wirklich ist? Ich möchte es so gerne glauben.  Da liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft, die wir beide atmen. Auch wenn er das nicht weiß. Trotz allem, dass ich mich wirklich zusammengerissen habe, merke ich doch, wie mit meinem bisherigen Vorgehen ebenfalls niemandem geholfen ist. Dabei bin ich doch der Einzige, der ihm wirklich helfen kann. Ich weiß, dass es nur logisch wäre, ihm zu helfen. Es zu versuchen, auch wenn die Chancen klein sind. Unwahrscheinlich klein. Ich glaube, ich will ihm gar nicht helfen. Viel mehr bin doch ich es, der Hilfe braucht. Würde ich ihm helfen und es würde tatsächlich was bei rauskommen, würde ich vermutlich unsere Freundschaft aufs Spiel setzen. Würde ich weiter nichts tun, drehten sich meine Gedanken bis in alle Ewigkeit im Kreis. Am liebsten wäre es mir, einen Weg einzuschlagen, der weder das eine noch das andere auslöst. Ein Weg, bei dem ich am Ende nicht völlig verloren zurückbleibe. Ich mag es nicht, verloren zurückzubleiben. Ich mustere Kyocchi. Es ist so vieles anders, so viele Veränderungen folgen auf eine andere. Ich kann nicht anders, als sein sich veränderndes Ich mit seinem Ich aus der Mittelschule zu vergleichen, selbst wenn ich es versuche, es nicht zu tun. Er ist ein paar Zentimeter gewachsen und hat sich hinten die Haare geschnitten. Die Veränderung ist von den Haaren her aber recht gering. Er ist immer noch fast genauso schlaksig wie ich und ein bisschen kleiner als ich. Er hat immer noch den gleichen Modegeschmack. Ist immer noch so schmerzhaft ehrlich.   "Ich hab das nicht gewollt...", murmelt er im Schlaf, klammert leicht die Arme um sich und erschreckt mich zu Tode. Als wenn es etwas gibt, das keiner sehen soll. Als würde er sich schützen. Ich weiß auch, das er Probleme damit hat, seine Oberkörper zu zeigen. Alle Beteiligten wissen das seit jenem Tag.   "Nein.", war seine trockene Antwort, als jemand ihn gefragt hat, ob er das Shirt nicht doch lieber ausziehen will.   Und als Asahina ihn im Streit das Ding runterreißen wollte, hat drei Sekunden später seine Nase geblutet.   "Hast du was an den Ohren? Ich habe gesagt, dass es dabei bleibt. Dem Anschein nach bist du mir sehr abgeneigt, ist es nicht so? Ob es nur daran lag, weil ich dich unabsichtlich vor der ganzen Klasse gedemütigt habe oder du dir auf den verbalen Schlagabtausch, den wir beide immer mal wieder zu haben scheinen, insgeheim einen runterholst, kann ich nicht beurteilen. Doch lass dir gesagt sein, dass es mich nicht weniger kümmern könnte, wie du mir gegenüber empfindest. Alles, was ich will, ist dass man das kleine bisschen Privatsphäre, nach dem ich verlange, doch bitte respektiert. Wenn du das nicht kannst, habe ich keine andere Wahl, als dich deinen Platz kennen zu lassen und handgreiflich zu werden. Das ist meine letzte Warnung. Ist das irgendwo in deinem bodenlosen Loch von Gehirn angekommen? Ja? Dann verstehen wir uns.", waren seine Worte an jenem Tag in jener Umkleide.   Das sagte er, nachdem er Asahina beinahe die Nase gebrochen hatte, seine Sachen packte und den Raum verließ. Egal, wie monoton seine Stimme immer klingt, da klang es fast so, als wäre er... sauer. Asahina zu schlagen war der erste und letzte annähernd emotionale Akt, den wir je von ihm gesehen haben. Damals habe ich so getan, als wäre mir der Grund dafür egal und als läge die Stelle, die er verdeckt, nicht in meinem Interesse. Es gab keinen Grund, irgendwas zu sagen. Da alles wie von Zauberhand wieder so war, als wäre alles ungeschehen gemacht worden, war auch Kyocchi auf seine Weise wieder mein Freund. Und machte mich damit überglücklich. Alles war friedlich und nett. Ich fühlte mich begnadigt. Ich fühlte mich gut. Aber so richtig. So kann es immer bleiben, dachte ich. Ich wollte beschützen, was mir geschenkt wurde. Ich dachte, es ist gut so, wie es ist. Ich wollte das wirklich glauben. Aber, verfickt noch mal, ich lag ja so was von falsch.   Nur ein kurzer Blick, denke ich. Was auch immer es ist, es schreckt mich nicht ab. Was auch immer er versteckt, nichts ist so versteckt, wie die alte Sache zwischen uns, über die wir seit zwei Jahren nicht mehr reden, weil sie für ihn nicht mehr existiert. Nichts von dem, was er vor mir versteckt, könnte je ändern, was ich über ihn denke. Über meinen geliebten besten Freund Elvis Kyokei. Mit einem Ruck und geschlossenen Augen schiebe ich den blauen Pullover, zusammen mit dem Hemd, das darunter liegt, nach oben. Dann öffne ich die Augen und schnappe völlig verstört nach Luft. Fuck. Da ist eine riesige und verdammt tiefe Narbe an seinem Bauch. Da sind so viele Narben. Das ist ein... Schlachtfeld. Das ist so... brutal. Das sieht so... tödlich aus. Ich halte mir die Hand vor den Mund, so geschockt bin ich. War Chika damals deshalb so wütend auf mich? Ist es das? Weil ich nicht nur an seinem Verschwinden schuldig bin, sondern ihn auch noch wehgetan habe? Ihn dazu gebracht habe, sich selbst so schrecklich zu verletzen?   "Ich hab das nicht gewollt...", spielt sich die Wiederholung von Kyocchis Worten in meinem Kopf ab. Ich auch nicht, Kumpel. Ich verfickt nochmal auch nicht.    Auch an Failmans Worte an jenem Tag muss ich daraufhin unweigerlich denken. Jener Tag war ja mal so was von beschissen gewesen.   Ich ging an diesem bewölktem Tag ganz normal zur Schule. Gestern hatte ich geschwänzt. Ich war ein Feigling, das wusste ich. Kyocchi war ich auf meinem Weg nicht begegnet wie sonst auch. Dort angekommen, schien etwas anders. Meine Mitschüler entfernten sich von mir, als sie mich nur sahen. Ich dachte mir nicht viel dabei und tauschte unschuldig die Straßen- gegen Hausschuhe. Ich ging weiter. Dann stapfte sie auf mich zu. Den Blick gen Boden gewandt, wütend über den Boden schlürfend. Und dann ohrfeigte sie mich. Einfach aus dem nichts und mit einer solchen Wucht, dass ich fiel. "Au! Was stimmt nicht mit dir?", fauchte ich, auch wenn ich wusste, dass ich es verdient hatte. Der ziehende Schmerz auf meiner Wange war vermutlich ein Witz im Vergleich zu dem, was sie fühlte.   "Das Gleiche könnte ich dich fragen!", keifte sie und griff nach meinem Kragen.   "Wie kann man nur so egoistisch sein?! Hast du eine Ahnung, wie sehr Ellie deinetwegen gelitten hat?! Was für Qualen er ertragen musste, nur weil du gestern nicht für ihn da warst?! Wie es richtige Freunde tun würden? Dir ging es doch nur um dich! Es spielt keine Rolle, ob Ellie dich liebt oder hasst, du bist und bleibst ein feiges Arschloch, das ihn verlassen hat, als er dich am meisten brauchte! Als ich ihn am meisten brauchte! Du hast mir meinen Ellie genommen, Akira! Wieso hast du das getan?! Was habe ich dir je angetan, dass du ihn mir so wegnehmen musst? Ich hasse dich! Ich hasse, hasse, hasse dich so abgrundtief! Du bist das Letzte, Akira! Das Letzte!", weinte sie, vergrub die Finger noch tiefer im Stoff und weint.   Sie winselte noch ein paar Sekunden, dann sprach sie wieder.   "Hast du denn absolut nichts dazu zu sagen? Gar nichts zu dem Mädchen, dessen Leben du ruiniert hast?", fragte sie mich mit aufgelöster Stimme und hob wieder den Kopf. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich weiter festzuhalten, als ich aufstand und die Wahrheit sagte.   "Hab ich nicht.", flüsterte ich, wissend, dass ich dieses allseits fröhliche, nervige Mädchen gerade innerlich sterben ließ.   Ich hatte ihr den Menschen genommen, den sie über alles geliebt hatte. Am gleichen Tag wechselte ich die Schule. Das ist also der Grund, weshalb. Deshalb das Shirt im Schwimmunterricht. Kyocchi ist wirklich zu bemitleiden. Weil er das wahrscheinlich weiß, versteckt er es. Er ist unglaublich gut darin, so zu tun als wäre nichts, das habe ich schon lange verstanden. Oder vielleicht er glaubt wirklich daran...   "Ist schon okay, Kyocchi...", flüstert ich ihm zu.   Ich komme ihm mit dem Gesicht so nah wie lange nicht mehr. Sieht man ganz genau hin, dann hat auch sein Gesicht den einen oder anderen kleinen Kratzer davongetragen. Kleine, farblose Schützengruben und Schlaglöcher, fast unmöglich zu erkennen.   Du bist wirklich... mein allerbester Freund, Kyocchi. Ich mag dich sehr. Und ich weiß, dass du mich auch magst. Wir sind schließlich beste Freunde. Aber was mache ich hier eigentlich? Es ist alles so gekommen, wie ich es wollte. Es lief alles nach meinem Plan. Ich meine, Kyocchi genießt gerade vermutlich die Blütezeit seines Lebens. Er hat Freunde, Kaishi, Shuichiro und mich und eine ziemlich heiße Freundin. Besser geht es gerade eigentlich gar nicht. Warum also bin ich hier? Warum bin ich dann nicht zufrieden? Nach allem, was passiert ist, haben Kyocchi und Failman verdient, miteinander glücklich zu sein. Sich zu lieben, sich zu küssen, Sex miteinander zu haben, einfach alles. Kyocchi verdient alles Glück der Welt. Gefunden in niemand Geringerem als dem Mädchen, das für ihn bestimmt ist. Ich habe selbst entschieden, dass es so, wie es gerade ist, für ihn und eigentlich für mich besser ist. Warum bin ich dann nicht glücklich? Ich fühle mich, als ob ich kurz davor bin, alles zu verlieren. Mir liegt etwas an ihm. Ich will nicht, dass er leidet. Und gleichzeitig denke ich nur an mich. Warum fühle ich mich wieder so wie damals im Schuppen? Da war ich mindestens genauso egoistisch. Meine egoistischen Handlungen haben dazu geführt, dass Kyocchi verletzt wurde und ich verschwinden musste. So endete unsere gemeinsame Mittelschulzeit. Ich habe wirklich nicht schlecht gestaunt, als ich ihn an jenem Tag in der Highschool einfach vor mir sah. Da war kein Funken Missgunst oder Hass in seinem Blick. Nichts als Leere. Und je mehr ich mit ihm zu tun hatte, desto mehr fühlte es sich an, als würde Kyocchi mich gar nicht kennen. Als ich mir dessen bewusst wurde, schwor ich etwas. Ich schwor, noch einmal von vorne anzufangen und ein besserer bester Freund zu sein als damals. Ich wollte alles richtig machen. Ich wollte mich amüsieren, jetzt wo ich wusste, dass es nichts gibt, was das Band zwischen uns zerreißen konnte. Und eine lange Zeit ging das auch gut. Kyocchi behandelte mich einfach wie einen guten Freund, ein Mitglied dieser Gang. Er war kühl, abgebrüht und hielt kein Blatt vor dem Mund, aber trotzdem konnte ich sehen, dass er sogar anfing, mich ebenfalls ein bisschen gernzuhaben.   "Vielleicht, weil ich dich einfach mag, Akira.", sagte er mal.   Die Zeit mit ihm und den anderen war wunderschön und ich fühlte mich toll. Aber tief im Innern konnte ich mich nicht verarschen. So gern ich es auch hatte, die zurückgesetzte Version meines Kumpels um mich herum zu haben, ich sah beim genaueren Hinsehen, dass er unter seinem augenscheinlichen Gedächtnisverlust litt. Und zwar stark. Es stand ihm die ganze Zeit ins Gesicht geschrieben, dass er in Wahrheit gar nicht mal so genau wusste, ob er gerade er selbst war oder der Schatten davon. Ohne die Erinnerungen wird sich Kyocchi eventuell nie wieder wie ein normaler Mensch fühlen. Und die Tatsache, dass ich zumindest versuchen könnte, dieses Leiden zu vermeiden, bringt mich in Versuchung, die Deckung fallenzulassen. Was selbstlos erscheint, weil ich ihm damit "helfe", ist eigentlich absolut selbstsüchtig. Ich gehe nur meinen Gelüsten nach. Aber für diesen Moment ist es okay.   "Es ist genug, du brauchst mir nichts zu sagen...", wispere ich.   Ich schwebe über ihm, mein Gesicht über seinem. Im nächsten Moment küsse ich ihn. So lange habe ich mich zurückgehalten, so lange, so lange habe ich versucht, vor der Wahrheit zu fliehen. So lange tat ich so, als gäbe es diese Vergangenheit nur in einer abgelegenen Parallelwelt. Ich will alles wissen, ich will, dass er mir alles sagt. Erzähle es mir! Den ganzen Rest! Es ist egozentrisch und selbstsüchtig von mir, aber ich kann einfach nicht aufhören. Ich will ihn berühren und dazu bringen, mir dir Wahrheit zu erzählen. Die über seinen Schmerz, über die Zeit zwischen der Mittel- und Oberschule. Was er sieht, wenn er mich sieht. Ich liege auf ihm und fahre mit meiner Hand über seine Haare. Es fühlt sich gut an, wieder so eins mit ihm zu sein. Etwas, das wir schon lange aufgegeben haben. Ich küsse ihn weiter. Wach auf, du Arsch. Sieh mich an, Blödmann! Es nimmt wieder seinen Lauf, das mit uns. Als würden wir in die Zeit reisen, als würden wir zwischen den Zeiten festhängen und wären gezwungen, alte Handlungen dem Raum-Zeit-Kontinuum zuliebe zu wiederholen. Ich rede mir ein, dass ich es für ihn tue. Ich rede mir ein, dass ich einen Plan habe. Unsere Freundschaft hat mir alles bedeutet. Jetzt habe ich alles kaputtgemacht.   "Ah...", höre ich Kyocchi unter mir murmeln.   Ich erstarre, als ich seine Hand auf meiner Brust spüre und er mich schlagartig wegschiebt. Er starrt mich verwirrt und errötet an. Da liegt Schock in seinem Blick und etwas anderes, was ich nicht deuten kann. Ich liege auf ihm, seine Narbe ist entblößt und ich habe ihn geküsst. es gibt nichts, was ich ich sagen könnte, um mich zu retten. Es gibt keine Worte, die ihn zu verstehen geben könnten, dass das alles ein Traum war. Da gibt es kein "Leute, ihr könnt rauskommen. Es war alles nur ein Prank.". Es gibt einfach keine heterosexuelle Erklärung dafür. Verdammt.   "Akira. Aber wieso?", fragt er und sieht erst die entblößte Narbe und dann mich an.   Wieso, das fragt er und es ist so leicht zu beantworten. Ich habe irgendwann gesehen, dass du dich absolut nicht an mich erinnern kannst, der für deinen angeblichen Fast-Tod verantwortlich war, also habe ich dasselbe wie damals gemacht, damit du dich erinnerst und weniger aussiehst, als würdest du innerlich komplett tot sein. Die Instinkte waren schuld. Die Instinkte, die mir sagen, dass ich dir noch immer absolut verfallen bin.   "Kyocchi. Wer bist du wirklich? Was weißt du überhaupt noch?", beantwortet das die Frage eigentlich so überhaupt nicht. "Akira. Wovon um alles in der Welt redest du schon wieder?", versteht er nicht.   "Ich kenne dich doch. Von damals. Von der Mittelschule! Stell dich nicht dumm, Mann! Ich... Ich habe nie aufgehört, zu fühlen, wie ich fühle, deshalb... Hör endlich mit der Show auf und rede mit mir!", brülle ich fast.   Seine Augen weiten sich, er sieht noch schockierter aus. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich ihn je geliebt habe, ich weiß nicht, ob das je was Ernstes war. Dennoch hatte ich dieses Bedürfnis, ihn zu küssen, dass jede andere Antwort nichts weiter als abstoßend wäre. Kyocchi sieht mich immernoch völlig fassungslos an und sagt anschließend:   "Akira, du... Du bist ein Idiot, Akira.", wie recht du hast. Ich bin ein kompletter Vollidiot.   Und deshalb, belehre mich eines Besseren. Sag mir, dass ich falsch liege, egal was, erzähl es mir. "Weiß ich.", sage ich. Deshalb werde ich alles aus ihm rausbekommen und ein weniger großer Vollidiot werden. Wir sind beide Idioten. Und du weißt das. Lass mich dir deshalb jedes Detail aus der Nase ziehen. Und stehe zu dem, was du einst angefangen hast, Elvis Kyokei. Kapitel 26: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Verbotene Früchte schmecken am besten. ---------------------------------------------------------------------------- Elvis: Ich komme überhaupt nicht mehr auf... alles klar. Das ist doch verrückt. Der helle Wahnsinn. Nur, weil er ein Teil der Vergangenheit ist, die ich verloren hatte, lasse ich es zu. Diese wenigen Worte reichen, damit ich ihm glaube. Nur weil er so etwas sagt. Ich spüre keine Reue, ich fühle mich nicht so, wie sich jeder in einer Beziehung fühlen sollte, wenn er von wem geküsst wird, der nicht sein Partner ist. Das darf ich nicht fühlen! Das ist Akira. Akira Egaoshita, mein bester Freund, dessen Erinnerungen ich nicht teilen kann. Da sind nur Bilder, keine klaren und zusammenhängenden Sequenzen, ein verblassender Traum, den ich genau wie den von Chika nicht verlieren darf. Weil ich das weiß, wehre ich mich nicht, weil ich das weiß, hoffe ich durch eine der Berührungen Akiras irgendeine verborgene Erinnerung wach zurufen. Was ich verloren habe ist mir gerade wichtiger, als die Tatsache, dass das, was sich hier gerade abspielt, mehr daneben gar nicht sein könnte. Das ist Chika gegenüber nicht fair, aber weshalb sage ich ihm nicht, dass er das lassen soll? Ich kann nicht und vor allem darf ich das nicht. Er merkt, dass ich mich nicht wehre, deshalb macht er weiter und ich lasse es über mich ergehen. Liebt er mich wirklich? Das macht doch alles gar keinen Sinn! Von Grund auf tut es das einfach nicht. Weil es Akira ist. Er küsst mich weiter und schiebt mir seine Zunge in den Hals. Eigentlich in den Mund, aber du weißt, was ich meine. Dann zieht er sich zurück wie vor zehn Minuten und sieht mich nur an. Nach einigen Sekunden kommt er wieder zu Wort und spricht: "Du... hast bisher nur gesagt, was man von dir wollte und erwartete, du bist so neutral und gewöhnlich, dass ich mich frage, ob mehr dahinter steckt. Ich habe dich beobachtet. Ich war immer da. Und umso kranker macht es mich, dass du so einen auf Normalo machst, obwohl du scheinbar alles weißt. Ich... will alles hören. Ich will, dass du wenigstens zu mir ehrlich sein kannst.", gegen Ende flüstert er fast und ich kaue mir seine Worte mindestens dreimal durch, bevor ich zu der Analyse komme, dass er richtig liegt, mit jedem Wort. Ich zeige niemandem mein Herz, sollte ich es mal Akira gezeigt haben, dann weiß ich es nicht mehr und tue so, als wüsste ich es nicht. Ich schweige. Was soll ich ihm sagen? Dass ich wirklich nur das Nötigste sage, um nicht als Sonderling zu gelten? Dass ich nun einmal so bin und daran nichts ändern will oder kann? Dass ich Angst habe, Fehler zu machen und Ruf wie Familie und Freunde auf ewig verliere, nur, weil ich mich geöffnet habe? "Du hast recht, Akira, ich sage wirklich nur das Wichtigste. Weil ich in Wahrheit seltsam bin. Ich kann mich an die Zeit vor der Highschool praktisch gar nicht mehr erinnern. Ich sage fast nie, was ich denke und fühle. Weil es nicht wichtig ist. Weil ich immer damit durchkomme und immer damit durchkommen werde. Das ist meine Art zu reden. Was genau willst du denn eigentlich wissen?", flüstere ich grinsend, um zu überspielen, wie verwirrt und nervös ich wirklich bin. Aber dieses Grinsen verfliegt, als Akira mir wieder in die Augen sieht. Indiesen Augen ist kein Anlass zum Grinsen. "Du weißt etwas. Und ich weiß wiederum das. Könntest du mir vielleicht beantworten, was genau ich damit meinen könnte?", wispert er zu mir herunter. Scheiße, als wüsste er, woran ich gerade dachte. Aber jetzt ist sowieso nicht länger irgendwas von Bedeutung. Ich schrecke auf und beiße die Zähne zusammen, um nicht stöhnen zu müssen, als Akira mit seiner kalten Hand unter meine Boxershorts fährt. Scheiße, scheiße, scheiße! Ich muss mich zusammenreißen! Es gibt Dinge, die dürfen wir noch viel weniger als küssen, das gehört definitiv dazu. "Ist was, Kyocchi?", fragt Akira unverblümt und monoton. "Alles ist gerade... du kannst nicht einfach mein Ding greifen und so tun als wäre nichts! Das dürfen wir nicht...", versuche ich ihm keuchend mitzuteilen. "Sich nicht erinnern zu können muss schrecklich sein. Ich kann nicht mit ansehen, wie leer du innerlich bist. Ist das nicht das, was du denkst? Ich habe es nie gezeigt, aber ich wusste schon von Anfang an, dass da irgendeine Katze im Sack ist. Wenn ich es lassen soll, dann sag es, ich dich nicht zu etwas zwingen, was du absolut nicht willst, Kyocchi. Ich hab die Kontrolle verloren, ich habe keine Ahnung, was das hier wird.", wieder sieht er mich an, nur jetzt zeigt er wieder Emotionen und lockert seinen Griff um mein Geschlechtsteil. Es sieht nicht so aus, als würde ich hier heil wieder rauskommen. Es sieht nicht so aus, als würde Akira heute Nacht auf mich Rücksicht nehmen. "Weiß nicht... Ich weiß es nicht, Akira. Ich weiß, mir sollte immer und gerade jetzt glasklar sein, in dem, was ich tue, aber jetzt weiß ich nichts mehr. Es sieht immer so aus, als wüsste ich, was ich tue, aber... jetzt gerade weiß ich es nicht. Ich kann, egal wie oft ich dich einen Idioten nenne, nicht darüber hinwegkommen, dass du mein Vergangenheit-Ich kennst. Ich bin kurz davor, etwas über mich herauszufinden. Etwas über mich, aber auch über dich, das ist doch, was du hören wolltest. Ich erinnere mich weder an dich, noch an Chika, noch an den Grund, der mich zu der Person gemacht hat, die ich jetzt bin. Diese Erinnerungen werden nicht zurückkehren. Das ist medizinisch nicht möglich, wenn die Faustgrenze von zwei Jahren erreicht ist. Und trotzdem kann ich nicht aufgeben. Ich will die ganze dreckige Wahrheit hinter all dem erfahren, aber... Ich hab einfach Angst. Auch wenn ich so was nicht sagen darf, verunsichert mich, wenn du mir sagst, dass du mich liebst, mehr als es sollte. Ich liebe sie. Aber... Akira, du-", ehe ich meinen Satz beenden kann, küsst er mich wieder. Mit noch mehr Leidenschaft und Zunge. Er löst sich wieder von mir. "Kyocchi. Niemand wird je davon erfahren. Ich helfe dir lediglich, deine Erinnerungen zurückzubekommen. Das allein dürfte die Chance vielleicht erhöhen. Ich garantiere für nichts, wenn es unmöglich ist, dann ist das hier nicht mehr als ein Seitensprung unter Freunden. Falls aber doch, wirst du mir dankbar sein. Ich tue doch alles für meinen über alles geliebten besten Freund.", wispert er, bevor er mein Hemd öffnet und über meinen Kopf zieht. Er sieht wieder meine Narbe an. In seinem Blick flackert etwas Schuld und gleichzeitig Lust. Er beugt sich runter und setzt seine Lippen auf sie, nicht ohne sie auch noch mit der Zunge zu streicheln. Das lässt mich zusammenzucken und ich beiße die Zähne zusammen. Er verschränkt die Finger zwischen meinen, nur um meine Hand weiter nach oben zu schieben und sich selbst wieder näher zu mir. "Du bist so schüchtern.", murmelt er und sieht mich wieder an. "Dir ist schon klar, dass ich fast nichts mehr spüre, wo die Narben sind. Dafür sind sie zu tief.", erkläre ich ihm. "Das kann schon sein. Irgendwie mag ich es trotzdem, sie zu berühren. Das ist deine verletzliche Seite. Dass ich es bin, der sie sieht, gefällt mir.", haucht er lustvoll und grinst. "Du bist ein Idiot, Akira.", "Du bist echt niedlich.", hört er mir wieder einmal überhaupt nicht zu. "Ich bin überhaupt nicht süß, glaub mir.", streite ich es ab, als ich derjenige bin, der die Initiative ergreift und ihn zu mir herunterzieht. Ich muss nur heute Nacht vergessen, dass mein Herz jemand anderem gehört. Das ist kein Seitensprung, das ist Forschung. Ich hole zurück, was mir gehört. Erinnerungen. Ich hole mir mein eigenes, verdammtes Leben zurück. Je länger wir hiermit weiter machen, desto unwichtiger erscheint mir das "Ich-darf-nicht". Ich denke nur an mich. Ich benutze ihn. Das ist alles, was ich will und es ist furchtbar fies von mir Akira dafür zu missbrauchen, selbst, wenn ich für ihn im Moment ja auch nichts weiter als ein Werkzeug für seine Lust bin, die er nicht kontrollieren kann. Ich klammere mich an diese Bilder und hoffe stetig, dass es mehr werden und ich das hier nicht umsonst mache. Ebenso hoffe ich, meine Jungfräulichkeit, Chika zuliebe, nicht zu verlieren. Aber auch mit dieser, ist das, was wir hier tun nicht gerechtfertigt. Es gibt Dinge, die dürfen wir nicht. Das hier gehört dazu. Das alles hier. Wir dürfen das nicht und trotzdem fallen wir wie Tiere übereinander her, nur um das, wonach wir streben zu erreichen und unsere eigene innere Leere zu füllen. Wir missbrauchen uns gegenseitig. Wir benehmen uns beide wie Idioten, von Lust gesteuert und respektlos. Wir sind menschlicher Abschaum. Kapitel 27: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Was bleibt sind Schutt und Asche. ----------------------------------------------------------------------- Ich fand mich einem Geräteschuppen wieder, auf einer weichen Matte sitzend, Akira neben mir. Obwohl er seinen Mund bewegt, kann ich die Worte, die er sagt, nicht hören. Er ist etwas rot und sieht mich an als ob wir jederzeit irgendwo einbrechen würden und ihm doch das schlechte Gewissen gepackt hätte. Dem Anschein nach hatte ich eben auch gesprochen, denn Akira Augen weiteten sich, nur damit der sich gleich darauf ins Fäustchen lachte. "Du bist echt wahnsinnig, Mann!", lachte er und plötzlich konnte ich seine Stimme klar und deutlich hören. "Sind wohl doch nichts weiter als ein Haufen notgeiler Gelangweilter. Ist doch nichts dabei.", was er da von sich gab schockierte mich. Klar, Akira hatte seit ich ihn kannte eine etwas raue Ausdrucksweise und überhaupt scheinen ihn die richtige Benutzung von gewissen Worten nicht zu interessieren, dennoch ist das, was er da eigentlich meinte nichts, was ich auf die leichte Schulter nehmen konnte. Ein Haufen notgeiler Gelangweilter? Akira kann zwar nicht gut mit Worten, aber in seinen Worten schwingt immer Wahrheit mit, wenn auch versteckt. Was machte uns zu notgeilen Gelangweilten? Warum Akira? Warum das ganze Szenario im Geräteschuppen? Ich lauschte weiter dem Hörspiel der Vergangenheit und sah zu wie Akira und ich im Geräteschuppen miteinander rummachten. Es war nur Rummachen, Sexfreunde konnten wir also unmöglich sein, wenn ich die Tatsache außer Acht ließ, das wir es in diesem Moment nur nicht miteinander trieben, weil das ein scheiß Geräteschuppen ist und ja. Mein Blickfeld wurde weiß und ich sah ein Bild von Chika in Matrosenuniform, woraus sich schließen lässt, dass sie ebenfalls dieselbe Mittelschule wie ich besuchte, anders machte ihre Präsens in diesem Aufzug an diesem Ort von vorne bis hinten keinen Sinn. Dann wurde ich, nachdem sich mein Blickfeld erneut lichtete, in ein abgedunkeltes leeres Klassenzimmer gebeamt. Es regnete draußen und Akira stand wieder vor mir. Sein Blick war leer und es sah aus, als hätte er nun eine böse Vorahnung von dem, was kommen wird. "Es tut mir leid, Akira. Ich kann das nicht mehr.", hörte ich meine von Tränen erfüllte Stimme zu Akira durchdringen. Akira sah auf und seine grauen Augen sahen nun noch heller und lebloser aus als ohnehin schon. Dann sah Akira zu Boden und lachte. Er lachte wie jemand, der gerade innerlich starb. Er lachte sich Tränen aus den Augen und klopfte mir auf die Schulter, vermutlich sollte ihn das abregen. Mit Tränen in den Augen sagte er schließlich: "Kein Ding, wir waren doch sowieso nie richtig zusammen, Kyocchi. Du kannst gehen mit wem du willst, Alter. Wir sind schließlich immernoch Freunde, was?" Er ließ von mir ab, nur um mich dann an beiden Schultern zu nehmen und zu küssen. Ich erwiderte es nicht, dazu fühlte ich mich nicht gut genug. "Zur Erinnerung an die alten Zeiten, Kumpel. Man sieht sich!", immernoch mit Tränen im Gesicht verließ er hüpfend den Raum und ließ mich als Verräter zurück. Er war verletzt. Und ich verstand nicht warum. Ich wollte es gar nicht verstehen. Als ich aufwache, suchen mich die Erinnerungen an gestern Nacht heim und ich stelle fest, dass es geklappt hat. Ich kann mich nun noch etwas mehr daran erinnern, was mit Akira und mir mal war. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte lautet, dass ich Chika betrogen und Akira missbraucht habe oder er mich, wir haben beide einen schrecklichen Fehler gemacht. Wir sind zu weit gegangen. Taiyo ist noch nicht zu Hause fällt mir blitzschnell ein und ebenso, dass Akira und ich oberkörperfrei auf der Couch liegen und dieses Bild weniger Daseinsberechtigung hat als Österreich, das darf er nicht sehen. Dass ich nach allem immernoch den Nerv dazu habe, Witze über Österreich zu machen, kann man mir wohl nicht verzeihen, dennoch kann ich die Spuren verwischen und alles von gestern zerstören. Zumindest sollte ich das, denke ich und liege immernoch in Akiras Armen. "Schon wach?", brummt Akira und drückt mich noch etwas mehr an sich. "Musst es ja wissen.", antworte ich. Ich kann mich nicht mehr genau an alle Einzelheiten des Abends gestern erinnern und mir fällt ein, dass ich da noch unbedingt was fragen muss. "Sag mal, Akira... haben wir es getan?", flüstere ich ihm zu. "Nicht doch, schließlich bist du doch Chika-chan reserviert und das zu tun, könnte ich mir niemals verzeihen. So gemein bin ich dann doch nicht.", seufzt er. "Willst du damit wirklich anmaßen, dass das, was wir gestern gemacht haben, richtig wahr?", will ich wissen und hoffe, er ist nicht wirklich überzeugt davon. "Das war es nicht, und das weißt du." Akira schnauft und ich kann seinen Atem auf meinem Scheitel spüren. Das hätte ich nicht sagen sollen, selbst, wenn es wahr ist. Manchmal ist der Mensch einfach nicht bereit für die Wahrheit. Akira schweigt und starrt auf den ausgeschalteten Fernseher. "Liebst du mich denn wirklich, Akira? Hast du das jemals? Oder wolltest du es einfach?", wenn die eine Wahrheit schon alles zerstört hat, dann wird die zweite ebenfalls nicht mehr allzu viel anrichten können, das weiß ich. Akiras Atem stockt kurz, doch er findet schnell wieder zu ihm und richtet sich auf. Er reibt sich die Augen und sucht nach seinem Shirt. Ich traue mich nicht, ihn zu fragen, ob er diese Fragen noch beantworten wird. Ich bleibe auf der Couch liegen und sehe zu, wie Akira sich darauf vorbereitet, meine Wohnung zu verlassen. Er hebt seine Tasche auf und mir fällt ein, dass das ursprünglich keine Übernachtung sein sollte, seine Eltern werden bestimmt sauer auf uns sein. "Akira, wo willst du denn hin? Willst du gar nicht frühstücken?", rufe ich ihm noch hinterher und er hält kurz vor der Schuhablage inne. Er dreht sich um und sieht mich lächelnd an. "Passt schon, danke, aber ich glaube, ich muss jetzt wirklich los.", das war's, er dreht sich weg und wirft die Tür hinter sich zu. Zurück bleibe ich, verdattert, beinahe vergewaltigt oder auch nicht und einsam. Akira ist gegangen, ohne meine Fragen zu beantworten. Habe ich etwas Falsches gesagt? Nein, ich denke nicht, es ist nichts falsch daran, so etwas wissen zu wollen. Trotzdem fühle ich mich schlecht. Ich kann nicht glauben, dass er mich liebt, das macht doch keinen Sinn und ich verstehe es nicht. Weshalb hat er mich so gern? Was ist mit Akira los? Ich würde ihm so gern helfen, aber was soll ich tun? Ich liebe doch Chika, selbst, wenn ich die Erinnerungen an sie noch nicht zurück habe. Ich bin überfordert. Ich bin verwirrt und ich habe etwas Unverzeihliches Chika angetan. Ich habe meinem besten Freund Hoffnung auf etwas gemacht, auf dem er keine haben darf. Ich bin so grauenhaft. Ich bin überhaupt nicht nett zu einem von ihnen. Wie soll ich den beiden jetzt noch richtig in die Augen sehen? Ich meine, wie kann ich zu Chika noch aufrichtig und zu Akira freundlich sein, ohne vorher alle beide zu verlieren? Ich habe Angst. Ich habe wirklich Angst. Angst davor, sie zu verlieren und Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Auch jetzt vermisse ich Akira, obwohl er bloß nach Hause gegangen ist. Ich darf ihn nicht vermissen. Nicht so. Verdammt, Akira, was hast du in mir angestellt? Warum hast du das befreit, was ich bewusst eingesperrt und vergessen habe? Verdammt. Ich bin so ein gnadenloser Idiot. In Akiras Eile hat dieser seine Jacke vergessen, weil es in den letzten Tagen ziemlich bewölkt war und kalt auch. So wie er ist, hat er sie nicht einmal aufgehangen, sie liegt dort, wo seine Tasche vorhin lag. Ich laufe zu ihr, um sie aufzuheben. Hauptsache, sie liegt nicht auf dem Boden, denke ich und betrachte die Jacke. Sie ist alt und verschlissen. Sie muss ziemlich alt sein. Wie lange er se wohl schon hat? Bestimmt seit dem ersten Jahr, das weiß ich sogar noch. Auch an diesem Tag hatte er sie an. Während ich den Stoff anstarre, raubt mir ein weiterer Flashback die Sinne. An den Tag, an dem wir wohl offiziell beste Freunde wurden. Vielleicht reicht das noch weiter in die Vergangenheit zurück, doch noch weiß ich das ja nicht. Und ich bezweifle, dass ich es jemals herausfinden werde. Nachdem Kaishi und Shuichiro nach Hause gegangen waren, waren nur wir beide da, Akira und ich. Obwohl, damals nannte ich ihn ja noch Egaoshita-kun, wenn auch in Gedanken nur Egaoshita, einen Funken weniger höflich und ehrfürchtig. "Na, war das eine tolle Idee oder eine tolle Idee? Du solltest öfter mit so einer krassen Person wie mir abhängen!", lobte er sich selbst für den Tag, auch wenn ich nicht wusste, ob er sich wirklich so toll fand. Auch dass würde ich wohl nie ganz wissen. "Karaoke ist wirklich lustig.", gab ich ihm recht und wollte ihm zuliebe fortfahren. "Du bist wirklich der Allerbeste, Egaoshi-", "Stopp!", fiel er mir auf einmal ins Wort. "Bitte was? So heißt du doch, oder?", okay, ich muss zugeben, da klang ich wirklich ein wenig dämlich. "Ja klar heiße ich so, du Pflaume. Aber wir sind doch jetzt Freunde, oder? Es reicht voll, wenn du mich Akira nennst. Weißt schon, wie Shuichiro, der kriegt's ja auch gebacken.", seufzte er kopfschüttend. "Und was ist mit Kaishi? Bei dem lässt du es dann irgendwie doch zu.", neckte ich ihn, als mir auffiel wie nachdenklich er gerade dreinblickte. "Du bist aber nicht Kaishi.", flüsterte er plötzlich. "Stört es dich so sehr, wenn ich nur Shuichiro und Kaishi beim Vornamen nenne und dich nicht?", bei der Frage zuckte er zusammen und schaute so, als würden ihn schlimme Erinnerungen heimsuchen, von denen er glaubte, sie würden sich wiederholen, wenn nichts geschah. Am Ende wusste ich nicht mal so genau, wieso ich die beiden so nannte. Shuichiro hatte es mir angeboten, sie beide so zu nennen, Kaishi war ziemlich still als er das tat und ließ zu, dass ich tat, was mir angeboten wurde. Ich glaube, seine genauen Worte waren. "Ich bin übrigens Shuichiro Fujisawa, das ist Kaishi Kazukawa, du kannst uns ruhig beim Vornamen nennen, wenn du willst! O-oder, Kaishi-chan? Das darf er doch, oder?". Das hatte sich dann einfach so ergeben. Nur bei Akira war das nicht so. Es schien so, als wen er versucht hätte, es zu tolerieren, bis es nicht mehr ging. Und nun war wohl so ein Moment. Es schien so, als ob es ihn verletzen würde, von mir wie einen Fremden behandelt zu werden. Aber das war ich doch, nicht? Ich war der Neue in der Klasse. Der Junge, der sein Gedächtnis verlor, der monatelang bettlägerig war und alle Knochen gebrochen hatte. Der nicht sprechen konnte und noch immer nichts wusste, außer, was in der Schule abgefragt werden konnte. Der sich an keiner seiner Freunde erinnern konnte und nicht einmal wusste, ob die überhaupt existierten. "Hey, sag mal, kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?", fragte ich aus heiterem Himmel. Erschrocken holte er Luft und riss die Augen auf, so leise und unauffällig wie möglich, damit ich nichts registrierte. Doch das hatte ich bereits. Er sah mich wieder an. "Nein. Du... erinnerst mich nur an jemanden. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.", grinste er. Damals wusste ich noch nicht, wie dreist er mir da gerade ins Gesicht gelogen hatte. Nun war ich wieder mit reden dran, als ich merkte, dass sein Grinsen langsam erstarb. "Ich hab zwar keine Ahnung, wieso du so guckst und ich kenne dich praktisch gar nicht, aber... wenn es bedeutet, dass du wieder fröhlich bist, dann nenne ich dich eben so. Lass uns nach Hause gehen, Akira.", sagte ich zum ersten Mal seinen Vornamen und kehrte ihm den Rücken. Ziemlich bald endete unser gemeinsamer Weg, doch ich hätte schwören können, dass er bis zur Kreuzung ein Lächeln im Gesicht trug. Die Erinnerung verdampft wieder und ich finde mich halbnackt auf dem Fußboden mit Akiras Jacke wieder. Ich grinse. Ich muss ihn um jeden Preis retten. Ihm helfen. Und verhindern, dass sich die Dinge schlimmer entwickeln, als sie tun. Wenn Chika das rausfindet, will ich es gar nicht wissen. Ich will ihr nicht wehtun. Nicht schon wieder. Denn irgendwas sagt mir, dass habe ich schon vorher getan, bevor sie hier war. In der Vergangenheit, die ich vergessen habe. Und dass ich auch Akira in dieser Vergangenheit verletzt habe. Auf welcher Weise auch immer. Ich bringe die Jacke in mein Zimmer und hänge sie zu meinen eigenen. Irgendwann werde ich sie ihm schon zurückgeben. Wenn ich schon im Zimmer bin, suche ich mir einen Pullover, um das Wochenende zu starten und zumindest zu vergessen, wie beschissen es angefangen hat und wie viel mehr beschissen ich mich fühle. Ich schlüpfe in den Attack on Titan-Hoodie und kehre ins Wohnzimmer zurück. Lass die verdammte Schuluniform verschwinden, damit es nicht aussieht, als wenn hier gevögelt wäre!, denke ich, auch wenn genau das, wenn auch nur ein Stück weit, passiert ist. Nachdem ich also die Beweise habe verschwinden lassen, lege ich mich auf die Couch und schalte den Fernseher an. Ein Haufen schlechter Nachrichten überrollt mich, als über den Tag berichtet wird. Mir brennen die Tränen in den Augen, als es sich anfühlt, als wäre ich an all dem schuld. Ich seufze und wische die Tränen weg. Nicht weinen. Der Kloß in meinem Hals wird vom Fernsehen aber auch nicht kleiner, also schalte ich ihn wieder aus. "Du bist schuld, dass ich mich so mies fühle.", flüstere ich und mustere die Lehne der Couch, weil ich Akira da zuletzt sah. Ich grinse traurig. "Du bist ein Idiot, Akira." Kapitel 28: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Unverzeihlich, das bin dann wohl ich. --------------------------------------------------------------------------- Akira: Ich habe gerade Kyocchis Wohnung verlassen und jetzt bin ich auf der Flucht. Das könnte man so nennen, denn ich laufe schließlich ja wirklich weg. Weg vor allem. Ich bin ein verdammter Angsthase. Ich weiß nicht wohin mich der Weg führt, ich renne ohne Ziel oder Zweck zu verfolgen, einfach so. Aber nicht nach Hause, selbst, wenn es das ist, was ich nach alldem eigentlich tun sollte. Ich will überhaupt nicht nach Hause, das ist nicht mal ein richtiges und selbst wenn es das wäre, gäbe es da sowieso niemanden, der dort auf mich warten würde. Nicht mal Kyocchi weiß das. Ich bin nicht obdachlos oder so, aber das ist eine andere Geschichte. Völlig außer Atem hat es mich vor diese Wohnung verschlagen, die ich gefühlt ewig nicht mehr betreten habe. Das ist kein Zufall, dass es genau jene Wohnung ist, das war pure Absicht vom Unterbewusstsein aus. Mir ist diese Bude lieber als der Ort, an dem ich jede Nacht schlafen gehe. So viel besser. Etwas zu fest klingle ich und halte den Atem an, einfach, weil ich nicht weiß, ob ich der Person, die hier wohnt noch richtig in die Augen sehen kann. Ich bin verlogen und ein schrecklicher Mensch. Weder zu Kyocchi noch zu sonst wem bin ich ehrlich. Irgendwo sag ich schon die Wahrheit, zumindest, was banales Zeug angeht oder Dinge, die ich als solche abstemple. Aber es gibt genug Dinge, bei denen lüge und schweige ich einfach viel zu sehr. Fast schon automatisch, das ist fast schon immer so gewesen. Ob ich dieser Person ebenfalls ins Gesicht lüge, ich bin mir nicht sicher. Teils vielleicht, aber auf keinen Fall ganz. Die Tür wird aufgemacht und einfach so, ohne Grund, falle ich. Ich falle einfach. Bei dieser Person lasse ich mich fallen, ganz einfach. Aber da spielen noch andere Faktoren mit, wie zum Beispiel Müdigkeit, Deprihaftigkeit und die Tatsache, dass ich mich einfach nur mies und kränklich fühle. Die Person fängt mich wortlos auf, wahrscheinlich, weil sie weiß, dass das nur ich sein kann, der so klingelt, um diese Zeit am Wochenende. Ziemlich fahrlässig von ihr. Ich liege mit dem Kopf auf ihrer Schulter und atme schwer. Sie legt die Arme um mich und drückt mich noch näher an sich als es schon ohnehin der Fall ist. "Du hast dich lang nicht mehr gemeldet, Egaoshita-san.", merkt sie leise an, während ich noch immer so tue als gäbe es für mich nichts zu sagen oder zu erklären. Ohne mich los zulassen schließt sie die Tür und wir verharren weiter dort, wo die Schuhe sind. "Ist alles in Ordnung mit dir, brauchst du etwas?", fragt sie vorsichtig wie ich es gewohnt bin. Ich weiß nicht mehr, wie das mit uns zustande kam, ich weiß nur, dass sie einer der wenigen Menschen auf dieser Welt ist, denen ich traue. Sie verurteilt mich nicht, sie hört mir bis zum Ende zu, ohne, dass ich mich für etwas rechtfertigen muss. Deshalb mag ich sie. Sie ist einfach sie. Und ich kann einfach ich sein, ohne etwas zu befürchten. "Ich brauche nur dich.", stammle ich ihr den Rücken herunter. Ich kann förmlich spüren, wie sehr das ihr Herz vor Freude zum rasen bringt. Aber momentan stimmt es. Sie ist die Einzige, mit der ich jetzt reden kann oder will. Die Einzige auf der ganzen Welt. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Ist das böse? Böse, dass ich mich nur bei ihr melde, wenn ich mich allein fühle? Ziemlich, aber das scheint sie überhaupt nicht zu stören. Seit der Highschool läuft das so, seither trafen wir uns häufiger als wir sollten. Wir treffen uns immernoch. Einfach, weil wir es können. Nur, weil es eben nicht NICHT geht. Ist das der einzige Grund, warum ich hier bin? Weil mir langweilig ist? Ich bin mir nicht sicher. Wann war ich mir das? Selbst gestern, als Kyocchi und ich... na ja, wir haben es nicht gemacht, aber dennoch kam es einfach über mich. Ich wusste nicht mehr, was ich tun und lassen soll, ich konnte mich nicht beherrschen, ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihn jemals überhaupt geliebt habe. Ich verstand es nicht. Und um ehrlich zu sein, ich tue es auch jetzt kein Stück besser. Liebe oder Lust, das ist hier die Frage. Sie schweigt weiter und langsam fängt mir diese Pose an weh zu tun. "Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt blicken lasse. Ehrlich, aber ich... ich brauche dich eben. Ich habe im Moment nämlich nur dich, Akane-san.". Ich bin wirklich niederträchtig. Wir setzen uns auf die Couch und schweigen. Sie scheint zu merken, dass es mir gerade nicht gut geht, ich komme zwar fast nur, wenn ich deprimiert bin, aber jetzt scheint sie zu merken, dass die Kacke diesmal noch viel mehr am dampfen ist als sonst. Sie traut sich nicht, nach meinem Befinden zu fragen und ich krieg die Zähne nicht auseinander, super Kombi. Akane-san wirkt etwas verkrampft, fast schon das Gegenteil von ihrem letzten Ausstrahlung vor der Tür an mich gepresst. Mit Händen, die beide zu Fäusten geballt sind, sitzt sie da und starrt auf ihre Schenkel. Sie hat irgendwas. Und das war ihr vorher offensichtlich nicht klar. Jetzt sitzt da eine komplett andere Akane-san vor mir. Sie ist so rot und gleichzeitig springt da so viel kränkliche Kälte von ihrem Körper auf meinen über, fast schon, als könnte ich den Kampf in ihrem Innern, die Verzweiflung selbst spüren. Sie rückt näher, sodass sich unsere Hüften berühren und ich schlucke beim Kontakt mit ihrer. Sie scheibt eine Hand auf mein Bein und lässt sie dort auch. Das macht mich nervös, wenn auch nur wenig, obwohl das bei uns doch keine Neuheit mehr ist, wir haben uns noch nie unseren Alters oder unseres Status von Krankenschwester und Oberschüler verhalten. Obwohl ich weiß, dass ich sie aufhalten soll, ist es mir tief in meinem Herzen völlig gleich, dass sie vom Alter her meine Mutter sein könnte oder Ähnliches. Ich bin hier und so schnell werde ich nicht wieder gehen, selbst wenn ich vorher noch gern wüsste, was in ihr vorgeht. Ohne groß drüber nachzudenken, lege ich meine Hand auf ihre, die auf meinem Bein liegt. Ihre Hand ist heiß. Sie schaut weiter auf unsere Beine und ich versuche mir vorzustellen, worauf das alles hinausläuft. "Nun, also Egaoshita-sa... Akira-san, also ich-", "Akane-san, hör mal, ich bin ein schrecklicher Mann, ich... Ich bin niederträchtig. Ich verdiene nicht, dass du mich immer wieder auffängst, ich bin eine miese Ratte, die dich hintergeht und jeden, der dachte, dass sie freundlich ist. Ich bin überhaupt nicht freundlich. Ich habe schreckliche Dinge getan, nur, um da irgendwas in mir drin zu reparieren, ich werde es noch als selbst verständlich ansehen, wenn ich mich weiter bei dir verstecke. Glaubst du, ich kann das einfach weitergehen lassen, obwohl ich so ein Arsch bin?", ich habe sie rüde unterbrochen und die Beherrschung verloren, verdammt. Akane-sans Finger drücken nun so tief in ihre andere Handfläche dass dieses schon beinahe blutet. Sie dreht das Gesicht zu mir, packt mich an den Schultern und wirft mich mit dem Rücken auf die Couchfläche. In ihren Augen liegt Zorn, aber auch Tränen. Sicher weint sie gleich, so kenne ich sie, sie ist schnell den Tränen nahe und wird selten wütend oder handgreiflich. "Red nicht weiter! Glaubst du, ich weiß nicht, wie kaputt du wirklich bist? Ich weiß es, ich war die ganze Zeit da, ich sehe es in deinem Blick, du bereust! Jeden einzelnen Schritt. Du meldest dich immer, wenn du traurig bist, das ist nicht gut und macht mich traurig, aber wenigstens kann ich damit leben, dass du dich überhaupt noch meldest! Zerstör dich nicht selbst so, wie sie es getan hat!", sie atmet schwer wie jeder, der in Rage ist. "Hör auf damit. Bitte sei nicht so anders als der Akira, den ich so sehr liebe!", nun flüstert sie und sieht mich wieder errötet an. Ich rühre mich nicht und sehe sie bloß mit aufgerissenen Augen an, so sehr, dass ich fast schon spüren kann, wie meine Haut spannt. Akane-san nähert sich meinem Gesicht und erst als sich unsere Lippen treffen, verstehe ich, was das werden soll. Sie wirkt überhaupt nicht so alt wie sie tatsächlich ist, ich weiß nicht wie alt sie ist, aber trotz allem sind ihre Lippen so warm und süß und ihr Körper so unglaublich weich und zerbrechlich. Nicht, dass sie fett wäre oder so, nein, sie ist perfekt. Ich hätte mich beinahe mitreißen lassen, da durchbricht ein Gedanke an ihre Worte wie ein Blitz die Stille. Weil ihre Schultern auf der selben Höhe wie meine liegen, stoße ich sie an der Brust von mir weg, dennoch darauf bedacht, weit genug von ihren Brüsten entfernt meine Hände zu parken. Wie auch immer, egal wie schön es sich anfühlt, es ist nichts, was mir vergönnt ist. "Was meinst du mit "sie"?! Wer ist die, von der du da redest?! Wie kannst du das, sagen, ohne zu wissen, was ich getan habe? Im Endeffekt weißt du doch überhaupt nichts über mich. Obwohl wir uns so viel verschweigen, tust du so als könntest du mir helfen, dabei würdest du das doch gar nicht wollen, wenn du die Wahrheit über mich kennen würdest! Mit wem vergleichst du mich da, Akane-san? Wie kommt`s, dass du mich liebst?", erst brülle ich sie an und dann werde ich leise, zumindest in dem Punkt verstehen wir uns. Fassungslos sieht sie mich an und sagt schlussendlich:" Meiko... Meiko Egaoshita-san. Eine ehemalige Schülerin von mir... und deine leibliche Mutter. Sie war genau wie du, hat sich stets schlechtgeredet, wenn sie nicht weiterwusste. sie lebt im Nachbarbezirk und ich habe versprochen, das Geheimnis über ihre Existenz ins Grab mitzunehmen, weil sie sich schlecht fühlt, dich verlassen zu haben. Die ganze Zeit... und trotzdem... konnte ich nicht verhindern, dass ich mich so sehr in dich verliebe, Akira! Es tat so weh! Weh, ihren Sohn dafür zu benutzen, meine inneren Qualen zu beenden! Ich wollte euch beide nicht verlieren und jetzt habe ich genau das getan!", wie erwartet weint sie, aber ihr flehendes Heulen macht ihre Worte nicht ungesagt. Die ganze Zeit wusste sie, wo sich meine leibliche Mutter aufhielt und hat mir kein Wort gesagt. Mir war es bislang ziemlich egal, wo meine richtige Mum sich aufhielt, aber jetzt weiß ich, was ich wirklich fühle. Und dass ist nichts als nackter Zorn. Ich bin sauer und das nicht nur ein wenig. Ich fühle mich betrogen wie auch ich jeden anderen betrogen habe. Trotzdem darf ich jetzt nicht ausrasten, wenn ich weiterkommen will. "Gib mir die Adresse.", befehle ich ohne Bitten und Betteln. "Ja.", flüstert sie und knebelt die Tränen ab, indem sie die Zähne zusammenbeißt. Sie steht kurz auf und geht in ein Zimmer, kommt mit einem Zettel wieder heraus. Wortlos überreicht sie ihn mir und setzt sich wieder zu mir. Ich kann nicht mehr und stehe auf. Nur meine Tasche nehmend, ohne zurückzuschauen. "Wo gehst du hin, Akira! Bitte bleib stehen!", ruft sie mir noch hinterher und diese Situation erinnert mich an Kyocchis Reaktion auf mein Verschwinden. "Ich gehe eben. Und hör doch bitte auf, mich Akira zu nennen, das gibt nur Probleme für uns beide.", sage ich etwas lauter, damit meine Stimme bis hinten zu ihr ins Wohnzimmer dringt. Ich kann gar nicht mehr hinter mir nachsehen, ob alles okay ist. Ich habe alles, was bis eben noch halbwegs okay war, kaputtgemacht, kein Mechaniker der Welt könnte mir diese Sachschäden verzeihen. Nur sind es keine Sachen, die ich mit Füßen getreten habe, sondern die Gefühle von Akane-san. "Zu deiner Information, ich habe unterbewusst Meiko-san erwähnt, weil ich wollte, dass du wenigstens zum letzten Mal deine Mutter siehst, egal wie egal sie dir ist! Weil du mir wichtig bist, kann ich dich nicht unwissend weitermachen lassen! Weil ich dich liebe! Weil ich nie aufhören möchte, dich aufzufangen!", schreit sie weinend hinter meinem Rücken. Ich kann nicht mehr antworten, viel zu schnell lasse ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen und laufe. Ich laufe ohne Ziel oder Plan, renne ohne Kopf in die Richtung, von der dieser beschissene Zettel von Akane-san will, dass ich ihr entgegenlaufe. So vieles habe ich zerstört, so viele Menschen betrogen, belogen, verletzt und letztendlich verloren, egal ob sie noch leben oder nicht. Ich renne so schnell ich kann über die Grenze unseres Bezirks und vergesse dabei, wie wenig ich darauf gefasst bin, was mich erwartet. Ich weiß nicht, ob ich es wissen will. Ob ich meine leibliche Mutter überhaupt sehen will, nachdem sie mich so allein gelassen hat. Mir ist auf einmal alles egal. Die Treppe hoch, die andere wieder herunter, ohne mich recht umzusehen, wo ich hin muss oder mich befinde. Ich verlasse die Geschehnisse und jeden, dem ich wichtig bin, verlasse die Bildfläche, verfehle die eine Treppenstufe, stürze in die Tiefe und mein Herzschlag setzt eine verdammt lange Sekunde aus. Kapitel 29: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Aus der Ferne --------------------------------------------------- Kaishi: Das Wochenende ging gemütlich vorbei und ich gehe nun wieder in die Schule. Shuichiro ist krank und deshalb laufe ich den Schulweg heute allein. Etwas einsam vielleicht, aber auch ganz nett. Nicht, dass ich irgendwie schadenfroh über Shuichiros Krankheit bin, aber die Ruhe ist eben auch angenehm. Die einsame Stille und ich, mehr gibt es nicht, wenn man die Schüler, die ebenfalls meine Uniform tragen außer Acht lässt. Ich bin sehr gut darin, so zu tun als wäre ich allein, denn selbst wenn ich allein bin, gibt es nichts, was irgendwie auffällig wäre, klingt vielleicht traurig, aber das muss es nicht. Ich habe ja noch meine Freunde, die das wettmachen. Egaoshita-san und Kyokei-san, die beiden sind auch noch da und wie jeder Tag wird auch dieser ein schöner, rede ich mir ein, während mein Blick auf Kyokei-san fällt, der neben mir hertrottet. Er scheint mich nicht gesehen zu haben, das sieht einfach nicht danach aus. Sein Blick ist irgendwie abwesend. So als wäre er mit den Gedanken ganz weit fort von hier, als wäre ich gar nicht da. Er scheint den ganzen Weg so gelaufen zu sein, denn so wie er gerade drauf ist, würde er sicher nicht von sich aus auf mich zu kommen. Das war ich, meine Entscheidung, mich ihm zu nähern und die Situation zu analysieren. Und ich komme zum Schluss, dass etwas nicht mit ihm stimmt. Er ist selten so weggetreten auf dem Schulweg, in Gedanken woanders, aber noch immer fokussiert. Egaoshita-san scheint auch nicht da zu sein, bloß Failman-san, die neben ihm hergeht und sich vermutlich wie ich fragt, was mit unserem Freund nicht stimmt. "Hey, Kyokei-san, weißt du vielleicht wo Egaoshita-san steckt?", breche ich das Eis und errege die Aufmerksamkeit von sowohl Kyokei-san als auch Failman-san. Kyokei-san erhebt erst nach ein paar Sekunden den Kopf und sieht mich ausdruckslos an. Die Art von Ausdruckslosigkeit, die man zeigt, wenn man überhaupt nicht zeigen möchte, was in einem selbst oder sonst wo vorgeht. "Oh ja, Akira... ich, habe ihn heute auch noch nicht gesehen. Vielleicht hat er ja verschlafen oder so?", obwohl sein Tonfall normal wie immer klingt, ist da irgendwas in seiner Mimik, die mir verrät, dass er zwar die Wahrheit sagt, aber da dennoch etwas ist, dass ihn von innen auffrisst. Etwas, dass ich nicht sehen darf vielleicht. Ich werde es schon noch herausfinden, sage ich in Gedanken. Das ist eben meine Art, ich respektiere die Privatsphäre der anderen, aber wenn ich sehe wie sie leiden, dann kann ich nicht anders und benutze mein Werkzeug. Ist etwas falsch daran, sich um seine Freunde zu kümmern und helfe zu wollen? Ich denke nicht, und obwohl ich dem nicht zustimme, ist mir trotzdem klar, wie unglaublich vorsichtig ich sein werden muss. Auch ich darf nicht unüberlegt handeln. Der Unterricht hat angefangen und, jeder außer Shuichiro und Egaoshita-san, der heute offensichtlich nicht mehr kommen wird, hat Platz genommen. In Japanisch bin ich sehr gut und habe alles vom Grammatikteil übertragen und gelernt, es wird also nicht die Welt untergehen, wenn meine Aufmerksamkeit mehr Kyokei-san als den Reflexivpronomen gilt. Ein verkrampftes Auftreten und ich bin der Einzige, dem es auffällt, Failman-san ist auf ihrem Heft eingeschlafen. Kyokei-san ballt seine Hände zu Fäuste und trägt Schweißperlen auf der Stirn, die Zähne zusammenbeißend versucht er dem Unterricht zu folgen, was sichtlich nicht funktioniert. Mit der einen Hand klammert er sich an sei Herz und versucht ruhig zu bleiben, wahrscheinlich hat er Herzrasen. Die andere Faust lockert sich und nachdem er andeutet, aufzustehen und sich den Kopf an meiner Tischkante angeschlagen hat, stürzt er einfach zu Boden. Er ist ohnmächtig und es bricht Panik im Klassenzimmer aus. Failman-san wacht auf einen Schlag auf und schreit. Ich bin einer der wenigen, die noch mehr oder weniger die Fassung behalten. Das war eine Panikattacke. Und vom Schock hat er das Bewusstsein verloren. "Ellie, bitte bleib bei uns, bitte stirb nicht!", brüllt Failman-san weiter auf ihn ein und hebt ihn auf. Sie ist vollkommen zerstört. "Failman-san, lass uns ihn ins Krankenzimmer bringen.", bitte ich sie. Wortlos nickt sie und ich nehme seinen anderen Arm auf mich, um ihr tragen zu helfen. Es ist definitiv etwas faul und ich habe es von Anfang an gewusst. Im Krankenzimmer angekommen und Kyokei-san aufs Bett verfrachtet herrscht beißende Leere. Keiner von uns sagt ein Wort und ich versuche immernoch herauszufinden, was Kyokei-san haben könnte. "Failman-san.", bringe ich sie dazu, mich anzusehen und etwas von sich zu geben. "Ja?", ihre Stimme klingt etwas zerkratzt, so als wäre sie ähnlich krank. "Weißt du vielleicht, was der Auslöser für Kyokei-sans Panikattacke sein könnte? Du bist doch schließlich seine Freundin, vielleicht weißt du es ja.", sie schaut auf den Boden und schnürt ihre Stiefel nach, während sie darüber nachdenkt, wie sie mir antworten könnte. "Ich weiß nicht. Ich komm nicht drauf klar, Kaishi. Wir waren und sind doch so glücklich miteinander. Ich weiß nicht, wie ich das nicht verhindern konnte! Ich fühle mich verantwortlich für ihn! Schließlich liebe ich ihn, ich kann da nicht anders. Ich würde ihm so gern helfen, aber du weißt ja wie er ist. Er kann sich nicht öffnen, sogar jemand wie ich weiß das. Ich wüsste einfach gern weshalb.", sie bricht nicht zu plötzlich in Tränen aus, aber plötzlich genug, um etwas in mir auszulösen. Dieses Mädchen ist wirklich anders. Sie ist so anders als alle anderen Mädchen in unserer Klasse, selbst, wenn ich es auf den ersten Blick nicht gesehen habe. Am Anfang dachte ich, sie wäre nur ein weiteres lautes dummes Mädchen ohne Hirn oder Herz, das so etwas wie aufrichtige Liebe und Sorge nicht nachvollziehen kann, aber ich täuschte mich. Sie hat ebenfalls ihre Fassade. Sie scheint glücklich, sorglos und oberflächlich, aber wenn man tiefer gräbt, befindet sich unter dieser Maske ein echtes Mädchen. So echt wie deine und meine Gefühle. So echt wie das, was sie für Kyokei-san empfindet. Sie weint leise weiter und Kyokei-san merkt noch weiter von all dem nicht das kleinste Etwas. Was für ein Glück er doch hat. "Es ist nicht deine Schuld.", unterbreche ich ihre Tränen. "Es gibt Dinge, viel zu viele Dinge, die er in sich hineinfrisst. So war er schon immer, er ist viel zu introvertiert, viel zu verankert in seinen alltäglichen Ruf als dass er uns, seinen Freunden etwas sagen könnte. Dennoch hat er einen Menschen gefunden, der ihm genau das gibt, das ihm so lange gefehlt hat. Ich bin natürlich nicht immer da und das ist auch ganz gut so, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du der einzige Mensch bist, dem Kyokei-san, wie wir ihn kennen, sich öffnet, wenn auch nur ein wenig und unfreiwillig. Wenn du mal nicht mehr als wir anderen weißt, ist das nicht schlimm. Wir sind keine Superärzte, es gibt Dinge die können wir momentan nicht, aber das heißt nicht, dass wir es nie können werden. Und das ändert nichts daran, dass du ein wichtiger Mensch für ihn bist.", erkläre ich, was mir gerade durch den Kopf ging. Ich meine es auch so. Ich bin von Natur aus jedem kritisch kritisch, den ich zum ersten Mal sehe und auch bei ihr war das nicht anders, im Gegenteil, verschärft sogar. Aber inzwischen mag ich sie sogar sehr. Trotzdem gibt es Dinge, die nicht für ihre Ohren bestimmt sind, auch ich kann niemandem alles sagen. "Du, Failman-san, wärst du so lieb und würdest mich kurz mit Kyokei-san allein lassen?", frage ich ins Blaue. "Aber ich muss doch bleiben, wenn er aufwacht und-", "Failman-san! Ich bitte dich. Geh. Es ist wichtig.", ich klinge schon fast aggressiv, das sollte es aber nicht. "Ist gut.", murmelt sie und schiebt die Tür hinter sich zu, um zu verschwinden. Ich hoffe, sie ist nicht sauer auf mich und genauso sehr hoffe ich, dass nachdem ich sie so rausgeschmissen hab, meine Worte nicht an Bedeutung verlieren., das will ich einfach nicht. Aber sie musste gehen. Andernfalls wäre der Druck auf Kyokei-san bei meinem geplanten Verhör einfach viel zu hoch. Ich werde ihr später alles erklären müssen. Ich setze mich zu Kyokei-san ans Bett. Was ist es nur, dass ihm derart in die Psyche greift, dass er ohnmächtig wird? Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass Egaoshita-sans Abwesenheit etwas damit zu tun haben könnte? Das ist weit hergeholt. Das ist nicht sehr rational denkend von mir, kein bisschen rational. Trotzdem, ich kenne Egaoshita-san und ihn schon seit Anfang der Highschool, seit über zwei Jahren beobachte ich die beiden dort, wo es noch nicht als seltsam oder respektlos zählt. Ich habe nachgedacht und beobachtet. Aber ich kann mir keinen richtigen Reim daraus machen, was zwischen den beiden dazu führt, dass Kyokei-san mental durcheinander wird. Oder will ich es einfach nicht, mir einen Reim daraus machen? Mir bleibt nicht anderes, als darauf zu warten, dass er aufwacht. Das ist das, was ich ebenfalls zu tun pflege: Menschen machen lassen und es gleichzeitig leid zu sein, von ihrer Erklärungsbereitschaft, ihrer Stimmung und ihren Antworten abhängig zu sein. So war ich schon immer und daran ändert sich so schnell auch nichts. Trotzdem beschließe ich, bis zum Ende ein guter Freund und ein noch angenehmerer Zeitgenosse zu sein und ihn nicht zu drängen. Selbst wenn ich das möchte, habe auch ich Regeln zu befolgen, wenn ich nicht alles verlieren möchte. Es gibt genug Menschen, die ich kenne, denen genau das widerfahren ist. Kapitel 30: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Der Außerirdische und der, der ihn begreifen will. ---------------------------------------------------------------------------------------- Kyokei-sans Augenlider zucken, bevor er aufwacht und sitzend im Raum umsieht, panisch wie verwahrlost. Als er mich erblickt hält er kurz den Atem an, nur damit er daraufhin in Tränen ausbricht und die Arme um mich schlingt. Er weint. Das sind keine Tränen der Trauer, genauso wenig Tränen von Schmerzen resultierend. Das sind Tränen der Angst. Er steht unter Schock. Er hat Angst. Ich glaube, ich habe Kyokei-san zuvor noch nie weinen sehen. Ich kann mich vorerst gar nicht bewegen deswegen, ich will ihm nicht noch mehr weh tun als er sich selbst weh getan hat. Das erträgt er nicht. Ich darf mich nicht bewegen, solange er nicht freiwillig aufhört, mich zu umarmen. Das machen Menschen, die Angst haben, ich weiß das, weil... Nein, das ist eine andere Geschichte. "Kyokei-san.", flüstere ich ihm zu. "W-Was?", spuckt er mit unüberhörbarem Kloß im Hals aus. "Warum weinst du? Weshalb hältst du mich fest? Was ist nur los mit dir?", frage ich, darauf bedacht, nicht zu neugierig zu klingen. "Ich weine, weil ich Angst habe. Ich halte dich fest, weil ich Angst habe. Ich weiß gar nichts mehr.", schluchzt er und drückt mir seinen Schädel noch mehr in den Bauch, was bei dem Druck etwas schmerzt. "Warum hast du Angst?", will ich wissen und streiche ihm über die Haare, in der Hoffnung, dass er sich beruhigt und seinen Griff um mich lockert. "Können wir das auf später verschieben? Bitte, hier könnte jeder jederzeit reinkommen, ich will darüber nicht reden, nicht hier.", spricht er heiser durch meinen Blazer. "Ist gut, ich kann dich ja nicht zwingen. Nach der Schule bei mir zu Hause, wenn du nichts dagegen hast.", schlage ich vor. Er sagt nichts mehr und hat aufgehört zu weinen, die Angst hat er fürs erste verdrängt. Nachdem Kyokei-san mich endlich losgelassen hat, gehen wir zurück ins Klassenzimmer. Den Rest der Stunde und auch die Stunden danach machte ich gut mit und konzentrierte mich voll und ganz auf den Unterricht, nun ja, das glaubte ich zu tun, in dem ich die Aufgaben machte, von denen von uns erwartet wurde, dass wir die bearbeiteten. Nun verharre ich vor dem Klassenzimmer und warte auf Kyokei-san. Unsere Lehrerin will wissen, was es mit dem Vorfall in der ersten Stunde auf sich hatte. Ich weiß, dass ich es nicht sollte, aber gleichzeitig bin ich vor der Tür wie festgeklebt. Ich kann mich noch nicht einmal daran hindern, zu lauschen: "Ich will nur, damit sagen, dass du sagen musst, wenn du etwas nicht kannst, Kyokei-kun." "Katsuoka-sensei, aber mir geht es wirklich okay. Ich weiß nicht, was das war, ich bin einfach umgekippt. Machen Sie sich keine Sorgen." "Du kannst wirklich nicht anders, oder?!" "Was meinen Sie, Katsuoka-sensei?" "Dass du das nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen kannst, Kyokei-kun. Du bist immer noch ziemlich labil, weißt du? Physisch und psychisch. Kannst du ernsthaft von mir erwarten, dass ich da einfach nur dumm rumhocke und nichts tue?" "Nein. Das will ich ihnen nicht zumuten, Sie sind zu gut, um so etwas zu tun. Tut mir leid." "Jetzt tu doch bitte nicht so beleidigt, ich kenne dich doch, du lässt dir nicht anmerken und ich verstehe das, ich war auch so. Aber sei bitte vorsichtig. Wenn du schon nicht mit mir reden möchtest, dann sei bitte vorsichtig." "Ich geb mein bestes." Die Tür wird geöffnet und Kyokei-san steht direkt vor mir. "Aber Kazukawa-kun, was machst du denn noch hier?", verwirrt sieht mich unsere Lehrerin durch die offene Tür und hinter Kyokei-san an. "Ich wollte hier nur auf Kyokei-san warten, damit wir nach Hause gehen können. Tut mir leid, falls ich gestört haben sollte.", Höflichkeit ist nicht nur der Schlüssel zur Harmonie sondern auch zur Ergebenheit der Menschen. Nein, ich will nicht die Weltherrschaft an mich reißen, aber wenn man sich höflich gibt, sind die meisten freundlicher gestimmt als man glaubt, das ist hilfreich, wenn man etwas ungewöhnliches getan hat wie ich. "Nein, Kazukawa-kun, das wollte ich überhaupt nicht sagen, ich... dachte bloß, dass Failman-san vielleicht auch... wo steckt das Mädchen eigentlich? Sie war den ganzen restlichen Tag so still und distanziert, sogar mit Kyokei-kun zusammen, das sieht ihr doch überhaupt nicht ähnlich...", will Katsuoka-sensei von uns wissen. "Ich schätze, sie ist nach Hause gegangen, ich erkundige mich morgen nach ihr.", gebe ich ihr mein Wort. Sie sieht mich kurz prüfend an und schaut dann Kyokei-san an. "Kyokei-kun. Melde dich bei ihr, ja?", ordnet sie an und dieser nickt bloß stumm. "Weshalb interessiert sie das denn?", frage ich leicht grinsend. "Das... Ich... Mann, bitte lass mich doch, ich interessiere mich eben von Naur aus für die Liebesbeziehungen anderer Menschen! Ist das so schlimm?!", mault sie, so kennen wir unsere lustige verzweifelte Lehrerin. "Keine Sorge, wir sagen niemandem, was sie eben gesagt haben, Sensei.", beruhigt Kyokei-san sie und unterdrückt ein Kichern. "Mann, du in einer Beziehung kannst ja über einen Single wie mich lachen, was?", und weg ist sie. "Warten Sie, so war das doch gar nicht... Vergessen Sie`s.", gibt er auf, ihr alles zu erklären. "Dann lass uns jetzt gehen, was?", merke ich an und tippe ihm auf die Schulter. "J-Ja, gehen wir.", dann verlassen wir das Schulgebäude und schlurfen ohne Worte zu mir nach Hause. In der Villa angekommen, empfängt uns meine Mutter schon, freundlich wie immer. "Willkommen zurück, Kai-chan! Oh, und du musst dann...", "Das ist Kyokei-san aus meiner Klasse.", helfe ich ihr. "Freut mich, hallo.", begrüßt er sie etwas schüchtern. Wenn das Mittagessen fertig ist, sage ich euch Bescheid, ich muss dann wieder, wenn ich nicht will, dass alles verbrennt. Tschüssi!", weg ist sie und wir gehen in mein Zimmer. Dort herrscht dann wieder peinliche Stille zwischen uns, nachdem wir uns auf meinem Bett niedergelassen haben. "Also? Ich höre.", breche ich die Stille und lasse ihn zusammenzucken. "Genau... ja. Also. Warte mal, versprich mir erst, es keiner Menschenseele zu verraten, das ist streng vertraulich und ich fühl mich selbst so als dürfte ich das nicht wissen. Versprichst du es mir?", versucht er es scharf aus mir hervorzulocken. "Du kennst mich doch, ich verrate meine Freunde nicht, und wenn ich dafür gefoltert werde.", bestätige ich. "Meinetwegen, okay ich fang mit dem Aktuellsten an. Ich habe mein Gedächtnis vor zwei Jahren verloren, jetzt gibt es immer noch Dinge, die ich nicht weiß und die bald verschwinden, wenn ich mich nicht beeile, dass ich nach zwei Jahren immer noch nicht erinnern kann und gleichzeitig immer noch alte Erinnerungen zurück bekomme, sollte also eigentlich nicht mehr möglich sein. Ich weiß alles an Schulstoff der letzten zwölf Jahre, wie man isst und schläft und über meine Kindheit. Aber alles Sonstige zwischen dem dritten Mittelschuljahr und der Highschool ist ein verdammter Filmriss. Akira und Chika sind ebenfalls ein Teil von dem, was ich vergessen habe und Akira... na ja, der und ich... haben Dinge getan, die wir vielleicht nicht hätten tun sollen, Akira ist letztens bei mir zu Hause vollends ausgerastet und dann haben wir rumgemacht und, und, und seitdem fühle ich mich wie Weltabschaum. Ich sagte ja, es ist streng vertraulich, wehe du lachst.", erklärt er mir die Lage rot vor Scham. "Egaoshita-san ist schon ein interessanter Zeitgenosse, es überrascht mich ehrlich gesagt nicht. Ich habe ihn beobachtet und dich auch. Nun ja, es ist Failman-san gegenüber nicht die beste Idee gewesen, aber wenn ihr euch denn liebt und-", "Stopp! Das kann man so nicht sagen! Akira ist mein bester Freund und ich liebe Chika. Ich kann das nicht machen, damit verliere ich womöglich alle beide und das will ich nicht. Mit Chika kann ich nicht reden, wo Akira ist, weiß ich nicht, das läuft doch schon alles darauf hinaus!", klagt er betrübt. "Wenn ich Menschen mit meinem Unwissen verletze, mich für Erinnerungen beinahe vergewaltigen lasse und an den Schuldgefühlen ohnmächtig werde, was bin ich denn dann für ein Scheißkerl?!", wimmert er und schon wieder weint er. Wenn Kyokei-san weint, dann weiß man, dass es ihm wirklich schlecht geht. Diesmal sind es Tränen der Verzweiflung. "Ich kann nicht mehr... das sind zu viele Informationen auf einmal. Sie sind verstörend, noch viel mehr, weil, ich sie vergessen habe. Ich ertrag das nicht.", fleht er mich an, es aufhören zu lassen. Aber solange ich kein Gott bin, kann ich dieser Bitte nicht nachgehen. Diesmal bin ich es, der ihn umarmt und seinen Kopf streichelt. "Es wird bestimmt wieder alles gut, ich weiß es.", rede ich leise auf ihn ein, selbst wenn er das jetzt nicht glauben können wird. "Danke, Kaishi.", winselt er und scheint dabei ganz vergessen zu haben, seine undurchdringliche und unverwüstliche Fassade aufrechterhalten zu wollen. Kapitel 31: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Derweil dort, wo das Leid nicht rankommt. ------------------------------------------------------------------------------- "Hast du dich jetzt wieder gefangen?", frage ich leise, nachdem Kyokei-san zu wimmern aufhört. "Scheint so.", brummt er und scheint sich für die vielen Tränen unfassbar zu schämen. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich das sogar. Ich lasse ihn langsam los. "Akira ist praktisch nie krank, der hat ein Immunsystem aus Stahl, der war nie abwesend. Selbst, wenn er die wenigen Male erkältet war, wollte er nie zu Hause bleiben.", beginnt er nach mindestens zwanzig Sekunden Stille. "Ich bin ganz Ohr.", bestätige ich und ahne, was er gleich sagen wird. "Kann sein, dass seine Abwesenheit keinen gesundheitlichen Grund hat. Sondern einen anderen.", spreche ich das aus, was schon lange in der Luft liegt. Kyokei-san schweigt wieder und drückt die Finger tiefer in meine Matratze unter der Decke. Ich gehe nochmal das durch, was mir gesagt wurde, um zu helfen. Vergangenheit, Techtelmechtel, Gedächtnislücken, ist das ein Grund für ihn zu fliehen? Ich denke nicht, Egaoshita-san und Kyokei-san mögen ja rumgemacht haben, einseitige Liebe ist irgendwo auch im Spiel und doch kenne ich ihn nicht so, dass er weglaufen würde, nur weil er möchte, dass Kyokei-san ihm nachläuft. Das ist er nicht. Das ist nicht der Grund. Kyokei-san hat keine Schuld daran, selbst wenn es so wäre. "Es hat nichts mit dir zu tun.", stelle ich nach diesen Gedankengängen klar. "Wie bitte?", stimmt, ich muss ihm erst sagen, wie ich darauf gekommen bin, manchmal vergesse ich das. "Es sieht ihm nicht ähnlich, wegen so etwas die Flucht zu ergreifen, ist es nicht so?", rücke ich ein Verständnis in die richtige Richtung. "Recht hast du. Das ist nicht Akira.", gibt er mir nun Recht. "Hey, Kaishi-chan, ist mein 3DS vielleicht bei dir?", Shuichiro steht in meiner Tür und sieht verstohlen zu Kyokei-san rüber. "Oh, hallo, Kyokei-chan.", überrascht betritt er ebenfalls mein Zimmer. "Moin, Shuichiro.", begrüßt Kyokei-san ihn matt, ich dagegen sage nichts. Da liegt etwas in seiner Ausstrahlung, er kann womöglich riechen, dass Kyokei-san nicht zum spielen hier ist. Unsicher, ob er so stehen bleiben oder sich auf den Boden setzen soll, steht er da und schaut in die Lücke zwischen unserem Freund und mir. Er entscheidet sich dafür, den Raum zu verlassen, mit einer Tüte Chips zurückzukommen und sich auf mein Bett zu setzen. "Was ist denn so passiert, als ich nicht da war?", fragt er naiv wie sonst auch. "Nichts Besonderes.", lügt Kyokei-san emotionslos und ich wehre mich dagegen, ihm zu sage, dass ich genauso gut wie er weiß, dass das nicht der Fall ist. "Egaoshita-san ist verschwunden. Zumindest glauben wir das.", erkläre ich die Lage, in der wir uns befinden. "Akira-chan? Der ist doch bestimmt nur krank...", gähnt er. "Das glaubst du doch wohl selber nicht.", wirft Kyokei-san Shuichiro vor, woraufhin dieser die Augen weitet. Shuichiro senkt kurz seinen Blick und fährt dann fort. "Wenn ich ehrlich bin, glaube ich das auch nicht." Egaoshita-san ist abwesend und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht krank sein. Dann ist es eben das erste Mal, dass er krank ist, versucht mir ein Teil meines Verstandes mir einzubläuen. "Wie auch immer, wir sollten abwarten.", flüstert Kyokei-san wieder und Shuichiro und ich sehen ihn fragend an. "Vielleicht schwänzt er. Leistungsdruck und so. Vielleicht ist er einfach deprimiert wegen seiner Noten.", das habe ich tatsächlich nicht in Betracht gezogen, dass es so sein könnte. Trotzdem glaube ich nicht, dass das wirklich sein Ernst ist, immerhin war Kyokei-san es, der das gesagt hat. Der beste Freund, der alles was den anderen besten Freund angeht erniedrigt, das sieht ihm nicht ähnlich. Das ist eine Falle. Eine, die mich und Shuichiro daran hindern soll, sein Loch aus Schuldgefühlen zu weiten, indem wir von seinem Freund reden, mit dem er letzte Woche rumgemacht hat und dieser dann anschließend aus unserem Blickfeld verschwunden ist. "Vielleicht hast du recht, kein dummer Gedanke, Kyokei-san.", stimme ich ihm zu als wäre alles andere nicht im Bereich des Möglichen. Shuichiro will etwas erwidern, lässt es aber doch bleiben. "Du wolltest doch etwas sagen, Shui. Willst du uns denn gar nicht verraten, was das war?", greift Kyokei-san nach Shuichiros Antwort. Dieser Tonfall und dieses Gesicht, so schaut er immer, wenn er in dieser Laune ist. Skeptisch, rücksichts- und emotionslos, diese Aura die er ausstrahlt macht sogar mir Angst. Dieses Gesicht zeigt er nicht oft, aber wenn er es tut, dann ist es grauenvoll. Der Teil von ihm, der sein alltägliches Gesicht in die Ecke drängt, wenn er merkt, das man etwas im Bezug auf ihm verheimlicht, wenn man ihm das Gefühl gibt, er könne ruhig weiter in dieser Lüge weiterleben. Das ist nicht er. Das ist seine Krankheit, die Krankheit, bereit zu sein, über Leichen zu gehen, wenn man ihn betrügt. Shuichiro kann seine Augen nicht von Kyokei-san abwenden und diese füllen sich, wie ich es von ihm kenne, mit Tränen. Shuichiro ist ein Angsthase und eine Heulsuse, deshalb ist es besser, wenn er bei mir bleibt. "Ich will aber nichts sagen... Das stimmt nämlich gar nicht!", keift Shuichiro weinerlich. "Ach echt?", der alte Kyokei-san ist zurück und sieht ihn etwas mitleidig an. "Aber du musst doch jetzt nicht weinen, so dringend hab ich es auch nicht wissen wollen.", beruhigt Kyokei-san ihn wieder. "Tut mir leid, du brauchst es mir nicht zu sagen, wenn du nicht willst.", wispert Kyokei-san und betrachtet den Fußboden. "Ich geh jetzt besser nach Hause.", ohne dass Shuichiro oder ich ihn aufzuhalten versuchen, hat er die Zimmertür schon hinter sich gelassen. Shuichiro will gerade ebenfalls erneut den Raum verlassen, da schlägt Kyokei-san auf einmal wieder die Tür auf. "Eins noch. Wenn Akira morgen immernoch nicht zurück ist, gründe ich einen Suchtrupp. Heute frage ich erst mal seine Eltern aus, vielleicht wissen die ja was. Ich sag euch Bescheid, wenn ich mehr weiß. Bye.", und schon verschwindet der Türspalt wieder. "Akira-chan ist nicht krank. Kyokei-chan denkt das nicht nur, er weiß es. Er hat glaubt, Schuld daran zu haben. Denn der Grund, weshalb Kyokei-chan das denkt ist, der, dass Akira-chan und er-", ich will ihm gerade sagen, dass er sofort aufhören soll weiterzureden und ihm fragen, woher er diese Informationen hat, da wird zum dritten Mal die Tür geöffnet, unerwarteter den je, viel zu unerwartet als dass die Quantität es hätte zulassen dürfen. Kyokei-san betritt stampfend das Zimmer und ich halte vor Schreck den Atem an, weil ich weiß, dass er mir vertraut hat und diese Information nun doch ans Tageslicht kam. Shuichiro dreht sich wie ferngesteuert um, bevor er von Kyokei-san mit voller Wucht zu Boden geschlagen wird. Seine Nase blutet und er liegt fast schon ohnmächtig auf meinem Teppich. Warum hat er das gesagt? "Shuichiro, du hast gelauscht. Du... hast das wirklich gemacht, was?", wieder scheinen jegliche menschliche Gefühle sich von ihm fernzuhalten, diese Wut sieht nicht mehr menschlich aus, dafür ist sie einfach nicht gemacht. "Kyokei-san, ich wusste nicht, dass-", ich will ihm gerade erklären, dass ich genauso wenig wusste, dass Shuichiro uns belauscht und er hier wohnt und deshalb dazu fähig ist. Ich hätte es wissen müssen. Shuichiro sagt immernoch nichts und unter seinem Gesicht färbt sich der blaue Teppich mit seinem Blut. Kyokei-san steht stocksteif an derselben Stelle und atmet schwer. "Fick dich doch.", mit diesen Worten verlässt er endgültig Zimmer und Haus, bestätigend, dass er nicht mehr zurückkommen wird. Ich wage es nicht, Shuichiro danach zu fragen, wie seine Rede ausgegangen wäre, wenn er nicht gerade von eine seiner besten Freunde geschlagen und aufgefordert worden wäre, sich zu ficken. Wenn ich ihn nicht zu mir gerufen hätte, wäre das nicht passiert. Es ist meine Schuld. Ich kenne Shuichiro doch besser als jeder andere auf dieser Welt. Der Einzige, zu dem man hätte "Fick dich." sagen sollen, ist niemand geringeres als ich. Akira: Der Weg zu dieser scheiß Adresse ist echt lang. Nachbarbezirk am Arsch, wie konnte sie nur so weit weg gehen und mich allein lassen? Ein Glück, dass wir an der Grenze dieses Bezirks leben, sonst hätte es länger gebraucht. Auf Biegen und Brechen, habe ich es über die Grenze geschafft, so viel Zeit ist vergangen, die Schule ist längst vorbei. Kyocchi wird sicher sauer auf mich sein, dass ich die Schule geschwänzt habe und über das Wochenende hinaus die Stadt verlassen habe. Mich nur von meinem Schulbrot und dem Geld ernährt, dass ich eben dabei hatte, Mann, habe ich einen Hunger. Jetzt beginnt es schon wieder dunkel zu werden, und weil ich mir nicht zumute, ein drittes Mal unter der Brücke zu übernachten, mache ich mir Sorgen. Ich streife weiter durch diese Kaff-Gegend dieses Bezirks und lande in einer Art verlassener Einkaufsmeile. Weil ich, selbst wenn ich sofort das Haus meiner Mutter finden würde, nicht den Mut hätte zu klingeln, setze ich mich auf die Terrasse des mittelmäßig gefüllten McDonalds. Mir ist trotz meines Aufenthaltes und meines Hungers nicht danach, etwas zu bestellen. Seufzend starre ich auf die fast schon menschenleere Straße und denke nach. Worüber genau ist mir nicht klar. "Komplizierter Gedanke?", fragt die Stimme eines unbekannten Mädchens hinter mir. "Was?", verdattert sehe ich sie an und fühle mich so, als hätte ich Jahre nicht mehr mit einem Menschen gesprochen. "Wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt.", fällt ihr ein und sie setzt sich neben mich auf die Bank im Sonnenuntergang. Die Pinkhaarige scheint Gefallen daran zu finden, fremde verwahrloste Jungs, die von zu Hause abgehauen sind, einfach so anzusprechen und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Sie guckt mich eindringlich an und ihre blauen Augen hätte ich fast für unendlich fesselnd erklärt, wenn sie nicht wieder zu reden angefangen hätte. "Sanae Uchihara mein Name. Freut mich, dich kennenzulernen.", erfüllt sie ihre vorhin ernannte Pflicht, sich vorzustellen und lächelt mich an. Ist nicht war. Warum sollte man einer fremden Person einfach so seinen Namen sagen oder überhaupt erst ansprechen? Ich sollte mich da lieber rausholen, bevor das noch schräger wird. "Hör mal, Uchihara-san, du kannst nicht einfach fremde Menschen ansprechen und ihnen deinen Namen verraten, das ist gefährlich. Außerdem bin ich der Letzte, der jetzt irgendwie betrogen oder abgezogen werden könnte, da du`s weißt.", beende ich dieses Gespräch, auch wenn es sich nicht so anfühlt, als hätte es sein Ende erreicht. "Aber ich will das doch gar nicht, ich hab doch gar nichts dabei, was DU gerade brauchen könntest. Wir haben beide nicht, was dem anderen von Nutzen sein könnte.", klärt sie mich auf und isst etwas von ihrem Menü. "Das tut nichts zur Sache, du kannst nicht einfach-", ehe ich meinen Satz beendet habe, habe ich auch schon Pommes im Mund. "Wenn du schon nicht reden willst, dann können wir ja essen. Greif ruhig zu.", grinst sie und beißt in ihren Hamburger. "Ich schlucke die Pommes herunter und nehme mir noch etwas von ihr. "Wehe, du überlegst dir das anders.", knurre ich und im selben Moment fühlt es sich an als wäre da ein rumorendes schwarzes Loch in meinem Bauch, dass sich anfühlt als hätte es noch nie Pommes bekommen und kurz vorm Verhungern, wie auch ich zwei Tage ohne Frühstück oder Abendessen mit einem einzigen spärlichen Mittagessen. "Gemeinschaft mit einem Menschen ist mir wichtiger als jemandem irgendwas zu schulden kommen zu lassen. Sind doch beide lonely.", meint sie mit vollem Mund. Trick hin oder her, ich bin zu hungrig, um ihr zu sagen wie unmöglich sie ist. Und so aßen wir, ich nur Pommes, der Burger stand außer Frage. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber wir unterhalten uns wie zwei normale Menschen. Über Schule und den Sinn des Lebens. je mehr wir uns unterhalten und je mehr ich von ihr erfahre, desto besser gefällt mir ihre Art. Aber das würde ich ihr nicht sagen, zumindest vorerst nicht. "Du bist echt ein klasse Typ!", lacht sie und strubbelt mir durch die Haare. Das fühlt sich lustig an. "Willst du mir nicht wenigstens deinen Vornamen sagen, Unbekannt-kun?", fragt sie, nachdem sie ihre Hand aus meinen Haaren entfernt hat. Ich habe nicht länger das Bedürfnis, sie wegzuschicken oder sonstiges. Eine Fremde ist sie auch nicht mehr und überhaupt kann ich mir momentan nicht vorstellen, wie es schlimmer kommen könnte. Ich habe nichts zu verlieren und rücke raus mit der Sprache. "Akira. Akira ist mein Name." Kapitel 32: Vol. 2 - "Tomodachi" Life: Lässt du dich darauf ein, zerfällt es irgendwann. ---------------------------------------------------------------------------------------- "Akira... das ist ein cooler Name.", stellt Uchihara-san fest. Ich weiß wieder nicht, was ich darauf antworten soll. "Na ja, wenn ich dich mit Vornamen anspreche, wäre es nur fair, wenn du mich von jetzt an einfach Sanae nennst.", noch eine Feststellung, aber keine, die mich grübeln lässt. Oh nein, jetzt sind uns die Gesprächsthemen ausgegangen und die Sonne bewegt sich so schnell in Richtung Westen, dass ich Angst habe, wieder draußen zu schlafen, mein Glück, nicht beklaut worden zu sein würde beim dritten Mal bestimmt erschöpft sein. "Nun, was treibt dich so mutterseelenallein zu einem McDonald's ohne, dass du Geld dabei hast?", fragt Sanae, nachdem das mit unserer beider Namen geklärt ist. "Abgehauen. Hat verschiedene Gründe.", erzähle ich knapp. "Hast du es ebenfalls satt? Diese Normalität und die Erwartungen aller?", will sie wissen und sieht mich interessiert an. "Nicht wirklich. Es ist eher, dass ich ein Ferkel bin. Ein schreckliches sogar. Ich bin eine niederträchtige Person.", mal schauen, ob sie wirklich kein normaler Mensch ist, jeder andere hätte in Momenten wie diesen das Gesicht verzogen und nach einem Grund gesucht, diesen Laden zu verlassen, einfach weil ich hier bin. Aber sie bleibst steif in ihrer Mimik und blinzelt bloß stumm drein. "Dann haben wir ja was gemeinsam.", meint sie und starrt auf das leere Tablet. "Hast du vor, wieder nach Hause zu gehen? Irgendwann musst du das ja, wenn du dir keinen Job suchst oder sterben willst.", das war hart. Sie merkt, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat und legt ihre Hand auf meine. "Tut mir leid, das war falsch von mir. Ich bin die Letzte, die Leuten sagen sollte, was vernünftig heißt. Aber du musst entweder noch heute verschwinden oder hier schlafen. Du bist nicht von hier, das hast du gesagt, also musst du dir was einfallen lassen.", rettet die die Aussage von vorhin und holt mich mit dem Rest in die Realität zurück. Sie hat recht. "Ich hab's! Du könntest dich doch für heute bei mir verstecken! Ich hab sturmfrei, es ist also gar kein Problem!", kriegt sie den Geistesblitz des Jahres. "Was?!", klingt gefährlich und wenn ich ehrlich bin, weiß ich, dass man nicht einfach bei Fremden schläft. Andererseits habe ich keine Wahl und bin ziemlich gut in Sport, falls das echt eine Falle sein sollte, kann ich immernoch fliehen, rede ich mit alles schön. "Nun hab dich nicht so, ist nicht weit von hier und überhaupt ist außer mir keiner zu Hause wenn wir schlafen. Indianerehrenwort!", beteuert sie beleidigt auf mein natürliches Misstrauen. Wenn ich mir vorher alles gut anschauen würde und Sanae nicht gerade im zwölften Stock lebt, könnte ich bei Bedarf noch aus dem Fenster springen. Und einen Baum runterklettern. "Ich überlege es mir, wenn ich die Fluchtmöglichkeiten gesehen habe.", gebe ich mich entgegen jeder Vernunft geschlagen. "Freut mich.", flüstert sie leise. Nachdem ich frohgestimmt feststelle, dass sie im Untergeschoss auf Bodenebene lebt und ich fliehen kann, überrede ich mich dazu, mit ihr zu gehen. Morgen habe ich bestimmt wieder Kraft, meine Mutter zu besuchen, für heute kann ich nicht mehr, mein Kopf ist zu schwer. Schwer von allem möglichen Zeug wie Schule schwänzen, abhauen, die Nacht bei einem fremden Mädchen verbringen, ich verdaue das besser, bevor das zu viel wird und ich in die Luft gehe. Die Wohnung ist komplett abgedunkelt und diese Atmosphäre erinnert mich für einen halben Moment an die Nacht mit Kyocchi. Es war kein Sex, aber trotzdem mindestens genauso falsch. Ich hätte gerne den Mut, mich bei ihm zu entschuldigen, aber auf der anderen Seite habe ich so wirre Sachen zu ihm gesagt, dass ich ihn liebe. Verdammt, das weiß ich nicht mal mit Sicherheit, ich weiß nicht was ich von ihm will oder von mir selbst und anderen. Ich habe keine Ahnung. Aber all diese Gedanken drängen sich in den Hintergrund, als wir Sanaes Zimmer betreten. Ein ungewöhnlich leerer Raum, der nur auf das Minimum reduziert ist, unerwartet von einem Mädchen wir ihr. Vielleicht sind sie auch nur arm oder sie besonders sparsam, wer weiß das schon genau? "Akira, also du kannst dich schon mal umziehen, ich geh mich nur noch kurz fertig machen.", sagt sie, bevor sie durch die Tür in den abgedunkelten Flur verschwindet. Ihr sollte klar sein, dass ich nichts zum Wechseln habe, immerhin ist das doch alles nur noch die Definition von spontan. Ich beschließe, den Blazer und meine Kravatte einfach neben das Bett zu legen, den Rest anzubehalten und mich so in ihr Bett zu legen. Ich hoffe für sie, dass sie nicht vorhat, mich zu zwingen, auf dem Boden zu schlafen. Etwas schwungvoll und leicht unbeholfen kommt sie zurück, in einem ziemlich kurzen Nachtkleid. Dass ich in ihrem Bett liege, dazu sagt sie nichts. Ein Glück. Sie legt sich zu mir rein und schmiegt sich an mich. Sie ist warm und riecht, als hätte sie geduscht, in der kurzen Zeit sehr bewundernswert. Eigentlich ist es noch etwas früh, um jetzt schon ins Bett zu gehen, gerade einmal halb Neun. Und trotzdem bin ich müde. Als wäre der Tag für mich jeden Augenblick vorbei, wenn ich noch einmal blinzeln würde. Aber dazu kommt es nicht, denn ich kriege Sanaes Handfläche zu spüren, die über meine Brust zu meinem Hemdkragen gleitet.Und wenn mich nicht alles täuscht, raschelt da eine Kondomverpackung unter dem breiten Kopfkissen. Aber ich versuche mir zu sagen, dass das Blödsinn ist. Und ich glaube mir nicht. Sie hat mein Hemd schon fast zur Hälfte geöffnet, als ich endlich wieder sprechen kann. "Sanae, was soll das werden?", frage ich harsch. Dann küsst sie mich, ziemlich erotisch und fast noch geübter als Kyocchi, aber eben nur fast. Sie löst sich wieder von mir und schaut mich aus ihren wunderschönen Augen an. "Akira... lass es uns einfach tun, ja?", flüstert sie genauso verraucht wie vorhin, flehend und verzweifelt. Als ich nicht antworte, wird sie deutlicher. "Lass uns Sex haben. Schlaf mit mir, Akira." Ich sitze in der Falle. Und der einzige Weg raus, ist der, der aus meiner Rolle des Playboys rausführt und aus mir einen Mann der Vernunft macht. Wenn auch nur heute. Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das Ich kann das. Ich kann das. Ich kann das. Nicht. Kapitel 33: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Schlaflos, schweigend, den Kopf voller Geheimnisse. ----------------------------------------------------------------------------------------- Chika: Nachdem ich gefühlt zwei Stunden bei mir zu Hause auf Ellies Rückkehr gewartet habe, höre ich Schritte von außen. Schnell hüpfe ich zur Haustür und versuche, diese gleichzeitig im Rutschen zu öffnen. Ich rutsche aus und knalle volle Kanne auf mein Steißbein. Ich heule vor Schmerz auf und versuche, die Zähne zusammenzubeißen, immerhin verpasse ich sonst noch Ellie. Verkrampft raffe ich mich auf, öffne die Tür und stürze Ellie direkt vor die Füße.   "Chika?", fragt er verwundert.   Ich brauche nicht nach oben zu sehen, um zu wissen, als wie unerwartet er das empfindet. Was jetzt wohl hinter seinen Augen vor sich geht? Ob er sich denkt "Mit was für einem schrägen Vogel geh ich da eigentlich?" oder "Chika, hast du eigentlich noch einen anderen Lebensinhalt außer mir aufzulauern? Ich bin dein Freund, nicht dein Stalking-Objekt.", oh Mann, oh Mann, wie komme ich da nur wieder raus?   "Erde an Chika Trantüte Failman.", höre ich ihn nochmal nach meiner Antwort verlangen und spüre seine Hand auf meiner Schulter.   Abgedriftet in meinen Gedanken, wie ich war, erschrecke ich mich daraufhin. Ich schnelle mit dem Kopf viel zu schnell nach oben, gebe meinem Freund aus Versehen die Kopfnuss des Jahrhunderts und lasse ihn nach hinten taumeln.   "Herrschaft noch mal, Chika.", höre ich ihn fast lautlos knirschen, als er sich mit zusammengekniffenen Augen das schmerzende Kinn reibt.   "Tut mir so leid, Ellie, ich wollte nicht...", versuche ich, die Situation irgendwie zu retten und rücke etwas näher. Jetzt sind wir beide am Boden wie die letzten Idioten.   "Weißt du, du musst dich nicht so hektisch beeilen, dass du stolperst, nur um mich zu abzufangen. Das ist selbst für deine Verhältnisse ziemlich bekloppt.",   "Tut mir leid...", brumme ich und fühle mich hundeelend. Eine ganz tolle Freundin bin ich.   Dann ist es ein paar Sekunden still. Wir beide sind uns so nah und doch sehen wir einander nicht in die Augen. Ist er genervt von mir? War ich zu aufdringlich? Was um alles in der Welt kann ich tun? Was soll ich tun? Was kann ich tun, damit Ellie mich weiterhin... liebt?   "Chika, schau mich an.", höre ich ihn auf einmal bitten.   Diesmal etwas weniger erschrocken tue ich das.   Seine Augen sehen aus wie immer. Wie immer ist es unmöglich, auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was er denkt. Ich glaube, sein Kinn tut ihm nicht mehr weh, denn er guckt nicht mehr so, als hätte er sich wehgetan. Er schaut, wie er immer schaut. Neutral. Immer ruhig und unberührt. Einfach geradeheraus nach vorne. Sein Blick ist durchdringend wie immer und ich fühle mich nackt vor seinen forschenden Augen.   "Das eben tut mir leid, Chika. Es war unsensibel von mir.", überrascht er mich mit dieser plötzlichen Entschuldigung.   "Aber nein, das muss doch nicht sein. Wie kommst du darauf, dass dem so ist?", bin ich verwundert.   "Die meisten Mädchen mögen es nicht, wenn ihr Freund sie indirekt bekloppt nennt. Die meisten Menschen mögen es nicht, wenn man herablassend mit ihnen spricht. Darauf bin ich nur gekommen, weil ich zufällig an die eine oder andere Fernsehserie gedacht habe und mir eingefallen ist, dass auch die irgendwo der Wahrheit entsprechen.",   "Ach, Ellie.",   "Ich kann es nicht immer sehen, wenn ich dich verletze. Da entgeht mir echt vieles. Ich meine, auch, dass du hier auf mich gewartet hast. Selbst, wenn dein Schädel gerade versucht hat, mit meinem Kiefer die Plattenbewegung von Afrika und Europa nachzustellen... Im Kern warst du einfach nett. Du sorgst dich um mich. Du bist meine Freundin. Meine. Es gibt niemanden, der freundlicher zu mir ist als du. Manchmal tue ich mich schwer damit, die Handlungen anderer zu erwidern und nett zu ihnen zu sein.", auch wenn sein Blick dabei unverändert bleibt, weiß ich, so ist das nun einmal und spüre die Aufrichtigkeit hinter seinen Worten.   "Aber das bist du doch, Ellie!", lasse ich ihn wissen und stoße meinen Kopf ganz sanft gegen seinen. "Allein, dass du mich akzeptierst und ich an deiner Seite sein kann, ist nett. Du gibst dir Mühe meinetwegen. Das ist nicht nichts.", ich spüre, wie er daraufhin den sanften Druck, der von meinem Kopf auf seinen ausgeübt wird.   "Schau mal, Mama, die beiden sehen so aus, als machen sie gleich Liebe!",   "Mika, zum letzten Mal, wir reden nicht laut über Verrückte auf der Straße!",   Daraufhin weiche ich wieder zurück und erschrecke mich ein zweites Mal an diesem Nachmittag zu Tode. Oh mein Gott, wie peinlich!   "Was für ein aufrichtiges Kind das ist.", bemerkt Ellie, als Mutter und Kind von dannen ziehen.   "Ja... aufrichtig. Stimmt, in so einem Alter lernt man noch nicht, wie man lügt.", seufze ich und spüre die Hitze in meinem Gesicht.   "Wohl wahr.", gibt er mir recht und starrt ins Leere. Eine kleine Welle Nostalgie überkommt mich auf diese Bewegung hin und ich muss leise auflachen.   "Was ist so lustig?", fragt er mich, als er das hört.   "Ach, nicht so wichtig.", finde ich.   "Lass uns doch wieder zusammen zu Abend essen. Du, ich und Onii-sama.", über diesen abrupten Themenwechsel ist er wie so oft nicht aus der Ruhe zu bringen, also nickt er einfach.   Er sieht immer noch irgendwie seelisch müde aus., denkt sich ein Teil von mir. Es muss etwas vorgefallen sein, so sieht es aus., fügt derselbe Teil hinzu. Aber ich sage nichts. Ich werde nichts sagen. Wie Kazukawa-kun mir schon deutlich gemacht hat, soll ich einfach gehen und nichts zu all dem sagen. Weil ich es nur schlimmer mache, wenn ich Ellie mit meinen niemals enden Fragen belästigen würde. Vielleicht meinte er es nicht so, aber genau so fühlt es sich an. Ich werde ihn nicht konfrontieren. Das steht mir nicht zu. Seine Freundin zu sein gibt mir nicht das Recht, seine persönlichen Grenzen einfach respektlos zu überschreiten. Ellie fragt noch nicht einmal, was es mit der Schultasche auf sich hat, die nicht weit von mir entfernt auf dem Boden liegt. Das Detail, dass da mein Schlafanzug ist, verrate ich ihm erst, wenn die Zeit gekommen ist.   *** "Du warst lang nicht mehr hier, Chika-chan, was?", meint Onii-sama und beißt was von seinem Brot ab.   Ich nicke nur und esse ebenfalls weiter. Ellie würdigt weder mich noch seinen Bruder eines Blickes. Auch er ist einfach nur am essen. Irgendwas sagt mir, dass ich ihn dabei nicht so anstarren sollte, also schaue ich zu Onii-sama. Dieser bemerkt meinen Blick und starrt zurück. Die Stille ist so erdrückend, dass meine Antenne nicht unterm Druck flach auf meinem Kopf liegt. Die Stimmung ist so angespannt, ich könnte rausgehen, am Haus ein Schild mit der Aufschrift "Hochspannung Lebensgefahr" anbringen und ich hätte recht. Irgendwann schaffe ich es schließlich weder, diese Atmosphäre aus- noch den Anstarrwettbewerb mit Onii-sama standzuhalten, also ruiniere ich das Schweigen.     Ellie sagt von uns am wenigsten, er scheint wirklich mit den Nerven am Ende zu sein. Normalerweise hätte ich ihn so lange genervt, bis er etwas sagt, aber da liegt etwas Toxisches in der Luft, das ich jetzt besser nicht anschneide. Onii-sama scheint auch zu merken, dass keiner von uns in Smalltalk-Laune ist, deshalb schweigt auch er. Das zieht sich das ganze Abendessen über hin, bis Ellie und Onii-sama den Tisch abräumen und dieser noch Arbeiten fürs Studium zu erledigen hat. Zurück bleiben Ellie und ich.   "Kann ich wieder bei dir im Bett schlafen?", frage ich leise ohne ihn anzuschauen.   "Klar.", sagt er matt als wäre es ein so langer Tag gewesen.   Vielleicht ist dem so und nicht nur vielleicht. Er hat eine Panikattacke hinter sich und war zwei Stunden weg, einen längeren Tag wird diese Restwoche wahrscheinlich gar nicht mehr kriegen. Ohne Grund schaue ich auf die Wanduhr, die fast zehn Uhr schlägt. Ziemlich zeitig, um ins Bett zu gehen. Ellie verschwindet in seinem Zimmer, ich mit meiner Tasche im Bad, um mich umzuziehen. Meine Zahnbürste hab ich vergessen, deshalb öffne ich eine neue Packung von diesen und benutze die, die noch keinen Mund von innen gesehen hat. Duschen könnte ich, mir ist irgendwie heiß, viel zu heiß. Ich versuche, nicht länger darüber nachzudenken und ziehe mich für die Dusche aus. Das kalte Wasser fühlt sich schön an auf meiner Haut und wenn ich nicht wüsste, dass ich mich noch zu Ellie ins Bett gesellen wollte, wäre ich bestimmt den ganzen Abend hiergeblieben. Bedacht darauf, meine Haare nicht zu sehr zu durchnässen, werde ich schließlich mit der Abkühlung fertig und ziehe mein zweiteiligen Pyjama an, meinen Liebling. Ich lege meine Schuluniform zwischen den Trägern meiner Schultasche zusammen und betrete mit meinen Sachen behutsam das Zimmer. Ellie liegt etwas gekrümmt in der Mitte des Bettes, als wäre ihm egal, welche Seite ich einnehmen werde. Ich entscheide mich für die Wandseite, nicht nur, weil ich der Verlockung, über ihn drüber kriechen zu müssen, nicht widerstehen kann. Genau das tue ich dann auch und Ellie bewegt sich nicht. Er seufzt und atmet langsam und schwer. Jetzt liegen wir hier und sagen nichts. Ich werde jetzt nichts tun, was er nicht tun will, ich frage nichts. Ich will gar nicht, zugleich kann ich nichts anderes denken. Die Neugier brennt mir unter den Fingernägeln und ich habe nichts, mit dem ich diese Flamme ersticken könnte.   "Ellie, bist du noch wach?", frage ich zischend und rücke etwas näher.   Ich kann seine gekrümmte Wirbelsäule fühlen, es fühlt sich nicht sehr bequem an, so wie er liegt.   "Ja. Ich bin wach, Chika.", flüstert er und in seiner Stimme schwingt etwas Traurigkeit mit.   Ich möchte mich an ihn schmiegen., denkt sich ein Teil von mir. Und das hätte ich auch fast getan, wäre da nicht diese Kleinigkeit, die mich mehr oder weniger davon abhält. "Ellie?", "Ja?", "Kann ich mich an dich schmiegen?", "Fühl dich frei dazu.", "Ich darf, auch wenn ich gerade keinen BH trage?", "Warum solltest du aus diesem Grund nicht dürfen? Deine Brustwarzen sind schließlich auch ein Teil von dir." "S-sag doch nicht so etwas Peinliches...", murmle ich etwas beschämt.   Ganz leise höre ich Ellie schmunzelnd schnauben. Also tue ich es wirklich und schmiege mich ganz eng an ihn. "Wie fühlt sich das an?", flüstere ich fast unhörbar. "Weich. Offenherzig. Einladend.", haucht er. "Ersteres verstehe ich ja noch. Aber was heißt denn bitte offenherzig und einladend?", lache ich leise. "Schwer zu sagen. Offenherzig, weil... na ja, du bist quasi nackt darunter. Und die Form versteckt sich nicht hinter einem Gestell, das gegen die Schwerkraft resistiert. Einladend, weil... ich glaube, dass deine Brüste mich mögen.", "Was soll das denn schon wieder heißen? Hab ich dir nicht eben gesagt, dass du nicht so peinliche Sachen sagen sollst?", mein Gesicht steht in Flammen. "Wie könnte ich damit aufhören? Ist es nicht die direkte Verbindung von Gedanken und Aussprache, die du an mir so liebst?", "Du bist unmöglich, Ellie.", kichere ich und lausche seinem Atem. Mir fällt auf, wie flach der eigentlich ist. "Geht es dir nicht gut? Tut dir vielleicht etwas weh?", hake ich mit gedämpfter Stimme nach. "Geht so. Mir ist nur etwas schlecht, weil ich mich schon wieder überfressen habe. Es passiert nicht oft, aber wenn ich zu intensiv nachdenke, kann ich nicht mehr so gut einschätzen, wie viel ich eigentlich in mich hineinschaufle.", Ellie seufzt.   "Herrschaft noch mal, ich werde wirklich noch dick.", brummt er aus dem anderen Ende des Bettes.   "Dir passiert das sicher nicht, Ellie.", rede ich auf ihn ein und schließe die Arme noch mehr um ihn.   Worüber er wohl derart intensiv nachgedacht hat? Die eine Hand lastet noch immer auf seinen Rippen, mit der anderen schiebe ich ihm meine Finger in seinen nach innen gekehrten Bauch. Kann sein, dass er noch dünner geworden ist, seit ich ihn das letzte Mal angefasst habe. Sein Atem ist genauso flach wie sein Bauch. Ich lege den Kopf schief und lege meine Nase auf seine Schulter, einfach, um den Duft seiner Haut einzuatmen. Wie ich das vermisst habe, einfach bei ihm zu sein. In letzter Zeit scheint er beschäftigt, mit den Gedanken woanders. Er denkt intensiv nach, als würde er sich über eine wichtige Sache den Kopf zerbrechen, über mehrere. Über etwas, bei dem er mich nicht braucht, ich will ihn nicht fragen, ob er sich an unsere Vergangenheit erinnern kann, aber noch viel weniger will ich ihn verlieren. Ich hasse es, Dinge dem Zufall überlassen zu müssen, das kann ich einfach nicht. Das hätte ich fast ausgesprochen, aber stattdessen fingere ihm mit dem Daumen etwas im Nabel herum. Es ist eher ein Drücken, aber egal.   "Ellie, ich... wollte nur sagen, dass ich dich nicht zwingen werde, etwas zu sagen, dass du nicht willst. Du wirkst so kaputt und weil ich nichts für dich tun kann, bin ich entsprechend neugierig, aber... Ich halte mich zurück, ich lasse dich.", damit lulle ich ihn leise ein, ehe ich merke, dass seine Atemzüge gleichmäßiger geworden sind.   Er ist in meinen Armen eingeschlafen. Ich richte mich etwas auf, um ihn besser ansehen zu können.   "Chi... Chika...", sagt er im Schlaf meinen Namen.   Er ist so niedlich, wenn er schläft. So unglaublich süß. Ich fahre mit der Hand durch seine schwarzen glatten Haare und mir fällt wieder einmal ein, wie seidig die eigentlich sind. Ich berühre seine Haut und fühle, wie warm und weich sie ist, wenn er so entspannt und bewusstlos rumliegt. Ich könnte ihn die ganze Zeit ansehen. Wie er einfach schläft und die Sorgen ihn nicht mehr so plagen, dass ich es sehe. Es ist ein ruhiger Schlaf, in den er gefallen ist. Die Grausamkeit hält sich von ihm fern, sie entstellt sein Gesicht nicht. Ellie nimmt es vielleicht selbst nicht wahr durch die Selbstbeschreibung drahtig, schwächlich und labil, aber er ist wirklich hübsch. Wie er sich die Haare geschnitten hat, so zaghaft und unsicher, macht ihn fast noch hübscher. Und ich weiß, dass er mich auch hübsch findet. Ich fahre ihm mit dem Finger über die spröden Lippen. Wenn ich ihn küsse, wacht er auf. Also lege ich mich schlafen. So, wie ich eben gelegen habe.   "Ich liebe dich.", hauche ich und drücke meine Lippen auf seinen Nacken.   Meine Nase ist wieder auf seinen Schultern und tut, was sie am Besten kann. Ich selbst habe mit dem Schlaf kein so großes Glück. Ich liege gefühlt noch weitere Stunden wach, das andere Kissen noch näher an seines, damit mein Gesicht nahe an seinem Kopf sein kann. Ich lasse es darauf beruhen und versuche, nicht an mein eigenes Wohl zu denken. Denn wäre er nicht bald eingeschlafen, hätte er das Blut, das aus meiner Nase seinen Hals hinunterläuft, sicher nicht unkommentiert gelassen. Kapitel 34: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Meine Schuld, dein Schmerz und unsere Angst --------------------------------------------------------------------------------- Elvis: Als ich aufwache, ist mir tatsächlich nicht mehr schlecht. Chika lag die ganze Nacht bei mir und auch jetzt liegt ihre Hand auf meinem ehemalig verdorbenen Bauch. Liebe geht durch den Magen, fällt mir ein. Wenn Liebe durch den Magen geht und sie nur ihre Hand auf dorthin zu platzieren braucht, scheint da durchaus etwas dran zu sein.  Mir geht es besser. Ihretwegen. Meiner Freundin wegen. Chika wegen. Mir sollte es jetzt eigentlich wieder gut gehen, aber das tut es nicht. Die Bauchschmerzen mögen sich verabschiedet zu haben, aber die Schmerzen, die ich sowohl mental als auch physisch in meinem Herzen verspüre, sind noch lange nicht auf dem Heimweg. Ich zeige es ihr vielleicht nicht, oder zumindest nicht absichtlich, aber ich bin todunglücklich. Alles ist so... anders. Und schuld ist niemand Geringeres als ich selbst. Ich kann nicht glücklich sein, auch wenn ich es noch so versuche. Dafür hab ich viel zu viel zerstört. Und trotz allem ist sie hier und weicht mir nicht von der Seite. Sie ist immer bei mir, klebt an mir und zeigt mir jeden Tag ihre unsterbliche Liebe. Auch jetzt. Sie klebt an mir. Das gehört dazu, wenn man von Chika Failman geliebt ist. Das gehört dazu, wenn man Chika Failman liebt.  Man fühlt sie mit allem, was sie ausmacht. So wie wir liegen geht das nicht anders. Ihre Brust an meinem Rücken und ihr Becken an meiner Hüfte. Der Körper einer Frau scheint ein noch größeres Mysterium für sich zu sein, als ich zunächst angenommen habe. Ich habe ebenfalls die Anatomie von sowohl Menschen als auch Tieren mit meiner Tante zusammen studiert, ich dachte, so wäre ich imstande, sozial wie ich bin, in Notfällen, bei denen ich explizit gefragt bin, zu helfen. Zu dienen. Ich dachte, für einen Teenager meines Alters wüsste ich schon einmal fast alles, was es zu wissen gibt. Aber dann schmiegt sie ihren Körper oder existiert einfach und ich fühle mich absolut unwissend. Auch, wenn wir uns geküsst haben, mehrmals. Auch, wenn ich ihre Brüste angefasst habe, einmalig. Es gibt noch viel zu viel, von dem ich nicht weiß, wie es wäre, wenn ich es mit ihrem Körper anstellen würde. Gestern habe ich am eigenen Rücken gespürt, wie sich das anfühlt, wenn sich die eigene Freundin ohne BH an einen schmiegt. Eine Sache mehr, die ich herausgefunden habe. Es hat zunächst leicht gekitzelt, ich gebe zu, ich habe mich leicht erschreckt. Herzklopfen. In dieser Nacht konnte ich nicht verhindern, darüber nachzudenken, wie es wäre, würde sie sich komplett nackt an mich drücken. Wie es wäre, komplett nackt mit ihr zusammen einzuschlafen. Mir fallen wieder die Fakten von jener Nacht ein, in der Chika und ich uns geküsst und berührt haben. Da ich meine Erinnerungen verloren habe, kommt mein Wissen dem Zustand einer Jungfrau gleich, völlig egal, ob ich tatsächlich eine bin oder nicht. Weil ich nicht weiß, wie es ist, mit ihr oder sonst einem Menschen Sex zu haben. Es ist nicht nur das Bedürfnis an Informationen, das mein Gehirn in Momenten wie diesen dominiert. Es ist auch... Verlangen. Du bist nach wie vor im Körper eines siebzehnjährigen Oberschülers, Elvis., sage ich mir und drücke diese Gedanken beiseite. Ich kann von Glück reden, dass sich diese schlüpfrigen Gedanken bei mir doch relativ in Grenzen halten, ich bin längst nicht so lüstern wie... Akira. Mir wird schlecht beim Gedanken an diesen Kerl. Verdammt, was habe ich mir nur dabei gedacht? Was habe ich mir dabei gedacht, dieses Mädchen, mein Mädchen, so herzlos zu betrügen? Ob Bedürfnis an Informationen oder nicht, das ist einfach nur... widerlich. Den engen Kontakt mit ihrem Körper, über den ich ja so viel noch nicht weiß, habe ich überhaupt nicht verdient. "Morgen...", brabbelt sie mir neben das Schlüsselbein und ich fühle ihre vibrierende Nasenluft auf meiner  Haut. Auf meiner Schulter, die nass ist. Ich hoffe für sie, dass das kein Rotz ist. Ich richte mich langsam auf und streiche ihr übers Haar. "Morgen, Chika.", begrüße ich sie etwas verschlafen und bemerke kurz darauf eine Pfütze Blut neben dem Platz, auf dem ich gelegen habe. Dieser Anblick versetzt meinen Verstand wie immer in Alarmbereitschaft und ich schlage die Hand vor dem Mund. Ich schaue weg und versuche, einen klaren Kopf zu behalten. Denk nach, Elvis. Wieso ist da Blut in deinem Bett?  Hatte ich Nasenbluten im Schlaf? Nein, dafür stimmt der Winkel, in dem ich eingeschlafen bin und der, in dem sich die Pfütze befindet, nicht überein. Ist es vielleicht Chikas Menstruation? Nein, dafür ist die Pfütze zu nah an meinem Hals und ihr Intimbereich zu weit weg davon. Darüber denke ich lieber nicht allzu gründlich nach. Ich gebe mir einen Ruck und verdecke die Blutlache unter der Bettdecke. Mein Blick fällt wieder auf meine noch im Halbschlaf befindlichen Freundin.  Chika sieht etwas erschöpft aus, so als hätte sie die letzte Nacht nicht geschlafen und auch ihr sonst so eher rostbrauner Teint wirkt fast schon blasser. Sie wirkt für ihre allseits fröhliche und aufgeweckte Art so... krank. Meine Hand liegt immernoch auf ihrem Kopf und ich fahre ihr unauffällig über die feuchte Stirn. Sie ist viel zu warm. "Chika, geht's dir vielleicht nicht so gut?", frage ich und bin besorgt. Chika bemerkt meinen Blick und richtet sich ebenfalls auf. "Es geht schon.", meint sie grinsend, wenn auch etwas gequält. "Sag Bescheid, wenn du nicht mehr kannst.", bitte ich sie leise, auf sich aufzupassen, ohne sie zu zwingen, zu Hause zu bleiben. Danach ist mir nämlich gerade. Chika nickt. Daraufhin überrollt sie mich wie der Roadroller aus Jojo's Bizarre Adventure und verschwindet aus dem Zimmer.   Notiz an mich selbst: Vergleiche seine Freundin nie wieder mit einer verdammten Dampfwalze.   Ich bleibe allein zurück und denke nach. Taiyo könnte sich wundern, wieso Chika aus meinem Zimmer spaziert kommt. Aber das ist ehrlich gesagt meine kleinste Sorge. Ich denke an Chika. Dass sie nicht mit der größten Gesundheit gesegnet ist, ist mir klar. Unsere Begegnung im Flur damals endete schließlich damit, dass sie asthmatisch nach Luft schnappte und davonrannte. Im Sportunterricht ist sie auch nicht die Beste. Es kommt oft vor, dass sie schneller aus der Puste ist als andere. Sie schreibt mir immer an Tagen, an denen sie sich nicht fit fühlt. Ich habe sie außer im Flur noch nie krank erlebt. Diese Nacht hat sie bei mir übernachtet. Am darauffolgenden Tag ist sie krank. Ich habe sie so gesehen. Und ich kenne Chika gut genug, um zu wissen, dass sie nicht gerne Schwäche zeigt. Irgendetwas sagt mir, dass sie mir heute nicht sagen wird, dass sie sich nicht gut fühlt. Dasselbe Irgendwas sagt mir, dass sie gerade deshalb trotzdem heute zur Schule gehen wird. Einzig und allein, weil ich sie in einem Moment der Schwäche gesehen habe. Im Grunde weißt du doch gar nichts über sie. Du hast keine Ahnung, was sie durchgemacht hat. Was ihr beide zusammen durchgemacht habt. Wieder einmal verbanne ich Gedanken aus meinem Kopf und versenke sie in einem ausgedachten Schredder. Ich schlüpfe aus dem Bett, ohne das Blut darin eines weiteren Blickes zu würdigen. Ich ziehe mich an und trete in den kleinen Flur unserer Wohnung. Taiyo scheint gerade mit dem Frühstück fertiggeworden zu sein. Von Chika ist keine Spur.   "Guten Morgen, Bruder! Ich weiß ja, dass dein Wecker schrott ist, aber na ja, es wäre ziemlich peinlich gewesen, dich zu wecken, wenn ich weiß, dass Chika-chan ebenfalls hier schläft und ich so eventuell in einen Schulmädchen-Porno hineingrätscht wäre.", Taiyo lacht, ich verdrehe die Augen. Schulmädchen-Porno, also wirklich. Einer dieser Schulmädchen ist zufällig ein Junge.   "Sag mal, Taiyo, wo ist eigentlich Chika? Ist sie noch im Bad?",  will ich wissen und Taiyo verengt kurz die Augen, wie immer, wenn er nicht weiß, wie er etwas sagen soll. Ich nenne dieses Phänomen bei ihm übrigens den Zitronenblick.   "Sie ist rausgekommen, meinte, sie hätte keinen Hunger und ist, naja... dann ist sie ausgeflogen. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht auf dich warten wolle, dann meinte sie aber, sie würde draußen warten, wegen frischer Luft oder so.",   "Verstehe.", meine ich nur.   "Ist alles in Ordnung mit ihr?", fragt er mich.   "Wie könnte es das? Sie wartet draußen, um zu atmen.", lasse ich ihn wissen.   Meine Augen landen auf der Uhr und ich realisiere, dass ich ziemlich spät dran bin. Ich werde mir die Zähne putzen und das Frühstück ausfallen lassen. Mehr Zeit ist mir nicht vergönnt.    "Bist du im Bad fertig?", gehe ich sicher, dass ich mich nicht weiter verspäte.   "Jep, hau rein, Alter.", antwortet er. "Aber warte.", Taiyo zeigt auf die Stelle unterhalb meines Kinns. "El, du hast da was am Hals.", sagt er mit einer Mischung aus Neugier, Ernst und Gleichgültigkeit. "Blut oder so.", ergänzt er und starrt weiter auf die Stelle drauf. Ich krame ein Taschentuch aus meiner Tasche und reibe mir das verkrustete Blut ab. Das blutige Taschentuch verstaue ich faul in der Hosentasche. Nachdem ich also meine Zähne geputzt habe, verlasse ich die Wohnung. Chika empfängt mich still und wir machen uns auf den Weg. Wieder treffen wir auf Hanako und ich der versuche die doch so übertriebene Angst um Chika in den hintersten Winkel meines Verstandes zu verdrängen. Als Freund sollte ich ebenfalls etwas vertrauen in meine Freundin haben, dass sie weiß, was sie tut. Ich rede mir ein, dass Chika einfach etwas angeschlagen ist. Ich rede mir ein, dass meine Angst völlig unbegründet ist. Die Angst, dass wieder ihr Blut an meinen Händen klebt.   *** Die erste Stunde, zu der Chika, Hanako und ich gerade noch pünktlich erschienen, zog sich wie Kaugummi. Mit Kaishi und Shuichiro habe ich noch immer kein weiteres Wort gewechselt. Akira ist auch heute abwesend. Ich hab nicht vergessen, was ich Shuichiro angetan habe. Aber was den Suchtrupp angeht, sollte ich schleunigst etwas unternehmen, wenn ich nicht will,  dass er weiter alles ins Chaos stürzt. Dass er weg ist, ist bereits ein eigenes Chaos für sich. Ich hoffe, er ist noch am Leben, denn wenn nicht, könnte ich mir das ganz bestimmt nicht verzeihen. Er ist Teil meines Lebens meines Alltags, meiner Normalität. Meiner Realität. Er ist es wert, dass ich etwas unternehme, sei es auch mit dem, der mich belauscht und dafür meine Faust kassiert hat, zu reden. Ich rette nur die Welt, in der ich lebe. Damit ich weiter meine Routine machen und meine Arbeit verrichten kann. In der Pause sehe ich meine Chance und gehe auf die beiden Tische von Kaishi und Shuichiro zu. Kaishi sieht mich einfach nur an, Shuichiro tut noch nicht einmal das.   "Brauchst du etwas, Kyokei-san?", fragt er mich zuvorkommend wie immer.    "Lass uns aufs Schuldach. Reden. Ist wichtig.", erkläre ich knapp.   Beide stehen sie auf und kurz darauf sind wir auch oben, dort, wo voraussichtlich keiner zuhören wird. Chika ist im Klassenzimmer zurückgeblieben. Sie scheint gewittert zu haben, dass sie mir nicht aufs Dach folgen kann. Heute ist die Atmosphäre zwischen uns von einer unaussprechlichen Distanz geprägt, von der ich weiß, dass ich schuld an ihr habe. Chika versucht, rücksichtsvoll zu sein, ich dagegen bin im Vergleich absolut rücksichtslos. Wenn nicht bald ein Wunder meinerseits geschieht, wird ihre Güte am Ende vielleicht nicht mehr dafür ausreichen, um so zu tun als wäre nichts und sie wird mich verlassen. Das muss ich um jeden Preis verhindern. Nur leider nicht jetzt. "Shuichiro, hör mal, für mein gestriges Verhalten möchte ich mich wirklich-",   "Warum hast du uns aufgelauert?", unterbricht er mich und sieht mich ernst an. "Warum hast du so getan, als würdest du nach Hause gehen?",   "Ist es schlimm, dass ich nicht nach Hause gegangen bin?",   "Aber warum... warum, Kyokei-chan? Das ist so... hinterhältig.",   "Hinterhältiger als hinter meinem Rücken über mich zu reden, nachdem du selbst lauschend vor der Tür ausgeharrt hast, was meinst du?", seine Augen weiten sich, als wäre er das, was man geschockt nennt.   "Du verstehst das nicht, ich...",   "Wenn irgendjemand von uns hinterhältig ist, dann bist du das, mein Freund.",   "So ist das nicht, Kyokei-chan, ich...",   "Du wusstest genau, dass ich mir bei Kaishi das Herz ausgeschüttet habe. Du weißt, wie schrecklich unangenehm das für mich gewesen wäre, wenn ein Dritter davon erfahren hat. Und doch konntest du nicht anders, als mich zu hintergehen und hinterher das Opfer zu spielen.",   "Halt die Klappe!", unterbricht er mich zerknirscht und ich erschrecke bei diesem harschen Tonfall, der ausgerechnet aus seinem Mund zu hören ist. Ist nicht wahr.    "Was ist falsch mit dir?", will ich wissen. "Ich habe dich geschlagen, nicht deine Mutter flachgelegt. Es tut mir leid, hörst du?",   "Was ist falsch mit dir?!", ist er nun lauter und ich zucke erneut zusammen bei der Lautstärke, die er nun erreicht hat.   "Shui, im Ernst, es-",   "Nein! Falls du sagen willst, dass das, was ich sage, über die Grenze geht, dann ist auch das, was wir die ganze Zeit versuchen, so langsam Lichtjahre drüber hinweg!", Tränen glänzen in seinen Augen, Kaishis Unterkiefer reibt gereizt an seinem Oberkiefer.   "Shuichiro, ich kann dir beim besten Willen nicht folgen. Wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich dich nicht verstehen.",   "Ich kann dich doch auch nicht verstehen!", schreit er, packt mich am Kragen und sieht mir schmerzerfüllt in die Augen. Hat der eine Kraft.   "Shui, lass Kyokei-san los. Was, neben einer Entschuldigung, verlangst du denn noch von ihm? Das-",   "Hör doch endlich auf, so zu tun, Kaishi-chan!", faucht er ihn an, ehe sein Blick wieder meinem begegnet. Noch nie habe ich Shuichiro derart als das erlebt, was man wütend nennt.    "Kyokei-chan... warum... warum bist du so? Wieso kannst du nicht einfach mal sagen, was los ist? Ich verstehe, warum du mich hauen musstest, aber ich verstehe nicht, wieso du uns so überhaupt nicht über den Weg traust. Hast du das je? Was sind wir für dich? Hast du uns die ganze Zeit nur... benutzt?!", schluchzt er er zerknirscht und sieht mich mit wütender Verzweiflung weiter an.   "Definiere benutzt. Er ist ja so verdammt wütend. Wütender als er sein dürfte. Und dann trifft mich der Schlag wie er Shuichiro an jenem Nachmittag getroffen hat.  Er ist nicht wütend auf mich. Er ist nicht enttäuscht oder verletzt meinetwegen. Seine Wut gilt nicht mir. Sie gilt dem, als der ich gezwungen bin zu existieren. Sie gilt Elvis. Versuche, Shuichiro zu verstehen. Was will er wohl?    "Was meinst du, Shuichiro? Meinst du nicht, dass du für einen Schlag nicht etwas übertreibst?",   "Das ist doch jetzt nicht dein scheiß Ernst, Mann! Wirst du wohl endlich mal... wirst du endlich mal irgendetwas sagen oder tun, dass auch nur ansatzweise auf das anspielt, was wirklich du ist?!", er saugt scharf Luft in seine Lunge. "Wann hörst du auf, mich so anzusehen, als  wären wir Fremde? Wann hörst du auf, so vorhersehbare Dinge zu sagen? Warum zur Hölle wissen wir eigentlich gar nichts über dich? Wieso vertraust du uns so überhaupt nicht? Wenn du irgendetwas weißt oder nicht weißt, warum zum Teufel sagst du es nicht einfach?!", das ist der Moment, in dem ich ihn davonstoße. Nicht er auch noch.   "Ich hätte dich nicht im Traum für einen solchen Heuchler gehalten, Shuichiro Fujisawa. Ich soll dich wie einen Fremden ansehen? Du bist es doch, der mich gerade wie einen behandelt. Ich verstehe noch immer nicht, worauf du eigentlich hinauswillst. Ich weiß nicht, was deine Mission ist oder was es bringen soll, deinen Hass auf mich so zu verbergen, dass es aussieht, als würdest du mich von Herzen gernhaben.", Shuichiros Gesicht nimmt kurz einen verletzten Ausdruck an, ehe wieder seine Wut zum Vorschein kommt.   "Das stimmt nicht! Kein Stück! Ich bin nicht wütend, weil ich ein Heuchler oder ich dich angeblich nicht mag. Nein, ich bin wütend, gerade weil ich dich mag! Ich habe dich immer gemocht, Kyokei-chan! Kaishi-chan auch. Aber es tut so weh. Ich kann nicht mehr! Du dagegen scheinst überhaupt nichts zu fühlen, oder? Zumindest wissen wir das nicht! Wie kann ich mir sicher sein, dass wir Freunde sind, wenn du uns nicht einmal vertraust? Wie kann ich mir sicher sein, dass wir Freunde sind, wenn du nie, nie, nie auch nur irgendetwas von dir preisgibst, sondern immer nur lügst? Du beweist einem ja noch nicht einmal, dass es keine Lüge ist. Was erwartest du also, dass ich glaube?" Ich strecke meine Hand nach Shuichiro aus, damit er mir auch wirklich zuhört, aber dazu kommt es nicht. Er rennt ein Stück zum Rand und bleibt steif in der Position eines verletzten verängstigten Tiers. Nur ist das Tier namens Shuichiro auch noch mit einer entzürnten Aura bewaffnet, deren Radius ich mich nicht zu nähern traue. "Komm ja nicht näher!", schreit er. "Bleib einfach weg.", sagt er mit erstickter Stimme. "Shuichiro, lass den Scheiß und hör mir zu.", flehe ich eher genervt als wirklich flehend. "Shui, sei vernünftig, seit gestern bist du drauf wie ein Junkie auf Entzug, hör ihm zu, also-", "Sei doch still!", unterbricht Shuichiro Kaishi harsch. Wir gehen beide näher an die bedrohliche Aura, Shuichiro weicht noch mehr an den Rand. "Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe! Ich hab überreagiert, du weißt doch, dass ich dir nie freiwillig wehtun würde.", teile ich ihm meine Gefühle mit, die nicht zu ihn durchdringen. "Heuchler.", flüstert er. "Shui, lass es, er ist kein-", "Ist er wohl! Wenn er mir Kaishi-chan wegnimmt, ist er das! Wenn er das tut, kann ich genauso gut sterben!", brüllt er und stürzt sich über die Kante das Dach hinunter. "Shuichiro!!!", schreit Kaishi voller Leid, ich kriege nichts aus der Kehle. Kaishi sackt hinter der Wand zusammen und zittert, doch wir beide hören den sich schrecklich anhörenden Aufprall Shuichiros, der mich sofort an meinen eigenen Tod im Traum erinnert. Kaishi bewegt sich nicht und schreit, kurz darauf alle Schüler, die in diesem Moment die Köpfe aus den Fenstern strecken. Das Geräusch hallt hundertfach in meinem Hirn wider, dass mir alles hochkommt. Stumm schmeiße ich mich die Treppen zum Flur runter, renne ins Jungsklo in eine Kabine und übergebe mich qualvollst. Mein Herz rast und mein Magen fühlt sich an, als zöge er sich zusammen, als wären Stacheln drin, die das Zusammenziehen noch viel schmerzhafter machen. Es brennt furchtbar in ihm und ich kann meinen Kopf nicht über der Schüssel halten, stattdessen hängt er fast schon im Klowasser. Ich will Shuichiros Leiche nicht sehen, ich sehe sie schon vor mir, ohne überhaupt draußen nach unten gesehen zu haben. Kaishi kann ich auch nicht vor die Augen treten, Chika sowieso nicht, Akira auch nicht und überhaupt niemanden! Seit wann bin ich das Leben so leid? Seit wann bin ich an allem Leid schuld? "Seit wann ist das so?", krächze ich und krieche noch etwas tiefer in den Kabinenraum und schließe die Tür. Das Atmen tut mir immernoch weh und zum Aufstehen fehlt mir nach wie vor die Kraft. Das ist so schrecklich, die ganzen panischen Schreie aller und die Sirenen des Krankenwagens zu hören, verdammt, warum hab ich mich nicht unter Kontrolle?! Alles, woran ich denken kann, ist das Leid, dass ich allen durch meine Existenz beschert habe und was für ein beschissener Mensch, Sohn oder Freund ich doch bin, platonisch wie romantisch ein furchtbarer Freund. Im Gedanken an die ganze innere Verzweiflung schiebe ich mir die Finger in den Hals. Kapitel 35: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Der Soundtrack des Antihelden ------------------------------------------------------------------- Da kommt nichts, ich kann mir die Finger noch so tief in den Rachen drücken, da kommt nichts mehr, was nicht schon vorher an die frische Luft kam. Ein wenig traurig, aber auch genervt, hebe ich den Kopf und stelle fest, dass ich für Bulimie anscheinend nicht gemacht bin, aber welcher Mensch ist das denn bitte? Wem mach ich was vor, über Essstörungen kann ich nachher grübeln, ich habe gerade einen verdammten Mitschüler in den Selbstmord getrieben! Und das lässt mich weder los, noch tut das weniger weh, nur weil ich gerade versucht habe, mutwillig das Kotzen zu bekommen. Ich öffne noch immer halb auf den Boden kauernd die Kabinentür und verweile noch ein paar Sekunden so. Was mach ich jetzt bloß? Zurück zu Kaishi gehen und ihm sagen, dass alles okay wird? Wertlos, denn daran glaube ich ja selbst nicht einmal. Zu Chika gehen und sagen, dass ich ganz indirekt Shuichiro um die Ecke gebracht habe? Nein, dazu müsste ich ihr den Rest sagen und so sehr es auch schmerzt ihr Normalität vorzulügen, das kann ich einfach nicht. In den Unterricht gehen und so tun als hätte ich nichts gesehen? Nein, weder der Unterrichtsstoff noch die anderen Schüler würden es schaffen, mich vom Suizid Shuichiros erfolgreich abzulenken. Ich habe von Anfang an recht gehabt, ich kann nicht zurück. Zu niemandem. Es wird nie mehr so sein wie früher als ich glaubte, alles sei normal und nur ich sei anders. Ich bin kein Stück besser als jeder andere hier und gleichzeitig kann niemand meine Gefühle teilen. "Kyokei-kun?", unser Sportlehrer Sonoda-sensei kommt in den Raum und sieht mich mitleidig an. "Sonoda-sensei, es... Also, ich...", mir fällt absolut nichts ein, was ich ihm sagen könnte. 'Sonoda-sensei, ich hatte eine Freundschaft-Plus-Beziehung mit Egaoshita-kun, Kazukawa-kun weiß auch Bescheid, und zusammen haben wir Fujisawa-kun mental und jetzt auch noch physisch getötet', das ist doch Schwachsinn auf höchstem Niveau! "Ist alles in Ordnung, Kyokei-kun? Du hast Erbrochenes am Kinn. Nein, natürlich ist nichts in Ordnung, ich hab wie jeder im Gebäude Wind von Fujisawa-kuns Selbstmord bekommen, der Junge wurde ins Krankenhaus eingeliefert.", bringt er mich auf den neuesten Stand. "Glauben Sie, er wird überleben? Also ohne Behinderung oder so?", frage ich ihn mit etwas weinerlichem Unterton. "Ich sage nichts, von dem ich mir nicht sicher bin, dass es wahr ist, Kyokei-kun, ich weiß es nicht. Aber ich hoffe es.", spricht er weiter und kniet sich zu mir auf den Parkettboden. "Kannst du aufstehen?", ohne eine Antwort von mir zu bekommen, hievt er mich zurück in Stehposition. "Ich werde jetzt loslassen.", informiert er mich, ich nicke und er lässt anschließend meine Hand los. "Du machst in letzter Zeit so einen bedrückten Eindruck, kann ich dir vielleicht irgendwo helfen? Bin ja auch Vertrauenslehrer und so.", das sagt er und wäre es nicht so schrecklich kompliziert und für den Rest der Welt so abstoßend und verstörend, hätte ich ihm vielleicht etwas gesagt. Aber das kann ich auch nicht, denke ich und spüle mir den Mund aus. Akira wegen und jedem anderen, dem ich vertraut habe, wenn ich das mache, weiß ich nicht, ob ich jemals wieder ein guter Freund werden kann. "Ich... will nicht darüber reden, Sonoda-sensei. Ich kann nicht. Bitte verstehen sie das. Ich würde es ihnen sehr gerne sagen, wenn es gerade nicht so verstrickt wäre, aber...", ich kann nicht weiterreden, mir bleibt ein Kloß im Hals stecken und zum Rumheulen ist wie auch sonst nicht die Zeit! "Verstehe, ich glaube, da verstehe ich dich. Ich war auch mal siebzehn, manchmal ist einfach alles so verdammt gruselig und man fühlt sich wie der letzte überlebende Zivillist einer Zombieapokalypse.", äußert er sich hierzu. "Das kennen Sie, ganz ehrlich?!", fast schon glücklich höre ich mich an, eben fast, weil man nach dem Tod einer Person besser nicht zu fröhlich ist, aus Höflichkeit. "Zumindest in dem Gedanken ähneln wir uns, das haben wir gemein.", meint er und bockst mich in die Seite, nicht normal, sondern so, dass man erkennen kann, dass er selbst viel zu deprimiert ist, um lustig drauf zu sein. "Fühlen Sie sich denn auch jetzt wie dieser einsame Mensch?", frage ich vorsichtig meinen Lehrer. Er senkt kurz den Blick, was sich für mich zwar nach einer Zusage aussieht, ich das aber nicht denken will. Ebenfalls aus Höflichkeit. "Sie brauchen mir nicht zu antworten, wenn sie nicht wollen, ich meine, ich habe ihnen schließlich ja auch nicht-", "ja, das tue ich schon.", unterbricht er mich sachlich klingend, er lächelt zwar, aber nach einer solchen Aussage, ist das kein Glückslächeln. "Verstehe.", flüstere ich mehr zu mir selbst als zu Sonoda-sensei. Er ist eben auch ein Mensch. "Ich sollte jetzt gehen.", merke ich an und bin im Begriff, zurückzugehen als er noch nach meinem Handgelenk greift. "Warte, Kyokei-kun. Also, wegen Egaoshita-kun, der verschwunden ist und von der Polizei gesucht wird, weißt du vielleicht auch etwas davon?", diese Frage bricht mir das Genick. Scheiße. Ich bin der letzte Mensch im Bezug auf die Schule, den er gesehen hat, bevor er verschwunden ist, das glaube ich, denn er scheint laut Aussagen seiner Eltern nicht nach Hause gekommen zu sein. "Warum fragen Sie?", will ich wissen und sehe ihn nicht an. "Ich hab gesehen, wie ihr beiden nach Hause gegangen seid und da war auch das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Wenn du irgendetwas im Bezug auf seine Abwesenheit verschweigst, machst du dich vielleicht schon strafbar. Ich kenne mich da nicht aus, aber das ist keine gute Idee. Vermeide es, das macht dich kaputt.", gibt er mir, unsicher, ob mit Absicht oder nicht, noch mehr Salz in die Wunde. "Ich weiß nicht, wo er ist.", beteuere ich still auf meine Unschuld. "Lassen Sie doch jetzt bitte meine Hand los.", bitte ich ihn und dem geht er nach. "Es tut mir leid, dich bedrängt zu haben, Kyokei-kun.", entschuldigt er sich am Ende. "Kein Ding, heute ist sowieso alles gelaufen.", brumme ich nach wie vor deprimiert und verschwinde. Wie hypnotisiert steuere ich ins Klassenzimmer zurück, um zu sehen, wie es den Rest der Klasse geht. Die einen sind in Panik, die anderen weinen und der Rest tut als hätte er nichts gesehen. Sogar Kaishi ist unter ihnen, er sitzt an seinem Platz und verfolgt den Unterricht, den ich gerade gestört habe. "Eeeeellie!!! Ich hab mir solche Sorgen gemacht! Wo warst du nur die ganze Zeit?", Chika schmeißt sich mir heulend und krank vor Sorge um den Hals. "Du bist rausgegangen und dann hat sich Shuichiro umgebracht, deshalb hatte ich Angst, dass dir vielleicht auch etwas Schreckliches passiert wäre.", teilt sie mir erstickt mit. Ich kann plötzlich nicht mehr reden, ich weiß nicht, was ich ihr noch sagen kann, dass ich schuld daran bin, dass Shuichiro sich das Leben nehmen wollte. Und es ist Chika, sie will rein gar nichts wissen und beschützt mich nur, so gütig kann ein Mensch doch gar nicht sein! Ich kriege keinen Ton raus und lege nur die Arme um sie und den Kopf auf ihre Schulter. "Failman-san, wirst du bitte damit aufhören, den Unterricht zu stören? Und Kyokei-kun, bitte setz dich doch endlich.", trägt uns Katsuoka-sensei in einem ziemlich sachlichen Ton auf. "Das hört ihr beiden sicher nicht gerne, aber wenn ihr weiter so rumsteht, kann ich meinen Job nicht erledigen und jeder kann an nichts anderes als an den Vorfall von vorhin denken, das versteht ihr doch hoffentlich, oder?", diese Erklärung klingt nun eher nach Katsuoka-sensei und wir verstehen sie. Ich lasse Chika wieder los und trete zwei Schritte näher an unsere Klassenlehrerin. "Ist gut, tut uns leid.", entschuldige ich uns und verbeuge ich mich. Schweigend gehen wir beide zurück an unsere Plätze. Der Schultag war kaum auszuhalten und zog sich wie Kaugummi qualvoll in die Länge. Und je mehr Zeit verging, desto größer meine Angst um Akira und meine Schuldgefühle wegen Shuichiro. Jetzt ist der Schultag vorbei und ich sitze noch immer in dem leeren Klassenzimmer, Chika, Kaishi und Hanako mit mir. "Also, was den Suchtrupp angeht, wenn wir die Polizei miteinbeziehen, werden wir Akira bestimmt nicht nur verschrecken, sondern vielleicht ganz aus den Augen verlieren. Lass uns am Besten gleich jetzt damit anfangen, Akira ist jetzt seid fast vier Tagen weg und wer weiß, wie es ihm jetzt geht oder ob er verletzt ist? Wir müssen ihm doch irgendwie helfen!", erkläre ich meinen Freunden, so euphorisch das nach einem erlebten Selbstmord möglich ist. "Wir sollten uns aufteilen. Wenn vier von uns in vier verschiedenen Richtungen allein suchen und fündig werden sollen, wird Akira bestimmt nicht so schnell flüchten als wenn er uns als ganze Gruppe über den Weg laufen würde.", schlage ich vor. Ich sehe Chika an und was ihre Version von Morgen angeht sieht sie jetzt nicht viel besser aus. "Chika, ist wirklich alles in Ordnung? Du siehst irgendwie fertig aus.", meine ich und versuche, ihr nicht zu offensichtlich in die glasigen Augen zu starren. "Es passt schon, ich kann noch laufen und sehen und dass ich nicht gerade den schönsten Anblick abgebe liegt vermutlich an dem... Vorfall.", erklärt sie mir und ein Teil von mir glaubt diese Lüge auch noch. "Ruf an oder fahr mit dem Bus nach Hause, wenn es dir schlecht geht.", wieder vermeide ich es, ihr Vorschriften zu machen und hoffe nur auf ihr recht. Chika nickt und trinkt einen Schluck aus ihrer Trinkflasche. Treffen wir uns nach der Vorbereitung beim Einkaufszentrum, das ist ein guter Start. Von dort aus trennen wir uns in alle vier Himmelsrichtungen. Hat noch jemand etwas einzuwenden?", frage ich ausdruckslos. "Okay, dann treffen wir uns da. Bis nachher um sechs." Kapitel 36: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Die Menschen, denen etwas an dir liegt. ----------------------------------------------------------------------------- Zu Hause angekommen finde ich Taiyo auf der Couch fernsehend wieder. "Hi, Elvis, wie war Schule und-", "Ich muss gleich wieder los, nur zur Info.", unterbreche ich seine lockere Begrüßung. "Aber wieso das denn? Ah, und hallo Chika-chan.", brummt er und wechselt den Sender. "Hi, Onii-sama.", antwortet Chika matt. Sie wirkt wirklich müde. "Lass uns etwas zum essen einpacken und dann verschwinden, der Heimweg ist doch schon immer so lang.", sage ich Chika und wieder nickt sie bloß. Nachdem wir also unsere Schuluniformen gegen Alltagskleidung getauscht, etwas zu trinken von zu Hause und ein paar Sandwichs beim Kombini eingekauft haben, waren wir also beim besagten Treffpunkt. Ich habe nicht vergessen, dass Chika heute nicht bester Gesundheit ist und nehme eine Planänderung vor. "Ich hab`s mir anders überlegt, lass uns Zweiergruppen bilden. Chika und Hanako, Kaishi und ich. Okay, wer wird wo suchen?", rattere ich runter, was ich denke. "Oder wir gehen erst zusammen und trennen uns, wenn wir ungefähr, aber genauer wissen, wo wir jetzt suchen müssen.", wirft Kaishi noch ein. "Du hast recht, taktisch macht das vielleicht sogar mehr Sinn, danke dir.", es ist erstaunlich, wie er nach dem Tod seines besten Freundes wieder so normal bleiben kann. Kaishi ist unglaublich. "Übrigens, ich bin mit meinem Auto hier, wir können also notfalls damit fahren, falls er weit weg sein sollte." Dazu sagt keiner etwas, auch wenn offensichtlich jeder Anwesende in diesem Moment dankbar für Kaishi selbst und seinen Reichtum ist. "Nun, da wir alles geklärt haben, sollten wir unseren Plan noch einmal besprechen. Wie und wo sollen wir suchen. Und wie können wir dafür sorgen, dass Akira nicht vor uns-", "Waaaaaartet!", eine altbekannte Stimme, nicht nur das, auch noch die von Tante Akane, ruft uns entgegen. "Ich glaube, ich weiß, wo Egaoshita-sa... euer Freund sich aufhalten könnte! Ich hab ihn gesehen. Er ist in den Nachbarbezirk gerannt. Ich wollte joggen und da sah ich ihn, ich wollte Hallo sagen, aber da war er auch schon weg.", erzählt uns meine Tante völlig außer Atem. Ich bin nicht blöd, ich habe gehört, dass sie beinahe seinen Namen gesagt hat, als würde sie ihn kennen oder so, auch wenn ich das für unwahrscheinlich halte. Und Hallo sagen, weshalb denn das jetzt? Aber jetzt werde ich nichts tun, was uns Hilfe oder Tour versauen könnte. "Ich danke Ihnen.", meldet sich Kaishi zu Wort, auch wenn ich mich frage, ob er ihr denn auch wirklich so über den Weg traut, wie er gerade tut. Das gehört wohl alles zu einem seiner Pläne, die ich jetzt noch nicht zu kapieren brauche. "Macht es gut.", verabschiedet sie sich, aber ich halte sie ihm letzten Moment zurück. "Tante Akane, bist du sicher, dass Akira es war? Hat er wirklich die Stadt verlassen für fast vier Tage übers Wochenende? Bist du sicher?", frage ich leise und bemerke erst nach dem Aussprechen, wie unnötig dieser Satz gewesen ist. "Ja. Denn ich habe mir erlaubt, den Ort, an dem ich ihn zuletzt gesehen habe, zu beobachten. Er kam nicht mehr. Höchstwahrscheinlich ist er noch immer in diesem Bezirk, irgendwo an einer Stelle, die wir uns nicht vorstellen können, wo auch immer er ist, ihr könnt ihn zu viert bestimmt finden!", feuert sie uns leer klingend an. Ich beschließe, sie ein anderes mal nach Akira auszufragen und mit Kaishi machen wir uns also auf den Weg zum Akane genannten Bezirk nicht weit von hier. Auf dem Rücksitz mit Chika habe ich noch etwas Zeit zum Nachdenken. War ich denn der Grund, weshalb er die Stadt verlassen und die Schule geschwänzt hat? Weil er nicht wissen wollte, was ich auf sein Geständnis antworten würde? Er wirkte doch so unsicher und verwirrt, ich hab es gesehen, er sehnt sich nicht wirklich nach einer Liebschaft zwischen uns beiden und er ist auch nicht geflohen, weil er ein Angsthase ist. Zumindest will ich das am liebsten glauben. Es ist etwas anderes. Eine weitere Sache, die ich entweder verloren oder von vornherein schon nie besessen habe. Das hier ist die Kategorie Nummer zwei. Im Auto schweigen alle und das einzig Hörbare ist Chikas schweres Atmen, der ein wenig nach einem Stöhnen klingt. Ich frage mich im Nachhinein, warum Tante Akane nicht mitgekommen ist, wo sie doch dem Anschein nach von allen am Besten Bescheid weiß. Obwohl eigentlich war das wieder einer dieser Fragen im Kopf, die man sich nur stellte, um die andere noch viel wichtigere Frage, zu verdrängen. Die Frage, was zur Hölle nur mit Chika nicht stimmt. Ich meine, selbst, wenn es nur harmloses Fieber wäre, sie wirkt nicht einfach bloß erkältet oder so, nein, ich meine vorher ging es ihr doch auch ziemlich gut, zumindest würde ich das gerne glauben, wenn ich den Fakt, dass ihre Sportnoten nicht besonders gut und sie nicht besonders fit ist, ausschließe. Wann hat das alles angefangen? Vorher konnte ich das ja noch nicht so gut einschätzen, immerhin kannte ich sie noch nicht so gut und habe sie nicht so intensiv beobachtet. Und jetzt? War das seit dem Autounfall? Hat sie sich von dem denn immer noch nicht genug erholen können? In der Woche nach ihm und die Nacht, in der sie zum ersten Mal bei mir übernachtete schien doch alles gut, wir hatten mehr oder weniger unsere Zweisamkeit genossen und einander berührt. Wir waren beide verschwitzt und heiß, denn so ist das beim Rummachen nun einmal, man wird heiß. War das damals bei ihr denn etwa Fieber? Ich glaube das nicht, immerhin hatten wir gegenseitig die Zunge des anderem im Hals und ich hätte mich angesteckt, wenn dem so wäre. Zu welchem Zeitpunkt genau wurde sie also so krank? Ich zucke kurz auf als Chikas Kopf auf meine Schulter trifft. Es fühlt sich so an als könnte ich die fiebrige Hitze ihrerseits schon schmecken und das passt mir gar nicht. Verdammt, was kann ich nur für sie tun? Ihre Augen sind nach wie vor mit einer glasigen Schicht überzogen und ihr Gesicht war so ungesund rötlich. Für eine Sekunde hätte ich schwören können, sie zittern gesehen zu haben. Ich lege meine Hand auf ihre andere Schulter und drehe ihren nach vorne gerichteten Blick in meine Richtung. "Chika, du hast doch irgendwas!", zische ich fast schon sauer über diese Erkenntnis. "Vielleicht habe ich wirklich etwas Fieber, ich weiß es nicht. Aber ich kann trotzdem helfen, Akira zu suchen, ist ja nicht schlimm.", teilt sie mir ruhig mit, auch wenn ich den Geruch nach Fieber trotzdem nicht leugnen kann. "Bleib bei Hanako und hol uns, wenn du uns brauchst.", das wievielte Mal habe ich schon wieder vermieden, ihr zu helfen und bin geflüchtet? Sie ist krank, sie könnte etwas Ernstes haben! Und ich Trottel warte nur darauf, bis es ganz schlimm wird. Wovor hab ich eigentlich Angst?! "Wir sind da.", teilt Kaishi uns unvermittelt mit. "Gehen wir.", sagt er und wir steigen aus. Draußen angekommen stellten wir dann die Zweierteams auf, bestehend aus Chika und Hanako, Kaishi und mir. Jetzt haben wir uns aufgeteilt, um den kleineren Bezirk nach Akira abzuklappern. Wir sind mindestens schon anderthalb Minuten dabei, die Leute nach einem weißhaarigen Jungen zu befragen, da ist uns die Kraft ausgegangen und wir machen eine Pause. Ich bin sicher nicht der einzige von uns, der das Gefühl hat, dass wir kein Stück vorankommen. Wir sitzen auf einer Bank und trinken Redbull aus dem Automaten. Ich habe keinen Bock mehr und gleichzeitig bin ich bereit, nie wieder daran zu denken, die Suche aufzugeben. "Kaishi?", frage ich ihm nach geschlagenen fünf Minuten im Schweigen. "Was gibt`s?", will er wissen. "Also, was Shuichiro angeht, was war denn da eigentlich los?", taste ich mich vorsichtig an ihn ran. "Er ist nicht mehr ganz klar im Kopf, ich glaube er hat wirklich eine Störung.", meint Kaishi. "Borderline Syndrom oder so, so ist er schon echt lange, wenn mal alle weg sind.", "Wenn alle weg sind?", wiederhole ich langsam. Er ist also auch einer dieser Leute, die nicht viel von sich preisgeben. Er ist einsamer als er zugibt, so sieht es aus. "Ich hatte des Öfteren den Verdacht, er könnte an Depressionen leiden, aber ich habe mich nie an ihn rangetraut. Er hat seine Gründe, aber das macht es nicht harmloser. Ich habe es gesehen. Gesehen, wie Shuichiro zu der Person wurde, die er jetzt ist, alles, was ich gesehen habe, könnte ein Auslöser für seine Handlung sein.", spricht er und ich denke an die wahnsinnige Verzweiflung in Shuichiros Stimme, bevor er sich vom Dach stürzte. "Was ist denn passiert? Ich werde mit dieser Information auch ganz sicher nicht Shuichiro bedrängen, ich tue so als wüsste ich es nicht.", bestehe ich darauf, die Wahrheit zu erfahren. "Er hat den Doppelsuizid seiner Eltern miterlebt, die vorher einer Sekte Satanisten beigetreten waren. Sie waren laut Aussage Außenstehender scheinbar hochgradig depressiv und haben sich nicht mehr um ihn gekümmert. Ich kam damals zum Spielen vorbei und da sah ich Shuichiro, seine Eltern auf dem Fußboden und eine riesige Pfütze Blut.", fasst er viel zu sachlich für den Inhalt für mich zusammen. "Seine Eltern haben sich umgebracht?", stammele ich und die Redbull-Dose droht, mir aus den Händen zu fallen. "Wie ich bereits sagte.", bestätigt er. "Das tut mir leid. Und ich habe ihn blutig geschlagen und gesagt, er solle sich ficken. Ich bin ein grauenhafter Freund.", bedaure ich die Lage von Herzen, denn daran zu denken, wie ich mich so dermaßen daneben benommen habe, tut weh. Ich wollte ihn nicht schlagen. Und ich wollte ihn auch nicht beleidigen. Ich hab das alles nie gewollt. Wir nehmen noch einen letzten Schluck von unseren Getränken und entsorgen diese anschließend im Mülleimer neben uns und erst, wenn ich aufstehe, bemerke ich, die schön dieser kleine Bezirk eigentlich ist. Da ist eine Brücke. Und Gras. Und ein Fluss der durch all das hindurch fließt. Ein netter Anblick, auch wenn die aufziehenden Wolken, dem klaren blauen Wasser die Schönheit ein Stück weit verschwinden lassen. "Kyokei-san, wenn es dir nichts ausmacht, ich gehe kurz aufs Klo. Bist du so gut und wartest hier?", ohne auf mich zu warten, lässt er mich hier allein und wartend zurück. Ich nutze die Gelegenheit und gehe noch etwas näher an den Fluss. Die Fische darin beobachte ich und von ihnen fühle ich mich ebenfalls beobachtet, auch wenn ihre Kopfform ihnen das nicht erlauben würde. "Hach...", seufze ich und weiß wieder nicht, wo genau mir der Kopf steht. Was Akira jetzt wohl gerade macht. Sogar ob Hanako ihre Gefühle für Chika vergessen kann, auch das frage ich mich. Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, seit ich das letzte Mal, allein gewesen bin. Vielleicht ist es wirklich lange her, vielleicht denke ich das aber auch nur. Ist doch eigentlich egal, ob diese Zeitspanne jetzt kurz oder lang war, sie existiert und das ist alles was für mich zählt. "Akira, wo bist du nur hin?", flüstere ich fragend den Karpfen zu. Irgendjemand hatte wohl anscheinend die Nase voll von seiner Verantwortung für seine Haustiere und das arme Tier hier reingetan. Ich frage mich, was für ein Mensch erst so viel riskiert und sich solche Mühe gibt, für etwas, an dem er, wenn nicht schon morgen, in zwei Wochen komplett das Interesse verliert? Wie in der Menschenwelt. Geht es für manche von uns in unserer Welt denn nicht auch nur um Sex für eine Nacht, und darum am nächsten Tag so schnell wie es geht hinterhältig im Morgengrauen zu verschwinden, egal was die andere Person fühlt oder eventuell ausbaden muss? Das ist doch traurig. Was sind das für Menschen? Frage ich mich und verspüre auf einmal eine riesengroße Abneigung für sie. Und dann denke ich an Akira und mich. Sind wir auch solche Menschen? Die nur an ihr eigenes Wohl denken und wenn es darum geht, sich zu entscheiden, im Morgengrauen verschwinden? Möglicherweise, aber eins sag ich dir, ich will das nicht. Ich hab nur noch nicht ganz kapiert, was ich zu wollen habe und was nicht. "Was ich will und was nicht...", murmle ich zu dem jetzt komplett in Wolken gehüllten Himmel und höre wieder eine Stimme hinter mir. Ich bin in Gedanken zu weit weg, um auf die Worte und deren Bedeutung zu reagieren, als hätte ich dieses Wort im Leben noch nie gehört. Da sind Arme, die sich um mich schlingen und uns beide in den Fluss reißen. Ich schreie erschreckt auf, als das kalte Wasser mich erfasst und bin völlig fassungslos. Da liegt etwas Schatten auf mir. Und schwerer Atem, ähnlich dem von Chika. Da ist ein durchnässtes mit einer Platzwunde an der Stirn verziertes Gesicht, das ich so nass noch nicht einmal im Schwimmbad gesehen habe. Der Mund dieses Gesichts hat etwas gesagt und erst jetzt entziffere ich die zugehörigen Buchstaben. Sein Arm ist unter meinem und sein eines Bein liegt zwischen meinen eigenen. Mein Gehirn lässt sich all diese Fakten zusammenfügen und spricht mir nun klar und deutlich mit Worten in Gedanken aus, mit wem ich es jetzt zu tun haben werde. Diese Person, so nass und blutverschmiert, so sprachlos wie ich selbst es bin. Jetzt werde auch ich, genau wie diese Person, sie beim Namen nennen. Ich sage etwas: "Akira. Akira, bist du`s?" Kapitel 37: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Die Tränen, die für dich fallen. ---------------------------------------------------------------------- Akira: Jetzt bin ich hier und Kyocchi sieht mich wieder so fassungslos an. Er ist der Einzige, dessen Fassungslosigkeit ich ohne weiteres ertragen kann, die jeder anderer tötet mich. Ich kann ihm nicht antworten, mir klebt die Zunge am Gaumen und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich weiß es nicht. Das beansprucht zu viel Erklärungszeit und ich, ich weiß nicht, wie viel Zeit mir nun noch bleibt. Mein Herz rast so schnell und mir tut alles weh. Alles. Ich bin am Ende, pitschnass und voller Blut, das teils nicht nur mein eigenes ist. Sanae und meine Mutter, ich... ich bringe es nicht fertig, mit ihm über all diese Dinge zu sprechen, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden gesehen habe. Das tut weh. Wieder ist er es, der mich auffängt. Ich weiß nicht, als ich ihm bei diesem Fluss gesehen habe, wollte ich nur noch bei ihm sein, egal wie schräg ich bei ihm aufkreuzen würde. Mir ist kalt, und heiß, das Blut, das mir aus dem Kopf quillt, vermischt sich mit dem Flusswasser in meinem Gesicht. Es vergehen Sekunden, in denen absolut nichts passiert. Keiner von uns bewegt sich, es ist so kalt und das einzig Warme, das wir bei uns haben, sind wir selbst. Ich weiß gar nichts mehr. Was das hier wird, meine ich. Ich habe getan, was ich tun sollte, jetzt ist es vorbei. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Falls der Mann, der mir doch vor ein paar Stunden den Tod gewünscht hat, mir jetzt mit einer AK47 gefolgt ist und abdrücken sollte, dann ist jetzt mein Augenblick, um zu sterben. Ich verdiene es nicht anders. Aber bevor ich sterbe, will ich ihn noch ein letztes Mal berühren. Ich lege meine Hand auf seine Schulter und küsse ihn. Wieder wehrt er sich nicht, ich meine schon fast, dass er es erwidert. Das tut er aber nicht, er lässt es bloß zu. Wieder einmal, sind Ort und Zeit völlig bedeutungslos. Ich küsse ihn weiter, ehe mich langsam die Kraft verlässt und mein Gesicht auf seine Brust sackt. Meine andere Hand krallt sich nun ebenfalls auf seine andere Schulter und plötzlich gibt es nur noch ihn und den alten Schmerz. "Ich will nicht mehr...", winsle ich, bevor ich die Augen schließe, mich noch ein Mal das Wasser umgibt und Kyocchi mich an sich drückt. Mein Geist verlässt meinen Körper für diesen Moment und ich reise in die Vergangenheit, zum Oberschüler mit dem Traum, ein Mann der Vernunft zu sein. Sanae küsst mich und gleichzeitig zieht sie mich aus. So geübt, flüssig und schnell, dass sie mir damit sofort verrät, dass ich nicht der Erste bin, den sie zu verführen versucht. Es fühlt sich unglaublich... unglaublich gut, unglaublich geil, was auch immer an, aber ich darf dass nicht zulassen, wenn ich den Rest Ehre, den ich nicht verscherbelt habe noch behalten will.Ich finde den Mut, meine Finger auf ihre Schultern zu krallen und ihr direkt in die Augen zu sehen. "Sanae, was soll das?! Was ist bloß los mit dir?!", fauche ich und sie sieht mich fassungslos an. Wie ich anerkennend feststellen muss, kann ich auch ihre Fassungslosigkeit ertragen. Vielleicht, weil ich sie bewusst hervorgeholt habe, pure Absicht ist eben etwa anderes als Zufall. "Ich kenne dich zwar nicht gut, aber ich weiß, das bist nicht du, Sanae Uchihara! Und du weißt das! Ich akzeptiere nicht, dass du mir deinen Körper verkaufen willst, obwohl wir bis jetzt so gute Freunde waren! Das tötet, Sanae, hast du mich verstanden?!", keife ich weiter und ihr Blick ist fokusiert wie er es an diesem Tag noch nie gewesen ist. Sie senkt kurz den Blick und schreit dann zurück. "Was weißt du denn schon, Akira?! Du bist wenigstens schlau und hast Eltern, du kannst dir sicher sein, dass du Liebe und Aufmerksamkeit kriegst! Aber was ist mit mir?! Ich verdiene mein Geld doch schon so lange selbst und mit meinen Eltern ist auch schon Schluss! Hast du eine Ahnung, was das hier für mich bedeutet?!", rot vor Wut greift sie mich mit ihrem Blick an, der mir aber keinen Schaden anrichtet, so entschlossen wie ich bin. "Ganz ehrlich, nein, hab ich nicht! Das muss ich aber auch nicht, denn da ist falsch! Du kannst anders Geld verdienen und dein Bestes geben, aber Gott, zerstör dir nicht da Leben! All diese Menschen, mit denen du es tust, sie alle verschwinden und dein schlechter Ruf in der Nachbarschaft verbreitet sich wie eine Krankheit! Zurück bleibt dann Uchihara mit der abgenutzten Fotze, willst du das?! Ich für meinen Teil will nicht, dass du dich selbst zerstörst, also lass es!", brülle ich alle Gefühle für sie aus mir heraus. Da liegt eine andere Fassungslosigkeit in ihrem Blick, auch eine ganz andere Sanae, die nicht mehr wütend ist. Sie... weint. "N-nein... Nein, nein, nein, nein, nein! Ich will das nicht! Ich wollte es noch nie! Aber ich kann nicht damit aufhören! Sie finden mich alle so heiß und sexy, wenn ich damit aufhöre, habe ich gar nichts mehr! Das ist das Einzige, was mich noch hält, die Anerkennung vor und nach dem Verkehr. Sagen, ich hätte auch ohne große Brüste einen schönen Körper, und diese Worte machen mich so glücklich. Ich kann nicht hörst du?", wimmert sie und senkt de Blick. "Du kannst das! Ich fand dich auch angezogen wunderschön! Ich will nur nicht, dass du wegen so einer Sache alles an Stolz und Freunden verlierst. Sie könnten dich dafür hassen.", meine ich und lege meine Hand auf ihre. "Ich hab keine Freunde. Und ich bin dämlich. Musste schon einmal die Zwölfte wiederholen. Ich komm nicht von der Stelle und das ist der beste Weg, dass zu vergessen.", flüstert sie. "Allein schon, dass du es in den letzten Jahrgang geschafft hast, beweist doch im Grunde, dass du was drauf hast, Sanae.", gebe ich ihr zu verstehen, dass sie kein hoffnungsloser Fall ist. "Ich will... Ich will, dass du so lebst, wie auch immer du leben willst. Lebe, ohne die Bestätigung von Menschen zu brauchen, für die du bloß existierst, damit sie mit dir schlafen kannst. Es gibt doch noch so viel, für das es sich zu leben lohnt, das gehört nicht dazu. Bitte versprich mir, Sanae Uchihara, dass du nie wieder gegen deinen Willen mit jemandem schläfst, verstanden?!", rufe ich in dem dunklen Zimmer. "Was war das?! Was veranstaltest du hier bloß wieder für einen Krach, Sanae?!", eine raue, wütende Männerstimme ertönt hinter der Tür. Diese wird schlagartig aufgestoßen und wir beide schrecken auf. Wir schaffen es noch, uns im letzten Moment zu verstecken, zumindest so, dass es nicht aussieht, als würde ein fremder Junge in ihrem Bett schlafen. Der Mann scheint nichts Verdächtiges zu finden und verlässt das Zimmer wieder. Ich schätze, wir sind unter der Panik eingeschlafen, denn für einen Moment scheint wirklich alles in Ordnung und ruhig. Bis der neue Morgen anbricht und dieselbe Stimme in den Raum hereingeschneit kommt. "Was hast du Bengel hier verloren, hm? Einbrecher oder was? Ich hol meine Knarre und knall dich ab!", brüllt er und ich springe so schnell wie es geht vom Bett. Scheiße, wir sind gefickt. Aber was noch viel Interessanter ist, hat er wirklich mindestens sechs Stunden gewartet, bis er einen potenziellen Einbrecher konfrontiert? Wollte er uns ausschlafen lassen oder ist er einfach ein Idiot? "Papa, so ist das nicht!", weint Sanae und stellt sich zwischen dem furchteiflößenden Mann und mich. "Akira, flieh!!!", befielt sie mir schreiend und drückt sich gegen ihren Vater, um ihn aufzuhalten. "Wage es nicht, du Flittchen!", schreit er sie an und weil die Tür nicht zugänglich ist, muss ich mir schleunigst etwas anderes Überlegen, was nicht so viel Zeit kostet. Und da habe ich es: Das Fenster! Mit aller Kraft, die mir noch geblieben und mich am Schlaf gehindert hat, renne ich mit Vollkaracho durch das Zimmer und schlage mich mit meinem Kopf und meinem Ellenbogen todesmutig und voller Schmerzen an den Nerven dort durch das Glas. Voller Blut und unterdrücktem Bedürfnis vor Schmerzen zu schreien, renne ich in Richtung Haus meiner Mutter, in einem Bezirk, in dem es so urplötzlich und schnell dunkel und Nacht geworden ist. Die Schritte des tosenden Vaters höre ich nicht, anscheinend versucht er mir das Gefühl zu geben, in Sicherheit zu sein, nur um dann im unerwartetsten Moment mein Leben zu beenden, wenn ich nicht schon vorher dahinraffe. So fühlt es sich nämlich an, als wenn ich heute Nacht noch sterben würde. Ich habe auch das Gefühl, dass ich jede Sekunde in mich zusammenbrechen könnte, warum, kann ich nicht genau sagen. Ein Gefühl aus Angst, Belustigung, Freude, Wut, es ist alles und ich habe keine Ahnung, wieso. Das muss das Haus meiner Mutter sein. Mit all den gemischten Gefühlen dresche ich mehrmals meine Faust auf den Schalter auf dem Egaoshita steht ein. Gott, mein Kopf und mein Ellenbogen bringen mich um, wieso habe ich nur nicht wie jeder normale Mensch das Fenster, äh, keine Ahnung, geöffnet?! Das gibt so einen harten Sachschaden, meine Eltern werden mich umbringen, wenn sie hiervon erfahren! Auf einmal kommen mir all diese Sorgen, Ängste und Schmerzen, die ich hierher gebracht habe viel größer und unlösbarer vor. Doch nicht in diesem entscheidenden Moment! Doch nicht jetzt, wo ich sie endlich zur Rede stellen kann! Scheiße, ich hab Angst! Was, wenn ihr überhaupt nicht leid tut, wie sie mich alleingelassen hat? Was, wenn ich überhaupt nichts ausrichten kann und das alles umsonst gewesen ist?! Ich kann noch abhauen, zurück nach Hause, zu meinen Eltern und Kyocchi, mich entschuldigen, aber das mach ich nicht. Ich bin doch so weit gekommen! "Reiß dich zusammen, Akira!", zische ich in ein Herzklopfen und noch immer höre ich nichts auf der anderen Seite. Da höre ich plötzlich ein kleines Rauschen und jemanden den Hörer aus der Halterung nehmen. Jetzt ist der Moment der Wahrheit. Es erklingt eine leise krächzende Frauenstimme aus der Anlage. "Wer ist daaaa?", lallt sie und in mir zieht sich alles zusammen. Wer da ist, fragt sie. Das würde eigentlich jeder in dieser Situation, aber mich macht ihre Unwissenheit trotzdem so unfassbar wütend. Wer da ist. Die Person, die du hast existieren lassen, nur um sie anschließend wegzuschmeißen! Dein gottverdammter Sohn! Das hätte ich gern zu ihr gesagt, aber meine Stimme versagt. Ich bin ebenfalls weggelaufen, ich bin kein Deut besser als meine Mutter. Verdammt, jetzt sag endlich etwas! Heute noch! "Der, den du nicht wolltest und der jetzt im Nachbarbezirk lebt. Dem du vorgelogen hast, einen vorhandenen Vater und eine nicht weglaufende Mutter zu haben.", keife ich und atme die kalte Nachtluft ein und aus, sie brennt mir im Hals. "A... Akira, mein Sohn. Wie schön, dass du auch mal vorbeikommst!", kichert sie beschwipst. Das sagt ja wohl genau die Richtige. Kapitel 38: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Das Schloss, das in sich zusammenfällt. ----------------------------------------------------------------------------- Es ist fünf Uhr morgens. Was lässt sie um diese Uhrzeit so schnell wieder auf sein? Nur so ein Gedanke, er ist nicht wichtig. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich kann einfach nicht klar denken, ich... ich will nach Hause. Oder auch nicht. Ich muss das hier beenden. "Mach die Tür auf.", bitte ich, bewusst, dass ich das Bitte ausgelassen habe. Nach so einer langen Zeit weiß ich nicht, wie ich zu dieser Frau noch höflich sein kann. Sie reagiert nicht. Sie öffnet vorsichtig die Tür und lukt mit einer Gesichtshälfte aus dem Spalt. Unverkennbar, das muss sie sein, die weißen Augen und Haare habe ich eindeutig von ihr. "Akiraaaaa... groß bist du geworden und hübsch, hehe.", giggelt sie und ich kann immer noch nichts sagen. Wo ich doch bis eben so sauer auf sie war, nicht nur das, ich bin es immer noch. "Komm doch reeeeiiiin...", bittet sie jämmerlich und zieht mich in ihre Wohnung. Ich folge ihr widerstandslos in das kleine heruntergekommene, auch noch verdreckte, Gebäude. Hier riecht es, als wenn ewig nicht mehr sauber gemacht worden wäre. "Und wie läuft es in der Schuuule? Haaaast du eine feste Freundin?", lallt sie und ich könnte schwören, sie hat was genommen. Und das da ist wirklich meine Mutter? Die hat doch irgendwas genommen, ich weiß es, niemand ist so drauf, wenn das nicht so ist! Sie führt mich in ein winziges Wohnzimmer, ähnlich verwüstet wie der Rest der Wohnung. Wir setzen uns auf ein Sofa. Da liegen etliche Flaschen Whisky auf dem Tisch und ein paar Pillen in einer Topfpflanze, die sie wahrscheinlich als stinknormale farbige Steine tarnt. Fehlen nur noch Spritzen unter dem Sofakissen. Verdammt, was ist nur los mit ihr? "Warum schweigst du denn so, Akira, altes Haus?", brummt sie und schluckt den Whisky direkt aus der Flasche. "Warum weißt du überhaupt, wie ich heiße?", feure ich zurück. "Warum hast du mich einfach weggegeben? Warum lässt du mich erst leben, nur um mich dann anschließend zu verlassen?", frage ich, die Zähne zusammenbeißend. "Warum das alles?" In Momenten wie diesen könnte ich eigentlich weinen, aber das lasse ich. Ich habe schon lange damit aufgehört. Zu weinen, das habe ich schon vor geraumer Zeit verlernt. Sie ext den Whistky nun endgültig leer und sieht mich mit Wangen, rot vom Alkohol an. Erst jetzt bemerke ich ihre benebelten Augen, es sieht so aus, als wenn sie aus ihnen bloß noch diesen grauen Nebel sieht und ich nur eine weitere Silhouette dahinter wäre. Sie stöhnt etwas und umarmt mich einfach aus dem nichts. Ich kann ihre Rippen spüren. Sie wirkt so zerbrechlich, nicht wie Akane-san, sondern wirklich, als würde ich sie jeden Moment töten können, wenn ich auch nur meine Hand auf sie lege.Sie wiegt bestimmt kaum mehr als ich. "Ich hatte Angst. Angst vor allen. Angst vor der Schule, Angst vor meinem Freund und sogar vor dir. Es war alles da und hat mir so Angst gemacht, weil ich wusste, was für eine niederträchtige Person ich war. Ich wollte nur Anerkennung von den Menschen, ich wollte geliebt und geschätzt werden. Ich habe nie etwas Aufrichtiges verspürt und wenn, dann weiß ich es längst nicht mehr. Ich habe meinen Freund mit einem anderem Klassenkameraden betrogen und am Ende verlor ich alle beide. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Er hat mir so geschmeichelt, dass ich gar nicht anders konnte, als es mit ihm zu tun! Und dann war alles gelogen. Ich hatte nichts mehr auf der Welt, ich war komplett auf mich gestellt, als ich am Ende auch noch schwanger von diesem anderen Typen war. Sie haben mich alle beide so abgrundtief gehasst, wie ich mich selbst! Die Einzige, die immer zu mir gehalten hat, war Akane Kyokei-sensei. Aber das habe ich erst viel später verstanden. Ich habe so viele Jobs erledigt, in der Hoffnung, dass Beste aus meiner Situation zu machen, aber je mehr Zeit verging und sich die Geschichte rumerzählte, desto weniger wollte man mich arbeiten lassen! Ich war nur eine Schande für meine Eltern, für meine Schule und hatte niemanden, der mir sagte, dass ich in diese Welt gehörte. Ich hatte so eine Angst vor allem und jeden, ich wollte einfach nicht mehr. Ich habe Alkohol getrunken, obwohl ich wusste, dass das nicht gut war, wo ich doch schwanger war, aber das Schlimmste, das hat für mich als Grund, es zu lassen nicht gereicht! Ich bin so kaltherzig zu meinem Kind gewesen, noch bevor es überhaupt wirklich da war! Ich hatte Angst, es würde mich hassen, es würde angeekelt von mir sein und mich ebenfalls verachten. Dazu hatte es auch ein Anrecht. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich das nicht verstanden hätte. Als ich dann eines Nachts von den Schmerzen aufgewacht bin und zu Fuß zum Krankenhaus gelaufen bin und du geboren wurdest, hatte ich so ein schlechtes Gewissen und gleichzeitig war ich so überglücklich... Ich wusste nicht mehr, was ich fühlen soll. Trotz des Alkohols und der Pillen, hattest du nicht den kleinste Schaden davongetragen, du warst kerngesund! Und trotzdem wusste ich, dass ich dich unmöglich behalten konnte. Ich war all die Zeit so eine grauenvolle Mutter gewesen, ich konnte mich nicht darauf verlassen, meinen elterlichen Pflichten nachzukommen, geschweige denn, dir ein Leben zu ermöglichen, wie du es auch wirklich verdient hast. Deshalb habe ich Akane-sensei gebeten, dir Pflegeeltern im Nachbarbezirk zu suchen, damit du lebst und nie von deiner schrecklichen Mutter erfährst, die keinen Mann oder Stolz bei sich hat. Und dennoch habe ich nicht einen Tag lang nicht an dich denken können. Wenn ich nicht von dir gewusst hätte, hätte ich mich ohne zu zögern umgebracht, dann gäbe es keinen Grund mehr für mich, um zu leben! Ich verstehe es, aber eigentlich bin ich trotzdem so traurig, dass du mich hasst!", erklärt sie, ohne Punkt und Komma und bricht gegen Ende in Tränen aus. So flüssig wie eben, hab ich sie heute noch nie sprechen gehört, kein Lallen, kein Kichern, nichts. Sie ist mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Drogeneinfluss, aber wenn ein Mensch wirklich etwas Wichtiges zu sagen hat, dann kann er auch in diesem Zustand aussprechen, was ausgesprochen werden muss, da bin ich sicher. Ich erwidere vorsichtig ihre gebrechliche Umarmung. Davon weint sie nun noch mehr. "Findest du mich... schlimm?", fragt sie, wieder etwas lallend. "Tu ich. Aber ich verstehe warum das so ist. Du HAST echt viel Mist fabriziert und das wissen wir beide. Ich hätte draufgehen können, genau wie du. Es klingt grauenvoll und ich war unglaublich sauer auf dich. Aber... du bist meine Mutter. Und ich hasse dich nicht.", flüstere ich ihr zu, bevor ich fühle, dass sie sich nicht mehr bewegt. Sie atmet noch schwer und ihr Herz schlägt noch, aber sie hat schlagartig losgelassen und liegt nun schlaff in meinen Armen. "Meiko... Mama?!", rufe ich und sie hebt wieder ihren Blick. "Sag mal, warum blutest du denn die ganze Zeit an Kopf und Ellenbogen? Tut das nicht weh?", will sie im noch immer betrunkenen Zustand wissen. Stimmt, sie hat die ganze Zeit nicht gefragt. Und die ganze Zeit war das Licht an. Wahrscheinlich war auch das den Drogen zu verdanken. "Das tut nichts zur Sache, was ist mit dir?", keife ich und halte sie fester im Griff. "Ich, also ich habe-", und dann spritzt Blut aus ihrem Mund und sie klappt zusammen. "Meiko!!!", schreie ich und in dem Moment hebe ich meine Mutter auf, ziehe sie durch die Wohnung und reiße die Haustür auf. Ohne Zeit, sie wieder zu schließen, trage ich sie auf den Rücken in das nächstbeste Krankenhaus. Kapitel 39: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Flucht im Morgengrauen zur Mittagszeit ---------------------------------------------------------------------------- "Bitte helfen Sie ihr, sie ist krank! Sie hat Blut gespuckt und ist dann umgekippt...", im Krankenhaus angekommen, waren direkt ein paar Ärzte in Reichweite und das macht mich im Moment glücklicher als alles andere. Hier stehe ich nun, mit einer ohnmächtigen Frau auf meinem Rücken, ihr Blut an meinem Hemd und mein eigenes noch dazu, in einem Krankenhaus voller panischer wie auch sachlicher Gesichter. "Egaoshita-san, kann es sein. Ich hatte sie schon in Behandlung, warten Sie hier, wir fangen gleich an.", meint der Arzt mit Brille und Haarausfall. "Und Sie sind?", will er, immer noch abartig sachlich, von mir wissen. "Der Sohn.", antworte ich wahrheitsgemäß. "Was ist mit Ihrer Stirn und ihrem Ellenbogen passiert?", fragt er nach und mir fällt wieder ein, warum ich es überhaupt hierher geschafft habe. "The Walking Dead-Cosplay, ich bin ein überlebender Passant, ich wollte zu der Convention und konnte nicht schlafen, also habe ich es anprobiert und alles, dann ist sie umgekippt und jetzt bin ich hier.", lüge ich so glaubhaft und einwandfrei wie im Leben noch nie. "Aha.", sagt er nur zu meiner billigen Story und sieht Meiko an. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, sie Mama zu nennen. "Nun ja, deine Mutter ist... nun ja, sie hat Leukämie. Und-", "Moment mal, sie hat was genau?! Oh mein Gott, scheiße! Sie... lügen doch!", lache ich im Unglaube, weil das überhaupt nicht witzig ist. Im Schock hätte ich sie beinahe fallen lassen. "Leider nein, es tut mir sehr leid, Junge.", bedauert er, auch wenn ich seine Trauer hinter den beschlagenen Brillengläsern kaum erkennen kann. "Bitte geben sie mir Egaoshita-san, damit wir mit der OP beginnen können.", bittet er mich und meine Mutter hustet mir eine weitere Ladung krankes Blut auf mein noch von vorhin geöffnetes Hemd. Das Blut fühlt sich heiß an auf Haut und Stoff und gleichzeitig eiskalt. Ich verarbeite alles Gesagte und obwohl ich weder fertig bin noch etwas verstanden oder akzeptiert habe, nehme ich sie runter und lege sie auf die Tragfläche, die gerade eingetroffen ist. "Lassen Sie mich doch wenigstens bei ihr bleiben, bis wir den OP-Saal erreicht haben.", verlange ich und der Arzt nickt ohne Kommentar. Sie öffnet die Augen leicht und sieht mich wehmütig an. "Akira, sind wir im Zirkus?", fragt sie, wieder lallend, und ich verstehe inzwischen, dass sie wieder dort ist, wo sie, seit sie sich selbst zerstört hat, verweilt. Sie redet absoluten Bullshit und wenn ich nicht wüsste, dass das meine Mutter nach all dem Whisky und den Drogen ist, dann hätte ich nein gesagt. "Wir sind im Zirkus, die Vorstellung fängt gleich an.", bestätige ich still, der Tragfläche folgend. "Hey Akira, wenn dieser Zirkus v-v-vorbei ist und ich... wieder aufstehen kann... fahren wir dann nach Las Vegas? Ich will da so gern hin...", blubbert sie den Stuss noch weiter und ich nicke nur. "Wir fahren überall hin, wo du willst, aber der Zirkus, der-", "Genau, lass uns bis zum Ende...", sie legt eine kurze aber qualvolle Pause ein und spricht dann wieder. "Hier bleiben und den Statisten zusehen. Die sind doch so begabt und so... Und dieser eine Statist... der, der da dieses Dingsbums macht und so... der Sachen macht, die supercool und nicht normal sind. Der hat dieselbe Haarfarbe wie ich, gesehen?", lässt sie das Gebrabbel noch mehr Form annehmen. "Du bist dieser Statist... ich weiß das, weil du... weil ich spüren kann, wie unglaublich begabt und fähig du bist, mein Sohn. Wie heißt noch mal der Posten, den du über... nimmst... Der, der die Menschen zum Strahlen bringt und Hasen aus Hüte zaubert...?", will sie geschwächt klingend von mir wissen. "Ich... ich bin ein Zauberer.", erkläre ich und stelle gleichzeitig fest. "Hey, Akira, mein Sohn...", erregt sie meine letzte Aufmerksamkeit. "Was ist denn?", frage ich, das sind die falschestes Worte, die ich in dieser Situation hätte sagen können. Das fällt mir nur zu spät auf. Sie spuckt wieder Blut. "Ich weiß, dass wir gar nicht im Zirkus sind... wir sind im Krankenhaus. Das fällt mir gerade wieder ein. Wenn das hier... also wenn das hier ein Zirkus wäre, dann wäre hier ein Zelt und es müsste nach Tieren und nicht nach K-Krankheit riechen... Du bist aber trotzdem ein Zauberer. Du kannst zaubern und die... die Welt verändern, um dich rum und so...", ihre Augen schließen sich langsam und in mir bricht noch mehr Panik aus. "Und, Akira...?", "Ja?", "Also ich... ich... ich hab dich sehr... sehr lieb. Danke, dass du mich...", da ist nur noch ein Millimeter zwischen ihren Augenlidern, der sie sehen lässt. Scheiße. "Gefunden hast...", und nun sind ihre Augen endgültig zu. "Meiko!!!", schreie ich, weil ich zwar immer noch nicht Mama sagen, ihre Liebe zu mir aber trotzdem spüren kann. "Bleib hier! Wir wollten doch noch nach Vegas! Vegas, hörst du? Wenn du wieder aufwachst, fliegen wir hin, ich arbeite dafür, mit dir da irgendwann hinzugehen! Aber, bitte tu nicht so, als wenn wir niemals zusammen dort sein werden... Das ist gemein. Ich weiß, dass ich mich bisher einen Dreck geschert habe, was mit meinen leiblichen Eltern ist, aber das stimmt nicht! Ich habe das nur glauben wollen! Ich habe... eigentlich immer mit dir zusammen sein wollen! Wenn wir nicht nach Vegas gehen können, dann lass uns eben hier in Japan... Ich habe eigentlich immer auf dich gewartet... Ich...", "Es tut mir leid, aber Sie können ihr hier nicht hin folgen.", hält mich eine andere Ärztin auf und ich höre für den Moment mit meinem Herzensgejammer auf. Es ist, als habe ich nur dafür gelebt, nur heute und dann nie wieder zu jammern, denn alles andere wäre es nicht wert, betrauert zu werden. So fühlt es sich an. Und trotz allem weine ich nicht. Ich bin trotz allem noch rundum trocken im Gesicht. Verdammt, in so einer Situation muss man doch weinen und ich hab nur... gejammert. Bin ich wirklich... so ein... Psychopath? Wie nennt man Menschen wie mich? Ach nein, das ist mir doch eigentlich völlig egal. "Ich warte hier.", beschließe ich. "Wie Sie wünschen.", bestätigt die Ärztin, deren Job, sachlich zu bleiben, mich fast schon krank macht. Ich nehme im Warteraum Platz und ich glaube, ich bin sogar eingeschlafen, es war so lange und nach der unruhigen Nacht bei Sanae, konnte ich die Augen bei mittelmäßiger Ruhe sowieso nicht lange offen halten. Ich weiß nicht, wie lange ich so weggetreten war, aber nach und nach verschärft sich mein Blickfeld und ich sehe die Ärztin von vorhin direkt vor mir. "Es... tut mir sehr leid. Wir haben sie verloren, sie... ist mitten in der OP einfach... von uns gegangen!", versucht sie mir die Lage zu erklären und weint anschließend selbst. Nur ich weine nicht. Ausgerechnet ich von uns beiden bin der, der nicht weint. Meine Mutter ist gerade gestorben! Und ich habe nichts besseres zu tun als hier trocken und dumm rumzustehen. Ich stehe auf und gehe raus aus dem Krankenhaus. Ich habe schließlich keinen Grund, länger hier zu sein. Ich weiß nicht, für wie lange, aber ich irre mehrere Stunden dieses beschissenen Tages einfach ziellos durch die Gegend. Ich habe keinen Ort, an dem ich zurück kann... Ich bin eine Zumutung für alles und jeden, der mit mir zu tun hat. Meine Mutter, die seit meiner Geburt nur an mich gedacht hat, ist in dem Wissen gestorben, dass ihr einziger Sohn ein Versager ist. Auch, wenn sie mich liebt, auch wenn sie das gesagt hat, sollte es nicht fast jeden Eltern egal sein, was für Scheißkinder sie da gezeugt haben und sollte es nicht ein Grundrecht sein, Liebe von ihnen zu bekommen, egal wie sehr man im Leben gerade verkackt hat? Es ist alles aus, ich weiß nicht, ob ich überhaupt zurück will. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin oder wie spät es ist, außer dass Mittag ist und die Schule vor ein paar Minuten vorbeigegangen ist. Ich sehe es als persönliche Strafe, hier herumzulaufen, weil ich aber sehr sportlich sind, laufe ich gefühlt zwei weitere Stunden planlos durch die Gegend. Wie ein Fiebertraum kommt mir das alles für mich vor und wenn es wahr wäre, hätte ich gesagt, ich hätte harte Drogen genommen, um diese innere Gleichgültigkeit heraufzubeschwören. Aber das mit der Gleichgültigkeit habe ich ganz allein geschafft. Ich komme an einer Bar vorbei. Das fehlt für die absolute Selbstzerstörung, ein Abstecher in eine versiffte Bar als Minderjähriger. Hemmungslos betrete ich sie und setze mich auf einen der Hocker. Etwas Geld habe ich tatsächlich noch, aber so voller Blut und Schweiß werde ich womöglich trotzdem rausgeworfen. "Dich Bengel kenne ich doch! Du bist bei mir eingebrochen und hast es mit meiner Tochter getrieben! Diesmal entkommst du Mistkerl mir nicht!!!", die Stimme des Irren von gestern höre ich und kurz halte ich sie nicht für real, ehe den Typen und mich nur noch der Tresen trennt. Ich bin gefickt, denke ich bevor ich es schaffe, ihm zuerst eine runterzuhauen und auf schnellstem Wege die Flucht ergreife. Kapitel 40: Vol. 2 - "Tomodachi" Arc: Du bist der Nordpol und ich der Südpol. ----------------------------------------------------------------------------- Elvis: Akiras Körper rutscht von meinem ab und landet wieder im Wasser, aber ich fange ihn stumm wieder auf. Kaishi kehrt zurück und sieht uns im Fluss. Er scheint sich noch nicht einmal zu fragen, was Akira und ich im Fluss zu suchen haben, er starrt uns einfach an. Ich hieve Akira auf meinen Rücken und steige zurück ans Ufer. "Ich schätze... ich hab ihn.", keuche ich als ich es nach draußen geschafft habe. "Wie hast du ihn gefunden? Warum wart ihr beiden im Fluss?", fragt er und klingt wenig neugierig. "Das weiß ich auch nicht so genau, er scheint geflohen zu sein, zumindest ist er gerannt. Aber mehr weiß ich nicht.", erkläre ich und ein kalter Schauer durchflutet mich. Das Wasser war wirklich eisig. "Verstehe.", meint Kaishi und hört auf, Fragen zu stellen. "Ihr, hey! Seid ihr die Freunde dieses Rotzlöffels?!", grölt eine weitere Stimme hinter uns, nur noch tiefer und erwachsener. "Mit dir Bengel hab ich noch eine Rechnung offen, Hausfriedensbruch, Geschlechtsverkehr mit meiner Tochter, Sachbeschädigung und dann auch noch Körperverletzung, ich glaub es hakt!!!", brüllt der Mann und steht nun direkt vor mir. "Dein Freund hier ist echt nicht mehr ganz richtig im Kopf.", macht er weiter und ich versuche, seinen nach Tabak stinkenden Atem zu ignorieren. "Er ist ohnmächtig.", spreche ich das Offensichtliche aus, wovon er nur noch mehr tobt. "Nein, echt? Dann weck' diesen Spast halt auf, ist doch wohl nicht so schwer!", schimpft er weiter und ich bekomme langsam wirklich Angst. "Lassen Sie das, sehen Sie nicht das die beiden Ihnen gerade absolut keine Hilfe sein können und sie sich hier so pitschnass noch eine Lungenentzündung holen? Von mir aus können Sie gerne mitfahren und dann Dampf ablassen. Wenn er aufgewacht ist. Und seine Eltern den Rest erledigen. So viel Anstand haben Sie doch wohl noch übrig, oder täusche ich mich?", meldet sich Kaishi sachlich, wie ich es von ihm kenne zu Wort. "Von mir aus...", beschämt dreht er sich von uns weg. "Waaaaaartet!", diesmal ist es eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund, die nach uns ruft. Ein Mädchen. Sie rutscht im Gras aus und landet uns direkt vor die Füße. "Sanae, was machst du denn hier?", will der noch immer aufgebrachte Mann von der Pinkhaarigen wissen. "Ich komme mit...", murmelt sie, bevor sie mich ansieht und anschließend den bewusstlosen Akira auf meinem Rücken. "Lebt er noch?", fragt sie schüchtern. "Er ist nur ohnmächtig, keine Sorge.", beruhige ich sie, wenn auch in Gedanken woanders. Warum ist er hier gewesen? "Nichts keine Sorge, dieser Junge ist ein Verbrecher!", fängt der Mann wieder damit an. "Ist er gar nicht, Papa! Du hast doch keine Ahnung von irgendwas, du mit deinem Alzheimer!", schreit sie. Der Mann holt aus, um sie zu schlagen, aber Kaishi hält ihn auf. "Schlagen Sie sie nicht.", sagt er nur und der Mann scheint ihn jetzt noch weniger leiden zu können als ohnehin schon. "Ach, halt doch die Klappe...", brummt er und lässt die Faust sinken. "Lasst uns Hanazawa-san anrufen, damit wir gehen können. Ihr beiden könnt auch mit, wird dann nur ein wenig eng.", will uns Kaishi zur Heimfahrt bewegen. Und genau das tun wir dann. In Kaishis Auto ist es wie prophezeit bis zum Anschlag voll. Chika und ich sitzen hinten mit Akira, Sanae und ihr Vater in der Mitte und Hanako und Kaishi vorne. Nur noch ein Platz ist frei, aber der ist bereits von unseren Taschen eingenommen worden. Akira ist nach wie vor noch nicht bei Bewusstsein und Chika ist eingeschlafen. Ich bin in der Mitte und völlig ausgelaugt und nass. Die Fahrt zurück verläuft unerträglich still und langsam, keiner kann zu den heutigen Ereignissen irgendetwas sagen. Jeder hat mit seinen eigenen Gedanken zu kämpfen, ich eingeschlossen. Beim Krankenhaus angekommen wacht Chika immer noch nicht auf. Ich bitte Hanako erneut, auf sie aufzupassen und verlasse wie der Rest den Wagen. Nachdem sie Akira auf eine Bank im Warteraum verfrachtet und uns beiden Handtücher gegeben haben, denkt wahrscheinlich jeder Beteiligte von heute, dass auch in diesem Krankenhaus Shuichiro irgendwo untergebracht sein muss. Zumindest ich denke daran. Inmitten der Höhe der Stille, bricht diese dann Sanaes Vater. "Du, der mit der hässlichen Jacke, wie glaubst du, mir das mit dem Schaden zu regeln, den dein Freund verursacht hat? Wolltest du nicht seine Eltern herholen oder so?", legt dieser unhöfliche Typ sich wieder mit Kaishi an. "Ich habe die Nummer seiner Eltern nicht. Wir waren nie bei bei ihm zu Hause.", bringt ihm Kaishi weiterhin unbeeindruckt bei. "Hast du mich etwa angelogen, Junge?!", wieder schreit der Mann und Kaishi sieht dann mich an. "Aber Kyokei-san weiß, wo die beiden wohnen.", fällt ihm ein und ich zucke kurz zusammen. Jetzt bin ich es, der von diesem Mann angebrüllt wird. "Wo sind sie?!", fragt er noch immer ein paar Dezibel zu laut. "In dem Gebäude dem Postzentrale einen Stock höher, dann einfach bei Egaoshita klingeln.", erkläre ich den Weg zu Akiras Eltern und ohne mich zu fragen, wo die Postzentrale ist, düst er auch schon ab. Akira wird mich dafür hassen. "Also, weshalb bist du eigentlich mitgekommen?", frage ich nun die Tochter des aggressiven Psychopathen. "Also, das... ich... nein, ich... ich will nicht so gern darüber reden.", gibt sie mir zu verstehen. "In Ordnung.", murmle ich. "Sag mal, hat Akira wirklich mit dir geschlafen?", will ich vorsichtig wissen. Als sie nicht reagiert, gebe ich es auf. Es gibt Dinge, die sollte ich wohl auch nicht erfahren, genau wie dem Rest der Menschheit, werden auch mir Sachen verschwiegen. Und das Wissen darf auch ich mir nicht mit Gewalt entreißen. Also lasse ich es. "Ich gehe kurz nach Shuichiro schauen, ist das in Ordnung?", versucht Kaishi sich auf den Weg zu machen. "Klar, geh nur.", erlaube ich es ihm und zurück bleiben Sanae und ich mit Akira. Dieser versucht aufzustehen und fällt dann doch auf die Knie. Ich komme mit und schlinge die Arme um den immer noch triefnassen Akira, ich bin immer noch genauso nass. "Kyocchi... warum bist du mir gefolgt?", flüstert er über meine Schulter hinweg und ich umarme ihn noch fester. "Akira...", mehr fällt mir nicht ein. "Kyocchi, das tut weh.", faselt er jetzt in normalerem lauteren Tonfall. "Du Idiot, wie konntest du einfach die Stadt verlassen, nachdem du-", ich breche ab. Ich kann nicht aussprechen, was vorher passiert ist, nicht auch noch vor einer Fremden. Nachdem du mir sagtest, dass du mich liebst, mich dann sexuell belästigt und allein gelassen hast., wenn ich das gesagt hätte, hätte das Mädchen bei uns uns bestimmt für Spinner gehalten und das kann ich uns nicht antun. "Kyocchi, bitte lass mich jetzt los.", bittet er mich flehend. "Okay. Tut mir leid.", ich lasse ihn los, Kaishi vom Krankenbesuch kommt viel zu schnell zurück, umgeben von einer erledigten und erschöpften Ausstrahlung. Ich stütze Akira und tue so als wenn weder das Gespräch mit Akira noch die Tatsache, dass ich uns beinahe ein weiteres Mal verraten hätte, etwas wäre, das gerade wirklich geschehen ist. Noch Akiras bevorstehender Hass auf mich etwas wäre, dass nicht wirklich geschehen wird. Kapitel 41: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Wie die Gezeiten kann auch ich mich nicht entscheiden. ------------------------------------------------------------------------------------------- Hanako: Die Sache mit Egaoshita-kuns Verschwinden ist nun eine Woche her. Die mit Shuichiros  versuchten Selbstmord ebenfalls. Außer Kazukawa-kun hat sich niemand sonst getraut, ihn zu besuchen. Wenn man außer Acht lässt, dass auch ich ihn besucht habe, als niemand hingeschaut hat. Es scheint generell viel passiert zu sein, als niemand hingeschaut hat. Und ich wünschte, ich wäre, was das angeht, eine Ausnahme. Ich habe etwas Grauenhaftes getan. Etwas Egoistisches. Etwas Unverzeihliches. Ich habe ihre Schwäche ausgenutzt, aufs Übelste. Habe mich einen Dreck darum geschert, ob sie krank war oder nicht. Ob sie bei Sinnen war oder nicht. Ich habe mich mitreißen lassen und jetzt kann ich mit niemandem, aber auch niemandem, darüber reden!   "Liebe Klasse 3-6, ich möchte euch eine neue Schülerin vorstellen.", kündigt Katsuoka-sensei an und wir sehen nach vorn.   Als ich nach vorne schaue, um zu sehen, um wen es sich da handelt, fahre ich zusammen und unterdrücke einen Schrei. Diese neue Schülerin ist niemand Geringeres als dieses mit Grasflecken übersäte, Pferdeschwanz tragende Mädchen, auf das wir letztens in Arashiyama getroffen sind. Und jetzt steht sie da, grinst sich die Zähne aus dem Gesicht und tut so, als ginge alles mit rechten Dingen zu und als wäre die Tatsache, dass sie hier ist, in keinster Weise auch nur irgendwie verrückt. "Guten Morgen, Mitschüler. Mein Name ist Sanae Uchihara. Ich bin aus Arashiyama hierhergezogen. Zwar kenne ich hier noch nicht so viele, aber ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus.", lautet ihre strahlende Vorstellung, während im Klassenzimmer das große Gemurmel ausbricht.   Sie scheint ähnlich wie Chika-san ziemlich beliebt bei den Jungs zu sein. Es wundert mich nicht. Sie ist schließlich echt hübsch.    Seither haben wir nicht mehr miteinander gesprochen, Elvis weiß davon aber nichts, zumindest sieht es nicht so aus. Ich will nicht wissen, wie sauer er auf mich sein wird, wenn das nicht mehr so ist. Ich muss das schnellstmöglich vergessen, vergessen, was ich angestellt habe und weitergehen. Für Elvis, für Chika-san und für mich selbst.   "Hanazawa-chan, kann ich mich neben dich setzten?", fragt mich Uchihara etwas schüchtern. Gewagt von ihr, diese "Irgendwas-chan"-Anrede.   "Mach nur.", erwidere ich halbherzig und widme mich wieder meinen Gedanken, bevor der Geschichtsunterricht beginnt.   Ich höre nur halbherzig zu, wie seit einer Woche, nachdem ich die Beherrschung verloren habe. Was soll ich nur tun?   "Hanazawa-chan, kann ich bitte deinen Radiergummi ausleih-",   "Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, verdammt?!", rufe ich durch das Klassenzimmer und alle Augenpaare sind auf mich gerichtet.   "Tut mir leid, du kannst meinen Radiergummi haben.", entschuldige ich mich kleinlaut und überreiche ihn ihr still.   Den Rest der Stunde sage ich nichts mehr.   ***   In der Pause fängt mich dann Elvis ab.   "Hey, sag mal, stimmt vielleicht was nicht?", fragt er und hält meinen Arm fest.   Er ist einer der Letzten, die die Wahrheit erfahren sollten.   "Weiß nicht, ich.. bin einfach schlecht drauf. Glaub, ich krieg meine Tage oder so, was weiß ich. Ich weiß es doch selbst nicht.", erkläre ich und er schweigt. "Lass bitte meinen Arm los.", bitte ich ihn und er tut es.   "Sag Bescheid, wenn ich dir helfen kann.", murmelt er und geht zurück zu Chika, die ein Fertigsandwich isst.   Egaoshita-kun und Elvis scheinen sich auch nicht gerade zu verstehen, da ist eine Distanz zwischen den beiden, auch wenn sie es zu verstecken versuchen und so tun als wäre alles so wie immer. Als hätte jeder seine ganz eigenen Geheimnisse, sowohl ich, als auch die beiden als auch Chika-senpai und Kaishi. Ich entscheide mich ebenfalls für die vorgelogene Normalität, denn wir wissen alle, dass sie nicht echt ist.   "Sag mal, Uchihara, wie konntest du eigentlich so schnell die Schule wechseln?", fragt Egaoshita-kun die Neue.   "Deine Uniform. Und deine Worte. Mehr hat es für meine Recherche nicht gebraucht. Daraufhin konnte ich dann die Schule wechseln. Auf die Chinobara Oberschule. Zu dir, Egao-kun.", erklärt sie und kommt etwas näher an ihn ran.   "Aber... warum? Wieso solltest du den ganzen Weg hierher kommen, um einen Jungen zu treffen, den du doch überhaupt nicht kennst?", versteht dieser nicht.   "Ach, so würde ich das nicht sagen. Das hat viele Gründe.", höre ich sie murmeln und sehe etwas Röte in ihrem rosigen Gesicht.   "Zum Beispiel...?", ich höre eine Unsicherheit in Egaoshita-kuns Stimme.   "Zum Beispiel, dass... ich dich mag.", bitte was?!   "Ähm... ach echt?", wow, das ist ja ein ganz Toller, in den sie sich da verguckt hat.   "Ich liebe dich!",   "Du tust was?!",    "Ich will dich heiraten!",   "Du kennst mich nicht mal!",    "Ich will ein Kind von dir!"   "Kinder gucken gerade zu!",   Ich entferne mich von meinen Freunden, um das Mädchenklo aufzusuchen. Den Rest der Konversation kriege ich nicht mit. Diese Uchihara ist ja mal eine Nummer. Gesteht dem Kerl einfach ihre Liebe. Was denkt die sich? Ist die dumm oder so? Ich muss nicht wirklich aufs Klo, ich brauche einfach etwas Kälte im Gesicht, um mich besser zu fühlen.   Ich zucke zusammen, als ich das Eiswasser in mein Gesicht klatsche. Der Schock ist klein, die Erfrischung dagegen aber umso kürzer. Aber gut genug. Ich darf Chika-san nicht mehr lieben. Ich darf einfach nicht mehr. Schließlich habe ich Taiyo. Ja, genau, ich habe Taiyo.   "Was mache ich hier eigentlich?", flüstere ich und erschrecke mich fast zu Tode, als ich Schritte höre, welche sich als die von Chika-san herausstellen. Diese sieht mich besorgt an und so, wie sie im Türrahmen steht, sieht sie fast genauso hilflos aus wie ich mich fühle. Als würden wir einander besser verstehen als jeder andere.   Das ist gemein und unfair. Ich wollte doch endlich aufhören, mir selbst etwas vorzumachen.   "Hanazawa-chan, ist alles in Ordnung?", fragt Chika-san vorsichtig.   Ich antworte nicht.   "Bitte rede mit mir, Hanazawa-chan.", fleht sie kleinlaut und kommt näher.   Verschwinde.   "Es tut mir weh, wenn du mich ignorierst.",   Verschwinde!   "Deshalb, bitte-",   "Bleib weg von mir!", knirsche ich und erschrecke selbst über meinen Tonfall.   Als ich Chika-san ins Gesicht sehe, sieht sie nur noch trauriger aus.   "Du bist sauer auf mich, ich weiß. Ich... war nur besorgt um dich, Hanazawa-chan. Du sahst so traurig aus. Uchihara-chan macht sich auch Sorgen.",   "Die Neue? Obwohl ich so zickig zu ihr war?",   "Du hast allen Grund, zickig zu sein.",   "Bitte?",   "Schließlich war ich es, die nicht den Mut hatte, dich zur Rede zu stellen. Ich habe dich verletzt, mehrmals, auf ganz grausame Weise. Ich bin nicht gut darin, immerzu ehrlich zu sein, so wie du und Ellie. Ich habe Angst davor. Ich will weder dich noch Ellie verlieren, weißt du? Auch, wenn ich weiß, wie du mir gegenüber empfindest, hält mich das nicht davon ab, dich wissen zu lassen, dass du mir wirklich am Herzen liegst.", viel zu nah.   "Bitte hör nicht auf, meine Freundin zu sein.", schluchzt sie, als sie mich an sich drückt.   "Auch, wenn mein Herz Ellie gehört.", Ihre Brüste, ihre Brüste, ich kann ihre Brüste spüren!   "Auch, wenn ich dich verletzt habe und auch jetzt verletze.", ihre Haare kitzeln mein Gesicht!   "Ich will nicht, dass wir uns auseinanderleben! Ich will nicht, dass du mich hasst! Das ist zu grausam! Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll!", oh nein, sie klingt als wäre sie kurz davor zu weinen.    "Also wirklich, Chika-san.", tue ich so, als hätte ich mein Selbstbewusstsein zurück, als ich mich vorsichtig aus ihren Armen schäle. "Du bist doch die Ältere von uns. So egoistisch und verheult zu sein, wäre, wenn dann, meine Aufgabe.",   "Mann, Hanazawa-chan, wie gemein!", sie schmollt.   "Hanako reicht.", sage ich etwas Unerwartetes.   "Huh?",   "So nennt mich schließlich Elvis seit letztens. Wäre also nur fair, wenn du das auch dürftest.", grinse ich.   "Ist, Hanako-chan!", grinst sie ebenfalls diese Tatsache in den Hintergrund. Wir tun beide so, als wäre nichts dergleichen passiert. Und doch können wir uns nicht vor der Wahrheit verstecken.   "Die Pause ist fast vorbei, lass uns gehen, Hanako-chan!", führt sie das Schauspiel fort und ich folge ihr zurück ins Klassenzimmer.   ***   Die nächste Stunde ist Sport angesagt. In der Umkleide ist der Klatsch und Tratsch wieder einmal voll im Gange.   "Ich hab gehört, du hast Egaoshita-kun eine Liebeserklärung gemacht! W-wie war denn das so?", will Ayase schüchtern wissen.   "Mich... würde das allerdings auch interessieren. Wie hat er denn auf dich reagiert?", Barutani ist das wohl fast genauso peinlich.   "Ach, das ist doch...",   "Spuck schon aus, Mädel.", unterbrechen sie sie gleichzeitig.    "Wir als eingefleischte Klassenkameraden wissen, wie das immer abläuft. Ohne dir wehzutun, Egaoshita-kun ist ein notorischer Playboy. Die Mädchen, die trotz allem mit ihm ausgehen wollen, wissen, worauf sie sich einlassen. Bist du sicher, dass du Babyface es mit ihm aufnehmen kannst?",   "Barutani-san, das ist unhöflich! So kannst du doch nicht mit einer neuen Mitschülerin sprechen!", ermahnt sie Ayase ganz empört, wobei die Ermahnte ein leises "Ist doch so." brummt.   "Ach, alles gut, ist ja nicht so, als würde ich das alles nicht wissen. Ich denke, ich weiß, was für ein Mensch Egao-kun ist, wisst ihr?",   "Bist du dir da auch wirklich sicher?", mischt sich auch noch die Klassensprecherin in die Runde.   "Warum denn nicht?", versteht Uchihara nicht.   "Du hast ihm doch gesagt, dass du ihn liebst, ist es nicht so?",   "Genau so war es, ja. Worauf willst du hinaus?",   "Es war nicht besonders klug von dir, jemandem deine Liebe zu gestehen, der keine Zeit hatte, selbige Gefühle für dich überhaupt erst zu entwickeln, denkst du nicht?",   "Also, jetzt bist du die Unhöfliche, Otosaka-san!", ist Ayase wieder empört. Otosaka ignoriert das.   "Ich gebe dir jetzt einen guten Rat unter Mädchen. Als jemand, der ebenfalls mal den ersten Schritt gemacht hat, ist es wichtig, den Jungen, den du magst, auf keinen Fall unter Druck zu setzen. Geh nicht auf Krampf auf ihn zu mit der Intention, irgendwas Verrücktes anzustellen, womit du ihn beeindrucken kannst. Wenn du sein Herz wirklich nachhaltig gewinnen willst, dann musst du zunächst das werden, was du auf keinen Fall werden willst.",   "Fett?",   "Nein.", Otosaka atmet ein und wieder aus.   "Nur eine gute Freundin."   *** Der Schultag geht schleichend zu Ende. Nachdem die Schulglocke zum Abschluss des Tages läutet, findet sich die Gang bei den Schulschuhen wieder zusammen.    "Na, schon eingelebt, Uchihara?", fragt Egaoshita-kun und klingt etwas unbeholfen.   "Jep!", antwortet sie fröhlich.    "Das freut mich, Uchihara-san.", lässt sie Kazukawa-kun wissen. "Ich hoffe doch, die Mädchen aus unserer Klasse waren nicht zu stürmisch zu dir wie zu Failman-san.", Uchihara grinst.   "Ach nein, das sind alles ganz Liebe. Ihr von der Chinobara seid echt voll knorke!", findet sie.   "Niemand sagt das.", kommt das von meiner Seite, woraufhin sie für den Bruchteil einer Sekunde ein bisschen enttäuscht aussieht.   "Was ich mich schon den ganzen Tag gefragt habe.", sie macht ein angestrengtes Gesicht. "Seid ihr Leute eigentlich so was wie ein Club oder so?",   Stille.   "Offiziell sind wir das nicht, nein.", bricht diese Elvis.   "Echt nicht?", sie sieht wieder etwas enttäuscht aus.   "Echt nicht. Aber Akira spricht immer von der Gang, wenn wir alle gemeint sind.", ergänzt er, woraufhin ihre Augen funkeln.   "Wirklich? Wie cool! Egao-kun ist ja so was von mein Typ!", platzt es aus ihr heraus, ehe sie augenblicklich das Gesicht verzieht und dreinblickt, als wurde sie angeschossen.   "Uchihara, hey, was ist denn los?", erkundigt sich dieser.   "Uchihara-san, geht's dir vielleicht nicht gut?", will auch Kazukawa-kun wissen, ehe sie sich wieder fängt.   "Ja, ja, alles gut, ich... also, Egao-kun.", sie sieht zu Egaoshita-kun.   "Wegen heute morgen wollte ich mich entschuldigen.", überrascht sie mich erneut an diesem Tag.   "Es war falsch, dir einfach so zu sagen, dass ich dich liebe. Ich meine, es ist die Wahrheit, es stimmt, was ich sage, nur... hätte ich doch auch auf... deine Gefühle Rücksicht nehmen sollen. Dich einfach so zu überrumpeln, deine feste Freundin werden zu wollen, obwohl ich noch nicht einmal eine normale Freundin sein konnte, war einfach... falsch. Ich weiß, dass der Start, den ich hatte, nicht unbedingt der Beste war. Vielleicht habe ich jetzt dafür gesorgt, dass das nie wieder möglich sein wird, aber... dennoch...", sie zögert bei ihrem Satz und die leichte Röte, die sich wieder in ihr Gesicht schleicht, lässt sie ganz bedürftig aussehen.   "Würde ich mich freuen, wenn ihr mich trotz der verrückten Dinge, die ich gesagt habe... in euren lustigen Freundeskreis... aufnehmen könntet.", die kann ja richtig schüchtern sein!   "Aaaaawww, Uchihara-chan, du bist ja noch viel süßer als ich dachte!", freut sich Chika-san und nimmt die Hand der Neuen in ihre.   "Ach, du...", haucht diese immer noch ganz verlegen und wendet leicht den Blick ab.   "Aber klar doch, Uchihara.", kommt Egaoshita-kun ebenfalls zu Wort, worauf diese ihn wieder ansieht wie ein Auto.   "Du scheinst ziemlich korrekt zu sein. Wir vestehen uns doch super. Also, warum nicht? Außerdem... wer weiß, vielleicht überlebe ich es mir ja irgendwann wirklich, auch dich so mal richtig auseinanderzu-... Aua, Mann, was soll das, Kaishi?",   "Das zu dem Mädchen zu sagen, dass dich mag, schickt sich wirklich überhaupt nicht.",   "Du schickst dich nicht!", aber Uchihara findet gar nicht, dass sich das nicht schickt, denn sie lacht und sieht dabei aus, als ob sie nie glücklicher gewesen wäre.   ***   "Ach, Hanazawa-chan, der Tag war so toll!",   "Das musst du mich nicht wieder wissen lassen, nur weil wir den selben Weg haben.",   Dass sie mich immer noch Hanazawa-chan nennt. Aber mehr soll's recht sein. Bis vor ein paar Stunden hat Chika-san mich schließlich auch noch so genannt. Das ist wohl die Wirkung, die ich auf andere Leute zu haben scheine. Das ist okay. Aber so vertraut, wie diese Uchihara mit mir spricht, das ist so... merkwürdig.   "Was genau findest du an Egaoshita-kun denn eigentlich?", interessiert mich und ich meine es auch so.   "Braucht es einen Grund, um sich zu verlieben?",   "Schon vergessen, dass du gleich die Schule für ihn gewechselt hast?", erinnere ich sie und klinge genervter als beabsichtigt.   "Ich meine, der Typ, dem du da nachläufst, müsste ja schon ziemlich toll sein, um so einer radikale Entscheidung zu gerecht zu werden.",   "Du hast ja recht.", seufzt sie grinsend. "Irgendwie... ", sie zögert wieder, sieht mich an, nur um dann wieder auf den Weg vor uns zu sehen.   "Ist es mir peinlich, die ganze Zeit davon anzufangen!",   "Erst machst du es spannend und dann brichst du ab, ich fasse es nicht!", maule ich und Uchihara lacht wieder.   "Hast du denn einen Freund, Hanazawa-chan?", ich stolpere fast, als ich das höre.   "Wie bitte, was?!",   "Einen Jungen, den du magst?",   "Ja, ja, schon verstanden. Nur, wo kommt die Frage denn jetzt auf einmal her?",   "Reine Neugier. Ich meine, du hast doch bestimmt einen, so hübsch, wie du bist!", wie ist die denn drauf?!   "Also, danke für die Blumen, aber...", ich streiche mir eine Strähne aus dem Gesicht.    "Nein, Jungs sind doof.", ich könnte mich ohrfeigen!   "Huh?",   "Ich meine... Nein, ich habe keinen. Vergiss den letzten Satz.", ergänze ich schnell.   "Ist gut.", gibt sie sich zufrieden. "Selbst, wenn ich mir dich auch als Kampflesbe sehr gut vorstellen könnte."   "Noch so ein Kommentar und ich ramm dir diesen Ast ins Rektum!",   "Oh nein, nicht mein Rektum! Die perverse Hanazawa-chan belästigt mich sexuell!", trällert sie, während ich sie am Kragen packe und böse anfunkle.   "Die perverse Hanazawa-chan wird gleich handgreiflich!", Uchihara lacht und schiebt mich sanft von ihr.   "Ist lustig mit dir.", findet sie und schaut geradeaus. "Wie musst du weiterlaufen?",   "Einfach den Weg entlang und anschließend nach links, weiter hinten, abbiegen.", antworte ich.   "Ich muss gleich da, rechts, abbiegen.", sagt sie und lächelt mich an. "Bis morgen, Hanazawa-chan!"   "B-bis morgen!", stammle ich, als sie auf der anderen Straßenseite verschwindet.   "Komisches Mädchen.", brumme ich und gehe den restlichen Weg.   ***   Zu Hause angekommen gehe ich gleich in mein Zimmer und lasse mich aufs Bett fallen. Für das Mittagessen fehlt mir irgendwie der Appetit. Ich hab keine Kraft mehr für irgendetwas. Ich bin seelisch müde. Ich bin am Ende.   "Was ein Tag heute.", flüstere ich.   Ich lasse diesen Tag Revue passieren. Elvis' Griff um mein Handgelenk. Chika-sans Körper an meinem. Uchiharas Bemerkung. Shuichiro, der nicht da ist.   "Irgendwas läuft hier ja mal so was von falsch.",   Wer hätte gedacht, dass sich die Dinge so entwickeln würden? Dass Egaoshita-kun abhaut, Elvis zusammenbricht und Shuichiro sich vom Dach stürzt? Wann hat das Leben, das wir kannten, angefangen, so abgefuckt zu werden? Wie hängt das alles zusammen?   Ich richte mich auf dem Bett und starre die Tür an.   Oh Mann, Shuichiro. Der Junge sah echt nicht gut aus. Er ist einfach von der Bildfläche verschwunden und jetzt liegt er mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus. Und Uchihara weiß nichts davon, anders als wir. Sie ist einfach da und er ist weg. Wir tun so, als wäre nichts dergleichen passiert. Jemand verschwindet, jemand taucht auf. Das hört sich irgendwie traurig an.   Während ich aus dem Bett steige und mein Handy aus meiner Tasche ziehe, denke ich nach, wie ich den Rest meines Nachmittages verbringen will. In mein eigenes Hauptmenü eingedrungen, gehe ich auf Line* und tippe auf Taiyos Icon. Mir fällt nicht ein, mit wem ich jetzt sonst reden könnte. Ich denke nach und die Auswahl ist echt nicht groß. Chika-san? Nein... Elvis? Nein! Uchihara? Hab ihre Nummer nicht und nervig ist die auch noch. Kazukawa-kun? Der ist... gruselig. Egaoshita-kun? Ich mag den nicht mal! "Argh, seid wann habe ich so wenig Freunde?!", schnauze ich die Wand an. Na und? Dann ist es eben Taiyo, der mir meine Langeweile austreibt. Also schreibe ich halt dem.   "Mir ist langweilig.", kommt es grün von rechts.   "Triff dich mit Freunden, du Pflaume.", daraufhin weiß von links.   "Bist du dumm, oder so?",   "Hey, nicht beleidigend werden.",   "Ist ja gut, du Memme.",   "Hast du nichts zu tun, oder so?",   "Tatsächlich, nein.",   "Läuft bei dir.",   "...",   "Punkt-Punkt-Punkt mich nicht so von der Seite an.",   "...",   "Haha, lustig. Ich lach mir den Arsch ab.",   "...",   "...",   "Ich brauche dich.",   ***   "Wie war dein Tag so?", fragt mich Taiyo, an meinem Bett lehnend.   "Langweilig.", antworte ich gelangweilt.   "Fühle ich.",   "Wir haben eine neue Mitschülerin, das war schon das Interessanteste an diesem Tag.", erzähle ich ihm das ohne Grund.   "Cool. Wie ist sie denn so?",   "Stell dir Kozue Ayuhara** mit pinken Haaren und einem Dauergrinsen vor.",   "Klingt nach 'ner netten Kombi für mich.", meint er.   "Na ja, gewissermaßen ist sie ja auch nett.",   Stille.   "Sind ihre Augen auf Dauer genauso gruselig?",   "Dummkopf."   Stille.   "Weißt du, Hanako? Du könntest ruhig ein wenig netter zu mir sein. Wenn du mich schon bittest, diesen arschweiten Weg zu dir nach Hause aufzunehmen, um... gar nichts zu tun.",   "Hättest absagen können.",   "Liegt mir nicht.",   "Sagen, dass du mich nicht sehen willst.",   "Glatte Lüge.",   "Mich ignorieren, indem du es einer anderen besorgst.",   "Halt die Klappe.",   "Du bist aber auch nicht besonders nett, weißt du?",   "Ich bin immer noch netter als du.",   Neugierig, woher das Geräusch von energischem Tippen auf den Bildschirm und die leise Musik herkommt, schaue ich runter zu seinem Handy. Er spielt irgendein bescheuertes Eroge***.   "Du widerst mich an.", lasse ich ihn wissen.   "Cool.",   "Spielst du das jetzt extra, um mich zu ärgern?",   "Möglich.",   "Ekelhaft.", ich rutsche vom Bett runter und setze mich neben ihn.   "Macht es wenigstens Spaß, so einen Mist zu spielen?",   "Glaub mir, Kleines, ich habe hier den Spaß meines Lebens.", antwortet er mit der überzeugenden Begeisterung eines Beamten am Montagmorgen.   "Dieses Spiel ist der Grund, warum du Penner keine Freundin hast.",   "Stimmt doch gar nicht.",   "Ihr Nerds zieht euch doch immer mit euren dreckigen Eroges in eure Ecke zurück, anstatt auch nur zu versuchen, mal eine richtige Frau anzufassen.",   "Ich hab auch noch Gefühle, nur, dass du es weißt. Ich glaube, sie sind gerade verletzt worden.",   "Warum wackeln überhaupt ihre Brüste bei allem, was sie sagt?",   "Du verstehst die Kunst dahinter nicht.",   "Welche Kunst?",   "Die Kunst, ein nettes Zwischendurch-Spiel zu entwickeln?",   "Was ist mit dir falsch?!",   "Bitte schrei nicht so, du verdirbst die Spannung.",   "Welche Spannung?! Da geht es doch nur um Sex!", rege ich mich auf und ich glaube, ein Stück weit sauer bin ich dabei tatsächlich.   Dass er mich so ignoriert und dieses blöde Spiel mir vorzieht, das ist so... bescheuert. Auch, dass ich daraufhin die Beherrschung verliere, ist so... bescheuert. Immer noch angefressen über meine Angefressenheit baue ich mich auf allen Vieren vor ihm auf und funkle ihn böse an. Ist es Eifersucht? Bin ich so einsam, dass ich mich jetzt vernachlässigt fühle? Was auch immer es ist, ich werde schon Sorgen, dass ich kriege, was ich will. Im nächsten Moment mache ich diese bescheuerte Situation noch bescheuerter, indem ich gewaltsam meine Lippen auf seine drücke.   Er könnte mich von sich schieben, mich fragen, was um alles in der Welt mir einfiele, aber nichts dergleichen tut er. Stattdessen er widert er den Druck meinerseits und dafür könnte ich ihn küssen, wenn ich das nicht sowieso bereits tun würde.   So ist's gut, widme mir alles.   Ohne, dass ich es ihm sagen muss, steht er auf, ohne dabei den Kontakt unserer Lippen zu unterbrechen.   Denk nur an mich. Sie nur mich an.   Nun stehe wir, einander heftig küssend, so überhaupt nicht jugendfrei oder zurückhaltend.   Zeig mir, wie sehr du mich liebst.   Unter der Zurückhaltung, die nicht da ist, gerate ich uns Taumeln und ziehe Taiyo mit mir in das weiche Verderben unter uns. Die Mattratze quiekt ein wenig auf, als wir auf ihr landen. Ich höre uns beide etwas geschafft nach Luft ringen, als wir uns voneinander lösen, um einander tief in die Augen zu sehen.   "Was ist denn jetzt in dich gefahren, Kleines? Bist du bescheuert?", haucht er.   "Idiot.",   "Ist dein Hass auf Senran Kagura**** wirklich so groß?",   "Idiot.",   "Sag bloß, du bist eifersüchtig.",   "Idiot.",   Er ist so ein Idiot. Warum habe ich ihn nur herkommen lassen? Warum hat er nicht abgesagt? Er ist doof, sitzt auf einem hohen Ross und versucht immer, den vernünftigen Erwachsenen zu spielen. Er versucht so sehr, dieser vernünftige Erwachsene zu sein, dass er so tut, als würde er nichts für mich empfinden. Und doch ist er hier.    "Du hast keine Ahnung, was du da tust.", lässt er mich wissen.   "Na und? Die hast du doch genauso wenig.",   Da sind Sommersprossen, die man sehen kann, wenn man ihm nur nah genug ist. Stimmt, schließlich haben wir ja wirklich Sommer.   "Warum tust du das alles, Kleines?",   "Warum hörst du nicht auf?",   Aber im Ernst, warum tue ich das? Verdammt, warum sieht dieser Typ nur so verflucht schön aus? Dieses Gesicht passt nicht zu dem Idioten hinter diesen smaragdgrünen Augen. Warum sieht er aus, wie er aussieht?   "Macht es dir Spaß, schwachsinnig zu sein?", will er von mir wissen.   "Du bist schwachsinnig, weil du immer wieder darauf einsteigst.",   Als hätte ich keine andere Wahl berühre ich vorsichtig sein Gesicht mit meinen Fingerspitzen. Er zuckt etwas zusammen unter der Berührung, wehrt sich jedoch nicht dagegen.   Wie kommt es, dass mich sein Äußeres so dermaßen anzieht? Warum fühle ich mich so allein? Wieso verlangt alles in mir so sehr nach seiner Nähe?   Ich fahre mit meiner Hand mehr und mehr unter die Mütze, die er immer trägt. Dass ihm überhaupt nicht heiß ist, so fast mitten im Juni. Seine Haare fühlen sich seidig an. Das tiefe Rot macht sich gut zum streicheln.   "Hab ich dir schon gesagt, dass du absurd bist?",   "Jetzt hast du es gesagt. Was willst du tun, noch absurderer Kobold?",   "Was willst du tun, blonder Dämon?",   Ich will dich ohne Mütze sehen. Ich will, dass du alles in mir verdrängst, was mir Angst macht. Ich will diese Narben auf meiner Haut spüren.   "Warum bin ich ein Dämon?",   "Weil du weißt, dass es falsch ist und du trotzdem tust, wonach dir der Sinn steht. Auch, wenn es böse und verhängnisvoll ist. Ist das nicht die Definition eines Dämonen?",   "Leute Dämon zu nennen, ist gemein.",   "Leute Kobold zu nennen, das ist gemein.",   Wie soll das weitergehen? Soll ich diesen Schritt wirklich gehen? Und das nur, um meine Einsamkeit zu verdrängen? Liebe ich sie wirklich so sehr, dass ich sie derart aus meinem Kopf verdrängen muss? Bin ich wirklich so grausam, dass ich seine Gefühle für mich derart ausnutze, um meinen inneren Qualen zumindest temporär zu entfliehen?   "Hey, Taiyo...", ich verliere mich in seinen Augen.   "Das ist mein Name.", ich will diesen Idioten so sehr, dass es wehtut.   "Ich will nicht, dass du gehst.", hauche ich. Ich komme so was von in die Hölle.   "Was soll ich dann machen?", er ist so dumm. Dumm wie Brot. Ich will sein ganzes dummes Wesen spüren, mit allem was dazugehört.   "Mach das Gegenteil. Bleib.", will ich das hier wirklich so sehr?   "Lass uns weitergehen.", meine Fresse, ja! Ich will das hier wirklich so sehr.   Taiyo schweigt und starrt mich einfach nur an, wie er es auch vorher getan hat. Keine Ahnung, ob er verstanden hat, was ich meine. Für den Fall, dass dieser Idiot so tut, als hätte er mich nicht gehört, werde ich einfach noch deutlicher.   "Ich weiß, es ist spontan...",   "Ich weiß, dass wir nicht wirklich zusammen sind...",    "Ich weiß, dass ich in deinen Augen immer noch das kleine Mädchen bin, welches du nicht anrühren darfst...",   "Aber trotzdem, trotzdem... trotzdem...",   "Trotzdem was?", hakt er nach und ich könnte sterben vor Scham.   "Trotzdem will ich dich in mir spüren.", ich bin die fieseste Schlampe auf diesem verdammten Planeten. Kapitel 42: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Nur du, ich und die Dunkelheit. -------------------------------------------------------------------- "Bitte schlaf mit mir" Kein Mensch auf der Welt, der mich, Hanako Hanazawa, das süße Mädchen von nebenan kennt, würde einen solchen Satz von mir erwarten. Die meisten sehen in mir eine kleinwüchsige Oberschülerin mit Blödsinn im Kopf und einer Schwäche für Lolita-Klamotten und genau das lasse ich sie glauben. Es stimmt, aber gleichzeitig bin ich noch etwas anderes. Ich weiß nicht was, aber diese eine Sache an mir ist überhaupt nicht Hanako-Hanazawa-niedlich. Ich kann ihr nur noch keinen Namen geben, ich sag dir Bescheid, wenn sich das ändert. Nun habe ich etwas gar nicht Süßes gesagt, aber Taiyo bleibt immer noch der Taiyo den ich kenne und liebe. Er verurteilt mich nicht und das liebe ich so an ihm. Ich will, das er mir meine Angst nimmt, hier und jetzt, damit ich Chika-senpai und Elvis eine richtige Freundin sein kann. Ich sehe, wie es hinter seinen Augen arbeitet. Es ist schwer, seinen Blick zu deuten. Was Taiyo wohl in so einer Situation wie der jetzigen denken mag? Würde er mit mir schlafen, weil sich ihm so eine Chance noch nie geboten hat und er wissen will, wie ich mich anfühle? Oder würde er es ablehnen, weil wir nicht lange genug zusammen sind oder er Angst hat, mir wehzutun? Was auch immer es ist, was auch immer er mir im Begriff ist zu sagen, die Angst in meinem Blut lässt es kochen. Wie die Angst als Kind, wenn man eine Spritze verabreicht bekommt. Nur heftiger. Nur aufwühlender. Nur... heißer. "Okay.", haucht er nicht leise genug, um es Flüstern zu nennen. Ich wünschte, ich könnte sagen, ob diese Antwort mich glücklicher macht als die andere, die zur Auswahl stand. Ich wünschte, ich könnte die Schwierigkeitsgrade zwischen ihnen einschätzen, aber das kann ich nicht. Ich verstehe nicht, warum er so antwortet. Es bestätigt ihn und es widerspricht ihm. Das Ergebnis seiner Entscheidung ist gleichgewichtig und gleichzeitig zerreißt die Uneinigkeit meiner inneren Stimmen tief in mir, alles, von dem ich glaubte, es sei stark genug zu bestehen. Taiyo will Sex mit mir. Das war meine Idee, also halte ich den Mund. Ich habe zuerst Sex mit ihm gewollt. Taiyo steht auf, lässt die Rollläden nach unten fallen und macht das Licht aus. Jetzt ist es stockdunkel in meinem Zimmer. Noch nicht einmal meine Kuscheltiere schaffen es, vor mir aufzublitzen. Noch nie war ich glücklicher darüber, dass mein VAter ein Workaholic ist und nicht in der Lage ist, zufällig hereinzukommen, während ich von einem Kerl in Emo-Klamotten und 2012-Justin-Bieber-Frisur entjungfert werde. Ich höre Taiyo zurück zu meinem Bett tapsen und das Bett quietscht auf, als er es betritt. Er sitz direkt vor mir. Das sehe ich daran, dass in dem wenigen Licht, das ins Zimmer fällt, sein Schatten vor mir stehenbleibt. Ich sehe seine Silhouette an. Und ich spüre, wie er auch meine ansieht. Er scheint trotz seiner Antwort in seinen Gedanken gefangen zu sein. Weil ich ihm entgegenkommen will, rutsche ich näher und drücke meine Lippen erneut auf seine. Ich bin dabei, verrückt zu werden. Wenn ich ihn nicht gleich irgendwie berührt hätte, hätte ich vielleicht für immer gezögert. Und das will ich nicht. Ich kann es mir nicht leisten zu zögern. Ich habe damit angefangen. Und ich werde es sein, die es bis zum Ende durchzieht. Taiyo küsst mich zurück. Er rammt seine Zunge noch heftiger in meinen Hals als ich erwartet habe. Nur um dann von meinem Mund zu meinem Hals zu wechseln. "Entschuldige mich kurz.", flüstert er, als er seine Lippen von meinem Hals löst, aufsteht und hinter meinem Rücken das Bett erneut aufquietschen und mein Herz höherschlagen lässt. Er will doch nicht etwa Analverkehr, oder?!, entfährt es einer Stimme in meinem Kopf. Aber irgendetwas sagt mir, dass es das vermutlich nicht ist. Taiyo hat zwar eingewilligt, aber ich würde ihm nicht zutrauen, mich beim ersten Sex direkt von hinten zu nehmen. Falls doch, bereut er das bitter, darauf kann er sich verlassen. Er löst meine Krawatte, öffnet meine Strickjacke, um mir ebenfalls das Hemd abzunehmen. Mit einem Ruck, zieht er alles, was über meinem BH gelegen hat, über meinen Kopf. Es landet auf dem Boden. Ich fühle seinen nackten Oberkörper meinen Rücken streifen und ich bin mir ungewiss, ob der Rest von ihm ebenso entblößt ist. "Das ist das Vorspiel, nehme ich an.", murmelt er, und wieder weiß ich nicht, ob diese Worte mir gelten oder seinem eigenen Gewissen. Meine Haare fallen an beiden Seiten meinen Rücken und meiner Schulter herunter, als er an meinen Seitenzöpfen die Haarbänder löst. Er küsst meine Schulter und seine Haare kitzeln mein Ohr, aber ich bin wie tot an einem anderen Ort, nicht hier in meinem Zimmer. Ich bin in Gedanken ganz woanders. Noch nicht einmal in der Gegenwart bin ich dort. Ich darf das hier aber nicht beenden, wenn ich den Krieg, der in mir tobt auch wirklich gewinnen will. Ich will gewinnen. Ich will so sehr gewinnen, dass ich alles zerschlagen könnte. Seine Hände sind von der Herbstluft immer noch so kalt und zittrig, aber gleichzeitig noch von dem vorbeiziehenden Sommer von der Temperatur her so selbstsicher. Ich höre das Klicken, das immer leise ertönt, wenn ich meinen BH öffne. Nur sind es heute nicht meine Finger, die ihn öffnen. Er zieht die Träger, mitsamt dem ganzen Gestell meine Arme herunter, der BH landet auf meinen Oberschenkeln. Ich höre, wie er den den Reißverschlusses meines Rocks, der zu meiner Schuluniform gehört, aufzieht. Dann der letzte Reißverschlusses des Spitzenrocks, den ich immer unter dem anderem trage. Um auch in der Schule die Lolita zu sein, die alle kennen. Ein Teil dessen, der mich zu dem Mädchen macht, das Elvis, Chika-senpai und die anderen kennen. Mein Herz schlägt eine Spur schneller, als Taiyo mir das Kleidungsstück, das mich als Individuum zählen lässt, zusammen mit dem anderen Rock, durch meine Hilfe, über meine Beine stülpt. Als seine Finger meine Hüfte entlang fahren und mein Höschen an den Seiten nach unten schieben und ich es kurz von selbst ausziehe, bin ich nun hier, nackt in einem Zimmer, das mir noch nie fremder vorgekommen ist. Ich lausche, wie Taiyo sich auf mein Bett kniet und meinen nackten Rücken an sich drückt. Er scheint noch nicht vollends nackt zu sein. Ich spüre die Jeans über seinem Knie, das meinen Rücken berührt. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm aus der Jeans zu helfen, aber dazu müsste ich mich bewegen können. Ich kann mich nicht bewegen. Wieder kann ich seine Hände auf meiner Haut spüren und mein Herzschlag beschleunigt sich von neuem. Alle möglichen Gedanken stürmen meine Gedanken. Taiyo hätte sicher gerne die Area-51 gestürmt und gesehen, was niemandem sonst vergönnt ist. Seine Hände sind auf meinen Rippen, unter meinen Armen und schieben sich quälend langsam nach vorne. Eine Erinnerung an letzte Woche blitzt vor meinem geistigen Auge auf. Chika-senpai und ich hatten uns auf Schaukeln auf einen Spielplatz niedergelassen, um Pause zu machen. Wir waren noch nicht einmal sonderlich weit gekommen, aber weil ich spürte, dass Chika-senpai nicht bei bester Gesundheit war und ein Teil von mir die Hoffnung, Egaoshita-kun hier irgendwo anzutreffen, zumindest auf diesem Spielplatz, bereits aufgegeben hatte. Chika-senpai wippte gedankenverloren auf ihrer Schaukel und sah auf das Gras vor ihren Füßen. Ich hielt es für eine gute Gelegenheit, um etwas mit ihr zu plaudern. "Hey, sag mal, Chika-senpai, findest du nicht auch, das Elvis in letzter Zeit seltsamer ist als sonst?", warf ich diese Frage in den Raum, oder besser gesagt Spielplatz, einfach ins Blaue. "Wie meinst du das?", fragte Chika-senpai mit etwas verklebt klingender Stimme. "Er ist noch viel verschwiegener als sonst, ist dir aufgefallen, dass er manchmal versucht, Blicken auszuweichen und Augenringe hat? Mit dem Typen stimmt etwas nicht.", erklärte ich meinen Gedankenfluss. "Jetzt wo du sagst, kann sein. Aber vielleicht hat er einfach eine harte Zeit. Er kann sich nicht erinnern, weißt du? Mich hat er anfangst fast komplett vergessen, obwohl wir in derselben Mittelschule waren. Es ist viel passiert, vielleicht muss er sich erst erinnern und-", "Darum geht es nicht!", unterbrach ich sie harsch. "Du musst mit ihm reden! Herausfinden, ob er dich betrügt oder so! Mann, Chika-senpai, du musst dein Herz öffnen, was das angeht, bist du fast genauso schlimm wie er.", schimpfte ich sie aus, ohne zu vernichtend zu klingen. "Aber, Hanazawa-chan... das-", "Spar' dir das, ich kann das nicht mitansehen. Begreifst du nicht, dass eure Liebesbeziehung in Gefahr sein könnte?", stand ich von der Schaukel auf, keifte diesen Satz und baute mich vor ihr auf. Jetzt war ich wirklich sauer, sauer, dass sie mich nicht verstand. Chika-senpai sah mich mit aufgerissenen Augen an. "Ich mein das nicht böse, ehrlich.", stellte ich wieder beruhigt klar. "Schließe die Augen und stell dir vor, ich wäre Elvis. Dann sag, was du ihm sagen willst.", schlug ich vor. Ohne Widerworte tat sie, was ich ihr sagte. Ich legte die Hand auf ihre Schulter und trat näher. "Ellie... was ist denn eigentlich los mit dir?", murmelte sie und ich starrte nur auf ihr Gesicht, dass in der vergehenden Mittagssonne noch schöner aussah. "Ist es, weil du dich nicht erinnern kannst? Hast du Angst, die Erinnerungen auf ewig verloren zu haben, ist es das? Oder ist es etwas, das doch nichts mit mir zu tun hat? Sagst du es mir?", ihre Stimme klang weinerlich und mir kamen fast die Tränen. Fast hätte ich ihr geantwortet, aber ich war nun mal nicht Elvis und meine Stimme würde mich verraten, deshalb sagte ich nichts. Ich kam näher an die Lippen die das gesagt hatten, ich konnte nichts dagegen tun und ehe ich mich versah küsste ich sie. Die weichen Lippen von Chika-senpai von denen ich so lange geträumt hatte, sie zu küssen, dieser Traum wurde wahr. Chika-senpai brauchte ein paar Sekunden, ehe sie in die Wirklichkeit zurückfand und schlug dann die Augen auf, so nah, dass ich das hörte. Ich schreckte zurück und landete vor Schreck im Gras. "Hanazawa... -chan, ich...", stammelte sie und ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. "Es tut mir leid, ich wollte nicht, es... kam so über mich, vergiss es!", rief ich und eine Träne lief mir über die Wange. Wir machten mit der Suche weiter und ich vermied jeden Augenkontakt mit ihr. Ich gelange zurück ins Jetzt als seine Hände nur noch wenige Millimeter von meinen Brüsten entfernt sind, bevor er sie dann wirklich fest im Griff hat. Ich stöhne kurz auf und beiße die Zähne zusammen. Ich bin der Dunkelheit dankbar, hier zu sein, damit er sie nur fühlen, aber nicht sehen kann, auch wenn es darauf auch nicht mehr ankommen würde. Er wird inzwischen sowieso über meine schwindend geringe Körbchengröße Bescheid wissen, auch angezogen. Seine Hände sind so kalt, oder ich einfach nur heiß, was auch immer es ist, ich weiß nicht ob ich erregt oder verängstigt bin. Seine eine Hand hält meine rechte Brust weiterhin fest, die andere wandert ins Erdgeschoss. Wieder sind es meine Rippen, die er streift, jetzt fährt seine Hand über meinen Bauch. Doch ehe sie sich noch weiter nach unten bewegt und zwischen meinen zittrigen Beinen verschwindet, zerstöre ich alle Pläne mit einem einzigen Rückzieher. "Stopp, ich kann nicht!", rufe ich in die Dunkelheit und er lässt sofort von mir ab. "Was ist denn jetzt auf einmal?", fragt er mit tieferer Stimme, als wüsste er, was jetzt auf einmal los ist. Mich beschleicht das Gefühl, dass er das von Anfang an geahnt hat. "Chika-senpai...", winsle ich, um ihm alles zu erklären, aber ich bereue es sofort. "Ich habe etwas Hinterhältiges gemacht, deshalb wollte ich es mit dir tun, um es zu vergessen!", erzähle ich stotternd. "Und das hat mit Chika zu tun?", stellt er mit schleichendem Ärger in der Stimme fest. "Ich wollte nur dich lieben, aber ich habe Chika geküsst und dann, wusste ich nicht, was ich machen soll, um die treu zu bleiben... Ich versteh mich doch selbst nicht!", spreche ich verzweifelt in den Raum, dessen Umrisse und Kanten noch immer ich nicht erkennen kann. "Du wolltest also nur mit mir schlafen, weil du mich betrogen und Schuldgefühle hast? Na dann, verstehe.", fasst er Zähne knirschend zusammen. Wahrscheinlich kämpft er gerade innerlich darum, mich nicht anzuschreien. Als wenn er wüsste, wo genau seine Kleidung gelandet war, steht er auf, nimmt sie zu sich, zieht sie an und lässt den helleren Türspalt erscheinen. Wie es scheint, hat er seine Hose seit er hergekommen ist, nie ausgezogen. Meine Theorie bestätigt sich soeben. "Wo gehst du hin?", frage ich fast schon besessen von seiner Anwesenheit und er dreht sich, ohne, dass ich seinen Gesichtsausdruck deuten kann zu mir um. "Nach Hause, wohin sonst?", klärt er mich auf. Ich sage ihm nicht, dass sein Handy verdeckt auf dem Boden liegt. Er müsste sich mir ja nähern, um es aufzuheben. "Bist du sauer auf mich? Machst du gerade Schluss mit mir?!", will ich voller verstärkter Schuldgefühle sowohl für Chika-senpai als auch für Taiyo wissen. Er hat schon den Blick von mir abgewandt als er sagt: "Was weiß ich.". Ohne die Tür zu schließen verschwindet er und lässt mich in dem dunklen Zimmer zurück. Weil wieder etwas Licht in den Raum fällt, kann ich die Silhouetten der Kuscheltiere in ihm sehen, sie haben keine eindeutige Mimik aufgesetzt, aber es scheint als würden sie lachen "Sie nur, was du Idiotin da angerichtet hast!". Ich steige noch immer nackt aus dem Bett und bemerke, dass Taiyo sein Handy vergessen hat. Ich nehme es in die Hand und es ist noch warm. Dann leuchtet ein Wassertropfen auf dem Display auf. Und noch einer. Und noch ein weiterer. Auf einen Schlag spüre ich, dass ich die Quelle der Tropfen bin. Alles zieht sich in meiner Brust zusammen und mein Herz tut unglaublich weh. "T-Taiyo... es... es tut mir leid!", winsle ich. Auf einmal breche ich wie auf Knopfdruck in Tränen aus und weine, noch mehr als die ersten beiden Male, als ich dachte, Chika-senpai wäre tot und als ich dachte Elvis würde mich nicht verstehen. Das tat er auch nicht, aber er hat trotz dessen alles versucht, um genau das zu tun. Das erste Mal war es Ratlosigkeit, das zweite Mal war es Unverständnis und das hier... das ist die abgrundtiefe Enttäuschung mir gegenüber und Trauer wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe. Ich fühle mich so leer und schmutzig, als wäre ich die ekelhafteste Person, der ich je begegnet bin. "Ich... ich... ich will das nicht. Ich will niemanden mehr verletzen. Ich will das nicht!", weine ich in abgehakten Pausen. Ich habe lange das Gefühl gehabt, gleich am Weinen hier und jetzt zu sterben. Vielleicht wollte ich das sogar. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Dieser innere Schmerz ist so unerträglich, dass ich schon sein Handy gegen die Wand schmeißen will, um nicht mehr an ihn denken zu müssen, aber das lasse ich. Ich weine einfach und bemühe mich, mir nicht in meiner eigenen Trauer den Tod zu wünschen. Kapitel 43: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Im Labyrinth der benebelten Sinne ---------------------------------------------------------------------- Chika: Ellie und ich sehen uns gerade zusammen eine Folge von "Die Melancholie der Haruhi Suzumiya" an, als Onii-sama die Haustür öffnet und mir einfällt, dass er noch mit Hanako-chan verabredet war. Er sieht mich und geht dann in Richtung Kühlschrank, um sich etwas zu essen zu holen, eine Tüte Chips und dann verschanzt er sich in sein Zimmer. "Sollen wir ihn fragen, was los ist?", frage ich Ellie, der gerade eher unbeeindruckt den Kampf zwischen Yuki und Asakura verfolgt. "Eher nicht, Taiyo redet nicht gern über Probleme, warten wir, bis er sich beruhigt hat.", schlägt er vor. "Na, wenn du das sagst.", murmle ich und lasse es darauf beruhen. Es gibt Dinge, von denen ich eben nicht die kleinste Ahnung habe und das gilt nicht nur für seinen Bruder. Auch als es um Akiras Verschwinden ging, schien er so als hinge sein Leben davon ab, dass Akira wieder auftauchen muss. Seit dieser Sache wirken die beiden so distanziert und fremd, ich frage mich, ob das zusammen hängt. Ob Ellie der Grund ist? Nein, so ein Schwachsinn, das macht keinen Sinn. Zumindest glaube ich das. Ich habe auch geglaubt, dass Hanako-chan mit mir abgeschlossen hat. Ich irre mich doch auch. Und ich hoffe, dass auch Hanako-chan sich in der Annahme irrt, dass Ellie eine Affäre hätte. Sie ist meine beste Freundin, aber tat echt weh. Auch wenn ich nicht will, dass es wehtut. Ich will nicht eifersüchtig sein, ich hasse diese Eigenschaft mehr als alle anderen, deshalb lass ich das. Ich muss endlich einen klaren Kopf kriegen und danach mit Ellie sprechen, wenn ich ihm wirklich helfen will, dann muss ich mir zuerst helfen. Ellie schaltet nach Wiederholung dieser alten Episode auf einen Teleshopping-Kanal und als ich da eine Werbung für eine Buddha-Figur sehe, stockt mir das Herz und ich zucke zusammen. "Schalt weg!", zische ich voller Panik. Ellie dreht sich ohne Worte zu mir um und sieht mich an. "Ähm, okay, wenn du meinst.", sagt er nur, aber noch ist der Sender nicht gewechselt. "Ich habe eine Buddha-Phobie.", gestehe ich leise. "Du hast was genau?", fragt er, ohne so zu klingen, als wäre das lustig. "Dieser Kerl macht mir einfach echt Angst, ich... nein, vergiss es.", gebe ich den Erklärungsversuch auf. Ellie schaltet dann auf eine Doku über Hühnerhabichte und ich beruhige mich. Ich hasse Buddha wirklich wie die Pest seit jenem Tag. Immer wenn ich diese Fratze sehe, dann sehe ich Bilder, die ich ohnehin schon niemals wieder aus meinem Kopf bekommen werde. "Willst du mir vielleicht sagen, warum du vor einer Steinstatue Angst hast? Vielleicht verstehe ich es dann.", meint Ellie und nippt etwas an seinem Tee. "Ich kann gerade nicht, das ist etwas sehr Persönliches, mit dem ich... Nein, ich kann wirklich nicht.", bedauere ich mein Schweigen. "Sag Bescheid, wenn du reden kannst.", bittet er mich und lässt es darauf beruhen. Das macht er in letzter Zeit ziemlich oft, wenn er nicht weiß, wie er reagieren soll, dann überlässt er mir, was geschieht, wie zum Beispiel das mit meiner Krankheit, die bis heute andauert. Ich kann sie immer noch spüren und sie ist kein bisschen nachlässiger geworden, wenn mich nicht alles täuscht, ist sie womöglich noch stärker geworden. Das fiebrige Gefühl und das Blut, das mir aus der Nase schießt, wann auch immer das passiert, es macht mir Angst. Fast noch mehr als Buddha. Mein Körper glüht schon wieder und ich will auf einmal nur noch weg von hier. "Ich dreh eine Runde um den Block, spazieren und so.", merke ich an und stehe auf. Ellie sieht mir kurz nach, erwidert aber nichts darauf. Ich ziehe Jacke und Schuhe an und die trockene Kälte von draußen erwartet mich schon herzlichst. Ich wandere eine Weile durch unser Viertel und ignoriere die Hitze in meiner Stirn. Es fühlt sich so an, als würde mich der Buddha von vorhin immer noch verschmitzt angrinsen und der Gedanke macht mich wahnsinnig. "Kapier`s, es ist nur eine scheiß Statue, Chika!", schimpfe ich mit mir selbst und laufe weiter. Ich komme in der Stadtmitte an, dort, wo mehr Menschen sind. Ich sehe ein Mädchen mit brünetten Haaren vor meinen Augen aufblitzen und quetsche mich durch die Menschenmenge zu ihr hindurch. "S-S-Sayaka!", rufe ich und falle am Rand der Menge auf die Knie. Das ist sie nicht. Sayaka ist tot und es ist meine Schuld, dass es so gekommen ist! Geht es nur mir so oder... schneit es? Zumindest ganz leicht, die Flocken sind noch klein und der Boden noch nicht gefroren genug, um sie in ihrer festen Form zu empfangen. Ich blicke zum Nachthimmel hinauf, er ist dunkel und die Sterne nicht zu sehen. Ich habe für ein paar Sekunden das Bedürfnis für immer so auf dem Boden zu sitzen und die Gefühle nicht zuordnen zu können. Dann denke ich wieder an die vermeintliche Sayaka und den Buddha aus dem Fernsehen, der aussah, wie sein Zwilling, der meine Schwester auf dem Gewissen hat. Seitdem hasse ich ihn. "Sayaka...", winsle ich und schaffe es wieder auf die Beine. Ich habe noch immer meine Schuluniform an, fällt mir ein, ich sollte morgen wieder in Strumpfhosen zur Schule, wenn es noch kälter wird. Jetzt will ich raus aus der Stadt, bevor noch mehr Mädchen wie Sayaka aussehen. Ich schaffe es raus und bin wieder an einem unbelebteren Ort mit weniger Menschen und Lärm. Und in der Ruhe holt mich die Erinnerung an das Fieber wieder ein. Mein Kopf fühlt sich an als könnte er jeden Moment explodieren, alles dreht sich nur um die Bilder vom Buddha und der toten Sayaka. Das ist doch lange genug her um damit abzuschließen, warum kann ich mich ausgerechnet jetzt auf nichts anderes konzentrieren? Ich habe bisher doch ganz gut leben können, ich habe nur nachts an sie gedacht, zumindest habe ich das versucht. Aber ich habe nie vergessen, was ich angerichtet habe. Wie viel Leid ich mein ganzes Leben meinen Eltern und später auch Sayaka zugefügt habe. Verdammt, was habe ich in meinem Leben eigentlich erreicht? Habe ich jemals von mir behaupten können, etwas wirklich verdient zu haben, habe ich je eine ehrliche Rolle gespielt? Das Fieber lässt mich das alles denken, als wäre das mein Ende. Das alles fühlt sich an wie ein Abschied von vielen. Ein Tod von vielen. Weil ich irgendwann ja wirklich sterben muss, wenn nicht jetzt, dann irgendwann später, wenn nicht noch viel später an Altersschwäche. Ich weiß lange nicht mehr, wann meine Zeit zum Sterben kommen wird. Ob ich meinen Tod selbst verursache, oder es am Ende doch meine Krankheit oder mein Alter ist, was mich zum Erliegen zwingt. Ich höre in der einsamen Ecke der Straße Schritte hinter mir und wenn es mich genug interessieren würde, hätte ich mich vielleicht sogar umgedreht. Aber irgendwie ist mir in diesem Moment alles so... gleichgültig. Ich weiß nicht mehr, wo mir eigentlich der Kopf steht, doch als ich mit dem Glauben spiele, es zu wissen, stürze ich zu Boden und lande ohnmächtig auf der Straße. Die Schritte kommen näher, aber meine Augen sind geschlossen und selbst wenn sie es nicht wären, ist mein Geist viel zu weit abseits der Stadt, als dass er irgendjemanden erkennen könnte. Kapitel 44: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Zwischen Himmel und Hölle -------------------------------------------------------------- Ich finde mich in einem leeren Raum wieder, voller Schwärze, Dunkelheit und dem Gefühl der Schwerelosigkeit, als hätte meine Seele die Welt für immer verlassen. Aber das ist nicht das Jenseits, das ich mir immerzu ausmalte. Das ist der Weltraum. Ich fliege an Ort und Stelle, scheine mich aber nicht bewegen zu können. In dem Gefängnis aus Unendlichkeit. Ein Blitz durchbricht die Dunkelheit der ewig währenden Nacht im All und die Kälte weicht ein Stück zurück. Vor mir erscheint Sayaka. Sie isst blutverschmiert und trägt dieselben Klamotten wie damals an jenem Tag, als ihr Leben ein Ende nahm. Sie bewegt sich ebenfalls nicht, noch nicht einmal zu blinzeln und zu atmen scheint sie. Ich erschrecke zu Tode, als eine verzerrte Version ihrer Stimme aus dem Off im Raum ertönte. "Du hast mich umgebracht, du hast mich umgebracht, du hast mich umgebracht, du hast mich umgebracht!", singt sie schreiend und voller Schadenfreude über meine Trauer.   Immer wieder und wieder wiederholt sie diesen einen Satz. Du hast mich umgebracht. Du, Chika Failman und nicht etwa Buddha oder ein Serienkiller, nein, meine eigene Familie! Du bist schuld an meinem Tod und niemand sonst! Ich will mir die Ohren zuhalten, ich will schreien, weinen, um mich schlagen, aber zu nichts dergleichen fühle ich mich imstande. Als würden sich alle Kraft für diese Handlungen absichtlich von mir fernhalten. Ein weiterer Blitz macht die Dunkelheit erneut ein Stück zunichte und nun war es der Buddha, der vor meinem Antlitz lag. Direkt neben der bösartig dreiblickenden Sayaka. Er steht da und grinst das Grinsen, das ich so hasse. Das ich so fürchte.   "Sieh nur, was du Monster der armen Sayaka angetan hast! Was du allen anderen um dich herum angetan hast, du Dämon! Du bringst nichts als Leid in deinem Umfeld und du weißt es! Du tötest und im Gegenzug würdest du am liebsten dasselbe Schicksal erleiden, ist es nicht so?", diese Stimme ist noch viel gruseliger.   "Das stimmt nicht! Ich würde mich niemals umbringen! Das könnte ich nicht! Man braucht mich! Irgendwann hat auch meine Existenz angefangen, einen Zweck, ja, sogar einen unentbehrlichen Wert für andere zu haben! Ich bin mehr als all das!", keife ich völlig entsetzt.   "Wie viel Wert kann jemand wie du nach all dem haben? Wie viel Wert war von Anfang an vorhanden, was denkst du? Ist es nicht ziemlich egoistisch von dir, dich in die Opferrolle zu stellen?", ich hasse diese Stimme.   "Jeder Mensch ist auf seine Weise egoistisch. Manche mehr, manche weniger.",   "Selbst, wenn dem so ist. Würdest du dich selbst wirklich zu den weniger egoistischen zählen, selbst, wenn das bedeutet, dass ein anderer sich die Schuld auflädt, die dir gilt? Du verabscheuenswertes Miststück bildest dir ganz schön viel darauf ein, seine Geliebte zu sein. Aber wie das Sprichwort sagt, eines anderen Mannes Abfall ist eines anderen Mannes Schatz.", lachte er hämisch.   Ich bin fassungslos über diese hasserfüllten Worte und meine zu hören, wie mein angsterfülltes Herz ganz leise bricht.   Sayaka regt sich doch noch, ehe ich merke, dass es ein Beben ist und sie aus allen Gesichtsöffnungen zu bluten anfängt. Sie schreit so qualvoll und schmerzerfüllt wie an dem Tag, an dem sie vom Mensch sein befreit wurde. Dieser Anblick tut so schrecklich weh. Auf einmal tritt der Buddha auf mich zu und bleibt nur noch wenige Zentimeter vor mir stehen, während ich Sayaka hinter ihm erneut sterben höre. Wie sie meinen Namen schreit, mich ihre kleine Schwester nennt und mir zugleich wünscht, zur Hölle zu fahren. Sie hasst und sie liebt mich gleichermaßen. Im Moment des Todes zeigt sich beides in seiner vollen Heftigkeit, ehe die Blutlache die flache Sphäre unter unseren Füßen bedeckt. Ich realisiere erst einen Wimpernschlag später, was genau der Buddha gerade getan hat und wandte den Blick nach unten. Seine Faust hat meinen Brustkorb durchbohrt. Dann setzen die Schmerzen ein, als ich spüre, wie sich seine eisernen Finger um mein Herz versteifen und es grausam herausreißen. Ich schreie. Es ist der schlimmste Schmerz, den mein Herz je ausgesetzt war. Es brennt und gleichzeitig erliegt es der furchtbarsten Unterkühlung, als er damit spielt. Heiß und gleichzeitig kalt, als stünde ich in Flammen.   "Ihr Blut, das an deinen Händen klebt, wird dich verfolgen. Dich brechen. Du wirst dir niemals verzeihen. Dem, der ihn dir genommen hat auch nicht. Und ihm ebenfalls nicht.", haucht er grausam fröhlich, ehe er die Hand zur Faust ballt, mein Herz zerquetscht und ich wie ein blutender Engel durch die Erdatmosphäre stürze.   *** Ich schrecke aufschreiend auf und finde mich diesmal nicht im ewigen Schwarz des Alls, sondern in einem Bett wieder. Ich brauche einen Moment, um mir verstehen zu geben, was ich hier mache, wie ich hierher gekommen bin und dass ich in der Realität angekommen bin. "Ist sie das?", vergewissere ich mich in Gedanken. "Ich bin mir fast sicher." Alles ist besser als der Albtraum, der mich in seinen Klauen hatte, also ist das hier wohl die Wirklichkeit. Zumindest hoffe ich das. Aber was für eine Realität lässt mich in einem fremden Zimmer eines offensichtlich sehr ordentlichen Menschen aufwachen? Ist das eine Entführung? Wurde ich ausgeraubt und... vergewaltigt?! Das ist nicht mein Bett, auch nicht das von Ellie, wessen Bett ist das also? Ich erinnere mich an meinen Spaziergang durch diesen verlassenen Ort und daran, wie ich mitten auf der Straße einfach zusammengeklappt bin. Bin ich so etwa entführt worden? Aber irgendwie... passt da was nicht ganz zusammen. Nein, wenn ich daran denke, dass ich weder gefesselt noch nackt noch anderweitig in die Knie gezwungen worden bin und, wie eben schon gesagt, in einem überaus bequemen Bett liege, dann sieht das nach allem anderen als einer Entführung aus. Ein Entführer würde mich ja wohl kaum in seinem Bett ausruhen lassen. Oder überhaupt so ein... normales Bett beziehungsweise normales Zimmer besitzen. Hier steht eine Schultasche und ein Schreibtisch. Da ist sogar die Uniform unserer Schule. Wie kann sich jemand einen Entführer nennen, der weder ein verwüstetes Zimmer noch ein unsympathisches Extrazimmer für die traumatisierten Entführten aufweisen kann? Was für ein Entführer, der noch zur Schule geht und Mädchen unbeaufsichtigt in sein Zimmer verschleppt, soll das denn sein? Die Zimmertür wird vorsichtig geöffnet und aus Reflex verstecke ich mich so schnell ich kann unter der großzügigen Bettdecke.   "Du brauchst dich nicht zu verstecken, Failman-san.", gibt sich eine vertraute Stimme zu erkennen.   Ich ziehe mir noch etwas misstrauisch wie schüchtern die Bettdecke vom Kopf und sehe dann Richtung Tür.   "Kaishi, du?", entfährt es mir und ich bin vollends verwirrt. Warum ist es ausgerechnet Kaishi, der mich rettet? Und ich dachte, er hätte was gegen mich.   "Aber wie, woher... Hääää?", ringe ich nach Worten, finde aber keine. "Ich habe mir erlaubt, dir zu folgen, weil ich mir Sorgen gemacht habe. Dann bist zu umgekippt und ich habe dich zu mir nach Hause getragen.", erklärt er diese Situation, als wäre es das Normalste der Welt.   "Außerdem, Failman-san, wollte ich mich noch bei dir entschuldigen. Dass ich dich letztens zu harsch weggeschickt habe. Ich meinte das nicht böse, ich musste nur mal eben Kyokei-san durchleuchten und... ja.", wie er den Satz beenden will, fällt ihm ausnahmsweise nicht ein, das ist selten bei ihm.   "Ist gut, ich verzeihe dir, bist schließlich auch mein Freund, Kaishi.", nehme ich die Entschuldigung an und grinse.   "Tee?", fragt er nach einigen Sekunden und mein Blick fällt auf den Teeservice, den er durch die Tür getragen hat.   "Klar, immer doch!", nehme ich das Angebot an, steige aus dem Bett, nur um mich wieder darauf zu setzen. Wieder erfüllt peinliche Stille den Raum und die Sache, die mir noch unter den Nägeln brennt, drängt mich dazu, es anzusprechen.   "Sag mal, Kaishi, was war eigentlich mit Shuichiro los, bevor er... Na ja, du weißt schon.", brabble ich wieder mal nur taktlosen Blödsinn und bereue es.   "Shuichiro hat im Bezug auf etwas irgendwas in den falschen Hals bekommen und dann haben Kyokei-san und ich versucht... Na ja, weil sonst... Nein, tut mir leid, ich kann nicht darüber reden.", bedauert er und senkt den Kopf nach unten.   "Ey, passt schon, musst es mir nicht sagen! Die Hauptsache ist doch, dass Shuichiro wieder gesund wird!", lasse ich es darauf beruhen und spreche ihm lieber Mut zu. Er sieht mich etwas verwirrt an, trinkt aber dann doch den Tee weiter. Was hat Ellie mit der ganzen Sache zu tun?, frage ich mich, versuche aber nicht daran zu denken.   "Ich glaube, ich geh jetzt besser, danke fürs Aufsammeln und den Tee!", wende ich mich zu ihm und bedanke mich. Ich bin gerade im Begriff, aufzustehen und zu gehen, da greift er doch nach meinem Handgelenk und hält mich auf.   "Warte, Failman-san! Was ist mit deiner Krankheit? Willst du wirklich einfach ohne Weiteres allein nach Hause gehen?", will er etwas lauter als normal wissen. "Ist nur Fieber, das geht schon.", rede ich es runter, auch wenn ich mir nicht sicher bin. Ohne Worte lässt er mich los und ich verlasse auf schnellsten Wege das große Gebäude. Auf dem Weg zu mir nach Hause kann ich an nichts anderes als an die Worte von Kaishi denken. Ich will es nicht wahrhaben, aber es scheint als hätten er und Ellie etwas mit dem Ganzen zu tun. Aber warum kann er mir nicht sagen, was es ist? Warum bin ich immer die, vor der man Dinge geheimzuhalten hat? Immer bin ich es, die dieses und jenes nicht wissen darf! Es hängt mir so zum Hals raus! Aber was soll ich tun? Ich kann die Geheimnisse anderer nicht mit Gewalt an mich reißen und gleichzeitig habe ich Angst, dass alles schlimmer werden könnte, wenn ich weiter tatenlos zusehe. Die Ereignisse der letzten Woche liegen zurück und ich könnte, genau wie man es von mir erwartet vergraben und nie wieder davon anfangen, aber das kann ich nicht! Ich will auch gar nicht. Ich muss ihm irgendwie helfen, bevor die Dinge wirklich hässlich werden. Das wurden sie schon einmal, als ich zu schwach war, um mich zusammen zu reißen, jetzt darf ich mich aber nicht zusammen reißen, sonst endet es genauso böse wie damals. Es ist das komplette Gegenteil, was ich tun musste und jetzt muss, aber beides lief und läuft auch nun darauf hinaus, dass sich alles zum Schrecklichen verändert. Das Bild von Ellie und Akira erscheint schon wieder vor meinem geistigen Auge, ehe alles schwarz wird und ich das Bewusstsein verliere. Selbst wenn ich jetzt mit Akira quasi befreundet bin und wir beide tun als hätte ich nichts gesehen, ich muss etwas tun. Ellie zuliebe, es geht immernoch darum, dass er sein Gedächtnis verloren hat und vielleicht auch etwas den Verstand. Ich weiß nicht, was da im Gange ist, aber ich weiß, dass wenn es Zeit werden sollte, ihn, wider meines eigenen Wunsches, ihn nicht zu verurteilen, zu konfrontieren, diese Zeit unaufhaltsam immer näher rückt. Ich weiß doch alles, flüstert ich ihn Gedanken und in genau dem Moment zerspringt im Hintergrund meiner Vorstellung ein Spiegel durch eine geschossene Patrone. Der Spiegel zeigt uns zwei, mich, wie ich den Zauber zerstört habe und dich, wie du das auf harter und grauenhafter Weise realisierst. Ich komme im Kopf näher an den zersplitterten Spiegel und hebe die Patrone auf. Der Name des Geschosses, der auf dem vergoldeten Gehäuse eingraviert ist, lautet: Wahrheit. Kapitel 45: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Freundschaft, Feindschaft und Mitleidenschaft. ----------------------------------------------------------------------------------- Ich weiß nicht, wann es dazu kommen wird, aber auf jeden Fall werde ich es tun. Ich muss aufhören uns beiden Normalität vorzulügen, schließlich wissen wir doch beide, dass hier irgendetwas abgrundtief faul an unser aller Verhalten ist. Soll ich einfach wieder nach Hause gehen? Ich weiß nicht, ich meine, das könnte ich, aber... Ich will nicht. Ich weiß lange nicht mehr, was ich eigentlich will. Das denke ich, während ich am Krankenhaus vorbeigehe und da jemanden am Parkplatz entdecke. Ich komme rein aus Neugier ein wenig näher an die Person und als uns nur noch knapp zehn Meter voneinander trennen und mein Gehirn noch ein wenig rattert, hätte ich mich beinahe an meiner eigenen Spucke verschluckt, als mir klar wird, wer mich da, angelehnt an eine Straßenlaterne, mit Krücken, weißer Krankenhauskleidung und eiskaltem Blick anstarrt. "Shui... chiro? Was um alles in der Welt machst du hier draußen?", stottere ich in der Kälte, weil ich verdammt lange ohnmächtig gewesen sein muss und es nun verdammt spät geworden ist. "Shuichiro.", flüstere ich noch einmal, um mir selbst zu verstehen zu geben, um wen es sich hier handelt. Shuichiro antwortet nicht, stattdessen sieht er mich weiter stumm und leeren Ausdrucks an. "Warum bist du hier? Musst du nicht oben in deinem Bett liegen?", frage ich diesmal etwas lauter und mit vielleicht einer kleinen Spur von Hysterie. "Das Gleiche könnte ich dich fragen, Failman-chan. Warum bist du hier?", antwortet er mit einer Gegenfrage und ich denke selbst nach. Bin ich wirklich nur wegen des Fiebers aus Ellies Wohnung geflohen? War es wirklich nur das? Shuichiro steht in der Eiseskälte draußen auf dem Parkplatz des Krankenhauses und ich bin hier, weil ich auf meiner Flucht ohnmächtig geworden und wieder aufgewacht bin. Das ist eine lange Geschichte, ich bin nicht ohne Grund davongelaufen. "Sag mir, warum bist du hier? Du hast definitiv noch weniger Grund als ich, hier zu sein. Also, warum?", ruft mir Shuichiro jetzt gereizter als vorhin über den Parkplatz zu. Jetzt ist es an mir, den Fragen auszuweichen und ich sage nichts als: "Ich hab zuerst gefragt." "Dir war also langweilig?!", fasse ich zusammen, nachdem wir uns auf eine Bank gesetzt haben und Shuichiro mir letztendlich doch die Antwort auf meine Frage gegeben hat. "Ja.", bestätigt er. "Außerdem... wollte ich raus. Ich konnte nicht schlafen. Es geht irgendwie einfach nicht." In seinem Satz ist so viel Schmerz herauszuhören, dass ich Angst habe, etwas Falsches zu sagen. Da ist mehr. "Erzähl mir alles, ich bin ja jetzt hier. Bitte verschweige wenigstens du mir nicht alles, ich ertrage das nicht. Sag mir, warum du nicht schlafen kannst.", bitte ich ihn. Shuichiro seufzt, als wäre eh alle Hoffnung verloren und als hätte er keine Wahl, ehe er mit der Sprache rausrückt. "Du erzählst niemandem davon. Ich bitte dich. Wenn du das machst, versuche ich das von letztens noch einmal. Und ich will das nicht. Schwöre mir, dass du nicht ausrastest und die Betroffenen löcherst. Zumindest vorerst nicht.", schärft er mir ein und ich nicke in die Dunkelheit. "Ich habe an dem Tag, als Kyokei-chan umgekippt und mit zu Kaishi-chan rübergekommen ist, gelauscht. Ich wohne bei Kaishi-chan, seit meine Eltern tot sind. Haben über Akira-chan geredet und darüber, dass er sein Gedächtnis verloren und vorher was mit ihm hatte, also mit Akira-chan. Der hat ihm irgendwie gesagt, dass er ihn liebt und die beiden haben rumgemacht, hab ich gehört.", Shuichiro legt eine Pause ein und ich analysiere das alles. Also ist es wahr. Das mit Akira ist noch nicht vorbei, beziehungsweise, es hat wieder begonnen. "Ich bin durch die Tür gestolpert und habe so getan, als wüsste ich von nichts. Kyokei-chan ist dann gegangen und als ich Kaishi-chan gerade die Wahrheit sagen wollte, wie ich es immer tue, weil ich mich doch schuldig gefühlt habe, ist er zurückgekommen und hat mich geschlagen. Er hat sich entschuldigt, aber... Ich konnte nicht anders, als mich von Dach zu stürzen. Ich...", seine Stimme verzagt und er schaut zu den Sternen hinauf. Jetzt sind da wohl doch welche zu sehen. "Warum hast du das getan? Wieso willst du dich umbringen, nur weil Ellie Kaishi Geheimnisse erzählt? Das macht doch überhaupt keinen-", "Ich glaube nicht, dass das Leben ohne Kaishi-chan einen Sinn hat!", unterbricht er mich lauter als ich es erwartet habe. "In dem Moment hatte ich pure Angst, ihn an Kyokei-chan zu verlieren. Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat.", meint er und senkt den Blick auf den Betonboden, der jetzt ziemlich kalt sein muss, wenn die Luft um uns herum das schon sehr ist. "Warum? Warum hast du solche Verlustängste um ihn? Weder Ellie noch Kaishi wollen dir irgendwas wegnehmen. Warum tötest du dich instinktiv, um Kaishi nicht verschwinden zu sehen?", will ich wissen und merke, wie die Spannung zwischen uns mit ziemlich vielen Stundenkilometern in die Höhe schießt. Nicht auszuhalten, unerträglich und doch so leicht zu lösen. Die Antwort liegt direkt vor meiner Nase, aber ich habe Angst, ihm wehtun, wenn ich es wage, sie auch nur in Betracht zu ziehen. "Als meine Eltern sich umgebracht haben, war Kaishi-chan der Einzige, den ich hatte. Er und seine Eltern. Das große Haus. Und Kaishi-chan selbst. Ich hatte nur ihn. Und mehr hat nicht gezählt. Wir waren immer zusammen, er hat mich immer verstanden. Und ich... habe mich schon so lange in ihn verliebt. Schon so lange habe ich ihn geliebt, ohne auch nur daran zu denken, es ihm jemals zu sagen. Ich weiß doch, dass er mich niemals so sehen wird, wie ich ihn sehe. Ich weiß das. Und das werde ich immer.", flüstert er und der Wind pfeift mir nochmals in die Ohren. Als wenn er wüsste, wie dieses Geständnis die Hitze des Fegefeuers, das in Shuichiro tobt, erhöht. Als wollte er helfen, es abzukühlen. "Shuichiro...", murmle ich ohne triftigen Grund, einfach so, nur um an ihn zu denken und seinen Namen auszusprechen. Kaishi ist alles, was er hat. Er liebt ihn mehr als alles andere, der eine und einzige Lebenssinn. "Deshalb konntest du nicht schlafen und bist nah draußen abgehauen?", frage ich noch einmal zur Sicherheit. Shuichiro nickt. "Ich darf das eigentlich nicht, aber ich musste einfach raus in die Kälte! Ich weiß auch nicht... Ich habe mir alle zum Feind gemacht, ich habe es verdient, dass Kyokei-chan mich geschlagen hat, ich habe ihn zuerst verletzt, indem ich gelauscht habe. Und Kaishi-chan habe ich ebenfalls nur Sorgen bereitet. Ich weiß nichts mehr... Ich weiß nicht einmal, wie ich es in mein Zimmer zurückschaffen soll.", schluchzt er und zittert am ganzen Körper. Ich schaue auf seine Beine herab, das eine ist fast komplett eingegipst und das andere hat eine Schiene am Knöchel aufwärts, es ist mir ein Rätsel, wie er alle beide benutzen konnte. "Ich benutze eigentlich nur den Rollstuhl, wenn ich raus will, das eine Bein ist gebrochen, das andere verstaucht. Der Aufzug wäre zu auffällig, um ihn zu benutzen, wie der Rollstuhl. Ich bin fast überall verletzt, aber trotzdem habe ich mir die Krücken, die da rumlagen geklaut, um hier zu sein. Das tut verdammt weh.", flüstert er. "Halt dich fest.", befehle ich und stelle mich in die Position, um ihn auf den Rücken zu tragen. "Wir müssen dich so schnell und leise wie es geht zurück in dein Zimmer bringen. Ich helfe dir.", erkläre ich mein Vorhaben. Darauf erwidert er nichts mehr und humpelt zu mir rüber, während ich ihn stütze. Er hält sich an mir fest und versucht, mir nicht in den Nacken zu atmen. "Geht das so? Ich bin nicht zu schwer, oder?", höre ich ihn schwach murmeln. "Bist du nicht. Du kannst noch so viel essen, wirklich fett würde ich dich trotzdem nicht nennen.", teile ich ihm mit. Das meine ich auch. Er ist zwar ziemlich weich, aber sein Babyspeck hält sich dennoch recht unauffällig. Shuichiro schnaubt amüsiert. Die Krücken werde ich später hinterhertragen müssen. Nachdem Shuichiro mir die Nummer seines Zimmers verraten hat und ich ihn mühsam hinaufgetragen habe, verschnaufen wir nun in seinem Zimmer. Ich habe meine eigene Tasche mit den Zähnen getragen, davon tun sie noch etwas weh. "Das mit deinen Eltern tut mir leid.", sage ich nach kurzer Zeit. "Das ist lieb von dir.", meint er, zurück in seinem Bett, wo er hingehört. "Du scheinst viel Schmerzhaftes durchgemacht zu haben, kann das sein?", werfe ich in den Raum, wie blöd von mir, denn auch diese Antwort kenne ich bereits. "Es war nur schmerzhaft, wenn ich allein war. Es ist so unheimlich, wenn Kaishi-chan nicht da ist. Klar, manchmal muss ich allein sein, keine Sorge, ich kann allein duschen und aufs Klo gehen, aber... Du weißt schon.", schüttet er mir sein Herz aus. Ich will ihm so gern sagen, dass alles wieder gut wird, wenn er nur fest daran glaubt, aber solange ich für mich selbst keine Garantie darin sehe, halte ich ehrlich lieber den Mund. Ich bin dabei, es mir doch anders zu überlegen, da klingelt plötzlich mein Handy. Ich durchforste meine Tasche und krame es heraus. Ellie. Ich gehe ran und am anderen Ende herrscht Schweigen. Normalerweise hätte er bestimmt gefragt, wo ich denn sei oder so was, aber er scheint in dem ersten Anruf auf meinem Handy die Zähne nicht auseinander zu kriegen. Wir haben nie telefoniert, das mussten wir nie, denn wir waren schließlich immer zusammen, waren Nachbarn, sind zusammen eingeschlafen und wieder aufgestanden, um zur Schule zu gehen. Die Entfernung war nie groß genug, um einen Telefonanruf nötig zu machen. "Ellie?", hauche ich in den Hörer, auf einmal sind meine Hände feucht und die Zunge klebt mir am Gaumen. Wieso bin ich jetzt so aufgeregt? Es ist nur ein Anruf, es ist immernoch Ellie, mit dem ich da rede. "Chika. Also... Kommst du noch zu Taiyo und mir oder gehst du nach Hause? Ich weiß, dass macht keinen großen Unterschied, weil wir nebeneinander wohnen, aber... Vergiss es, ich... Meine Eltern haben angerufen und wollten fragen, ob Taiyo und ich an den Festtagen nicht bei ihnen feiern wollen, ich will fragen, ob du vielleicht mitkommen willst...", Ellie klingt nervös und außer Atem und es scheint, als wenn er noch etwas anderes wissen will. "Klar, ich würde gerne deine Eltern kennenlernen.", sage ich zu und schweige ebenfalls in das Gerät. Da hängen so viele Worte in der Leitung und keiner von uns hat den Mut, etwas zu sagen, was alles zerstören könnte. Die Zeit, die anzeigt, wie lange die Konversation am Telefon andauert, dehnt sich weiter aus, je mehr sie das tut, desto weniger passt das Wort Konversation, denn wir sagen nichts. Ich warte nur darauf, dass er mich fragt, wo ich mich befinde, aber diese Hoffnung stirbt, als er wieder zu Wort kommt. "Okay... Also dann... Komm gut nach Hause.", beendet er das Gespräch und lässt mich mit der Stille am anderen Ende allein zurück. Kapitel 46: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Niemand braucht davon zu erfahren. ----------------------------------------------------------------------- Kaishi: An diesem Tag bin ich neben der Spur, genau jetzt. Nicht so, dass man es sehen kann, ich bin noch immer der allzeit fleißige Kazukawa-kun. Aber wie auch an jenem Tag, als sich mir Kyokei-san offenbart hat, bin ich so überhaupt nicht bei der Sache. Ich kann nicht einmal mehr in Ruhe schlafen, entweder suchen mich Shuichiro, Failman-san, Egaoshita-san, Kyokei-san oder Katsuoka-sensei im Schlaf heim. Es ist wirklich schlimm, ich finde das wirklich nicht mehr im Geringsten komisch. Shuichiro... Der arme Kerl liegt jetzt im Krankenhaus, mein bester Freund, der noch viel sensibler ist als ich ohnehin schon glaubte und auch noch in mich verliebt ist. Ich mag ihn wirklich sehr, aber ich kann ihm nicht die Gefühle entgegenbringen, die er mir entgegenbringt. Failman-san war so leblos und blass, als sie ohnmächtig in meinem Bett lag, ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihre Gesundheit, deshalb erscheint auch sie in meinen Träumen. Von Kyokei-san träume ich, seit ich von seinen Geheimnissen weiß und von Egaoshita-san, weil er zu ihnen dazugehört und mindestens genauso viel verbirgt wie sein bester Kumpel es tut. Und schlussendlich Katsuoka-sensei, na ja, es ist unsere Klassenlehrerin, es ist nicht üblich von dieser in der Nacht zu träumen. Und trotzdem tue ich das. Es war ein verstörender Traum, zumindest wenn man daran denkt, dass ich, ein stinknormaler Streber aus dem dritten Jahr der Oberschule, es war, der ihn geträumt hat. Eine Rückblende spielt sich vor meinem geistigen Auge ab. Ich war in einem mir unbekanntem Raum aufgewacht, Wände wie der Boden schienen aus nichts als aus endlose langen scharlachroten Stoffdecken zu bestehen. Das war ein riesiges Himmelbett und ich mittendrin, ohne zu wissen, wieso ich hier war. Ich ließ meiner Blick noch etwas durch das rote Himmelbett und all seine Eigenschaften streifen, ehe sich unter der Bettdecke, die mich umgab, etwas regte. Etwas ziemlich großes, etwas Menschliches um genau zu sein. Ein Kopf mit schulterlangen schwarzen Haaren tauchte unter meinem Kinn auf, das Gesicht mir bekannt wie kaum ein anderes. Es war Katsuoka-sensei, die mich mit feuchten Augen und erröten Wangen ansah, komplett nackt, ihre Brüste von ihren Armen verdeckt. Wir beide waren nackt und schutzlos dem anderen ausgeliefert. Katsuoka-sensei kam näher und küsste mich verführerisch, es fühlte sich so real und lebensecht an, dass ich tatsächlich nicht wissen wollte, ob es ein Traum war oder nicht. Weder das eine noch das andere, ich hing irgendwo zwischen dem Glauben an die Realität und dem unechten Glück im Traum fest. Ich erwiderte es mit all der Leidenschaft, die in mir steckte. Wir sackten nach unten, sie lag auf mir und als sie sich von mir löste, nahm sie wieder Blickkontakt mit mir auf. "Kaishi...", wisperte sie meinen Namen und sofort verliebte ich mich in den Klang ihrer Stimme, wenn sie ihn aussprach. Stück für Stück verschwand sie zurück unter die Decke, wo sie ursprünglich herkam. Als ich sie bitten wollte, bei mir zu bleiben, fuhr eine mächtig große Schockwelle eines bisher unbekannten Gefühls durch meinen ganzen Körper und ich krallte mich an die blutrote Matratze. Schmatz- und Sauggeräusche erklangen unter der Decke und hallten in meinem Gehör noch lauter wider als mein eigener Atem, über den ich die Kontrolle vollständig verlor. Ich fühlte alles, meine ganze Aufmerksamkeit galt dieser Frau, mit der ich diesen Moment teilte. "N-N-Natsu... ru...", stöhnte ich ihren Vornamen in abgehackten Pausen, während sie mich oral befriedigte und ich die Fassung verlor. Alles verlor an Bedeutung und es gab nur sie und mich. Ehe ich jedoch meinen Höhepunkt erreichte, erklang nun nicht mehr die Stimme meiner Lehrerin, sondern die von dem Lied auf meinem Handy-Klingelton. All die Stoffdecken, wie auch Katsuoka-sensei verschwammen vor meinen Augen. Zurück blieb ich, stinksauer, mit einer Latte und die Laune im Keller. "Die Liebe kann nicht warten. Lang war die Nacht, ich will zu dir ins Licht!", sang die Sängerin durch mein Handy. Was du nicht sagst. Ich bin wirklich angepisst, davon geträumt zu haben, ich meine, es ist wirklich nicht so, dass ich davon träume, mir von meiner Lehrerin einen blasen zu lassen, auch wenn genau das passiert ist. Ich weiß, dass es absolut beschissen klingt, aber es kann sein, dass ich weiß, weshalb ich uns beide so im Traum gesehen habe. Ich weiß nicht genau, seit wann und wie lange, aber es kann gut sein, dass ich auf romantischer Ebene etwas für diese Frau empfinde. Umso mehr macht mir das mit Shuichiro zu schaffen, ich kann ihm doch nicht erzählen, dass ich von Sex mit unserer Lehrerin geträumt, beziehungsweise mich in sie verliebt habe. Ich bin absolut hoffnungslos bescheuert, denke ich, nachdem ich den Unterricht überlebt habe und es zur Pause klingelt. Ich beschließe aufs Klo zu gehen, einfach um nachzudenken und vielleicht auch zu pinkeln. Ich setze mich auf den Klodeckel und verharre dort eine Weile, bevor ich Stimmen höre, bekannte sogar. "Hey, Akira, jetzt hör aber langsam auf, mich die ganze Zeit zu ignorieren! Was ist eigentlich los mit dir?!", höre ich Kyokei-san keifen. "Alles ist los, falls du es nicht gemerkt hast! Wieso hast du diesem alten Knacker verraten, wo ich wohne? Meine Eltern sind ausgerastet wie sonst was!", erklärt Egaoshita-san zornig. "Warum hast du überhaupt die Stadt verlassen?! Warum hattest du das Hemd voller Blut und warst verletzt? Wieso sagt dieser Mann, du seist bei ihm eingebrochen, hättest es mit Uchihara-san getrieben, sein Fenster zerstört und ihn geschlagen?! Weshalb hast du das getan?", fragt er schimpfend und kurz herrscht Stille auf der Seite seines Gegenübers. "Du bist der Letzte, der Geheimnisse von anderen hinterfragen sollte.", meint dieser stumpf und Kyokei-san ringt eingeschnappt nach Luft. "Mistkerl.", flüstert er, ehe ich höre, wie er durch die Tür das Weite sucht. Egaoshita-san verweilt noch ein wenig auf dem Klo, bevor er genau wie sein Vorgänger fort geht und kurz darauf die Pause auch schon vorbei ist. Ich verlasse die Kabine und tue als hätte ich das alles niemals mitgehört. Ein weiterer belangloser Tag nimmt sein Ende und nun bin ich hier, auf dem Weg ins Lehrerzimmer, um Kopien vorbeizubringen. Die Schule ist fast menschenleer und so scheint auch das Lehrerzimmer zu sein, vor dessen Tür ich anhalte. Ich weiß nicht warum und es kümmert mich auch nicht, deshalb gehe ich weiter. Ich schiebe sie auf und die Annahme, dass niemand mehr im Haus ist, wird sofort widerlegt, als ich Katsuoka-sensei und Sonoda-sensei entdecke. Ziemlich nah beieinander, Katsuoka-sensei von dem Sportlehrer an die Wand gedrückt. Sie küssen sich mindestens genauso leidenschaftlich wie sie und ich uns im Traum geküsst haben. Unsere Klassenlehrerin schiebt ihn nach einigen intimen Sekunden wieder von sich und atmet nur noch schwer. "Ich weiß nicht. Dürfen wir das denn? Unter Lehrkollegen, meine ich. Selbst, wenn ich so gerne... so gerne deine Frau werden würde.", haucht sie und er nimmt sie in den Arm. "Lass uns irgendwann heiraten, Natsuru.", bittet er und spricht sie mit Vornamen an, wie ich es erst letztens in der Traumwelt getan habe. "Ja. Ja, ich will.", bestätigt sie in seinen Armen, bevor sie bemerkt, dass ich auch noch hier bin, wie der letzte Depp mit den Kopien stehe ich in der Tür. "Kazukawa-kun, also ich...", versucht sie mir eine logische sachliche Erklärung für all das zu geben, ohne Erfolg. "Sparen Sie sich das.", befreie ich sie von den Versuchen und lächle. "Ich habe nichts gesehen.", lüge ich und grinse. Ich bin ein verdammt guter Lügner. Kapitel 47: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Zu schrecklich, um wahr zu sein. --------------------------------------------------------------------- Wie eingefroren stehe ich in der Tür, noch immer grinsend. Katsuoka-sensei lächelt schwach und geht auf mich zu. Sie nimmt mir die Papiere aus der Hand und verweilt noch kurz innerhalb des Vorgangs. "Danke, dass du sie hergebracht hast.", bedankt sie sich leise und jetzt verlässt das Papier wirklich meine Obhut, ein bisschen traurig macht mich das, aber nicht so sehr wie das andere. "Ich geh dann mal.", murmle ich und verschwinde aus dem Lehrerzimmer. Schneller als gewöhnlich finde ich mich dann auf dem Schulhof wieder. Ich weiß nicht, was das für ein Gefühl ist. Ist es Eifersucht, weil ich Katsuoka-sensei so liebe? Weil ich gegen unseren Sportlehrer nicht ankomme? Oder ist es Trauer? Trauer, weil ich verloren habe. Es ist so viel, dass es wieder gar nichts ist. "Aha.", lache ich mutterseelenallein auf dem Weg zum Wasweißich. "Ahahahahaha...", kichere ich vor mich hin, weil ich verwirrt bin. Und vielleicht auch am Ende. Verdammt, ich hab meinen Verstand zu Hause liegen lassen, ich komme mir so unglaublich dämlich vor wie noch nie. Nachdem ich fertig verzweifelt gekichert habe, zücke ich mein Handy. Ich weiß selbst nicht warum. Ich schreibe meiner Mutter, dass ich später nach Hause kommen werde. Ich habe noch eine gewisse Rechnung offen, denke ich, als die Nachricht abgesendet und mir klar geworden ist, wo ich hingehen werde. Wenig später stehe ich vor dem Gebäude des städtischen Krankenhauses noch ein wenig später in Shuichiros Zimmer. "Warum bist du hier?", krächzt er monoton und gefühlskalt, seine stahlblauen Augen sehen mich müde wie betrübt an. "Ich wollte dich sehen, Shui.", meine ich nur, doch eigentlich fragen wir uns doch beide das Gleiche. Warum bin ich eigentlich hier? Shuichiro erwidert daraufhin nichts sondern sieht weiter zu, wie ich reglos herumstehe. Einige Zeit später schaffe ich es doch aus meiner Winterstarre und setze mich an sein Bett. "Im Ernst, was suchst du hier? Es sieht dir nicht ähnlich, ohne Grund irgendwohin zu gehen. Bist du den ganzen weiten Weg hergekommen, um mir einen Korb zu geben?", fragt er in einer Mischung aus Frust und Ärger. "Nein.", sage ich und sehe ihm direkt in die Augen. "Wieso bist du dann hier?", will er immer noch wissen. "Kaishi-chan, das macht keinen Sinn, ich weiß doch, dass du etwas für Katsuoka-sensei empfindest und mich deswegen abweisen wirst!", jetzt scheint er wirklich sauer zu sein und ich zucke innerlich. Ich habe keine Ahnung, woher er dass schon wieder hat, ich habe keiner Menschenseele von meinen Gefühlen für sie erzählt, ihm genauso wenig wie dem Rest meiner Mitmenschen. Ich beiße die Zähne zusammen, um ihn nicht anzuschreien wegen dem, was ich nach der Schule gesehen habe. Ich will nicht daran denken, wie Sonoda-sensei Katsuoka-sensei seine Zunge in den Hals gerammt hat. Ich mochte sie wirklich. Ich hane sie geliebt! Und das tut entsprechend weh, wenn ich von vornherein nichts ausrichten konnte. "Wieso kommst du hierher, wenn du nichts zu sagen hast!", ruft Shuichiro und richtet sich auf. "Warum tust du so als wäre alles in Ordnung?! Warum tust du so als hätte ich mich nie umbringen wollen? Was hat Kyokei-chan mit all dem zu tun, warum... Warum bist du nur so ein Dummkopf? Wieso behältst du immer Geheimnisse der anderen für dich, obwohl du nicht einmal mit deinen eigenen Problemen klarkommst?! Wieso-", "Schnauze! Halt einfach die Klappe, Shuichiro. Du nervst dermaßen, weißt du das? Du hast keine Ahnung davon, was ich gerade durchmachen musste. Ist dir eigentlich klar, wie egoistisch du dich eigentlich aufführst? Niemand springt einfach mal eben vom Dach, nur weil er eifersüchtig ist, um anschließend im Krankenhaus zu landen und alles besser zu wissen. Was stimmt nicht mit dir? Hör auf, so zu tun, als wüsstest du die ganze Geschichte. Du hast keine Ahnung. So was zu hören, tut nämlich verdammt weh!", Shuichiro sieht mich mit noch immer glasigen, aufgerissenen Augen an, bevor er zum Gegenangriff startet. "Ich bin eben ziemlich gut im beobachten! Und was dich beobachten angeht noch besser. Ich beobachte dich seit dem Kindergarten. Seit ich denken kann, beobachte ich dich. Du bist nicht halb so perfekt, wie du tust. Du wirst Kyokei-chan und Akira-chan nicht helfen, wenn dich weiterhin so gibst, als hättest du deine unperfekte Seele auf eBay versteigert! Das mitanzusehen macht mich ernsthaft sauer!", blafft er und funkelt mich zornig an. Wir gehen uns doch beide gehörig auf den Sack. "Und wenn schon! Dich hat es doch noch nie gekümmert, was das, was du sagst oder tust für Auswirkungen hat! Genau deshalb hat Kyokei-san dich geschlagen. Weil du einfach nie dein Hirn einschaltest. Du weißt, dass das mit unserer Lehrerin nicht witzig ist! Auch das mit Kyokei-san ist das nicht. Schon einmal daran gedacht, dass ich auch noch ein Leben habe, dass dich nicht unmittelbar etwas angeht? Du hast gelauscht und und ihn damit verletzt! Und sich umzubringen, damit ich mir Sorgen um dich mache, ist auch nicht witzig! Ich dachte, dass Selbstmord niemandem hilft und einfach asozial ist, wüsstest du besser als ich.", werfe ich ihm vor. Ich bin nicht nur ein guter Lügner, sondern auch noch grausam. Daraufhin sagt er nichts mehr und ich kehre ihm den Rücken um zu gehen. "Du bist wirklich das Letzte.", raunt er durch den Raum, bevor ich diesen verlassen kann. "Das Gleiche kann ich über dich sagen.", gebe ich zurück und schließe die Tür so schnell diese sich zu schließen erlaubt. Den ganzen Weg renne ich voller unterdrückter Wut und einer brennenden Lunge vom Krankenzimmer zu mir nach Hause. Als meine Mutter mich dort freudig nach meinem Befinden erkundigt, sage ich, mir geht es gut. Ich bin immernoch ein verdammt guter Lügner. Aber nicht, wenn es meine Mutter ist, mit der ich es zu tun habe. Sie braucht noch nicht einmal etwas zu sagen, ich sehe es in ihrem Blick. Sie glaubt mir nicht. In meinem Zimmer angekommen, lasse ich mich auf mein Bett fallen und bewege mich erst, nachdem ich fast an der Bettdecke in meine Gesicht erstickt bin. Ich bin so ein Idiot. Ich habe Shuichiro verletzt, noch mehr als er mich je verletzten könnte. Ich habe Dinge gesagt, die er niemals hätte hören sollen. Egal wie unreif er sich verhalten hat, Shuichiro ist zerbrechlich. Er ist schon viel zu lange kaputt. Er war praktisch schon am Boden zersprungen und ich habe mit einem Dietrich die Scherben noch weiter pulverisiert. Ich bin nicht halb so perfekt und schlau, wie ich immer gehofft und getan habe, damit hat er recht. Das weiß ich doch! Außer der Schule habe ich absolut nichts im Leben erreicht! Ich habe das bloß nie wahrhaben wollen. Es war alles nichts weiter als ein Äquivalent, ein Ausgleich meiner persönlichen Dummheit! Es stimmt, ich bin kein Genie! Nur ein gewöhnlicher Streber, der als Klassensprecher für alle da ist und sich selbst dabei vergisst! Es ist wahr. All die Evidenten meiner vermeintlichen Intelligenz sind nicht weiter als eine Reaktionsgleichung der Tatsache, dass ich stumpf bin. Ich mag auf akademischer Ebene vielleicht allen haushoch überlegen sein, aber wenn es darum geht, einem Menschen wirklich zu begegnen oder seine wahren Gefühle zu verstehen, bin ich wirklich so einfältig wie Egaoshita-san in den Naturwissenschaften. Ich verstehe nicht, wieso Shuichiro seinen Eltern nachtrauert. Ich verstehe nicht, wieso ich egoistisch genug zur Eifersucht bin. Zeitgleich verstehe ich aber auch nicht, wieso meinem Vater die Arbeit wichtiger ist als seine Frau und sein eigener Sohn. Wieso sich dann bei ihr plötzlich die Eifersucht fernhält. Ich spüre nichts als wallende Leere, wenn es darum geht, memschliche Gefühle zu verstehen. Darin gleichen Kyokei-san und ich uns möglicherweise. Aber all das entschuldigt nicht, dass ich nicht wiedergutzumachend ein Messer in Shuichiros Seele hinterlassen habe! Ich bin wirklich das Letzte. Was bilde ich mir ein? Ich bin kein Stück besser als die ganzen Schurken aus den Geschichten oder die, von denen man immer zu hören kriegt, was für falsche Schlangen sie doch seien, unabhängig ob fiktiv oder real. Shuichiro und ich waren beste Freunde, wir waren uns näher als jeder andere. Besonders seit dem Tod seiner Eltern. Ich habe die Selbstmord-Karte gegen ihn ausgespielt. Das war unfair und grausam. Ich weiß, wie sehr er unter der Aktion seiner Eltern leidet. Ich erinnere mich an jede verdammte Sekunde dieses Momentes, der sein Leben zerstört hat. Die beiden Leichen, die auf der Seite auf dem Boden lagen, in einem Teich aus Blut. Shuichiro stand zwischen ihnen, erst seinen Vater, dann seine Mutter umdrehend. Völlig ruhig und sogar grinsend. Sie atmeten flach und ihre Augen waren weit aufgerissen. "Hisashi, kannst du es sehen? Es wird alles gut.", krächzte seine Mutter lachend. "Es fühlt sich komisch an. Du hattest schon immer... die seltsamsten Ideen, Chihiro. Wir haben einen Sohn. Wir sind schreckliche Eltern, was?", hustete der Vater. "Ich kann die Bürde einer Mutter nicht ertragen. Ihn so fröhlich zu sehen, erinnert mich an meine eigene Traurigkeit. Daran, dass er eine bessere Mutter verdient hat. Daran, dass ich nie in diese Welt gehört habe. Ich habe geglaubt, wenn ich ein Kind mit dir haben würde und ich es mit dir zusammen großziehe, würde mich das erfüllen. Aber das stimmt nicht. Es war so lästig. Ich bin... verantwortungslos. Aber bin ich zu weit gegangen?", fragte die sterbende Frau ihren sterbenden Mann. "Das bist du... Aber so auch ich. Chihiro, ich... ich habe mich all die Zeit selbst belogen. Auch dich und das süße Kind, dass ich vor fünf Jahren in dich gepflanzt habe. Ich kann zum letzten Mal ehrlich sein. Ich... Ich habe dich nie geliebt. Es tut mir leid.", röchelte er und spuckte Blut. Ich war mir nicht sicher, ob seine Frau seine Worte bis zuletzt überhaupt noch mitbekommen hatte. Vielleicht nahm die bereits im Jüngsten Gericht Platz und war auf dem Weg, bis in alle Ewigkeit in der Hölle zu schmoren. "Shuichiro.", stöhnte er und hustete noch mehr Blut. "Papa.", wimmerte er. "Du bist hier und wir beide wussten es. Kind, wir waren selbstsüchtig. Verflucht selbstsüchtig. Meine Liebe zu dir hat nicht gereicht, um sich weiter dem Leben zu stellen. Im Nachhinein tut es mit leid, nicht mehr Zeit mit dir verbringen zu können.", eine blutige Träne lief aus seinen Augenwinkeln. "Papa. Wieso? Magst du mich denn überhaupt nicht?", fragte sein Sohn immer noch monoton wie die Stille in Person. "Für die Zukunft: Lach dir keine Frau an, die dich umbringt. Ich habe die Warnungen nie wahrgenommen, das ist mein Verhängnis. Das ist alles, was ich dir als Vater noch mitgeben kann.", seine Augen wurden heller als vorher, dann fiel sein Kopf auf die Seite. Er hatte die Frage seines Sohned nie beantwortet. "Mama, Papa. Ihr habt beide Messer in eurer Brust. Das ist gefährlich, wisst ihr?", teilte der kleine, blonde Junge seinen Eltern mit. Seine nackten Füße standen immernoch im Blut seiner Eltern. Er sah auf das Blut, das auf seinen Händen und zierlichen Armen klebte und langsam roch ich Panik im Eisengeruch. "Mama, Papa, ihr habt mir beigebracht, sauberzumachen, wenn ich etwas dreckig gemacht habe. Ihr meintet, es schickt sich nicht, Leute zu ignorieren.", murmelte mein Freund. Dann hörte ich plötzlich Wut, wie ich sie aus seinem Mund noch nie gehört hatte. "Steht auf, Mensch! Steht verdammt nochmal auf! Wieso macht ihr so was? Wieso widersprecht ihr euch selbst, auch das habt ihr mir beigebracht, was ich nicht tun soll! Hört auf zu schlagen und den Teppich einzusauen? Papa, hast du nicht behauptet, der ist scheißteuer? Habt ihr nicht gesagt, dass man ins Bett gehen soll, wenn man schlafen will? Ihr seid Lügner! Alle beide, ich hasse euch!", heulte er verzweifelt und atmete schwer. Dann schrie er und weinte dabei. "Das stimmt nicht... Ich habe euch lieb gehabt! Ich wollte ein braver Junge sein! Ich habe es wirklich versucht. Wieso? Wieso, Mama und Papa? Wieso lasst ihr mich allein?!", seine Stimme verklang beinahe, überschlug sich, er war völlig heiser und weinte nur noch schrecklich. Ich griff nach dem Telefon auf dem Couchtisch und kam zu meinem weinenden Freund. Ich war angewidert von seinen Eltern. Von ihrem Egoismus. Doch ich zeigte nicht, was ich fühlte. Stattdessen griff ich Shuichiros Hand und sagte: "Deine Eltern sind Hobelschlunzen. Ich rufe den Bestattungsdienst und meine Eltern. Egal, was passiert ist, ob sie tot sind oder nicht, vergiss niemals, dass du immer noch mich hast." Shuichiro drückte meine Hand fester und weinte heftiger. Meine Sachlichkeit hatte ihn erschreckt. Ich rief die eben gesagte Reihenfolge von Nummern an und hörte bis zur Beerdigung nicht seine Hand los. Was bin ich für ein Freund? Ich hätte ihn gerne gesagt, dass ich ihn als meinen Freund nicht verlieren will. Aber stattdessen habe ich alles kaputtgemacht. Ich weiß nicht, wie lange ich so auf dem Bett liege, aber es wird immer, bis es letztendlich Schlafenszeit ist. Nur habe ich keine Kraft mehr, um einen Schlafanzug anzuziehen und bleibe so, ein kleines Haufen Elend und Schuldgefühle. Kapitel 48: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Alles in bester Ordnung. (Nicht!) ---------------------------------------------------------------------- Wieder um dieselbe Uhrzeit erklingt mein Wecker und singt das Lied. "Bitte halt einfach die Fresse.", murmle ich genervt und schlaftrunken, mache ihn aus, obwohl ich dem Lied irgendwie trotzdem noch gern weiter gelauscht hätte. Ich weiß gar nicht, was ich will. Ich weiß nur, dass ich absolut und vielleicht auch das erste Mal in meinem Leben keinen Bock auf die Schule habe. Ich will einfach niemanden sehen, den ich eventuell noch verletzen oder enttäuschen könnte. Shuichiro ist da nicht der Einzige, der irgendwie zu Schaden kommen könnte, ich trage noch immer die Geheimnisse von Kyokei-san mit mir herum und wer weiß, ob ich ihn damit nicht letztendlich genauso hintergehe wie ich Shuichiro angegriffen habe. Zehn Minuten verstreifen. Ich bin immernoch im Bett und versuche, mich nicht wie Weltabschaum zu fühlen. Die Tür wird aufgestoßen und meine Mutter kommt ins Zimmer. "Kaishi, geht's dir vielleicht nicht gut? Du siehst schrecklich aus.", bemerkt sie und setzt sich auf die Bettkante. "Ging mir mal besser.", brumme ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen. "Dir ging es gestern auch nicht gut, was? Physisch scheinst du aber gesund zu sein, oder?", fragt sie in dem fürsorglichen Ton, den ich von ihr gewohnt bin, wenn es mir schlecht geht. "Hmmm", bestätige ich nonverbal, ich kann meiner Mutter sowieso nichts mehr vorlügen, mit und ohne Worte nicht. "Willst du vielleicht darüber reden?", will sie wissen und streichelt mir übers Haar. "Ich hab ziemlich miese Dinge zu Shuichiro gesagt. Haben uns gestritten. Hab ihn verletzt.", fasse ich etwas nuschelnd zusammen. "Verstehe. Shuichiro hat es wirklich nicht leicht gehabt, seit seine Eltern gestorben sind und er bei uns eingezogen ist. Ich kann verstehen, wenn du dich für ihn verantwortlich fühlst, wenn du immer an seiner Seite bist. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er sich in dich verliebt hat.", teilt sie mir ihre Gedankengänge ruhig mit und hätte ich wie sonst auch um diese Zeit gefrühstückt, hätte ich mich jetzt wahrscheinlich verschluckt. "Bitte was?!", hinterfrage ich erschreckt, ob ich das richtig verstanden habe. Jetzt bin ich zwar immernoch abartig müde, aber durch den Schreck nun etwas weniger. "Aber ja. War das nicht offensichtlich? Er hat es nicht gezeigt, aber ich habe es an seinem Blick erkannt, dass du ihm unglaublich viel bedeutest, mehr als du denkst.", erklärt sie mir, während ihre Hand immernoch meine in der Nacht ruinierte Frisur bearbeitet. "Shuichiro hat Probleme. Wirklich schlimme. Ich weiß nicht, ob das dem Suizid seiner Eltern zu verdanken ist, dass er so drauf ist, aber... Ich habe wirklich Angst um ihn, auch wenn ich ihn so fertig gemacht habe. Ich bin doch das Einzige, das ihn daran hindert zu sterben! Shuichiro würde sterben, nur um mich nicht verschwinden zu sehen! Warum... warum kann ich ihm denn so überhaupt nicht helfen?!", klage ich und die Tränen überrollen mich wie der Roadroller aus 'Jojo's Bizarre Adventure'. Wann habe ich das letzte Mal vor ihr geweint? Wie lange habe ich dieses Pokerface schon aufrechterhalten? Gefühlte weitere zehn Minuten liege ich einfach in meinem Bett und heule, ehe ich mich wieder beruhige und nur noch stumm auf der Stelle liege. "Du hast also doch noch etwas anderes außer Schule und Schach im Kopf. Nun ja, gib dir Zeit zum Nachdenken und entschuldige dich. Krieg zuerst den Kopf frei, ehe du den nächsten Zug machst. Wie im Schach. Wenn dir wirklich etwas an ihm liegt, wirst du die Hürden überwinden können. Und Shuichiro wird ebenfalls okay sein. Du musst nur fest an dich glauben.", lautet ihr schlauer Rat und ich schaue zu ihr auf. "Danke.", flüstere ich nur. "Aber trotzdem... habe ich Angst. Ich will mich einfach nur verkriechen.", murmle ich und vergrabe mich tiefer in die Bettdecke. "Dann bleib heute einfach zu Hause und ruh dich aus.", schlägt sie vor und fährt mir durch die langen Haare. Obwohl ich nichts mehr sage, bin ich ihr in dem Moment unglaublich dankbar. Elvis: Heute ist Kaishi nicht in der Schule, das ist das Erste, das mir auffällt, denn er kommt nie zu spät. Und dass er krank ist kann ich ihm nach all dem Ereignissen mit Shuichiro und mir irgendwie nicht abkaufen, ich könnte schwören, dass da mehr dahinter steckt. Akira ist nach wie vor komisch drauf und selbst wenn es Chika nicht zeigt, geistert ihr eine gewisse Sache durch den Kopf, sie denkt scharf nach, viel zu scharf für ihre Verhältnisse, so blöd sich das anhört. Sonst ist sie doch immer so sorglos, oder war ich die ganze Zeit einfach nur blind? Wollte ich ihren nachdenklichen Blick womöglich gar nicht sehen? Wegen der Nacht mit Akira und meinen Erinnerungen an ihn? Darüber denke ich lieber nicht allzu gründlich nach, denke ich als ich mich auf meinen Platz am Fenster sitze und teilnahmslos durch die Klasse spähe. Alles scheint normal, Shuichiros versuchter Selbstmord scheint als Gesprächsthema langsam aber sicher den ersten Platz in der Relevanz zu verlieren, aber allerspätestens wenn der Junge entlassen wird und wieder auftaucht, wird sich niemand für etwas anderes interessieren, das verspreche ich dir. Aber Uchihara-san macht heute einen anderen Eindruck. Hanako ist in ihre eigene Welt vertieft und macht keine Anstalten, um ihr zu helfen, Chika schläft mal wieder auf der Tischplatte. Dann muss ich eben ran! Ich stehe auf und nähere mich unauffällig ihrem Platz, ehe mich räuspere und ein paar Sekunden tatenlos vor ihrem Gesicht verharre. "Ist alles in Ordnung, Uchihara-san?", frage ich vorsichtig. Sie sieht zu mir auf und starrt mich eine Weile einfach nur an, bevor sie antwortet: "Ja... Alles bestens. Es ist... ALLES IN BUTTER!!!", ruft sie und bricht in Tränen auf. Sie wirft ihr zartes Köpfchen mit Vollkaracho auf den Tisch, was Chika in derselben Position aufschrecken lässt. Ich bin starr vor Schreck bis ich von den Blicken um uns herum Notiz nehme und mir wieder etwas einfällt. "H-Hey, ähm, was ist denn los, kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?", stammle ich und platziere unbeholfen meine Hand auf ihrer Schulter. Sie kratzt wieder ihr Gesicht vom Holz zusammen und sieht mich mit Tränen unterlaufenen Wangen an. "Nein... Geht nicht, das... Niemand kann mir helfen, es ist so... Ich... Mein Vater ist seit der Sache mit Akki nicht nach Hause gekommen!", heult sie und vergräbt ihr weinendes Gesicht in ihren Händen. Jeder im Umkreis von zehn Metern dürfte das jetzt mitbekommen haben. "Dein Vater ist was?! Seit einer Woche? Und das sagst du erst jetzt? Uchihara-san, warum hast du nichts gesagt?", jetzt bricht Panik in mir aus, wenn ich daran denke, dass mein Vater vor meiner Geburt schon "verschwunden" ist, ich also den Schmerz aller Beteiligten nicht nachvollziehen kann, dann will ich gar nicht erst wissen, wie es ist, wenn ihr Vater zu ihren Lebzeiten sichtbar verschwindet. "Als er mit Akiras Eltern gesprochen hat und wir nach Hause gefahren sind, da... Hat er mich angeschrien. Mich geschlagen und gesagt, dass ich eine Enttäuschung sei und ist dann einfach mit seinem Zeug gegangen, eben das, was man so mitnimmt. Er ist öfter über Nacht weg, wenn wir streiten, aber... Irgendwann hat man doch Angst!", keift sie weinerlich. Jetzt hat sie auch Akiras Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, dieser gesellt sich nun auch genau wie Hanako und Chika zu unserer Runde, die einfach schockiert schweigen. "Akira, ich glaube mein Vater kann dich nicht auf den Tod nicht ausstehen.", wimmert sie und Akira sagt immernoch nichts. "Uchihara-san, wie lange glaubst du wird dein Vater weg sein?", kommt nun auch Hanako zu Wort. Sie ist klingt sowohl besorgt als auch sachlich, als wolle sie Kaishis freien Platz einnehmen oder sich selbst von etwas ablenken. "Weiß nicht, das ist Rekordzeit, vielleicht... vielleicht... vielleicht kommt er nie wieder, mit der Ausrede, dass ich bald volljährig bin!", jammert sie weiter und Akira wird immer unruhiger. "Was hat dein Vater über mich gesagt?", will Akira in einem monotonen Tonfall von ihr wissen. "Er meinte, dass du Bastard dich bloß nicht noch einmal bei ihm blicken lassen sollst und ich mich von dir fernhalten soll, er... er weiß noch nicht einmal, was ihn so aufregt, der ist krank! Krank im Kopf und hat Alzheimer mit fünfzig!", klagt sie verzweifelt. "Hast du es schon der Polizei gesagt? Du solltest ihn vermisst melden, damit er gefunden wird.", schlägt Chika unbeholfen wie schüchtern vor. "Weiß nicht. Das Schlimmste an allem ist, dass ich auch noch froh darüber bin, keine Ahnung, wir vertragen uns einfach nicht!", schnieft Uchihara-san und ihr Kopf landet wieder auf dem Tisch, der Rest der Klasse wagt nicht, unserem Kreis beizutreten und sieht nur mitfühlend in unsere Richtung. "Hatschi!", hallt es durch den Raum und wie auf Kommando drehen wir unsere Köpfe im Kollektiv nach vorne. Katsuoka-sensei steht da schon seit geschlagenen zehn Minuten und hat zugesehen. "Es tut mir leid, euch unterbrechen zu müssen, aber wenn wir nicht bald mit dem Unterricht beginnen, kommen wir nicht mit dem Stoff hinterher, also... Könntet ihr bitte eure Hefte rausholen?!", bittet sie errötet und verschämt. Wir gehen gehorsam auf unsere Plätze zurück und wenig später lassen wir die beiden Mathestunden über uns ergehen. Nach dem Schultag, ein Tag voller Banalitäten und der Frage, wie wir der verzweifelten Uchihara-san helfen können, sitze ich vor meinem Schuhschrank und tausche gedankenverloren meine Hausschuhe gegen Straßenschuhe, ehe Akira schweigend an mir vorbeigeht. Ich rapple mich auf und greife nach seiner Hand. "Bist du immernoch sauer auf mich?", frage ich so direkt wie möglich. Er zuckt zusammen und sieht mich mit resigniertem Gesichtsausdruck an. "Ich bin nicht sauer.", meint er nur. "Aber was dann? Du hast mich angebrüllt, weißt du noch? Dass ich mir selbst und allen nur etwas vormachen würde, weißt du noch? Akira, ich will es wissen!", jetzt stehe ich ebenfalls auf den Füßen und brenne vor Wissbegierde. Akiras Augen weiten sich, bevor er den Kopf senkt und spricht. "Vielleicht bin ich ja wirklich ein bisschen sauer. Ich... will ehrlich gesagt aber gar nicht sauer auf dich sein. Ich wollte dich nicht anschreien, das kannst du mir glauben. Ich bin einfach so, dass ich laut werde, wenn ich etwas nicht länger ertrage. Ich habe doch die ganze Zeit zugesehen, wir... waren auf derselben Mittelschule. Und über deine verlorene Erinnerungen weiß ich deshalb... auch Bescheid. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was damals mit dir passiert ist, was dir die Erinnerungen genommen hat. Ich weiß nur, dass ich die Schule gewechselt habe. Zu etwas anderem, wie zum Beispiel deinen letzten Ort zu besuchen, war ich einfach nicht in der Lage.", erklärt er leise und ich glaube kurz, mir bleibe das Herz stehen. Das muss sich damals rumgesprochen haben, ich meine, er war nicht da als ich mich umgebracht habe, oder? "Ich wünschte, ich könnte weniger hinterhältig sein.", flüstert er und in dem Moment betritt Uchihara-san den Eingangsbereich. Reflexartig lasse ich Akiras Hand los und starre sie an. "Ich muss los.", sagt Akira und bewegt sich schneller Richtung Ausgang, Uchihara-san wortlos hinterher. "Warte mal, wo willst du hin, Akira?", frage ich eine Spur zu hysterisch, schon wieder bin ich total aufgewühlt wegen dem, was er sagt, es ist alles so verzwickt und hoffnungslos! "Zu der Beerdigung meiner Mutter.", und die Hysterie verwandelt sich in Scham, weil ich keine Ahnung davon hatte, wie viel in Akira wirklich eins verloren und kaputtgegangen ist. Davon habe ich trotz allem nicht den leisesten Schimmer. Kapitel 49: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Ist es das, wonach es aussieht? -------------------------------------------------------------------- "Deine Mutter ist... tot?", stammle ich und verstehe die Welt nicht mehr. "Ich bin adoptiert. Eines Tages habe ich dir das gesagt, aber das ist lange her.", meint Akira als sei nichts daran seltsam oder ungewöhnlich. "Tut mir leid, ich wollte das nicht vergessen.", murmle ich. Akira nickt nur, wahrscheinlich wissen wir beide, wie wenig ich irgendwas von all dem vergessen wollte. Ich will gerade fragen, ob ich mitkommen darf, um ihn beizustehen, aber das lasse ich und merke, dass Uchihara-san diese Aufgabe, koste was es wolle, übernehmen wird, wenn sie ihm wie ein Hündchen auf Schritt und Tritt folgt. Ich bleibe zurück, noch einen Moment unschlüssig, wie es weitergehen soll, bevor ich mich dazu überwinde, endlich nach Hause zu gehen. Beim Mittagessen, Tiefkühlpizza für die Neugierigen unter euch, grüble ich mal wieder über alles, was in dieser Zeitspanne alles vorgefallen ist. Mir war nicht klar, wie ernst die Lage wirklich ist, ich habe mein Gedächtnis verloren, eine ziemlich lange Narbe und einen seltsamen Vornamen, ich habe immer geglaubt, okay, das ist jetzt eben so. Ich habe nach einer Weile aufgehört, neugierig zu sein, ich wollte nichts mehr über den Ursprung der Narbe an meinem Körper, dem Gedächtnisschwund geschweige dem meiner Existenz wissen. Es war mir irgendwann einfach gleichgültig geworden, ich habe alles verdrängt, was nach Antworten gebettelt und nie welche bekommen hat. So habe ich gelebt bis jetzt. Ich wusste nichts über meine Mutter, nichts über die Tiefe von Hanakos Gefühlen für Chika, Shuichiros Bedürfnis, Kaishi für immer bei sich zu haben, Akiras sexuelles Interesse an mir oder wie sehr Taiyo wirklich gelitten hat. Taiyo. Der ist in letzter Zeit ziemlich schräg drauf, wieder eine Sache, die ich zu ignorieren versuchte, doch jetzt nicht mehr. Ich beobachte ihn, wie er die inzwischen kalte Pizza gedankenverloren runterwürgt und mustere ihn analytisch. Geistesabwesend kratzt er sich seinem Dreitagebart und sieht ins Leere. Taiyo vergisst immer, sich zu rasieren, wenn ihn etwas bedrückt, wer drei Jahre lang allein mit diesem Typen wohnt, bemerkt das. "Taiyo. Hey, Taiyo. Erde an Taiyo!", versuche ich nicht besonders interessiert oder beeindruckt klingend seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Mir fällt ebenfalls auf, dass er sein Handy seit einer Weile nicht mehr angefasst hat, seit seinem Besuch bei Hanako. Ob sie etwas damit zu tun hat? "Sag mal, wo ist eigentlich dein Handy?", frage ich nun etwas lauter und er sieht mich immernoch nicht an. Langsam werde ich wirklich sauer. Ich stehe auf, beuge mich vor und nehme sein Gesicht in beide Hände, das Stück Pizza in seiner Hand fällt auf den Teller zurück. "Kannst du mir bitte mal antworten, wenn wir schon die Rollen tauschen und ich mich hier lächerlich mache?! Mann, Taiyo, ich merk doch, dass hier was faul ist!", keife ich und er sieht mich einfach mit aufgerissenen Augen an. "Was willst du?", fragt er wieder beruhigt und gleichgültig. "Dein Handy ist seit einer Woche weg, was für deine Verhältnisse nicht normal ist. Hanako ist auch komisch drauf und du ignorierst mich sonst nie. Außerdem ist doch wohl offensichtlich, dass du dich nie rasierst, wenn du deprimiert bist.", erkläre ich genervt. Taiyo sagt immernoch nichts. "Sei ehrlich, hat das irgendwas mit den Besuch bei Hanako zu tun?", will ich wieder beruhigt und nun auch feinfühliger von ihm wissen. "Lass bitte zuerst mein Gesicht los.", bittet er resigniert und dieser Bitte gehe ich nach. "Heute noch!", dränge ich ihn, nachdem wieder drei Minuten Schweigen angesagt war. "Wirst du mich umbringen, wenn ich die Wahrheit sage?", fragt er ernst. "Werd ich nicht.", bestätige ich stumm, sodass es nicht danach aussieht als würde ich ihn tatsächlich nicht töten. "Ich hab's fast mit Hanako gemacht.", spukt er aus und ich verschlucke mich fast an der Pizza. "Du hast was?! Bist du bescheuert, Mann?!", rufe ich und auch mein Stück Pizza landet zurück auf dem Teller wie das von Taiyo vorher. Wieder schweigt er. "Echt mal, für so triebgesteuert hab ich nicht gehalten! Was, wenn du sie geschwängert hättest, du Idiot?! Wie könntest du das verantworten, hm? Warum hast du das getan?!", jetzt bin ich so richtig in Rage, ich weiß auch nicht, was genau mich daran so wütend macht, es ist ja nicht Chika, die fast von Taiyo flachgelegt wurde, warum also? "Jetzt komm mal runter, Elvis, ich hatte das von Anfang an nicht vor, okay?! Ich wollte was rausfinden, was mit ihr nicht stimmt, normalerweise würde sie so etwas gar nicht von mir wollen, das passt nicht zusammen. Sie war kurz davor, sich selbst zu betrügen, außerdem wollte ich ihr zeigen, dass die Probleme nicht einfach mit Sex verschwinden, ich hatte also keine andere Wahl.", knirscht Taiyo. "Du hattest sehr wohl eine Wahl, man hat immer vorm Sex eine-", "Ich aber nicht, verstehst du?! Wenn ich Nein gesagt hätte, dann wüsste ich nie, warum sie es wollte. Wenn ich Ja gesagt und sie einfach drauf los gevögelt hätte, hätte sie sich damit beschmutzt, ohne dass sich auch nur irgendwann geändert hätte. Ich musste also diesen Mittelweg einschlafen, kapiert?!", jetzt bin ich es der schweigt, ich bin geschockt, angewidert und gleichzeitig tut mir mein Bruder wirklich leid. "Und warum wollte sie Sex mit dir?", frage ich vorsichtig. "Wegen Chika.", antwortet er knapp. "Wegen Chika?", wiederhole ich verwirrt. "Hat sie geküsst als ihr nach diesem Akira gesucht habt, hat sie gesagt.", erzählt er weiter und in Gedanken bleibt mir der Mund offen stehen. Ich wusste zwar von ihren Gefühlen für Chika, aber das kommt trotzdem... überraschend? Nein, es gibt kein Wort für sowas. Überraschend klingt als wäre das sowas von gar nicht absehbar. Aber das ist nicht der Punkt. "Was wirst du tun, jetzt wo du es weißt?", fragt Taiyo wieder die Pizza in Angriff nehmend und kauend. "Was wirst DU tun? Deine Lage ist um Lichtjahre schwieriger als meine. Ich dagegen bezweifle, dass Chika sich wegen eines von einem anderen Mädchen geraubten Kusses in dieses Mädchen verliebt und mich verlässt.", meine ich nur, wobei ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich ein Ding der Unmöglichkeit ist, wo es doch mit Chika und mir ähnlich war. Sie hat mich aus Verzweiflung geküsst und ist weggerannt, sie war eine verdammt gute Küsserin, das muss ich ihr lassen, aber ist das der Grund, warum ich mich in sie verliebt habe? Nein, das hat mehrere Gründe und die wüsste ich ehrlich gesagt auch selbst ganz gern. "Wie meinst du das?", hackt Taiyo nach, der inzwischen wieder runtergeschluckt hat. "Ich will euch beiden ja echt nicht zu nahe treten, aber... Hanako ist am Ende ihrer Gefühle, sie... war seit Chikas Auftauchen in sie verliebt und weiß selbst nicht warum. Ich meine, sie ist lesbisch. Was, wenn sie nicht schafft, in dir... einen Partner zu sehen, weil sie Chika nicht vergessen kann und sich generell zu anderen Frauen hingezogen fühlt?", spreche ich aus, was mir in den Sinn kommt und sehe Taiyo intensiv in die Augen. Sein Blick ist leer und er starrt zurück als hätte ich nie etwas gesagt. "Ich wollte dich nicht verletzen, Taiyo, tut mir leid.", entschuldige ich mich für meine Ehrlichkeit, aber Taiyo... grinst? "Warum grinst du denn jetzt? Findest du das etwas lustig?", frage ich etwas patzig, weil er das nicht ernstzunehmen scheint. "Nein, hast ja Recht, das... ist wirklich nicht lustig, ich... versuche nur irgendwie... weiß nicht, ich... habe das Gefühl, das wenn ich nicht lache, es noch mehr wehtut, sie vielleicht zu verlieren. Ich... kann das einfach nicht.", kichert er und mir fällt auf wie gequält sein Kichern gerade eigentlich ist. Mir fällt auch auf, wie sehr ich seine Gefühle tatsächlich teilen kann, wie wenig ich es genauso wenig kann. Chika loslassen. Allein sein. Sich nicht zu erinnern. Das sind die Dinge, die mir Angst machen, mehr als alles andere. Ich weiß selbst nicht, warum. Immer ging es nur darum, mich mithilfe von Chika an mein altes Leben vor dem Gedächtnisschwund und allem später zu erinnern. Dabei habe ich nie in Betracht gezogen, dass auch mit Chika etwas nicht stimmen könnte, dass auch sie etwas hat, das sie tief im Herzen nicht loslässt. Bin ich wirklich so oberflächlich? Was bin ich nur für ein Freund? Angst, dass sie ihn verlässt, weil beide etwas haben, dass sie voneinander trennt, sind es auch Dinge, für die sie nichts können. Taiyo zeigt es nicht, aber die Trennung von Hanako könnte seinen Glauben an die Menschheit buchstäblich zerreißen. 'Ich... kann das einfach nicht.", echot Taiyos Stimme in meinem Kopf. Ich auch nicht, Taiyo, ich auch nicht. Kapitel 50: Vol. 2 - "Deredere" Arc: Schockierende Erkenntnise -------------------------------------------------------------- Akira: Mittlerweile sind wir im Nachbarbezirk angekommen, dort wo das Begräbnis angeblich stattfinden soll. Der Tod von Meiko Egaoshita hat sich sowohl hier als auch in unserem Bezirk bei all meinen und ihren Angehörigen rumgesprochen, vielleicht ist das der Grund, weshalb Akane-san alles planen konnte und Bescheid weiß. Ich habe wirklich lange nicht mehr mit ihr gesprochen, ob sie mir verzeiht, dass ich einfach abgehauen bin? Wohl kaum, ich habe ihr doch echt wehgetan. Der Zettel, ebenfalls von Akane-san sagt uns zumindest, dass wir hier richtig sind, hier in dem städtischen Friedhof des Nachbarbezirks. Es sind weniger als ich erwartet habe, meine ungekannten Großeltern, ehemalige Mitschüler und Lehrer, einige andere, die ich nicht zuordnen kann und das war's. War meine Mutter den schlussendlich echt so unbeliebt? Wir nehmen in dem Haufen Menschen Platz und schweigen. Einige Sekunden später kommt Akane-san vor und umklammert mit zitternden Händen das Mikrofon, neben ihr liegt der Sarg meiner Mutter. Ich kann sie sehen. Ich komme wieder zur Besinnung als Sanae meine Hand nimmt und ihre Finger mit meinen verschränkt. Ein fester Händedruck ist genau das, was ich brauche. Ich kann nicht klar denken oder fühlen, ich habe nur sie, die mich daran erinnert, hier teilzuhaben und kein Geist zu sein. Ich höre Akane-sans Rede gar nicht richtig zu, nur ein paar Worte dringen zu mir hindurch. "Meiko Egaoshita war nicht nur eine Schülerin von vielen für mich, sie... war für mich auch so etwas wie die Tochter, die ich nie hatte, eine Freundin, jemand, dem man nichts Schlechtes wünscht. Sie war schwierig, obwohl sie so beliebt war und glücklich schien, habe ich als Lehrerin gesehen, was kein anderer jemals zu erkennen gegeben hat. Ihr hat etwas gefehlt. Und das war jemand, der sie wirklich verstand, ohne sie zu verurteilen.", diese Worte bohren sich wie Nägel in mein Herz und lassen mich automatisch an mich selbst denken. Warum weiß ich auch nicht. Akane-san spricht weiter, aber der Rest geht mir nicht mehr so nah. Nach der Ansprache darf jeder noch zu ihrem Sarg und Blumen hineinlegen, ehe sie endgültig begraben wird. Nach einer Weile bin ich dran. Meine Hand, die die Blume hält, zittert ohne Ende, aber mein Gesicht bleibt starr und leer. Ich fühle nichts. Sanae, die immernoch meine andere hält, weil mir die Kraft fehlt, mich loszureißen, folgt mir wortlos. Warum ist sie nur mitgekommen? Ich halte vor dem Sarg inne und starre Meikos Leichnam eine gefühlte Minute an, ohne, dass die Tränen irgendwelche Anstalten machen, mich zu überwältigen. Warum weine ich nicht? Ich lege die Blume neben ihre Wange, aber meine Hand hängt noch über ihr, unsicher, was ich mit ihr anstellen soll. Ich lege sie auf ihren Kopf und fahre ihr über die Schläfe. Sie ist kalt und noch blasser als ich es von ihr geerbt habe. "Du bist echt blöd, weißt du das? Das hätte doch alles nicht sein müssen, wenn du dich gemeldet hättest. Du hättest dich einfach durchboxen müssen, auch wenn ich nicht bereit war, dich zu sehen. Du hättest kämpfen müssen. Ich war zwar ziemlich böse, weil du mich verlassen hast, aber... ich war immer bereit, dich irgendwann zu treffen und... ein guter Sohn zu sein. Ich will mich nicht mehr drücken, vor dem, was ich zerbrochen habe. Nur blöd, dass du sterben musstest, damit ich das endlich raffe.", sage ich ihr mit gedämpfter Stimme, als wenn es ihr Schmerzen bereiten würde, wenn ich zu laut wäre. Irgendwas in mir sagt, dass sie mich hören konnte, aber im Moment weiß ich sowieso nicht, was echt ist und was ich mir einbilde. Nach einiger Zeit sind noch andere dran, ein Mann mit Melonenhut, dessen Verbindung zu meiner Mutter mich interessiert und weitere, ich bin nicht der Einzige oder wichtiger als sie. Als alle Blumen den Sarg erfüllen und jeder bei ihr war, um ihr die letzte Ehre zu erweisen, wird meine Mutter endgültig ins Erdreich abgeseilt und begraben. Den Rest bekomme ich nicht mehr ganz mit, irgendwie läuft alles an mir vorbei. Alles was mich noch hält ist Sanaes Hand. Nach einer halben Stunde, in denen die schwarz gekleideten Männer ihr Grab eingerichtet und dekoriert haben, besteht diese Veranstaltung nur noch aus Grüppchen heulender Menschen, ich bin ehrlich neidisch auf sie. Ohne mich verabschiedet zu haben, beschließe ich, zu gehen. Doch der Melonenhut-Mann baut sich vor mir auf und ich kann zum ersten Mal sein Gesicht richtig erkennen. Als ich ihn gerade fragen will, was das soll, senkt er den Blick. "Diese Haare. Und diese Augen. Dieser Blick. Er ist doch nicht wirklich...", flüstert er nervös und weicht meinen verwirrten Augen aus. "Hören Sie, ich will wirklich-", "Darf ich dich fragen, wie du heißt, Junge?", unterbricht er mich ernst. "Akira Egaoshita, wieso, alter Mann?", frage ich angefressen und herausfordernd. Komischer Kerl. Als ich Egaoshita sage, verwandelt sich sein Gesichtsausdruck von Ernst und vsersteckter Neugier in Angst und Schuldgefühl. "Nein... Nein, das... das kann nicht sein, du... Meikos und mein... Sohn?!", stammelt er und fällt vor uns auf die Knie. Was hat er gerade gesagt? Ist der April nicht schon längst vorbei, seit sechs Monaten? "Was willst du, alter Mann? Das wird langsam echt gruselig, du kannst nicht einfach zu irgendwelchen Teenagern gehen und sie Sohn nennen.", höre ich mich spotten, obwohl das wieder einmal weder lustig noch sonst etwas ist. "Doch, kann ich.", haucht er, rebellierend gegen die Normen der Gesellschaft. Was danach kommt, habe ich nicht zu Träumen gewagt. "Ich bin schließlich wirklich dein Vater." Ach du Scheiße. "Du bist was?! Aber... wie...? Warum lässt du dich erst blicken, wenn sie stirbt? Was bist du eigentlich für ein Typ, der mit einer schläft, die in einer verdammten Beziehung ist, ich meine, sonst wäre ich nicht da, aber was sollte das bitte?!", fauche ich ihn an und Sanae versteckt sich hinter meinen Rücken, ohne meine Hand loszulassen. "Es war eine Wette, ich war jung verstehst du? Ja, es war leichtsinnig von mir, und grausam, ich hätte nicht mit ihr schlafen sollen oder anderweitig etwas zerstören, aber... ich habe es doch getan und wagte nicht mehr, ihr unter die Augen zu treten, ich... habe seit dem Vorfall nie wieder eine Frau angefasst, ich konnte nicht. Ich konnte nicht einmal das Kind, das ich mit ihr hatte, in den Arm nehmen und ihm ein richtiger Vater sein. Ich weiß, ich... ich habe auf ganzer Linie versagt und ich... nehme es dir nicht übel, wenn du mich jetzt hasst.", wimmert er und ich bin bewegungsunfähig. Das hier braucht keine weiteren Erklärungen, es ist klar wie scheiß Kloßbrühe. "Akira?", Sanae meldet sich nach langer Zeit wieder zu Wort und nur fällt ein, dass nicht einfach nichts tun und meinen Gefühlen erliegen kann. "Sanae, wir gehen!", knurre ich und mache Richtung Ausgang des Friedhofs auf dem Absatz kehrt. Länge laufe ich einfach schnell und erwidere ihren Händedruck, um sie hinter mich herzuschleifen. Irgendwann landen wir in einem abgelegenen Park und die Sonne scheint in wenigen Minuten endgültig weg zu sein. Bald bricht der Winter ein und die Tage werden kürzer als das Verständnis für meinen sogenannten Vater. Mir geht die Puste aus und ich lasse mich auf der Bank, die sich gerade anbietet, plumpsen, nicht ohne dass Sanae mitsamt ihrer Hand in meine dasselbe tut. "Tut mir leid, dass ich dich da einfach mitgerissen habe, ich... konnte einfach nicht mehr, ich kann jetzt nicht mit dem reden.", entschuldige ich mich und höre die Verzweiflung in meiner Stimme. "Ich verstehe.", murmelt Sanae und sieht auf die Laterne neben uns. "Warum bist du eigentlich mitgekommen? Wieso interessiert dich, warum ich mich im Nachbarbezirk versteckt habe? Wieso warst du so nett zu mir?", frage ich nachdem der Ausreißer geklärt ist. "Ich wollte mehr über dich erfahren. Weißt du noch als wir in der Schule geredet haben, über deine Mutter, die du suchen gegangen bist? Ich hatte Mitleid, aber ich... wollte dich auch einfach nicht allein lassen.", meint sie und ihre Augen glänzen vom grellen Laternenlicht. "Ich konnte seit jener Nacht nicht mehr aufhören, an dich zu denken, Akki. Was du mir gesagt hast, war eigentlich genau das, was ich schon immer von den Jungs, mit denen ich geschlafen habe, hören wollte. Ich hatte immer Probleme, Freunde zu finden oder mich mit anderen zu verstehen. Und eines Tages fragte mich jemand, ob ich nicht mit ihm schlafen wolle. Der Erfahrung halber, die üblichen Gründe. Erbärmlich wie ich war, ließ ich mich darauf ein und verschenkte so mein erstes Mal. Es war seltsam. Ich hatte nicht reagiert wie ich glaubte, zu reagieren. Ich schämte mich kein Stück dafür, mich auszuziehen und meinen Körper herzugeben. Es war ein kurzer Schmerz, der aber sofort wieder verschwand und sich mit meinen Emotionen vermischte, die ich nicht benennen konnte. Und am gleichen Tag fiel mir auf, dass ich überraschend gut war. Es war das Einzige, wozu ich gut war. Das Einzige, wozu Männer für mich gut waren. Sie existierten nur, um die Leere zu füllen, die mein Herz umgab. Sie dienten nur meinem eigenen Vergnügen und dem Geld, das ich dadurch verdiente. Aber so wurde ich natürlich nicht glücklich. Ich wollte doch eigentlich nur, dass mir jemand endlich sagt, dass ich es lassen soll und ich aufhören soll, mir selbst weh zu tun. Ich zitiere: Zurück bleibt Uchihara mit der abgenutzten Fotze.", geht sie nun mehr ins Detail und ich werde rot. Warum zur Hölle kann ich wirklich so überhaupt nicht mit Worten? "Tut mir leid, dass ich mich so vulgär ausgedrückt habe, das... war nicht meine Absicht, es... ist so mit mir durchgegangen, ich wollte nur nicht, dass... du dich noch mehr zerstörst.", entschärfe ich diese Bombe der Peinlichkeit. "Ist schon okay. Vielleicht war es sogar ganz gut, dass du so hart zu mir warst, damit ich aufwache.", überlegt sie laut. "Was ich mich frage, Sanae... , was findest du überhaupt an jemandem wie mir?", will ich vorsichtig wissen und sie beginnt, an ihrem Daumennagel zu kauen. "Du musst wissen, ich habe gefühlt jede dritte Woche eine neue Freundin, ich bin der absolute Player. Ich habe keine Ahnung, ob ich für Festes überhaupt gemacht bin.", wie sie wohl darauf reagiert? Sanae sagt eine gefühlte Ewigkeit nichts, dann spricht sie wieder. "Weil du der Erste bist, der in mir weder nur einen Dummkopf noch nur ein Sexpuppe zum Zeitvertreib siehst. Vor dir habe ich Männer schließlich nur zu meinem eigenen Vorteil meinen Körper angeboten. Als ich dich gesehen habe, da, ich weiß nicht, du... du hast irgendwie geschafft, meine Aufmerksamkeit einzufangen. Man könnte sagen, es sei die Liebe auf den ersten Blick. Ich wollte wissen, wer dieser leer dreinblickende Junge war. Ich interessierte mich für ihn. Also war ich einfach direkt wie ich es immer bin. Ich wollte zumindest für die Zeit, in der wir uns so gut verstanden, darüber hinwegsehen, dass ich wieder damit ende, zu verführen oder verführt zu werden. Weil ich die Aura der leicht zu Habenden habe, enden die meisten Treffen mit Jungs damit, dass diese nicht damit zögern, mit mir in die Kiste zu steigen. Fast wurde ich traurig, dass es auch mit dir so enden würde, aber dann dachte ich mir, "So ist das nun einmal. Du kannst nichts dagegen tun.". Ich bin froh, dass du mich aufgefangen hast, Akira. Außerdem... fasziniert mich irgendwie so ziemlich deine ganze Art, ey! Du hast irgendwie etwas ganz verdreht Süßes an dir... aber irgendwie bist du auch total hot!", überwindet sie sich verlegen und ich versuche, mir den Lacher zu verbeißen. Das mag sie also an mir. Verdammt, die ist ja wirklich so was von Hals über Kopf in mich verliebt! "Ich meine es ernst, ich habe es nie ernster mit einem Menschen gemeint, ich würde dich wirklich gerne heiraten. Ich liebe dich so sehr...", flüstert sie und ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Ich für meinen Teil halte mich für gar nicht mal so toll, ich hasse mich nicht oder so, aber ich mag mich nun einmal auch nicht so besonders. Einfach durchschnitt. Ich bin mir ehrlich gesagt noch nicht einmal sicher, was ich von Sanae denken soll. Ich meine, sie ist wirklich hübsch, mit ihren blauen Augen und den pinken Haaren, aber... da muss es doch mehr geben. Ich kann sie doch nicht nur auf ihr Äußeres reduzieren, dann wäre ich im Grunde ja nicht besser als diese Typen, von denen sie sagte, ihr würde den Unterschied machen. "Wie sieht es eigentlich mit dir und Kyo-kun aus?", fragt sie unschuldig aus dem Nichts. "Was soll denn mit uns sein?", mit bebender Stimme versuche ich, mir nichts anmerken zu lassen. Gott sei Dank sieht sie nicht mich an, sondern die Laterne und zum Glück wird es durch die Dunkelheit immer schwerer, nervöse Gesichter zu erkennen. "Nur so 'ne Frage. Ich meine, als du im Krankenhaus aufgewacht bist, ist Kyo-kun fast gestorben vor Sorge. Außerdem scheint er ja mehr als nur wie ein guter Freund an dir zu hängen... Ist Kyo-kun vielleicht schwul?", wieder sehe ich im Licht diesen unverwandten Blick in ihrem Gesicht, sie sieht mich an und wenn das nicht so eine Frage gewesen wäre, hätte ich für dieses Gesicht alles bejaht. Vielleicht nicht alles, aber vieles. Kyocchi und schwul? Ich weiß ja nicht. Egal ob ich mich nur auf die letzte Nacht mit ihm beschränke oder auf die Vergangenheit, die uns verbindet, es läuft definitiv darauf hinaus, dass ich der eindeutig schwulere von uns bin. Jegliche Handlungen gingen von mir aus, immer war ich der aktive Part in unserem geheimen Liebesspiel. Ein Teil von mir ist sich vielleicht sogar sicher, dass Kyocchi mich weder geliebt hat noch meine Berührungen erwidert hat, weil er es sich genauso sehnlichst gewünscht hat wie ich. "Nein, er hat doch eine Freundin. Chika Failman, die Grünhaarige mit dem Teint und die als Einzige mit Stiefeln zur Schule kommt. Die mit dem lila Pullunder.", erkläre ich ruhig und gelassen, als wäre nichts von all dem je passiert. Sanae macht den Mund auf, als wolle sie etwas sagen, lässt es aber dann doch und schweigt. "Verstehe. Ihr scheint euch ziemlich nahe zu stehen, beste Freunde, was?", Sanae drückt meine Hand nun etwas fester und mir fällt auf, dass sie sie die ganze Zeit nicht loszulassen wagte. Du bist ein Engel, Sanae. "Liebst du ihn?", murmelt sie und ich halte die Luft an. "Wie bitte?", frage ich eine Spur zu aufgewühlt. "Ach nichts, nur laut gedacht.", sagt sie und grinst. Das war knapp, auch wenn ich nicht weiß wieso. Ich sollte aufhören, zu wollen, was ich nicht wollen sollte. Es ist Chika gegenüber nicht fair und es ist gemein, Kyocchis Schwächen auszunutzen. Aber wenn ich mich in Sanae verlieben würde, wären die Dinge wenigstens für niemanden gefährlich. Kyocchi zuliebe würde ich es versuchen. Auch wenn ich damit Akane-san verletze. Also los. Gehen wir uns verlieben! Ich greife mit beiden Händen nach ihren Schultern und sehe sie einfach nur an. "Akira, ich...", murmelt sie. Verwirrt, aber nicht angewidert, legt sie ihre ebenso freie Hand auf meine Schulter und so verweilen wir kurz, ehe ich mich ihr nähere. Unsere Schenkel streifen sich und diese Berührung erinnert mich unweigerlich an den Tag, an dem ich zum letzten Mal in Akanes Wohnzimmer war. Das Laternenlicht lässt sie noch schöner aussehen und kurz glaube ich, inmitten des abendlichen Schwarz ihre roten Wangen leuchten zu sehen. Ihre Augen sind geschlossen und trotz dass sie so oft weitergegangen ist, macht sie einen nervösen Eindruck. Ich komme mit dem Gesicht näher an das ihre und nur noch wenige Zentimeter trennen unsere Lippen voneinander. Dann schließe ich auch meine Augen und kurze Zeit später treffen sich unsere Lippen. Ich habe es geschafft. Was genau ich damit erreichen will, werde ich schon noch erfahren. Der Kuss wird intensiver. Verdammt, sie kann das so gut, dass mir egal ist, wieso sie das kann. Sanaes Hände liegen auf meinem Rücken und meiner Brust auf. Sie hält sich an meinem Hemd fest, als wenn das der einzige Halt wäre, der ihr noch bleibt. Ihre Hand ist zwar so warm, während mein Körper so kalt ist wie die Arktis selbst. Fast schon unterbewusst berührt meine Hand ihre warme Haut und fährt ihr unter die Uniform. Ich habe zwar nicht jeden Winkel ihres Körpers gesehen oder gefühlt, aber ich weiß von allen in der Klasse an Besten, dass Sanae Uchihara eine hammermäßige Figur hat. Diese Gedanken verschärfen sich als ich ihren flachen Bauch erfasse und über ihren schmalen Rücken streiche. Ich erreiche ihren BH und landen mit meinen Fingern dahinter, da ist Gänsehaut an ihrer Wirbelsäule, als ich meine Hand sich mehr und mehr von ihren Rücken entfernt, um ihre Vorderseite zu erkunden. Ich weiß nicht, was ich da fühle, ich meine, ich liebe sie nicht, zumindest kann ich das nicht sagen, warum also lasse ich mich darauf ein? Ich weiß nichts mehr. Ich will gerade die Rundung ihrer Brust nachzeichnen, da zerreißt das Klingeln meines Handys nicht nur die nächtliche Atmosphäre, sondern auch uns gleich mit. Sofort meine Hände von ihr weg. Was war ich gerade in Begriff zu tun? Bin ich bescheuert oder was?! "Tut mir leid", murmle ich und starre zu Boden. "Es ist besser, wenn ich jetzt nach Hause gehe.", verabschiede ich mich von ihr und ihrer Wärme. Ich wage gar nicht mehr, sie anzusehen. Rennend mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof, den ich so schnell erreiche, dass der Anrufer nicht über meine Abwesenheit informiert wird. Ich bin kein Deut besser als all die Jungs, mit denen sie es schon hatte, ich war kurz davor sie anzufassen! Ob sie mir das verzeiht? Noch immer klingelt mein Handy und ich starre geistesabwesend aufs Display. Ohne groß nachzudenken, gehe ich ran. "Kyocchi? Was gibt's?", was genau will ich mit all dem erreichen? Was hat das alles für einen Zweck? Was mache ich hier eigentlich? Kapitel 51: Vol. 3 - "Deredere" Arc: Was das Herz begehrt und die Hand zerstört ------------------------------------------------------------------------------- Elvis: Irgendwie war mir einfach danach, Akira anzurufen, seine Stimme zu hören und mit ihm zu reden. Egal, wie aufdringlich das gerade von mir war. Ich wollte einfach mich einfach nur erkunden, weil es das ist, was Menschen tun. Weil es das ist, was Elvis getan hätte und folglich meine Aufgabe ist zu tun. Ich wollte einfach nur nett sein.   "Kyocchi? Bist du noch dran?", höre ich seine Stimme nach meiner Antwort rufen.   "Das bin ich.", hauche ich und höre, wie ein Zug im Hintergrund losfährt. Wie es wohl ist, nach einer Beerdigung nach Hause zu gehen?    "Wo bist du gerade?", gehe ich den ersten Schritt in die richtige Richtung von Konversation, völlig egal, dass ich mit meiner Vermutung vermutlich richtig liege.    "Bin auf dem Weg nach Hause. Im Zug.", antwortet er und das Gerumpel im Hintergrund bestätigt mich.   "Warum hast du angerufen?", fragt Akira lässig wie immer. Weil Freunde sich Sorgen um einander machen.   "Mir war langweilig.", lüge ich zur Hälfte, ehe die andere Hälfte der Wahrheit entspricht.   "Außerdem... wollte ich wissen, wie es dir geht. Also, wegen dem Verlust deiner Mutter... Mein Beileid, Akira.", füge ich noch hinzu und mein Gesicht wird komisch warm. Ich weiß nicht mehr, wie es ist, jemandem nach dem Tod einer geliebten Person je mein Beileid aussprechen müssen. Und dann noch jemandem wie Akira. Dem Akira, mit dem ich Chika betrogen habe und der zufällig noch mein bester Freund aus früheren Tagen ist.   "Danke, Mann.", Akira scheint scheint sich wirklich über mein Beileid zu freuen. Er klingt so aufrichtig, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde vergesse, dass wir das beide nicht sind.   "Wie fühlst du dich, Akira?", frage ich, aus Neugier, um das Schwarze Loch in meinem Kopf mit einer weiteren Information zu füttern.   "Wie es mir geht... Na ja, ehrlich gesagt, ich hab keine Ahnung.", meint er und ich höre ein Grinsen in seiner Stimme. Das ist wohl einer der Momente, in dem sein Name mehr zu ihm passt als sonst. Egaoshita*. Lächelt und lacht, auch wenn es gar nicht passt.   "Aha, okay.", gebe ich leise von mir. Ich hätte mir denken können, dass es zu nichts führt.    "Was machst du eigentlich gerade?", will er wissen und auf einmal ist mir fiurchtbar peinlich, dass ich nichts anderes tue außer ganz normal zu telefonieren. Von meiner Sorge abgesehen, empfinde ich nichts als... Langeweile. Taiyo ist auf einer Party, Chika bei sich zu Hause und ich bin es ebenfalls. Weder auf ein Buch noch auf Fernsehen oder Zocken habe ich Lust. Also habe ich gelernt, das ging so lange gut, bis mir der Stoff zum Hals raushing und ich realisierte, dass ich mich eigentlich nur von Akira abzulenken versuchte. Dann war es auch schon vorbei mit der Konzentration.   "Liege nur so rum", sage ich wahrheitsgemäß.   "Läuft bei dir.", höre ich ihn sagen.   "Es läuft nicht.", verbessere ich ihn. Dieses Gespräch ist viel zu oberflächlich für die vielen Fragen über den Fragen in meinem Kopf.   "Geht es Uchihara gut?", erkundige ich mich höflichkeitshalber auch nach ihr. Sie war schließlich seine Begleiterin heute.    "Bis auf ziemlich befriedigt? Ich hab keine Ahnung.", lässt er mich mit unverkennbarer Lennyface-Stimme wissen. Befriedigt? Dass Akira wie die anderen Jungs der Gang bei den Mädchen recht beliebt und auch schon das eine oder andere Mal aufs Ganze gegangen ist, ist für mich nichts Neues. Die meisten Mädchen, die mit ihm ausgehen, wissen das und sind dementsprechend auch bereit, mit ihm zu schlafen. Wie es wohl mit Uchihara in der Hinsicht aussieht?   "Befriedigt? Hast du sie flachgelegt?", frage ich mit einer Mischung aus Neugier und Gleichgültigkeit. Es würde mich nicht wundern, aber irgendwie auch schon, weil Uchiharas Ausstrahlung den Anschein erweckt, alles richtig machen zu wollen.    Auf einmal ist es leise in der Leitung und ich höre nur seinen zitternden Atem, als denkt er gerade an Unschönes.    "Ist alles okay?", frage ich schnell und höre nichts mehr. "Ist etwas vorgefallen?", grabe ich mich besorgt noch tiefer in sein Innerstes. Wieder schweigt er.   "Ich hätte sie liebend gerne so richtig flachgelegt, weißt du? Du kennst mich ja, ich bin geil wie ein Bock. Aber ein gewisser jemand hat angerufen und den Vibe gekillt.", mein Herz setzt kurz aus vor Fassungslosigkeit.   "Herrschaft noch mal, habe ich euch beide etwa mitten im Geschlechtsverkehr mit meinem Anruf gestört? Bitte entschuldige, das war alles andere als meine Absicht, Akira.", bitte ich mit hochrotem Kopf um Verzeihung.   "Haha, oh, Kyocchi, du ja knuffig. Nein, Alter, natürlich nicht. Hätte ich wirklich ernst gemacht, wäre ich doch nicht an mein Handy gegangen, du Vogel!", Akira lacht.   "Tut mir leid, dass ich nicht oft genug Sex habe, um mit dessen unausgesprochene Etikette so vertraut zu sein wie du.", brumme ich, woraufhin er nur noch mehr lacht. Du bist ein Idiot, Akira.   "Hey, Kyocchi.", fängt er wieder meine Aufmerksamkeit und schluckt den Rest seines Lachens herunter.   "Ja?",    "Ich glaube, wir aus der Gang hatten doch alle Mal dieses Gefühl der leichten Überforderung, wenn ein Mädchen einem seine Liebe gesteht und hofft, dass man diese irgendwann auch erwidert. Kaishi, der sich freundlich für die Abfuhr entschuldigt, Shuichiro, der vor Überrumplung fast stirbt, du, der immer sagte, dass du für Liebe ungeeignet wärst und ich, der sie trotzdem zur Freundin nehme, weil es mir Spaß macht, irgendwie sind wir alle immer mit unserer Art, mit den Gefühlen, die uns entgegengebracht werden, umzugehen, durchgekommen.", Akira macht eine Pause.   "Was ich eigentlich damit sagen wollte, Kyocchi, ich glaube, ich habe erst jetzt so richtig verstanden, wie du dich fühlst. Bis heute bin ich einfach auf das, was das Mädchen mir sagt, einfach eingegangen, habe mich ins Abenteuer gestürzt, egal, wie schwach meine Gefühle im Vergleich zu ihren waren. Ich hatte die süßen Mädchen immer nett und Sex macht Spaß. Es gab keinen Grund, etwas zu ändern. Aber weißt du, Sanae, sie... sie ist vielleicht die Erste, bei der ich mich tatsächlich nicht traue, genau das zu tun und mich genau so zu geben, wie auch sonst. Will nicht, dass es... so oberflächlich und kurzweilig ist wie immer, weil sie... nicht so aussieht, als würde sie das überleben. Das kannst du mir jetzt glauben oder nicht. Die Unsicherheit, sich nicht wie bei anderen auf seine umwerfende Coolness zu verlassen und die Angst, sie zu verletzen, weil diese Person einfach anders ist als jede andere in deinem Leben bisher... so etwas gab es nie. Das kenne ich nicht. Aber... ich glaube, jetzt habe ich eine so ungefähre Vorstellung von dem zwischen dir und Failman...", ich bilde mir ein, fast Akiras unruhigen Herzschlag durch mein Handy zu hören.   "Das war aber ein langer Text, was? Ich hatte nur das Bedürfnis, dich vollzublubbern, haha. Denk nicht zu viel drüber nach!", zerreißt er wieder die Stille und kichert. Ob seine Mutter genauso viel gelacht hat?   Ich weiß nicht, was ich ihm jetzt sagen soll. Er hat recht. Natürlich kenne ich dieses Gefühl, das er gerade verspürt, von mir selbst. Von jemandem geliebt zu werden, diese Person zu benutzen und Angst zu haben, sie zu verlieren. Das war der Beginn von Chikas und meiner Beziehung. Das auch war genau das, was ich dachte, als Akira und ich das Techtelmechtel an diesem Abend bei mir zu Hause abgehalten haben. Und Herrschaft noch mal, ich wünschte, es würde damit enden, dass ich dieses Gefühl nur auf eine Persön konzentrieren könnte.Ich wünschte es mir wirklich. Dann wäre alles so viel einfacher. Aber dem ist nicht so und jetzt sind wir hier, an dem Punkt an dem mir nur immer wieder klar wird, wie wenig ich auch nur einen einzigen Menschen in meiner Aufgabe enttäuschen wollte. Nichts dergleichen habe ich gewollt. Ich habe Akira nie wehtun und nie vergessen wollen, dass ich das niemals wollte.   "Sag mal, Kyocchi, wieso hängst du eigentlich so an Failman?", fragt er nach einer Weile.   "Bitte?", was soll denn die Frage auf einmal?   "Warum du sie liebst und so. Du hast mich schon verstanden.", er scheint wirklich genervt von meiner Unwissenheit zu sein, aber vielleicht ist die Aggression in seiner Stimme ja auch nur Einbildung.   "Irgendwann habe ich mich einfach in sie verliebt. Irgendwann wurde ich einfach besitzergreifend und hatte das Bedürfnis, immer an ihrer Seite zu sein. Reicht das?", lasse ich hören und muss daran denken, wie sie mir immer so gern am Rücken klebt. Das kann ich ihm unmöglich erzählen oder die daraus resultierenden Gefühle erklären.   Dann denke ich auch an die paar Nächte, in denen wir dicht an dicht darauf warten, dass der Schlaf uns entführt. Das kann ich ihm noch weniger erzählen oder erklären.   "Mit andere Worten, sie ist einfach... die Eine? Sie gesteht dir die Liebe, du hängst mit ihr ab und unterstützt ihre Obsession auf dich, weil sie... die Eine ist?", stammelt mein bester Freund ungläubig.   "Ist das so unglaublich abstoßend? Haben du und Shuichiro sie und mich nicht von Anfang an miteinander geshippt? Ich habe keine Ahnung, was du jetzt hast. Solltest du technisch gesehen nicht froh sein, dass Chika meine Freundin ist?", verstehe ich nicht.   "Alter, glaubst du, ich hätte mich so einen Ast abgefreut, wenn ich nicht wollte, dass ihr beiden ein Paar seid? So ein guter Schauspieler bin ich dann doch nicht.", schnaubt er.   "Gut genug, um mich drei Jahre lang glauben zu lassen, dass wir uns zum ersten Mal sehen und überhaupt keine moralisch verwerfliche Vergangenheit aufweisen, die uns verbindet.", kontere ich.   "Hör zu, ich habe euch miteinander geshippt und ich wollte, dass ihr zusammenkommt. "Kann es sein, dass sie dich einfach davon ablenkt, daran zu denken, wie wenig Selbstvertrauen du in Wahrheit hast und wie introvertiert du bist? Wie du dir selbst und allen etwas vorspielst? Magst du sie vielleicht... deshalb?", stellt Akira diese Theory mit rasiermesserscharfer Stimme auf und ich hätte fast mein Handy gegen die Wand gepfeffert vor Schock.   "Das ist nicht wahr!", keife ich in einer Lautstärke, die ihm mit Sicherheit das Trommelfell um ziemlich viele Millimeter nach hinten jagt.   Ich höre ihn die Zähne knirschen schmerzerfüllt fluchen, von wegen "Wer's glaubt!" und "Boah, ey!". "Tut mir leid, ich... wollte nicht so laut werden.", entschuldige ich mich beschämt. Wieder herrscht Schweigen am Apparat, doch legt er nicht auf, sondern antwortet mir.   "Nein, nein, es war mein Fehler, sowas zu sagen. Aber deiner Reaktion nach heißt es doch, dass ich Recht habe, oder?", meint er gedämpft und ich bin nach wie vor sprachlos. "Na ja, Themenwechsel, wie findest du eigentlich BTS?", netter Versuch, Akira.   "Kyocchi?", jetzt erst wundert er sich über meine Sprachlosigkeit.   "Ich lege jetzt auf.", kündige ich sachlich wie gefühllos an und weil er auch nichts mehr sagt, lasse ich die Drohung wahr werden und trenne die Verbindung.   Es ist schon fast zehn Uhr, ich sollte bald schlafen gehen, oder es zumindest versuchen. Aber ich weiß sowieso, dass ich das nicht tun werde, bei all dem Stoff zum Nachdenken ein Ding der Unmöglichkeit. Liebe ich Chika denn wirklich nur, weil sie mich von all meinen Macken ablenkt, dass ich so introvertiert bin und niemandem gegenüber meine Gefühle schamlos mitteilen kann? Weil sie das komplette Gegenteil meiner in Routine versunkenen monotonen Persönlichkeit ist? Stimmt, es kann sein, dass ich sie anfangst wirklich deswegen liebte, aber ist das denn immernoch so? Bin ich ohne sie aufgeschmissen oder hätte mich vor lauter Langeweile umgebracht, wenn wir uns nicht begegnet wären? Oder liegt es daran, dass ich wegen des alten Hirnschadens nur noch sie habe, die mir hilft, mich wieder zu vervollständigen? Ist sie wirklich nur eine Methode zum Verdrängen für mich? Hat das denn je aufgehört? Kapitel 52: Vol. 3 - "Deredere" Arc: Das Lied vom kaputten Jungen ----------------------------------------------------------------- Die Zeit verging, es ist so schnell so kalt geworden, dass es aussah, als würde das Wetter absichtlich den November überspringen und jetzt sind wir wieder in der Zeit angekommen, in der es überall "weihnachtet" und das Jahr bald vorbei ist. Ich habe immernoch Gewissensbisse, weil ich Akira so angeschrien habe und die Tatsache, dass ich mich noch immer nicht vollständig an die Tragödien von damals erinnern kann, trägt auch nicht gerade zu meiner Zufriedenheit bei. Egal, was ich tue, ich bekomme das, was Akira mir gesagt hat, einfach nicht aus den Kopf. Ohne Vorwarnung erfüllt eine schmerzhafte Hitze meinen Oberschenkel und ich schreie. "Aaaaaaahhhh, Scheiße, Mann!", heule ich auf und starre auf den verschütteten Tee auf meinem Bein. "Ellie, ist alles in Ordnung?!", fragt Chika ganz außer sich und wischt ohne Erfolg die Sauerei auf. "J-Ja, alles bestens, ich... verbrenne mich gerne an Früchtetee.", meine ich sarkastisch und lächle tapfer über den Schmerz hinweg. Erst nach dem Tee-Unfall fiel mir wieder ein, dass ich mit Akira, Kaishi, Chika, Hanako und Uchihara-san in die Karaokebar sitze und in meinen Gedanken meinen Griff um den Becher voller brandheißer Flüssigkeit vernachlässigt habe. Notiz an mich selbst: Nie wieder mit Tee in der Hand zu angestrengt nachdenken. Das Lied, dass Akira gesungen hat, "Wonderwall" für die Neugierigen unter euch, ist damit vorbei und dieser lässt sich neben mich in die Sitzgelegenheit fallen. "Oh Mann, sowas passiert aber auch echt nur dir, Kyocchi...", findet er kichernd und gibt mir eine Nackenschelle. Selbstironisch lache ich mit. "Hey, ihr beiden, es ist übrigens Failman-san an der Reihe.", gibt uns Kaishi Bescheid und auch er kann sich ein Schmunzeln über meine Tollpatschigkeit nicht verkneifen. "Yay!", freut sich Chika und tritt vor. "Ich hoffe, bald kommt der Tag! Ich bin zum Kämpfen bereit, werdet schon seh'n! Ich hoffe, alles wird gut, wir werden uns wiederseh'n! Ich geb' die Hoffnung nicht auf, dass alles wieder so wird, wie es einmal war! Wir bleiben Freunde, die die größten Abenteuer bestehen! Ich glaub's daran!" Wir applaudieren und Chika verbeugt sich theatralisch, bevor dann noch Uchihara-san "Cruel Angel Thesis" singt und es bald Zeit für den Heimweg wird. Während Akira sich bei Mir einharkt und gespielt seiner verlorenen Stimme nachtrauert, sind meine Gedanken noch immer bei dem Lied, das Chika vorhin gesungen hat. "Mimi's Song" von Digimon Adventure, ich liebe diesen Anime, seit ich..., nein vergiss es, das ist eine andere Geschichte. Irgendwie hat es sich angefühlt, als würde es meine Situation sehen und mir Mut zusprechen, aber ich merke schon wie absurd das klingt, für Kitsch habe ich schließlich schon immer ein Händchen gehabt. Die Wochen, okay es waren drei, zogen an mir vorbei und ich verbrachte mein Leben in einem Trance-Zustand, ich weiß nicht warum, aber hin und wieder höre ich einfach auf, mich beteiligt zu fühlen. Wiederkehrende Apathie. Es kommt selten vor, aber wenn, dann fühlt es sich an, als hätte ich meine Seele ausgeatmet. Ich erledige alles, was ich eben tun muss, ohne dass einem irgendein Unterschied auffällt, nur bin ich geistig abwesend. Und gleichzeitig sehe ich alles. Ich habe Chikas Nachdenklichkeit nicht aus den Augen gelassen. Und ihre kommenden und gehenden Krankheitstage habe ich bald zu kommentieren aufgehört, ich weiß nicht, irgendetwas hindert mich daran, Hilfe zu holen und sie zu einem Arzt zu bringen. Aber die gute Nachricht ist, dass ihr gelegentliches Fieber und was sonst wenigstens nicht schlimmer wird, dafür bin ich dankbar. Jetzt sitzen wir, Taiyo, Chika und ich im Zug auf dem Weg, die Weihnachts -und Silvesterzeit bei unseren Eltern zu verbringen. Chika ist an meiner Schulter eingeschlafen und Taiyo liest tatsächlich ein Buch. Außer den Studienbüchern fässt er fast nie welche an, deshalb bin ich dementsprechend überrascht. Aber vielleicht ist das auch nur so, weil Hanako sein Handy immernoch nicht rausgerückt hat. Mir ist ebenfalls nicht entgangen, dass auch Hanako noch neben der Spur ist, das arme Ding. Ich würde ihr wirklich gerne helfen, aber das gleiche gilt für Akira und den ganzen Rest, ich will überall helfen, kann es aber nirgendwo, das ist echt tragisch. Chika murmelt etwas, rutscht dabei mit dem Kopf ab und landet anschließend in meinem Schoß. Irgendwann gewöhnt man sich an den plötzlichen Körperkontakt mit ihr deshalb erschreckt es mich nun nur zur Hälfte. "Ich hab dir gesagt, du darfst mir Ellie nicht wegnehmen, der ist mein Lebensinhalt...", brummt sie im Schlaf. Lebensinhalt? Chika, was träumst du die da zusammen? Die Vorstellung davon, dass Chika mich als ihren Lebensinhalt sieht, macht mich nämlich mehr als nur verlegen. "Sie scheint sich echt zu lieben, was, Elvis?", stellt Taiyo, der sein Buch beiseite gelegt hat, fest. "Scheint so.", bestätige ich und lächle ohne den Blick von ihr abzuwenden. Ich kann mich nicht daran hindern, ihr die Haare aus dem Gesicht zu streichen, um sie besser mustern zu können. Sie ist wirklich süß, manchmal frage ich mich wirklich, ob ich sie verdient habe. Und warum wir uns von Anfang an so vertraut waren, ich habe sie mit Vornamen angesprochen und sie fand nichts daran seltsam, ich habe alles getan, damit sie nicht wegläuft und meinetwegen weint, bei dem Gedanken daran, sie so nach Hause gehen zu lassen, habe ich sogar selbst eine Träne vergossen. Ich frage mich, was ich wirklich für sie empfinde. "Wie geht es eigentlich Hanako?", fragt Taiyo aus heiterem Himmel und ich bin zurück im Geschehen. "Sie... ist immernoch etwas hinterm Mond drauf, auch wenn sie es nicht zeigt. Ich glaube, sie will dich wirklich nicht verlassen müssen, nur... Du weißt schon.", gebe ich es auf, die Lage zu erklären. "Verstehe.", meint er nur. "Sag mal, Elvis, gehst du vielleicht fremd?", wieder so eine Frage, was ist bloß los mit ihm? "Was? Nein, was denkst du denn?", will ich ziemlich gereizt wissen. Das mit Akira war eine einmalige Sache und damit Basta, ich habe das so nie gewollt, ich kann Leute, die betrügen, nicht ausstehen und habe nicht vor, einer von ihnen zu werden. "Nur so ein Gedanke, ich meine... du wirkst nicht mehr so unschuldig wie damals als du bei mir eingezogen bist und auch sonst...", grübelt Taiyo laut, der die Auswirkungen der Pupertät mit zweiundzwanzig anscheinend immernoch nicht verstanden hat. "Na hör mal, ich bin doch auch fast volljährig, als ich angekommen bin, war ich fünfzehn, das ist doch wohl ein Unterschied...", rechtfertige ich mich pikiert. "Das meine ich nicht, ich meine seit dem Tag, an dem ich bei Hanako übernachten war und du allein zu Hause warst. Seitdem strahlst du irgendwie etwas Seltsames aus. Hast du an dem Tag vielleicht gelernt, wie man sich einen runterholt?", was zur Hölle, Mann?! Taiyo, hier sind noch andere im Zug! "Sag mal, geht's noch?! Nein! Und hör auf, mir solche Fragen in einem öffentlichen Verkehrsmittel zu fragen, du Depp!", schimpfe ich spürbar errötet und verschämt, immernoch darauf achtend, Chika nicht mit meiner Stimme aufzuwecken. "Ist ja gut, man würde doch wohl fragen dürfen...", entschuldigt er sich auf seine Art und hebt abwehrende die Hände, als hätte ich ihn bedroht, auch wenn das, was das angeht, wohl eher er getan hat. "Worauf willst du hinaus?", schneide ich nach der Eskapade von vorhin, wieder ein einigermaßen vernünftiges Gesprächsthema an. "Ach, das kann man nicht so leicht erklären, verstehst du? Wenn du sagst, dass du sie nicht betrügst, will ich dir wirklich glauben, auch wenn ich dich immer weniger zu verstehen glaube als vor zwei, drei Jahren, im Krankenhaus, als... Nein, tut mir leid, ich... weiß, dass wir darüber nicht reden.", er scheint den Faden erneut verloren zu haben. "Komm zum Punkt.", versuche ich ihn ungeduldig zum weiterreden zu motivieren. "Was ich eigentlich sagen wollte, ist dass ich der Letzte wäre, der es ertragen würde, Chika denselben Schmerz durchleben zu sehen, den ich gefühlt habe. Es ist so scheiße, hintergangen zu werden, das glaubst du gar nicht.", kommt er endlich zu dem Punkt und sieht mich ernst an, das Buch wieder in Angriff nehmend. Wieder habe ich keine Ahnung von den Gefühlen der anderen. Mir wird klar, dass ich niemand mehr freiwillig an meiner Seite sein wird, wenn ich auspacke und der Welt zeige, dass ich genau der Abschaum bin, von dem sie reden und mich beschützen wollen. Wenn ich mich öffne, die Sache mit Akira reicht, habe ich keinen mehr, der mir das verzeiht. Niemand darf jemals von meinem wahren Gesicht erfahren. Kapitel 53: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Trauter Heim, Glück allein. -------------------------------------------------------------- Wir sind bald da. Der Zug steht in wenigen Minuten still und ich wecke Chika sanft aus ihren Schlaf. Sie hat auf mein Bein gesabbert. "Du kannst mich hier doch nicht in Stich lassen, wir haben den Endboss noch nicht besiegt und die Prinzessin nicht gerettet...", murmelt sie, richtet sich auf und sieht mich mit verschlafenen Augen an. "Der Prinzessin geht es bestimmt super.", sage ich amüsiert über diesen Anblick. "Na, wenn du das sagst.", gibt sie sich mit der Antwort zufrieden und grinst. Ihr Blick fällt auf meinen angesabberten Oberschenkel und sie sie guckt beschämt auf ihre Füße. "Passt schon, das kann jedem passieren, sabbern nicht alle mal im Schlaf?", beruhige ich sie und ihr Blick hebt sich wieder. Jetzt hält der Zug wirklich an und wir nehmen unser Gepäck in die Hand, um ihn zu verlassen. Immer wenn ich an diesem Bahnhof bin, fühle ich mich, als würde ich in der Vergangenheit verloren gehen, als wenn sie mich verschluckt, wenn ich ihr zu nahe komme. Dass ich hier bin kommt mir vor wie ein Déja-vu der Nacht, in der ich geflohen bin, um meinen wahren Ursprung zu erfahren. "Hey, schau mal, Ellie! Es schneit!", ruft mir Chika zu und mir fällt es jetzt auch auf. Diesmal sind die Flocken besonders groß, sonst sind sie immer auf dem Boden dahingeschmolzen oder es war einfach bloß kalt und ohne Schnee, aber jetzt scheint es richtig zu schneien. Ich freue mich und fange ein paar mit meinen in Handschuhen verpackten Händen auf. Es wird bestimmt noch kälter werden, denke ich und erwische Taiyo dabei, wie er an einer Straßenlaterne mit der Zunge klebt. Ich kichere, als er vor meinem geistigen Auge die ganze Straßenlaterne mitsamt Stromanschluss ausreißt und mit zu dem Haus unserer Eltern schleift, weil er sie nicht mehr abkriegt. "Lass uns weitergehen, bevor sich Mama und Papa noch Sorgen machen, wo wir bleiben.", schlage ich kichernd vor und Chika ist sofort wieder an meiner Rechten, während Taiyo tatsächlich ein Weilchen braucht, um seine Zunge vom Stahlrohr zu entfernen. "Hach, Kinder, wie schön, dass ihr wieder hier seid, wirklich!", überschwänglich und umarmt Taiyo und mich herzlich. Mein Vater gesellt sich ebenfalls zu der großen Umarmung, ehe deren beider Blick auf Chika und meine Hände fällt. Ich habe vergessen zu erwähnen, dass Chika meine Hand bis jetzt gehalten und nicht losgelassen hat. "Ist das deine Freundin, Elvis?", fragt meine Mutter und grinst schelmisch. Ich zögere kurz, doch dann grinse ich ebenfalls und sage: "Ja. Ja, das ist sie." "Chika Failman also, das ist ein eigenartiger Name, bist du vielleicht Amerikanerin?", will mein Vater wissen und Chika schluckt so schnell wie möglich runter, um zu antworten. "Meine Mutter war es und weil mein Vater seinen Vornamen loswerden wollte, heiße ich jetzt so.", erklärt sie wie aus der Pistole geschossen, auch wenn die Umschweife nicht unbedingt hätte sein müssen. "Amerika... Wo genau?", fragt meine Mutter und so langsam finde ich, dass sie Chia ruhig weniger löchern könnten, im Ernst, das ist doch kein Interview. "Philadelphia meinte sie. Und irgendwas mit Lateinamerika, ehrlich gesagt weiß ich es selbst nicht so ganz...", gesteht sie etwas peinlich berührt. Und wieder wird der Esstisch von einer unangenehmen Stille ummantelt, sehr erdrückend für Weihnachtsverhältnisse. Es ist doch immernoch der Vierundzwanzigste und morgen scheint die Bescherung anzustehen, will denn keiner ein Wort über den kitschig aber doch irgendwie schönen Tannenbaum verlieren? Das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das Werk meiner Mutter, bei all den Serien, die sie guckt und den Büchern, die sie liest muss alles genau so aussehen, wie man sich einen positiven Stereotypen vorstellt. "Was sollen wir die Tage denn eigentlich unternehmen? Wir bleiben ja bis Neujahr.", ist jetzt Taiyo mit reden dran, um Himmels Willen, schluck verdammt noch mal runter! "Hhhhhmmm, weiß nicht, vielleicht könnten wir mal... Ähm... Mir fällt nichts ein.", gibt meine Mutter auf, nach Ideen zu suchen, ich hab sie ja lieb, aber hab ich erwähnt, das sie eine echte Trantüte sein kann? "Vielleicht könnten wir uns mal wieder bei Oma und Opa blicken lassen...", warum habe ich das gesagt?! Verdammt. Versteh mich bloß nicht falsch, ich hege keinen Groll gegen unsere Großeltern, aber jedes Mal, und damit meine ich die ganzen fünf Male in meinem Leben, in denen ich sie zu Gesicht bekommen habe, ist Opa so komisch zu mir. Vielleicht liegt es daran, dass es Mamas Eltern sind und sie Keita nicht mochten oder so, aber er macht mir wirklich ziemlich Angst. Manchmal ist mein Mitgefühl eben größer als mein Überlebensinstinkt und hiermit, meine Damen und Herren, hat sich Elvis Kyokei ans eigene Bein gepisst, Gratulation an mich selbst! "Stimmt, wir haben unser Lebenszeichen an sie in den letzten drei Jahren sträflich vernachlässigt, sie wären bestimmt froh, dich wiederzusehen, nachdem... Na ja, wie auch immer, diese Idee ist großartig!", lenkt Mama von dem zuletzt angefangenen Satz ab und lobt mich. Ich weiß genau, was sie sagen wollte. Nachdem meine Großeltern mich in diesem erbärmlichen Zustand gesehen haben, im Krankenhaus, mit schwerer Gehirnerschütterung, etlichen Knochenbrüchen und geringen Überlebenschancen, als ich vorher fast gestorben bin. Damals konnte ich natürlich nicht sofort wissen, dass es sich bei dem unbekannten alten Ehepaar in meinem Zimmer, welches mich bemitleidend und betrübt ansieht, um meine eigenen Großeltern handelt. Ein weiterer Grund, weshalb ich ihnen nicht direkt in die Augen sehen kann, weil ich in ihren alten Gesichtern irgendwo immernoch dieses kleine Fünkchen Mitleid in ihrem Blick sehe und Opa es mit seinen paranoid dreinschauenden Alderaugen auf mich auch kein bisschen besser macht. "Ich dachte, du hättest Angst vor Opa.", erwidert Taiyo. "Ich habe KEINE Angst vor ihm! Er ist bloß echt... speziell.", versuche ich mich rauszureden doch schaffe es nicht. "Na wenn du das sagst...", macht sich nun auch mein Vater über mich lustig. "Maaaaann, ich bin ungelogen der Einzige von uns Vieren, den er so anstarrt, im Sinne von "weißt du mit siebzehn denn etwa immernoch nicht, wie man mit einer Sniper Elite V2 abfeuert?". Habt ihr 'ne Ahnung wie sich das anfühlt?", knirsche ich etwas angefressen. "Also ich weiß wirklich nicht, was du hast, Elvis.", entgegnet meine Mutter. Du bist auch seine Tochter. "Ich geb's auf, niemand versteht mich.", stöhne ich und lasse das Gesicht in meine Handflächen sinken. "Ich steh dir bei, Ellie.", leistet mir Chika im Unverständnis Gesellschaft. "Pff, Teenager.", kichert Taiyo, den ich fast vergessen habe, aber nein, den doch nicht. "Aaaaaaahhhh, ich bin am Ende...", maule ich, wieder stöhnend, bevor meine Mutter die Situation rettet und ein neues Thema abschneidet. "Wie habt ihr zwei euch denn kennengelernt?", lautet ihre erste Frage. "Schule.", antworten wir beide zeitgleich. "Und wie lange seid ihr schon zusammen?", feuert sie die zweite ab. "Seit ein bisschen mehr als einem Jahr, im Krankenhaus, oder?", sucht Chika meine Bestätigung. "Ja, ich glaub, das haut hin.", hier ist sie, Chika, danke der Nachfrage. "Das Krankenhaus scheint dich ja magisch anzuziehen, hehe...", giggelt Taiyo und dass ich es nicht leugnen kann, gibt ihm nur noch mehr Zuspruch. "Taiyo, das ist nicht witzig!", weist ihn unser Vater zurecht. "Aber warum denn nicht? Muss er nicht lernen, über sich selbst zu lachen oder so?", er scheint das alles nicht ganz so engstirnig zu sehen wie meine Eltern es tun, meine Mutter äußert sich überhaupt nicht dazu. "Hach, du bist unverbesserlich, junger Mann. Wirklich.", seufzt er. Dazu fällt Taiyo dann nichts mehr ein. Anscheinend wissen wir alle, warum Witze in Verbindung mit mir und dem Krankenhaus nicht angebracht sind. Das Mittagessen ist hiermit beendet und ich zeige Chika das Zimmer, in dem wir die ganze Woche über schlafen werden. Chika nutzt die Gelegenheit, um in mein Bett zu springen und darüber zu staunen, wie steinalt es doch ist. Ohne zu wissen warum, blitzt wieder das Gespräch mit Akira in meiner Erinnerung auf und diese eine Frage taucht schon wieder vor meinem geistigen Antlitz auf. Was empfinde ich wirklich für Chika? Kapitel 54: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Rendezvous von Nostalgie und Zeit -------------------------------------------------------------------- "Hast du genug Sachen für die Woche eingepackt?", frage ich vorsichtig, nachdem Chikas Begeisterung für das Bett langsam wieder in den Normalzustand gefunden hat. "Klar doch, ich habe sogar etwas übertrieben für Notfälle und so.", meint sie grinsend. "Wir haben übrigens auch eine Waschmaschine.", merke ich an, was für Notfälle sind das denn, in denen sie die Sachen für eine Woche nicht mehr anfassen kann? "Oh, daran habe ich gar nicht gedacht. Dann hätte ich theoretisch eine Woche lang dasselbe anziehen können.", fällt ihr auf und sie schaut gen Zimmerdecke. "Wie gut, dass du das nicht gemacht hast.", rate ich ihr davon ab, lasse mich neben ihr aufs Bett nieder und drücke sie an mich. Diese und weitere Gesten gehören einfach dazu, ich mag es, sie zu berühren, schließlich bin ich ihr Freund, aber darf ich das denn noch, nachdem ich Akiras Theorie gehört habe? Manchmal wünsche ich mir wirklich, nicht unbedingt auf alle Fragen eine Antwort finden zu müssen, kann nicht einfach alles bleiben wie es immer ist? Nein, und das weiß ich selbst besser als alles andere, wenn ich meine Erinnerungen nicht zurückbekomme, finde ich sonst vielleicht nie wieder Frieden. "Ich bin froh, dass du mitgekommen bist.", erwähne ich nach angenehmen Schweigen, ein ziemlich seltenes Schweigen, wenn du mich fragst. "Ich auch. Ich wollte... gerne mehr über dich und deine Familie erfahren. Deshalb war ich so glücklich als du mich hierher eingeladen hast, Ellie.", antwortet sie mir und lehnt wie so oft den Kopf an meine Schulter. "Kannst du deinen Opa denn etwa wirklich nicht leiden?", will sie mit unveränderter schläfrig-ruhiger Stimme wissen. Du fragst Sachen, Mensch, darauf war ich nicht gefasst. "Ich hasse ihn nicht. Irgendwo mag ich ihn schon, aber er... ist so seltsam analytisch zu mir und guckt mich so an, als ob ich irgendwelche Voraussetzungen erfüllen müsste und das nicht tue. Meinen Vater sieht er übrigens auch so an, nur nicht halb so intensiv wie mich. Ich glaube er ist mit dem Mann, den meine Mutter geheiratet hat, nie vollständig zufrieden gewesen.", schütte ich ihr mein Herz aus. So ehrlich im Bezug auf Opa bin ich noch nie gewesen. "Vergangenheitsform?", flüstert sie und das Fragezeichen in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Sie bemerkt, dass sie einen wunden Punkt getroffen hat und rutscht sofort von mir ab. "Tut mir leid. Ich wollte nicht-", "Ist schon okay, in Wahrheit ist er mein Stiefvater. Und Taiyo mein Stiefbruder. Die beiden, die ich jetzt meine Eltern nenne, sind nicht verheiratet, sondern haben nur die Nachnamen angepasst.", erkläre ich und Chika blickt immernoch betrübt drein. "Trennungen sind furchtbar.", sagt sie fast unhörbar leise, doch in dem Glauben kann ich sie nicht lassen. "Sie haben sich nie getrennt. Mein richtiger Vater ist vor meiner Geburt gestorben.", korrigiere ich und höre selbst, wie mein Tonfall in der Skala der Unbefangenheit mehrere hundert Grad in den Minusbereich stürzt und ihn bitter klingen lässt. Chika schlägt die Hand vor den Mund und ihre Augen sind weit aufgerissen, von mir abgewandt und sprachlos sitzt sie da neben mir. Ich nehme ihre andere Hand in meine und sehe sie an. "Hey, es war mein Fehler. Ich habe dir die alten Geschichten aufgetischt, ohne dich zu fragen, ob du es wissen willst. Es ist nicht deine Schuld, hörst du?", rede ich auf sie ein und bereue, sie da mit reingezogen zu haben. Sie sieht zu mir auf und setzt gerade dazu an, einen neuen Satz anzufangen, da hören wir durch das geschlossene Fenster ein ziemlich lautes Jammern. Nein, das ist kein Jammern, das ist das Miauen einer Katze. "Ich geh mal nachsehen.", kündige ich an und stehe auf. Sie tut das Gleiche und hält immernoch meine Hand. "Ich komme mit.", die Entschlossenheit in ihren goldbraunen Augen lassen die Schuldgefühle von vorhin die Flucht ergreifen und zusammen bewegen wir uns zur Quelle des Miauens. Im Garten, in dem ich vor ein paar Monaten campiert habe, befindet sich eine ziemlich alt aussehende graue Langhaarkatze. Ihr Miauen klingt ein wenig sonderbar, wie ein mürrischer Rentner. Die Katze kommt näher und streift mein Bein von allen Seiten, umkreist es, reibt sich dran und setzt sich anschließend auf meine Füße. "Aaaawww, sie mag dich Ellie...", erkennt Chika, kniet sich in die schneebedeckte Erde und streichelt das graue haarige Ungetüm. In dem Moment rieselt eine ziemlich warme und bissig riechende Suppe zwischen meinen Zehen hindurch auf meine Fußsohle. "Uuuaaahhhh, das Vieh hat mir auf die Füße gepinkelt!", schimpfe ich und die Katze läuft, als wenn nichts wäre, in Richtung Haustür und kratzt an ihr. "Da kommst du aber nicht rein!", rufe ich hinterher, aber die Tür wird bereits geöffnet. "Kaguya, du bist zurück! Armes Kätzchen, du hast immernoch keine Katzenklappe, aber keine Sorge, ich kümmere mich bald darum.", was macht meine Mutter da mit der Katze? Als würde die Katze hier wohnen. Warte, was?! "Elvis, Chika-chi, was macht ihr denn hier draußen?", fragt sie und ihr Blick fällt nun auch auf uns. "Das Ding hier hat mir gerade auf die Schuhe uriniert!", bemerke ich immernoch aufgebracht, ich Idiot hätte im Dezember wohl besser doch keine Sneakers anziehen sollen, genau für Situationen wie diese... "Warte, ihr habt euch 'ne Katze gekauft?", jetzt kommt auch Taiyo an die Türschwelle und das Haustier unterzieht sich noch ein weiteres Mal einer Streicheleinheiten, ehe er es hochhebt. "Oh mein Gott, die erinnert mich so sehr an Wurstfach...", findet er wehmütig und ich sehe auch aus der Entfernung, wie seine Augen glänzen. Wurstfach, die Katze, die für kurze Zeit bei Taiyo und mir untergekommen ist, wenig später nach meinem Eintreffen. Ich fand den Namen schon von Anfang an furchtbar für eine streuende Katze, aber Taiyo hat es jedesmal aufgemuntert, wenn es eine Gelegenheit gab, seinen Namen zu erwähnen, er war richtig stolz auf das Ding. Und dieses Ding machte seinem Namen wirklich alle Ehre, denn es hieß nur so, weil es an der Jagdwurst-Verpackung geschnuppert hat, als wir die Einkäufe noch nicht in den Kühlschrank verstauten. Er hat diesen Kater wirklich geliebt. Und umso trauriger war er als sie eines Tages vor unseren Augen überfahren wurde. Er war eine Woche lang völlig weggetreten, ich habe ihn selten so viel und lange weinen sehen, war eine echt schlimme Sache. Klar, eine Woche lang dieselbe Person weinen zu hören kann verständlicherweise echt nervig sein, aber es ist immernoch Taiyo und so sensibel wie der Typ sein kann, kann man ihm sein Rumgeflenne um eine Katze nicht verübeln. "Taiyo-Schatz, weinst du etwa?", meine Mutter dreht sich zu ihm und er tut es wirklich. "N-Nein... Ich doch nicht, komm, Kaguya, wir gehen!", schluchzt er und weg ist er auch. "Was hat er denn nur?", jetzt sieht sie mich an, stimmt, das habe ich ihr noch gar nicht erzählt. "Alle Katzen erinnern ihn an Wurstfach.", erkläre ich kurz und knapp. "Wie kann er nur unsere süße Katze mit einem Wurstfach vergleichen?!", entsetzt starrt sie in die Richtung in die Taiyo geflohen ist. "Natürlich kein richtiges Wurstfach, sein Kater hieß so. Wurde überfahren, war echt schlimm für ihn.", gehe ich nun noch mehr ins Detail. "Ach so... Das tut mir sehr leid. Ich dachte nur. Ich habe ihn natürlich sehr gern, aber sein Talent für Namensgebung lässt wirklich zu wünschen übrig.", sie ist nicht nur eine Trantüte, sondern auch noch schmerzhaft ehrlich, irgendwie ist das einfach ihr Markenzeichen. "Stimmt wohl.", stimme ich zu und lächle, obwohl ich die Katzenpisse in meinem Schuh immernoch spüren kann, boah, ist das eklig. Ich habe das Gefühl, seit der Sache mit Keita einen besseren Draht zu meiner Mutter zu haben, auch wenn irgendwas an ihr und allem, das uns umgibt, mir sagt, dass das letzte Wort noch längst nicht gesprochen ist. Hier bin ich wieder, einen Tag später, nach der Bescherung, meine Eltern haben tatsächlich noch etwas für Chika besorgt, das neueste Album von Aqours. Taiyo hat endlich die Switch bekommen, die er sich gewünscht hat, nach knapp drei Jahren Release musste sis nun irgendwann mal her. Ich habe die Bücher von The Walking Dead bekommen, irgendwie wusste ich dieses Jahr nicht, was ich mir wünschen soll, ich habe das Gefühl als ob mir jedes Jahr weniger einfällt als im Jahr davor. Meine Mutter hat einen Akatsuki-Bademantel von meinem Vater bekommen, irgendwie perfekt für so einen langjährigen Fan wie sie. Mein Vater hat die komplette erste Staffel von den Simpsons von ihr bekommen, jetzt sind wir alle für für die eine oder andere Träne der Nostalgie gewappnet. Jetzt bin ich wieder in meinem Zimmer und lese The Walking Dead während Chika wider meiner Erwartung, die brandneuen Lieder zu hören, die alten hört, die nicht dieses Jahr geschweige denn diesen Monat rauskamen. "Unser LIVE-LIFE mit dir" von dem Vorgänger Muse, das scheint ihr Lieblingslied von diesen Idols zu sein. "Du scheinst LoveLive! echt zu mögen, was?", ich merke mir die Seite im Buch, lege es beiseite und mich selbst der Länge nach aufs Bett. "Ja. Sie sind wirklich unglaublich. Ich würde so gerne mal Emitsun treffen.", schwärmt sie und legt sich neben mich. Für alle die es nicht wissen, Emitsun ist der Spitzname für Emi Nitta, der Synchronsprecherin von Honoka Kousaka, dem Leader von Muse. Wer einen LoveLive!-Fan zur Freundin hat, erfährt die Insider irgendwann wie von selbst. Wir sehen einander einfach nur an. "Hey, Ellie. Sollen wir ausgehen?", fragt sie mich zaghaft. "Klar, wo willst du hin?", antworte ich mit einer Gegenfrage, ohne den intensiven Augenkontakt mit ihr zu unterbrechen. "Einfach Rumlaufen wär schön.", meint sie. Das Lied geht vorbei und wechselt zu einem Sub-Unit-Song namens "Die Vorahnung, die der Winter mir gab", passend zu dieser kalten Jahreszeit. "Lass uns nachher gleich aufbrechen.", flüstert ich und komme näher. "Ja...", haucht sie und legt die Arme um mich wie ich um sie. Ehe ich mich versehe, verlieren wir uns in einer wilden Knutscherei, aus der wir so voller Leidenschaft nur schwer wieder rauskommen. Das war ein schönes Weihnachtsdate. Es war schön, einfach herumzualbern und nicht an all die Probleme und Sorgen zu denken, die ich in letzter Zeit mit mir herum trug. Nun liege ich mitten in der Nacht in der Badewanne und denke nach. Dieses Weihnachten ist besonders schön, weil Chika dabei ist. Aber ich frage mich, wie und wo sie vorher gefeiert hat, wo ich doch so gut wie überhaupt nichts über ihre Familie und ihre Vergangenheit weiß. Nur dass ihre Mutter Halb-Latina ist und aus Philadelphia kommt, mehr weiß ich nicht. Wir sind durch den Friedhof gegangen. Ich kann immernoch nicht glauben, dass ich Keitas Grab begegnet bin. Chika ist ebenfalls an einem der Gräber mit dem Blick hängengeblieben, Sayaka Tojo, wenn mich nicht alles täuscht. Sie schien nicht viel älter zu sein als wir, als sie starb. Für die paar Sekunden, in denen sie Tojo-sans Grab anstarrte, sah es aus als wenn sie Todesangst hätte. Aber es war zu kurz, um so etwas in der Art zu erkennen, sie ist sofort wieder mit mir weitergegangen und da war es, Keitas Grab. Anscheinend wollte meine Mutter, dass er dort begraben wird, wo sie selbst gelebt hat, vielleicht dort, wo ihre Liebe einst angefangen hat, vielleicht sollte sie dort auch enden. Ich habe es irgendwo noch immer nicht ganz verkraftet. Wo ich ihnen doch versichert habe, dass es heilt, dauert dieser Heilprozeß denn wirklich derart lange? Ich habe ihnen kein Zeitlimit gegeben, aber... wieso fühlt es sich so an, als könnte es nicht heilen, weil es nicht die ganze Wahrheit ist? Dieses Gefühl, dass noch etwas Entscheidendes fehlt, wie lange ist es schon da? Und warum bin ich mitten in der Nacht Baden? Man kann besser schlafen, wenn man gebadet hat. Ich konnte es nicht. Nur deshalb bin ich hier. Und vielleicht, weil ich mich seit der Sache mit Akira Chika gegenüber geniere. Das Wasser fängt an, weniger heiß zu werden, merke ich und schaue durch die Wasseroberfläche auf die Narbe und die Stiche, die auf meinem Bauch hinterlassen wurden. Ich kann nicht sagen, dass ich überhaupt nicht gewusst habe, warum ich im Krankenhaus lag, wieso ich nach meinem Aufenthalt dort diese Narbe davontrug, aber ich wollte erst gar nicht daran denken, dass ich mich eventuell selbst umzubringen versucht habe. Habe es verdrängt und war verdammt gut darin. Warum scheint Chika von der Narbe zu wissen und wieso wusste Akira es nicht? Und wie kann es sein, dass ich mich seit Jahren erst daran zu erinnern beginne? Vorsichtig, als könnte ich die Wunde mit der kleinsten Berührung wieder aufreißen, fahre ich drüber. Jedesmal wenn ich das tue, schockt es mich, wie tief das Ding gewesen sein muss. Obwohl ich in diesen vernarbten Stellen fast kein Gefühl mehr habe. Ich steige aus der Wanne, lasse das Wasser raus und trockne mich ab. Ich fühle mich erfrischt, aber wirklich schlafen will ich immernoch nicht. Vielleicht hilft es ja, wenn ich etwas trinke, denke ich und schleiche barfuß im Schlafanzug und einem Handtuch auf den Schultern die Treppen runter. Am Esstisch steht eine angezündete Kerze und Tee. Und am Esstisch sitzt meine Mutter. "Mama?", verwundert komme ich näher, um ihren Gesichtsausdruck besser deuten zu können. "Abend Sohnemann.", flüstert sie und starrt auf die Flamme. "Willst du mir vielleicht Gesellschaft leisten oder Tee?", fragt sie geistesabwesend. "Mama, was um alles in der Welt machst du um diese Uhrzeit hier?", in dem Augenblick habe ich schwören können, förmlich zu spüren, dass es noch so vieles mehr gibt, dass sie mir noch nicht gesagt hat. Dass die Zeichen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist, allgegenwärtig sind. Kapitel 55: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Die Geschichte einer anderen Welt Teil 1 --------------------------------------------------------------------------- "Ich bin hier, weil ich nicht schlafen kann. Ich mache das oft, weißt du?", ihre Stimme klingt zittrig, als wäre sie nicht wirklich anwesend, als wäre ihr Körper nur noch eine Hülle, eine Marionette gesteuert von einer fremden Person. Diese Seite meiner Mutter habe ich zuvor noch nicht gesehen. Schließlich war ich entweder noch ein Kind, das nachts nie das Zimmer verließ oder ein fünfzehnjähriger Amnesie-Patient, der allein mit seinem Bruder weit weg von den Eltern lebt. "Aha.", unbeeindruckt hole ich mir ebenfalls eine Tasse und fülle sie mit Tee, vielleicht bekomme ich dann ja doch noch die Antworten auf die Fragen, die ich noch nicht einmal zu bilden geschafft habe. Ich weiß noch nicht mal, was ich an all dem nicht verstehe. "Kann es sein, dass die Geschichte mit Keita noch etwas tiefer geht?", komme ich gleich zur Sache. Die Augen meiner Mutter weiten sich und sie verschluckt sich fast an ihrem Tee. Das heißt dann wohl Ja. "Ich kam nicht dazu, dir zu sagen, was noch vorher, vor unserer Hochzeit, unserem Erwachsenenleben geschehen ist, weil du doch nur wissen wolltest, wer wirklich dein Vater ist. Ich wollte es dir noch sagen, aber... du warst so aufgelöst in dem Moment, während du es gelesen hast,... sahst du aus, als würdest du nie wieder zu mir zurückkehren wollen. Ich... Ich hatte Angst. Angst, dass wenn du merkst, dass es noch mehr in der Vergangenheit gibt, dass zu schrecklich ist um wahr zu sein, du vielleicht wieder etwas tust, dass dich umbringen könnte. Ich... wollte dich nicht auch noch verlieren, das... hielt ich nicht aus.", sie weint nicht, es klingt so erstickt als wenn ihr die Luft zum Atmen fehle, aber sie widersteht dem Druck in ihrem Inneren. "Verstehe.", meine ich. "Du hast Angst, dass ich mich vor lauter Schock umbringe? Ich habe mich nach drei Jahren wieder daran erinnern können, das habe ich vergessen zu erwähnen, ich weiß jetzt, wieso ich im Krankenhaus lag und alles vergessen habe. Du hast keinen Grund mehr, mir etwas vorzuenthalten, Mama. Sei einfach ehrlich.", beruhige ich sie und nehme auf einen Schluck. "Okay. Du erfährst gleich alles über meine Familiengeschichte und meine Zeit in der Oberstufe. Die Zeit, in der dein Vater und ich uns kennengelernt haben, es gibt Dinge aus der Vergangenheit die dauern noch immer bis in unsere Gegenwart hinein an, es ist besser, wenn ich es dir sage, bevor du dich erneut von mir und der Menschheit hintergangen fühlst.", kündigt sie an und trinkt die Tasse auf Ex leer. "Seit ich denken konnte, war ich immer das hübsche niedliche Mädchen, das aber wenn es in einer Beziehung wirklich drauf ankam, eine Enttäuschung war. Erst waren sie fasziniert von meiner Niedlichkeit, wie sie immer zu sagen pflegten, doch dann wurde ihnen meine Naivität und fehlende Willenskraft doch zuwider. Ich war ihnen nicht stark genug und wurde schlussendlich nur noch die unantastbare Schönheit aus dem zweiten Jahr. Jeder spielte mit mir, weil ich nicht gut genug für eine Beziehung aber hübsch genug für einen Flirt war. Es war ein Segen und ein Fluch gleichzeitig, eine Hassliebe. Ich wusste nicht mehr wohin mit mir, keiner schien es mit mir aushalten zu können, noch nicht einmal meine eigene Familie. Von meinen Eltern wurde ich stets geliebt und umsorgt, sie waren stolz auf eine solch... hübsche und in der Schule so erfolgreiche Tochter, sagten sie, aber es fühlte sich nie so an, als ob ich es tatsächlich verdient hatte, dafür bekannt zu sein. Ich lebte in den Tag hinein und versuchte, niemanden zur Last zu fallen. Denn selbst wenn es sonst niemanden gab, der krankhaften Neid oder Hass auf mich verspürte, gab es jemanden, dem war ich mehr als jeder andere Mensch auf dieser Welt zuwider. Dieser jemand war meine große Schwester Shizuku Shizuhara. Meine Eltern schimpfen dauern mit ihr, sie war schlecht in der Schule und selbst ich, die ein Jahr unter ihr war, hatte gesehen, wie unbeliebt sie wirklich war. Sie war völlig kaputt, nur ich wusste, wie Onee-sama wirklich fühlte und dafür hasste sie mich. Im einen Moment war sie so nett und lustig, hatte mir liebevoll die Haare gekämmt und im nächsten war ich die Erste, die ihren Zorn zu spüren bekam, sie schrie mich an, drohte mir, tat mir weh und ich ließ alles über mich ergehen. Das war nicht meine Schwester, diese beiden Seiten widersprachen sich so offensichtlich, dass ich nicht wusste, wer von ihnen ihrer wahren Natur entsprach. Ich liebte die nette Onee-sama, die mir sagte, dass ich so bleiben solle wie ich war und dass sie mich beschützte, wenn mir jemals einer blöd käme, aber ich hatte genauso Angst vor ihrer anderen Seite, die vor Neid auf mich fast platzte und mich am liebsten tot sehen würde. Meine Eltern schimpfen deshalb mit ihr, schlugen sie genauso, wie meine Schwester mich, ich ertrug es nicht, so oft nicht, spielte mit, wenn es hieß, wir hätten uns vertragen. In der Schule tat sie so als würde sie mich nicht kennen, auch wenn unsere Gegensätze in der Schule unterschwellig bekannt waren und das nichts brachte. Mich liebten sie, sie hassen sie, ich wurde schön genannt, sie hässlich, ich konnte mich nie für sie einsetzen! Die arme Onee-sama hatte niemand anderen als mich und doch war ich nicht mutig genug, um für sie einzustehen! Ich verfiel der Depression, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich mit all dem fertig werden sollte, ich wollte mich verletzen, mich übergeben, doch ich hatte zu große Angst, der Außenwelt eine Veränderung innerhalb meiner Psyche äußerlich an den Tag zu legen, erwischt zu werden, mich verstecken zu müssen, ich wollte, dass alles beim Alten blieb und gleichzeitig konnte ich das Alte einfach nicht ertragen. In meiner dunkelsten Stunde trat Keita Kyokei in mein Leben. Der Halbamerikaner, über den ich in meinem Tagebuch schrieb. Er war im dritten Jahr und in der Klasse meiner Schwester, zu Hause hatte sie sich über ihn lustig gemacht, weil seine Noten Japanisch nicht so gut waren wie die vom Rest. Anfangst nahm er noch keine Notiz von mir, wir waren uns zu dem Zeitpunkt noch nicht über den Weg gelaufen. An jenem Tag saß ich allein auf einer Bank auf dem Dach der Schule, als wie aus dem Nichts jemand neben mir Platz nahm. Du kannst dir bestimmt denken von wem ich rede. Er hatte nichts zu essen bei sich und tat auch sonst nichts, was einem für den Rest der Pause beschäftigen konnte, er saß einfach da und starrte in die Luft. Irgendwie wusste ich ja, dass unsere Stände zu weit voneinander entfernt waren, als dass es normal wäre, mit ihm zu reden, aber weil er, selbst wenn es nur flüchtig war, auf mein Brot glotzte, dachte ich doch ans Handeln. Er starrte immernoch auf mein Brot. Ziemlich oft und sehr intensiv für die wenigen Sekunden, in denen er es mit dem einen Auge betrachtete. 'Wenn du willst, kannst du den Rest haben!', bot ich an, ein wenig zu laut, denn ich war ziemlich schüchtern, auch wenn ich wusste, dass es welche gab, die es auf meinen Beziehungsstatus abgesehen hatten und noch nicht wussten, dass ich nicht fähig war, ihnen zu geben, wonach sie suchten. Er sah mich mit aufgerissenen überraschten Augen an, ehe er erwiderte: 'Ich darf wirklich den Rest essen, bist du sicher?'. Er war irgendwie ganz aus dem Häuschen, so untypisch für eine so cool aussehende Person der Beliebtheit. Ich nickte schnell und überreichte es ihm. Er schlang es viel zu schnell runter. 'Und das hast du selbst gemacht?', fragte er, den letzten Bissen noch runterschluckend. Wieder nickte ich. Im selben Moment dachte ich daran, dass ich die Brote immer sowohl für mich als auch für Onee-sama belegte, daran, dass auch sie dieses Brot aß. 'Die sind echt mega, vielen Dank, Brotmädchen!', bedankte er sich, wuschelte mir durchs Haar und verschwand wieder. Ich vergaß nie, wie ich mich nach dieser Geste fühlte. Ich wusste weder, wie er hieß noch kannte ich ihn, aber irgendetwas sagte mir, dass er besonders sei. Vielleicht machte er das auch bei anderen Mädchen, ich wusste es nicht, aber selbst wenn ich für ihn momentan nur eine Fremde namens Brotmädchen war, war er zumindest für mich jemand, der zu den Vertrauten gehörte. Doch was dachte ich? Ich hatte ihm doch nur die Hälfte meines Brotes anvertraut, mehr hatte ich im Grunde gar nicht getan, dachte ich und war beschämt über mich selbst, wie einfältig ich mich fühlte, so über ihn nachzudenken. Der nächste Tag brach an und mir viel ein, dass meine Schwester ihr Bento in der Küche gelassen hatte, irgendwie war sie ganz seltsam drauf, als wolle sie so schnell wie möglich das Haus verlassen. Ich bemerkte es und weil ich mir letztens bei ihren Testergebnissen, die zusammen mit meinen auf dem Esstisch lagen, die Klasse gemerkt hatte, wusste ich, wo ich hingehen musste. Ich rannte fast genauso schnell zur Schule wie sie, gefrühstückt hatte ich aber dennoch. Vor ihrem Klassenzimmer angekommen, im Versuch, nicht zu außer Atem zu klingen, kam ich rein und wollte Onee-sama gerade rufen, da hätte ich wohl kaum meinen Ohren getraut. 'Brotmädchen?', hörte ich durch die Lautstärke der anderen Schüler, doch die verstummten wie auf Kommando, anscheinend hatte dieser Junge hier das Sagen. Ich zuckte zusammen und mir fiel beinahe die Brotdose aus den Händen. 'Kyokei, kennst du die Schnecke etwa?', fragte einer, den ich als einen seiner Kumpels deutete und der boxste dem Jungen von gestern in die Seite. 'Kann man so sagen, ich behaupte lieber mal nichts Falsches, ich kenne sie erst seit gestern.', erklärt er grinsend. 'Komm doch mal rüber, Brotmädchen, nicht so schüchtern!', rief er mich auf und ich war unfähig, die Ruhe zu bewahren. 'Ich... ich kann nicht so lange bleiben, ich... bin nur aus einem bestimmten Grund hier!", antwortete ich und es kostete etliche Selbstüberwindung, um dieses Angebot abzulehnen. Meine Schwester drehte sich zu mir, ungewöhnlich für ihre Verhältnisse, mich stets zu ignorieren und wider meiner Erwartung und kam näher. 'Setsuna-chan? Was zur Hölle machst du hier?', wollte sie in einem abwertenden Ton von mir wissen. Ich bekam es wieder mit der Angst zu tun und streckte ihr einfach die Brotdose entgegen. 'Hey, Shizuhara, sei nicht so gemein zu ihr, das Ding fängt deinetwegen noch an zu heulen!', meinte derselbe, den ich einfach mal Schneckentyp nannte. 'Halt die Fresse, Yamada, niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt!', keifte sie und der Rest der Klasse starrte einfach nur auf mich, Onee-sama und den frechen Schüler Yamada. 'Hey, beruhig dich, Shizuhara, das Brotmädchen wollte doch nur mal vorbeikommen und Hallo sagen, da brauchst du sie doch nicht so anzumachen.', sagte Keita, den ich früher noch Kyokei-kun nannte und wusste nicht, ob das Necken oder Zurechtweisen war. 'Halt doch die Klappe, du Besserwisser, das ach so süße Brotmädchen ist nämlich eine miese Verräterin!', schimpfe sie über mich und ich entschied mich dafür, es einfach auf den Tisch zu legen. 'Onee-sama, lass es. Kyokei-kun hat dir nichts getan.', versuchte ich damals, sie wirklich zu besänftigen, heulte aber wirklich fast los. 'Sie nennt dich Onee-sama und bringt dir Essen vorbei, Mensch, so kannst du doch keine Verehrerin behandeln, Shizuhara.', wies sie dieser Yamada zurecht. 'Halt endlich dein Maul, Yamada, ich will doch keinen Inzest, du Arsch!', nun kochte sie nur noch mehr und in mir breitete sich immer mehr der Fluchtinstinkt aus. 'Inzest? Shizuhara, willst du damit sagen, dass du Vogelscheuche die Schwester dieser Schönheit bist?', trieb es ein weiterer Schüler zu weit und und es wurde still in Raum, der Lehrer stand schon längst im Raum und guckte die Klasse mit einem vernichtenden Blick àla 'Können wir jetzt mal mit dem Unterricht beginnen?' an. Jetzt explodierte ich wirklich. 'Wenn noch einmal irgendwer sowas über meine Schwester sagt... bringe ich mich um!', brüllte ich und verließ das Klassenzimmer. Ich wollte nicht hören, wie stark die Gegensätze meiner Schwester und mir waren, ich wollte einfach nur ein normales Leben mit einer Schwester, auf die nicht alle herabsahen. Mir war ganz schlecht vor Wut und Trauer, mir wurde klar, wie satt ich es hatte, so ausgeliefert zu sein. Obwohl kein weiteres Wort über meine Schwester gefallen war, rannte ich hoch zum Dach der Schule, so schnell ich konnte. Ich kletterte über die Mauer und blickte, als etliche Gefühle in mir verebbten, auf den Betonboden hinab, der mir mit hoher Wahrscheinlichkeit das Genick brechen und mich töten würde, falls ich tatsächlich springen würde.", in der spannendsten Stelle hört meine Mutter einfach auf zu erzählen, wieder lastet ihr Blick auf der Kerze und ich bin noch immer gefesselt von der Geschichte, die mir bislang verschwiegen wurde. Ob sie dasselbe Schicksal erlitt, wie ich es getan habe? Ist sie ebenfalls vom Schuldach gesprungen? "Was ist dann passiert? Bist du da wirklich runtergesprungen?", frage ich und obwohl ich weiß, dass meine Mutter überlebt hat, kriecht Panik in mir hoch. "Genau genommen bin ich es. Aber ich wurde gerettet.", antwortet sie. Gerettet also. Wie genau, bevor dich ins Nichts stürzt und der Verzweiflung erliegst oder nachdem du vor deinen Problemen nicht weglaufen konntest, verletzt bist und dich alle Welt im Stich gelassen hat? Was ist mit den Menschen der zweiten Kategorie? Weil ich dazugehöre, zwinge ich mich, nicht darüber nachzudenken. Die Vergangenheit kann man nicht ändern und die Zukunft jagt einem einfach nur Angst ein. Kapitel 56: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Die Geschichte einer anderen Welt Teil 2 --------------------------------------------------------------------------- "Wie auch immer, dann mache ich jetzt mal weiter, damit du auch noch etwas Schlaf abbekommst. Nun, wo war ich stehengeblieben? Genau, die Szene mit dem Dach. Ich war im Begriff, mich in den Tod zu stürzen, hörte Schritte hinter mir, die näherkamen, doch reagierte ich nicht, da griff mich etwas am Arm, jemand griff meinen Arm. 'Du bist doch verrückt, Brotmädchen. Du kannst doch nicht einfach umbringen.', redete diese Person auf mich ein, ziemlich ruhig, zu ruhig, um zu behaupten, man hätte beinahe jemanden sterben sehen. 'Jetzt komm doch bitte wieder auf den Boden. Erzähl mal.', drängte der sogenannte Kyokei-kun mich, wieder über die Mauer zu ihm zu klettern. Das tat ich dann auch, wie gelähmt ließ ich mich auf den Steinboden des Daches fallen, vor seine Füße, während er sich zu mir auf den Boden gesellte. 'Was wühlt dich so auf, dass du von Dach springen willst? Was hat deine Schwester damit zu tun?', hatte er gefragt und in den Moment, als ich bemerkte, dass sich zum ersten Mal jemand tatsächlich für mich und meine Probleme, die, die mir wirklich zu schaffen machten, interessierte, fing ich einfach zu weinen an. Es war Schmerz, es war Schock von dem, was ich eben versucht hatte und das Gefühl, dass einen jemand wirklich verstehen wollte, das alles überwältigte mich als Keita mich in den Arm nahm und mir die Tränen abfing. Ich konnte mich nicht daran erinnern, je so viel geweint zu haben, jedes Mal, wenn ich traurig war, fraß ich es einfach in mich hinein, weil ich nicht wollte, dass je einer von einer Trauer erfuhr. Als ich dann fertig mit meinen Tränen war, erzählte ich ihm alles, bis es nichts mehr gab, womit ich noch allein fertig werden musste. Es überschwemmte mich, es fühlte sich so an als würde ich zum ersten Mal mit einem Menschen sprechen. 'Das klingt echt krass, mein Beileid, Brotmä-... Ich meine Shizuhara-san.', das waren seine Worte. Wir verbrachten immer mehr Zeit miteinander, wir verstanden uns immer besser, es war fast so, als wäre alles von der Depression und allem, was mich einst belastet hatte, in Luft aufgelöst worden. Wir waren noch nicht richtig zusammen, aber dennoch verliebte ich mich mehr und mehr in ihn, ich wollte am liebsten mein ganzes Leben mit ihm verbringen.", wieder legt sie eine Pause ein und ihr letzter Satz gibt mir einen Stich. Sie hat Keita wirklich geliebt. "Die Zeit verging, wie du in meinem Tagebuch gelesen hast, machte er mir in diesen Elvis-Kostüm eine Liebeserklärung und wir kamen zusammen. Es hätte so wunderschön weitergehen können, doch das Leben ist nicht immer rosarot.", zitiert sie weiter aus ihrer Vergangenheit, doch hält inne. "Was ist passiert? Seid ihr nicht auf die Uni und habt sechs Jahre nach der Oberschule geheiratet?", hake ich nach und merke, wie unfassbar naiv das klingt. "Alles zu seiner Zeit, das haben wir, doch dazwischen gab es noch mehr Vorfälle, die sich dort zugetragen haben, wo wir zur Schule gingen und lebten. Wir hatten einige Abenteuer hinter uns, ich lernte ihn immer besser kennen und durch ihn auch deine Tante Akane-chan. Sie wurde hausunterrichtet und hatte eine soziale Phobie, weshalb sie nie das Haus verließ. Wir halfen ihr, sich mehr zu integrieren, bis sie es dann schaffte, ebenfalls unsere Schule zu besuchen und in Keitas Parallelklasse zu gehen. Später in der Uni gingen wir leider getrennte Wege, da sie Medizin studierte, es aber irgendwie auch schaffte, Lehrerin zu werden, sie meinte, sie wolle nur für alle Fälle Medizin studieren, um eine andere Person im Ernstfall retten zu können. Nun ja, aber zurück zur Highschool, auf jeden Fall waren wir dann zusammen und ich fühlte mich, was meine Schwester anging, hinterrücks gestärkt, ich wusste nur nicht so recht, wie ich das mit der Versöhnung denn nun am Besten anstellen sollte. Eines Tages, nach der Schule, um genau zu sein, bat sie mich in den Abstellraum, um mit mir etwas zu besprechen. Ich dachte, sie würde sich mir endlich öffnen, sich für alles, was sie mir angetan hatte entschuldigen, ich dachte, hiermit würden wir endlich richtige Schwestern werden, ich dachte, sie würde mich endlich akzeptieren. Doch es kam alles anders. Ich schlich mich also in den Abstellraum, dort wo all die Sportgeräte und sonstige Utensilien standen, als sie plötzlich mit einem riesigen Fleischmesser vor mir erschien und sich auf mich stürzte. Ich schrie, wehrte mich mit Händen und Füßen, versuchte, sie irgendwie von mir loszureißen, doch ich schaffte es nicht. Sie war viel größer und stärker als ich und die Angst ließ beinahe zu, dass sie mich mit dem Messer im Auge traf. 'Verschwinde endlich, du sollst endlich verschwinden, hab ich gesagt!', brüllte sie und riss an meiner Uniform, während ich es immernoch nicht fassen konnte, zu was für einer Tat sie durch den Hass auf mich fähig war. Da lebten zwei grundverschiedene Persönlichkeiten in ihr, dem wurde ich mir in dem Moment bewusst. Eine einzige könnte mich nicht beschützen und töten wollen zur selben Zeit, das machte einfach keinen Sinn! 'Ich hab die Schnauze von dir so gestrichen voll, du bist eine einzige Heuchlerin, die nie in der Lage ist, anderen ehrlich helfen zu wollen, sondern immer nur schön dort bleibt, wo sie von allen verehrt wird und es ihr der ach so geile Kyokei besorgt, du verdammte Schlampe von Schwester!', schrie sie und diesmal schaffte ich es nicht, dem Messer auszuweichen, es traf mich am Hals, zog sich über meine Schulter und riss sich durch und über die Haut meiner Brust, ich schrie wie gefoltert, als die Tür aufgestoßen wurde und eine Horde Jungs, inklusive Keita, mir zur Rettung kamen. Keita riss Onee-chan von mir runter und stieß ihr das Messer aus der Hand, ehe sie kämpften und sich bis aufs Blut gegeneinander verteidigten, um mich entweder umbringen oder retten zu können. Ein paar Mädchen kamen auch dazu und begannen, meine immernoch rachsüchtige Schwester zu ruhigstellen zu versuchen und aus dem Abstellraum zu ziehen, die Lehrer wurden informiert und im Abstellraum gab es immer weniger Platz, als ich merkte, wie kalt mir zunehmend wurde. Blutverschmiert und mit einer zerrissenen Bluse lag ich da, während meine Augenlider schwerer wurden und eine schrie: 'Oh mein Gott, Leute, Shizuhara stirbt! Schnell, holt endlich einen verdammten Krankenwagen!' Dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich zu mir kam, lag ich im Krankenhaus und Keita hielt meine Hand. Mir tat alles weh und die Erinnerung daran, beinahe ermordet worden zu sein, schmeckte grauenvoll. Man sagte mir, dass meine Schwester nirgends aufzufinden und spurlos verschwunden war. Alles was mir bließ, war der brennende Schmerz an meiner Brust, den ihre Klinge auf mir hinterlassen hatte, die Narbe war viel zu tief, um zu verschwinden, meine Schwester sah ich nie wieder.", eine weitere Pause und sie schenkt sich erneut Tee in die Tasse und starrt auf die Lichtquelle. Ich kann mich nicht bewegen. Ihre eigene Schwester hat sie umbringen wollen. Und seit jenem Tag, sind sie sich nie wieder begegnet. Sie hat recht, das IST grausam. Das ist sogar ziemlich grausam, ich war viel zu gleichgültig zu meinen eigenen Gefühlen und denen anderer, ich kann nicht behaupten, dass ich diesen Strich, der sich über ihre Schulter zieht, nie bemerkt habe, aber ich konnte nie fragen. Vielleicht habe ich das mal, aber dann wird sie mir wohl nicht geantwortet haben und überhaupt habe ich aus meiner Vergangenheit sowieso fast alles vergessen. Alles Wichtige zumindest. Es ist so deprimierend. Ich habe mein ganzes Leben so sehr in meiner eigenen Blase gelebt, dass mir meine eigenen Verletzungen und die meiner Mutter vollkommen am Arsch vorbeigegangen sind, was bin ich nur für ein Loser? "Verstehe.", sage ich dazu nur, weil mir nichts Besseres einfällt. "Nach allem, was du selbst erlebt hast, wäre es egoistisch, dich auch noch mit meinen eigenen Defiziten zu beladen. Deshalb dachte ich, es wäre besser, dich wie von der Sache vor deiner Geburt, fernzuhalten.", meint sie und nimmt einen weiteren Schluck. Wieder kann ich nichts erwidern. "Sag mal, wie ist das eigentlich mit Chikacchi? Wie habt ihr euch genau kennengelernt? Es fühlt sich so an, als hätte ich sie früher schon einmal gesehen. Ist sie vielleicht eine Freundin von damals?", fragt sie behutsam. "Ja. Wie es scheint hat sie den Vorfall in der Mittelschule mitbekommen und hat nach mir gesucht und... jetzt sind wir eben zusammen.", erkläre ich möglichst normal. Ich brauche ja nicht zu erwähnen, dass ich Akira vor meinem ersten Tag an der Blutrosenoberschule getroffen habe und er auch etwas von meiner Vergangenheit weiß, selbst wenn er weniger nach mir gesucht hat, sondern das eher zufälliger Natur war. "Aha. Chikacchi scheint wirklich richtig in dich verliebt zu sein, ich kenne sie zwar noch nicht so gut, aber nach eurem Weihnachtsdate haben ihre Augen so gestrahlt, dass ich wusste, dass sie es unglaublich ernst mit dir meint, Elvis. Aber wie kommt es, dass du Interesse an ihr hast, ich dachte du stehst eher auf Mädchen, die mehr so sind wie du. Auf Kuudere und so.", überlegt sie und dreht die Tasse ein wenig. "Erstens, wie soll ich dir denn erklären, warum ich mit ihr zusammen bin und zweitens, ich habe nie behauptet, dass ich auf Kuudere stehe und ehrlich gesagt bin ich froh, dass Chika so überhaupt nicht wie ich ist. Was versuchst du mir da zu sagen?", ich gebe mir Mühe, nicht allzu bockig zu klingen, denn im Ernst, das wäre schon irgendwie kindisch, nach dem Motto "Ich bin schon ein Teenager und weiß alles besser.", so einer will ich wirklich nicht sein. "Versteh mich bloß nicht falsch, ich habe nichts gegen Chikacchi, ich meine sie ist süß, nett und sehr höflich. Ich bin einfach bloß neugierig, weißt du, mit wem mein Sohn so verkehrt.", scherzt sie leise und mir gefällt nicht, wie sie das Wort "verkehrt" sagt. "Wo wir gerade vom Verkehren reden, hattet ihr zwei schon Sex?", will sie einfach so aus dem nichts wissen. Zum Glück ist die Kerze nicht hell genug, um die Röte in meinem Gesicht zu zeigen, aber verdammt, wieso ist in meiner Familie einfach jeder so extrem direkt?! "Was zur... Nein, bei Gott, was ist los mit dir, Mama?! Was denkst du von mir? Nur weil ich nicht mehr unter eurem Dach lebe, heißt das doch nicht, dass ich es einfach mit Chika in meinem Zimmer treibe, oh Mann...", vielleicht reagiere ich etwas über, aber ich kann es nicht ab, wenn man mir solche Unmöglichkeiten an den Kopf wirft. "Kann doch sein, tut mir ja leid, ich hab da wohl übertreiben. Du weißt doch, dass ich nicht glaube, dass du die Art Mensch bist, die vor der Hochzeit... du weißt schon, also-", "Ich geh jetzt wieder schlafen.", unterbreche ich sie, nicht nur, weil dieses Gespräch eindeutig in die falsche Richtung abdriftet. "Warte", raunt sie und greift nach meinem Handgelenk, um mich aufzuhalten. "Bist du denn immernoch gläubig?", wieder so eine Frage jenseits des Kontextes, langsam reicht es doch mal... "Ich habe nicht aufgehört, daran zu glauben, dass es einen Gott gibt. Nur bin ich christlich gesehen eine ziemliche Enttäuschung, ich meine, nach all den Jahren, dem Überdenken, Bibel lesen, dem Vorfall und überhaupt, kann ich das mit Jesus und mir weder eine intakte Freundschaft noch mich einen aufrichtigen Christ nennen, es ist einfach die Luft raus.", gestehe ich und es klingt schon fast etwas genervt. Sie lässt meine Hand los. "Komm bald wieder auf den richtigen Pfad, ja?", bittet sie mich und von ihrer Seite klingt es nun etwas verzweifelt. "Gute Nacht.", beende ich diese Konversation harsch und verdufte mich zurück in mein Zimmer. Kapitel 57: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Willkommen zu Hause, mein Kind. ------------------------------------------------------------------ Am nächsten Morgen, fällt mir ein, dass wir unsere Großeltern besuchen wollten. Mir fällt ein, was meine Mutter mir gestern Nacht gesagt hat und ich hoffe, sie ist nicht zu böse auf mich, wo ich sie doch so unhöflich habe sitzen lassen. Hoffentlich saß sie gestern nicht zu lange am Esstisch, sondern ist auch schlafen gegangen. "Ellie, ich hab dir gesagt, dass du den Drachen nicht alleine bezwingen kannst, wann lernst du das endlich?", murmelt Chika, noch immer in der Traumwelt. Sie ist wirklich süß, wenn sie schläft. Ich richte mich auf und schaue ihr einfach noch etwas beim Schlafen zu, als sie aufschreckt und mich mit weit aufgerissenen Augen ansieht. "Oh mein Gott, du lebst noch! Und ich hatte schon Angst, du würdest auf ewig als Drachenscheiße enden!", schnieft sie und umarmt mich. Sie klingt wirklich ernsthaft besorgt um mich, weshalb es noch nicht einmal so lächerlich klingt, wenn sie das Wort "Drachenscheiße" sagt. Ich erwidere ihre Umarmung, wir sinken zurück aufs Bett und ich drücke sie noch mehr an meine Brust. "Ich hab dich auch vermisst, Chika.", beruhige ich sie und wir verweilen so noch etwas. Solange das mit uns noch Gefahr läuft, zu zerbrechen, genieße ich es noch bis zum Schluss. Ich will mich noch an Momente wie diese erinnern, wenn sie gemerkt hat, was für ein fieser Vertrauensbrecher ich bin. Ich liebe sie wirklich. Und ich wollte das mit uns nie zerstören. Sie wird mir nicht verzeihen, wie der Rest der Welt, darauf muss ich trotz allem vorbereitet sein. Bei Oma und Opa angekommen, stellt sich wieder das Unwohlsein bei mir ein, weil Opa seinen Alderaugenblick noch immer nicht verändert hat. Ich bin schon gern bei meinen Großeltern zu Besuch, Oma hat die größte und coolste Retro-Manga-Sammlung, die ich je gesehen habe und Opa extremst spannende Thriller im Regal, außerdem sind beide immer nett zu mir, auch wenn mein Opa fast nie etwas sagt, ist er kein schlechter Mensch. "Willkommen zu Hause, Kinder!", ist die Stammphrase meiner Großmutter und mein Großvater hebt einfach kurz die Hand. Ich frag mich manchmal echt, wie die ein Paar werden konnten, so gegensätzig wie sie sind, aber als jemand, eine Kuudere, wie meine Mutter zu sagen pflegt, der mit Chika zusammen ist, bin ich wohl der Letzte, der die Verschiedenheit eines alten Ehepaars kritisieren sollte. Außerdem sich die beiden glücklich miteinander und ich mit Chika bin es auch. Ich lese gerade ES als ich in dem Wohnzimmer jeden über den Buchrand beobachte, einfach, weil ich es kann. Mein Vater spielt mit Opa Schach und ist anscheinend gerade dabei zu verlieren, meine Mutter, Taiyo und Chika führend wohl eine heiße Diskussion darüber, ob eine Katze, wahrscheinlich reden sie über Kaguya, Zuckerwürfel essen darf und meine Großmutter guckt Dragonball Z, der Kampf gegen C17 und C18, für die Neugierigen unter euch, sie hat nicht nur echt viele Manga, sondern auch eine beachtliche Anzahl an Anime DVDs. Dann klingelt es an der Tür, Opa öffnet. Da stehen meine andere Tante seitens unbekannt und ihre Tochter plötzlich in der Tür. Stimmt, die beiden gibt es ja auch noch. Sie begrüßen meine Großeltern und kommen dann ins Wohnzimmer, um den Rest auch zu begrüßen. Meine Tante bleibt ziemlich wortkarg, meine Cousine erschreckt mich. "Und Moin, Ecchan! Mensch, das ist auch wieder voll lang her, Cousinchen. Oh, dich kenne ich nicht, hat Ecchan etwa wirklich ne Freundin?!", ich bin überrumpelt. "Ähm ja... Finnland, das ist Chika, Chika, das ist Finnland.", antworte ich zögerlich. "Freut mich, Finnland! Ich hoffe, wir werden gute Freunde.", Chika scheint den Namen wirklich in keinster Weise fragwürdig zu finden. Kurze Erklärung, dieses Mädchen heißt nicht wirklich Finnland. In Wahrheit lautet ihr Name eigentlich Fumiko Takamiya. Aber außer ihrer alleinstehenden strengen Mutter und meinen Großeltern, nennt sie keiner so. Ich glaube, die Spitznamen-Sache geht schon länger, von daher kann ich mich nicht mehr an die Namensgabe erinnern, nur, Quelle Finnland selbst, irgendwas mit Hetalia und einen Narren, der an dem Charakter Finnland gefressen wurde. Auch sie hat mich im Krankenhaus besucht und gesagt: "Hallo Ecchan. Ich bin deine Cousine Finnland. Du hast mir diesen Namen gegeben, weißt du noch?", da musste ich verneinen. Ich hatte vergessen, dass sie überhaupt so heißt, genauso, dass ich das gewesen sein soll. "Unglaublich, dass T-chan dagegen single like a Pringle ist.", kichert sie hämisch. "Hey, das ist gar nicht wahr!", versucht mein Bruder, sich zu retten, nicht wissend, wie. Finnland lacht und setzt sich vor die Glotze. Mein Vater verliert das Match und gesellt sich zu meiner Mutter und dem Rest, Chika und Taiyo sondern sich von den beiden wieder ab und gesellen sich jeweils links und rechts neben mich. Sie starren das Buch einfach wie ein Objekt aus dem All an und sagen nichts, na ja, die größten Leseratten sind die beiden ja nicht. ich schiele zu meinen Eltern rüber und höre etwas mit, ja, ich weiß, das gehört sich nicht, aber das haben ja viele Dinge, die ich in letzter Zeit getan habe. "Sag mal, Setsuna, ich habe letztends im Internet von diesem Thriller im Autokino drei Stunden von hier gehört, hast du nicht Lust, den mit mir zu sehen, ich war doch noch nie im Autokino, das klingt doch cool!", versucht mein Vater meine Mutter für diese Idee zu beeindrucken. "Also gut, stimmt, das könnte ein lustiges Abenteuer werden, also, warum nicht? Ja, lass uns gehen!", und diese lässt sich begeistert mitreißen. Ich habe ein seltsames Gefühl bei der Sache, ich meine, natürlich können sie irgendwo zusammen hin, keine Frage, aber seit ich mit Sicherheit weiß, dass er nicht mein leiblicher Vater ist, fühlt es sich komisch an, zu hören, dass die beiden ausgehen wollen. Meine Mutter liebte Keita wirklich und mein Vater hat seine Frau bei der Geburt ihres Sohnes aka Taiyo verloren. Es kann sein, dass die beiden jetzt eben nur zusammen leben, weil ich da bin und mein Vater es nicht ertragen konnte, die Geliebte seines besten Freundes einfach mit deren Kind allein zu lassen. "Ich will für immer an deiner Seite sein", das waren seine Worte, durch die Schrift konnte ich förmlich fühlen, wie sehr er genau das wollte. So wie ich ihn im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, ist er eher von der schüchternen Sorte und überlässt meist meiner Mutter das große Reden, er hat großen Respekt vor ihr, das ist mir nicht entgangen. Die ganze Zeit hat er sich hinter dem vermeintlichten Elvis-Fan versteckt, den er ersetzen versucht hat, er wollte wirklich versuchen, der Vater zu sein, den ich schon vor langer Zeit verloren habe. Immer wurde er so rot und nervös, wenn ich ihn ansprach, insbesondere wenn es um meinen Vater, also um "ihn" ging. Das tat er auch oft, wenn meine Mutter mit ihm sprach, er brauchte nicht einmal zu erröten oder schneller zu sprechen, um zu zeigen, dass er ihr nicht zu nahe treten wollte. Meine Eltern haben in meiner Erinnerung nie irgendwelche Berührungen ausgetauscht, sie waren einfach da, nebeneinander und ich dachte mir nichts dabei, schließlich wusste ich ja nicht, dass es in einer Ehe doch eigentlich normal ist, sich ab und zu mal zu berühren, Händchen zu halten oder sich zu küssen. Immer wenn er mit ihr redete, lag da etwas in seinem Blick und das tut es noch immer. Sehnsucht. Er liebt sie. Er liebt sie wirklich sehr. Ich seh es doch, mir braucht da keiner etwas vorzumachen, sein Beschützerinstinkt um seines besten Freundes Willen hat sich in Liebe verwandelt. Nicht, das mir das vorher nicht klar war. Aber was genau beunruhigt mich denn dann so? Ich meine, sie haben all die Jahre das Ehepaar gespielt, da sollte ich doch froh sein, wenn da Liebe ist. Aber wenn ich an Keita denke, fühlt es sich so an, als wäre er dann ganz allein. Ja, er ist tot, aber... Wie muss sich das für einen Toten denn anfühlen, wenn sich die eigene Ehefrau vor seinen Augen in einen anderen verliebt? Muss das nicht unglaublich schmerzhaft sein? Ich sollte mich doch eigentlich freuen, aber... wieso wird mir dann so schwer ums Herz, wenn ich versuche, mich in Keitas Lage zu versetzen? "Wann beginnt der Film denn?", will meine Mutter wissen und schaut meinen Vater mit einem neugierigen aber auch mit einem vorsichtigen Blick an. "Wenn wir in zwei Stunden losfahren, werden wir auf jeden Fall pünktlich sein.", meint er. Ich kann niemandem sagen, was ich mir da gerade zusammengereimt habe. Meine Großeltern, nein, Taiyo bestimmt nicht und Chika, wird sie es denn überhaupt verstehen? Wieder einmal bin ich mit meinen Gedanken und Gefühlen ganz alleine. Wie an jenem Tag, als ich im Krankenhaus aufwachte und es sich so anfühlte, als könnte ich nie wieder aufstehen, weil die Schwerkraft dies nicht zuließ. Ich erkannte niemanden, noch nicht einmal mich selbst, als mir wortwörtlich ein Spiegel vorgehalten wurde. Schwarze Haare, Topfschnitt und rotbraune, fast blutrote Augen, aber das sagte mir nichts, so sah ich eben aus, ich sah nur das, was jeder andere auch sah, aber nach und nach wurde ich immer einsamer mit meinen Gedanken und zur gleichen Zeit begann ich wieder zu reden. Alles nur, um zu verstecken, was keiner sah, wenn ich nur vorsichtig blieb. So war ich schon immer und so bin ich immernoch. Kann ich meine Eltern deshalb nicht verstehen, was es heißt, eine geliebte Person zu verlieren und sich in eine andere zu verlieben, die dir in der daraus resultierenden Traurigkeit zur Seite stand? Wie würde ich selbst handeln? Wenn Chika an den Krankheitsanfällen, die in letzter Zeit zwar eher schwächer waren, aber trotzdem, hier und jetzt einfach sterben würde? Könnte ich dann überhaupt jemals wieder lieben? Chika und Taiyo verlassen mich wieder, als die Dragonball Z-Folge vorbeigeht, jetzt der Gintama-Abspann läuft und sie sich frontal auf den Boden vor den Monitor setzen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, aber nach einer gewissen Zeit verschwimmt die Wohnung meiner Großeltern, alle im Raum vor meinen Augen und ich bemerke nicht einmal, wie ich langsam aber sicher zu vergessen beginne, dass ich mir Sorgen mache und einschlafe. "Elvis. Hey, Elvis, es gibt Abendessen!", weckt mich Taiyo sachte wieder auf, das Buch ist mir in den Schoß gerutscht. "Wo sind Mama und Papa?", war meine erste Frage und ich verfluche mich selbst dafür, direkt sowas zu fragen, meine Sorgen wollte ich doch nur für mich behalten. "Die sind schon weg.", flüstert er und legt eine Yu-Gi-Ho-Karte als Lesezeichen in mein Buch, um es zu schließen. Er hat immer eine Karte für den Notfall dabei, wie er immer sagt, Mensch, was haben Chika und Taiyo denn nur mit ihren Notfällen? Ich richte mich mühsam auf und irgendwie brummt mir echt der Kopf, ich stöhne deshalb. Kann man vor lauter Sorgen und Nachdenken denn wirklich Kopfschmerzen bekommen oder habe ich einfach zu viel gelesen? Dann setzen wir uns an den Esstisch und ich versuche wenigstens für die nächste halbe Stunde nicht an meine Eltern zu denken oder mir meine Unruhe wegen Großvaters Starrblick anmerken zu lassen. Vielleicht ist das einfach sein Standartgesicht. Vielleicht kann er dafür einfach nichts. Genau wie ich für vieles nichts kann. Es gibt Dinge, die sind eben so. Kapitel 58: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Mit dir durch alle Dimensionen ----------------------------------------------------------------- Shun: Dieser Film war wirklich spannend und ließ keine Zeit für Ruhepausen, ich hoffe, Setsuna denkt das Gleiche, immerhin habe ich diesen Film ausgesucht. Wenn sie sich gelangweilt hätte, wüsste ich nicht, wann ich das nächste Mal einen Film aussuchen dürfte. Aber sie scheint amüsiert, deshakb mache ich mir nicht allzu viele Sorgen. "Hach, Shun, der war klasse, im Ernst, ich wusste teils wirklich nicht, ob du echt so einen krassen Filmgeschmack hast, aber jetzt hast du mich überzeugt!", lobt sie mich und mir schießt das Blut in den Kopf. Ihre Worte bedeuten mir mehr als ich zugeben könnte, Setsuna, ich... "Also, Setsuna, ich-", doch in dem Moment gerät das Auto auf dem Weg zurück einfach in den Stillstand. "Blöder Motor, Mensch, ich weiß ja, dass das Auto alt ist, aber wirklich jetzt?!", schimpft sie und will das Gefährt wieder in Gang setzen, was nicht funktioniert. Ich hätte es sowieso nicht sagen sollen, ich meine, verdammt noch eins, ich... ich kann einfach nicht, ich kann es mir noch nicht einmal selbst eingestehen, wie soll sie das dann? Vielleicht war es ja ganz gut, dass das Auto den Geist aufgab... Nein, was denke ich da, Setsuna findet das doch überhaupt nicht witzig, also was will ich eigentlich? Ich steige aus und sehe unter der Motorhaube nach. Das sieht irgendwie so überhaupt nicht gut aus, irgendwas scheint durchgebrannt zu sein, so ein Mist! "Kann man nichts machen, wir müssen den Abschleppdienst rufen.", teile ich ihr mit und auch meine gute Laune wächst nicht gerade ins Unermessliche. "Dabei hatten wir doch so einen schönen Abend, muss denn wirklich immer etwas schief laufen? Mann, das kann es doch wohl nicht sein...", jammert sie und scheint den Tränen nahe zu sein als sie den Stau bemerkt, den wir verursachen, stimmt, jetzt wo ich ihn sehe, tun mir auch noch die anderen Fahrer leid, die auch gerne nach Hause oder sonst wohin möchten. Setsuna ruft den Abschleppdienst und ich sehe nach, ob nicht doch noch etwas an dem Auto zu machen ist. Fehlanzeige, das Ding ist im Eimer. Es hupen immer mehr Autos und nachdem Setsuna das Telefonat beendet hat, setzt sie sich an den Straßenrand und vergräbt das Gesicht in ihren Händen. "Hey, Setsuna, nicht weinen, der Stau legt sich bestimmt, wenn der Abschleppdienst kommt. Und wir kommen dann auch nach Hause, versprochen.", versuche ich sie zu beruhigen, als ich bemerke wie sie schluchzt und setze mich neben sie. "Das ist es nicht nur, es ist auch... an diesem Auto hängen so viele Erinnerungen und ich... das ist dass Auto von Keita, damit wollten wir... Das war unser erstes gemeinsames Auto, ich... das, das war das letzte Lebenszeichen von ihm... ich weiß, dass ich mit dir nicht über Keita reden sollte, weil wir ja noch immer das Ehepaar spielen, aber... das ist nicht leicht.", jetzt sieht sie mich mit tränenunterlaufenen Augen an. Ich drücke sie an mich. "Es ist okay, Setsuna, du darfst weinen. Du darfst um Keita weinen, wenn dir danach ist, ich verstehe dich doch... bitte versuch meinetwegen nicht, deine Gefühle zu unterdrücken, hörst du?", sage ich und umarme sie fester. "Danke.", haucht sie, schlängelt ihren Arm unter meinen hinweg und legt ihre Hand auf meine Wange, die ebenfalls nass ist. Wieso denn das auf einmal? Warum weine ich denn, nach allem was passiert ist, habe ich doch am wenigsten Grund zu weinen, ich meine, ich konnte Kyokei nicht retten und habe dann auch noch seinen Namen angenommen. Ich bin nicht Keita. "Huch, du weinst ja auch, Shun? Ich liebe es, dass du so mitfühlend bist.", meint sie und kichert leise und traurig. "Hey, ihr beiden, ist das euer Auto?", fragt uns eine raue Stimme eines jungen Mannes in einer neonorangen Uniform. "J-Ja.", antworten wir beide gleichzeitig. Bevor ich auf Setsuna traf, hatte ich kein Auto. Kotori meinte, es wäre besser für die Umwelt, mit Bus und Zug zu fahren. Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Auch nach ihrem Tod versuchte ich mich daran zu halten, aber... Setsuna hatte nur dieses Auto, einer der wenigen Dinge, die ihr von Kyokei geblieben sind und weil es keinen Unterschied machte, ob eine Person mehr oder weniger im Auto war, nahmen wir dies und ich verstieß gegen Kotoris Prinzipien. Ob sie mir das jemals verzeiht? Wenn wir uns im Jenseits wiedertreffen? Kotori. Ich hätte ihr so gerne noch gesagt, dass aus dem Sohn, den sie geboren hat, ein selbstständiger liebevoller junger Mann geworden ist. Er kommt wirklich ganz nach seiner Mutter. Das hätte sie bestimmt gefreut. Und ich hätte, auch wenn es nicht ihr eigenes Kind ist, auch gerne Elvis vorgestellt, sie hätte ihn bestimmt ebenfalls gern gehabt. Kotori. Es tut mir leid. Die Formalitäten erledige ich geistesabwesend, die Erinnerung an Kotori und die Hilflosigkeit Setsuna gegenüber macht mir zu schaffen, ich hätte so gerne Klarheit über meine Gefühle. Wenig später ist unser Auto auf dem Gefährt und zum Abschleppen bereit, uns wird gesagt, sie werden sich morgen wieder melden und uns sagen, ob für das Reparieren unseres Autos noch Hoffnung besteht. Aber um diese Uhrzeit fahren weder Züge noch Busse noch würden wir es zu Fuß schaffen. Wir werden irgendwo übernachten müssen. In dieser Gegend, die wir auch auf dem Hinweg befahren sind, kennen wir uns nicht aus, sollen wir einfach irgendein Hotel nehmen und schlafen, egal wie heruntergekommen und eklig es ist? Es ist inzwischen schon fast ein Uhr morgens. Scheiße. Aber wir haben keine andere Wahl. Wir sind zwar beide sichtlich hundemüde, aber wen wir uns jetzt nicht zusammenreißen, werden wir auf der Straße übernachten müssen und das will ich der armen Setsuna nicht auch noch zumuten. Wir sind müde, aber gleichzeitig auch viel zu wach wegen unserer Gedanken an die, jene uns lieb sind. Was wiederum heißt, wir sind in einem normalen Wachzustand. Oder vielleicht auch nicht, irgendwie bin ich noch immer nicht ganz da. Wir sollten so schnell wie möglich eine Bleibe finden, ich sehe Setsuna ist am Ende ihrer Kräfte, das mit Kyokeis Auto scheint ihr immernoch schwer im Magen zu liegen. Langsam geht uns beiden die Geduld zuneige und als es schließlich fast zwei wird, hat sie endgültig den Zinit erreicht. "Okay, es tut mir ja leid, aber wenn es heißt, dass wir heute wenigstens noch irgendwo übernachten können, übernachte ich sogar in diesem versifften Love-Hotel, meine Güte, ich kann nicht mehr Shun, es... es geht nicht!", keift sie in die Nacht und ist stinksauer, als wir nichts anständiges finden und uns dieser moralisch verwerfliche Laden entgegenleuchtet. Ich bin ganz ihrer MEinung, es gibt Grenzen und die liegen meilenweit zurück. Darauf kommt es wohl auch nicht mehr an. Wir bestellen uns mit hochrotem Kopf ein Zimmer und jetzt liegen wir bis auf die Unterwäsche in diesem erotisch beleuchtetem Zimmer auf dem Bett und sagen nichts. Wir haben beide keinen Schlafanzug, deshalb muss es wohl so sein. Obwohl wir jetzt doch eigentlich schlafen könnten, wagt keiner von uns, das Licht auszumachen. Wir haben uns nie im selben Zimmer umgezogen, aber Setsunas Laune war so sehr im Keller, dass sie sich einfach ausgezogen und hingelegt hat, nach alles was passiert ist, hat sie sich die Pause aber auch wirklich verdient. Schlaf wäre gut. Ja, das wäre es echt. Aber irgendwas lässt mir da keine Ruhe und erst recht keinen Schlaf. Ich habe es über siebzehn Jahre für mich behalten, habe es versteckt und behütet wie einen Schatz, aber... ich kann nicht mehr. Ich kann mir nicht länger etwas vormachen. Ich kann nicht leugen, dass ich mich bis über beide Ohren in diese Frau verliebt habe. Ich liebe sie. Aber das kann ich weder meiner alten Liebe noch ihrer alten Liebe, meinem besten Freund antun. Das steht mir leider nicht zu. Ich hasse es. Ich hasse es, ständig zuzusehen, wie alles vor meinen Augen verschwindet. Kotori. Kyo... Keita. Wieso tut es so weh, jemanden zu lieben, den man nicht lieben darf? Ich würde es ihr so gerne sagen. Aber was soll ich tun? Setsuna kramt ein Buch aus ihrer Tasche und beginnt es zu lesen. Vielleicht ist uns beiden alles lieber als zu schlafen. Doch meine Wahrnehmnung verschwimmt mehr und mehr, ehe ich merke, dass dieser Ort nicht in der Realität liegt. Es sieht aus, wie ich mir den Himmel vorstelle, da sind Wolken, weiße Wolken, endlose Felder voller Wolken und weißem Himmel. Meine Füße schweben in der Luft, die Wolken sind alle nicht zu fassen. "Lange nicht gesehen, Shun-chan!", eine vertraute weiche Stimme ertönte hinter meinem Rücken und ich drehte mich um. "Kotori.", flüstere ich. Die Frau, die ich eins liebte, die ich immer lieben werde. Aber sie kehrt nicht zurück. Kotori kehrt nicht zurück. Und das werde ich auch nicht. Es wird nie wieder so sein wie es mal war. Ach, Kotori. Kotori. Es tut mir leid! Kapitel 59: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Langersehntes Wiedersehen und ein Abschied ----------------------------------------------------------------------------- Ich drehe mich zögerlich um. Das ist sie, kein Zweifel. Kotori Takamiya, so lautete ihr Name, ehe sie von uns gang. Sie sieht überhaupt nicht geschwächt aus, nicht so als wäre sie tot. Aber das ist sie. Kotori lebt nicht mehr. "Was machst du denn für ein Gesicht, Shun-chan? Sehe ich heute denn etwa so hässlich aus?", fragt sie und gespielt beleidigt bläst sie die Wangen auf. Sie merkt, dass mehr dahinter steckt und ihr Spiel verwandelt sich in eine neutrale Miene. "Shun-chan, du gibst dir noch immer die Schuld für das, was passiert ist, oder?", liest sie schon wieder meine Gedanken, wie sie es oft zu tun pflegte. Ich sage nichts. Die Antwort darauf kennen wir beide bereits. "Kotori.", flüstere ich ihren Namen. Ich habe dich so geliebt. So unglaublich, ich wollte immer mit dir zusammenbleiben. Aber jetzt? Dinge ändern sich, dass es so kommen musste, wusste keiner von uns. Meine Liebe zu dir kann ich nicht einfach vergessen, egal was in der Welt der Lebenden so alles vonstatten geht. Ich kann nicht mehr zurück. "Ich bin bei der Geburt unseres Kindes gestorben und du hast nicht aufgehört, an meinen sterbenden Anblick zu denken, hab ich recht? Shun-chan, ich kenne dich. Du glaubst bestimmt, dass es mir besser gehen würde, wenn wir uns niemals begegnet wären, stimmt doch, oder?", geht sie noch mehr ins Detail und wird hysterischer, lauter und aufgeregter. "Kotori, ich...", ich wollte sie schon so lange wieder sehen, habe ihr so viel zu sagen, doch wieso fehlen mir ausgerechnet denn jetzt die Worte? Shun, du Vollidiot! "Ich weiß doch, dass du mich noch liebst! Und ich liebe dich! Ich werde fast verrückt vor Liebe, das kannst du mir glauben! Aber nur weil ich nicht mehr da bin, heißt das doch nicht, dass du nicht mehr glücklich sein oder dich neu verlieben darfst! Wenn unsere Liebe zueinander der Grund bist, wieso du dich selbst belügst und Trübsal bläst, bricht es mir nämlich das Herz! Das kannst du nicht machen, Shun-chan!", jetzt klingt es fast, als ob sie weinen würde, aber sie schreit nur das Jenseits zusammen, wenn es das ist, wo wir uns gerade befinden. Aber das tun wir nicht. Denn ich lebe noch. Ich bin nicht tot. Aber sie lebt auch nicht mehr. Haben sich die Welten, in denen wir uns gerade jeweils befinden, etwa miteinander verknüpft, nur damit ich sie noch einmal sehen kann? "Das ist nicht wahr... wenn ich mich tatsächlich neu verliebe, wenn ich wieder so glücklich werde wie als ich dich traf, ist es doch genau so schlimm, wie dich einfach zu ersetzen und zu vergessen, Kotori! Nur weil wir einander kennengelernt haben, nur weil wir beide Außenseiter waren, nur weil wir die Nacht miteinander verbracht und zusammen ein Kind bekommen haben, bist... bist du aus meinem Leben verschwunden! Ich... liebe unseren Sohn, ich... ich bin nicht depressiv oder so, ich habe genügend Gründe um am Leben zu bleiben, aber... du kannst mir doch nicht einfach zumuten, so zu tun, als wenn ich dich nie umgebracht hätte!", keife ich und verfluche mich sofort selbst für meine Wortwahl. Muss ich denn immer sofort sagen, was ich denke und fühle? Gerade deswegen war ich doch ein Außenseiter! "Shun-chan, ehrlich... du hast mich nicht umgebracht.", wieder wird sie so ruhig und leise, wie als sie mich gerufen hat. "Du hast bis jetzt immer versucht, nie jemandem zur Last zu fallen und ja niemandem wehzutun. Hast du Angst, dass du mich erneut verlierst, wenn du dich weiter in sie verliebst?", wieder ist sie die Ruhe in Person und ich bekomme absolut nichts Vernünftiges zum Sagen auf die Reihe. Ich nicke einfach nur. "Ach, Shun-chan, du bist so lieb. Du hast auch seit den fast dreiundzwanzig Jahren, in denen ich nun die Menschenwelt verlassen habe, nicht aufgehört, dich zu fragen, wie es mir jetzt wohl so geht und was ich wohl gerade mache, nicht wahr? Du bist wirklich unverbesserlich!", lacht sie und steht nun direkt vor mir. Sie sieht so jung aus. Ich bin neununddreißig, sie war nur ein Jahr jünger als ich, doch in diesem Moment, so sehr sie auch aussieht, wie sie jetzt aussähe, wenn sie noch leben würde, wirkt sie als hätte sie noch alle Zeit der Erde. Als blieb für sie die Zeit stehen. Auch wenn wir beide wissen, dass dieser Zug abgefahren ist. "Kotori...", sage ich nur und muss schluchzen. "Menschenskinder, wenn du die ganze Zeit meinen Namen sagst, fühlt es sich an als wäre dies das Ende!", regt sie sich auf, doch wieder weiß ich, sie spielt nur. "Meine Kotori... Ich habe dich so abgöttisch vermisst. Ich wollte stets, dass du siehst, was... was für einen großartigen Jungen du auf die Welt gebracht hast!", ehe ich es überhaupt realisiere habe ich sie schon fest im Arm und heule los. Es fühlt sich an wie vor siebzehn Jahren, als ich einfach auf Setsunas Beine loszuflennen angefangen habe, ich kann immernoch nicht glauben, wie ich mich nach dieser Eskapade geschämt habe. Was ich zu ihr gesagt habe, das klang so... verzweifelt. Demütig. Als würde ich es mit der Welt aufnehmen, wenn das sein müsste, um Setsuna zu beschützen. Ich habe Kotori geliebt und ich werde sie auch in Zukunft gernhaben. Dennoch kann ich nicht leugnen, dass mir auch Setsuna unwahrscheinlich nah ans Herz gewachsen ist. "Du bist so eine Heulsuse, Shun-chan.", meint sie nur, sie will unberührt klingen, doch kann ich den Kloß in ihren Hals fast schon raushören. Irgendwie habe ich sie also doch getroffen, mit was auch immer. Sie legt ebenfalls die Arme um mich und ich fühle mich fast schon im Rücken gestärkt. Nicht nur fast, ihre Bestätigung bedeutet mir etwas. Viel sogar. Sie ist eben auch ein Mensch, der mir etwas bedeutet. "Shun-chan?", haucht sie nach einer Weile und ich fühle ihren warmen Atem auf meiner Brust, der mein Herz etwas schneller schlagen lässt. Es tut weh. "Ja?", antworte ich und drücke ihren Körper näher an meinen. "Du hast deine wahren Gefühle erkannt, stimmt's?", will sie wissen und ich drücke sie etwas fester. Ich will keine Antwort geben. Ich will ihr nicht zustimmen. Ich ihr widerbrechen, ihr sagen, dass sie einzig und allein die ist, die den Schlüssel zu meinem Innersten hat und haben soll. Aber dem ist nicht so. Lange nicht mehr. Wie lange, weiß ich nicht mehr. Als ich ihr damals Gesellschaft geleistet habe, in dem Moment, als ich sie am Grab meines besten Freundes einfach umarmt und in den Ausschnitt geweint habe? Seit wann ist das so? "Du willst nicht antworten, weil du glaubst, damit das Ende zu provozieren, oder? Du willst nicht, dass dieser Moment vorbei ist und zugleich kannst du es nicht erwarten, in deine eigene Welt zurückzukehren. Sei ehrlich, Shun-chan.", bittet sie mich und alles, was ich je mit ihr erlebt habe, blitzt an meinen Augen vorbei. Als wenn gerade etwas tief in mir drin stirbt. Als stünde das Ende kurz bevor... "Du hast dich in sie verliebt, nicht wahr?", stellt sie leise fest und wieder macht mein Herz einen Sprung, weil es die Wahrheit noch nicht ganz verträgt. Ich bin es nicht gewohnt, ehrlich zu mir selbst zu sein, ich weiß nicht, wie lange ich schon so umhergewandert bin, im finsteren Tal, wie die Bibel so schön sagt. Und doch fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, ging es so nicht weiter? Ich weiß es nicht, so oft hab ich das Ding nicht gelesen. Aber diese Worte, die ich damals in der Kirche als Jugendlicher gehört habe, das Vaterunser, seine Bedeutung habe ich niemals vergessen. So wie ich Kotori, meine Geliebte, niemals vergesen werde. "Shun-chan, es ist an der Zeit, loszulassen.", merkt sie im noch immer gleichbleibenden Flüsterton an. Sie löst ihre Finger von meinem Rücken und setzt gerade dazu an, mich loszulassen, aber ich halte sie noch fest. "Ich kann nicht, Kotori, ich... ich will nicht vergessen, hörst du? Ich will nicht, dass du meinetwegen wieder vor Schmerzen weinst, ich will nicht, dass du im Jenseits allein bist und dich von mir verlassen fühlst, ich-", "Shun-chan, jetzt beruhige dich doch endlich. Ich bin okay, ich bin es, seit du Setsunacchi kennengelernt hast. Bitte. Geh. Geh und werde glücklich. Das ist mein letzter Wille. Wenn du mich nicht loslässt, werde ich in deinen Armen verschwinden und das tut mehr weh als zu wissen, dass man tot ist.", sagt sie. Wiederwillig lasse ich sie los. Wir sehen einander einfach nur an und als ich sehe, dass ebenfalls eine Träne über ihr Gesicht läuft, fühle ich mich von ihr verstanden. Mir ist klar, dass dies der Abscheid, ein Lebwohl auf Lebenszeit, solange ich lebe, werde ich sie nie wiedersehen. "Ich liebe dich, Kotori. Ich werde dich niemals vergessen.", verspreche ich ihr und sie grinst. Taiyo kommt wirklich ganz nach ihr. "Shun-chan Kyokei.", sagt sie jetzt meinen Namen, diesmal in voller Länge. Ja, so heiße ich jetzt. Doch was tut das jetzt zur Sache, das Ende naht und ich weiß es. Das Ende naht und ich weiß es. Weil ich es weiß, schließe ich meine Augen und warte ab, was passiert. Ich spüre sanfte Lippen auf meiner Wange, ehe sie mich erneut umarmt und wieder loslässt. Jetzt ist alles gesagt, doch weil das heißt, dass wir erneut von den Naturgesetzen getrennt werden, überschwemmt mich eine Wehmut, die stärker ist als je zuvor. Ich werde nicht vergessen und ich werde nie aufhören, die Erinnerungen an dich wie einen Schatz zu waren. "Lebwohl, Shun-chan. Lebwohl.", flüstert sie und wieder einmal werde ich von tiefer Dunkelheit verschluckt. Kapitel 60: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Das Liebeslied einer Witwe ------------------------------------------------------------- "Setsuna!", rufe ich, zu leise, um es Ruf zu nennen, durch den noch immer beleuchteten Raum. Zu meiner Überraschung ist Setsuna neben mir noch hellwach. "Shun.", flüstert sie, das Buch liest sie schon gar nicht mehr. Sie liegt unter der Decke und sieht zu mir her. "Also, Setsuna, ich... ich muss dir etwas sagen... schon sehr lange, bin ich in dich... ich... also, Setsuna, ich...", mir kommt es einfach nicht über die Lippen, ich hab Angst! "Shun, ich liebe dich.", haucht sie fast unhörbar leise und ich fahre zusammen. "Das... das wollte ich gerade sagen. Ich...", stammle ich unbeholfen. "Setsuna, ich weiß, wie sehr du Keita geliebt hast. Ich weiß, dass ich niemals so sein werde wie er, weil ich nun einmal nicht Keita bin. Ich weiß, dass ich vielleicht nicht so mutig, cool, witzig oder gutaussehend bin wie er, aber... das ändert nichts an meinen Gefühlen für dich, Setsuna.", gehe ich genauer auf ihre Gefühle und meine eigenen ein. "Ich weiß, ich weiß es doch.", murmelt sie und richtet sich auf. Nun sind wir auf gleicher Höhe. "Ich wusste es die ganze Zeit. Ich wusste doch auch, wie sehr Kotori dir am Herzen lag. Ich habe es immer gewusst. Und trotzdem... All die Jahre musste ich mich so zusammenreißen. Ich habe mich selbst belogen. Ich habe es nicht geschafft, mir einzugestehen, dass ich mich in Wahrheit schon vor so langer Zeit in dich verliebt habe. Shun, ich hatte Angst, dass ich mir selbst nicht mehr verzeihen könnte, wenn ich anfange, jemand anderen als Keita zu lieben. Mir war egal, dass er tot ist. Ich dachte, ich wäre stark genug, nichts dergleichen erneut zu spüren, wenn das heißt, immer nur ihm gehört zu haben. Aber... du warst immer für mich da. Du hast mich nicht aufgegeben, als ich kurz davor war, es zu tun. Es spielte keine Rolle, ob wir nur wegen unserer Söhne zusammenzogen. Es hatte nie eine Rolle gespielt, ob wir beide verwitwet und einsam waren. Du hast mir nie das Gefühl gegeben, dass das, was ich tue, schäbig sei. Du... du hast mir nie Vorwürfe gemacht, dass ich nach Keitas Tod wieder so schwach wie damals wurde. Ich... Shun, ich... du bist mir mehr ans Herz gewachsen, als dass ich es je für möglich gehalten hätte. Ich liebe dich. Ich will mit dir zusammenbleiben. Ich will immer an deiner Seite bleiben, dich lieben und ehren, wie ich es zuvor nie konnte! So fühlen dürfen, wie ich wirklich fühle. Aber auch jetzt... habe ich Angst. Kann ich diesen Schritt wirklich gehen und der Stimme in meinem Herzen vertrauen?", ihre Stimme verzagt fast, als sie das sagt. Ihre Haare verdecken ihren Gesichtsausdruck und sie sieht traurig aus. "Ich habe damals von Keita geträumt, fast jede Nacht. Es ließ mir keine Ruhe, ich konnte nie aufhören, an ihn zu denken. Wenn ich mir die Jungs anschaue, insbesondere Elvis, dann... frage ich mich, was er wohl sagen würde, würde er uns jetzt sehen. Unsere Familie aus dir, unseren Söhnen und mir. Auch wenn sie nicht mehr bei uns leben, auch wenn sie fortgegangen, in eine andere Stadt gegangen sind, was ist mit uns? Sind das Baby von damals und der vierjährige Taiyo wirklich die einzigen Gründe für uns, um zusammenzusein?", sie streicht sich sie Haare aus dem Gesicht und sieht unsicher aus. Was kann ich sagen? Was kann ich tun? Und wie will ich es tun? Setsuna Kyokei, die Frau, die ich in der Gegenwart, dem Hier und Jetzt liebe, sie erwidert meine langjährige Liebe für sie. Ich glaube es ja selbst kaum. Aber... es braucht mehr, damit wir als richtiges Paar bestehen können. Ich muss noch so viel reden und sie auch. Wir müssen uns endlich ausprechen. "Ich glaube, sie denken noch an uns. Kotori und Keita, aus dem Jenseits heraus, irgendwas sagt mir das. Ich glaube, sie können uns sogar von dort aus noch lieben. Mit Sicherheit. Ich bezweifle, dass man vergisst, wenn man stirbt. Ich bin nicht befugt, so etwas für meinen eigenen Vorteil zu sahen, aber... ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass sie wollen, dass wir einsam sind. Uns selbst belügen, indem wir einander vor Scham nicht ansehen. Kotori hat mir das gesagt.", hauche ich und Setsunas Augen blitzen tränenfeucht auf. "Vielleicht hast du ja dasselbe erlebt wie ich. Im Traum der Person zu begegnen, die du über alles liebst und geliebt hast, die du auch in Zukunft weiter gern haben wirst. Ich weiß das, denn Keita hat mir... nachdem ich... in der Nacht, nachdem du auf meinem Schoß in Tränen ausgebrochen bist, Lebewohl gesagt. Er meinte, ich solle nach vorne blicken. Keita hat gelächelt. Tief im Herzen hat es mich erleichtert, auch wenn ich es nie zugegeben habe. Als du mir damals gesagt hattest, du würdest immer bei mir bleiben, mich und das Kind beschützen willst, war das wohl... ein Startschuss in ein Leben nach der Einsamkeit. Das dachte ich, Shun, das... so hatte es sich angefühlt. Aber ich wollte damals nicht darauf hören. Ich habe nicht verstanden, dass mir längst geholfen wurde.", schluchzt sie, doch grinst sie dabei sogar etwas. Ihr Lächeln ist immer wieder atemberaubend. Ihre ganze Präsenz passt auf diese Definition. Die rotblonden, sanften, langen Haare, die rotenAugen, die wie zwei Rubine strahlen und alles an ihr... ist einfach wunderschön. "Aber warum, Shun, sagst du denn nichts?", fragt sie etwas traurig. Sie kommt etwas näher an mein Gesicht und sieht mir direkt in die Augen. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe vielleicht von diesem Augenblick geträumt, ohne es zu wissen, ich... habe dich doch so lange einfach nur aus der Ferne geliebt und habe mir verboten, es auszusprechen, Keita zuliebe. Du kannst dir doch sicherlich denken, wie überwältigt ich mich in diesem Augenblick fühle. Da fällt mir ein, Setsuna bedeutet doch Augenblick, ich finde das passt.", versuche ich, sie aufzumuntern und lache leise. Auch Setsuna lacht leise. "Du hast wirklich keine Ahnung, wie man Sätze vernünftig beendet, oder?", kichert sie. Gut gemacht, Shun, du hast heute mal nichts verbockt! Wir sehen einander lange einfach nur an und versuchen die stummen Gedanken des anderen jeweils auf telepatische Weise zu deuten. 'Shun, ich will es mit dir versuchen, richtig, ich will, dass wir nie wieder einfach nur so tun als ob, sondern uns wirklich genauso lieben, wie das Ehepaar, das wir immer zu spielen pflegen', fast meine ich, das zu hören. Ihre Gedanken, Setsuna selbst. "Ich liebe dich, Setsuna.", wiederhole ich, ehe sie ihre Stirn an meine presst und ich ihre warme Haut auf meiner spüren kann. Zaghaft lege ich die Arme um sie und drücke sie an mich. Wann haben wir uns in all den Jahren jemals umarmt geschweige denn berührt, geküsst oder gar miteinander geschlafen? Ich wagte nie, auch nur so etwas in Betracht zu ziehen, auch wenn tief in meinem Verstand sich jede Zelle meines Körper danach sehnte. Ich bin ihr mit Haut und Haaren verfallen. Setsuna umarmt mich ebenfalls, die Nähe scheint sie genauso zittern zu lassen wie mich. "Shun... du bist so warm.", haucht sie fast unmerklich und mein Herzschlag beschleunigt sich noch einmal. Du auch, hätte ich fast gesagt, doch drücke ich sie stattdessen noch mehr an mich ran. Sie hebt wieder den Kopf, wieder treffen sich unsere Blicke, nur damit sich im nächsten Moment unsere Lippen treffen. Es ist erst fast unmerklich sanft, beinahe so, als wäre da nichts. Doch diese innige Vereinigung, das Aufeinandertreffen, wiederholt sich so oft, beginnt von neuem und verschmilzt zuletzt zu einem einzigen Kuss, der das Blut in meinen Adern von Sekunde zu Sekunde mehr rauschen lässt. Schneller, heißer, es ist fast nicht auszuhalten und gleichtzeitig wäre es überhaupt nicht auszuhalten ohne das, was nicht auszuhalten ist. Dir Matratze seufzt, als wir uns auf das Bett sinken lassen. Wieder lösen wir uns voneinander und sehen nur einander an, voller Adrenalin und Erregung. Setsunas Wangen sind rot und sie selbst kommt ins Schwitzen, das sehe ich. Ein bisschen sehen kann man in dieser Dunkelheit noch. Auch ich komme ins Schwitzen. Denn auch ich bin erregt. "Hey, Shun, ich... also... muss ich ausprechen, dass ich es gerne hätte, dass ich... dir näherkommen will, so nah wie kaum eine Person dir nahe war? Ich kann... mich nicht beherrschen. Mein Körper glüht so sehr... ich will noch so viel mehr von dir.", schildert sie flüsternd und streicht meine Wange. "Muss ich es denn sagen? Muss ich aussprechen, worauf das hinausläuft? Ich will und doch habe ich Angst, es mit Worten zu zerstören. Wenn ich es sagen würde, dann... könnten wir es auf der Stelle bereuen und uns schämen. Bitte zwing mich nicht dazu, zu sagen, was in mir abgeht. Bitte.", bitte ich sie, es nicht noch Unmöglicher klingen zu lassen, als es sich in meinen Gedanken anhört. Dass ich mit ihr schlafen will. Es klingt so absurd, dass ich gar nicht weiß, was tun, jetzt, wo ich mir meiner Sache sicher bin. Vielleicht bin ich das, seit Kotoris und meinem letzten Treffen im Traum im Fake-Himmel. Oder war das der echte? Na ja, ist nicht so wichtig. Die Wunden, die uns zugefügt wurden, beginnen in diesem Moment zu heilen. "Ich danke dir, dass du es auch so siehst, Shun. Worte können so viel kaputtmachen. Nicht immer, eigentlich fast nie, aber... in Momenten wie diesen. ", kichert ein wenig wehmütig. Ich dimme das Licht und widme mich der Frau, der ich im Stillen doch eigentlich schon seit über siebzehn Jahren verfallen bin. Ein Seufzer durchfährt den Raum, es ist ihrer. Ich fahre ihr über den Bereich über ihrer Brust, wo sich eine lange Narbe erstreckt, die ich fühlen kann, von Hals bis zwischen ihre Brüste. Zuletzt komme ich mit allem, was zu Setsuna gehört, in Berührung. Alles, was zwischen uns lag, ist wie pulverisiert und übers Meer verteilt. Es fühlt sich an, als ob das Ehepaar, das wir all die Jahre gespielt haben, insgeheim länger echt war, als wir beide dachten. Als ob ich es wirklich wert wäre, an ihrer Seite zu sein. Das elektrische Gefühl, die angenehmen und zugleich schockenden Stromschläge, die kinetische Energie und der Verlust vom Gefühl für Raum und Zeit, dauern bis in den Morgen hinein an und wir verlieren uns ineinander mehr als je zuvor. Kapitel 61: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Die Grenze von Diesseits und Jenseits ------------------------------------------------------------------------ Elvis: Heute geht das Jahr vorrüber. Als meine Eltern am Morgen dann zurück kamen, war etwas anders. Das Auto war kaputt und sie kamen mit dem Zug her. Irgendetwas sagt mir, dass der Verlust unseres Autos meine Mutter nicht so kaltlässt wie sie möchte, dass es rüberkommt, fein nach dem Motto, "Unfälle passieren, passt schon.". Irgendwas liegt in der Luft und offensichtlich bin ich der Einzige, der es riechen kann. Zumindest lässt Taiyo es sich nicht anmerken. Irgendwas scheint sich gelöst zu haben. Sie wirken unbefangener, freier so als wären sie wirklich ein normales Ehepaar und gleichzeitig irgendwie geistesabwesend, und zwar alle beide. Doch darüber denke ich lieber nicht zu intensiv nach, denn auch Chika hat wieder diesen Blick angenommen, der mir sagt, dass sie mir etwas Wichtiges sagen will, wenn wir allein sind, nur wir beide. Nur waren wir diese Ferien ja nicht sonderlich oft allein. Feiertage eben. Jetzt sitzen wir alle, wieder in der Wohnung meiner Eltern, vor dem Fernseher und sehen dabei zu wie irgendwelche Leute auf rutschigen Treppen ausrutschen und dabei ihre Konkurenz mitreißen. Normalerweise bin ich ein ziemlich belustigter Sadist, was diese Sendung angeht, aber irgendwie bin ich wieder mit den Gedanken woanders. Wenig später gehe ich in mein Zimmer zurück, Chika hinterher. Ich weiß nicht, wieso ich gegangen bin, aber vielleicht wollte ich einfach, dass sie mir folgt. "Sag mal, Ellie, bedrückt dich vielleicht etwas?", will sie wissen und ich halte in der Mitte des Zimmers inne. Ich setze mich aufs Bett und seufze, ich muss erst nachdenken, was ich ihr von allem, was mich bedrückt, wirklich sagen möchte. Es gibt genug Dinge, die für die Ohren keiner bestimmt sind. "Meine Eltern, ich... ich weiß nicht, wie sie zueinander stehen, nach der Sache mit dem Autokino und dass wir nun kein Auto mehr haben, ich weiß nicht, das alles hat einen echt seltsamen Beigeschmack für mich, ich... denke an meinen leiblichen Vater, der ihnen jetzt dabei zusieht, wie sie glücklich sind, ohne ihn.", kommt nun einfach alles raus. Es ist immer wieder erstaunlich, wie ehrlich ich in Chikas Anwesenheit sein kann, das ist bei sonst keinem so. "Verstehe, du hast Angst, dass die Zukunft sich mit der Vergangenheit beißt und damit die Gegenwart ins Wanken gerät, stimmt's?", goldrichtig, Chika, du bist schlauer als du glaubst. Ich sehe wieder zu ihr um und sehe, wie sie die Tür schließt. "Kann ich dir denn nicht irgendwie in deiner Trauer helfen?", fragt sie mitfühlend. "Ich bin nicht traurig, es... ich weiß einfach nicht, was ich fühle, aber... nein, ich glaube, da kann man gerade nichts machen.", bedaure ich und wie aus dem nichts springt sie mir vor die Beine und sieht mich vom Boden aus an. Das erschreckt mich. Sie sieht mich gebannt an und ich überlege, ob ich nicht vielleicht doch noch etwas anderes sage. Ihr gestehen soll, dass ich sie mit Akira betrogen habe. Und nicht sagen kann, dass es nie wieder vorkommt, weil ich für Erinnerungen weitergehen würde als ich zugebe. "Shun-sama und Setsuna-sama schaffen das, ich bin sicher!", meint sie felsenfest überzeugt. "Die beiden sind unglaublich, sie sind stark, du musst einfach darauf vertrauen, dass ihr euch gegenseitig die Angst vor der Zukunft nehmen könnt, Ellie!", lautet ihre Devise. Je aufrichtiger ihre Worte sind, desto mehr tun die Schuldgefühle in meinem Herzen weh. Es brennt und ich habe Angst, daran zu ersticken, es ist nicht auszuhalten. Ich... ich bin so ein Mistkerl. Wieso habe ich nicht die Eier, ihr die Wahrheit zu sagen? Was mache ich eigentlich hier? "Ach, Chika... Du bist echt der Wahnsinn, weißt du das?", bemerke ich leise und mustere ihr Gesicht. Sie sieht nach wie vor besorgt aus um mich. "Ich kann immer noch nicht glauben, dass du dich in jemanden wie mich verliebt hast. Du bist immer nett zu mir, gibst mich nicht auf und tust alles, was in deiner Macht steht, damit ich mich wieder erinnere, egal wie unmöglich es scheint. Du warst es, die mich aus meinem leeren, trostlosen Alltag gerettet hat. Du hast mich wissen lassen, dass die Welt mehr bietet, als Menschen, die ich sowieso schon kenne und Dinge, die ich sowieso schon gesehen habe. Durch dich waren die Menschen in meinem Umfeld mehr als ein Haufen seelenloser NPCs, die für mich nicht weiter von Bedeutung sind. Ich endlich mehr in ihnen sehen als Mittel zum Zweck. Dank dir habe ich angefangen, mich aufrichtig für andere zu interessieren und nicht nur für mich zu leben. Du hast mir mehr gegeben, als ich jemals zurückgeben könnte. Dabei... verdiene ich dich doch überhaupt nicht!", Tränen rollen mir die Wangen runter und ich kann nichts dagegen tun. Die Schuld macht mich platt wie Dios Roadroller. Es tut so unglaublich weh. Chika fackelt nicht lange, als sie mich in die Arme schließt und ich mit meiner tröstenden Freundin an meiner Brust, auf der Matratze lande. Ich heule den ganzen Schmerz und die Schuldgefühle aus mir raus, während Chika auf mir liegt und nichts sagt. "Ellie... nicht weinen, bitte... Bitte sag' doch so etwas nicht. Natürlich machst du Fehler, vielleicht habe ich Erinnerungen an dich, in denen ich tief verletzt wurde, aber dennoch bist du... das Beste, was mir in meinem kümmerlichen Leben passiert ist. Der Grund, weshalb ich lebe, bist du. Ich war eine lange Zeit sehr traurig, ich hatte mir alle Welt zum Feind gemacht. Meine Familie und jeden, der von den Vorfällen wusste, die allein meine Schuld waren. Der Einzige, den ich hatte, auf den ich zählen konnte, Ellie, das warst du. Deshalb sag sowas nicht, verliere nicht den Mut. Sei nicht so gemein zu dir. Egal was kommt, egal was in der Vergangenheit, die du vergessen hast, vorgefallen ist. Egal, ob du dich vielleicht nie wieder an mich erinnern wirst. Ich bleibe für immer und ewig an deiner Seite, Ellie.", versucht sie mich aufzubauen. "Bis dass der Tod uns scheidet.", flüstert sie fast unhörbar leise, sodass ich es wohl nicht hätte mitkriegen sollen. Aber das eben doch nicht überhört zu haben, lässt mich fast selbst dran glauben. "Chika?", "Ja? Was gibt's?", "Musst du sterben?", Als ich das ausspreche, höre ich, wie sich ihr Herz überschlägt. "Müssen wir nicht alle irgendwann sterben?", flüstert sie kichernd. "Schon, aber nicht mit achtzehn, Chika-", "Soll ich dir was erzählen?", unterbricht sie mich. Ich will wirklich wissen, wie es um Chikas Lebenserwartung steht. Aber was sie mir vielleicht gleich erzählen wird, scheint für sie ebenfalls von essenzieller Wichtigkeit zu sein. Das spüre ich. Das sehe ich in ihrem Blick. Ich werde nachher darauf zurückgreifen müssen. "Ich denke, es ist besser, wenn ich dir irgendwann erzähle, was ich alles erlebt habe, mein Leben, von dem du immernoch nichts weißt, weil ich nie etwas erzählt habe. Warum ich allein lebe. Wieso alles so ist wie es ist.", leitet sie ein und rutscht wieder von mir ab. "Ich habe wie all unsere Freunde in Windstillhausen gelebt. Jedoch sollte ich bald erfahren, dass mehr hinter mir selbst steckte, als angenommen. Dass ich keine normale Schülerin war, eine normale Tochter, geschweige denn ein normaler Mensch. Ich dachte immer, das ist jetzt eben so, Chika Failman, das bin ich. Der Nachname klingt überhaupt nicht japanisch, das war immer das Erste, was den Menschen um mich herum aufgefallen war. Es gab ein paar böse Kinder mit Englischkenntnissen, die sich darüber lustig machten, dass das Wort "Fail", also "Versagen" in meinem Namen Failman beinhaltet war. Das tat etwas weh.", Chika lacht, macht dann eine Pause und betrachtet ihre Füße und meine. Es fällt ihr sichtlich schwer, darüber zu reden. "Na ja, auf jeden Fall... Meine Eltern, sie meinten immer, sie wüssten es besser, egal, was ich tat, mein Vater erkannte meine Bemühungen niemals an und meine Mutter schwieg. Ich musste erstmal auf eine Grundschule für Sonderfälle, die sich nicht in das System einfügen können. Ich war die Klassenbeste. Die Lehrer sahen das, denn ich hatte alles gegeben, um ihnen Perfektion zu zeigen. Ich gehöre nicht hierher, holt mich raus, dachte ich und gab alles, um sie davon zu überzeugen. Die Lehrer wollten mich dann nicht mehr auf dieser Schule, an der ich doch so fehl am Platz war, haben, ich wurde weggeschickt, aber auf eine normale Grundschule und das freute mich. Aber meine Eltern haben alles getan, damit ich nicht in die nächste Klasse versetzt wurde und die erste musste ich wiederholen. Dafür hasste ich sie. Meine Muter hat sie nie für mich eingesetzt und mein Vater nie an mich geglaubt. Freunde hatte ich auch keine und ich hatte niemand anderen als mich selbst. Mich konnte ich auch nicht leiden. In einem Streit mit meinem Vater nach der Schule, bin ich weggerannt. Ich wollte nur noch weg, ich hasste es, wie er sich mir immer in den Weg stellte, dabei wollte ich doch nur ein normales Leben führen und anerkannt werden. An diesem Tag, an jenem schicksalhaften Regentag, traf ich dich, aber ich bin sicher, dass du dich daran erinnern wirst. Selbst wenn ich mich an jedes Wort erinnere, ich kann nicht. Doch unsere Wege trennten sich wieder und ich war wieder allein. Mein Vater hatte eine Stelle im Ausland, Philadelphia, dort, wo meine Mutter herkommt und ich verbrachte meine Zeit, die restliche Schulzeit dort. Ich war sehr traurig und kurz vorm Aufgeben. Ich dachte, ich könnte niemals mehr zurück und müsste vergessen, wer mich zum Leben und Kämpfen brachte.", sie sieht mich wieder an. "Doch dann war ich dir im Traum begegnet. Es war der gleiche Ort in Windstillhausen. Das entfachte meine Hoffnung erneut. Dann, in der Mittelstufe, mit fünfzehn, kämpfte ich darum, wieder nach Japan zurückzukehren, um dich zu finden. Wie durch ein Wunder kam es Stress auf der Arbeit meines Vater, er wurde gefeuert und wir flogen zurück, weil wir keinen Grund hatten, länger dort zu bleiben. Und so kehrte ich zurück nach Windstillhausen. Mir war egal, dass ich erst im letzten Jahr der Mittelschule wieder dorthin zurückkehrte, wenn ich dich nur sehen konnte. Das tat ich dann auch und ich war glücklicher denn je. Aber... ich hatte Probleme in der Schule, weil ich den Großteil in Philly verbrachte und fast nur Englisch sprach, ich stürzte notentechnisch sehr oft ab und war oft den Tränen nahe vor Verzweiflung, dennoch wollte ich nicht zurück, weil du doch hier warst. Ich muss zugeben, ganz unschuldig bin ich nicht, schließlich weißt du ja, wie gerne ich im Unterricht schlafe. Aber... es gab etwas, dass mir noch mehr Kummer bereitete als meine Noten in der Schule. Das war das Mädchen, dass meine Eltern adoptierten. Sayaka-", sie bricht ab und ich sehe, wie sich ihre Hand zu einer Faust ballt und sie sich ihre Fingernägel ins Fleisch bohrt. "Du musst mir das nicht erzählen, wenn du nicht willst, ich-", "Es muss aber sein!", meint sie schnell und fährt fort. "Sayaka Tojo war meine neue große Schwester von diesem Tag an, sie ging schon auf die Oberschule und auf den ersten Blick bewunderte sie sehr. Doch das änderte sich schnell, sie entpuppte sich als skrupellosen Psychopatin, der mich nach ihren Wünschen sexuell missbrauchte.", ihre Stimme klingt kalt und fremd, während sie das sagt, so kalt, dass ich mich beinahe erschrecke. "Ich wollte meinen Eltern nicht noch mehr Ärger bereiten, denn ich wusste, weshalb Sayaka hier war. Nur, damit alles aussieht, als wären wir eine normale und gutherzige Familie, die ein Kind adoptierten. Doch die Beziehung meiner Eltern ging je mehr Zeit verging, mehr in die Brüche, und um sie zu retten, hatten sie Sayaka, die die Rolle meiner Schwester übernehmen sollte, hergeholt, in der Hoffnung, dass unsere Familiengemeinschaft vielleicht doch noch wuchs. Aber das ging nach hinten los. Ich wusste, dass meine Mutter in ihrem Büro für sich, beide meiner Eltern hatten eigene, etwas versteckte. Anfangst dachte ich, dass es schon nicht so schlimm sein würde, dass mich die Wahrheit nicht so unwiderruflich zerstören könnte, doch eines Tages, beschloss ich einfach, herumzuschnüffeln, als keiner zu Hause war. Ich fand ein Tagebuch. Das Tagebuch meiner Mutter und obwohl ich wusste, dass ich es nicht durfte, warf ich trotzdem einen Blick rein. Als ich das alles gelesen hatte, wollte ich sterben. Mein Vater war eigentlich gar nicht mein Vater. Ich war... das Ergebnis einer Vergewaltigung.", nun verzagt ihre Stimme komplett, das Flüstern, in dem sie mir das alles mitgeteilt hat, verfliegt und sie senkt ihren leeren Blick den Boden entgegen. Sofort lege ich dem Arm um sie und sage ihr zum x-ten Mal, dass sie es mir nicht sagen muss, aber das will sie gar nicht hören. Sie hebt wieder den Blick und versucht, ihre Tränen zurück zu halten. "Ich habe so getan, als ob ich nichts von all dem wüsste und ließ mich einfach weiter von Sayaka misshandeln. Ich dachte, dass wäre meine persönliche Strafe für alles, weil ich nicht existieren sollte. Doch eines Tages kam alles raus. Ich warf mit allem, was mich verletzt hatte und im Höhepunkt meiner Wut, stieß ich Sayaka vom Gelände der Treppe und brachte sie damit um... Da stand ein Budha, eine ziemlich große Statue, die mein Vater gekauft hatte und Sayaka fiel drauf. Ich hatte sie umgebracht, es gewitterte und überall war Blut auf dem Budha und dem Boden unter ihm. Deshalb habe ich so eine Scheißangst vor ihm. Das war die erste Person, die durch meine Hände starb. Dann rannte ich erneut davon. Und gefunden hatte mich, nachdem ich mir die Hände schmutzig gemacht hatte, kein Geringerer als du. ", lacht sie und ich bin fassungslos darüber, was für eine Last, sie all die Zeit mit sich herumgeschleppt hat. Wieder einmal habe ich keine Ahnung von dem Leben und den Gefühlen anderer. Und noch schlimmer war, dass ich nie danach gefragt habe. Ich wollte gar es nicht wissen. Kapitel 62: Vol. 3 - "Bodere" Arc: Weil wir zusammen stark sind --------------------------------------------------------------- "Chika. Es ist genug. Echt. Ich sehe doch, wie sehr dich das mitnimmt. Willst du meinetwegen wirklich wieder traurig sein, weil du daran denken musst?", flüstere ich vorsichtig auf sie ein.   Sie schüttelt fast unmerklich den Kopf.   "Es ist mein Wille.", haucht sie und legt ihre Hand auf die meine.   "Diese Erinnerungen tun weh, keine Frage, aber... weil du es bist, dem ich das erzähle, habe ich keine Angst. Weil ich dich liebe, kann ich es mit meinen Ängsten aufnehmen, Ellie.", jetzt sieht sie mich wieder an und hat diesen Blick in ihren Augen, der es einem verbietet, etwas dagegen einzuwenden.   "Meine Eltern haben mir diese Tat nie verziehen und auch ich konnte ihnen und mir selbst niemals verzeihen. Meine Mutter bekam, wie sich herausstellte, Wind davon, was ich getan habe, während ich allein zu Hause war. Mitten in der Nacht stand sie auf, war in meinem Zimmer und verprügelte mich. 'Ich hasse dich, du bist der Grund, weshalb ich mundtot bin. Nur weil es dich gibt, kann ich Endo nicht mehr in die Augen sehen! Du bist ein Kind, dass nicht hätte existieren dürfen, bilde dir bloß nichts ein! Es wäre besser, wenn ich dich abgetrieben hätte.'. An den Rest erinnere ich mich nicht mehr, ich weiß nur, wie sie anscheinend das Wohnzimmer und die Küche mit Öl überkippt und angezündet hat. Und sich selbst. An diesem Tag starben gleich zwei Menschen, nur weil ich existiere und jeden in meinem Umkreis ins Verderben stürze. Ich zog kurzerzeit später, nachdem du, nein... es ist unangebracht für mich, dir das auch zu sagen, nun, auf jeden Fall zog ich weg, ich sprach seither nie wieder mit meinem... Vater. Ich hatte ja offiziell keine Eltern mehr, weil meine Mutter verbrannt und mein leiblicher Vater nirgends aufzufinden war. Deshalb war es den meisten eigentlich ziemlich egal, wohin ich ging. Ich nahm das Geld, dass ich vererbt, arbeitete, wenn auch teilweise nicht auf legalem Wege, um Geld zu bekommen. Wegzuziehen und so oft die Schule zu wechseln wie möglich. Seitdem versuchte ich dich in der ganzen Stadt zu suchen und schließlich fand ich dich dann auch. Den Rest kennst du ja. Das ist das Ende der Chroniken des Mädchens namens Chika Failman. Es wird keine Zugabe geben.", damit endet Chikas Geschichte.   "Chika.", sage ich und jetzt bin ich es, der die Arme um sie legt und sie an sich drückt. "Ellie, es geht mir gut.", meint sie etwas stockend.   "Es reicht, wenn du weinst. Ich muss nicht auch noch. Auf dieser Welt gibt es größeres Leid, um das man weinen kann. Nur, weil ich nicht hier wäre, wenn niemandem wehgetan worden wäre, ist das doch nicht von Bedeutung.", lacht sie gequält mit einem Kloß im Hals. Ich drücke sie noch fester, sodass ich fast glaube, unsere Rippen verhacken sich ineinander.   "Ellie, das... das tut weh. Bitte drück mich nicht so fest. Ich werde nicht wie der Rest der Erinnerungen verschwinden, wenn du mich loslässt. Ich bleibe immer an deiner Seite. Gerade weil ich so viel Mist erlebt habe, gerade weil du du bist, haben wir doch zueinandergefunden. Hab keine Angst.", ihre Worte dringen in einem erstickten Laut zu mir hindurch und ich lasse sie vorsichtig los.   Ich fühle, wie wehmütig mein Blick ist, während sie mich einfach nur ansieht, wie sie es immer tut. Wieder nimmt sie meine Hand. Fast unbeholfen, aber nur fast, fährt sie mit ihr unter ihren Pullover und platziert sie in der Mitte ihrer Brust, wo ich ihre zarte Haut zittern und ihr Herz schlagen spüre.   "Eins sage ich dir, Ellie, mein Körper mag vielleicht missbraucht worden sein, vielleicht wurde mir wehgetan und vielleicht habe ich dardurch einen Großteil meiner Unschuld verloren, dennoch... ändert das nichts daran, dass ich es liebe, wenn wir einander berühren. Du hast viel durchgemacht und gibst dir die Schuld für vieles, aber es gibt so viele Dinge, an denen hast du keinen winzigen Prozent Schuld. Selbst, wenn wir miteinander schlafen, bei dir weiß ich, dass es richtig ist. Du tust mir nicht weh. Und selbst wenn. Du machst es nicht, weil du böse bist. Du hast ein gutes Herz. Und du bist mein Schatz.", da sind sie wieder, die Indizien dafür, dass Chika der wohl reinherzigste Mensch ist, den ich kenne.   Wenn du wüsstest. Ich bin schuldiger als alle denken. Sie dort zu berühren, steht mir vielleicht nicht zu. Nicht nur vielleicht. Aber was mache ich dann? Wieso bin ich hier?   "Ich danke dir.", meine Stimme bebt und ich wage nicht, ihr in die Augen zu sehen, obwohl meine Hand immernoch auf ihrem Herzen liegt.   Sie schiebt ihre Hand ebenfalls unter ihren Pullover und drückt meine zusätzlich noch etwas stärker an die Stelle, während sie näherkommt, ihre Stirn an meine gepresst. Ohne, dass ich ihr sagen kann, dass ich es nach wie vor nicht verdient habe, drückt sie ihre Lippen auf meine. Ich erwidere es, denn ich kann nicht anders. Es braucht keinen Grund, den wir bewegen uns immer schneller und der Kuss verliert immer weniger am Ding, was die Pärchen in der Öffentlichkeit an den Tag legen können. Ein mir fremdes Gefühl, ein neues Bedürfnis, durchflutet meinen Körper und das Einzige, das ich will, ist Chika. Etwas grob drücke ich sie auf die Mattratze. Als ich mich von ihr löse, sehe ich sie an.   "Ellie.", sagt sie und schaut zurück.    "Chika.", ich fühle Wärme in meinem Gesicht.   "Du siehst so traurig aus.",   "Ich bin nicht traurig.", antworte ich, weil ich von dem, was sie sagt, nicht wirklich eine Ahnung habe.   "Was geht in dir vor?", höre ich sie flüstern.   "Das ist nicht jugendfrei.", lasse ich sie daraufhin wissen und entlocke ihr ein Grinsen.   "Ach, Ellie.", haucht sie.   "Diese Regeln, von denen du sprichst. Wie lauten sie?",    "Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht genau. Es ist schwer zu erklären.", lautet ihre Antwort.   "Verstehe.", ich fahre mit meiner Hand leicht unter ihren BH und zeichne fast unmerklich ihren rechten Brustansatz nach.   "Wäre das gegen die Regeln?",   "Nicht, wenn du es bist. Hab ich beim ersten Mal vergessen zu erwähnen.", Chika grinst sanft.   "Du bist doch verrückt.", ich schiebe meine Hand tiefer ins Körbchen und umfasse ihre rechte Brust komplett.   "Du bist es, der verrückt ist.", Chika greift eine meiner Haarsträhnen.   "Sag, willst du's tun?", sie sieht mich ernst an, aber nicht so, dass es beängstigend ist.   "Ich denke schon. Aber nicht, wenn das bedeutet, dich zu zwingen, etwas zu tun, was du nicht tun willst. Außerdem... könnte es schiefgehen.", lasse ich sie wissen und bin einfach ehrlich.   "Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut. Ich nehme die Pille, weißt du?", ihr Blick wird wieder weich. "Und außerdem... kann es vielleicht sein, dass du Kondome gekauft hast?", rät sie grinsend und schnipst mir gegen die Stirn.   "Schon möglich.", Chika schmunzelt.   "Ich fasse es nicht, dabei meinte ich nicht einmal ernst.", sie sieht amüsiert aus. Auch, wenn es mir widerstrebt, steige ich von ihr runter und ziehe die Vorhänge zu. Dunkelheit. Weil ich aber meinen Rucksack noch brauche, knipse ich das Licht an. Es werde Licht. Ich setze mich ans Fußende des Bettes und ziehe den Reißverschluss des Rucksacks auf. Die CROWN*-Verpackung rausgefischt, seufze ich müde.   "Ist was, Ellie?",    "Ich weiß nicht mal, ob ich das Richtige gekauft habe. Das Einzige, wobei ich mir sicher bin, ist dass es günstig war. Bist du wirklich sicher, dass wir-", doch ehe ich meine Bedenken zu Ende geäußert habe, wird mir ein Haufen Wäsche entgegengeworfen.   Als ich mein Gesicht aus der Wäsche hebe und sie ansehe, grinst sie wieder. Das war ihre Kleidung.   "Du stresst dich zu sehr.", haucht sie. "Wir müssen nichts überstürzen. Selbst, wenn wir es tun wollen, auch wenn ich gerade halbnackt in deinem Bett sitze. Nichts ist falsch daran, es langsam anzugehen oder sogar ein andermal da weiterzumachen, wo man heute aufgehört hat. Tu einfach das, womit du dir sicher bist. Lass uns vorsichtig sein.", ich rücke etwas näher, an ihr Ohr, um die Vorsicht auszuprobieren.   "Ich höre die Leute immer sagen, dass der Freundin ins Ohr zu flüstern, unglaublich sexy ist. Was meinst du, wie schlage ich mich?", flüstere ich und Chika lacht.   "Das üben wir dann noch, das war einfach nur zum Schießen!", die Stimmung lockert sich wieder etwas.   Wieder etwas voneinander entfernt ziehe ich mir den Pullover aus. Entblöße meine Blöße. Die Narben aus dem Leben von Elvis. Mein nicht vorhandenes Sixpack. Meine absolut unspektakuläre Brust.    Chika robbt unter der Decke aus der Kleidung um ihren Unterkörper. Ein weiterer Haufen Wäsche fliegt von dannen. Auch ihres BHs entledigt sie sich und schlussendlich ist es auch die blaue Schleife, die frei wie ein Vogel durch die Lüfte flattert. Mein Blick bleibt hängen. An... allem. Man müsste meinen, das Internet dieses Augenblicks laggt mal wieder.   "Sieh... sie doch bitte nicht so direkt an.", bittet sie mich etwas verlegen und vergräbt sich etwas unter der Decke.   "Verzeihung.", zögerlich ziehe ich meine Socken aus.   Es wäre komisch, sie zu tragen, wenn man komplett nackt ist. Mein Blick fällt auf meine Hose. Ich wünschte, ich hätte mir mal Gedanken darüber gemacht, wie peinlich das eigentlich ist. Ich steige vom Bett runter, nur um mich ebenfalls zu Chika unter die Decke zu gesellen. Mit der Eleganz des Zappelphilipps** finde schlussendlich auch ich, wenn auch unbeholfen und überhaupt nicht so schnell wie ich wollte, den Weg aus meinem Beinkleid. Jetzt sind wir beide hier, Schulter an Schulter, unter einer Decke, wortlos und splitterfasernackt.   "Chika.", flüstere ich und streiche mit meinem Finger ihren Arm entlang.   "Ellie.", flüstert sie zurück und dreht sich zu mir.   "Was magst du so?", will ich wissen und berühre mit meiner anderen Hand ihre seidigen Haare.   "Essen, League of Legends spielen und... dich, Ellie.",   "Andere Frage, was würdest du mögen, dass ich tue?",   "Dass du mich... küsst.",   "Ich mag deine Bescheidenheit.", lasse ich sie wissen, richte mich auf und sehe sie an.   Ich nähere mich ihr, wie ich es immer tue und drücke meine Lippen auf ihre. Es ist wieder ein sanfter Kuss, den wir da haben. Die Heftigkeit, mit der wir die Berührungen und Bewegungen des anderen erwidern, wird immer stärker. Ich liege auf ihr. Es fühlt sich gut an. Ich mag, wie wenig ich über die Empfindung weiß, die jetzt von mir Besitz ergreift. Es ist so schön, sie so zu küssen, wie ich sie gerade küsse. Leidenschaft. Hitze. Erregung. Es ist wieder einer der Momente, in denen ich die Existenz in ihrer vollen Heftigkeit spüre. Die Feuchtigkeit unserer Zungen, die miteinander ringen. Unsere verbrennenden Körper, die wie zwei Magnete fest aneinandergedrückt werden. Chikas verlangende Hände auf meiner Haut. Als wäre allein das Haften von Fleisch auf Knochen schon eine Schwerstarbeit.   Als sowohl ihr als auch mir die Luft zum Atmen fehlt halten wir, immer noch fest miteinander umschlungen, inne.    "Chika... ich... ich denke... ich denke, ich will das wirklich.", höre ich mich keuchen, die Erschöpfung trübt meine Stimme.    Ob Elvis wohl je mit Chika geschlafen hat? Was hat diese Person wohl schon alles getan, von dem ich nie erfahren werde, was es war?   "Selbst, wenn jemand reinkommen könnte. Selbst, wenn ich dich nicht so befriedigen kann, wie du es dir insgeheim wünscht. Selbst, wenn ich das bin, was man scheiße im Bett nennt. Ich will das wirklich.", das ist, was gut von ihm wäre zu sagen.   "Mir... geht es doch genauso.", kommt es von ihrer Seite, eher stöhnend als sprechend, auch wenn ich überhaupt nichts gemacht habe.   Wäre es richtig, mit Elvis' Körper in Elvis' Leben derartig rumzualbern? Es ist schließlich seine Freundin, mit der ich es an seiner Stelle tue.  Die Freundin, die ihn liebt. Die Freundin, die er so kurz davor ist, womöglich zu schwängern. Wenn dieser Fall eintreten würde, hätte ich als der, den ich vorgebe zu sein, als der, der Elvis' Leben an seiner Stelle erfolgreich und effizient leben soll... versagt?   "Ich dringe... gleich in dich ein.", warne ich sie, auch wenn ich mir, um ehrlich zu sein, noch nicht einmal sicher bin, ob ich überhaupt dazu imstande bin.    Ich will es nicht wissen. Ich will es überhaupt nicht wissen. Er ist nicht mehr da. Nur deshalb bin ich da. Meine einzige Daseinsberechtigung ist dieser Körper. Elvis lebt nicht mehr, deshalb bin ich jetzt Elvis. Ich kann sein Leben genauso leben, wie ich es für richtig halte! Es sieht doch sowieso aus, als würde all das, was dieses Leben ausmacht, das sein, was mein Leben ausmacht. Das ist mein Bett, mein Körper, meine Freundin. Ich bin... ein freier Mensch!   Also bin ich am Zug. Und so, liebe Kinder, werden Babys gemacht.   Bumm! Knall! Peng! Knister! Explosionen! Feuerwerk!   Wie bitte, du dachtest, so beschreibe ich den Sex, den wir hatten? Wie ein Feuerwerk? Nein, das war das natürlich das richtige Feuerwerk von draußen, das mich in letzter Sekunde davon abgehalten hat, in sie einzudringen. Glaub mir, ich bin genauso enttäuscht wie du. Was vorhin noch so berauschend war, läuft mir jetzt nur noch als beschämten Schauer über den Rücken.   "Es tut mir leid.", entschuldige ich mich, nicht als Elvis, sondern als der, der die Situation auf egoistischste Weise ausgenutzt hat.   Beschämt über meine Überheblichkeit löse ich mich von ihr, steige mit den Füßen aus dem Bett. Den Blick abgewandt klaube ich meine Hose und meine Unterhose zusammen, um wenigstens irgendwas anzuhaben.    "Ich hätte das nicht machen sollen. Außerdem wäre ich fast ohne Kondom in dich eingedrungen, was absolut unverantwortlich gewesen wäre.",   "Das ist nicht nur deine Schuld! Schließlich war ich es, die dir gesagt hat, dass du dir keine Sorgen machen sollst!", lässt mich Chika wissen, als ich den Reißverschluss hochziehe und wieder alles dorthin verstaut habe, wo es hingehört.  Ich weiß nicht, was genau ich von ihr will, ich will es auch gar nicht wissen. Ich schäle Chika aus ihrem Pullover, so wie sie es mit mir versucht, doch ehe wir es uns überhaupt gegenseitig über den Kopf gezogen haben, hören wir es draußen knallen. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie dunkel es dort inzwischen geworden ist. Das Neujahr hat angefangen. Fast zeitgleich lösen wir uns voneinander und sehen beschämt in entgegengesetzte Richtungen.   "Sorry.", murmle ich schüchtern.   "Mir tut es auch leid, das ist gegen die Regeln.", bestätigt sie. Hat sie das nicht schon einmal gesagt? "Na, wenn du das sagst.", gebe ich ihr Recht.   "Lass uns nach draußen gehen und mit den anderen knallen.", schlägt sie vor, während sie ihren Pullover wieder in den Ausgangszustand bringt. "Klar, knallen wir.", scherze ich, indem ich "knallen" betone.   "Ellie!", atmet sie gespielt empört ein und boxt mich leicht in die Seite. Wenig später sind wir unten. Ein paar Tage nach Neujahr denke ich an das zurück, was Chika mir gesagt hat. Ich laufe im Park umher und frage mich, wie ich wohl voranschreiten möchte. Chika liebt mich und ich sie. Das tue ich wirklich. Doch wird sie mir das auch gleuben, nachdem sie die Sache mit Akira erfahren hat? Werde ich, nachdem Chika, mit Tränen in den Augen und Enttäuschung im Gesicht mit mir Schluss gemacht hat, überhaupt noch weiterleben wollen? Schließlich war sie es, die mir gezeigt hat, wofür es sich wirklich zu leben lohnt. Ich habe immer nur gelebt, weil ich es eben konnte, weil ich mein Selbstwertgefühl daran ausgemacht habe, ob ich wie Kaishi und Hanako, Klassenbester bin und ob die Menschen es mögen, dass ich fast ausschließlich Kapuzenpullis trage. Letzteres ist kein Witz. Ich muss mich Akira stellen. Das habe ich mir am Morgen nach unserem Techtelmechtel geschworen, ich werde Shuichiro verzeihen und hoffen dass auch er mir verzeiht und Kaishi... was ich mit ihm machen soll, weiß ich nicht, schließlich ist er der Einzige, mit dem ich noch reden kann, ich werde mich bei ihm entschuldigen, dass ich ihn mit meinen eigenen Problemen beladen habe. Ich habe noch so viel zu tun und mich so lange davor gedrückt. Ich bin ein Drückeberger, na und, schlimmer als hinterhältiges Arschloch, dass seine Freundin betrügt und seine Mitmenschen in den Selbstmord treibt kann ich eh nicht mehr werden. Na ja, ich kann, pass auf, ich kann das. Ich kann mich all dem stellen, ich kann mich meinen Ängsten stellen, weil es Chika gibt, weil sie existiert, kann ich die Dinge wieder ins Lot bringen. Wieder einmal wird mir das klar, es liegt doch so auf der Hand.   "Kyooooo-kuuuuun!", höre ich jemanden nach mir rufen.   Es gibt nur eine Person auf der Welt, die mich so nennt. Ich drehe mich um.   "Uchihara? Was 'n Zufall.", begrüße ich die Person, die den Park zusammenschreit und mir entgegenhüpft.   "Was gibt`s?", frage ich und starre das Brot an, dass sie im Arm wie einen Säugling hält.   "Ach nichts, ich wollte dich einfach nur sehen.", meint sie und grinst. "Lass quatschen, Kyo-kun, du bist oft hier, was? Ich auch. Dass du oft hier bist, weiß ich, seit ich hierher gezogen bin und diesen Ort auch oft heimsuche, weißte? Hier ist es nicht schlimm, lonely zu sein, ich mag es sogar, einfach rumzulungern, die Enten zu füttern und nachzudenken, ja.", es ist schön, sie glücklich zu sehen, weil sie doch noch ziemlich neu in der Klasse ist und generell eher einen traurigen Eindruck macht, das konnte ich auch nach der Sache mit Akiras Verschwinden beobachten.   Aber das behalte ich lieber für mich. Auf einmal reißt sie dem Brot-Baby den Kopf ab und drückt ihn mir in die Hand.   "Nimm es!" Kapitel 63: Vol. 3 - "Undere" Arc: Die andere Seite der Medaille ---------------------------------------------------------------- Uchihara-san und ich lehnen an das Geländer der Brücke, irgendwie fehlen uns beiden die Worte, denn worüber sollen wir auch miteinander reden? Schule? Wir haben Ferien. Hobbys? Was soll ich mit den Informationen? Beziehungen? Weil das automatisch auf Akira lenken würde, lasse ich auch das lieber sein. Worüber redet man so? "Sag mal, Kyo-kun, wer sitzt denn eigentlich auf dem Platz, der immer leer ist?", fängt sie an, etwas zu sagen. Ausgerechnet so eine Frage, aber weil sie ebenfalls ein Teil der Klasse ist, wüsste ich nicht, warum ich ihr das vorenthalten sollte. "Einem Schüler. Shuichiro Fujisawa, um genau zu sein. Er ist krank.", gebe ich wieder, was sich zugetragen hat, dass er krank sei, stimmt ja irgendwo, ich meine, was nicht gesund ist, ist krank, so ist das eben. "Und deshalb fehlt er seit ich hier bin? Ich habe Fuji-kun noch nie gesehen. Ist er vielleicht schlimmer krank als man wissen will?", diese Scharfsinnigkeit ihrerseits ist wirklich fast unheimlich, ich hätte nicht gedacht, dass sie mir gleich so auf den Schlips treten würde. 'Und dreimal darfste raten, wessen Schuld das ist.', denke ich, denn immerhin dachte Shuichiro, ich wollte ihm Kaishi wegnehmen, was auch immer er sich dabei gedacht haben muss. "Ja. Höchstwahrscheinlich wird er diesen Monat entlassen, ich kam noch nicht dazu, ihn zu besuchen, aber bald lernst du ihn kennen.", versichere ich ihr. Sie schweigt wieder. "Ach übrigens, es stimmt nicht, dass ich mit Akira geschlafen habe.", merkt sie plötzlich an. "Waaaaaas? Ohh… Ach ja, n-natürlich hast du das nicht...", das ist mir jetzt wirklich etwas peinlich, warum auch immer, frag mich nicht. "Was soll denn die Reaktion, Kyo-kun? Hälst du mich etwa für eine Schlampe?", will sie beleidigt wissen und funkelt mich böse an. "Nein, nicht doch, tut mir leid, es... du warst einfach so direkt und hast das so aus dem Nichts gesagt. Ich war nicht vorbereitet, bitte verzeih mir, Uchihara-san.", bitte ich um Entschuldigung. Ihr scharfer Blick wird wieder freundicher und sie beruhigt sich scheinbar. "Ist schon gut, ich bin nicht sauer, schließlich war ich mal wirklich eine Schlampe.", das hat sie jetzt nicht gesagt, oder? Das hat sie nicht gesagt. "Wie bitte? Sag doch sowas nicht.", versuche ich ihr das auszureden, aber wenn sie so ernst guckt, sind meine Chancen auf Erfolg wohl eher gering. "Doch, ich war das, was alle wohl unter der Beschreibung einer Prostituierten verstanden, ich hab es praktisch mit jedem gemacht. Auch mit Akira fast, aber er hat mich ordentlich zusammengestaucht deshalb, wollte nicht, dass ich weitermache, war echt knallhart zu mir, hab das gebraucht.", erklärt sie und ich lasse das auf mich wirken. "Das ist es also, Uchihara-san, dir scheint Akira ja wirklich am Herzen zu liegen, oder? Du magst ihn sehr, ich glaube, das freut ihn, auch wenn er das nicht so zeigt.", meine ich nur. Ich weiß, dass Akira Uchihara-san nicht egal ist, er kümmert sich und will sie nicht verletzen. Ich glaube, dass er sie wirklich ganz gut leiden kann. "Das freut mich zu hören, echt. Du magst ihn auch sehr, oder? Und er mag dich, da bin ich mir ganz sicher!", meint sie und das gibt mir kurz einen Stich. Ihn zu mögen. Von ihm gemocht zu werden. Das ist mehr als sie sich vorstellt. Ich weiß nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll und habe Angst, ihm wehzutun. Ich kann mich nicht bewegen. "J-ja. Wir sind beste Freunde.", antworte ich wahrheitsgemäß, denn trotz allem ist Akira mein bester Freund, das ist eben so, auch wenn es so viele Dinge gibt, von denen ich weiß, dass sie nicht in Ordnung sind. Gerade, weil er mein bester Freund ist, muss ich etwas tun. "Ich glaube, du bedeutest ihm viel. Noch mehr als jeder andere. Noch mehr als ich. Ich verstehe es, ich bin ja auch neu, aber... dennoch kann ich es nicht lassen, neidisch auf dich zu sein. Akira liebt dich. Oder zumindest sagt mir irgendetwas, dass es so ist. Sag ihm bloß nicht, dass ich das gesagt habe, auch wenn wohl selbst wissen wird, was er fühlt.", spricht sie weiter und verpasst mir damit einen kleinen Herzinfarkt. Meine Güte, sind wir denn alle so leicht zu durchschauen? Bin ich das auch? Scheiße, Akira und ich sind sowas von dran, wenn das so ist. Wenn jeder von unserem Geheimnis weiß. "Behaupte lieber nicht, von dem du nicht beweisen kannst, dass es stimmt. Wir haben keine Garantie, dass uns keiner hier beobachtet, der in unsere Klasse geht oder sonst etwas gegen uns in der Hand hat. Gerüchte können Menschen umbringen.", schärfe ich ihr ein und bin entsetzt, wie kalt und aggressiv meine Stimme auf einmal klingt. Als ob ich Uchihara-san töten würde, wenn das heißt, dass die Sache mit meiner Affäre mit Akira ein Geheimnis bleibt. Wenn das heißt, dass ich ihn beschützen kann... "Tut mir leid.", flüstert sie und lässt beinahe das Brot in ihrem Arm fallen. Ich fange mich wieder und drehe sie an den Schultern zu mir. "Nein, mir tut es leid, ich hätte sowas nicht einfach sagen sollen, es ist mir so rausgerutscht, weil ich... Vergiss es, ich wollte das einfach nicht.", gebe ich es auf, ihr alles zu erklären und lasse ihre Schultern los. "Du bist so lieb, Kyo-kun. Dass du so höflich zu mir bist, obwohl ich fast dabei war, deinen besten Freund zu schänden. Ich mag dich sehr, weißt du? Es war richtig, mir eben die Leviten zu lesen, ich verstehe manches einfach nicht so gut, wenn es um Zwischenmenschliches geht. Ich danke dir, Kyo-kun.", jetzt lächelt sie mich an, als wenn ich nichts in Richtung "Verpiss dich, du hast keine Ahnung, du dummes Stück Scheiße" gesagt hätte. Ich schmunzle. "Sag mal, wieso weißt du eigentlich, wie mein Name anfängt, also mit "Kyo"? Ich kann mich nicht daran erinnern, dir je meinen Namen mitgeteilt zu haben.", fällt mir beiläufig noch ein. "Naja, also Akira hat, als er im Krankenhaus aufgewacht ist, "Kyocchi" zu dir gesagt, also schloss ich daraus, dass dein Name so anfängt. Aber, sag mal, wieso nennst du mich denn Uchihara-san, obwohl ich dir auch nie gesagt habe, wie ich heiße?", kontert sie mit einer Gegenfrage. "Ich bin mit Kaishi Kazukawa, dem Typen mit der Brille und den langen Haaren, Klassensprecher und versuche daher, mir jeden Namen zu jeder Person zu merken, ich hab es nicht ganz drauf, aber als du neu in der Klasse warst und damit auch dein Name, war es ein Leichtes für mich.", prahle ich unterschwellig. Obwohl, so beeindruckend ist das nicht. Maaann, so was Blödes aber auch. "Ah... Und wie lautet dein ganzer Name? Mein voller Name ist Sanae Uchihara. Ist das nicht lustig, dass das Wort Uchiha drin ist? Als wäre ich aus dem Uchiha-Clan aus Naruto entsprungen, hehe.", witzelt sie. "Elvis Kyokei.", nenne ich ihr meinen Namen, gefasst darauf, dass sie wegen "Elvis" wohl ziemlich überrascht sein wird. Irgendwann gewöhnt man sich daran, wenn man so heißt, wie ein Gitarrenspieler. "Elvis? Wie der Gitarrenspieler, cool! Und Kyokei, das klingt wie ein Shonen-Jump-Charakter! Diese Kombi ist echt unglaublich!", was habe ich dir erzählt? "Ach, es gibt noch Unglaublicheres...", spiele ich es runter, trotz allem, das ich es gewohnt bin, bin ich jedes Mal so verlegen, Mensch, dass ist wirklich echt... uncool. Mann, irgendwann muss mich das doch mal nicht aus der Fassung bringen! Wenig später stete ich den Heimweg an. Das Brot ist verschwunden, die Enten sind jetzt pappsatt. Ich komme gerade am Kombini vorbei, da sehe ich plötzlich Akira. "Oh, hey Kyocchi, altes Haus, dass ich dich in den Ferien überhaupt mal sehe, hätte ich nicht gedacht, wo du doch mit Chika in den Flitterwochen warst.", neckt er mich. "Ja, das... war ganz lustig, ich dachte, es wäre vielleicht mal toll, Weihnachten mit ihr zu verbringen, also-", ich breche ab. Ich weiß nicht, was in Akira vorgeht, wenn ich weiter in s Detail gehe. Zumal ich nicht weiß, wie er Weihnachten verbracht hat, nachdem er seine Mutter verloren hat und es mit seinen Adoptiveltern schwierig ist. "Tut mir leid, ich wollte nicht...", "Hey, easy. Ist schon okay, ich weiß doch, wie sehr du sie liebst, bestimmt heiratet ihr, Mann, dass will ich sehen.", lacht er. Er scheint ernsthaft nicht unglücklich zu sein, deshalb lächle ich leicht. Ich verstehe es nicht, er liebt mich und trotzdem freut er sich für mich und das Mädchen, das ich liebe. Es ist so widersprüchlich, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. "Akira, ich muss mit dir reden. Irgendwann. Allein. Es ist wirklich wichtig.", bekomme ich endlich über die Lippen, was doch so wichtig ist und schon so lange fällig. Akira sieht gerade nachdenklich drein und dann geht ihm ein Licht auf. "Hey, Kyocchi, also ich finde wir sollten mal zusammen wegfahren. Einfach mal weg. Und über alles reden. Ich denke, es wird Zeit.", sagt er und sieht mich eindringlich an. Er grinst. Du musst natürlich nicht, wenn du nicht mit mir weg willst, ich zwing dich zu nichts.", beteuert er. "Doch, ich will.", weiche ich aus. Jetzt lächelt er, nur schüchterner. Das sieht man bei Akira nicht gerade oft, er ist doch sonst immer so unverwüstlich und allseits fröhlich. "Dann lass uns diesen Samstag gehen.", schlage ich vor und rechne aus, dass wir noch genug Ferientage haben, um das durchzuziehen. "Wie du sagst, es wird Zeit." wiederhole ich. "Dann sind dass UNSERE Flitterwochen?", scherzt Akira und hat wieder dieses Lennyface-Gesicht angenommen. "Du bist ein Idiot, Akira." Kapitel 64: Vol. 3 - "Undere" Arc: Zurück zu alten Ufern -------------------------------------------------------- Akira: Ich wäre vor lauter Vorfreude fast verreckt. Es war richtig schlimm, ich konnte an fast nichts anderes denken. Wir machen nicht zum ersten Mal etwas zusammen geschweige denn allein, aber nach der Ankündigung, ich weiß nicht, klingt das anders. Als hätten wir ein... Date. Sofort verbanne ich diesen Gedanken aus meinem Kopf und schüttle ihn heftig, bis mir schwindelig wird. Heute ist der Tag. Heute fahren wir. Zum Haus am See. Crash und ich haben uns ewig nicht gesehen, bestimmt staunt er nicht schlecht, wenn ich mich mal wieder bei ihm blicken lasse. Hoffentlich können Kyocchi und ich, wie wir es eigentlich vorhatten, auch allein sein, damit wir uns endlich aussprechen. Aber ich gehe davon aus, immerhin arbeitet Crash schon und hat sich anderweitig viel zu tun. Und trotzdem hat er immer Zeit für mich. Ich habe meinen Eltern diesmal Bescheid gesagt, dass ich übers Wochenende die Stadt verlasse, was aber eigentlich keinen Unterschied macht, weil ich sowieso nicht bei ihnen wohne. Ich komme ab und zu vorbei, zum Beispiel an Weihnachten und sie sind auch sonst immer echt nett zu mir, aber irgendwie fühlt sich was nicht richtig an. Ich wusste von Anfang an, dass ich nicht wirklich ihr Sohn bin. Meine Eltern haben gar nicht erst versucht, das vor mir zu vertuschen und haben mir gesagt, dass ich eines Tag meine leiblichen Mutter finden muss, wenn ich alles verstehen will. Sie hatten Recht. Aber ich fühle mich zu meinen Eltern irgendwie nicht verbunden genug, ich habe das Gefühl, dass ich mich selbst verarsche, wenn ich diese Tatsache vergesse. Ich will ein anständiger Sohn sein, sie sollen Stolz auf mich sein, auch wenn ich nicht ihr Kind bin. Ich ziehe die Lederjacke vom Kleiderhaken und greife den Helm, nachdem ich mich fertig angezogen und alles gemacht habe. Mein Gepäck fällt spärlich aus, ich brauche nicht viel. Ich habe keinen Helm für Kyocchi, fällt mir gerade noch ein und wieder bin ich ratlos. Ich nehme das Gepäck, den Motorradschlüssel und den Helm, als ich die Tür öffne und Len, mein Zimmernachbar, an mir vorbei schlendert. "Ein Roadtrip?", fragt er und sieht erst den Helm und dann mich an. "Jep, irgendwann muss es wieder sein, mein armes Bike vereinsamt sonst noch voll.", entgegnet ich grinsend. "Kann ich vielleicht deinen Helm ausleihen?", Akira fackelt nicht lange, sonst verbrennt noch was. "Noch einen? Ui, fährt vielleicht noch jemand anderes auf deinem geilen Straßenpferd mit?", neckt er mich. "Das kann man so sagen.", meine nur ich mysteriös. Er verschwindet kurz in seinem Zimmer und erscheint wieder mit einem zweiten Helm für mich unterm Arm. Weil ich offensichtlich keine Hand frei habe, setzt er seinen Helm einfach auf meinen Kopf. Und klopft auch noch drauf. Dann kehrt er mir endgültig den Rücken zu. "Benutzt Kondome, ihr zwei!", macht er sich noch ein letztes Mal an diesem Wochenende über mich lustig. "Sehr witzig, Mann. Und danke für den Helm!", rufe ich hinterher, bevor er verschwindet. Auf der Hand, die das Gepäck hält, sehe ich auf meine Uhr. Es ist Zeit, zu gehen. "Ich wusste gar nicht, dass du in einem Wohnheim lebst, Akira. Und dass du wirklich ein Motorrad besitzt, das ist echt cool!", Kyocchi ist ganz hin und weg von meinem Gefährt. "Bist du schon mal mit Motorrad gefahren?", frage ich ihn, als er es genauer betrachtet. Er wendet sich zu mir und sagt: "Nein, noch nie, das ist mein erstes Mal auf einem.", sein erstes Mal also, na, das trifft sich ja gut, wenn das heißt, dass ich der Erste bin, der ihm den Spaß am Motorradfahren zeigt. "Sag mal, wo fahren wir eigentlich hin, Akira?", will er wissen und sieht etwas beunruhigt aus. "Zu einem Kumpel von mir, der Hat ein Haus am See. Ist total cool dort!", begeistere ich ihn und ich sehe, dass ihn diese Vorstellung ebenfalls gefällt. Ich nehme sein Gepäck, das ähnlich klein ist wie meins, da wir ja nur eine Nacht bleiben wollen, und auch meins und verstaue es in dem Koffer des Motorrads. Ich setze mich auf das Motorrad und bedeute ihm, sich hinter mich zu setzen und meine Taille zu umklammern, als er den Helm, meinen Helm aufsetzt. Zaghaft, als wenn er etwas kaputtmachen könnte setzt er sich drauf und legt die Arme um meine Taille, wie ich es ihm gezeigt habe. Ein ziemlich wildes Kribbeln macht sich in meiner Magengegend, dort wo Kyocchi mich festhält, breit, als ich den Motor starrte und dieser aufheult. Ich fühle, wie Kyocchis Herz vor Aufregung schneller schlägt und das lässt auch mein Herz schneller schlagen. "Halt dich fest.", ordne ich leise an, ehe wir davondüsen. Die fahrt war ziemlich rasant und ich konnte fast schon Kyocchis Angst riechen, aber gleichzeitig konnte ich nicht aufhören, so schnell zu sein, weil es doch eine Schnellstraße war und ich es mochte, wie er sich an mich presste. Das ist echt gemein von mir gewesen. Aber ich glaube, am Ende fand er es doch witzig. "Und, wie war das?", suche ich nach seiner Antwort und helfe ihm vom Motorrad, als wir angekommen sind. "Es war... also, ich finde du hast einen ziemlich euphorischen Fahrstil.", meint er nur und ich nehme ihm den Helm vom Kopf, ehe ich meinen eigenen selbst runternehme. "Das nehme ich doch mal als Kompliment!", meine ich und hole unser Gepäck aus dem Koffer. "Krass, dass dein Freund ein Haus am See hat.", flüstert er. "Ja, nicht? Der ist voll korrekt, lernst ihn gleich kennen, wenn wir Glück haben, ist er nicht bei der Arbeit.", "Du weißt das nicht?!", jetzt ist er schockiert. "War nur ein Witz, der hat samstags Spätschicht.", beruhige ich ihn. "Los, komm, der wartet schon.", dränge ich ihn, nachdem ich mein Motorrad geparkt habe und nehme ihn bei der Hand. Er fährt zusammen. Stimmt, vielleicht nimmt man seinen gleichgeschlechtlichen besten Freund nicht einfach so bei der Hand. Aber andererseits, wir sind ganz alleine hier. Und Crash kennt mich. Es gibt keinen Grund, auf die Normen Rücksicht zu nehmen. "Es ist okay. Keiner sieht uns.", sage ich leise und er nickt nur fast unmerklich. Keiner sieht uns. Aber nur weil das so ist, heißt das nicht, dass Verbotenes erlaubt ist. "Akira, altes Haus, Mann, dich hab ich ja ewig nicht mehr gesehen!", lallt Crachs und nimmt mich zur Begrüßung in den Schwitzkasten, um ordentlich seine Faust an meinen Scheitel zu reiben, bis er brennt. "Aaaaahhh, lass das, Crash, das tut weh!", lache ich und versuche mich aus seinem Griff zu befreien. Als er Kyocchi entdeckt, lässt er mich vorsichtig wieder los. "Crash mein Name, nett dich kennenzulernen, unbekannte Person.", begrüßt er auch Kyocchi. Dieser hebt nur schüchtern die Hand und betritt wie ich das Haus. Wir ziehen die Schuhe aus und setzen uns an den Frühstückstisch, weil es für ein Mittagessen noch etwas zu früh wäre. "Und wer bist du, wenn ich fragen darf?", will Crash mit Chicken Burger, und ja, den isst er wirklich zum Frühstück, wissen. "Elvis Kyokei... ich gehe ich Akiras Klasse.", stammelt er, und nimmt einen Schluck Kaffee, den er vorhin gemacht hat, weil Crash und ich in der Küche nicht einmal die Kaffeemaschine benutzen können, die da steht, wir sind absolute Küchennoobs. Crashs Augen weiten sich und er verschluckt sich fast an dem Burger, aber nur fast, weil er Kyocchi ja nicht verunsichern will. Ich weiß genau, wieso er bei dem Namen fast erstickt. Und es ist meine Schuld. Er sollte diesen Namen eigentlich gar nicht kennen. "'Nen abgespacten Namen hast du da, Kleiner!", findet Crash und lacht, Kyocchi lächelt schüchtern. Schon krass, wie eine Person, die sonst immer so cool und stoisch ist, so schüchtern und ängstlich sein kann, Kyocchi ist echt süß. Aber ich weiß, dass ich das nicht denken darf. Er liebt Chika. Und ich sollte mich in Sanae verlieben. Und ich sollte mich vor allem bei Crash dafür entschuldigen, dass ich ihn damals benutzt habe. Das war nicht nett von mir. Und trotzdem lässt er mich in sein Haus. Er verzeiht mir einfach. Zumindest hat es den Anschein. Und auch Akane, sie scheint mich trotz allem nicht zu hassen. Und auch Kyocchi hasst mich nicht. Obwohl ich so eine niederträchtige Person bin, andere verletze und ausnutze, obwohl ich jeden jedes Recht gebe, mich zu hassen. Ich weiß nicht, was ich tun kann, um die Zuneigung und den Nicht-Hass meiner Mitmenschen auch wirklich zu verdienen. Ich versuche, mein Herz in die richtige Richtung zu lenken, aber ich kann nicht aufhören, ihn anzusehen, obwohl ich muss. Auch wenn keiner es wahrhaben will, auch wenn es mir keiner ins Gesicht sagen würde, ich weiß es besser als all die anderen. Ich habe die Einsamkeit verdient. Kapitel 65: Vol. 3 - "Undere" Arc: Es tut mir so leid... -------------------------------------------------------- Elvis: Wir sitzen im Wohnzimmer Schrägstrich Esszimmer und zocken. Unravel Two* für die Playstation 4**. Tatsächlich kann man dieses Spiel zu zweit spielen. Akira ist das blaue, fadenartige Etwas und ich bin das rote, fadenartige Etwas. Zusammen bewegen wir uns durch das virtuelle Paradies. Die grüne Natur dieser wunderschönen Scheinwelt ist so viel prächtiger, als die Realität, aus der wir in diesem Moment auf sie blicken. In der Welt, in der wir uns jetzt befinden, sind wir keine Menschen. Wir haben niemanden hintergangen. Wir haben nichts miteinander. Das rote Männchen hat seine Freundin nicht mit dem blauen Männchen betrogen. Es trägt keinesfalls die Schuld am Zerfall des Lebens eines Menschen, dessen Platz es einnehmen muss. Das fadenartige Etwas ist auch unmenschlich der besserer Mensch von uns beiden, netter und menschlicher als ich es jemals war.    "Hey, Kyocchi.", sagt er, um meine Aufmerksamkeit zu erregen.   "Was ist, Akira?",   "Hasst du mich?",   "Wie kommst du denn jetzt darauf? Nein, ich hasse dich nicht.", antworte ich.   "Das freut mich.", wir spielen eine Weile weiter, bis wir irgendwann nicht mehr wollen. Irgendwann will man auch in unserer Situation in seine eigene Welt zurück.   "Liebst du mich denn?", flüstert er, wenig später, kaum dass wir tatenlos auf dem Teppich sitzen und nichts tun.   "Du weißt, dass mich das überfordert. Jene Fragen wie diese. Was sensitive Fragen angeht, wäre keine einzige meiner Antworten gut genug.", lasse ich ihn wissen.   "Kyocchi, sag mal, was ist Liebe denn überhaupt?",   "Wenn du mich an der Nase herumführen willst, nicht cool, Alter.",   "Das möchte ich doch gar nicht... Also, nicht nur. Ich würde es nur gerne mal von dir hören.", Akira grinst etwas verlegen.   "Du bist ein Idiot, Akira.", ich verstehe nicht, was mit diesem Jungen los ist. Obwohl sein Lächeln ungetrübt bleibt, ist sein Blick doch auch auf seine eigene Weise leer und müde.   "Ich bin froh, dass ich es war, der dich an der Nase rumführen durfte.",   "Bitte?", verstehe ich noch weniger.   "Ich konnte dich nach Belieben manipulieren und habe dir meine Bedürfnisse aufgezwungen. Selbst, wenn ich dir damit die Luft zum Atmen genommen habe, war allein der Gedanke, dass ich etwas haben konnte, was anderen verborgen blieb, einer der Dinge, die ich liebgewonnen hatte. Es waren die Momente, in denen du nur mir gehört hast. Egal, wie selbstsüchtig und unmöglich ich war, du warst stets der, auf den ich mich schlussendlich verlassen konnte. Und ich war auch glücklich, als du dich im Gegenzug auf mich verlassen hast. Ich denke, wenn das bedeutet, dass ich bei dir sein kann, bin ich gerne der Böse.", Akira lacht.   "Du glaubst, du bist böse?",   "Wie, das ist nicht, was du denkst? Wir hatten Sex, Kyocchi und ich wusste, dass du eine Freundin hast. Das hat mich nicht davon abgehalten, über dich herzufallen. Auch, dass es euch beide auseinanderbringen könnte, hat mich nicht davon abgehalten. Die ganze Zeit hast du mich als den besten Freund gesehen, welcher dir zeigt, wo es langgeht und nebenbei verfickt geile Witze reißt. Dass ich das irgendwo wirklich bin, ändert nichts daran, dass ich dich belogen und die Beherrschung verloren habe, als ich gemerkt habe, dass mich auch das nicht erfüllt.",   "Verstehe.", lasse ich hören. "Aber, sag mal, Akira.", Akira sieht mich mit neugierigen Augen an.   "Bist du jetzt glücklich?", und die Augen weiten sich erneut. Akira sieht aus, als hätte ich ihn gerade einen Tritt in den Schritt verpasst.   "Aki-", doch ehe ich ausreden kann, lacht er laut.   "Ob ich glücklich bin, oh Kyocchi, du bist echt einer.", grinst er und verwirrt mich ein weiteres Mal an diesem Abend.   "Ich bin immer glücklich, solange du es bist, mit dem ich meine Zeit verbringe.", ich spüre seine Arme um meinen Körper und sein klopfendes Herz an meinem Ohr. Seine Brust hebt und senkt sich an meinem Kopf.    "Akira, das...",   "Ich weiß, dass du mich dafür umbringen wirst. Du wirst mir wieder sagen, dass ich ein Idiot bin. Mir sagen, dass ich unvernünftig bin, es Failman, Uchihara und allen anderen gegenüber weder fair noch anständig wäre. Aber dennoch, auch wenn ich nur eine gewöhnliche Affäre bin, für mich bist du so viel mehr. Ich würde nicht für dich sterben, weil das heißt, dass jemand anderes an meiner Stelle hier wäre. Aber dennoch, du bist alles für mich. Ich denke, irgendwo war es schon immer so, noch bevor es mir bewusst wurde. Irgendwo war ich wohl... schon immer in dich verliebt, Kyocchi.",   Wie wird es mit unseren Helden weitergehen? Dies alles erfahrt ihr in der nächsten Folge von One Piece***. Entschuldigung... Aber im Ernst, was passiert hier? Was soll das? Hat Akira sich ernsthaft in Elvis verliebt? Also, so richtig, auf die gleiche Art wie Chika? Romantisch?! Was soll ich jetzt tun? Wie verfahre ich in so einer Situation, bei der mir nochmal so richtig klar wird, was für einen Mist ich in Elvis' Leben gebaut habe?   "Du sagst ja gar nichts, mein Freund.", haucht er belustigt. "Du bist süß, wenn du so schüchtern bist. Es ist gut, du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß, dass meine Gefühle nicht erwidert werden, egal, wie sehr ich es versuche. Du wirst sie immer lieben. Aber das... das ist mir jetzt egal. Wenn es mir nicht egal wäre, würde ich verrückt werden. Vielleicht... vielleicht bin ich bereits verrückt. Und trotzdem... lässt du mich dich berühren.", was er mir wohl sonst noch sagt? Was geht in ihm vor?   "Du bist ein guter Mensch, Kyocchi.", bin ich nicht, sonst wären wir jetzt nicht hier.   "Ich verstehe mich mit niemandem besser als mit dir. Immer bist du es, der mich am Besten versteht.", ich verstehe dich nicht, Akira.   "Auf dich konnte ich immer zählen, immer habe ich nur daran gedacht, was ich tun könnte, damit du zumindest in deinem Herzen meinetwegen, wenn auch nur ein bisschen lächeln kannst. Deshalb habe ich diese Welt, diesen Alltag aufgebaut. Aber es tut weh, weißt du. Es tat die ganze Zeit weh, diese Welt aufrechtzuerhalten.", Akiras Stimme klingt so... fremd.   "Ich kann nicht länger der sein, den ich die ganze Zeit vorgab zu sein. Ich kann diese Welt nicht mehr sehen. Diese Ordnung, die eigentlich nicht echt ist. Sie brennt in den Augen. Ich will es zerstören, ich will es so sehr zerstören. Aber dich... dich will ich... beschützen.", Sein Griff um meinen Körper verhärtet sich so, dass es mir Schmerzen bereitet.   "Wozu noch Ordnung halten? Wozu noch lügen? Ich kann nicht mehr, Kyocchi. Ich sehe dir doch an, wie sehr es dich zerreißt. Dieser Alltag in einem Leben, in dem man eben nur da ist, um da zu sein. Weil man seinen Platz einnehmen muss. Weil andere es so von einem erwarten und man es nicht erträgt, sie zu enttäuschen und von Herzen egoistisch zu sein.", ohne dass ich es will schnappe ich erschrocken nach Luft.   "Lass uns dieser öden Ordnung ein Ende bereiten. Wir brauchen das nicht. Ich will nicht an die Vergangenheit oder Zukunft denken. Ich brauche nur heute. Es gibt kein Happy End, egal was wir tun und was nicht. Es ist zu spät. Es ist sinnlos. Deshalb...", Akira löst mich aus der Umarmung und sieht mich an. Er schaut so, wie man es lustvoll nennt.   "Lass mich ran. Lass uns zu zweit diese Ordnung zerstören. Willst du das nicht? Diese Spannung, diese Ungezwungenheit? Du hast immer davon gesprochen, als wir in der Mittelschule waren. Ich kann dir all das geben, Kyocchi.", seine Worte lähmen mich, lassen mich die Kälte, die draußen tobt hier im Wohnzimmer spüren.   Akira küsst meinen Hals, als er mich grob an den Boden drückt. Machtlosigkeit macht sich in meinem Innern breit, gefolgt von Überforderung und Chika. "Das geht nicht.", "Nicht mit der Einstellung.", Akira zieht mir den Pullover über den Kopf und ich versuche, ihn abzuschütteln. Nur nicht stark genug, weil ich weder die Kraft noch die Immunität gegen die Wirkung seiner Worte auf mich oder seine Muskeln habe.  Er hievt meine Hüfte auf seine Schoß und entblößt dabei die Haut unter meiner Hose. "Du bist ein Idiot, Akira.", hauche ich und noch immer schlägt mir das Herz vor der unterschwelligen Panik bis zum Hals. "Lass es einfach geschehen, Alter.", höre ich seine leise Stimme, die so klingt, als wäre er komplett von Sinnen. Ich sollte das nicht. Ich darf das nicht. Ich will das nicht. Ich darf das nicht. Aber warum tue ich nichts? Wieso schlage ich ihn nicht? Weil er recht hat? Weil ich Angst habe? Ich will nach Hause. Ich will so sehr nach Hause. Ich will zu Taiyo und mit ihm über die Idiotie im Fernsehen lästern. Ich will zu Chika, um mir einzureden, dass ich in Elvis' Leben nichts zerstört habe und noch alles ist wie vorher. Ich bin nur hier, weil ich es ihm schuldig bin. Ich, der in seinem Körper wohnt, habe nichts! Das sind nicht meine Freunde, Familie oder Klassenkameraden und ich bin auch nicht ihr Freund, ihre Familie oder ihr Klassenkamerad. Das sind nicht meine Lippen, die sie immer wieder küsst. Das ist nicht meine Hand, nach der er heute Mittag gegriffen hat! Das ist nicht mein Körper! Das ist nur die Hülle dessen, den sie sehen wollen. Er ist nicht da, nur ich bin hier. Mir stockt der Atem, als Akira ohne jede Rücksicht in mich eindringt. Darauf folgen unterdrückte Schreie, die so klein und abgehackt sind, das man sie fast nicht hören kann. Es werden immer mehr qualvolle Schreie, die ich immer weniger unter Kontrolle habe. Es tut so weh, es tut so weh, es tut so weh! Dieser Schmerz ist schlimmer als alles andere. Warum bin ich hier? Wieso bin ich hergekommen? Warum ist Elvis damals nicht gestorben? Wäre er gestorben, dann wäre auch die Existenz meiner Seele in dieser Welt niemals möglich gewesen! Ich hätte niemals existiert. Ich wäre niemals gezwungen worden, sein Leben an seiner Stelle weiterzuführen! Niemals hätte ich seine Familie, seine Freunde und sein Umfeld kennengelernt. Niemals wäre ich Chika Failmans Freund geworden. Nie hätte sie gedacht, dass der Junge, den sie liebt, zurück in ihr Leben gefunden hätte. Das hat er nicht! Er ist tot! Tot, tot und nochmals tot! Derjenige, der all das seit drei verdammten Jahren mitmachen musste, bin ich! Und ich bin so überfordert. Mit der Existenz als Elvis auf dieser Welt, dem Leben als gedächtnisloser Oberschüler in Shizukazemachi. Es ging nur darum, meine Aufgabe zu erfüllen. Dazu brauchte ich noch nicht einmal Gefühle. Ich konnte mir mit meinem Wissen ein Bild von diesen irrationalen Vollidioten machen, die sich Menschen nennen. Seelisch und geistig bin ich anders als sie alle. Ich werde nie so fühlen wie sie. Ich habe nie so gefühlt und ich werde nie so fühlen wie sie. Ich war so etwas wie ein psychologischer Zombie. Und doch wird mir physisch so viel Leid zugefügt, dass es auch mein Innerstes zerreißt. Schlussendlich bin auch ich durch mein Ersetzen seiner Existenz ein Mensch. Mit jedem gewaltvollen Stoß von Akira in sein körperliches Inneres wünscht sich dieser Mensch, der nicht hier sein sollte, er würde genauso enden, wie es vor seinem Erwachen nicht der Fall gewesen war. Genauso tot zu sein wie der, der diesen Schmerz eigentlich an meiner Stelle hätte ertragen sollen.   ***   Es ist inzwischen dunkel draußen und es regnet immer noch. Mir ist kalt. Und doch auch irgendwie warm. Abgedunkelt sieht die Wohnung ganz so aus, wie man es traurig nennt. Ob Elvis jetzt wohl weinen würde? Vermutlich tut er das gerade. Er weint ganz bestimmt. Weint, weil ich sein Leben so hart gegen die Wand gefahren habe, dass anstelle eines Autos nur noch ein großer Haufen entstellter Schrott zurückbleibt. Ich weine nicht. Überhaupt bin ich zu nichts mehr fähig. Meine Gliedmaßen sind schwer wie Blei.   "Kyocchi.", flüstert Akira und küsst wieder meinen Nacken.   "Was ist, Akira?", frage ich. Meine Stimme klingt ganz dünn und kraftlos dabei.   Logisch, ich bin ja auch kraftlos. Ich liege hier und kann mich nicht bewegen. Mir tut alles weh. Es ist wieder einer der Momente, in denen ich die Existenz in ihrer vollen Heftigkeit spüre. Der Teppich unter mir, die Kälte um mich herum, Akiras Körper an meinem. Als wäre allein das Haften von Fleisch auf Knochen schon eine Schwerstarbeit.   "Woran denkst du?", will er wissen.   "Weiß ich nicht. Weißt du denn eigentlich, was du getan hast?",   "Tat's weh?", fragt er mich.   "Du hast mich vergewaltigt, natürlich tat's weh, du irrationaler Vollidiot.", Akira fährt mir durch die Haare. Seine Hand streichelt sanft meinen Kopf.   "Hey, Kyocchi, kannst du das hören?", fragt er mich, als sich über mir aufbaut und ich das verschmitzte Glitzern seiner Augen sehen würde, wenn es nicht so dunkel um uns wäre.   "Was soll ich denn hören? Da ist nichts.",   "Das ist das Geräusch des wundervollen Chaos. Was meinst du wird jetzt passieren?", hofft er, von mir zu hören.   "Was auch immer dir gerade durch den Sinn geht, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du sprichst, Akira.", ich höre ihn schmunzeln und wieder kitzeln seine etwas versprödeten Lippen meinen Hals.   "Das wird schon. Ich zeige es dir. Das Geräusch des-", doch ehe er den Satz beenden kann, zerreißt ihn ein bedrohliches Knurren an der Stelle, an der eigentlich das Chaos stehen sollte.   Kraftlos sackt Akira zusammen und landet auf mir. Ein erschöpfter Seufzer entfährt ihm dabei.   "Akira, du-",   "Kyocchi, Alter, nichts für Ungut, aber wenn ich nicht bald was zu essen bekomme, esse ich dich.",   Das meinte die Stimme aus dem Off also, als sie sagte "Du bist nicht du, wenn du hungrig bist."****   *** Sein Blick ist leer und er sieht müde aus.   "Nur so ein Gedanke. Ich war... eine Last, was? Habe dir einfach meine Bedürfnisse aufgezwängt. Dir keinen Raum zum Atmen gegeben. Du bist mit Chika zusammen. Und trotzdem habe ich so etwas getan, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verlieren, dass ich Chika und dich damit auseinanderbringen könnte und es deshalb lassen soll. Ich war ein Egoist und habe dich benutzt. Ich kann noch nicht einmal sagen, dass es mir leidtut.", erklärt er, was in ihm vorgeht und ich stehe auf.   "Das stimmt gar nicht Akira! Das ist überhaupt nicht wahr! Vielleicht bist du mir an die Wäsche gegangen, vielleicht fühlst du wirklich so wie du fühlst! Aber ich bin um Welten schlimmer! Ich habe dir wehgetan, indem ich mit dir rumgemacht habe, nur, um meine erinnerungen zurückzubekommen! Ich habe meine Verletzung ausgenutzt, um dir zu schaden, Akira! Ich bin der Egoist in diesem Raum und nicht du!", fauche ich und jetzt steht Akira ebenfalls auf.   "Aber dass du überhaupt verletzt worden bist, ist auch allein meine Schuld, wenn du wüsstest, Kyocchi, ich bin der Ursprung allen Übels, im Ernst, Mann! Was ich getan habe, wird mir nie ein Mensch verzeihen können, noch nicht einmal du! Kapier das endlich!", keift er und drückt mich gegen die Wand.   Wir starren einander einfach nur an. Eben waren wir noch so laut und jetzt fehlen uns wieder die Worte, um einander anzubrüllen und zu streiten, wer der Schuldigere von uns beiden ist.   "Tut mir leid, bin wohl wieder zu laut geworden.", kichert er wehmütig.   "Nein, ich habe angefangen.", widerspreche ich.   Ohne, dass ich weiß, wieso, sinke ich an der Wand auf den Boden und Akira fällt auf die Knie.   "Ich... habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich wollte dir zuliebe endlich vernünftig werden und es mit Sanae versuchen, aber... es klappt nicht. Ich kann dich einfach nicht loslassen, Kyocchi. Ich weiß aber noch nicht einmal, was ich eigentlich von dir will. Ob ich dich liebe, oder nur Sex mit dir möchte, ich weiß es nicht. Ich kann dich nicht loslassen.", sagt er mir mit trauriger Miene.   "Vielleicht musst du das auch gar nicht. Vielleicht musst du mich nicht loslassen, um dich zu ändern. Vielleicht ist es etwas ganz anderes, was du loslassen musst. Nicht mich.", versuche ich, ihm zu helfen.   Er schweigt und drückt seine Stirn gegen meine. Er starrt mir tief in die Augen.   "Was soll ich tun? Du bist mir immernoch am allerliebsten. Und dennoch betrüge ich jeden um mich, und auch dich. Wenn du die ganze Wahrheit wüsstest, dann würdest du nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Aber das ändert nichts an den Gefühlen, die ich für dich empfinde.", er atmet ein und wieder aus.   "Ich habe es immer gewusst und wollte es nie wahrhaben. Aber besser ich sage es, als dass es vorbei ist, ohne, dass ich es gesagt habe. Kyocchi, ich... ich liebe dich.", und ehe ich noch etwas erwidern kann, küsst er mich.   Ich weiß, dass das nicht sein sollte. Und auch er weiß es. Und dennoch tut er es. Er weiß, dass das alles nur noch komplizierter macht.   "Aki... Akira, ich-", es gelingt mir nicht, zu sprechen, wenn er meine Zunge mit seiner umspielt, während ich durch seine Berührungen den Verstand verliere.   Er öffnet mir die Kapuzenjacke und wandert mit seinem Mund weiter nach unten, küsst meinen Hals und knabbert an meinem Schlüsselbein als wäre er ein verdammter Hund. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, als er mit seiner Zunge meinen Halswirbel hinauffährt und in mein Ohr beißt.   "Akira...", stöhne ich, denn irgendwie kann ich mich nicht wehren, ich... ich darf nicht erregt sein! Nicht, wenn Akira mich berührt. Er verschränkt die Finger zwischen meinen und drückt zu. Seine Hand ist so kalt und mein Körper glüht. Auch er ist heiß, nur gelangt das heiße Blut nicht bis in seine Finger. Akira. Du bist einfach wahnsinnig. Du bist ein Idiot.   "Akira, ich... nein, das geht nicht!", versuche ich ih erstickt mitzuteilen, als er versucht, meine Hose zu öffnen und seine Hand in meiner Boxershorts versenkt. Ich schreie fast, aber ich beiße die Zähne zusammen. Keine Schwäche zeigen!   "Es geht nicht!", keuche ich lauthals, bekomme seine Schulter in den Griff und halte ihn von mir fern.   Mit erregtem Blick sieht er mich an und dieser erregte Blick verwandelt sich in einen entsetzten.   "Kyocchi, es-", "Akira, du bist echt nicht mehr ganz richtig im Kopf! Du weißt, dass es nicht geht! Deshalb bin ich doch hier. Und deshalb bist du hier. Wir wollten reden, schon vergessen? Außerdem geht es nicht.", schimpfe ich, immernoch das Blut in meinem Gesicht spürend.   Akira rutscht wieder von mir ab und sieht beschämt gen Boden, während ich mir wieder Jeans und Hemd zuknöpfe.   "Ich will dir sagen, dass ich es nicht mehr tun will. Mit dir herumzumachen, meine ich. Fast mit dir zu schlafen. Ich habe schon einmal meine Erinnerungen, zumindest ein Bruchteil von ihnen, dadurch zurückbekommen, aber... ich kann das nicht. Akira, denk doch mal nach, schalte dein Hirn ein, es wäre nicht richtig. All unseren Freunden gegenüber, denen etwas an uns liegt, Chika und Sanae besonders, wäre das respektlos. Und auch dir selbst gegenüber kann ich das nicht bringen. Wenn ich zulassen würde, dass du mit mir schläfst, wäre das eine, Erinnerung, die nicht existieren dürfte, etwas, das ein Leben lang schmerzt, weil du weißt, dass es nicht existieren darf und du dich dennoch danach sehnst. Ich will dir das nicht zumuten, Akira. Bitte tu dir selbst nicht weh. Bitte hör auf...", und eine Träne tropft auf den Holzboden.   Schon wieder muss ich weinen. Ich sehe in meinem verschwommenen Sichtfeld, wie Akiras Augen sich weiten, immernoch voller Schock über seine eben begangene Tat, ehe er sich mir wieder nähert und mich in seine Arme schließt.   "Es war mein Fehler. Nicht weinen, du bist doch ein Mann.", muntert er mich fehlschlagend auf.   "Was ist denn das für ein Grund, um nicht zu weinen? Akira, du bist wirklich ein Idiot.", werfe ich ihm an den Kopf.   "Ich weiß.", sagt er nur und drückt mich noch mehr an seine Brust.   "Wir dürfen das nicht.", murmelt er. "Trotzdem habe ich meine Probleme damit, nicht über dich herzufallen. Ich muss aufhören. Aber ich schaffe es nicht. Ich will dich einfach nur knallen.", stammelt er leise und lässt den Kopf an auf meine Schulter sinken.   "Knurrrrr.", macht es im kleinen Spalt zwischen uns.   "Akira.", frage ich. "Bist du vielleicht hungrig?", Akira antwortet nicht, ehe er sagt.   "Bitte hilf mir beim Kochen, ich kann das voll nicht." "Mann, dann lebst du allein und kannst nicht kochen, echt mal, du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall!", schimpfe ich, als wir beide in der Kuche stehen. "Ich weiß... ich habe aber auch noch andere Sachen im Kopf, wie zum Beispiel...", er versucht nachzudenken. "Katzen?", helfe ich ihm auf die Sprünge und necke ihn etwas. "Nein, tatsächlich nein.", "Verschwörungstheorien?", "Nicht nur.", "Pornos?", "Ich denke versaut, aber ich bin doch kein Unmensch.", damit endet unsere Unterhaltung, als wir uns auf Mischsuppe geeinigt haben. "Also, wenn du schon so eine Niete in der Küche bist, dann versuch wenigstens, diese Gurge zu schneiden.", weise ich ihn ein. "Meine Güte, hast du wirklich in deinem ganzen Leben noch nie gekocht?", frage ich als er die Gurke wie einen Gegenstand wie nicht von dieser Welt anstarrt. Diese Reaktion sagt wohl alles. "Aaaalso, zuerst setzt du das Messer so an, wenn du richtig krass bist, dann machst du das so schnell wie die Köche im Fernsehen, etwa-... Aaaaahhhh, verdammte Scheiße, das ging echt tief!", Gott, ist das peinlich, erst habe ich mich so über ihn lustig gemacht, einen auf allwissend und perfekt gemacht und dan schneide ich mich. Das ist mal wieder typisch ich. Blut. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann kein Blut sehen. Scheiße. Das vergesse ich manchmal, dann passiert es wieder und ich erinnere mich daran. Schöner Mist. Akira fackelt nicht lange und nimmt meine Hand, um den Finger in den Mund zu nehmen. "Akira, das... ist echt nicht nötig, so... so tief ist es nicht, dass du die Blutung stoppen musst, echt...", aber sicher bin ich mir auch nicht. Akira zieht einfach weiter an meinem Finger und sieht betrübt drein. Irgenndwas beschäftigt ihn. Und das mit vorhin, als wir, wenn ich es nicht geschafft hätte Nein zu sagen, Sex miteinander hätten, hat bestimmt auch etwas zu dieser Mimik beigetragen. Irgendwas sagt mir, dass er weiß, dass ich recht habe. Dass er weiß, dass es falsch ist. Dass er mit sich ringt. Ich sehe es. Akira befreit meinen Finger aus seiner Mundhöhle und sieht sich im Schrank nach einem Pflaster um. Das findet er schnell. "Hier.", sagt er nur und ich nehme es stumm entgegen. "Danke.", murmle ich und schneide das Gemüse weiter. Am Ende habe ich alles selbst gemacht. Als wir gerade etwas essen wollen, kommt auch Crash zur Tür hereinspaziert. "Heyho! Der großartige Crash ist wieder da und hat Burgerking-Nachschub geholt!", ruft er und schlüpft im Sonic the Hedgehog-Geschwindigkeit seine Schuhe aus. Ich frage mich, wo er arbeiten war. Was das für eine Arbeit ist. "Hallo Crash, ähm also, ich hab mit Akira gerade Abendesen gemacht, also...", ich weiß auch nicht, was ich ihm eigentlich sagen möchte. "Also eigentlich hat Kyocchi alles allein gemacht.", korrigiert mich Akira. Musste das denn unbedingt sein? "Hui, dann lass uns mal testen, wie das schmeckt!", kündigt er an, erscheint hinter Akira, klaut dessen Löffel und nimmt was vom Eintopf.   "Damn, ist das geil. Dieser Typ hat Skill...", findet er und ignoriert den gespielt empörten Akira, dem er doch so frech sein Geschirr missbraucht hat.   "Du hast dich echt null verändert, Crash.", meint Akira auf einmal etwas leiser.   Anscheinend verbindet die beiden mehr als nur ein wenig herumzualbern. Aber es sieht nicht so aus, als wolle er mir das noch verbergen, denn das wäre denkbar.   "Hey, Crash, also, wegen damals. Es tut mir leid.", sagt er einfach so und sieht nicht von Teller ab. Was ist das? Crash wendet seinen Blick zu Akira und sagt nichts.   "Kumpel, aber er kann dich hören, hättest du das nicht vielleicht lassen sollen? Er weiß jetzt, dass sich damals was abgespielt hat. Lass es, Akira. Mach es nicht kompliziert.", Crashs Stimme klingt fast entnervt und igrnedwas sagt mir, dass sie von mir sprechen.   "Das habe ich doch schon längst! Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich weiß es doch selbst nicht. Ich soll es lassen, ich sollte es schon immer. Aber jetzt ist eh alles vorbei. Ich habe dich schon viel zu lange benutzt Crash. Ich-", die Tür wird eingerammt und die Typen, die eingedrungen sind, schneiden Akira das Wort ab.   "Was wollt ihr?", fragt Crash in einem bedrohlich finsteren Ton.   "Du ziehst ziemlich krumme Dinge in der Szene ab, Crash. Wenn die Gerüchte stimmen, bist du jetzt wohl ziemlich im Arsch, Idiot.", stellt sich einer von ihnen indirekt vor, ich nenne ihn einfach mal Eric.   "Verpisst euch, ihr solltet gar nicht hier sein, wieso seid ihr nicht im Untergrund, wo ihr sonst immer rumgammelt?!", will Crash barsch wissen.   Auf einmal zückt einer von ihnen, zu meinem eigenen Schock niemand geringeres als Uchihara-sans Vater, ein Gewehr raus und ziehlt auf Crash!   "Her mit dem Stoff, oder ich baller dir das Hirn aus dem Schädel!", und tatsächlich, ohne, dass irgendwer antworten oder sich rühren kann, fällt ein Schuss. Kapitel 66: Vol. 3 - "Undere" Arc: Rundgang durch die Unterwelt --------------------------------------------------------------- Der Schuss streift Crashs Wange und das Fenster hinter ihm zerspringt. Ich kriege keinen Ton raus vor Schreck. "Was zur Hölle wollt ihr hier? Crash hat nichts getan! Verpisst euch oder ich rufe die Cops!", keift Akira, aber irgendwas in seinem Blick verrät mir, dass er in dem Moment noch nicht einmal auf die Hilfe der Polizei vertrauen kann, so brenzlich ist diese Situation. "Hach, dass ich nicht lache, wenn Crash nicht endlich seine Schulden bei uns einbüßt, knallen wir euch alle ab, das verspreche ich dir, Bürschen!", lacht der eine Typ, richtet seine Waffe auf Akira und schießt. Dieser schafft es gerade noch, auszuweichen, sodass er wie Crash nur einen Streifschuss an der Schulter erntet. "Akira!", schreie ich und halte ihn davon ab, zu stürzen. "Es ist okay, ich... ich kann noch stehen, das hat mich nur gestreift, ich... habe keine Kugel drin.", stammelt er. "Du spinnst doch.", flüstere ich. Plötzlich reißt sich Akira von mir los, greift sich einen der Stühle, rennt auf unsere Feinde los und kämpft mit deiner hölzernen Waffe um unsere Sicherheit. Er drescht auf den Typen und auf Uchihara-sans Vater ein und dieser versucht mehrmals meinen besten Freund zu erschießen, so oft knallt es, so viel Blut spritzt aus Akira, er wird getroffen, ich will helfen, doch der Anblick von Blut lässt mich erstarren. Doch als Akira fast am Auge getroffen wird und nur knapp dem Ton entrinnt, greife ich fest entschlossen in den Kühlschrank, taub vor Todesangst und bewusst, dass sie dadurch noch schlimmer wird, weil ich noch mehr Blut sehen werde, hole eine Zwei-Liter-Rotwein-Flasche heraus und schmeiße es Uchihara-sans Vater frontal an den Kopf. Zeitgleich sackt Crash mit einem Schuss ins Bein zusammen und der Typ, den ich als Eric bezeichnet habe, ist starr vor Überraschung. Akira, blutüberstömt und fast schon berauscht vor Adrenalin, schreit los, als er Crash so liegen sieht, weiß, dass uns nur noch die Flucht bleibt, schreit und der Typ bewegt sich immernoch nicht. Doch nun ist Eric wie ich aus seiner Winterstarre erwacht, schnappt sich die Waffe seines Komplizen und versucht erneut, uns abzuknallen. Akira zieht mich, der nun keine Waffe mehr in der Hand hält, weg und rennt entgegen der Terassentür, um einfach durch das Glas zu rennen, versucht zu fliehen, als er uns mit Kopf und Elllenbogen den Weg durch die Tür bahnt, ein markerschütternder Schrei, ausgelöst durch ein"Peng", diesmal ist es mein Schrei, und ein "Klirr" von zerbrochenem Glas bringen mein Trommelfell zum Schwingen und jede Schwingung tut weh wie noch nie. Ehe ich mich versehe, befinden wir uns auf der Flucht, im stömenden Regen, angeschossen und verängstigt, auf der Straße, weit weg von irgendwem, der uns helfen könnte. Wir sind verloren. "Akira! Wir müssen zur Polizei, der Typ verfolgt uns bestimmt immernoch! Und Crash wird sterben, wenn wir nicht sagen, dass er da ohnmächtig, genau wie Uchihara-sans Vater in Crashs Wohnung liegt!", versuche ich ihm völlig ausgelaugt zu sagen, doch er antwortet erst ein paar Sekunden später. "Ich weiß, aber erst ist es an uns, verdammt noch mal zu überleben, dem Typ ist vorhin die Monition ausgegangen, aber der macht uns kalt, wen wir anhalten, deshalb müssen wir hier sofort weg, verstehst du? Wir müssen ihn abhängen, egal wie, Hauptsache wir sterben nicht!", schreit er durch das Prasseln des Regens auf unsere Köpfe. "Kommt zurück, ihr Hurensöhne, sagt mir, wo der Stoff ist!", schreit Eric und ist hörbar selbst fast außer Atem. Wir kommen an eine Brücke über den Gleisen, doch als ich sehe, dass Akira mich nicht über diese zum anderen Ende der Brücke sondern von der Brücke RUNTER führen will, raste ich fast aus. "Bist du lebensmüde, das ist unser sicherer Tod!", fauche ich als er einfach nicht aufhört, in diese Richtung zu rennen. "Vertrau mir, die ist nicht tief und gleich kommt der nächste Zug und ich sehe, da können wir weich landen, wir haben keine andere Wahl!", der ist doch vollkommen irre! Tatsächlich sehe ich, da wird Heu transportiert, aber ich habe Höhenangst. So eine Scheiße, ich sterbe vorher noch vor Angst, ehe ich an einem gebrochenen Genick sterbe! Doch weil ich in diesem Moment wirklich keine Wahl habe und mir Eric und diese ganze Situation eine Scheißangst einjagt, folge ich Akira ununterbrochen weiter, bis wir das Geländer der Brücke erreichen und laut Akiras Berechnungen, im richtigen Augenblick abspringen. Da sind Drähte oben, aber Akira hält mich fest und wir fallen einfach, ohne diese auch nur zu streifen und einen Elektroschock verpasst zu bekommen. Doch perfekt waren seine Berechnungen wohl doch nicht, denn eine eiskalte Ecke trifft mich an der Taille und die Welt und Akira verschwinden erneut in der Dunkelheit, die mich fühlen lässt, als wäre dies das Ende. Als ich zu mir komme, sind wir auf einmal innerhalb eines Waggons und nicht etwa auf einem riesigen Berg Heu. Der Raum ist leer und der Boden ist kalt. Ein brennender Schmerz durchfährt meine Rippen, doch ich glaube nicht, dass sie gebrochen sind. Doch ich spüre noch den Streifschuss an meinem Arm. Keine Kugel, das beruhigt mich. Als Akira sieht, dass ich wach bin schlingt er die Arme um mich und drückt mich fest an sich. Ich kann mich nicht bewegen, ich fühle mich, als wäre alle Kraft aus meinem Körper gesaugt worden. "K-Kyocchi, ich... es tut mir so leid. Meinetwegen bist du schon wieder fast gestorben! Jedesmal... jedesmal bringe ich dich wegen meiner eigenen Wünsche in Gefahr, es ist immer das Gleiche. Dabei kann ich dich doch... ab allerwenigsten verlieren... Du hast recht, ich... ich bin ein Idiot. Der schlimmste, den es gibt... Bitte verzeih mir... noch ein letztes Mal.", schluchzt er. Tatsächlich kann ich etwas Nasses auf mir spüren, als er mich umarmt, als ob er mich niemals wieder loslassen könnte. Akira... weint. Akira hat noch nie geweint, noch nie habe ich gesehen, wie er das getan hat. Er ist kaputt. Genau wie ich. Vielleicht sind wir deshalb die besten Freunde, weil wir einander verstehen, doch gleichzeitig verstehen wir den anderen so überhaupt nicht. "Ich... ich dachte, du würdest vielleicht nie wieder aufwachen, du hast recht, es hätte das Ende sein können, wir wären beinahe gestorben und das ist alles meine Schuld.". Akira ist so aufgelöst, dass ich mich frage, wann ich den Typen jemals so viel Empathie habe verspüren sehen, Akira, der von allen Menschen, die ich kenne, definitiv am wenigsten bereut, er tut immer etwas, dass er nicht bereut. So ist er, mein Akira. Mein bester Freund. "Akira...", flüstere ich. "Ich... hasse dich nicht. Klar bist du ein Idiot, einer, der uns fast umgebracht hat, du bringst mich manchmal echt auf die Palme, sodass ich dir fast eine reinhaue, aber... du bist mein Idiot. Und mein bester Freund. Deshalb... lass uns das hier beenden. Weil ich... wenn wir so weiter machen, sowohl dich, als auch Chika, verlieren werde. Und weil ich dir nicht länger was vormachen will. Fass dir ein Herz, Akira. Du weißt, dass es nicht mehr sein darf. Bitte hör auf, die Lösung in uns zu suchen. Finde deinen Weg. Unseren Freunden zuliebe. Mir zuliebe. Bitte mach, dass alles wieder so war, wie es war, bevor wir uns in jener Nacht gegenseitig benutzt haben. Ich will das nicht mehr. Ich will dir nicht wehtun, Akira.", Akira lockert seinen Griff und sieht mich nur noch an. Die grauen Augen sehen etwas traurig aus. "Ich weiß nicht, ob ich das kann. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich die ganze Zeit gewollt habe. Ich habe immer nur dich gesehen. Ich hatte nur dich, habe nur dir blind vertraut. Nur dich gebraucht. Vielleicht kann ich das nicht ändern. Mich nicht ändern. Aber wenn es dir zuliebe ist, versuche ich es. Ich versuche es und wenn ich es mein ganzes Leben lang versuchen werde. Wenn es für dich ist, gebe ich mein bestes, um meine Gefühle aufzugeben. Dann ist das wohl das Ende, was? Das Ende vom Uns.", Akira grinst etwas. "Nein. Wenn das Uns endet, hieße das, wir wären keine Freunde mehr. Es wird immer ein Uns geben, auch wenn wir alles wieder auf den Anfang bringen. Wir lassen die Ära, in der wir uns geküsst und berührt haben, hinter uns. Weil wir wissen, dass wir damit unsere Freundschaft gefährden und unsere Freunde, die uns vertrauen damit ganz furchtbar verletzen würden. Uchihara-san mag dich wirklich. Und Chika will ich nicht noch einmal meinetwegen weinen sehen. Auch Shuichiro sollte endlich zur Ruhe, da wir daran schuld sind, dass er meinte, ich würde ihn um Kaishi bringen. Auch Taiyo würde mich dafür hassen, wenn er wüsste, was für einen Betrüger von Bruder er hätte. Und meine Eltern, mit denen es endlich besser läuft, zumindest sieht es so aus, will ich ebenfalls nicht enttäuschen. Auch um dich mache ich mir sorgen, du kannst mit niemandem gehen, der dich nicht so liebt, wie du es brauchst, das will ich dich dir echt nicht zumuten. Das hast du nicht verdient.", Akira will gerade noch etwas sagen, da wird plötzlich der Waggon, in dem wir uns befinden, geöffnet. Anscheinend sind wir angehalten. Wie es aussieht, sind wir wieder in unserer eigenen Stadt. Und unsere Sachen sind bei Crash. Na super. "Hey, ihr beiden, was macht ihr da?", will ein Mann in Uniform wissen. "Einfach per Anhänger mitzufahren ist illegal, nicht gestattet, ich rufe die Polizei!", knurrt er und zückt ein Walkie-Talkie. Wir beide sind bewegungs- und sprachlos, denn er hat Recht. Das ist verboten. Und wir haben verdammt noch mal nicht nur unser Leben aufs Spiel gesetzt, nein, wir haben auch noch gegen das Gesetz verstoßen. Und ich will gar nicht wissen, was uns jetzt blüht. Kapitel 67: Vol. 3 - "Undere" Arc: Das Allerletzte -------------------------------------------------- Auf der Polizeitstation herrscht eine drückende Atmosphäre. Akira und ich haben brav alle Fragen beantwortet und Stellung zu den Ereignissen genommen und haben gesagt, was passiert ist. Dass wir nur Urlaub machen wollten, wie aus dem nichts diese Drogenkonsumenten in unser Haus eingebrochen sind, uns mit Waffen bedroht haben, Crash und einer von den Angreifern namens Uchihara gerade ohnmächtig im Haus am See zwei Stunden von hier liegen, wir um unser Leben Angst hatten und sie abgehangen haben, indem wir auf den Waggon gesprungen sind. Letzteres hätte vielleicht nicht unbedingt sein müssen, aber später ist man ja immer schlauer. Oh Mann, das ist das schlimmste Wochenende allerzeiten. "Und die Geldstrafe muss ja auch noch jemand bezahlen, ihr seid ja noch Schüler, hab ich recht? Egaoshita-kun, deine Eltern sind also nicht zu Hause, was ist mit dir Kyokei-kun, hast du noch einen Erziehungsberechtigten hier in der Nähe, der dafür aufkommen könnte?", der Blick des Polizisten macht mir Angst, besonders weil ich weiß, was ich jetzt sagen muss. "Also... mein Bruder ist in der Nähe. Ich kan ihn anrufen.", presse ich hervor. Taiyo wird mich dafür sowas von hassen. Es ist fast ein Uhr nachts. Genau genommen halb eins. Scheiße. Aber andererseits habe ich mein Handy in Crashs Haus liegen gelassen. Der dicke Polizist hält mir das Telefon hin und fast unbeholfen tippe ich die Zahlen ein. Als wer rangeht, nimmt der Typ es mir wieder ab, als wenn ich nicht telefonieren könnte, was mich etwas beleidigt. "Hallo, werter Herr, hier ist die Polizei, kommen Sie bitte unverzüglich aufs Revier? Ja, es ist wichtig. Kaution, zahlen Sie diese, können Sie das? Sehr gut. Nein. Ja. Ihr Bruder ist hier bei uns. Hhmm. Okay. Auf Wiederhören. Bis gleich und danke.", der Polizist legt auf. Angstschweiß tritt mir auf die Stirn. "Egaoshita-kun, wir werden deine Eltern ebenfalls benachrichtigen, deine Akte haben wir ja hier von letztem Mal, als du verschwunden bist.", Akira sagt nichts dazu. Wenig später taucht Taiyo auf dem Revier auf, er sieht völlig fertig aus. Das kann ja heiter werden. Er holt einen ziemlich fetten Batzen Geldscheine aus seiner Jackentasche und hält ihn dem Typen vor die Nase. "Reicht das?", fragt er barsch. Der Cop nickt nur. "Und kein Wort an die Presse, verstanden?", schnauzt er den Mann an. Nochmals nickt er bloß stumm. "Sie können jetzt alle drei wieder gehen.", sagt dieser zum Schluss und das tun wir. Draußen packt Taiyo Akira und drückt ihn am Hals gegen eine Straßenlaterne. "Du warst das. Erst verschwinden und dann auf einen Zug springen, sag mal hast du noch alle Latten am Zaun?! Ich sags dir, wenn nochmal sowas passiert, komm ich und bringe dich eigenhändig um die Ecke!", brüllt er, doch ehe Akira vollends blau anläuft und unter Taiyos Hand erstickt greife ich ein. "Taiyo, bitte lass das, Akira hat nichts falsch gemacht, wir sind fast gestorben, fast erschossen worden, und wenn Akira den Typen, der uns umbringen wollte, nicht so abgehängt hätte, wäre ich vermutlich nicht hier! Bitte lass ihn los!", bitte ich ihn verzweifelt. Widerwillig lässt mein Bruder Akiras Hals frei und lässt diesen kraftlos auf den Boden sacken, ehe ich höre, wie irgendwoher ein Krankenwagen um die Ecke kommt, in die Richtung, aus der Akira und ich geflohen sind. Ich hoffe, Crash wird es überleben. Und Uchihara-sans Vater vielleicht auch, auch wenn er bis jetzt so ein Ekelpaket zu uns war. "Wir gehen!", knurrt Taiyo und zieht mich zu unserer Wohnung, ehe die Polizeiautos ausschwärmen und in dieselbe Richtung fahren, zweitrangig um unsere Sachen zu holen. Zu Hause angekommen zieht er die Schuhe aus und schlägt die Faust gegen die Wand. "Ich fass es nicht, Mann, wie kann man nur so... Argh! Du regst mich echt auf, weißt du das? Wieso tust du sowas?!", schimpft er und stampft ins Wohnzimmer. "Ich weiß gar nicht, was du meinst, was hättest du getan, wenn du um dein Leben rennen müsstest? Genau genommen, habe ich alles richtig gemacht!", feure ich zurück und spüre, wie fertig ich bin. Kann der mich denn nicht in Ruhe lassen?! "Hach, du bist witzig, Junge, überleg mal, wie man sich vorkommt, wenn man um fucking ein Uhr nachts aufs Revier muss, nur weil irgend so ein dahergelaufener bekiffter Albino fast deinen Bruder umbringt!", das hast du jetzt nicht gesagt! "Und wenn schon, ich habe überlebt, das ist alles, keiner von uns wollte von einem Droegnsüchtigen mit einer Waffe bedroht und verfolgt werden, wir können froh sein, dass wir überhaupt fliehen konnten! Wieso checkst du nicht, dass ich für all das echt nichts dazu kann?!", Tränen brennen mir in den Augen, während ich ihn so anschreie, ich habe echt keinen Bock auf das hier. "Wenn du gar nicht erst mitgegangen wärst, wäre das aber verdammt noch mal nicht passiert, ich meine, komm schon, ich brauch den nicht zu kennen, um zu sehen, dass der Typ doch voll krank in der Birne ist! Erst verschwindet er, ohne Grund und dann entführt er dich einfach irgendwo ins Nirgendwo und bringt dich fast um! Der ist scheißgefährlich!", nein, ist er nicht! "Du hast doch keine Ahnung, du denkst, du hättest sie, aber nein, verdammt, die hast du nicht! Ich habe auch ein Leben, falls dir das entgangen ist, ich habe auch meine Probleme, um die ich mich kümmern muss! Nicht du hast dein Gedächtnis verloren und alles vergessen, sonder ich! Es juckt mich echt einen Dreck, ob du dich mit meinen Methoden, den Rest auch noch zurück zu bekommen, nicht anfreunden kannst, Taiyo! Wenn ich dich so aufrege, dann bring dich doch einfach um!", fauche ich und plötzlich... Knall. Sturz. Heiß. Schmerz. Rot. Mein Kopf knallt gegen die Kante des Couchtisches, längst ein Glück, die Kante hätte vielleicht mehr wehgetan. Ein heißer, brennender Schmerz durchfährt meinen Hinterkopf und ich kann mich nicht bewegen. Taiyo hat mich geschlagen. Mitten ins Gesicht. Ich sehe mit verschmommenem Sichtfeld zu Taiyo nach oben und der sieht fassungslos auf seine Faust. "Scheiße...", entfährt es ihm. Sofort kniet er zu mir auf den Boden und stützt mich. "Oh mein Gott, es... es tut mir so leid, ich... ich wollte das nicht! Ich war einfach so wütend, und du hast so miese Dinge gesagt, aber du hast Recht, ich kann dich nicht verstehen, wenn ich nicht dasselbe durchgemacht habe wie du! Ich kann jemandem, der dich in Gefahr bringt, einfach nicht verzeihen, verstehst du? Aber ich wollte dich nicht schlagen, bitte glaub mir, ich... bitte stirb nicht, nicht schon wieder!", höre ich ihn schluchzen, als er mich an sich drückt. Plötzlich lässt er augenblicklich wieder los, als er das Blut an meinem Oberarm sieht, dass schon ziemlich lange zu fließen scheint. Warum muss es nur immer Blut sein? "Du wurdest ja angeschossen, nicht wahr?!", fällt ihm wieder ein. "Oh mein Gott, lass uns sofort ins Krankenhaus fahren, Mann!", er ist wirklich besorgt um mich. Stimmt, ich habe wirklich miese Dinge zu ihm gesagt, vielleicht hätte ich mich an seiner Stelle ebenfalls geschlagen. "Kannst du aufstehen?", fragt er, immernoch verstört. Ich nicke nur, kralle mich an ihm fest und richte mich auf. Das Blut läuft mir den Rücken hinunter und je tiefer es läuft, desto verrückter macht es mich. Ich bin so ein Schwächling. Auf dem Weg zum Krankenhaus trafen wir wieder auf Akira. Schweigend liefen wir und nun stehen wir an der Theke. Tante Akane scheint gerade nicht da zu sein, Akira verschwindet in einem anderen Zimmer, während Taiyo und ich wieterhin auf Hilfe warten. Habe ich das von vorhin wirklich gesagt. Bring mich um? Wo kam das denn nur her? Darüber denke ich lieber nicht weiter nach, denke ich als Erika-san plötzlich erscheint. "Du also, bist ja übel zugerichtet, Kind.", bemerkt sie trocken und ich kämpfe mit mir, nicht die Augen zu verdrehen. Mann, für heute habe ich meines Erachtens wirklich genug ertragen! "Name?", "Elvis Kyokei.", antworte ich forsch und sie trägt es irgendwo ein. "Okay, dann komm mal mit, der Rotschopf da hinten kann im Wartezimmer auf dich warten.", "Ich habe vielleicht auch einen Namen.", brummt Taiyo und verzieht sich. Fast schon meine ich, ihn "Blöde Hobelschlunze...", flüstern zu hören. Vielleicht hat er das wirklich gesagt. Als ich das Zimmer betrete habe ich irgendwie ein mulmiges Gefühl im Magen. Irgendwas in ihrem Blick, in dem von Erika-san, deutet mir, dass sie mich absolut nicht ausstehen kann. Fast schon ängstlich setze ich mich auf die Liege. "Soll ich mich erst um deinen Kopf oder um deinen Arm kümmern?", will sie wissen und ich kann raushören, wie wenig Lust sie auf die Nachtschicht hat. "Kopf, bitte, der Arm geht wenigstens noch etwas.", sage ich, obwohl ich mir eigentlich gar nicht sicher bin, was von beiden mehr wehtut. Abergleichzeitig bin ich bin mir sicher, dass es der Kopf ist. Sie streicht ein bisschen Haar von der betroffenen Stelle und ich zucke zusammen. "Kann man nichts machen, das muss genäht werden.", erstattet sie mir seelenruhig Bericht und es klingt fast so, als fände sie das witzig. Sadistin. Kapitel 68: Vol. 3 - "Undere" Arc: Wenn man vom Teufel spricht -------------------------------------------------------------- Zuallererst rasiert sie einen Teil meines Haars, ehe sie meine Kopfhaut betäubt und zu nähen beginnt. Währenddessen denke ich nach. Was Taiyo wohl gerade macht? Oder meine Eltern? Oder Chika? Und der ganze Rest? Ob ich mich bei Shuichiro blicken lassen sollte, der ist doch auch hier. Ach nein, es ist schon so spät in der Nacht, ich glaube nicht, dass der Typ noch wach ist. Ich frage mich, wie das war, als meine Eltern ihr Auto verloren und nicht mehr nach Hause gekommen sind. Ich habe es zumindest nicht mitbekommen. Sie müssen die Nacht woanders verbracht haben. Sie sagen es natürlich nicht, aber zwischen ihnen hat sich wirklich etwas verändert, dessen bin ich mir fast sicher. Sie scheinen ein wenig mehr wie ein richtiges Ehepaar gewirkt zu haben, als sie am Morgen zurückkamen. Wenn Eltern vorher nicht wirklich sichtbar zärtlich zueinander waren, merkt man sofort, wenn das anders ist. Irgendwas ist vorgefallen. Ob meine Mutter sich wirklich in meinen Vater verliebt hat und dessen Liebe nun erwidert? Möglich ist es. Ob sie... Nein, vergiss es, es steht mir nicht zu, darüber nachzudenken! Ich bin doch irgendwo immernoch ein Kind, ich bin fast achtzehn, aber ganz ehrlich, ich fühle mich kein bisschen so. Irgendwie schlage ich Wurzeln. "Wie ist das denn nur passiert...?", fragt sie summend, als wäre diese Frage nicht wirklich an mich gerichtet sondern bloß eine Floskel. "Couchtisch.", murmle ich und hoffe sie fragt nicht, wer mich erst gegen die Kante geworfen hat. "Hmm...", macht sie nur und setzt für den letzten Stich an. Vielleicht merkt sie, dass das nur die halbe Wahrheit ist. "Das hätten wir.", sagt sie und holt das Verbandszeug vom Wägelchen neben der Liege. Ein großes Pflaster klebt sie mir auf die Wunde, bevor sie dieses mit Klebstreifen fixiert und mit einem langen Verband um meinen Kopf herum fortfahren möchte. "Einmal Pony heben, bitte.", und das tue ich auch, selbst wenn dabei mein Arm noch etwas mehr wehtut. Ich hebe den Pony und die beiden Strähnen an den Seiten vor meinen Ohren, die dazugehören, an und sie rollt den Verband um meine Stirn. "Fertig. Jetzt mach dich oben frei, damit wir mit deinem Arm weitermachen können.", diesmal ist da kein Bitte. Ich habe unter dem Kaputzenpullover nichts drunter, Mist, hetzt kann sie die Narbe sehen. Wiederwillig ziehe ich mich aus und versuche den Schmerz vom Stoff auf der Wunde zu vergessen. "Für nen Streifschuss ganz schön tief.", noch so eine Bemerkung... "Ich kann mich nicht erinnern, dir erzählt zu haben, wieso mein Arm blutet.", nein, das habe ich wirklich nicht. "Geraten.", meint sie bloß, obwohl ich mir bei der sogar vorstellen könnte, dass sie so eine Kugel auch mal selbst abfeuern könnte, wenn man sie nur genug zur Weißglut treibt. Da der Arm nicht genäht werden muss, desinfiziert sie ihn nur, ehe sie ein Pflaster dranhält und einen Druckverband drumwickelt. "Jetzt kannst du wieder gehen.", meint sie, aber noch ist nicht alles gesagt. "Sag mal, Erika-san, wenn ich dich so nennen darf, kann es vielleicht sein, dass Sie mich überhaupt nicht ausstehen können?", ich fackle nicht lange und sie sieht etwas verdutzt aus. "Wie kommst du denn darauf?", sie scheint echt keine Ahnung zu haben, wovon ich rede. Zumindest lässt sie sich das nicht anmerken und spielt hervorragend die Ahnungslose. "Vergessen Sie's.", winke ich ab und gehe diesmal wirklich. Ich habe gerade den Flur betreten, da renne ich beinahe in eine Person rein. "Verzeihung, ich-, Chika?!", das überrascht mich jetzt wirklich. "Ellie...", sie ist ebenfalls ganz überrascht, mich hier anzutreffen. "Was tust du hier?", frage ich sie, denn im Ernst, sie hat nicht hier zu sein. "Das Gleiche könnte ich dich fragen.", gibt sie, voller Überzeugung, fast patzig, zurück. "Ich habe zuerst gefragt.", erläutere ich und stehe auf, um Chika ebenfalls wieder auf die Beine zu verhelfen. darauf erwidert sie nichts. Ich sehe ein Blatt in ihrer Hand. "Was ist das?", frage ich und irgendwas an dieser Situation schmeckt mir überhaupt nicht. Was macht sie noch so spät in der Nacht im Krankenhaus? "Ein Check-up, was ich von der Routine-Untersuchung bekommen habe, da stehen die Werte und so, du weißt schon, Blutwerte, Größe, Gewicht und was man alles nicht wissen will.", scherzt sie und ich hätte ihr gerne mal gesagt, dass es absolut nicht normal ist, mitten in der Nacht eine Routine-Untersuchung durchzuführen, das ergibt keinen Sinn... Aber ich lasse es, wie sonst auch, darauf beruhen. Auch wenn ich doch mittlerweile wirklich mal Initiative ergreifen sollte! Als Chika auf den Beinen steht, kippt sie wieder um und fange sie erschrocken auf. "Hey, Chika, ist alles in Ordnung?", jetzt kriecht Panik in mir hoch, denn langsam wird das hier echt unheimlich! "Mir geht es gut.", stammelt sie und richtet sich wieder auf. "was ist mit deiner Stirn passiert, Ellie? Und wieso hat dein Pullover hier ein Loch?", jetzt kommt sie darauf zu sprechen und ich habe fast vergessen, weshalb ich selbst hier bin. "Elvis, bist du dann fertig? Ich hatte sogar noch Zeit, mein Insta zu aktualisieren und ein Selfie hochzuladen, #krankenhaus, #ichhabnichtszutun, aber was macht Chika denn hier?", Taiyo kommt aus dem Warteraum und bleibt nun in der Tür stehen. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, nichts mehr zu sagen, weil den wahren Grund für ihre Anwesenheit nicht nicht einmal ich herausgefunden habe, von wegen Rotine-Untersuchung. Er versteht es und sagt nichts mehr. Schon wieder schweigend verlassen wir das Krankenhaus, doch als wir gerade die Straße betreten, klingelt Chikas Handy. "Oh, hab ne SMS von Hanako-chan. Onii-sama, dein Typ wird verlangt.", fasst sie ohne Umschweife zusammen. "Sie sagt, triff mich im Park von damals.", Taiyo ist erstmal sprachlos. "Hanako will mich treffen?", wiederholt er leise für sich. Wehmütig sieht er auf den noch immer nassen Boden, ehe er uns auf einmal angrinst. "Also, dann, bis später, Bitches!", gröhlt er langgestreckt und jubelnd in die Nacht hinein, ehe er verschwindet. Er hat keinen Schirm. Und es regnet immernoch. Wir haben so schnell das Haus verlassen, dass an einen Schirm natürlich nicht zu denken war. Es beginnt wieder stärker zu schütten und zeitgleich geben Chikas Beine wieder nach. Ich fange sie auf und halte sie so fest ich kann. Ich befühle ihre Stirn. Sie ist schweißnass und steht förmlich in Flammen. Sie keucht auf und weicht meinem Blick aus. "Chika", flüstere ich. Scheiße. Ihr geht es grottenschlecht, das ist das bisher schlimmste Fieber, dass ich bei ihr gesehen habe. "Ellie...", haucht sie meinen Namen und ich hieve sie auf meinen Rücken, weil ich ihr den Weg zu gehen nicht zutraue. Sie ist krank, kränker als sie zugibt zu sein. Sie kann sich kaum an mir festhalten. Chika hat etwas Ernstes. Ich kann es fast riechen. Sie ist krank. Sehr krank und ich habe Angst, sie daran zu verlieren, was mir wird klarer als je zuvor. Ich renne den ganzen Weg zu unseren Wohnungen zu ihr nach Hause, ich lasse sie heute ganz bestimmt nicht allein! Völlig außer Atem stehen wir vor ihrer Tür und mühevoll holt sie den Schlüssel aus ihrer Tasche hervor. Allein das sieht unglaublich anstrengend aus, als hätte sie Schmerzen in der Brust und würde jederzeit vor meinen Augen aus dieser Welt verschwinden, weil man ihr die ganze Kraft zum Leben herausgesaugt hat. Kapitel 69: Vol. 3 - "Undere" Arc: Die Narben ihrer Seele --------------------------------------------------------- Mit meinen letzten Kräften verfrachte ich Chika in ihr Bett. Trotz der gebräunten Haut erscheint sie mir so blass und farblos, das Pony klebt ihr nass an der Schläfe. "Ich... Ellie, ich... ich hab Angst...", flüstert sie kraftlos und ich weiß nicht was tun, außer dass ich ebenfalls auf das Bett steige und ihr wenigstens etwas den Kopf streichle. Ich weiß nicht, was ich tun soll. "Halt durch, mir... fällt ganz bestimmt was ein!", beruhige ich sie, auch wenn mir vielleicht doch nichts einfallen wird. "Mir ist... so heiß. Und gleichzeitig so... kalt. Bitte... hilf mir aus diesen Klamotten, ich... bin gerade absolut... hilflos...", stammelt sie und kichert traurig. Spinnerin. Ich kann nichts sagen, ich... Scheiße, ich muss etwas tun! "Kannst du mir... meinen Lieblingsschlafanzug geben, den Zweiteiler mit der Aufschrift... 'LEGENDS NEVER DIE'?", bittet sie mich und weißt mit dem Zeigefinger auf den Haufen Kleidung neben dem Bett. Das also. Ich entscheide mich, ihr zuerst die Hose zu geben, da ich gerade alle meine Entscheidungen dem blanken Zufall überlasse, um schneller handeln zu können. Vielleicht aber auch, um mir den oberen Teil aufzusparen, um sie dort eigenhändig zu wärmen, was auch immer, ich weiß es wirklich nicht. Ich ziehe die Strumpfhose über ihre Beine und lasse diese achtlos auf den Boden fallen, als ich ihr die Schlafanzughose anziehe, darauf achtend, nicht zu viel von ihr anzusehen. Nun ist wohl das Kleid und die Jacke dran. Ich richte sie vorsichtig in Sitzposition auf meinem Schoß, um es besser hinter mich zu bringen. Als wenn ich alles mit einer Berührung zerstören könnte, schiebe ich zögerlich meine Hände unter ihr Kleid, packe es am Saum und ziehe es hinauf über ihren Kopf, die Jacke nahtlos gleich mit. Ihr Haar fällt ihr trotz allem seidig den Rücken hinunter. Chika hat sichtlich Probleme, ihre Position aufrechtzuerhalten und daher lehne ich ihren hübschen, ebenfalls verschwitzten Rücken gegen meine Brust, um es ihr zumindest etwas erträglicher, leichter zu machen. Jetzt ist der BH an der Reihe. Enttäuscht von meiner Unfähigkeit, schiebe ich sie wieder von mir, um ihn ihr besser ausziehen zu können, alles lässt sie wortlos über sich ergehen, auch wenn ich spüre, dass sie gerne klagen würde, wie elendig es ihr doch geht. Ich öffne den Verschluss und dieser gibt nun einen größeren Einblick auf ihre schmale Hinterseite frei. Ich nehme die Träger in die Hand und schiebe sie ihr über die Arme, bemüht, dabei ihre Brüste weder zu sehen noch zu berühren, weil dies einfach schlicht und ergreifend nicht der richtige Zeitpunkt für ein Techtelmechtel ist. Noch immer den Blick abgewandt versuche ich, ihre Arme in die Luft zu heben, um ihr das besagte langärmelige 'LEGENDS NEVER DIE'-Oberteil überzustülpen, als mein Blick auf ihre Handgelenke fällt. Kurz lasse ich ihre Arme los, um zu sehen, was im schwachen Mondlicht nach mehreren Streifen auf der Haut aussieht. Armbänder? Haargummis? Als ich den anderen Arm dann auch losgelassen habe und mit meinen Fingern drüberfahre, um es zu verstehen, trifft mich die schockierende Erkenntnis mit voller Wucht in den Bauch. Narben. Viele Narben. An der Pulsschlagader. Das hat einst ziemlich stark bluten müssen, aber nicht stark genug, um deshalb ins Krankenhaus zu müssen, so interpretiere ich es, nachdem ich gehört habe, dass Chika alles getan hat, um ihren Eltern bloß nicht noch mehr zur Last zu fallen. Sie hat sich geritzt. Doch ehe ich dieses und das andere Handgelenk auf neue Narben überprüfen kann, zieht sie ihre Hand langsam aber bestimmt wieder weg auf ihre Brust. "Nein, alles... nur das nicht. Ich will nicht, dass irgendwer... sieht.", murmelt sie, ich beschließe, jetzt genug gespannt zu haben und widme mich wieder dem Anziehen von Chika ihres Pyjamas. Erfolgreich. Chika geht nun endgültig die Kraft aus und sie fällt auf das Bett zurück. Diesmal gelingt es mir nicht, sie aufzufangen. Sie schwitzt immernoch sehr stark und krümmt sich schmerzerfüllt. Ich weiß nicht, ob es tatsächlicher Schmerz oder einfach Todesangst ist, ich weiß nur, dass sie mich braucht. Hier und jetzt, die ganze Nacht. "Ich... will nicht. Wieso... wieso bin ich so geboren? Warum bin ich so schwach? ... Wieso kann ich nicht... wieso kann ich...", sie bringt des Satz nicht zu Ende, stattdessen decke ich sie zu und lege ihren Kopf auf das große Kopfkissen. Man kann nicht sagen, ob sie wach ist oder schläft, sie scheint zu merken, dass ich noch hier bin, wenn auch unterbewusst, aber sie sagt Dinge, von denen ziemlich sicher bin, dass sie nicht für meine Ohren bestimmt sind. Was will sie sagen? Was ist deine Mission, Chika? Was willst du nicht? Gibt es noch etwas, dass ich über dich wissen sollte? Etwas, dass schlimmer ist, als deine Vergangenheit? Etwas, dass sowohl diese, als auch die Gegenwart und Zukunft prägen wird? Dein ganzes Leben schon und das restliche noch dazu? "Bitte sag das nicht. Lass es nicht so klingen, als wenn... Nein, Chika, bitte sag sowas nicht, ich will das nicht hören... Will nicht hören, wie das was du sagst klingt, als wenn du eventuell nicht alt werden könntest. Mit mir. Bitte tu mir das nicht an...", höre ich mich schluchzen. Noch immer auf dem Bett sitzend, halte ich es für eine gute Idee, zu ihr unter die Decke zu kriechen. Ich will ihr beistehen, ich will nicht, dass sie sich alleine fühlt. Sie soll wissen, dass ich ihr heute nach nicht von der Seite weiche. Auf einmal ist nämlich alles egal, mir ist egal, dass ich Taiyo nicht sagen kann, dass ich nicht nach Hause komme, mir ist egal, dass meine und Akiras Sachen immernoch in Crashs Haus, beziehungsweise jetzt wohl eher auf der Polizeistation liegen, das Einzige, was zählt, ist dass Chika hier nicht einsam ist. Ich liege bei ihr und rücke noch etwas dichter an sie ran. Diesmal bin ich es, der seinen Bauch an ihren Rücken drückt, so fest, dass ihre Wirbelsäule mir fast wehtut. Sie schwitzt immernoch so sehr, das hier ist wirklich nicht normal. Was ist das nur? Und wieso habe ich vorher nie darüber nachgedacht? Dass mit ihr eventuell etwas nicht stimmen könnte? Sie ist sehr unkoordiniert in Sport, manchmal ist sie einfach aufs Klo gerannt. Mit ihrer Tasche. Ich habe es gesehen und dachte, sie hätte einfach nur eine ziemlich schwache Blase oder Asthma und will den Inhalator verstecken. Wie konnte ich nur so blind sein, nicht nur ihr gegenüber?!, denke ich, als ich mit der rechten Hand unter ihr Shirt fahre, um zu fühlen, was zur Hölle da nicht gesund ist. In ihrem Herzen. Wieder liegt meine Hand darauf, auf ihrem Herzen, auf der weichen, verschwitzten mittig ihrer Brust. "Ich... Bitte mach, dass es aufhört! Ich... Ich kann so nicht weiterleben! Ich kann nur Glück gehabt haben, dass er so still ist und mich nie... darauf angesprochen hat. Aber ich weiß, dass... er irgendwann auch da... hinterkommen will. Ich kann nicht mehr...", wimmert sie und mir wird klar, dass sie wohl schläft oder ohnmächtig ist, wie auch immer, und im Schlaf weint. "Chika... Was ist das, wovon du redest? Ich weiß ja, wie ich bin, aber kannst du nicht wenigstens mir gegenüber die Wahrheit sagen?", frage ich ebenfalls von Tränen erstickt und massiere verzweifelt ihre Brust. Ich kann mir vorstellen, dass sie letzteres bestimmt auch einmal von mir gedacht hat, wo es doch so viel gibt, was ich ihr nicht sagen wollte. Ihr Herz darf nicht aufgeben, nein, das erlaube ich nicht! Es schlägt irgendwie komisch, ich kann nicht sagen, was genau daran komisch ist, aber da läuft irgendwas in ihrem Körper ganz gewaltig schief. Wenigstens etwas beruhigt sich ihr Herzschlag und Chika schwitzt etwas weniger. "Es... darf nicht so enden... Akira. Bitte. Ich weiß doch, dass du weißt, dass wir zusammen sind. Ich weiß nicht,... was für ein Ziel zu verfolgst,... aber... Bitte nimm mir... Ellie nicht weg!", stottert sie und ich kriege fast einen Herzinfarkt. Sie weiß das von Akira und mir?! In dem Moment beginnt sie wieder stärker zu schwitzen und ihr Herz rast förmlich im Sonic-Speed. Scheiße. Sie... nein, sie darf nicht... Langsam bekomme ich echt Angst. Ich will nicht, dass Chika meinetwegen... Als ich fast glaube, ihr Herz gibt das Tempo auf ewig auf, schieße ich das erste Mal seit langem ein Gebet in den Himmel. "Oh Gott, Jesus, oder Heiliger Geist, oder wer auch sonst da oben, bitte... rette Chika, ich ... das überlebe ich sonst nicht! Jetzt habe ich doch endlich zu verstehen angefangen, wofür es sich zu kämpfen und vor allem letztendlich zu leben lohnt. Ich weiß, ich war nach dem Unfall christlich gesehen eine Enttäuschung, habe mich nur auf mich selbst verlassen und bin nicht mehr in die Kirche gegangen und habe gebetet, aber... Bitte lass Chika nicht vor meinen Augen oder sonst wo sterben!", Tränen fließen Chika in den Nacken und in ihre Haare. Als ich Chikas Herz auf einmal nicht mehr schlagen höre, schreie ich, in einer Frequenz, von der ich fast glaube, dass sie nur von Hunden oder Wölfen gehört werden kann, auf. Kapitel 70: Vol. 3 - "Undere" Arc: In diesem Augenblick ------------------------------------------------------- "Chika! Chika, nein, bitte geh nicht! Bitte lass mich nicht allein, es... es tut mir leid, dass ich dir kein besserer Freund sein konnte, ich... ich kann doch nur mit dir bestehen, nur mit dir kann ich mich erinnern, nur weil es dich gibt, habe ich das Leben, meine Familie und den ganzen Rest der dazugehört, mehr zu schätzen gelernt! Wenn du gehst, falle ich zurück in den routienebesessenen Loser, wenn du gehst, habe ich keinen Grund mehr zu bleiben, deshalb, bitte... bleib bei mir!", flehe ich, als ich sie rumdrehe und versuche, sie wieder zum atmen zu bewegen. Ich habe keine Ahnung, was man in Situationen wie diesen macht. Ich drücke ihren Brustkorb hinunter, ich mache es so oft, dass ich fast verrückt werde, Chika darf nicht sterben, nein, nicht, wenn ich zusehe und aufpasse, dass sie sich vom Leben nicht verabschiedet. Als ich keinen Erfolg erkenne, beginne ich, sie von Mund zu Mund zu beatmen. Mehr, mehr, mehr! Sie darf nicht sterben, sie darf nicht sterben, sie darf nicht sterben, sie darf nicht sterben, sie darf nicht sterben, das ist der einzig klare Gedanke, den ich fassen kann. Tatsächlich höre ich nach kurzer Zeit ein Röcheln, ein leichtes Lecheln nach Luft, sie... sie atmet wieder! "Ellie...", flüstert sie wieder meinen Namen. "Chika...", schluchze ich überglücklich, dass sie noch lebt. Ihr scheint es besser zu gehen. "Aber Ellie, warum... warum weinst du denn schon wieder?", haucht sie fragend und ich lasse mich neben sie aufs Bett fallen, um sie einfach in meine Arme zu schließen. "Chika...", schluchze ich und lasse meinen Kopf auf ihre Brust sinken. "Ich dachte, ich... würde dich verlieren. Ich hatte... solche Angst, dass du sterben würdest. Ich habe immernoch Angst. Chika, da läuft doch... irgendwas gewaltig schief und... und du weißt das. Ich... ich will nicht, dass du gehst.", weine ich. Chika sagt nichts mehr. Das Fieber scheint immernoch ziemlich hoch zu sein, doch zumindest rast ihr Herz nicht mehr so und ihr Atem ist wieder gleichmäßig. Ich weiß nicht wann es passiert, aber nachdem Chikas Leben beinahe beendet worden wäre und ich beinahe den Verstand verloren hätte, schlafen wir langsam ein. Am nächsten Morgen, obwohl nein, es ist ein Sonntag, derselbe wie vor vielen Stunden, wache ich auf. Chika schläft nach wie vor. Ich bin wirklich in der Pose eingeschlafen, denke ich und grinse. Ich fühle ihre Brust sich heben und senken und höre ihr Herz schlagen. Ganz normal sogar. Und das freut mich sehr. Ich richte mich auf und sehe sie friedlich schlafen. Ich sehe sie noch etwas an und denke an die furchtbare Nacht, die hinter uns liegt. Chika ist fast gestorben. Ich fasse ihr an die Stirn. Sie glüht noch immer. Ich sollte bei... ach nein, ist nicht Sonntag? Naja, ich kann es ja mal versuchen. Ich sage Taiyo gleich, weshalb ich gest-... ähm heute nicht nach Hause gekommen bin, denke ich, während ich schweren Herzens Chikas Wohnung verlasse. Legends never die, das ist also ihr Liebling. Legenden, die niemals sterben. Wenn ich wählen müsste, ob Chika eine ist, dann wäre sie für mich jedenfalls eine persönliche Legende. Eine Person oder eine Sache von einer solchen Bedeutung, dass sich Mythen und Legenden um sie bilden oder gebildet haben. Etwas, dass man nicht vergessen wird, sich erinnert, aber auch Dinge über es erzählt werden, von denen man nicht weiß, oder vielleicht genau weiß, dass sie nicht der Wahrheit entsprechen. Dann wünschte ich, dass die Tatsache, dass Chika totkrank sein könnte, wäre vielleicht auch nichts weiter als ein Teil der Legende, hoffe ich, als ich meine eigene Wohnung betrete. "Da bist du ja, Mann, sag doch Bescheid, wenn du bei Chika übernachtest, ich hab es ja irgendwie geahnt, aber trotzdem!", regt sich Taiyo ganz außer sich auf. "Tut mir leid, mein Handy ist wahrscheinlich noch auf der Polizeistation, ich hole es heute.", verspreche ich und gehe gleich wieder. "Warte, willst du gar nichts essen? Und glaubst du wirklich, dass die Typen am Sonntag überhaupt aufmachen?", versucht er, mich aufzuhalten. "Wird schon schiefgehen.", meine ich nur und jetzt gehe ich wirklich. Als ich meine Sachen tatsächlich holen konnte, Akiras Sachen waren zu meiner Verwunderung schon weg, rufe ich gleich Hanako auf meinem Handy an. "Wer ist da?", ich freu mich auch, dich zu hören, Hanako. "Elvis.", "Was gibt's?", will sie wissen. "Ich will dich um was bitten, Hanako.", komme ich gleich zur Sache. "Der Hanako-Hanazawa-Laufburschen-Service ist sonntags geschlossen.", weicht sie aus. "Ist das echt dein Ernst?", "Nein, natürlich nicht. Hab nur was neues ausprobiert, ein neuer Slogan. Der Hanako-Hanazawa-Laufburschen-Service, bin ich nicht genial?", "Nein, du bist ein Schwachkopf.", "Elvis, ich mach dich gleich durchs Telefon kalt!", keift sie, sichtlicht getriggert. "Nein, du bist kein Schwachkopf, weißt du doch, ich will dich nur bitten, auf Chika aufzupassen, sie... sie ist ziemlich krank und ich bin gerade nicht zu Hause. Kannst du vielleicht vorbeikommen?", "Hmm...", "Hanako...", "In der Tat, so heiße ich.", "Scharfsinnig von dir, aber ich weiß nicht, wann ich wieder zurück bin und Chika... ich habe wirklich Angst um sie. Und dir vertraue ich.", "Das solltest du besser bleiben lassen. Obwohl, nein, jetzt geht es wieder. Jetzt kannst du mir wieder vertrauen.", "Ähm, bitte was?", "Vergiss es, ich komme jetzt zu ihr rüber, in drei, zwei, eins... Hanako Hanazawa meldet sich ab.", und weg ist sie. Schräger Vogel. Ich sollte gucken, wie es Akira geht. Er hat mindestens genauso gelitten wie ich. Auch er ist gestern fast unter den Gleisen verendet. Akira ist heute wohl nicht da, denke ich, als ein blondierter Typ namens Len nur grinsend den Kopf schüttelt und mich schräg anschaut. Als wenn er wüsste, wer ich bin. Und dass ich mehr oder weniger mal was mit Akira hatte. Ich hoffe, dem ist nicht so. "Nein, Mann, der ist gestern nicht nach Hause gekommen.", wiederholt er, als ich nachhake. "Aber sein Bike ist auf jeden Fall wieder da, Typ. Er könnte gekommen und wieder gegangen sein, so sieht es aus. Aber davon habe ich nicht mtgekriegt, nur dass die Polizei anscheinend wieder was zu tun hatte. Mehr kann ich dir aber nicht sagen, dieser Egaoshita scheint bis jetzt wohl keine besonders ruhige Nacht gehabt zu haben, wenn der nochmals zurück muss, um sein Bike zu holen. Oh Mann, diese arme Socke hat das echt nicht verdient...", sinniert Len und ich bedanke mich für seine Hilfe. "Bist wohl sein besagtes Herzblatt von gestern, ne?", foppt er mich, bevor ich die Tür öffnen und verschwinden kann. Ich drehe mich nochmals um. "Lass das Gras zur Abwechslung mal weg.", grinse ich und weg bin ich auch. Ich bin, jetzt wo ich alles Nötige erledigt habe und es doch nicht mehr so lange gedauert hat, wieder auf dem Weg nach Hause, doch zuerst sehe ich bei Chika nach. Ich klingle und Hanako macht mir auf. "Auch mal da. Und ich dachte, ich müsse alles alleine machen...", ist das Erste, was ich zu Hören bekomme. Na ja, ich wusste es genau genommen auch nicht, wie lange ich wegbleiben würde, stand da wohl in den Sternen. "Wie geht es Chika?", frage ich und sie sieht zu Boden, nur um mir dann wieder in die Augen zu sehen. "Sieh selbst.", lautet ihre Antwort. An diesem Tag kümmerten Hanako und ich uns den ganzen Tag um Chika. Und jetzt sitzen wir vier bei mir zu Hause und essen zu Abend. Noch nicht einmal Taiyo kriegt die Zähne auseinander, um diese erdrückende Stille zu durchbrechen. Plötzlich wird diese Stille schneller zunichte gemacht als ich gucken kann, denn das Telefon klingelt. Taiyo ist es, der rangeht. In seinem Blick sehe ich Verwirrung, Sorge und... Angst. "Warte, warte, warte, warte, was ist los?... Ja, wir sind zu Hause, Elvis ist auch da... Nein. Wieso? Okay, so spät ist es nicht, aber... ist es echt so dringend? Ach komm schon, ich muss morgen wieder zur Uni und Elvis zur Schule, wieso können wir nicht morgen kommen. Kommt einfach, sagst du. Papa, jetzt komm doch bitte mal zum Punkt... Was? Ach du Scheiße... Jetzt übertreibst du aber, komm, in zwei Wochen geht das weg... Was soll das heißen, dass geht eben NICHT in zwei Wochen weg? Mama ist also krank. Ähm... okay. Bis gleich. Ciao.", Taiyo legt auf. "Was ist denn? Warum haben Mama und Papa angerufen?", höre ich mich fragen. "Papa sagt, dass es Mama anscheinend richtig mies geht. Also, so mies wie lange nicht mehr, voll fertig und so, übergibt sich und alles. Und wir sollen jetzt herkommen. Und Dinge besprechen, ich glaube, Papa übertreibt echt, muss ich sagen, auch wenn ich mir natürlich Sorgen um Mama mache.", sagt Taiyo schulterzuckend. "Setsuna-sama ist...?", wiederholt Chika mit zitternder Stimme. Hanako starrt auf ihr Glas Wasser. Es ist acht, wenn die fahrt mehr als eine Stunde lang geht, solltet ihr jetzt los, ich passe derweil auf Chika auf, mein Zuhause liegt ja auf dem Schulweg, das geht schon in Ordnung.", drängt sie uns, endlich zu gehen. "Aber ich will mitkommen! Ich mag Setsuna-sama, vielleicht hat sie was Ernstes! Ich will sie wenigstens noch ein letztes Mal sehen!", "Chika-senpai, Elvis' und Taiyos Mutter wird nicht sterben! Außerdem bist du selbst krank, du bleibst hier!", bestimmt Hanako. "Du kannst leider wirklich nicht mit, Chika. Du weißt, was heute Nacht passiert ist, bitte ruh dich aus.", bitte ich sie ebenfalls und nun leistet sie keinen Widerstand. Meine Mutter ist sehr krank. Ich werde es nicht aushalten, wenn zwei Menschen, die mir wichtig sind von mir gehen. Eventuell ist es aber vielleicht etwas ganz anderes. Trotzdem habe ich diese kleine Vorahnung, dass diese Nachricht dennoch mein Leben für immer verändern wird. Auf welche Weise auch immer. Kapitel 71: Vol. 3 - "Undere" Arc: Unverhofftes Aufeinandertreffen ------------------------------------------------------------------ Auf der Zugfahrt reden wir kein Wort. Es ist fast immer so, wenn wir zu unseren Eltern fahren, ich meine, wir sehen sie praktisch nur an Feiertagen, wir leben nicht mehr mit ihnen zusammen. Es fühlt sich immer wieder aufs Neue seltsam an, als wäre ich längst erwachsen und ausgezogen. Ausgezogen ja, aber das ziemlich früh mit fünfzehn. Alles nur, um mich zu erinnern. Ich bin zurückgekehrt, um mich zu erinnern. Und vielleicht auch, weil ich Taiyo wiedersehen und sichergehen wollte, dass er mich nicht hasst. Irgendwie habe ich mich immer fehl am Platz zu Hause bei meinen Eltern gefühlt, ich habe immer gespürt, dass etwas nicht so ist, wie es scheint, nicht nur, weil ich meinem Vater, mit dem ich nicht blutsverwandt bin, natürlich überhaupt nicht ähnlich sehe. Auch Taiyo und ich sehen nicht wie Brüder aus. Aber ich habe alles geschluckt und so getan, als wäre es mir egal. Ich wollte einfach nur leben. Ich seufze. Mir graut es davor, ich weiß nicht wovor, aber mir graut es wirklich davor. Was haben unsere Eltern uns denn nun zu sagen? Wieso war mein Vater nur so hysterisch? Es muss sich nicht zwangsläufig um einen Notfall handeln, vielleicht will er es einfach so schnell wie möglich loswerden. Ich glaube, wenn es ein Notfall wäre, dann hätten sie uns nicht erst abends, "wenn der Zynit erreicht ist", angerufen und zu sich gebeten. Meine Mutter ist also krank. So ist es zwar nicht gesagt worden, aber mit "Ihr geht es sehr schlecht" klingt das nun mal so. Ich frage mich wirklich, was meinen Vater so dermaßen aufwühlt, dass er uns so spät abends noch herbestellt. Geht es meiner Mutter denn wirklich so dreckig? Als der Zug in den Stillstand gerät, steigt mein Nervositätspegel und ich schlucke. Bringen wir es hinter uns. Zu Hause öffnet uns unser Vater die Tür. Ihm stehen die Haare zu Berge und es sieht aus, als hätte er sich seit Neujahr nicht mehr rasiert. "Hallo.", presse ich nur hervor, Taiyo schweigt. "Warum sollten wir herkommen?", frage ich direkt. "Kommt erst einmal rein, Jungs.", sagt er nur und zieht uns in die Wohnung. Auf der Couch sitzt meine Mutter und sieht sich irgendeinen Schwarzweiß-Streifen an, dessen Namen ich nicht kenne. "Setsuna, sie sind da.", erregt mein Vater ihre Aufmerksamkeit. Sie sieht nur mit müden Augen in unsere Richtung. "Ich bin froh, dass ihr gekommen seid, Kinder. Tut mir leid, dass wir euch herbestellt haben um diese Uhrzeit noch.", murmelt sie. "Sei ehrlich, Mama, wirst du sterben?!", so fertig habe ich sie wirklich noch nie erlebt. "Nein, Schatz... ich werde nicht sterben...", sie kichert leise. Wahrscheinlich hat sie letzte Nacht einfach kein Auge zubekommen. Was hat sie nur? "Setzen wir uns an den Esstisch, eure Mutter und ich haben etwas Wichtiges mit euch zu besprechen.", kommt mein Vater wieder zu Wort und meine Mutter rappelt sich auf. Sie trägt ihre Arbeitskleidung. Und es ist Sonntag. Bestimmt will sie verdecken, wie sehr es ihr an Kraft fehlt. Arbeitskleidung ist da genau das Richtige. Am Esstisch ist wieder eine Runde Schweigen angesagt. Diesmal bin ich es, der sie bricht. "Raus mit der Sprache, was ist los? Ich kann doch sehen, wie fertig Mama ist. Und ich hoffe für euch, dass ihr vielleicht noch etwas anderes Wichtiges zu sagen habt. Ich meine, kommt schon, ich kann doch sehen, dass es um noch mehr als um Mamas Krankheit geht.", okay, vielleicht habe ich etwas über die Stränge geschlagen, aber was soll ich denn sonst tun, um den Stein ins Rollen zu bringen? "Wir haben das Gefühl, dass wir unsere elterliche Fürsorge in den letzten Jahren sehr vernachlässigt haben. Jungs, ihr seid alle beide freiwillig ausgezogen, Taiyo wegen seiner eigenen Gründe und du, Elvis, um... nun ja, um dich zu Erinnern und Taiyo wiederzusehen. Wir sagen nicht, dass das falsch war, dennoch... haben wir das Gefühl, dass es nicht richtig ist, dass wir einander nur an Feiertagen sehen. Wir möchten zumindest auf Zeit wieder mit euch zusammenleben. Wir wissen, dass kommt etwas spät, zumal Elvis fast volljährig ist und du, Taiyo, fast mit der Uni fertig, aber... Es wäre gut für uns und bestimmt auch für euch, wieder hier zu wohnen, wenn auch nicht für lang. Ich weiß, ihr habt euch jetzt daran gewöhnt auf euch allein gestellt und zu zweit zu wohnen, aber... Mir wäre es zumindest jetzt lieber, wenn ihr eurer Mutter, wenn auch nur für diese Zeit, beistehen könntet.", mein Vater macht eine Pause und holt tief Luft, doch Taiyo kommt ihm zuvor. "Und deshalb habt ihr uns hergebeten? Weil ihr uns wieder hierhaben wollt? Okay, na wenn ihr das sagt, aber... was soll das bedeuten, wir sollen Mama beistehen? Mama, du hast gerade gesagt, du würdest nicht sterben, oder? Meintest du damit etwa, nicht innerhalb von drei Tagen, oder was? Jetzt sagt uns doch endlich, was los ist!", knirscht Taiyo und ich erschrecke über seinen Tonfall. Er ist ja noch aufgewühlter als ich. "Beruhige dich, Taiyo, dass ich sterbe, liegt wirklich nicht im Zeitraum dieses Jahres. Ich habe nicht vor, mit vierzig zu sterben. An meiner Lebenserwartung hat sich nichts verändert. Wir wollten euch etwas anderes im Bezug auf mich sagen, aber ich hätte euch auch gern wieder hier, wenn auch nur für diese paar Monate.", unterbricht ihn meine Mutter. "Und wieso das alles? Warum steht euch ausgerechnet jetzt der Sinn nach einem Langzeiturlaub für mehrere Monate? So ganz ohne Grund? Das können wir nicht. Taiyo und ich haben Pflichten in unserer Stadt, die auch eure Stadt war. Ich will nicht sagen, dass ich euch nicht sehen will, aber... ich kann nach allem, was passiert ist, nicht mehr länger mit Vermutungen um die Runden kommen.", höre ich mich sagen. "Genau, ich will Mama, wenn es sein muss, auch beistehen, aber so können wir das nicht. Wir können nicht einfach ohne Weiteres herziehen. Wieso aber auch nur für ein paar Monate? Ich meine, okay, irgendwann muss ich mir ne Festanstellung suchen und Elvis sich eine Uni, aber... darum geht es euch nicht, was?", bestätigt Taiyo. "Nun, also, ihr habt Recht. Der Grund, weshalb wir euch hier haben wollen, ist... Setsuna ist schwanger.", kommt es ihm zögerlich über die Lippen. Stille. "Wie... bitte?", normalerweise freut man sich über solche Nachrichten, aber... ich kann nicht weg. Und vorallem habe ich mir nicht ausgemalt, so spät noch einen Bruder oder eine Schwester zu bekommen. Die Situation ist kompliziert, ich kann mich jetzt nicht einfach so sehr auf ein Geschwisterkind freuen, wenn ich weiß, dass meine Freundin eventuell in Lebensgefahr schwebt. "Jungs, ihr müsst das nicht machen, wenn es nicht geht. Ich will euch zu nichts zwingen, echt nicht. Ich... ich weiß doch, dass ich euch in den letzten Jahren nicht besonders nahe stand und wir uns voneinander mehr oder weniger distanziert haben. Aber, ich... wollte als Mutter wenigstens wieder aufholen, was ich versäumt habe. Euch beiden ist doch so viel passiert, deshalb seid ihr auch weggezogen, aber... ich will euch wirklich nicht noch mehr im Stich lassen, indem ich euch habe gehen lassen.", flüstert meine Mutter. "Ich... ich geh mal kurz raus.", zischt Taiyo und stapft Richtung Hintertür. "Taiyo, warte!", und mein Vater gleich hinterher. "Dieser Vollidiot.", brumme ich, als beide außer Reich- und Hörweite sind. "Dein Bruder ist kein Vollidiot, Elvis.", meint meine Mutter. "Natürlich ist er das. Ich kann war nicht sagen, ob es denn für mich einfach ist, aber im Gegensatz zu ihm, reiße ich mich mehr oder weniger zusammen...", "Elvis?", meine Mutter sieht mich intensiv mit einem von tiefen Augenringen umrandeten Augenpaar an. "Hast du Angst?" Kapitel 72: Vol. 3 - "Undere" Arc: Im Auge des Sturms ----------------------------------------------------- Taiyo: Ich sitze auf der Bank im Garten und starre so intensiv in den Sternenhimmel, wie ich kann. Als wenn ich auf den Mond fliegen könnte, ganz weit weg von hier, wenn ich nur lange genug starre. "Taiyo, Mensch, was machst du nur ständig für Sachen? Was ist denn los?", Papa setzt sich zu mir, doch ich kann nicht antworten. Ich weiß nicht, irgendwie... ich kann noch nicht einmal sagen, was mich eigentlich bedrückt. "Ach, es ist nichts, ich... ich kann nur einfach nicht glauben, dass ihr erst drei Jahre und eine Kinderzeugung später auf die Idee kommt, dass Elvis und ich auch noch da sind. Ich weiß nicht, vielleicht, vielleicht habe ich einfach nicht verdaut, dass... ich weiß auch nicht, du... du redest irgendwie nicht mit mir über... weißt schon, Kotori, meine Mutter, du weichst immer aus und jetzt besorgst du es auch noch einer anderen, irgendwie... ist das echt krass. Ich dachte, es wäre vielleicht besser, erst mit dem Alten abzuschließen, als jetzt etwas völlig Neues anzufangen, verstehst du? Ich weiß, ich bin unverschämt, so etwas zu sagen, ist unverschämt, aber... Ich will einfach nicht, dass es einfach weitergeht, während so vieles ungesagt bleibt, wie damals mit Elvis. Ich will es mir nicht nochmal mit ihm oder sonst wem, euch, verscherzen. Ich habe ihm wie ihr, ebenfalls nie gesagt, dass wir keine normale Familie sind und ich nicht wirklich sein Bruder bin. Ich weiß doch auch nicht, wieso ich gerade weggerannt bin, es... ist einfach gerade so viel los und ihr habt uns dann auch noch hergerufen und...", mir fällt nichts mehr ein. "Du hast Recht. Ich bin dir ausgewichen. Ich hatte immmer das Gefühl, dass... ich als Vater bei dir versage und es besser ist dir nicht zu nahe zu treten. Damals, die Frau vor Setsuna, die ich dich ausgesetzt habe, das... habe ich mir bis heute nicht verziehen. Ich dachte, du wärst enttäuscht, wenn ich dir etwas von Kotori und mir erzähle, denn... es ist nicht alles unbedingt so, wie es der Norm entspricht. Wir waren ziemlich jung, wir beide, noch in der Highschool, als sie mit dir schwanger war. Ich war siebzehn und Kotori fünfzehn. Als sie bei deiner Geburt starb, habe ich immer geglaubt, ihr nicht nur das Leben, sondern die schöne Jugend gleich mitgestohlen zu haben, ich habe mich dafür regelrecht gehasst. Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr so stark an alles, aber ich war ziemlich verzweifelt mit meiner Vaterrolle, die ich nicht so gut erfüllen konnte, wie du es verdient hättest. Deine Großeltern waren ziemlich böse auf mich, dass ich so früh ein Kind gezeugt habe, obwohl ich irgendwo selbst noch eins war. Ich habe bei deinem Onkel übernachtet und versucht, irgendwie an Geld zu kommen. Dann habe ich als Polizist gearbeitet und meine Freundinnen wie Unterwäsche gewechselt, in der Hoffnung, irgendwo unter ihnen eine gute Mutter für dich zu finden. Wie du siehst, war das am Ende Setsuna. Doch ich wusste auch nicht, wie das für dich war, immerhin hatte sie selbst ein Kind erwartet. Ich hatte Angst, dass du dich deswegen vielleicht vernachlässigt fühlen würdest, aber zu meiner Überraschung warst du unerwartet reif für fünf Jahre. Ich habe alles getan, damit du glücklich warst, nur eben auf falschem Wege, weißt schon, das ganze Fastfood und den ganzen Scheiß, weil Essen dich so glücklich gemacht hat, wollte ich es nicht beenden. Ich kann froh sein, dass du allein doch noch den Weg aus der Essstörung gefunden hast.", er lacht leise. "Ach, Papa... ich habe doch nur wegen Elvis so viel abgenommen und nicht, um dir unter die Nase zu reiben, wie sehr du versagt hast.", entgegne ich ihm. "Ich war eine lange Zeit ziemlich neidisch auf ihn. Er hatte alles, was ich nicht hatte. Das hat mich fertig gemacht, so sehr, dass ich ausgezogen bin und erst wiederkam, als es hieß, er habe sich vom Dach gestürzt. Da wusste ich, dass es bei ihm auch nicht viel besser war.", erkläre ich etwas wehmütig und mustere seinen Dreitagebart. Ich rasiere mich auch nie, wenn ich bedrückt oder gestresst bin, vermutlich habe ich diese Eigenschaft von ihm geerbt. Ich grinse. "Was ist so lustig?", fragt Papa, als er das bemerkt. "Ach nichts...", winke ich ab. "Und, was... was machen wir jetzt? Also, ich kann eigentlich schon für die Zeit hier wohnen, dann fahre ich eben mit dem Zug, aber ich glaube, Elvis hat ein Problem damit. Seine Freundin, also Chika, ihr... geht es nicht so gut und er hat ziemlich Angst um sie.", werfe ich noch ein, ehe es klingt, als hätten wir die Sache damit endgültig beschlossen. "Verstehe, und was ist mit dir? Kannst du wirklich alles für mindestens neun Monate zurücklassen, also nicht mehr in unmittelbarer Nähe sein? Hast du eigentlich auch eine Freundin?", der fragt Sachen, Mensch... "Erstens, ich denke schon und zweitens, so in etwa, es gab Schwierigkeiten mit uns beiden, ich... ach nein, vergiss es, wir... haben uns mehr oder weniger... vertragen.", stammle ich und er sieht mich eindringlich an. "Habt ihr was zum Verhüten?", was zur Hölle?! Wieso fragt er sowas?! Ich verschweige ihm besser, dass ich tatsächlich fast Sex mit ihr hatte, hatte es nicht vor, ich habe nur so getan, ich wollte nicht wirklich mit ihr schlafen, aber darauf kommt es zum Schluss wohl auch nicht mehr an. "Wa-wa-was zur Hölle? Nein, haben wir nicht!", keife ich und spüre, dass mein Gesicht fast dieselbe Farbe wie meine Haare annimmt. "Oh Mann, Kind, dass ist aber gar nicht gut, du willst doch nicht wie dein Vater enden, oder?", dieser Typ macht mich fertig! "Nein... ich... wir haben es nicht getan! Und ich habe es in naher Zukunft auch gar nicht vor, Mensch, dass du sowas fragst, finde ich echt unglaublich...", rege ich mich auf. "Ist ja gut, ich wollte nur sichergehen, fang dir bloß keinen Aids ein, Jungchen.", "Sagt der, der es vor kurzem selber wie ein Kanickel getrieben hat.", Shit, der hat gesessen. "Taiyo... du rotzfrecher Bengel, ich bring dir Manieren bei!", und er nimmt mich in den Schwitzkasten. "Aaaaahhh, bitte nicht, ich habe meine Lektion gelernt, Vater!!!", lache ich etwas gequält und versuche mich erfolglos zu befreien. "Bist du dir auch wirklich sicher? Ziehst du auch nie wieder über das Sexleben deines Vaters her?!", hakt er nach. "Jaaaa, und jetzt lass mich los, bevor ich gleich draufgehe!", rufe ich und er lässt augenblicklich los. "Oh Mann, hast du eine Technik drauf, da kriegt man ja richtig Angst...", keuche ich. "Na, das solltest du auch besser."; lacht er und strubbelt mir durch die Mütze das Haar. "Sag mal, ziehst du diese Mütze eigentlich niemals aus?", will er wissen. "Zum Schlafen und duschen, aber sonst trage ich sie.", meine ich stolz. "Ich weiß noch, wie ich dir diese Mütze einmal zum Geburtstag geschenkt habe, der letzte, den du hier verbracht hast...", meint er auf einmal wieder ruhiger. "Ja, daran erinnere ich mich. Ich wollte wenigstens etwas an euch denken, wenn ich wegziehe. Hat funktioniert.", stelle ich fest. "Hach, du änderst dich nie, mein Junge!", findet er, strubbelt wieder meine unter der Mütze versteckten Haare und zieht mir die Mütze über die Augen. Ich lasse sie dort, auch wenn ich jetzt nichts sehen kann. Ich weiß nicht, wann mein Vater und ich das letzte Mal so ausgelassen zusammen waren. Irgendwie muss ich fast heulen. Aber zum Glück kann man das durch die Mütze in meinem Gesicht nicht sehen. Ich lasse mich einfach auf seine Schulter fallen und lehne mich an. "Ist was, Taiyo?", fragt er. "Nein, es... ich denke nur nach. Ich kann immernoch nicht ganz realisieren wieder Bruder zu werden, also auch noch mit Elvis zusammen. Für ihn ist das bestimmt auch komisch, er war ja bis jetzt immer der Jüngste. Ganz ehrlich, ich fühle mich ein bisschen überfordert.", sage ich ihm leise, was in mir vorgeht. "Wie ich mich erst fühlen muss, ich werd zum dritten Mal Vater.", flüstert er und mir ist klar, dass er auch Elvis' Geburt mitzählt. Ich hab zugeschaut. Das ich das nochmal erleben darf, hätte ich echt nicht gedacht. "Scheint so...", hauche ich und lege den Arm auf seine Schulter. Irgendwie habe ich überhaupt keine Lust, nach Hause zu gehen. So ging es mir auch, als Hanako und ich uns im Park trafen. Es gibt Dinge, die ändern sich nie, so wie auch ich, Taiyo, immer Taiyo bleiben werde, aber es gibt mindestens genauso viele Dinge, die sich wandeln können. Zum Beispiel Verantwortung. Sie kann größer und belastender werden, es kann Veränderungen mit sich bringen, diese Bürde auf sich zu nehmen. Zum Beispiel die Gefühle einer anderen Person, wenn auch nur ein klein wenig. Solche Dinge, und da bin ich sicher, können doch so schön werden und es sein, können eine ganze Welt für jemanden verändern. Kapitel 73: Vol. 3 - "Undere" Arc: Was in den Sternen steht ----------------------------------------------------------- Wie genau ich darauf jetzt komme? Nun ja, ich denke mal, ein Baby wäre für die ganze Familie eine erhöhte Verantwortung, weder nur im guten noch im schlechten Sinne. Ich meine, kleine Kinder sind echt witzig, wie sie herumschleichen und sich vor Gurken erschrecken... Oder sind das Katzen? WIe auch immer, also, was die Gefühle, die die Welt für eine Person verändern angeht, hatte ich eine bestimmte Person im Kopf. Hanako. Hach, diese Lolita, irgendwie ist sie einfach eine Person für sich. Irgendwie verstehe ich es immernoch nicht, ich verstehe es nicht und dennoch bleibe ich bei ihr. Wahrscheinlich habe ich genau so einen an der Waffel. Sie unter Druck zu setzen, geht es nicht, ich schätze, warten ist da die einzige Option. Wir haben uns wirklich vertragen. Ich schätze, das ist die Kraft der... Vergiss es, ich habe kein Wort für das hier. Im Park von damals, als wir dort rumgemacht und von Elvis erwischt worden sind, Mann, das war vielleicht peinlich. Eines Tages sehen wir auf all das zurück und lachen. Zumundest gefällt mir der Gedanke daran. Ich denke, es ist alles verkraftbar, wenn man davon absieht, was alles Schreckliches einen Keil zwischen Menschen treiben und Dinge zerstören kann. "Taiyo, ich... ich schätze, wir sollten wieder rein, ehe sich dein Bruder und deine Mutter Sorgen machen.", reißt Papa mich aus meinen Gedanken und ich schrecke auf. "Ja, gehen... wir.", murmle ich und die beiden warten auf uns, am selben Platz, als wenn ich niemals feige gewesen wäre. "Also, Jungs, es ist tatsächlich etwas viel, was wir da vorhaben und planen, wieder auf Zeit mit euch zu leben, ich kann mir vorstellen, dass ihr erst eine Nacht darüber schlafen wollt, aber da ist noch etwas, das wir euch sagen wollen. Mittlerweile wissen ja alle im Raum, dass wir eine Patchworkfamilie sind.", Papa atmet tief durch, ehe er fortfährt. "Wir wollen heiraten.", Stille, schon wieder. Keiner weiß recht, wie er darauf reagieren soll. Das ist natürlich schön, irgendwie, doch Freude zu zeigen lässt diese Atmosphäre nicht zu. "Irgendwie... mag ich den Gedanken.", entfährt es mir und ich fühle, wie Elvis' Blick auf mir lastet. "Ich meine, ich habe die ganze Zeit mitbekommen, dass... na ja, dass ihr... na ja, nicht wirklich verheiratet wart und alles nur so inszeniert habt, damit es normal aussieht, der Gedanke daran, dass diesmal doch alles genau so aussieht, wie es wirklich ist... freut mich irgendwie.", ich sehe, wie Mama lächelt. Anscheinend freut sie sich, dass ich mich auch freue. Den Blick von Elvis jedoch, kann ich nicht deuten. Vielleicht sind die ganzen Informationen doch zu viel für ihn. "Elvis?", errege ich seine Aufmerksamkeit und er sieht mich etwas verloren an. "Hmm?", macht er und sein Gesicht zeigt keine Regung. "Versteh mich bloß nicht falsch, ich... freue mich auch, aber... ich habe gerade einfach sehr viel zu tun, ich... kann mich irgendwie nicht ganz auf all das konzentrieren oder eben nur darauf freuen. Das ist einfach ein bisschen... viel.", murmelt er und schaut wieder in die Runde. "Können wir nach Hause gehen? Ich denk drüber nach, aber... ich will jetzt wirklich gehen. Morgen ist Schule.", unsere Eltern tauchen kurz einen Blick aus, dann nicken sie und wir gehen. Im Zug herrscht wieder Schweigen zwischen uns, in letzter Zeit scheint es besonders schlimm zu sein damit. Ich denke zurück an das Treffen im Park, die Art Pakt, den wir geschlossen haben. Ein Flashback an diesen Tag blitzt vor meinem inneren Auge auf: Es fing zu regnen an, immer stärker, meine Klamotten waren schon völlig durchweicht und ich selbst klatschnass. Ich erblickte Hanako neben einer Parklaterne, ebenfalls völlig durchnässt, wie ein Häufchen Elend. Wie ein frischgeborenes feuchtes Hundebaby, stand sie da, wie bestellt und nicht abgeholt. Ein jämmerlicher Anblick. Sie hatte ebenfalls keinen Schirm. Ich rannte so schnell ich kann zu ihr. "Idiotin, wieso... wieso hast du keinen Schirm dabei?", keuchte ich und wrang meine Mütze aus, um wenigstens ein wenig trocken zu sein. Warum standen wir noch hier, und nicht unterm Dach des Klohäuschens wie damals? "Selber Idiot, du hast auch keinen.", flüsterte sie, durch den Regen nur leicht hörbar. "Wieso stehst du hier allein im Regen und nicht unter dem Dach wie früher?", wollte ich wissen und zog meine Jacke aus, um Hanako wenigstens etwas warm zu halten. "Ich stehe hier im Regen, weil ich die Kälte verdient habe.", meinte sie und ich schüttelte nur den Kopf. "Du hast echt ein Rad ab, weißt du das?", fand ich, doch ihr Blick blieb weiter leer. "Taiyo-kun, ich wollte mich bei dir entschuldigen.", kam es ihr wie aus der Pistole geschossen über die Lippen. Taiyo-kun. So nannte sie mich damals noch, als sie noch nicht ganz wusste, ob sie mir vertrauen konnte, als wir uns zwar körperlich nah, aber seelisch meilenweit voneinander entfernt waren. Distanziert. "Wieso das denn?", fragte ich vorsichtig. "Weil du meinetwegen wieder... verletzt worden bist. Nur meinetwegen warst du so sauer und wurdest erneut hintergangen. Ich hab dich enttäuscht, nicht wahr?", sie kicherte traurig. "Das... das ist doch nicht so schlimm! Jetzt zumindest enttäuscht du mich nicht, ich bin es doch, der dich nicht verstehen kann! Ich dachte, ich könnte es, aber das... das ist nicht leicht. Ich wollte nur, dass du... das du dich nicht mehr im Stich gelassen fühlst, Hanako. Ich wollte bei dir sein. Ich wollte wenigstens einmal in meinem Leben zu etwas gut sein. Ich wollte nicht, dass du genauso einsam wirst, wie ich es war. Ich habe in der ganzen Uni nur zwei richtige Freunde, weil ich mich an all die anderen, außer mit ein paar dämlichen Sprüchen, einfach nicht rantraue. Ich habe tief im Innern immer noch Angst, dass nur sie mich akzeptieren. Und nur du. Hanako, ich... ich will nicht länger distanzier sein. Ich habe dich doch viel mehr verletzt, als du mich. Und eigentlich weißt du es doch. Bitte... bitte lass es uns noch einmal miteinander versuchen, es... es tut mir leid, dass ich dich ausgezogen und so angeschnauzt habe. Du musst bloß wissen, dass... du dich nur schlechter gefühlt hättest. Es sieht vielleicht so aus, als könnte man mit Sex seine Probleme für ein paar Momente vergessen, aber... dadurch verschwinden sie auf keinen Fall. Ich habe es ausgenutzt, das war falsch von mir. Es tut weh, zu wissen, jemanden, den man mag, so mutwillig zu erschrecken. Ein Teil von mir hat vielleicht wirklich mit dir Schlafen wollen. Aber ich habe gezögert. Ich wollte, dass du es mir sagst, Hanako! Ich wollte, dass du mir vertraust und dennoch habe ich dieses Vertrauen verletzt. Ich weiß doch schließlich, dass ich nicht von deinen wahren Gefühlen erfahre, wenn ich mit dir schlafe!", rief ich und spürte, dass sich etwas anderes Nasses durch mein Gesicht zog, nur ein bisschen wärmer. Ich wagte nicht, sie anzusehen, als ich merkte, dass ich weinte. Auch wenn sie es nicht sehen konnte. Auch wenn der Regen meine Tränen verbag, schämte ich mich sehr. Ich war so ein Arsch. "Taiyo... Ich kann das nicht. Ich kann es einfach nicht, hörst du? Ich... ich habe viel zu viel angestellt. Ich habe deine Gefühle mit meinen eigenen verletzt. Ich bin nämlich immernoch nicht über Chika-senpai hinweg. Ich liebe sie in Wahrheit noch immer. Auch wenn es total dumm ist. Ich sollte mich in dich verlieben! Ich bin deine Freundin! Nicht die von Chika-senpai! Ich liebe dich. Ich tue es wirklich. Aber... nicht so sehr, wie ich sie geliebt habe! Es zerreißt mich so sehr! Es tut weh! So verschissen weh! Ich hasse es so sehr! Ich... ich versteh mich selbst nicht mehr. Ich will dich wirklich lieben lernen! Ich will die Hanako sein, die stark genug ist, den inneren Kampf zu gewinnen. Aber ich habe Angst.", wimmerte sie. "Ich will nicht noch eine Person verlieren, ich habe mir schon genug Menschen zum Feind gemacht. Würden wir wirklich wieder zusammen sein, werde ich dir das Herz brechen, dass du dich nie wieder davon erholst! Glaub mir, so grausam kann ich wirklich sein! Du wirst mich hassen! Bitte tu mir das nicht an, Taiyo-kun!", weinte sie. "Es ist okay, mich wirst du nicht verlieren. Du kannst nichts zerstören, was schon kaputt ist. Obwohl nein, so ist das nicht. Gerade weil ich dich, Hanako, getroffen habe, habe ich gelernt, wieder an die Liebe zu glauben. Nicht einmal Hide hat es in dem Ausmaß geschafft. Selbst wenn du wirklich nicht in der Lage bist, mich zu lieben. Selbst wenn du romantisch nicht in der Lage bist, dich überhaupt auf einen Mann einzulassen. Selbst wenn du mir meine Grobheit von jenem Nachmittag nie verzeihst. Sollte es auch damit enden, dass ich wieder einsam werde und mich bis zu meinem Tod mit Hentai trösten muss... Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben, hast du's kapiert?! Es ist mir egal, wie krank du in der Mittelschule drauf warst, egal, wie viele deiner Mitschüler verprügelt hast, du bist du, hier und jetzt. Du bist Hanako Hanazawa, das süßeste Mädchen, dass ich in meinem verkackten Leben je gesehen habe. Du bist unglaublich stark, intelligent und nimmst kein Blatt vor dem Mund! Das ist, was dich ausmacht! Solange du willst, weiche ich nicht von deiner Seite. Was auch kommt, ich bleibe bei dir!", rief ich in die Nacht und im unwirklich grellen Licht der Laterne sah ich sie ebenfalls weinen. Sie sah mich einfach ungläubig an. "Ich werde... ich werde dich immer beschützen und wenn es eben noch braucht, bis du über Chika hinweg bist, und wenn schon, ich... nehme das in Kauf!", grinste ich über die Tränen hinweg. Ich nahm Hanako einfach, ehe ich es überhaupt in Betracht zog, in den Arm. "Taiyo-ku-", "Du brauchst mich nicht länger so zu nennen, ich tu dir nichts. Wir sind keine Fremden mehr. Letztendlich haben wir offiziell nie miteinander Schluss gemacht.", erklärte ich glücklich und heulend. "Ich... ich muss gleich heulen, ich krieg das Kotzen.", brummte sie, denn ich wusste, wie sehr sie das weinen hasste. "Ach, Hanako. Meine Hanako.", summte ich und drückte sie noch fester an mich. "Idiot. Wie kann man jemanden wie mich nur so gernhaben? Aber hey, dieser Idiot gehört immer noch mir.", murmelte sie und ich drückte sie noch etwas fester. Noch nie in meinem Leben hatte ich Nässe als so geil empfunden. Wir klebten förmlich aneinander. Um wahrsten Sinne des Wortes. Trotzdem lösten wir uns voneinander, um unseren Gegenüber besser in die Augen sehen zu können. "Ich liebe dich wirklich, Hanako. Ich werde warten, wenn es ein muss, bis du mir ganz gehörst.", sagte ich. "Ich hoffe, es wird der Fall eintreffen, in dem es sich lohnt.", flüstert sie und der Regen verebbt so langsam. Obwohl sie meine Jacke immer noch auf ihren Schultern trägt, kann ich unter ihren nassen Sachen ihren BH abzeichnen. Im nächsten Moment küssen wir uns. Du bist wirklich unmöglich, "Hanako-chan". Kapitel 74: Vol. 3 - "Undere" Arc: Es handelt sich um eine Ewigkeit ------------------------------------------------------------------- Elvis: Ich frage mich, ob ich denn einen großen Fehler machen würde, wenn ich bliebe oder einen großen Fehler machen würde, ginge ich. Wir kommen bei uns zu Hause an, während Taiyo schon einmal in die Tür aufschließt, verharre ich noch vor Chikas Haustür. "Ich geh dann schon mal schlafen. Sag Hanako, sie soll nach Hause gehen, bevor es zu spät wird.", bittet er mich noch, ich nicke und er schließt die Tür hinter sich. Ich klingle bei Failman und Hanako öffnet mir die Tür. Diese sieht mich einfach nur geistesabwesend an, als wäre sie nur körperlich wach und mit dem Kopf woanders."Hanako?", sie schreckt auf. "Elvis.", murmelt sie und reibt sich verstohlen das Auge. "Schläft Chika schon?", frage ich und sie unterdrückt ein Gähnen. "Nein, sie... sie kann nicht schlafen. Irgendwie sagt sie ständig, dass sie warten will, bis du da bist. Auch wegen deiner Mutter. Sie sorgt sich zu sehr.", nimmt sie Stellung zu dem, was in meiner Abwesenheit passiert ist. "Ich soll dir von Taiyo ausrichten, dass du langsam nach Hause gehen sollst, bevor es zu spät wird, ist ja fast halb elf.", gebe ich wieder, was man mir aufgetragen hat. Sie nickt nur, geht zurück, um ihre Sachen zu holen und trollt sich. Weil die Tür noch offen steht, schlüpfe ich hindurch, um nach Chika zu sehen. Als ich vorsichtig die Tür aufstoße, finde ich Chikaaus dem Fenster blickend und im "LEGENDS NEVER DIE"-Pyjama vor. "Chika.", flüstere ich und sie dreht sich zögernd zu mir um. "Ellie... ich habe auf dich gewartet. Wie geht es Setsuna-sama?", fragt sie nur. "Das hättst du nicht machen sollen, du musst doch schlafen. Meine Mutter wird auf jeden Fall nicht sterben, aber, Chika, vergiss nicht, wie mies es dir ging, das darfst du nicht unterschätzen.", erinnere ich sie daran und mustere sie. Als ich ihre Hand nehme und sie zurück ins Bett führe, leistet sie keinen Widerstand und sieht mich einfach an. Ihre Augen sind glasig. "Also, was ist? Wie geht es denn nun Setsuna-sama? Bitte sag es mir, Ellie!", drängt sie mich und, weil ich ihr gerade sowieso keinen Wunsch ausschlagen kann, gebe ich mich geschlagen. "Meine Eltern erwarten noch ein Kind, wollen heiraten und dass wir solange, bis das Kind geboren ist, mit uns zusammenleben. Das bedeutet, dass ich für mindestens neun Monate nicht hier wäre bei dir und... das macht mir einfach Angst. Ich will dich nicht im Stich lassen, aber... meine Eltern brauchen Taiyo und mich gerade so, irgendwie... ist das einfach echt viel auf einmal.", Sie richtet sich auf, um auf Augenhöhe mit mir zu sein. "Du hast also Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte, wenn du gehen würdest. Aber das muss doch nicht sein. Ich habe ja noch Hanako, bei der ich übernachten könnte. Meinetwegen must du dir wirklich keine Sorgen machen.", redet sie auf mich ein, während sie mir die Schultern massiert und ich spüre, wie die Last auf ihnen von mir abfällt. Das fühlt sich tatsächlich ziemlich gut an. "Setsuna-sama ist also schwanger... irgendwie freue ich mich für sie, sie ist so eine liebe Person, wie sie sich so um dich und Onii-sama kümmert, sie ist großartig. Wenn ich mal mit dir verheiratet bin, will ich auch so sein wie sie...", Chika kichert vergnügt bei diesem Gedanken. Heiraten. Ja, sie zu heiraten wäre... echt schön. "Ich freue mich irgendwo ja auch, nur... fühlt es sich immernoch etwas seltsam an. Ich fühle mich gar nicht so, als wäre ich bereit, ein großer Bruder zu sein. Und überhaupt, wegen der Sache mit meinem leiblichen Vater, die ich noch immer verdaue, muss ich es erst realisieren.", sinniere ich und seufze. Morgen geht die Schule wieder los. "Hast du Angst?", will sie aus dem Nichts wissen. Diese Frage lässt mich erstarren. Ob ich Angst habe. Meine Mutter hat mich das heute auch schon gefragt. Ein Flashback lässt die Gegenwart vor meinen Augen verschwimmen: "Wie... bitte?", ging ich sicher, dass ich es richtig verstanden hatte. "Du hast mich schon verstanden, Kind. Ich sehe es in deinem Blick, irgendetwas, nein, mehrere Dinge bereiten dir Furcht, ich weiß nur nicht, ob ich mich irre, deshalb frage ich.", meine Mutter sah gedankenverloren auf ihre Fingernägel und ich dachte nach. Ich habe Angst vor vielem. Angst, dass Akiras und meine Freundschaft zu Bruch gehen könnte, dass ich Chika verlieren könnte, wenn nichzt wegen Akira, dann durch ihre Krankheit, dass ich auf ewig mit halben Erinnernungen leben werde. Da ist so vieles. Auch, dass ich und Shuichiro keine Freunde mehr sein können und die Gang nie wieder das sein wird, was sie seit Anfang der Highschool zu sein pflegte. Wir waren Freunde, unzertrennlich und verbunden, jeder sah zu uns auf und man kannte uns. Man mochte uns. Und jetzt erscheint mir all das nur wie ein Lichtjahre weit entfernter Traum von der Vergangenheit, der niemals wirklich real gewesen ist. "Vieles.", antwortete ich nur. "Es hat sich viel zu schnell viel zu viel verändert, damit komme ich nicht klar. Ich merke doch, dass sich alles, woran ich geglaubt und was ich als normal und richtig so empfunden habe, in Luft auflöst. Weil ich mein Gedächtnis verloren habe, habe ich mir eine Welt aufgebaut, in der alles okay ist, habe Bestnoten geschrieben, mir Beliebtheit verschafft, mir die Haare geschnitten, alles, um keine Angst mehr zu haben und um nichts zu bereuen. Aber mein Gedächtnis kommt zurück und auch ohne diesen Faktor verändern sich Dinge, von denen ich mir gewünscht habe, dass sie es niemals tun würden. Ich scheine komplett die Macht über meinem Leben verloren zu haben.", floss alles aus mir heraus, ich versuchte dabei so sachlich zu bleiben, wie es eben ging. Mütter kann man nicht belügen, schon gar keine schwangeren, das wäre einfach... asozial. "Ach, Kind, irgendwie... hätte ich es mir ja denken können. Sein Gedächtnis zu verlieren, ist sicher nicht leicht und in deinem Alter verändert sich das eigene Umfeld ja so rasend schnell. Teilweise bin ich ja selbst schuld, weil ich dir so vieles aus der Vergangenheit, ja, teils auch aus der Gegenwart einfach ganz dreist verschwiegen habe. Ich kann nicht anders, als zu wiederholen, wie leid mir das tut, Elvis.", sie hält inne und sieht betrübt auf den weißen Rand ihrer Fingernägel, der von einer lang zurückliegende Maniküre zeugt. "Ach nein, sag doch sowas nicht, Mama! Die Vergangenheit kann man ja nicht ändern und ich... will dir das auch nicht weiter unter die Nase reiben und außerdem... ist sich selbst die Schuld für alles zu geben, bestimmt nicht gut für das Kind!", beschwichtigte ich sie und sie sah wieder zu mir auf. "Ich danke dir, dass du so nett bist. Dass ich schwanger bin, ist bestimmt ebenfalls einer dieser Veränderungen, mit denen du nicht gerechnet hast, was? Sag, bist du böse auf mich?", wo kam das denn nun her? "Was? N-nein, wenn du das wegen der Keita-Sache denkst, dann, nein ich... ich bin zwar noch dabei, es zu verdauen, aber... ich freue mich für dich, dass du mit Papa wenigstens nicht mehr einsam bist, Mama. Ich werde mich schon damit anfreunden.", entgegnete ich ihr. Sie lächelte warmherzig. "Ich freue mich, wenn du dich für mich freust, also... deine Wortwahl bringt mich manchmal wirklich immer wieder erneut zu schmunzeln. Das ich nicht mehr einsam bin wegen Shun, hach, sowas kannst auch wirklich nur du sagen.", lachte sie und ich wurde rot. "Mann... mach dich bloß nicht über mich lustig...", brummte ich beschämt. Sie beruhigte sich wieder und sah zufrieden aus, als Taiyo und mein Vater wieder hereinkamen. Als wäre nichts dergleichen von eben geschehen. "Ellie! Eeeellie! Erde an Ellie!", holt mich Chika wieder ins Leben zurück. "Chi-.... Chika... Es tut mir leid, ich... war einen Moment weg.", entschuldige ich mich verlegen. "Also, echt, Ellie, du änderst dich wirklich nie...", macht sie sich satirisch über mich lustig. Doch dieses Lächeln verfliegt schnell. "Ich finde du solltest gehen. Steh Setsuna-sama und auch Shun-sama bei.", meint sie und ich fasse ihr fast automatisch wieder an die Stirn. Sie scheint schon wieder in Flammen zu stehen. "Aber Chika, du-", "Hanako-chan wird bestimmt auf mich aufpassen können, sie... sie ist echt gut darin und ich... ich will doch auch, dass es bei dir vorangeht, ich... ich will, dass du dich auch weiterhin gut mit deiner Familie verstehst, Ellie! Familie ist doch... so wichtig. Meine Familie gibt es nämlich nicht mehr. Bitte geh. Für mich. Ich verspreche dir, dass ich nicht sterben werde. Es ist nur Fieber, bescheuertes Fieber, ich werde leben, ich verspreche es dir ganz fest!", ruft sie fast schon durch den Raum, in dem nur wir beide sind. "Bitte geh...", flüstert sie. Und trotz ihres hohen Fiebers lasse ich es mir nicht zweimal sagen und gehe. Kapitel 75: Vol. 3 - "Undere" Arc: Auf dem Grund des Meeres ----------------------------------------------------------- Ich hatte eine ziemlich schlaflose Nacht. In meinem Traum ist Chika die ganze Zeit vor meinen Augen gestorben. So oft bin ich heulend und schweifgebadet aufgewacht, dass ich schwören könnte, um mindestens einen Kilo leichter zu sein. Chika ging es, als ich morgen vorbeigeschaut habe, wieder schlechter, das Fieber ist nach wie vor sehr hoch und ich will verdammt noch mal wissen, was jetzt mit ihrem Herzen nicht stimmt. Es kann nicht einfach so zu rasen oder zu schmerzen anfangen, so was machen keine gesunden Herzen... Moment mal! Nein, ich... Chika hat mir versprochen, am Leben zu bleiben, aber... Es ist besser, nicht länger darüber nachzudenken. Betrübt gehe ich meinen Weg, ehe etwas von hinten auf mich zukommt und mir die Augen zuhält. Ist das ein Übergriff?! Aber ehe ich schreien kann, höre ich ein fröhliches "Rate mal!", eine bekannte Stimme und komme nicht dazu, die Zähne auseinanderzukriegen. Chika schleicht sich immer gerne so von hinten an mich ran und presst ihren Körper an meinen. Chika. Das ist sie nicht und ich wusste es von Anfang an, nicht nur, weil ich weiß, dass das Hanakos deutlich kleinere Brust ist, die sich an meinen Rücken drückt. Sie merkt, dass ich nicht raten werde, wer das wohl ist und lässt von mir ab. "Sorry, ich wollte nur etwas die Stimmung aufhellen.", entfährt es ihr schuldbewusst und sie baut sich vor mir auf. Augenringe. "Ist schon okay.", meine ich nur und wir setzen den Weg fort. "Sag mal, wie geht es denn nun weiter? Also, mit deinen Eltern? Dich beschäftigt doch etwas. Elvis.", schneidet sie nach ein paar sehr langen Sekunden das Thema von gestern wieder an. "Ach ja, also, meine Muitter kriegt wieder ein Kind und Taiyo und ich sollen für die Zeit bei ihnen wohnen, weil sie meinen, sie hätten uns vernachlässigt.", fasse ich zusammen. "Krass.", flüstert sie. "Und wie fühlst du dich dabei?", "Ich? Also, ich weiß nicht, was ich sagen soll und außerdem macht mir Chika gerade noch viel eher Sorgen.", überlege ich laut. "Verstehe.", haucht sie nur. "Und was dich betrifft, Hanako. Es tut mir leid.", wo das jetzt herkommt, weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass es mir seit jener Nacht nicht aus dem Kopf geht. Für Hanako ist das bestimmt nicht witzig. "Was meinst du denn, Elvis?", fast schon bestürzt sieht sie mich an und legt den Kopf leicht schief. "Dass ich die Arbeit an dir abwälze, indem ich dich auf sie aufpassen lasse. Das ist gemein von mir, immerhin bist du doch irgendwo immer noch in sie verliebt.", ich spüre, dass ich hätte besser die Klappe gehalten. Hanako sieht kurz zu Boden, ehe sie weiter voraus rennt und mich mit eisernem Blick fesselt. "Selbst wenn, ich bin jetzt mit deinem Bruder zusammen, Taiyo und ich, wir schaffen das und ich.. ich gebe mir auch Mühe. Vielleicht habe ich meine Gefühle für Senpai noch nicht vollständig aufgegeben, aber dennoch bin ich... bin ich... Hanako Hanazawa, eure Freundin fürs Leben!", ruft sie durch die Nachbarschaft und als sie merkt, dass sich welche zu uns umgedreht haben, läuft sie rot an und versteckt sich augenblicklich hinter meinem Rücken. Erstaunlich, wie schnell dieses Mädchen ist. "Ist mir so rausgerutscht, bitte lach nicht. Ich meine das so. Ich will bei euch bleiben, auch wenn ich manchmal zickig bin, ich... habe euch beide wirklich gern.", murmelt sie. Ich drehe mich wieder um und tätschle ihr den Kopf. "Ich bin froh, so eine Freundin wie dich zu haben. Danke!", bedanke ich ich bei ihr und ruiniere ihre Frisur. Manchmal braucht es Menschen wie sie, die einen mit ihrer Art aufmuntern. Wenn auch nur für diesen Moment und wenn man die Trauer und Sorge nicht vergessen kann. "Herrgott noch mal, wenn du sowas sagst, muss ich ja gleich weinen...", brummt sie, doch ich weiß, dass sie sich tief in ihrem Herzen darüber freut. In der Schule angekommen stürzt sich eine Grupppe Mädchen aus meiner Klasse auf mich. "Oh mein Gott, was ist mit deinem Hinterkopf passiert?!", fragt eine hysterisch aus der Menge. "Ähm... Unfall. Couchtisch. Ist aber halb so wild.", stufe ich es ab und versuche mir nichts anmerken zu lassen, als Akira den Schuhraum ebenfalls betritt. "Oh mein Gott, Egaoshita-kun sieht auch vollkommen hinüber aus!", bemerkt dieselbe und der Haufen teilt sich. Auch er hat ein ziemlich großes Pflaster auf der Wange, Augenrige und eine bedrohliche Aura. Die Mädchen fragen auch ihn, wieso er aussieht wie er aussieht, doch er meint, es wäre ein Motorradunfall. Keiner von uns würde gerne vor allen hier zu Wahrheits stehen. Ein Glück gehen sie nicht weiter darauf ein. Doch bevor sich der Schwarm in alle Himmelsrichtungen verstreuen kann, betritt auch Shuichiro das Gebäude, in Begleitung mit Kaishi. Krücken in beiden Händen, keins seiner Beine unverletzt und ein noch größerer Verband auf dem Kopf als der, den ich trage. Und die Augen völlig leer. "Fu-fu-fujisawa... -kun?", und immernoch das gleiche Mädchen ist auch wie der Rest fassungslos. "Shuichiro.", flüstere ich nur für mich und sehe mich nach Shuichiro nach Kaishi und Akira um. Der Blick der beiden macht mir Angst. Wir, die uns einst so nah waren, sind jetzt nur noch zerbrochen. Keine Spur von dem, was einst mal so schön und leuchtend war. Niemand wagt, etwas zu sagen. Der ganze Tag war irgendwie... anders. Es schien mir, als wenn das ganze Getuschel im Hintergrund überhaupt kein Ende nehmen würde. Das hat es auch nicht. Irgendwie fühle ich mich nach alldem heute einfach nur ausgelaugt und überhaupt nicht hier hinzugehörend. Hanako wich heute nicht von der Seite, Akira machte jedoch keine Anstalten, in meine Richtung zu sehen, Kaishi war irgendwie abwesend und Shuichiro hat den ganzen Tag nicht ein Wort gesagt, geschweige denn mit mir gewechselt. Warum denn auch? Irgendwas liegt in der Luft, etwas im Schema "Was willst du denn noch hier?". Als würde meine pure Anwesenheit für miese Stimmung sorgen. Hanako ist schon zu ihrem Job im Maidcafe gegangen und weil Uchihara-san mit Akira abgehauen ist und mit Shuichiro und Kaishi gerade nicht viel anzufangen ist, bin ich nun allein. Mir hat heute jemand ein Bein gestellt, ich habe mich zwar noch auffangen können und habe nicht gesehen, wer es war, dennoch ist das vorher noch nie passiert. Es hat in der Oberschule nie jemand mutwillig versucht, mir zu schaden. Ich seufze und trete den Heimweg an. Chika wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, dass ich auch nur in Betracht ziehe, zu glauben, sie würde sterben, aber... so einfach kann ich es ihr wohl nicht machen. Ich weiß nicht, ob ich normal nach Hause laufen oder rennen soll, um sie nicht allein zu lassen. Ich gehe an der vertrauten Gasse vorbei, als ich dort eine Gruppe verrucht aussehender Typen, etwa Anfang zwanzig wie Taiyo, ein Mädchen umkreisen sehe. Diese Uniform. Das ist die Uniform der Blutrosenoberschule. Das Mädchen hat einen ausdruckslosen doch zugleich verängstigten Blick im Gesicht, anscheinend sieht sie sich ziemlich in die Mangel genommen. Als die Typen anfangen, aggressiv zu werden, sie am Kragen packen, schütteln und das kleine Mädchen mit den schwarzen Haaren gewaltsam in die Luft gehoben wird, reagiere ich schneller als ich denken kann. Ich realisiere es noch nicht einmal richtig, da komme ich auf die Typen zugestürmt, trete dem Typen, der keine Anstalten macht, die Kleine freizulassen, mit voller Wucht ins Schienbein, greife nach ihrem Handgelenk und ergreife, wie von der Tarantel gestochen die Flucht. In den Park, ins Gebüsch, dort wird man nicht sofort gesehen. Ein Glück verfolgen die Typen uns nicht, dennoch habe ich hören kann, wie der Typ eben vor Schmerzen aufgejault hat. Im Gebüsch angekommen, lasse ich mich völlig aßer Atem ins Gras fallen und versuche, meinen trockenen Mund loszuwerden. Das Mädchen hingegen ist fast gar nicht ausgepowert, auch wenn ich sie gefühlt durch die halbe Stadt gezerrt habe. Ich drehe mich zu ihr um und sehe ihr in die unergründlich tiefen schwarzen Augen, die tatsächlich kein bisschen farbig sind. Noch immer ist das eine Mischung aus unberührt und voller Angst. Ich wende meinen Blick wieder ab und komme endlich zu Wort. "Es... es tut mir leid, dass... ich dich hergebracht habe!", auf einmal schäme ich mich unfassbar, ich meine, wie verrückt kann ich bitte sein, um einfach wildfremden Typen ins Schienbein zu treten und Mädchen zu entführen? Das Mädchen bewegt den Mund, doch kommt kein Ton raus, sie holt hastig ihr Handy aus ihrer Tasche, ein Tastenhandy und hämmert so schnell wie kein anderer in die Tasten, nur um es mir im selben Moment vor die Nase zu halten. 'Vielen Dank, Elvis Kyokei.', das steht da Schwarz auf Weiß auf dem Bildschirm und ich reiße die Augen auf. Das ist jetzt echt ein bisschen krass. "W-wer bist du? Und woher... woher weißt du, wie ich heiße?", stammle ich, sichtlich belämmert und irritiert, wir gehen nicht einmal in eine Klasse, glaube ich. Noch einmal tippt sie rasch in ihr Handy ein und zeigt es mir vor. 'Unwichtig.', lautet ihre Antwort. Ich beschließe, nicht mehr zu fragen, auch wenn mir Angst macht, dass jemand scheinbar ohne Grund meinen Namen kennt, obwohl diese Person es logisch betrachtet eigentlich gar nicht sollte. Sie holt tief Luft, als wollte sie etwas sagen, doch stattdessen schreibt sie noch schneller als vorhin etwas, wahrscheinlich hat sie etwas vergessen. 'Ich bin Kiara Nojimiya aus der 1-8, bitte nenne mich doch Nokia-chan, wie auch ich es tue.', steht da diesmal. Das erklärt natürlich alles. Nicht. "Also... Nokia-chan. Was war das eben? WIe konntest du, nachdem vorhin weiß Gott was mit dir hätte passieren können, so ruhig bleiben? Wo wir von ruhig sprechen, wie kommt es, dass du alles chreibst, anstatt es mir ins Gesicht zu sagen?", ich komme mir beim Fragen dieser Frage echt dumm vor, ich meine, das liegt doch wohl auf der Hand, oder? Sie wiederholt den Schreibvorgang und diesmal fällt ihre Antwort tatsächlich länger aus und nicht mehr so wortkarg. 'Ich kann nicht sprechen. Ich werde es niemals wieder tun und du wirst nie meine Stimme hören. Das Telefon ist alles, was ich habe und du die einzige Person außer der Meisterin, die ich als bedeutsam erachte. Weil du es bist, der mich gerettet hat, sehe ich keine Gefahr darin, dir all dies preiszugeben.', warte mal, ich? Wir sind uns doch gerade erst begegnet. Und Meisterin? Nein, ich frage nicht, es steht mir nicht zu, das zu hinterfragen. "Du bist stumm, also... aber du kannst mich doch richtig hören, oder?", will ich alle Möglichkeiten durchgehen, um meinen Gegenüber besser zu verstehen. Sie nickt. Dann schreibt sie wieder eine Nachricht. 'Ich muss jetzt los. Vielen Dank für deine Hilfe, Kyokei-senpai.', dannn rennt sie so schnell es ihre kurzen Beine erlauben davon und ich bleibe erneut allein zurück, ehe mir einfällt, dass ich ebenfalls auf den schnellsten Weg nach Hause muss, um Chika am Leben zu erhalten. Sebst wenn sie das gar nicht zugeben würde. Jetzt renne ich ebenfalls weg, im Gefühl, dass mich jemand, uns, Nokia-chan und mich, die ganze Zeit beobachtet hat. Unbekannt: Kiara, du kleines Flittchen, du. Und du erst, Bengel, du bist das Letzte. Dass du aber auch immer in solche Situationen hineingezogen wirst, ist echt bedauerlich, ich meine, wie kann eine einzige Person nur so dumm und naiv sein? Glaubst, du könntest es mit allen aufnehmen mit der Kraft der Liebe oder was auch immer? Du bist echt ein bedauerliches dummes kleines Kind, Junge. Kiara, du hättest schon längst Bericht erstatten sollen, du dummes Mädchen, doch du bist langsam, viel zu langsam, als dass es mich weiterbringt. Du weißt, dass ich mich nur in dunkelster Nacht bewegen kann und dennoch bist du so egoistisch. Selbst wenn ich die Egoistische hier bin, es ist mir egal, mein grenzenloser Hass, wird eines Tages ausbrechen und ich habe keine Garantie, nicht auch dich noch zu treffen mit ihm. Du hast keine Ahnung, wie zornig du mich machst, dafür, dass du so unzuverlässig und kindisch bist. Und, was dich betrifft, Bengel, auf dir, ja, genau dir, liegt mein gesamter Hass. Du glaubst noch nicht einmal, nein, du kannst nicht glauben, wie sehr allein deine Existenz mein Blut zum Kochen bringt. Ich werde dich kaltmachen. Ich werde dich leiden lassen. Ich werde dich töten. Verlass dich darauf, ich bekomme meine Rache. Kapitel 76: Vol. 4 - Das Geigenspiel des Zeitreisenden ------------------------------------------------------ Ich renne auf schnellstem Weg zu Chika nach Hause, komme an, vergewaltige die Klingel, doch es scheint keiner da zu sein. Normalerweise müsste Chika aufmachen, oder Hanako, einer von beiden müsste einfach hier sein. Doch nicht etwa...! Ich spähe durch das Fenster in ihr Zimmer, doch es ist leer. Und nicht nur Chika ist nicht da. Auch sonst sieht es aus, als wenn sie auch morgen nicht zurückkehren würde. Der LEGENDS NEVER DIE-Schlafanzug, der letztends noch achtlos neben dem unbemachten Bett verharrte, ist verschwunden. Und die Tür ihres Zimmer steht speerangelweit offen. Mein Handy klingelt. "Ja, ähm... hallo?", höre ich mich fragen, als ich Hanakos Stimme höre. "Elvis, ich... nun ja, also, als ich von meinem Job aus bei dir und Chika-senpai vorbeikommen wollte und du nicht da warst, da... haben Chika-senpai ud ich ihre Sachen gepackt und sind zu mir gezogen, du warst einfach viel zu lange weg, ich bin hergesprintet, aber... Chika-senpai war ganz allein. Du musst doch zu deinen Eltern, oder nicht? Deshalb, weil du nicht auf Chika-senpai aufpassen kannst für mehrere Monate, dachten wir, es wäre gut, wenn sie für die Zeit bei mir leben würde. Aber jetzt mal ernsthaft, was ...denkst du dir dabei, einfach so zu trödelt, obwohl Chika so schwerkrank ist?!", schreit sie auf einmal und ich hätte fast mein Handy fallen lassen. Sie bemerkt, dass sie laut geworden ist und murmelt anschließend ein unklares "Entschuldigung". Irgendwas sagt mir, dass sie mir etwas Wichtiges im Bezug auf Chika verheimlicht. Ich lege auf. Ich kann nicht erklären, weshalb ich nicht hier war, das macht sie doch nur sauer. Wegen Nokia-chan, dem stummen Mädchen, mit dem ich mich unterhalten habe, das klingt doch mehr als nur idiotisch und verantwortungslos Chika gegenüber. Ich betrete dann meine eigene Wohnung und renne fast Taiyo, der gerade gehen wollte, um den Haufen. "Oh, ähm... sorry, also, wolltest du rein? Dumme Frage, natürlich wolltest du das, also... ich habe schon gepackt und wollte mich mehr oder weniger noch von Hide verabschieden, bevor... du weißt schon, also... beeil dich einfach mit packen und verabschiede dich noch von Chika-chan, ja?", und weg ist er. Missmutig schließe ich die Tür hinter mir, mache mir was von der Lasagne warm und mache mich anschließend über mein Mittagessen her. Dieser ganze Tag ist doch für den Arsch, denke ich, als ich fertig gegessen habe und in mein Zimmer gehe. Was zum Mitnehmen, was zum Mitnehmen, irgendwas muss ich mitnehmen, etwas anderes außer Schuluniform, Schulsachen und andere Klamotten. Ich hole meine Sporttasche für alle Fälle aus meinem Schrank und pfeffere alle Notwendigen Dinge wie Socken, Unterwäsche, Schlafanzüge und Kaputzenpullis hinein. Und Hosen, nicht zu vergessen. Mein Blick fällt auf den Bären, der auf dem Wandregal über meinem Bett thront. Tante Akane hat ihn mir mal geschenkt, genauer gesagt, im Krankenhaus damals vor drei Jahren, als ich für lange Zeit nicht in die Schule konnte. Niemand verlor ein Wort darüber, dass ich für Teddys doch eigentlich schon zu alt war, es war absolut nicht wichtig. Dieser Bär, ich taufte ihn auf den äußerst klangvollen Namen Eberhardt, erinnert mich irgendwie an das, was mich selbst ausmacht, denn ich habe ihn bekommen, als ich nicht wusste, wer ich bin. Und dieser Bär hat mich stets beobachtet, als ich mehr und mehr zu der Person wurde, die euch das jetzt gerade erzählt. Manchmal habe ich mich ernsthaft gefragt, ob Eberhardt wohl eine Seele besäße. Immerhin ist er ein Plüschbär, ein Spielzeug. Irgendwie glaube ich manchmal einfach daran, dass Dinge, die ein Gesicht haben und nicht sprechen können, irgendwo ganz weit weg, vielleicht in einer Paralleldimension, die der unseren bis auf die Tatsache, dass diese Dinge etwas fühlen können, gleicht, merken, was mit ihnen geschieht und alle, die in ihrem Blickfeld erkannt werden bewusst wahrnehmen. Ob ich ihm etwas bedeuten würde, wie er es mir tut? Ich weiß, ich bin ein sehr großer Fantasy -und Science Fiction-Fan. Ich nehme Eberhardt runter und sehe ihm tief in die schwarzen Knopfaugen, die denen von Nokia-chan fast schon zum verwechseln ähnlich sehen. Sie sieht aus, wie eine Puppe, irgendwie gar nicht real, tiefschwarze Haare, noch tiefer als die meinen und fast schon durchscheinend weiße Haut, noch blasser, als meine eigene. Ich denke an diese Zeit zurück und drücke den Bären fest an mich. Er riecht nach meiner Tante. In letzter Zeit sehe ich sie fast gar nicht mehr. Klar, auch sonst war sie eher ein Nebencharakter in meinem Leben, besonders, da sie seit dem Unfall, den ich an jenem Tag hatte, so sagen es alle, nicht mehr dieselbe war. Ich kann mich nicht klar daran erinnern, wann sie das letzte Mal richtig normal war. Ihre Haare waren irgendwie schon immer rot gefärbt, fast wie die von Taiyo, aber nur fast, schwarz waren ihre Haare nur auf dem Bild von ihr und Keita, ihrem älteren Zwillingsbruder und meinem leiblichen Vater. Sie schien seither eine Midlife Crisis zu haben, sie war nie zu Hause und nur übers Telefon und Skype erreichbar. Vielleicht war das ihre Art, ihre Depressionen wegen ihrem Bruder zu ertragen. Er und meine Mutter haben ihr ja damals aus ihrer Störung geholfen. Ich muss schmulzen, wenn ich daran denke und gleichzeitig muss ich weinen, wenn ich daran denke, was für ein schweres Schicksal die beiden getroffen hat. Ich werde mich morgen noch bei ihr melden, beschließe ich, und packe noch Taschengeld, den Bären und mein Tagebuch zu dem, was ich mitnehmen will. Das Ding ist schon gehörig voll. Um nochmals in Nostalgie zu schwelgen, öffne ich es, um alles, was ich bin zum letztwöchigen Tag geschrieben habe, zu lesen. "Chroniken von Elvis Kyokei - Eine Geschichte über Langeweile", das steht in der ersten Zeile. Was folgt, ist ein Steckbrief, den ich am Anfang des Schuljahres angefertigt habe, ich wechsle meine Tagebücher nämlich jedes Schuljahr. "Name: Elvis Kyokei Geschlecht: männlich Geburtsdatum: 28. März 2002 Größe: 1,71m Gewicht: 52kg Lebensmotto: 'Eines Tages macht das Leben wieder Spaß!' Besonderes Merkmal: Vorliebe für Kaputzenpullover, rote Augen Wunsch: Meine Erinnerungen endlich zurückzubekommen" Ich grinse. Oh Mann, das klingt wirklich total nach mir. Meine roten Augen, die ich von meiner Mutter habe, die wiederum keinen Grund hat, welche zu haben, sorgen wirklich ziemlich oft für Überraschungen, wenn sie erst mal bemerkt werden. Shuichiro meinte mal, ich würde aussehen, als hätte ich das Sharingan. Das nahm ich als Kompliment, ich meine, das Sharingan ist echt cool. Shuichiro. Meine Vergangenheit. Damals, im ersten Jahr der Highschool, als es aussah, als hätte ich mir im Leben wirklich einen schönen Platz erarbeitet, nun steht alles in Trümmern vor meinem geistigen Auge. Mit einem Seufzer schließe ich das Tagebuch und verstaue es endgültig in der Tasche, ich werde wohl bei meinen Eltern zu Hause für diese Woche schreiben müssen. Ich werde also wirklich gehen. Weg. Weg von Chika, Hanako, Akira, Kaishi, Shuichiro und Uchihara-san. Zwar liegt mir dieser Gedanke noch immer schwer im Magen, doch ich versuche, mich zusammenzureißen und mich zum letzten Mal auf mein Bett zu legen, ehe ich für über ein halbes Jahr nicht mehr dazu im Stande sein werde. Der Blutfleck von damals, den ich nicht wegbekommen habe, ist immernoch hier. Hier habe ich zum ersten Mal mit Chika rumgemacht, hach Nostalgie, du kleines Ferkel... Chika begann nicht erst an diesem Morgen, beziehungsweise diese Nacht, seltsam zu werden. Sie hatte immer etwas, dass sie aus der Reihe tanzen ließ. Sie rannte manchmal einfach aufs Klo. Mit ihrer Tasche. Doch wie ich mich kenne, bin ich unglaublich gut darin, Dinge zu verdrängen und einfach zu glauben, okay, die ist halt gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe. Was bin ich nur für ein Idiot? Idiot. Dieses Wort lässt mich unweigerlich an Akira denken. "Hey, Elvis... wir solten langsam aufbrechen!", Ich höre, wie Taiyo zurückkehrt und nach mir ruft, damit wir gehen können. Ich komme mit meiner Tasche wie hypnotisiert aus dem Zimmer und folge ihm dann bis zum Bahnhof. Doch meine Gedanken sind noch bei Akira. Was er jetzt wohl macht, nach allem, was passiert ist? Kapitel 77: Vol. 4 - Fernab der Realität ---------------------------------------- Zu Hause angekommen öffnet uns wieder unser Vater die Tür, meiner Mutter geht es wohl nach wie vor nicht besonders gut, auch wenn sie letztens so gelacht hat, weiß ich das einfach. Das Einziehen in unsere Zimmer verläuft ohne dass irgendwer etwas sagt, irgendwie ist die ganze Situation einfach zu surreal, um zu sprechen. Chika. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken, dass da irgendwas gewaltig schiefläuft. Ich frage mich, wann sich das alles endlich vereinfacht. Also, alles, meine ich. Beim Gedanken daran den ohnmächtigen Vater Uchihara-sans zu sehen, tut mir die aufgeschlagene Stelle an meinem Hinterkopf noch mehr weh. Die Nachrichten haben ziemlich schlimme Dinge über ihn berichtet. Dass er, Crash und der Eric-Typ im Knast sind und sich Uchihara-sans Vater angeblich im Gefängnis umgebracht hätte. Jeder scheint die Nachrichten gesehen zu haben, jeder redet heimlich darüber, aber Uchihara-san reagiert nicht, sie ist völlig weggetreten und versteckt sich hinter Akira. Ich sehe das doch. Und seit der Sache mit Akiras und meinem Stunt auf den Zug und den Tod Uchiharas habe ich das Gefühl, dass die anderen mich mit ihrem Blicken aufspießen. Langsam aber sicher fange ich an, noch weniger in diesen Laden gehen zu wollen, schlussfolgere ich, als ich alles ausgepackt habe, was ich brauche. Nachdem ich mein Tagebuch aktualisiert habe, beschließe ich, erstmal darüber zu duschen. Doch als ich ohne nachzudenken die Tür öffne und dort meinen splitternackten sich den Bart rasierenden Vater erblicke, schreie ich mit einem "Aaaaaaahhhh!!!!!" das Haus zusammen, stolpere über meine eigenen Füße, nur um dann mit dem Kopf voraus gegen die Wand zu brettern und Sterne zu sehen. Dann sehe ich gar nichts mehr. "Hey, Elvis! Bist du tot?", höre ich Taiyo aus weiter Ferne fragen und fühle Stück für Stück etwas Kaltes auf meinem Kopf. "Ich habe völlig vergessen zu erwähnen, dass die Badezimmertür kaputt ist, das letzte Mal hatten wir einfach Glück und keiner ist einfach reingegangen.", erklärt mein Vater in der Dunkelheit, die mich noch immer umgibt. "Und dabei ist er doch schon verletzt, er ist wirklich vom Pech verfolgt...", bedauert meine Mutter und streichelt meine Kopfmitte. Langsam erkenne ich wieder etwas und meine Augen öffnen sich. "Du machst Sachen, Junge, musst du wirklich so herumschreien und dich anschließend selbst ausknocken? Oh Mann...", brummt der Grund für meine Ohnmacht und ich verstehe nach und nach, was passiert ist. Ich bin gegen die Wand gerannt, als ich meinen Vater nackt gesehen habe und liege jetzt mit einem Beutel Eiswürfel auf der Stirn auf der Couch. "Und du willst ein Mann sein, wenn du schon beim Anblick eines nackten Körpers das Bewusstsein verlierst, dann boi, bist du echt eine Memme-, Aaauuu! Wofür war das denn, Papa?!", beklagt sich Taiyo, nachdem er eine kassiert hat. "Weil du frech bist.", lautet seine Antwort und Taiyo erwidert nichts mehr. Ich richte mich zur Überraschung aller wieder von selbst auf, nur um dann wegen der Schmerzen im Hinterkopf zurückzufallen. "Langsam, immer langsam!", beschwichtigt mich meine Mutter. "Wo wir gerade bei Verletzungen sind, wo kommt dieses große Pflaster auf deinem Hinterkopf her, Elvis?", kommt mein Vater wieder zu Wort und ich wünschte, er hätte das nicht gefragt. "Also, ich... wollte duschen und mich abtrocknen, bin an der Seife ausgerutscht und habe mir den Kopf angeschlagen und dann-", "Ich war das.", unterbricht Taiyo meine müden Versuch zu lügen. "Taiyo... Aber warum hast du das getan?! Findest du nicht, dass Elvis schon genug für sein Alter im Krankenhaus war?!", staucht ihn unser Vater zusammen. "G-genau, warum musstest du denn unbedingt zuschlagen?!", will nun auch meine Mutter wissen. "Ich-", "Ich habe ziemlich Mist gebaut und blöde Sachen zu ihm gesagt, irgendwie habe ich es auch verdient, denn es war echt schlimm. Es kommt sonst nie vor, dass ihm die Hand ausrutscht, ihr solltet stolz auf ihn sein, dass er so eine Nervensäge wie mich nicht schon viel eher verprügelt hat.", unterbreche ich ihn dieses Mal und alle sind sprachlos. "Es kommt nie wieder vor.", verspricht Taiyo. Meine Eltern sehen sich an, nicken und lassen es darauf beruhen, als meiner Mutter wieder schlecht wird und sie ins Bad rennt. Das kann ja heiter werden, denke ich und richte mich dieses Mal wirklich auf. "Geht es Mama denn immernoch nicht besser?", frage ich meinen Vater kurz darauf. Er seufzt und setzt dann an, um mir zu antworten. "Setsuna zeigt es vielleicht nicht, aber ihr geht es von Zeit zu Zeit wirklich dreckig, Fieber, Migräne, Rückenschmerzen, es ist richtig schlimm, manchmal blutet ihr einfach so die Nase wegen dem hohen Blutdruck. Ich habe wirklich Angst um sie.", sagt er eher zu sich selbst als zu Taiyo und mir. "War das denn auch so, als sie mit mir schwanger war?", will ich noch fürs Protokoll wissen. "Ähnlich, tatsächlich, aber ich kann nicht sagen, ob es diesmal schlimmer ist, oder nicht.", bestätigt er. "Ich glaub, das weiß ich sogar noch.", murmelt Taiyo, der das damals ja alles mitbekommen hat. "Ich habe, seit ich sie kenne, gemerkt, dass sie ein sehr schwaches Immunsystem hat, ich würde ihr wirklich gerne helfen.", oh Mann, er scheint wirklich verzweifelt zu sein. Ob auch das früher schon so war? "Sie wehrt sich einfach zum zweiten Mal verhemmt dagegen, die nötigen Medikamente einzunehmen, aus Angst, dem Kind in ihrem Bauch zu schaden.", knirscht er hörbar frustriert. "Nimmt sie denn wirklich gar nichts?", fragt Taiyo besorgt. "Doch, tut sie, aber deutlich zu wenig.", entgegnet er und sieht gen Zimmerdecke. "Aber das ist nicht alles, was mir Sorgen bereitet, das mit der Hochzeit, ich weiß nicht, irgendwie kommen wir absolut nicht voran.", flüstert er und mein Bruder und ich sagen nichts dazu. An diesem Abend redet keiner mehr ein Wort und meine Mutter verlässt das Badezimmer für eine ganze Weile nicht mehr. Nachts in meinem Zimmer kaue ich abermals alles durch, was auf mich zukommen wird. Noch immer kann ich das alles nicht fassen. Und beim Gedanken daran, morgen wieder den Zug zu nehmen und in die Schule zu gehen, obwohl ich dort doch eigentlich am wenigsten hin will, bekomme ich Angst. Ich habe da eine ganz miese Vorahnung was meinen täglichen Schulbesuch angeht. Und das alles schon morgen, Herrschaft noch mal, ich kann das nicht! Ohne, dass ich es merke, schlafe ich trotz meinen Ängsten und Sorgen ein. In meinem Traum stehe ich in steigendem Blut. Alle, die ich kenne, schwimmen als Leiche in ihm, die Augen völlig leblos. Alles ist dunkel und ich befinde mich in einem endlosen Meer aus der rote. Flüssigkeit, die mir solche Angst einjagt. Ich schreie um Hilfe, versuche, die Menschen irgendwie wiederzubeleben, doch ehe ich gerettet werde oder selbst rette, ertrinke ich in Angst. Kapitel 78: Vol. 4 - Die Erde außerhalb der Umlaufbahn ------------------------------------------------------ Als ich aufwache, erinnere ich mich schlagartig daran, dass ich nicht mehr dort wohne, wo ich gewohnt habe. Zu meiner Überraschung ist Taiyo schon auf und diskutiert lautstark am Telefon im Flur. "Nein. Was bitte verstehen Sie unter... Was weiß ich, nicht? Wir sind in neun Monaten zurück, ich sag's Ihnen. Die Miete, oh Mann, Sie sind witzig, jetzt kommt es darauf ja wohl auch nicht mehr an... Ich soll ein Schmarotzer sein?! Okay, jetzt reicht es, Sie... Nein, jetzt hören Sie mir zu, ich habe gerade gesagt, wir... Wissen Sie was?! Wir kommen einfach heute vorbei, nehmen den Rest von unserem Zeug und... Ja... Nein... Ich kann die Miete nicht zahlen, wie oft noch? Ich komme heute einfach, wir brauchen das Geld gerade wirklich selbst. Jetzt hören Sie mal auf, mich so anzuschnauzen, wir sind erst seit einem Tag weg, ich meine, Junge, haben Sie nichts zu tun?! Hallo?! Hey! Halsabschneider...", zischt er und das Telefonat ist offensichtlich beendet. Jetzt kann ich sowieso nicht mehr schlafen, Mensch, es ist halb sechs am Morgen! "Morgen Taiyo, wen hast du denn schon so früh so heftig angekackt?", frage ich unnötigerweise, denn es ist klar, dass das der Vermieter unserer Wohnung war, wahrscheinlich, weil Taiyo dieses Schild an unsere Tür geklebt hat, von wegen von so und so bis so und so nicht da. "Dieser... dieser Arsch von Vermieter, ich meine, damn, der... versucht nicht mal, normal zu sagen, dass die Miete überfällig ist oder so, oder wir deshalb nicht wegziehen können... Mann, ich komm nicht drauf klar, ich kann doch auch nichts dafür, dass ich das Geld für die Miete letztens halt so dringend gebraucht habe...", flucht er und ich sehe schuldbewusst weg. Irgendwo ist das auch meine Schuld, wegen der Polizeigeschichte. "Tut mir leid.", murmle ich. "Hey, ich bin dir nicht mehr böse deshalb, ich bin eher auf diesen bekifften Albino sauer, der dich fast umgebracht hat.", entgegnet er bitter. "Du sollst Akira nicht beleidigen!", rege ich mich auf und auch meine Laune ist bereits wieder auf den Nullpunkt. Dazu sagt er nichts mehr. Im selben Moment sind auch unsere Eltern auf, meine Mutter rennt so schnell sie kann ins Bad, um sich zu übergeben. Morgenübelkeit. Für diese Sekunde vergessen Taiyo und ich unsere Differenzen und denken vermutlich an das Gleiche. "War nicht so gemeint. Ich... versuche, ihn weniger schlechtzureden, versprochen.", meint er und mein Blick liegt auf unseren zu bemitleidenden Vater, der unserer Mutter beim Brechen zusieht. "Die Ärmste.", entfährt es mir. "Wie wahr, echt nicht auszuhalten, und das täglich, wann hört sowas nochmal auf?", überlegt er bestatigend. Weil ich es nicht aushalte, hier Wurzeln zu schlagen, gehe ich auch rein, nicht nur, weil die Tür noch offen steht. Anscheinend ist sie fertig. "Geht es wieder?", will ich etwas unbeholfen wissen. Sie sieht so fertig und blass aus. "J-ja, danke der Nachfrage... Ist nur die Morgenübelkeit, ist in so... zehn Wochen vorbei. War es auch letztes Mal, sieht schlimmer aus als es ist...", sie kichert gequält. "Mensch, Mama...", seufze ich mitfühlend, hole eine Packung Taschentücher aus dem Schrank und reiche sie ihr. "Vielen Dank...", haucht sie, steht wieder auf, nimmt ein Tuch heraus und wischt sich den Mund ab. Anscheined ist sie sich doch nicht so sicher, bei dem Blick. "Kann ich vielleicht sonst noch was für dich tun?", biete ich meine Hilfe an. "Es ist alles in Ordnung, Kind, das wird schon. Ich werde jetzt zur Arbeit gehen und noch helfen, solange ich kann.", antwortet sie eher sich selbst als mir und streichelt sich zärtlich über den Bauch. "Na, wenn du das sagst.", gebe ich mich geschlagen und ziehe mich in mein Zimmer zurück, um mich fertigzumachen. Vorerst verdränge ich die Sorgen um meine Mutter, würge mein Frühstück runter, obwohl ich weder Hunger noch Appetit darauf habe und ziehe mit Taiyo Richtung Bahngleis, um verdammt noch mal alles normal aussehen zu lassen. Dabei könnte ich in meiner jetzigen mentalen Verfassung genauso gut schwänzen, doch verbiete ich es mir, weil ich Elvis bin. Ich habe noch nie die Schule geschwänzt. Und ich werde es auch nie. Manchmal ist es echt schwer, ich zu sein. In der Schule ist alles genauso wie gestern und genau das macht mich wahnsinnig. Es sieht immernoch so aus, als wenn die Welt kurz davor stünde, unterzugehen, wenn auch nur für mich. Diese Vorahnung lässt mir keine Ruhe. Als ich missmutig das Klasssenzimmer betrete, stellt mir wieder jemand ein Bein und diesmal falle ich wirklich. 'Was zur Hölle war das denn?!', würde man in so einer Situation sagen, aber ich sage absolut nichts. Stattdessen sehe ich nur in die Richtung, aus der das Bein gerade eben schoss. Asahina, das war Asahinas Bein. "Was willst du?", frage ich barsch, denn um es einfach stehen zu lassen, fehlt mir gerade wirklich die Beherrschung. "Also, von dir ganz sicher nichts!", entgegnet er mir rotzfrech und seine Kumpels geben ihm der Reihe nach ein High-Five. Spinner. Ich beschließe, ihnen nicht länger Beachtung zu schenken und bewege mich in Richtung meines Platzes am Fenster. Doch als ich gerade meine Tasche auf der Tischdecke platziert habe, bemerke ich einen schwarzen Schriftzug auf dem Holz. Sogar mehrere. Neugierig und genervt schiebe ich meinen Rucksack von der Arbeitsfläche, da halte ich augenblicklich die Luft an. Was zur Hölle?! Da stehen mehrere Schriftzüge wie angespielt auf meinem Tisch, mehrere Handschriften, und sie alle hören sich mächtig böse an: "Schwuchtel!" "Dumme Pussy!" "Elendiger Betrüger!" "Hurensohn!" "Heul doch, Missgeburt!" "Schwächling!" "Warum bringst du dich nicht einfach um?" "Geh dich erhängen, Opfer!" "Vergrab dich und erspar uns deine Existenz." "Verschwinde aus dieser Welt, Abschaum." All diese Worte verschwimmen vor meinem Augen. Womit habe ich das verdient? Ich habe doch gar nichts... doch, doch das habe ich, doch das alles sollte doch überhaupt keiner wissen! Niemand weiß davon! Keiner war auch nur bei einer der schlimmen Dinge, die ich getan habe dabei, niemand weiß die ganze Wahrheit über mich... Was ist passiert? Ich sehe zu Asahina rüber, um zu sehen, ob er etwas mit dieser Sache zutun hat, doch der hat nur ein hämisches doofes Grinsen für mich übrig, das mir auch wortlos ohne Probleme mitteilen kann: "Verdient, Idiot.". Ich konnte ihn schon seit Anfang der Highschool nicht ausstehen, doch ich habe es niemals gezeigt und es zählte auch nicht. Immerhin war ich beliebt genug, um vor solchen Attacken bestens geschützt zu sein, aber... jetzt dreh sich keiner zu mir um, jeder scheint sich im klaren darüber zu sein, was ich gerade auf meinen Tisch zu lesen bekam. Akira sieht mich nach wie vor nicht an, Kaishi ist mit Shuichiro beschäftigt und Hanako und Uchihara-san sind gerade heftig am Diskutieren. "Was ist nur los mit dir, er hat doch nichts weiter gemacht, als dich zu misshandeln, Uchihara-san! Wannn checkst du das?", schimpft Hanako. "Hattest du eigentlich je eine Familie, Hanazawa-chan?! Weißt du, wie sich das anfühlt?! Wenn der eigene Vater sich im Gefängnis umbringt, nein, das weißt du natürlich nicht, du flachbrüstige Schlampe!", schreit Uchihara-san völlig außer sich. "Wie nennst du mich?! Was fällt dir ein, so mit mir zu reden?! Wenn hier irgendwer eine Schlampe ist, dann doch wohl du, Uchihara-san, ich seh doch an deinem Blick wie du nur davon träumst, mit Egaoshita-kun die Federn aufzuwirbeln und ihm seine Jungfräulichkeit zu stehlen!", feuert Hanako zurück und Uchihara-sans Blick wird eisiger und kälter. "Verstehst du eigentlich irgendwas, du miese Schlange? Du ziehst eine Show ab und ich habe es von Anfang an gewusst. Wieso bist du eigentlich hier?!", bohrt Hanako nach und innerhalb weniger Millisekunden, knallt es. Hanako fliegt zu Boden, die Nase blutend, die Augen zornig. "Du hast es so gewollt, Uchihara-san.", flüstert Hanako, steht ruckartig wieder. "Verrecke!!!", gerade im Begriff, Uchihara-san so fest wie es geht einen Schlag in die Magengrube zu versetzen, schmeißt sie Shuichiro dazwischen und erntet den Schlag an ihrer Stelle. Die ganze Klasse sieht einfach mit aufgerissenen Augen gebannt auf die Szene. "Shuichiro... Warum?!", stammelt Hanako völlig schockiert darüber, dass ihre Faust Shuichiro getroffen hat und nicht Uchihara-san. "Ich will, dass du rein bleibst, Hanako-chan. Ich habe versprochen, so zu tun, als wäre nichts, ich habe in der Schule drei Jahre lang den Fremden gespielt, so wie du es wolltest. Aber... ich kann nicht zulassen, dass... du noch Schlimmeres erleidest als ich.", spricht er bruchstückhaft und kurzatmig seinen Text, ehe er das Bewusstsein verliert und Hanako den Raum schreiend zum Erschüttern bringt. Kapitel 79: Vol. 4 - Denn es war Schicksal, das uns verband. ------------------------------------------------------------ Shuichiro liegt leblos am Boden des Klassenzimmers und Hanako versucht, sich wieder zu fangen. "Shuichiro... Ich habe Shuichiro mit meiner Faust getroffen. Oh mein Gott.", murmelt sie, ihre Knie geben nach und sie fällt zu Boden, ehe sie vom heftigen Schluchzen geschüttelt wird. Katsuoka-sensei steht in der Tür und schweigt wie alle im Raum, um Hanako nicht noch mehr aufzuwühlen. Kurze Zeit später kehrt die für gewöhnlich höfliche und wohlerzogene Hanako zurück, sie steht auf und tritt neben das Lehrerzimmer, bevor sie sich dort bis zum Boden tief verbeugt. "Es tut mir leid, dass ich Uchihara-san schlagen wollte. Ich hätte sie nicht so verletzen dürfen, wo sie doch schon so Schlimmes erlebt hat. Uchihara-san, es tut mir leid.", entschuldigt sie sich, steht wieder auf und sieht Uchihara-san intensiv an. Diese fängt dann von der einen auf den anderen Moment an zu weinen und schlingt die Arme um ihre Gegnerin. "Es... Es tut mir so leid, Hanazawa-chan... Ich hätte dich nicht... Schlampe nennen sollen. Vielleicht nur flachbrüstig, aber keine Schlampe... Bitte verzeih mir, ehrenwerte Hanazawa-sama...", wimmert sie und drückt das kleine Mädchen an sich. "Nenn mich noch einmal flachbrüstig und ich schlage dich diesmal wirklich.", warnt Hanako sie. "Lass uns doch von jetzt an beste Freundinnen sein!", "Du bist unmöglich, Mädchen.", Hanako gibt sich geschlagen und löst sich wieder von ihr. Allen Anschein nach hat Kaishi schon alles im Griff. "Ich bringe ins Krankenzimmer.", meint er nur, hievt Shuichiro auf seinen Rücken und verschwindet aus dem Raum. Wie ein Ninja. Katsuoka-sensei, immernoch leicht verstört von der Prügelei, dem Ohnmächtigen und dem plötzlichen Freundschaftsschluss, räuspert sich. "Mensch, diese Mädchen, die können froh sein, dass außer Fujisawa-kun keiner zu Schaden gekommen ist, meine Güte, Hanazawa-san, deine Nase blutet ja immernoch.", seufzt sie sichtlich besorgt und überfordert, zieht ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und reicht es Hanako. "Vielen Dank, Sensei.", bedankt sie sich kleinkaut und nachdem sich alles gelegt hat, beginnt die Japanisch-Stunde. Kaishi: Der Tag verstrich, ohne, dass sich irgendetwas vertraut oder ordinär anfühlte. Als wenn das alles nur passierte, um, na ja, zu passieren. Shuichiro hat sich von seinem Schlag in den Magen wieder mehr oder weniger erholt, er musste jedoch zurück ins Krankenhaus, damit geguckt werden konnte, ob da alles in Ordnung ist, schließlich ist er schon verletzt. Mehr als das. Und ich habe wirklich Angst um ihn. Ich habe mich noch immer nicht anständig entschuldigt. Ich bin etwas traurig, dass sich alles zwischen uns längst nicht mehr so vertraut und freundschaftlich anfühlt, die Gang meine ich. Alles scheint irgendwie in seine Atome zurückgesetzt worden zu sein, als ob wir vier nie dafür bestimmt gewesen wären, Freunde zu sein. Gang. Ein ziemlich gewagtes Wort für vier etwas überdurchschnittlich beliebte Oberschüler. Ich denke daran zurück, wie alles ganz am Anfang war. Als Kyokei-san noch richtig neu in die Klasse kam und sich jeder fragte, wieso er so früh am Anfang die Schule wechselte. Das hat er damals niemanden verraten, das mit seinen halben Erinnerungen blieb bis vor "kurzem" ja auch mir ein Geheimnis. Kyokei-san ist wirklich bedauernswert. Und so auch Shuichiro. Und Egaoshita-san leider ebenso. Ich scheine absolut keine Hilfe zu sein, es fühlt sich so an, als hätte ich keine Freunde. Als wenn ich absolut nichts ausrichten könnte. Damals musste ich mir, was das anbelangt wenigstens keine Sorgen machen. Ein Flashback an den Tag, an den wir zueinanderfanden spielt sich in meinem Geiste ab: "Du bist wirklich ein würdiger Gegner, Kyokei-san, das muss ich dir lassen.", bemerkte ich und mein Gegenüber schmunzelte, als er mit seinem Pferd meine Königin angriff. Irgendwann gaben wir schließlich auf, weil es so schien, als wenn es einfach kein Ende nehmen würde, keiner von uns gewann und gleichzeitig wir beide. Die Schulglocke ertönte und fürs Erste mussten wir uns von Schachclub wieder verabschieden. "Es war ein gutes Spiel, Neuer!", fand ich und streckte ihn die Hand entgegen, um unsere Freundschaft zu besiegeln und auch in Zukunft mit ihm Schach zu spielen. Er nahm sie zögerlich, aber zeigte keinerlei Schüchternheit in seinem Gesicht. Er war wortkarg und zurückhaltend, meldete sich nur im Unterricht zu Wort, und das jedes Mal, sonst hörte man seine Stimme nur selten. Als wir beide gerade gehen wollten, hörten wir vor der Tür zwei unserer Mitschüler lautstark gegeneinander debattieren. "Wenn ich es dir doch sage, Asuna ist die Waifu Nummer eins! Ich meine, guck sie dir doch mal ganz genau an!", rief der berühmt-berüchtigte Egaoshita-san, der sich schon in der ersten Woche des 1. Highschool-Jahres am ersten Tag einen Namen gemacht hatte und ich deshalb mit dessen Namen vertraut war. "Ach komm, das ist doch voll casual, die beste Waifu von allen ist doch sowas von wohl Yuki Nagato aus "Die Melancholie der Haruhi Suzumiya", Traumfrau, sag ich dir!", pocht der andere auf seine Meinung, Shuichiro, mein bester Freund, den ich schon vor der Highschool kannte, seit Kindertagen, um genau zu sein. Kyokei-san, der gerade unauffällig den Raum verlassen wollte, wurde jedoch von Egaoshita-san überschwänglich umarmend festgehalten. "Ach komm, lauf doch nicht gleich weg, Kyocchi, jetzt wird es doch erst richtig lustig! Du bleibst schön bei uns!", grinste er fast schon pervers und der Blick von Kyokei-san wurde noch aufgeregter. Jetzt schien seine Winterstarre in die Brüche zu gehen und er zeigte endlich Emotionen. "A-aber ich muss wirklich los, mein Bruder macht sich Sorgen, wenn ich mich verspäte, wirklich, bitte lass das, Egaoshita-kun!", klagte er und versuchte sich erfolglos aus dessen Armen zu befreien. "Dann sag, dass es später wird und ruf ihn an!", schlug dieser enthusiastisch vor, doch Kyokei-san schien das alles an seinem ersten Tag nicht geheuer zu sein. "Ich hab mein Handy nicht dabei, vielleicht morgen, Egaoshita-kun, dann kann ich wenigstens noch fragen...", war sein letztes Angebot und Egaoshita-san ließ so schnell los, dass sich der Neue auf dem Boden der Tatsachen wiederfand. "Morgen. Nach der Schule. Die neue Karaokebar.", waren die Worte dieses heißblütigen Belästigers, ehe er einen Abgang machte und das Schicksal seinen Lauf nahm. Ich nehme meine Umgebung wieder bewusst wahr, der Flashback verblasste und ich bin zurück auf meinem Weg von der Schule nach Hause. Kyokei-san scheint noch etwas erledigt zu haben, denn erst jetzt steht er genau wie ich am Tor des Schulgebäudes. Ich beschließe, ihm zu folgen und den alten Frieden wiederherzustellen oder zumindest etwas Klarheit über die Lage zu bekommen, in der wir uns gerade befinden. Sein Blick ist leer und betrübt. Ich ernenne es als meine Pflicht, für etwas Aktion zu sorgen. Selbstzufrieden grinse ich über meine geniale Idee. Kapitel 80: Vol. 4 - Das Band zweier Menschen --------------------------------------------- Elvis: Es fühlt sich an, als hätten sich all diese hasserfüllten Beleidigungen auf meinem Tisch in meine Netzhaut eingebrannt. Ich erinnere mich an jede einzelne. Das ist doch echt Mist, was kann ich nur tun, damit sich die Dinge nicht noch mehr zum Schlimmen entwickeln. 'Was kann ich tun?', denke ich, als mir Nokia-chan auf den Heimweg, der mich diesmal zum Bahnhof führt, begegnet. Sie winkt schüchtern, ihr Handy schon griffbereit, und schriebt mir eine neue Nachricht. Ich komme näher, um sie besser zu lesen. "Wie geht es dir, Senpai?", lese ich und beim Lesen dieser Worte, die dieses Mal nicht darauf abzielen, mich seelisch zu verletzen, lächle ich. "Gut, danke der Nachfrage. Und wie geht es dir?", antworte ich mit einer Gegenfrage. Ihre käsigen Wangen röten sich leicht und sie schriebt in ihrer gewohnten Geschwindigkeit eine Antwort. "Es geht mir so, wie es mir immer geht. Ich bin weder glücklich noch traurig. Ich-", doch ehe ich alles lesen konnte, sieht sie aus, als wenn etwas hinter uns stünde und ergreift in Windeseile die Flucht. Seltsam. Ich drehe mich um, aber da scheint keiner zu sein. Ob sie etwas sieht, dass ich nicht sehe? Was ich vielleicht gar nicht sehen kann? Geister? Verstorbene? Gefühle, die human aussehen? Über letzteres habe ich in der Vergangenheit einmal gelesen. Eine Geschichte über ein Mädchen, dass Gefühle und Elemente anderer Menchen in ihrer Umgebung sehen kann, jedoch selbst nicht in der Lage ist, welche zu empfinden. Winterseele, so hieß dieses Buch. Heimlich, damals, als ich selber nicht wusste, was ich eigentlich fühlte, es war alles da, aber da war nichts, weshalb ich auf keinen Fall sterben dürfte. Familie, Freunde, Lebenssinn, all das waren keine Gründe für mich, um zu bleiben, es war mir einfach gleichgültig. Ich hatte es nicht geschafft, sie als Pesonen, Menschen wahrzunehmen, viel mehr als Objekte, deren Erinnerungen an sie ich brauchte, Mittel zum Zweck. Dieses Denken von mir als Amnesie-Patient verflog nach und nach, aber ich bin mir fast sicher, dass ich dies noch immer tief in mir drin festhalte. Ich weiß nicht, wie es ist, Menschen zu verlieren, die einem wichtig sind, ich habe immer schon so gern den Schmerz der Mitmenschen um mich herum verstehen wollen, aber... selbst, als meine Erinnerungen zurückkehrten waren meine Gefühle nie dieselben wie die der anderen, in der Vergangenheit, die noch weiter entfernt von der ist, über die ich gerade rede. Als Kind von acht Jahren, drüber wie drunter, ich war immer so. Ich kann sie alle nicht verstehen. Wie kann ich mich, obwohl ich zwei tolle Eltern, einen verrückten Bruder, eine offenherzige Freundin und mindestens fünf Freunde habe, dennoch so einsam fühlen? Die Straße ist menschenleer. Und so fühle ich mich. Völlig schutzlos. Finger. "Na, wen haben wir denn da? Dieser einsame Typ erscheint mir ja richtig unterernährt, ach Mensch, das ist aber nicht gesund, oder steht deine Freundin auf Lauch?", ärgert mich eine Person fröhlich und neckend, die mir gerade ihre Finger in den Bauch drückt und meine Taille vergewaltigt. Mit ihren Finger. "Aaaaahhhh, was fällt dir ein?!", keife ich vollends erschrocken, versuche hinter mich zu reten, oder zu schlagen, keine Ahnung, was ich da versuche, ich weiß es selbst nicht, aber diese Person, flink wie sie ist, weicht mir gekonnt aus und ich lande auf den Hintern. "Mann, kann man nur so unverschämt, und pervers und- Kaishi?!", entfährt es mir, als ich vor mir erblicke, posierend, stolz und unerschütterlich. "Du bist der Perverse von eben, der mich so ganz fresh begrapscht hat, Kaishi?", stammle ich noch immer fassungslos darüber, wie seine Mittel aussehen, wenn er jemandes volle Aufmerksamkeit haben will. Er grinst so freundlich wie immer und sagt in einer salutierenden Pose: "Stets zu Diensten!" "Verstehe. Es ist nicht mehr wie früher, was? Was ist mit Shuichiro? Geht es ihm denn wirklich so unglaublich mies?", frage ich, nachdem er mir erzählt hat, was ihm in dieser Woche aufgefallen ist, und allgemein, wie schlecht es gerade aussieht. "Shuichiro hat es mir erst erzählt, nachdem ich echt lange bohren musste. Die Ärzte sagen, dass seine VErletzungen heilen werden und er seine Beine voraussichtlich wieder richtig benutzen wird, aber... seine Niere ist stark beschädigt. Und er ist farbenblind.", diese Aussage trifft mich. "W-was? Shuichiro ist... farbenblind?", wiederhole ich stockend. Kaishi nickt bloß. "Laut seiner eigenen Aussagen kann er nur noch Grautöne sehen. Und das macht ihm mehr zu schaffen, als er zugibt. Er soll sich laut den Ärzten mehrmals zu erwügen versucht haben.", geht Kaishi nun mehr in Detail, seine Stimme zittert. "Es tut mir so schrecklich leid. Kaishi, das ist alles meine Schuld. Hätte ich mich bei dir nicht so ausgeheult und hätte dich benutzt, um mit all dem fertig zu werden, dann hätte Shuichiro wenigstens noch sein normales Augenlicht.", schniefe ich und versuche, die Tränen zurückzuhalten. "Das ist nicht wahr. Kyokei-san, das stimmt nicht. Ich hätte dir so oder so geholfen, ich... ich will nicht, dass du sowas sagst, ich... bin auch schon von allein keine Hilfe, ich... Kyokei-san, ich habe Angst, dass du, Shuichiro, Egaoshita-san und ich keine Freunde mehr sein können. Das ist doch alles, was ich... alles, was ich hatte. Ich komme vielleicht aus einer reichen Familie, vielleicht habe ich die besten Noten und bin Klassensprecher, aber... mein eigentlicher Halt, das... das wart ihr drei. Deshalb... sag das bitte nicht.", flüstert er erstickt. "Du brauchst doch... nichts schönzureden, Shuichiro ist schwach, schwächer als ich und das... das hätte mir klarer sein müssen als ich mit zu dir nach Hause gekommen bin. Ich kann jetzt nichts mehr tun, als mich weiter und weiter zu entschuldigen. Wir müssen ehrlich sein, zu Shuichiro, zu uns selbst und zu allen anderen, die wir kennen! Wir dürfen nicht aufgeben, selbst wenn das, was vorher war so grausam für ihn war. Selbst wenn das heißt, dass wir alles verlieren, alles und jeden... es ist besser als sich selbst zu belügen. So wirst du nicht glücklich und Shuichiro wird es auch nicht. Du musst nämlich auch mal... dir selbst helfen, Kaishi!", rufe ich und die Tränen quellen nur so hevor. Ich weiß nicht, warum ich weine, im Ernst, langsam reicht es doch auch mal... Ich nehme seine Hand in die meine, einfach, weil ich fühle, wie sehr er sich nach Wärme sehnt. Bis jetzt konnte ich sie nur empfangen, von Menschen wie ihm, aber... heute will ich mal für jemand anderen da sein. "Ich will nicht, dass wir so auseinandergehen, wir müssen Shuichiro und Akira helfen! Selbst, wenn das bedeutet, dass ich Chika verlieren werde, selbst wenn das heißt, dass ich mir jeden hier zum Feind mache, es... es ist mir lieber als mein ganzes Leben lang in einer Lüge zu leben wie bisher!", ich habe die Augen geschlossen, ich verkneife sie mir, um Kaishis Gesichtausdruck nicht sehen zu müssen. Das ist ja wohl oberpeinlich. "Pfffhhhh.... Hahahahaha! Ach, Kyokei-san, du... bist echt unfassbar!", wie bitte? Irritiert öffne ich meine Augen und Kaishi lacht ausgelassen. Ehe ich mich beklagen kann, dass er sich einfach über mich lustig macht, streicht er mir mit seiner anderen Hand, die Tränen aus meinem Gesicht. "Zum Lachen war das jetzt aber nicht gedacht, das weißt du.", bemerke ich patzig. "Ach nein, ich lache dich doch nicht aus, Mann. Ich bin nur überrascht, wie sehr du dich geändert hast, das... hat mich echt bewegt!", verstehe ich nicht, was will er mir damit sagen? "Ud was soll das jetzt heißen?", will ich wissen, nachdem ich mich von meinem Geheule erholt habe. " Du scheinst verstanden zu haben, wie man Menschen genau dort trifft, wo sie es gerade brauchen. Du hast immer versucht, nichts von dir preiszugeben und das tust du auch jetzt. Aber jetzt zeigst du wenigstens, was für ein gutes Herz du wirklich hast!", findet er. Ich lächle einfach nur verlegen in mich hinein, nicht wissend, was ich darauf nun zu Antworten habe. Doch ehe ich etwas sagen kann, fällt mir wieder ein, dass ich schon viel zu lange hier bin. Wolle Taiyo nicht noch die Bude ausräumen? Wenn dem so ist, dann, verdammt, habe ich keine Zeit mehr zu verlieren! "I-ich muss jetzt aber leider wirklich los! Ähm... bis morgen, Kaishi!", verabschiede ich mich flüchtig. Ich renne so schnell ich kann nach Hause, ähnlich wie letztes Mal, schließe die Tür auf, doch es sieht nicht so aus, als wenn Taiyo überhaupt mit dem Ausräumen begonnen hätte, merke ich, als ich vorsichtig sein Zimmer öffne und sehe, dass es dort genau wie in meinem auch genauso aussieht wie vor unserer Abreise. Nicht nur das, von Taiyo persönlich fehlt ebenfalls jede Spur, es sieht nicht so aus, als wenn er überhaupt nach Hause gegangen wäre. Wieder klingelt mein Handy und spielt das typische Lied, das immer erklingt, wenn ich angerufen werde. "J-ja, hallo?", wage ich den ersten Schritt, hörbar unschlüssig, weshalb ich angerufen werde und Taiyo noch nicht zurück ist. "Hide, du?", das verwirrt mich jetzt wirklich. Weshalb sollte Hide mich anrufen. "Also, ähm... Kleiner, du... du musst sofort ins Krankenhaus kommen, weil... Kyo-, äh Taiyo, ist... er wurde-", dann fällt am anderen Ende das Handy zu Boden und die Verbindung ist getrennt. Kapitel 81: Vol. 4 - Aus dem Hinterhalt --------------------------------------- Taiyo: Ich scheine das Bewusstsein verloren zu haben. Als mir dieses unangenehm grelle Licht der Zimmerlampe in die Augen strahlt, versuche ich, mir die Augen mit dem Arm zu zuhalten, doch im selbigen Moment durchfährt mich ein fremder unwahrscheinlich schlimmer Schmerz. "Aaaaahhh...", stöhne ich auf und beiße die Zähne zusammen. Meine Schulter brennt höllisch und ich kann mich nicht erinnern, dass mir jemals etwas so sehr wehgetan hat. "Hey, Kyo.", ich höre Hides Stimme, sie klingt wie kurz vorm Heulen. Er macht sich scheinbar wirklich Sorgen um mich. "Es wird alles gut, sie haben die Kugel entfernen können!", berichtet mir Yuki und drückt sich noch immer unter Schock stehend an Hide. Ich kann mich nicht bewegen. Mir fällt, je wacher ich werde, desto besser wieder ein, was passiert ist. Hide und Yuki wollten mir mit den Sachen helfen, haben mit mir vorher noch einen getrunken, wollten dann direkt mit zur Wohnung rüber und... Genau, dann ist es eigentlich auch schon passiert, irgendwo in einer menschenleeren Gegend, wo an Weihnachten so viel los ist, dann kamen wir an dieser dunklen Gasse vorbei, in der es keinem direkt auffällt, wenn man angegriffen wird. Das alles spielt sich schon wieder vor meinen doch eben schon verstörten Augen ab: "Okay, jetzt helft ihr mir aber wirklich mit dem Ausräumen, oder?", sagte ich, nachdem wir uns dezent haben volllaufen lassen. "Aber klar doch, Taiyocchi, wir sind doch die drei Musketiere...", blubberte Yuki ein wenig benebelt, weil sie eigentlich nicht so viel verträgt. "Wann stand zur Debatte, dass bei den Drei Musketieren eine Frau dabei ist, hieks...?", kicherte Hide ebenfalls nicht ganz nüchtern und umfasst ihre Taille. "Maaaann, als wenn ich nen Schwanz brauche, um zu kämpfen, du sexistische Dampflockomitive Nummer vierhundertdrölfzig von Riverdale...", versuchte sie sich zu verteidigen, doch machte sich andererseits nicht von Hides Griff los. "Sag mal, bist du eigentlich wirklich nur betrunken oder einfach nur verrückt? Das war nur Vodka und kein Gras, Mädel...", ärgerte er sie und sie zog gespielt wütend eine Schnute. Auf einmal blieb sie einfach stehen und weil Hide nicht wusste, weshalb, blieb auch er stehen. "Komisch, dass Taiyocchi der Einzige ist, der nicht ganz voll ist, was, Hide?", giggelt sie. "Im Gegensatz zu dir verträgt der Typ halt was.", zog Hide über unsere Gefährtin her und stieß auf. Auch Yuki hickste. Auf einmal kam sie näher auf Hide zu und sah ihn noch immer mit vom Alkohol geröteten Wangen an. "Und weißt du, wer auch was verträgt?", hickste sie. "Wer denn?", wollte Hide, genauso betrunken wissen. "Du.", hörte ich sie flüstern, ehe sie ihn einfach abknutsche und die beiden einfach auf offener Straße rumzuknutschen begannen. "Hey, Leute, ich freu mich ja für euch, dass ihr so offen zueinander seid, aber könnten wir vielleicht endlich zu mir nach Hause, ehe der Vermieter wieder rumheult? Kommt schon, wir sind schon spät, Elvis wartet sich er schon auf mi-", ich konnte den Satz nicht zuende sprechen und die beiden ließen sofort voneinander ab, als sie mich schreien hörten. Panisch keuchend und schreiend landete ich auf dem Boden, sah die schwarze Sillhouette eines maskierten Typen, der mit Stimmverzerrer raunte "Dies ist eine Warnung." und sogleich spurlos verschwand. "Oh mein Gott, Taiyocchi!", rief Yuki und eilte wie Hide es tat zu der Stelle an der ich blutend lag. "Kyo, halte durch, wir rufen den Krankenwagen! Argh, dieser Mistkerl!", fluchte er, ehe er mit stark zitternden Händen den Notruf wählte und Yuki mich zu beruhigen versuchte. Die Welt um mich herum wurde immer unklarer und das alles fühlte sich einfach nur mehr als surreal an. Der Rand meines Blickfeldes verdunkelte sich immer mehr und ich hörte mich seltame Dinge sagen. "Es ist so heiß... und so kalt... Gott, fühlt sich das... fühlt sich das... schön an...", ich hörte Yuki noch eine Weile um meine Wachheit kämpfen, doch irgendwann wurde ich endgültig von der Dunkelheit in den Schlaf gezogen, zweifelnd daran, jemals wieder aufzuwachen. Ab da ist einfach ein Filmriss, ich habe nicht mehr mitbekommen, wie der Krankenwagen kam und mich in die Notaufnahme verschleppte. "Taiyo, ich bin so schnell gekommen, wie ich-, Oh mein Gott, was ist passiert?!", sieht so aus, als wäre Elvis jetzt da. "Ihm wurde in die Schulter geschossen.", erklärt ihm Yuki unvermittelt und fast nuschelnd, weil sie es wohl immernoch nicht fassen kann. "Ach du Scheiße und... und konnte man die Person, die geschossen hat, irgendwie... habt ihr gesehen, wo sie hin ist?", will er mit unterdrückter Panik wissen. "Nein, also... er ist erstens zu schnell verschwunden, als dass wir etwas hätten tun können und außerdem hätten wir ja schlecht jemanden verfolgen können, von dem wir wissen, dass der ne Knarre mit sich herumträgt.", entgegnet ihm Hide. "Es tut mir leid, dass ich nicht eher da war, um dir zu helfen. Du wolltest die Wohnung ausräumen, nicht? Ich hätte mich beeilen sollen.", findet er, aber jetzt sage endlich auch ich etwas. "Da kannst du nichts dafür, ich habe mich auch nicht beeilt, habe mit Hide und Yuki einen getrunken und wollte anschließend gleich nach Hause, aber, na ja... das hat keiner voraussehen können, El.", beschwichtige ich ihn immernoch benommen. Trotz des Schmerzmittels tut es echt weh, mehr als echt. Wahrscheinlich ist die Betäubungszeit schon abgelaufen. "Und was denkst du, was ich jetzt tun soll? Ich kann doch nicht nach Hause gehen und sagen 'Hey, also Taiyo kann nicht nach Hause, denn irgendwer hat einfach so seine Schulter durchlöchert', ich meine, die rasten aus wie nie. Und das wäre besonders für Mama noch viel schlimmer, du weißt schon. Also, was machen wir jetzt?", versucht er jetzt, den nächsten Schritt zu gehen. "Du könntest sagen, dass du bei mir übernachtest. Mehr als eine Nacht wäre zwar verdächtig lange, aber zumindest für diese könntet ihr beiden euch hier verstecken.", schlägt Hide vor. Yuki nickt einfach zustimmend. "Vielleicht mache ich das wirklich, dann übernachte ich bei dir, Hide, ich muss nur noch anrufen und vorher noch wo hin.", sagt er dann zu und obwohl ich in Hides Gesicht sehen kann, dass er gern fragen würde, wohin mein Bruder gehen möchte, schweigt er bloß. Hide sagt Elvis, wo er nachher hinmuss, und Elvis verabschiedet sich fürs Erste. Jetzt sind wir drei wieder allein und meine Gedanken kreisen nach wie vor um nichts anderes als um den Vorfall von vor knapp zwei Stunden. Wer ist diese Person? Warum hat sie mich angegriffen? Und was bitte sollte das heißen, "dies ist eine Warnung"? Kapitel 82: Vol. 4 - Die Abgründe des Herzens --------------------------------------------- Akira: "Wieder ist es lange her, was, Egaoshita-san?", findet Akane, als ich mich wirklich nach sehr langer Zeit melde und wieder auf ihrem Sofa sitze.   "Das mit deiner Mutter tut mir nach wie vor aus tiefstem Herzen leid, Akira-san.", murmelt sie und nennt mich wieder beim Vornamen. Am Ende kommt es darauf ja nun auch wieder nicht an.   "Ich habe auch noch die Nummer deines Vater, also, wenn du auch mit ihm reinen Tisch machen willst, dann sag Bescheid, du weißt, ich bin immer für dich da.", erinnert sie mich, aber beim Erwähnen meines Vaters, knirsche ich mit den Zähnen.   Dieser Idiot hat Meiko einfach im Stich gelassen, hat sie einfach Drogen nehmen und Alkohol in Massen trinken lassen, ich kann mir noch nicht einmal sicher sein, dass sie nicht auch als Prostituierte aktiv gewesen ist.   "Kann ich dir vielleicht noch etwas anbieten, ich habe eine große Getränkesammlung, du brauchst nur zu fragen.", kichert sie leise.   Was eine unangenehme Situation für sie, wo sie mir doch vor Ewigkeiten ihre Liebe gestanden hat. Ich habe weder gesagt, dass ich sie erwidere noch habe ich je vom Gegenteil gesprochen. Es ist einfach so wie es ist. Als ich vor kurzen nämlich verstanden, beziehungsweise anerkannt habe, dass ich in Wahrheit wirklich in Kyocchi verliebt bin, Gott, klingt das seltsam, wusste ich nämlich noch weniger, was ich mit Akane anfangen soll. Andererseits, Kyocchi ist doch mit Chika zusammen, die mir wiederum das von damals nicht vergessen hat, also könnte ich jetzt technisch gesehen zusammen sein, mit wem ich will. Auch wenn es seine gottverdammte Tante ist. Diesen Fakt habe ich immer verdrängt, seit ich diese Frau kenne. Aber, von Kyocchi abgesehen, muss es doch auch noch jemand anderen für mich geben. Sanae könnte das sein, aber... ich kenne sie nicht gut genug. Sie ist eine gute Freundin, ich mag sie, aber die romantischen Gefühle für sie existieren einfach nicht. Und dabei liebt sie mich wirklich. Und auch Akane liebt mich. Und Crash hätte es vielleicht auch beinahe, doch dazu kam es letzend Endes nicht. Ich habe keine Ahnung, wie lange er wegen der Drogen, die er ja angeblich vertickt hat, im Gefängnis sitzen muss. Ich muss ihn auf jeden Fall bald besuchen und mich anständig mit ihm aussprechen. Egal, wie schräg der Rest der Insassen und Besucher uns anschauen wird. Wenn ich alles abwäge, dann ist die Einzige, die nah genug an meine Gefühle für Kyocchi rankommt, niemand geringeres als diese Frau. Selbst, wenn ich Sanae damit verletzen würde, irgendwann in der Zukunft, ich kann ja jetzt schlecht sagen, dass ich etwas mit der Tante unseres geschätzten Klassenkameraden hätte. Das wäre... abgefuckt. Fast Alabama-abgefuckt. Ich wäre sowas wie ein Motherfucker, nur mit der Tante meines besten Freundes. Ein Auntfucker. Es wird schon seine Gründe haben, wieso dieses Wort noch nicht einmal existiert oder Daseinsberechtigung hat. Der Gebrauch dieses Wortes ist einfach viel zu selten, und das finde ich sowohl erleichternd als auch beängstigend. Der Erste in etwas zu sein, kann entweder der Himmel auf Erden sein oder die Hölle auf dieser. Aber ich mag sie eben. Ich muss wenigstens versuchen, ihre Gefühle zu erwidern, selbst wenn meine Flamme der Liebesgefühle für sie nur eine Glut sein sollten. Sie sind da. Ich habe mich für sie entschieden.   "Ich will die Nummer von ihm. Die von meinem Vater. Du hast recht, du bist immer für mich da.", meine ich, nachdem die Unterhaltung doch gänzlich einseitig war.   "Ist gut, ich gehe in mein Zimmer, um sie zu holen.", und weg ist sie.   Ohne, dass ich weiß, was das für einen Zweck erfüllt, schleiche ich ihr nach. Sie scheint es zwar zu merken, aber sie hält mich nicht auf. Ihr Zimmer ist klein und besteht nur aus Bett, Schrank und Schreibtisch. Sie kramt in ihrer Schublade und holt eine Seite eines Notizbuchen hervor, um sie mir stumm zu übergeben. Ich stecke sie ebenso stumm in meine Hosentasche. Wir sehen uns ganz lange einfach tief in die Augen. Zögerlich umarme ich sie einfach.   "Danke. Und tut mir leid, dass ich... so egoistisch und hässlich zu dir war. Tut mir leid, ehrlich. Ich war einfach überfordert. Dass du mir gesagt hast, dass du mich liebst, hat mich in Wahrheit nämlich... sehr gefreut.", flüstere ich und atme ihren betörenden Geruch ein.   Dieses Deo, Parfüm, keine Ahnung was, riecht einfach gut. Und so auch sie. Ja, dass mit uns... ist nicht unmöglich. Ich spüre, wie sie meine Umarmung erwidert und dabei leicht zittert.   "Ich hab dich so lieb. So unglaublich. Ich liebe dich so sehr, Akira.", wiederholt sie ihre Gefühle, von denen ich letztens noch nicht wusste, wie mit ihnen umzugehen.   Vorsichtig lösen wir uns voneinander und sehen einander wieder nur an. Diese Gesichtszüge sehen denen von Kyocchi wirklich ähnlich. Genetisch hat sie wirklich viel mit der Person, die ich liebe, gemeinsam. Die violetten Augen jedoch gehören nur ihr. Machen sie zu jemand anderen als ihn. Es ist okay, sage ich mir, als ich ich sie schließlich küsse. Vorsichtig liegen meine Hände auf ihrer Wange und um ihre Taille auf. Etwas baff erwidert sie es und es fühlt sich... magisch an. Und es wird noch heißer. Wir küssen uns öfter und öfter, ehe es zu einem einzigen Kuss verschmilzt und sich dann wieder in mehrere teilt. Ihre Zunge in meinem Mund macht mich ganz irre. Sie scheint trotz der vielen Misserfolge in ihrem Liebesleben unglaublich zärtlich sein zu können. Vielleicht, weil sie mir vertraut. Und weil ich ihr vertraue. Konzentriere dich. Erinnere dich daran, wer trotz allem zu dir hält. Wer dir das Leben ermöglicht hat, dass du heute hast. Akane. Akane, Akane, Akane, Akane, Akane! Als der Kuss schon fast die Grenze der Erotik überschreitet, fallen wir auf das Bett und legen wirklich eine Pause ein. Für einen Tag nach der Schule um halb sieben ist es schon ziemlich dunkel draußen und so auch entsprechend im Haus. Wir sind ganz allein.   "Ich will dich...", höre ich sie flüstern, als ihre Hand auf meinem Rücken lastet und sie mich erregt ansieht.   Wieder küsse ich sie, nur ist es diesmal ihr Halswirbel, ihr Hals, ihr Ohr und ihr Schlüsselbein. Ich knabbere daran, denn irgendwie finde ich das einfach lustig. Während wir noch weiter rummachen, greift sie nach der Fernbedienung auf ihrem Nachttisch, um das Licht zu dimmen. Jetzt kann man praktisch nichts mehr sehen, nur noch Sillhoutetten. Das erinnert mich irgendwie an dieses Lied von KANA-BOON, das Opening von Naruto Shippuden. Ich brauche nichts zu sehen. Ich will nur fühlen. Ich will Akane. Das Licht ist aus und wir küssen uns weiter. Weil ich auch keine Antwort brauche, fahre ich fort. Im nächsten Moment werfe ich sie ein weiteres Mal auf die Matratze, um sie aus den Klamotten zu schälen und selbst aus meinen geschält zu werden. Ihr Körper ist so heiß und auch ich bin es, das fühle ich. Sie keucht und schwitzt, es ist kein Stöhnen, eher ein schweres Atmen, wie das beim Rummachen nun mal so ist. Denn noch ist nichts geschehen. Obwohl ich den Glanz ihrer Augen nur flüchtig erkennen kann, ruft alles in ihrem Blick "Ich will dich.". Sie will mich. Und ich sie. Wir kriechen noch tiefer unter die Decke, die zu unserem Glück ein wenig zu lang für das kleine Bett ist. Ich brenne vor Verlangen, sie brennt vor Verlangen und es fühlt sich an, als wenn dieses Gefühl auch morgen nicht versiegen wird. Wieder küsse ich sie und drücke sie tiefer ins Bett. Ich kann die Spuren ihrer Fingernägel auf meiner Haut spüren.   "Ich will dich.", sage diesmal ich.   Das Lodern in ihren Augen, und vielleicht auch in meinen Augen, erlischt nicht und wir brechen jede Grenze in diesem Raum. Ich kann dieses lodern fast schon spüren, dabei ändert sich der Zustand meiner offenen Augen jede Sekunde vor Aufregung. Alles verliert an Bedeutung. Dass die in der Schule mich eventuell nicht mehr leiden können. Dass ich Chika ihren Freund zurückgeben muss. Dass ich Sanae eines Tages mitteilen muss, dass ich sie mit einer mehr als zwanzig Jahre Älteren ersetzt habe. Dass das Kyocchis Tante ist und ich unsere gesamte, wenn auch einst einseitige Freundschaft aufs Spiel setze. All das rückt in die Ferne. Es ist mir so was von scheißegal. Als ich in sie eindringe, fühlt es sich an, als würde ich alles, was ich an Orientierung, Menschenverstand, Allgemeinwissen und Moral wusste, in die Luft sprengen. Wenn man mich fragen würde, hätte ich in diesem Feuerwerk vielleicht schon vergessen, wo links und rechts ist, geschweige denn, wie ich eigentlich heiße. Im Mittelpunkt der Egalität, dem Feuer zwischen uns, der Erregung, fühlt es sich so an, als hätte ich die Antwort auf all meine Fragen, die ich jemals hatte, gefunden. Als befände sich alles, wofür ich jemals gelebt und wonach ich gesucht habe, genau vor meiner Nase. Genau hier. Als ich aufwache, fühle ich mich irgendwie selbst nicht existent. Alles wie ein Traum. Nichts dergleichen wirklich wahr. Ich fühle Akanes Körper auf dem meinen und erinnere mich. Wir haben miteinander geschlafen. Das ist abgefuckt. Wir liegen seitlich auf der Matratze fest aneinandergeschmiegt und schweigend. Ihre Lippen, ihre Haut, ihre Haare, ihre Brüste, für diese Stunden oder vielleicht auch keine Stunden, wer weiß, gehörte sie komplett mir allein. Und dabei gehören meine Gefühle noch gar nicht komplett nur ihr allein. Das ist schon echt unfair von mir. Ich hätte ihr diesen Gefallen nicht machen dürfen. Doch gleichzeitig bereue ich nichts.   "Ich bereue nichts.", flüstere ich ins Ohr, während sie scheinbar noch schläft.   Manchmal glaube ich, dass am Ende alle Frauen beim Sex einschlafen. Irgendwie ist das einfach ein Klischee. Dann regen sich die Männer im Fernsehen machmal auf, immer wäre ja einer von den beiden nicht enthusiastisch genug im Bett. Aber ich finde es ganz süß, wenn sie schläft. Ich bette ihren Kopf erneut an meine Brust und verweile so für ein paar Minuten. Ich kann nicht sagen, ob sie schon wach ist, wahrscheinlich schon, aber dann zeigt sie es nicht. Mann, es ist bestimmt schon echt dunkel draußen, ich sollte vielleicht nach Hause gehen. Aber darauf habe ich keine Lust. Denen im Wohnheim kann es ja wohl eigentlich auch egal sein.   "Mann, Tante Akane, es ist gefährlich, die Tür einfach angelehnt zu lassen... Akira?!", Kyocchi kam ohne Vorwarnung in die Tür uns nun sieht er mich mit seiner Tante im Bett.   Und so zerbricht die Illusion, der Traum, in dem ich für die schöne Zeit gefangen war. Und ich dachte, seine Empörung wäre die einzige, die mich kaltlassen würde, dass nur die jeder anderer mich tötet. Doch ich täuschte mich. Seine Empörung bedeutet für mich den schlimmsten Weltuntergang. Kapitel 83: Vol. 4 - Hinter den Kulissen ---------------------------------------- Elvis: "E-es ist nicht das, wonach es aussieht...", stammelt Akira, als ich ihn im Bett meiner Tante erblicke.   "Es ist genau das, wonach es aussieht.", korrigiere ich ihn und weiß um ehrlich zu sein gar nicht, wo ich hinschauen soll.   Noch nie hat mich der Anblick zweier Menschen auf so vielen Ebenen... überfordert. So was passiert doch wirklich nur in Filmen. Der beste Freund schläft mit der Tante und ich als Hauptcharakter werde mit diesem engelsgleichen Bild fürs Leben... verstört. Alles an dieser Szene fühlt sich so dermaßen falsch an, dass mir ganz schlecht wird.   Meine Tante wacht langsam auch auf und ich denke, wenn sie wüsste, wer da gerade im Türrahmen versucht, seinen Würgereflex zu unterdrücken, wäre sie froh, dass sie ihre Brille ausgezogen hat, um sich von meinem besten Freund durchvögeln zu lassen.   "Akira-san, wie spät ist es?", säuselt sie, als sie sich aufrichtet und Akira einen sanften Kuss auf die Wange haucht.   Dabei rutscht ihr die Decke vom Körper und ich kann ihre Brüste sehen. Ich würde weder meine Tante noch irgendeine andere Frau tatsächlich von Herzen als abstoßend aussehend bezeichnen, doch zu wissen, von wem sie sich die Dinger hat anfassen lassen, macht es mir schwer, meinen inneren Seelenfrieden zu bewahren. Mir geht es gar nicht gut.   Akira dagegen bewegt sich überhaupt nicht, während Akane über ihn hinweg ihre Brille greift und aufsetzt. Als sie wieder bebrillten Blickes in meine Richtung sieht, zieht sie nahezu reflexartig die Decke über ihre Brüste, als ob das Verdecken ihrer sekundären Geschlechtsmerkmale diese Situation auch nur im Ansatz rettet. Sie schaut mich an, als müsste sie gleich weinen. Ihre Wangen haben die gleiche Farbe wie ihre Haare angenommen. Wie Taiyos Haare. Betrügerin ist das einzige Wort, dass in der Leere, die in meinem Kopf herrscht, noch aufzufinden ist.   "Elvis, was machst du hier?", fragt sie mich mit einer gebrochenen Stimme, so dünn, dass ich es nur beinahe hören kann. "Was hast du hier verloren?", fragt sie erneut und kämpft mit den Tränen.   "Ach, weißt du, Tante Akane, ich war zufällig in der Nähe, wollte vorbeischauen, einfach, weil man das so macht. Dann habe ich die Tür geöffnet und ich habe gefunden, was ich verloren geglaubt habe. Meinen Glauben an die Menschheit.", ihre Augen weiten sich und diesmal kann sie die Tränen wirklich nicht zurückhalten.   "Nimm deine Pfoten da weg.", unterbreche ich die Bewegung von Akiras Arm, als er den um meine Tante legen will. "Es tut mir leid... So leid, Elvis... Ich... wünschte, ich hätte es dir erzählt... Alles, meine ich... Von Anfang an... Über den Verlust meines Bruders... Über meine Haare, die nicht wirklich so aussehen... Über meine Gefühle für Akira-san... All das... Aber... es ist zu spät... Viel zu spät... Und das nur wegen der Tür die offen war...", sie schluchzt weiter und versagt weiter beim Versuch, nicht auszusehen wie das größte Haufen Elend, das ich je gesehen habe.   "Aber weine doch nicht, Tante Akane. Dich zusammen mit Akira in einem Bett zu erwischen gibt mir zwar übelste Bauchschmerzen, sowie Brechreiz, aber du bist trotzdem immer noch meine Tante. Die mir beim Lernen half. Die mir Anne auf Green Gables vorgestellt hat. Ich sollte nett zu dir sein und die Stimme erheben.", Tante Akane sieht mich an, wie man es fassungslos nennt. Ich glaube, ich mache ihr Angst.   "Wenn du glaubst, dass ich sauer bin, im Sinne davon, dass du mir die Affäre mit einem Typen verschwiegen hast, dessen Mutter du sein könntest, was bei mir das Gefühl von Enttäuschung auslösen sollte, dann nein. Dann bin ich nicht sauer. Und um enttäuscht zu sein, müsste ich erwartet haben, dass sowas nicht passiert. Habe ich das? Nicht wirklich. Man sieht sich dann.", ich mache auf dem Absatz kehrt, nicht besonders schnell, aber ich mache es.   Ich ziehe meine Schuhe an, nicht besonders schnell, aber ich ziehe sie an. Nicht wissend, warum um alles in der Welt ich nicht davonrenne, finde ich vor ihrer Wohnung wieder und schaue ins Leere. Mir geht es gar nicht gut. Also laufe ich einfach. Nicht besonders schnell, aber ich laufe. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich froh bin, wenn ich aus dieser Gegend rauskomme. Es ist nur schwer, sich zu beeilen, wenn einem kein Grund einfällt, wieso man sollte. Stell dir vor, du bist der letzte Mensch auf Erden. Dir ist alles egal.   "Kyocchi, warte!", höre ich Akiras Stimme plötzlich hinter meinem Rücken. Eine Sache habe ich in meinem apathischen Abflug vergessen. Den Täter, der will, dass ich auf ihn warte, ihn ausreden lasse, ihm zuhöre. Auch, wenn nichts dergleichen etwas ändern würde.   "Sie wünschen?", ich drehe mich schwerfällig um. Akira ist noch immer außer Atem. Seine Haare sind noch zerzauster als sonst. Sein Hemd ist halbherzig zugeknöpft und sein Hosenstall ist offen. Er hat nicht einmal Schuhe an. Alles an ihm gibt Auskunft über sein Tun. Der "Ich fick deine Tante und fange dich anschließend ab"-Look steht ihm besser als er sollte.   Akira senkt den Blick und seufzt. Ich glaube, er weiß gar nicht, was er eigentlich sagen muss. Was er sagen will.   "Wenn dumm rumstehen alles ist, wozu du heute gut bist, dann sieht man sich morgen.", lasse ich ihn wissen und kehre ihm erneut den Rücken zu. Besonders weit komme ich aber nicht, als ich spüre, wie Akira gewaltsam nach meinem Handgelenk greift und mich davon abhält.   "Stehengeblieben!", schnauzt er, wobei ich es doch sein sollte, der wütend klingt.   Seine Fingernägel drücken sich in meine Haut. Ich glaube, er merkt nicht, dass mir das wehtut.   "Warum?", will ich wissen, sehe ihm ins Gesicht und siehe da, er sieht böse aus. Irrationaler Vollidiot.   "Gib es doch zu, dass du nicht so drüberstehst wie du tust. Du bist angewidert, ich sehe es dir doch an! Dir passt es nicht, dass zwischen Akane-san und mir etwas läuft und jetzt verschwindest du wieder einmal mit deinem Pokerface, damit sich Akane-san schön schlecht fühlen kann und du dich aus der Affäre ziehen kannst. Wenn du irgendwas zu sagen hast, dann sag es, Kyocchi!",   "Wieso bist du sauer?", fragt er vollkommen unberührt und zugleich mit knirschenden Zähnen, als wenn es ihn doch was ausmacht, dass ich wütend auf ihn bin, verdammt wütend.   "Du kannst nicht einfach mit meiner Tante schlafen, so... so läuft das nicht, das ist auf so vielen Ebenen einfach... nicht richtig. Ich meine, wieso muss es denn meine Tante sein? Du kennst sie doch gar nicht! Du hast keine Ahnung, wie zerbrechlich sie ist, oder was sie durchgemacht hat, du hast absolut keine Ahnung!", rufe ich und versuche mich, aus seinem Griff loszumachen. Aber Akira ist stärker als ich.   "Ich kann dir echt nicht folgen, Kyocchi. Ist es wirklich nur, weil es deine Tante ist? Und wenn schon, dann ist sie halt mit dir verwandt, aber... hast du dich mal gefragt, was sie denn wirklich will? Vielleicht weißt du, was mal passiert ist, aber hast du dich je gefragt, ob sie denn glücklich ist, oder wie sie das anstellen will? Ist doch wohl keine Überraschung für dich, dass sie seit Ewigkeiten kein Erfolg in der Liebe hat, dass ich da der Lückenfüller ist, tut doch wohl überhaupt nichts zur Sache. Außerdem... hast du mich doch abgewiesen, nicht wahr?", dieser Typ hat sie wohl nicht mehr alle!   "Du bist unmöglich, ein Vollidiot, absolut willkürlich und notgeil! Jetzt lass mich verdammt noch mal endlich los!", schreie ich, versuche mich diesmal noch stärker zu befreien, dabei rutscht mir meine Tasche von der Schulter und ich tue mich noch schwerer, mich zu verteidigen.   "Jetzt halt mal die Luft an, Kyocchi, was ist so schlimm daran, wenn ich mit deiner Tante zusammen bin. Wir sind bald keine Oberschüler mehr, dann bin ich erwachsen und dann ist es doch egal, mit wem ich zusammen bin. Dann kann ich machen, was ich will und dir kann es streng genommen doch auch egal sein, ich meine, du hast alles, was ich nicht habe und trotzdem willst du mich einkesseln.", Akira zeigt nach wie vor keine Empathie und das kann ich ihm nicht verzeihen.   Ich habe alles, was er nicht hat, dass ich nicht lache, wieso denkt jeder, mein Leben perfekt?!   "Ich-",   "Ich meine, du hast Eltern, die dich versorgen, ohne, dass du dich schlecht fühlen musst, einen Bruder, der mich deinetwegen umgebracht hätte, nur weil ich dich in Gefahr gebracht habe, hast gute Noten und überhaupt nichts zu befürchten.", knirscht er und ich hätte nicht gedacht, dass er mich noch mehr zur Weißglut bringen könnte.   "Da irrst du dich, Akira, da irrst du dich ganz gewaltig. Bei mir läuft gerade absolut nichts. Du hast keine Ahnung, die hattest du noch nie. Selbst, wenn Taiyo und ich nur Stiefbrüder sind, geht er so weit für mich und das will was heißen, ich habe einfach nur Glück. Aber das heißt nicht, dass ich auch jetzt gerade glücklich bin! Wieso machst du es dir denn auch so schwer? Wieso lebst du im Wohnheim und nicht bei deinen Eltern, die sich um dich sorgen? Warum lehnst du jeden ab, der dir helfen will?!", jetzt klinge ich schon verzweifelt.   "Weil ich es anders nicht ertrage!", übertönt er mich und auf einmal ist er doch auf Hundertachtzig.   "Ich kann nicht bei meinen Eltern leben, weil ich es nicht ertrage, ihnen Umstände zu bereiten, nicht mal den Nachnamen haben sie mir geändert, weil sie immer, wirklich immer gesagt haben, dass ich nicht vergessen darf, wer ich eigentlich bin! Sie lesen mir jeden Wunsch ab, obwohl ich nicht ihr Kind bin, sie konnten selbst nie eins haben, nur deshalb haben sie mich kurz nach der Geburt adoptiert, einen anderen Grund gibt es nicht! Ständig zu wissen, dass man nicht hier reingehört, ist einfach verdammt noch mal scheiße! Und ich kann nicht anders, als überall zu versagen, in der Schule, bei mir zu Hause, bei Menschen, überall, deshalb kann ich dort nicht mehr wohnen! Wegen der Polizeisache noch weniger. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht einfach verschwinden soll, wenn ich zu nichts tauge!", erst jetzt merke ich, wie heiser Akiras Stimme klingt, als wenn er es überhaupt nicht gewohnt wäre, zu sagen, was ihm so das Herz bluten lässt.   Aber das sagt ja genau der Richtige.   "Aber warum... warum sollte das den Beischlaf mit meiner Tante rechtfertigen? Sie kann doch nichts dafür! Und ich auch nicht!", bin ich jetzt der Laute, doch schon wieder packt mich Akira einfach, wie er lustig ist, an den Schultern, drückt mich an die Wand des Gebäudes, an das ich vorhin gekommen bin und küsst.   Nicht auf offener Straße, du Idiot! Doch weil er glaubt, mich damit nicht mehr festhalten zu müssen, nutze ich die Chance und schiebe ihn mit heißem Gesicht und nicht weniger entzürnt davon.   "Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?! Ich dachte, du wolltest dich mir zuliebe von mir fernhalten! Du hast gesagt, dass du das nicht mehr machen wirst. Was willst du eigentlich von mir?!", jetzt ist die Grenze erreicht und ich weiß noch weniger weiter als ohnehin schon. Meine Lippen schmecken immer noch nach Akira, der einfach nur schamlos ist.   "Versuch bloß nicht, Akane und mich zu trennen, du hast mich doch schon ausgenutzt, obwohl du eine Freundin hast. Du wolltest nur deine Erinnerungen. Mehr hast du nie verlangt. Entscheid dich doch verdammt noch mal endlich für eine Rolle!", schimpft er und zieht wieder zurück in Richtung Tante Akanes Wohnung, um sich fertig anzuziehen und seine Sachen zu holen.   "Du verdammter Hypokrit! Wenn hier irgendwer jemanden ausnutzt, dann bist du das doch wohl! Du benutzt das Wort Liebe in dem völlig falschen Kontext, du weißt nicht einmal, was das ist! Also spiel bloß nicht das Opfer und reiß dich am Riemen!", werfe ich ihm nach, solange er noch in Hörweite ist, er dreht sich zu mir um, doch dreht sich wieder weg und denkt nicht daran, mir zu antworten. Bei Hide zu Hause angekommen, bin ich immer noch unwahrscheinlich wütend. Zumindest versuche ich es, ich fühle gerade das, was man fühlt, wenn die Wut am versiegen ist und man das eigentlich nicht möchte. "Kleiner, du kommst aber früh, hast du schon alles abgeklärt?", will er wissen, als er mir die Tür öffnet. "Tatsächlich nein, ich... es war ziemlich dringend, aber... jetzt kann ich. Und danke, dass du... mich bei dir schlafen lässt.", bedanke ich mich noch bei ihm. "Kein Ding, Mann, bist ja schließlich der Bruder meines besten Freundes, da ist es doch selbstverständlich, dass ich euch beiden helfe.", entgegnet er mir und ich trete ein. "Hallo? Elvis, wieso rufst du an? Und warum sind du und Taiyo nicht längst zu Hause, ich dachte, wir wollten von nun an mehr Zeit miteinander verbringen.", mein Vater am Telefon, als ich angerufen habe. "Tut mir leid, aber... wir mussten noch was machen, ist gerade kompliziert, ich kann heute nicht nach Hause, aber ich komme morgen, versprochen!", beschwichtige ich ihn und versuche weder, ihm zu sagen was vorgefallen ist, noch ihn anzulügen. "Seid ihr zwei in Schwierigkeiten?", will er mit etwas kalter und zugleich neutraler Stimme wissen. Nicht lügen, nicht lügen, nicht lügen! "So in etwa, aber... mach dir bitte keine Sorgen, kümmere sich lieber um Mama und so... sie braucht dich gerade ja so.", wechsle ich vorsichtig das Thema. "Sag mal, wissen Oma und Opa das schon? Also das mit dem Baby.", weiter so, tu so, als wäre alles in Butter. Richtig hochwertige Butter aus der Region, genau die verkaufe ich! "Ähm... also, um ehrlich zu sein... sie wissen es nicht. Setsuna will morgen hin und mit ihnen reden. Ich komme auch mit, aber Setsuna meinte, sie wolle vorher noch etwas mit den beiden allein klären.", er klingt etwas besorgt, aber das ist kein Wunder, der Adleraugenblick meines Großvaters ist ihm gegenüber auch wirklich ziemlich feindselig. "Wo ist Taiyo eigentlich, ist er nicht bei dir?", verdammt, jetzt muss ich mir was einfallen lassen! Oder die Wahrheit sagen... "Taiyo hat sich heute... verletzt, er kann deshalb auch nicht nach Hause, aber bitte, bitte, sag Mama nichts davon!", flehe ich ihn inständig an und er schwiegt. "Nun gut, ich werde nichts sagen. Setsuna wird es so oder so erfahren, aber zumindest für heute wäre es besser sie nicht allzu sehr zu stressen, sie schläft gerade, ich werde ihr einfach sagen, dass ihr zwei übernachten wart. Sei aber vorsichtig und pass auf dich auf.", meint er noch zum Schluss und ich verspreche es ihm, ehe ich auflege. Die Wohnung ist schon ziemlich dunkel, eine Studentenwohnung, in die ich eigentlich gar nicht hat rein dürfte, als ich mich auf die Couch lege und mich zudecke. Jetzt heißt es nur noch, einzuschlafen und diesen Tag zumindest für ein paar Stunden zu vergessen. Kapitel 84: Vol. 4 - Trotz aller Kraft machtlos ----------------------------------------------- Als ich aufwache und merke, dass ich schon wieder nicht in meinem eigenen Bett bin, verdrehe ich die Augen. Irgendwie pisst mich das alles von Zeit zu Zeit wirklich an, all diese Veränderungen in letzter Zeit. Manchmal glaube ich, sie verändern auch mich und ich bin böse. Irgendwie bin ich einfach nur noch ein ziemliches Arschloch. Ich versteh mich doch selbst nicht mehr... "Hide?", raune ich, als ich aufstehe und nach ihm Ausschau halte. Ich zucke mit den Achseln, ich meine, was habe ich davon, ihm zu begegnen, bestimmt schläft er noch. Laut Uhr ist es nämlich fünf Uhr am Morgen. Ich verziehe mich lieber, ehe mich noch irgendwer als blinden Passagier identifiziert. Ich ziehe meinen Kapuzenpullover und meine Jacke wieder an, schreibe einen Zettel auf einem Post-it, dass ich ihm dankbar bin und verziehe mich so leise und unauffällig wie es geht. Sang- und klanglos verschwinde ich von hier. Auf dem Schulweg begegne ich schon wieder Nokia-chan. Sie bemerkt mich erst, als ich sie überhole. Als hätte sie schon darauf gewartet, dass ich aufkreuze, hält sie bereits ihr Handy in der Hand und schreibt fleißig. "Einen guten Morgen, Kyokei-senpai!", wünscht sie mir und lächelt fast schon. Sie scheint fast nie einen anderen Gesichtsausdruck anzunehmen. "Den wünsche ich dir auch, Nokia-chan.", antworte ich und versuche nicht, an Akira zu denken, der mich gestern einfach schon zum x-ten mal sexuell belästigt hat. Ich verstehe ihn einfach nicht. Ich bin nur noch sauer auf ihn, wenn ich daran denke, dass ich seine Lippen immer noch auf meinen fühlen kann. Das ist einfach nicht richtig. Und er weiß es. Wieso macht er alles nur so schwer? "Du scheinst nachdenklich, Senpai. Ist etwas vorgefallen?", fragt sie mich virtuell und ich bin immer noch beeindruckt von ihrer Höflichkeit, auch wenn ich mich frage, ob sie wohl ein Stalker ist, da sie irgendwie einfach dem nichts erscheint und genauso schnell verschwindet. "Es ist vieles. Aber es geht mir gut.", schon wieder alles zu erklären, nein, das will ich echt nicht. "Verstehe.", steht da nun wieder. Den Rest des Weges verbringen wir schweigend. Am Ende des Schultages, als ich die ganzen verächtlichen Blicke meiner Mitschüler endlich los zu sein glaubte, bat mich einer von Asahinas Gefolge um etwas. "Ich soll runter zum Jungsklo?", wiederhole ich etwas verwirrt. Was soll ich dort? "Ja. Asahina meinte, er wollte dir noch etwas Bestimmtes sagen, womöglich tut es ihm leid, dass ihr immer so verfeindet zueinander wart, ob du es glaubst oder nicht, Asahina kann wirklich noch etwas anderes als Hassen.", die Frage, die ich mir stelle, ist ja wohl eher, warum er mich überhaupt hasst. Doch ich nicke und folge dem Typen. Das riecht mir ja verdächtig nach einer Falle, irgendwas sagt mir, dass mir gleich ordentlich die Scheiße aus dem Leib geprügelt werden könnte, es könnte wirklich extrem nach hinten losgehen, was die Frage offen lässt: Was tue ich eigentlich hier? Warum tue ich das? Dort angekommen murmelt dieser Junge fast schon lautlos "Verzeih mir, Kyokei.", doch ehe ich ihn fragen kann, was das zu bedeuten hat, werde ich von hinten geschubst und bekomme einen Ellenbogen in die Magengrube geschlagen. "Aaaaaaahhh, was zur Hölle soll das?!", keuche ich schmerzerfüllt und gebe mir Mühe, mich nicht vor Schmerzen zu übergeben. "Was das soll? Kannst du dir das nicht denken, du notgeiler Heuchler?", ertönt Asahinas Stimme. "Was willst du, verdammt?! Suchst du Streit mit mir?", stammle ich und versuche mich aufzurichten, nur um dann wieder durch das Bein eines anderen erneut zu stürzen. "Egaoshitas Verschwinden, Fujisawas Selbstmordversuch, Uchihara-chans Vater, der tot ist, als du zufällig am Ort des Geschehens warst, jetzt fehlt auch noch die süße Chika… du bist echt das Allerletzte, wir haben doch alle gesehen, wie du die Arme nach Strich und Faden belügst, kleines Flittchen!", ersticht er mich verbal, ehe er meinen sowieso schon verletzten Kopf gegen die Kante der Klokabine schleudert. "Aaaaahhhh, wovon zur Hölle redest du, Asahina?!", will ich schreiend wissen. "Du weißt es doch selbst, du kleine Missgeburt, noch nicht mal im Fremdgehen bist du gut, sogar Egaoshita hat die Fresse voll von dir, geht mir zwar fast genauso auf den Sack wie du Penner, aber wenigstens ist der Typ ehrlich, im Gegensatz zu dir, der immer nur so tut, als wäre alles normal, obwohl er an allem schuld ist!", keift ein anderer und schmettert seinen Fuß in mein Gesicht, sodass ich weiter weg auf dem Boden lande und meine Nase blutet. Ich knirsche schmerzerfüllt mit den Zähnen und stöhne tränenerstickt. "Tut das weh? Verdient, du Opfer! Ist dir nicht mal klar, wie viel Scheiße du anrichtest und wie jeder in deiner Anwesenheit am liebsten kotzen würde? Du hast lange genug alles Ärger bereitet, wird Zeit, dass du leidest, Bastard!", und plötzlich holt er eine echt große Frischhaltefolie roter Flüssigkeit aus seiner Tasche und die Angst in mir steigt ins Unermessliche. Allein es zu sehen, lähmt mich. Ich kann mich nicht bewegen. "Diese Misset kann noch nicht mal Blut sehen, was eine Pussy! Und sowas will ein Mann sein!", lacht einer der Kameraden, die mich foltern, hasserfüllt. "Falsches Blut? Wirklich, Asahina, langsam wirst du echt geschmackslos!", tadelt ihn einer seiner Freunde gespielt. "Oh nein, Yamato, da irrst du dich, Mann, das ist echtes!", "Oh damn, Asahina, du bist ja richtig böse, da werd ich gleich geil drauf!", witzelt er immer noch im selben Ton als in der selben Minute das ganze Blut über meinen Kopf geschüttet wird! "Ooooooohhhh, bedient!", johlen alle im Chor und ich spüre schon das Erbrochene in meinem Hals gleich hervorkommen. "Ihr seid doch alle... sowas von... gestörte Psychopathen... was wollt ihr, ich habe nichts getan. Was hat Akira mit all dem zutun, oder der Vater von Uchihara-san? Beendet das!", flüstere ich mit letzter Kraft, als ich wieder auf meinen zittrigen Beinen zu stehen versuche, nur, um dann durch den härtesten Tritt in den Schritt meines Lebens wieder zu fallen und aufzuschreien. Niemals hat mir irgendwer da freiwillig reinboxen wollen. Weil ich beliebt war. Doch jetzt hassen sie mich. Ich höre mich heulen, ich bin absolut wehrlos und weiß mir nicht zu helfen. "Du kannst es noch nicht einmal zugeben, wir wissen doch, dass ihr euch geküsst habt, also erzähl uns nichts. Egaoshita scheint mit eurer Trennung ja nicht sonderlich zufrieden zu sein! Den besten Freund zum Liebessklaven zu machen, der sich anschließend noch in einen verliebt, oh Junge, so schlimm bin noch nicht einmal ich drauf!", lacht Asahina, ehe er mich an den Haaren packt, nur wenige Millimeter von meiner Platzwunde entfernt, und ins Klo taucht. "Ertrink in Klowasser, Abschaum, du bist eine Last für alle Beteiligten, irgendwann reichts auch!", höre ich ihn grölen, als irgendwer hörbar ein Glas aus Asahinas Tasche fischt und fragt: "Jo, Asahina, was hast du denn da für ne nette Flüssigkeit in deiner Tasche? Lass benutzen, dass sieht krass eklig aus!", findet Yamato und ich spüre, wie ich am Sauerstoffmangel im Wasser fast das Bewusstsein verliere. Was ist das?! Was sieht so krass eklig aus?! "Das Ding? Rate mal! Ich hab mir gestern so lange einen runtergeholt, bis ich das Glas voll hatte und es diesem Abschaum über den Kopf kippen kann!", der ist doch krank! Unheilbar krank! "Woooorauf wartest du, Asahina, bevor der Dude hier noch ertrinkt!", ermutigt ihn Yamato, dieses Schwein auch noch und tatsächlich, ehe die Welt sich für lange von mir verabschiedet, fühle ich diesen weißen klebrigen Geschlechtssaft Asahinas in meinen Haaren und verliere langsam und qualvoll das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir komme, sind Asahina und sein Gefolge verschwunden, zurück bleibe ich, durchnässt, voller Blut, voller Sperma und absolut am Höhepunkt jeglicher Demütigung. Meine Platzwunde ist trotz allem nicht aufgegangen, schätze ich, als ich mit dem Kopf noch halb in der Schüssel hänge. Asahina, dieser Mistkerl. Ich hasse ihn. Ich hasse den Typen so sehr... Mir ist absolut schlecht, ich fühle mich dreckig, benutzt und einfach nur widerlich. Ich erblicke meine Tasche noch immer im Flur, ein Glück, und bemerke den immer noch währenden Würgereiz in meinem Hals. Dieser Geschmack ist unerträglich. Ich rapple mich zögerlich auf und sehe auf die Kloschüssel, als wenn sie alle W-Fragen beantworten könnte, die in meinem Kopf umherirren. Mein Mund ist trocken und gleichzeitig so unwahrscheinlich feucht und eklig, dass mich dieses Bedürfnis nicht loslässt. Ich hänge erneut den Kopf über die Schüssel und schiebe mir so tief ich kann die Finger in den Hals. Bevor ich fast aufgebe und wieder feststelle, dass das absoluter Bullshit ist, kommt mir wirklich alles hoch und ich erbreche mich heulend. Ich versuche es gleich noch mal und wieder gelingt es mir. Mir ist einfach so schrecklich schlecht, ich kann es nicht glauben. Habe ich wirklich all den Hass durch meine bloße Existenz auf mich gehetzt? Das kann doch nicht wahr sein! Mensch, und ich kann noch nicht einmal sagen, dass ich unschuldig bin, ich habe Chika betrogen, ich habe Shuichiro in den Suizid getrieben und Akira benutzt, aber... selbst wenn ich unschuldig wäre... es würde mir niemals irgendjemand glauben. Kapitel 85: Vol. 4 - Das Survival Game namens Leben --------------------------------------------------- Als ich endgültig zu Kotzen aufgehört habe, nehme ich meine Tasche und gehe Richtung Dusche. Ich muss mich waschen. All das Blut an meiner Uniform - wo zur Hölle hat er das nur her? -, das Sperma in meinen Haaren, wenn mich irgendwer so sieht, dann wird er glauben, ich sei das Opfer eines blutigen Masturbationsunfalls. Denn so viel Blut und Sperma auf einer einzigen Person kann man anders nicht erklären, und unterstehe dich, mich an der Stelle zu fragen, was zum Geier ein Masturbationsunfall sein soll und wie er aussieht, ich weiß es nämlich nicht und habe auch nicht vor, mir dieses Wissen jemals anzueignen. Ich gehe also in die Umkleide, um meine Sportsachen als Ersatz meiner Uniform hinzulegen, ziehe mich aus, um mich zu duschen und mich weniger wie ein dreckiges Stück Scheiße zu fühlen. Den Verband werde ich wohl nachher erneuern müssen. Es fühlt sich gut an. Das Blut und das... Duschgel werden von meinem Körper gespült und das heiße Wasser fühlt sich in dem Moment wie der kümmerliche Rest an Wärme an, der in dieser kalten Welt noch für mich überbleibt. Ich denke nach. Was kann ich jetzt tun, um vor den Angriffen Asahinas Gefolgschaft geschützt zu sein? Ich bin jetzt also offiziell ein Mobbingopfer. Nun, vielleicht auch erst, wenn sie es morgen wiederholen. Und ich hoffe inständig, dass sie das nicht in Erwägung ziehen, auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass all mein Hoffen und Flehen nichts auszurichten kann. Nachdem ich die Dusche verlasse, und meine Sportsachen anziehe, verlasse in Windeseile das Schulgebäude. Was meine Schuluniform betrifft, die habe ich nach dem Duschen genauso in die Dusche geworfen, für die Notlüge, die ich brauche. Ich werde sagen, ich sei in den See gestolpert. "Elvis, wo warst du? Wir haben uns Sorgen gemacht, es ist schon spät und wo ist dein Bruder abgeblieben?", empfängt mich meine Mutter völlig außer sich, als ich Heim komme. "Tut mir wirklich leid, ist eine echt lange Geschichte, auf dem Heimweg haben sich Leute geprügelt, am Fluss und so, und da bin ich dann reingefallen. Ich musste dann zurück zur Schule, um mir trockene Sachen zu holen und anschließend meinen Verband erneuern lassen und... Taiyo hat sich gestern verletzt und kann gerade auch nicht kommen, aber bald und... bitte sei nicht böse auf mich, Mama.", wow, war das lang. Meine Mutter seufzt, versucht anscheinend, ihre Emotionen in den Griff zu kriegen und nicht komplett zu explodieren, wie schwangere Frauen das eben ziemlich schnell können, und nickt nur. Sie ringt mit sich. "Ich hoffe einfach, dass Taiyo schnellstmöglich zurückkehrt.", lautet ihre Antwort nur und ich komme rein. Die Uniform werde ich nach dem Essen einfach in den Trockner stopfen. Beim Abendessen scheint es auch diesmal keinen Gesprächsstoff zu geben, denn von den Gesprächen selbst fehlt jede Spur. "Wie läuft es eigentlich mit der Hochzeitsplanung?", frage ich aus heiterem Himmel, weil mir die Stille zu viel Raum für meine eigenen verstörenden Gedanken lässt und ich gerade viel lieber an etwas weniger Brutales denken will, als das von heute nach der Schule. "Tatsächlich funktioniert alles nach Plan, wenn alles gut geht, heiraten wir in drei Wochen. Allerdings müssen wir noch die Einladungen verschicken und deine Großeltern über alles aufklären, weil diese ja noch nicht einmal wissen, dass wir noch ein Kind erwarten...", klärt mich mein Vater erneut über die Situation mit dem Kind und der Situation allgemein auf. "Geht es dir eigentlich auch besser, Mama?", will ich noch tiefer in die Materie hervordringen und sehe sie an. "Ja, schon. Die Übelkeit ist nicht mehr so häufig. Außerdem geht es mir ja nicht nur schlecht, musst du wissen. Ich glaube daran, dass die Hochzeit und ein weiteres Kind uns als Familie enger zusammenschweißen wird. Und das freut mich.", meint sie etwas wehmütig, wahrscheinlich macht ihr die Sache mit Taiyo noch Sorgen. Das aber auch immer irgendetwas schief laufen muss, ist echt mühsam. Doch weil ich weiß, dass es für meine Mutter noch um ein Vielfaches mühsamer ist, ich ihre Visionen aber auch Teile, entgegne ich: "Das denke ich auch." Am nächsten Tag wache ich schweißgebadet auf und mein Kopf brennt. All die Schläge und Tritte von gestern scheinen sich über Nacht zu einem noch viel grauenvolleren Schmerz vergrößert zu haben. Als würde sich ein Glumanda auf Level 5 urplötzlich zum Glurak entwickeln. Und das sollte eigentlich gar nicht gehen. Mein Handywecker spielt 'Trip Innocent of D' und ich schalte ihn aus, bevor ich meinen Bildschirm entsperre und einen Blick in die Klassengruppe werfe. Tanaka: "Was glaubt ihr, kommt Kyokei heute zur Schule?" Nishihara: "Nee Mann, bestimmt hat der sich erhängt oder ist gesprungen." Hirano: "Ich glaub, vergiften ist eher sein Ding." Nishihara: "Egal, der kommt wahrscheinlich nicht mehr. Übrigens, wo ist eigentlich Chika-chan?" Tanaka: "Vielleicht ist sie krank." Asahina: "Vielleicht hat der Typ die Kleine auch einfach abgemurkst. Wundert mich bei dem nicht. Beziehungsstress und so." Nishihara: "Der ist vielleicht ein Ekel, aber kein Serienmörder, ich glaube nicht." Asahina: "Hast du eine Garantie, dass der sie nicht umgebracht hat?" Tanaka: "Hast auch wieder recht, Asahina. Aber... Kyokei hat doch immer noch ein Herz, oder? Als ich ihn geholt habe, sah er so unschuldig aus. Ich meine, vielleicht hat ja alles am Ende... einen Grund?" Nishihara: "Tanaka, du warst dabei. Er ist eine falsche Schlange, die mit den Gefühlen anderer spielt. Wir tun das Richtige. Am Ende bist du doch genauso auf Rache aus. Tu nicht so scheinheilig." Ayase: "Tanaka, wieso machst du das überhaupt? Du hast ihn doch immer bewundert! Du warst doch immer freundlich! Und jetzt hilfst du diesen Mobbern! Wie kannst du nachts überhaupt schlafen?" Tanaka: "Gar nicht." Asahina: "Lol." Yamato: "Glaubst du nicht, wir waren gestern nicht etwas zu hart? Ich meine, Blut und Sperma, Alter, du könntest deshalb angezeigt werden. Oder von der Schule fliegen, du riskierst echt ne ziemlich dicke Lippe." Asahina: "Wo ist denn dein Mut hin, Yamato? Warst du nicht gestern so begeistert von der Idee? Oder bist du auch so eine Pussy?" Yamato: "Nope, aber ist ja auch nur Verasche. Als wenn mich das interessiert, wenn der daran denkt, irgendwem etwas zu sagen, Alter, dem geht's an den Kragen." Ayase: "Ihr seid echt gemein, findet ihr nicht, dass ihr etwas übertreibt?" Asahina: "Halt die Fresse, Mädel, du weißt wie der Rest von uns, dass er das alles verdient hat. Oder?!" Ayase: "Ja..." Barutani: "Verlogene Bitch." Ayase: "Wie nennst du mich?!" Barutani: "Verlogene. Bitch. Das bist du. Steh mal zur Wahrheit, anstatt zu hoffen, dass dich dieser Bastard mal nicht verkloppt. Du machst mich krank. Verpiss dich." Ayase: "Du bist fies, Barutani-san. Du hast keine Ahnung, was ich durchgemacht habe, um in Ruhe gelassen zu werden." Barutani: "Interessiert mich auch nicht. Alles, was wir wissen müssen, ist dass Kyokei-kun von Asahina mit Blut und Sperma terrorisiert wurde. Ist mir egal, was da passiert ist. Sie haben sich gerade vor der ganzen Klasse verraten! Die sind verdammte Deppen! Wenn ich will, kann ich die anzeigen! Asahina und der Rest: Wenn ihr noch ein falsches Wort verliert, seit ihr gefickt! Na, wie schmeckt euch das?" Otosaka: "Barutani, es reicht. Nur weil du nicht an Chikas Stelle seine Freundin bist, musst du noch lange nicht Ayase beleidigen." Barutani: "Wovon redest du?! Hör auf, zu lügen!" Asahina: "Glaubst du, niemand weiß, dass du in ihn verliebt bist? Du bist doch grün vor Neid, dass Kyokei lieber Chikas Brüste anfasst, als dein Flachland auch nur anzuschauen." Yamato: "Oooohhh, der hat gesessen!" Barutani: "Ich bring dich um! Ich klaue mir einen Vorschlaghammer und dresche damit so hart auf dich ein, dass du nicht einmal weißt, was Brüste sind!" Asahina: "Ich erzittere. Nicht. Zu petzen traust du dich eh nicht." Barutani: "Damit wirst du nicht durchkommen. Fick dich, Asahina!" Asahina: "Fick dich!" Diese Idioten. Kameradenschweine. Meine Klasse besteht aus lauter... School Days-Charakteren! Die einen wollen mich tot sehen und die anderen haben viel zu große Angst, um an der Wahrheit festzuhalten. 'Ihr irrt euch! Ich bin unschuldig! Ich habe nichts dergleichen verdient!', das würde ich gerne sagen, aber... es geht nicht. Ich bin wirklich schuld. Ich bin nicht der Held eines Anime, der das alles nur erduldet, um am Ende von allen als unschuldig anerkannt zu werden und ein Happy End zu erleben. Ich bin abgrundtief böse. Sie sind vielleicht unglaublich grausam zu mir, aber auch nur weil ich diese Peinigung verdient habe... Ich bin schuldig. Meine Mutter stößt die Tür vorsichtig auf, um mich zu wecken. Ich habe in letzter Sekunde mein Handy noch wegpacken können. "Morgen, Kind, es ist Zeit zum Aufstehen!", anscheinend habe ich sie vorher noch nicht brechen gehört, weil ich so in den Chat vertieft war und mit den Gedanken so weit weg. Ich reagiere nicht. "Elvis, geht es dir vielleicht nicht gut?", fragt sie besorgt, setzt sich an die Bettkante, um mir über die verbundene Stirn zu streichen. "Das ist ziemlich heiß. Besser du bleibst heute zu Hause.", meint sie zum Schluss, wuschelt mir zärtlich durchs Haar, ehe sie fast schon etwas traurig ausschauend verschwindet. Sofort greife ich wieder nach meinem Handy, denn weil ich weiß, dass ich heute, gefühlt das erste Mal, wenn du mich fragst, nicht zur Schule kommen werde, kann ich mich zumindest etwas frecher zu erkennen geben. Ich lasse den Scheiß ganz bestimmt nicht auf mich sitzen. Wütend und gekränkt über ihr Verhalten, tippe ich: "Ich lebe noch. Ich bin immer noch hier. Danke, Barutani, dass du als Einzige nicht komplett hängengeblieben bist." Kapitel 86: Vol. 4 - Die Etüde von Leid und Liebe ------------------------------------------------- Setsuna: Ich habe mir extra frei genommen, um meine Eltern zu besuchen. Sie sind schließlich in Rente und ich will nicht erst am Sonntag bei ihnen aufkreuzen, ich... will einfach nicht noch länger warten. Shun kommt nachher, damit wir alles weitere dann zusammen besprechen. So wird es sein. Ich gehe also den langen Weg zu meinem Elternhaus und denke derweil nach. Zu gerne hätte ich doch erfahren, was mit Taiyo los ist, wieso er nicht nach Hause kommt, wie und wie stark er verletzt ist, aber... ich habe es gelassen. Ich hatte Angst, die Wahrheit herauszubekommen. Ich weiß es doch auch nicht, ich ziehe es immer vor zu schweigen, wenn es um meine eigenen Gefühle geht. Ich weiß doch, dass sie auf mich Rücksicht nehmen, das reicht doch... Ich weiß doch selbst, dass ich in meinem jetzigen Zustand keinen psychischen Herausforderungen gewachsen bin, wenn Taiyo wirklich ernsthaft verletzt ist, dann würde das mein Herz nicht ertragen. Und das würde das Kind zu spüren bekommen. Selbst, wenn es mir niemals sagen könnte, dass es das hat, es wir es gespürt haben. Und das will ich ihm nicht zumuten. Sachte streiche ich mir über den Bauch, weil ich diesbezüglich beinahe glaube, der Fötus könne meine Gedanken lesen. Schließlich ist er in mir drin. Das würde doch eigentlich ziemlich viel Sinn ergeben, oder? Das gleiche Gefühl über siebzehn Jahre später zu spüren, erscheint mir nach wie vor utopisch. Na ja, wie auch immer, ich bin jetzt da. Fast schon ängstlich betätige ich die Klingel, auf der Shizuhara steht und sehe nochmals zu mir herunter. Ich habe extra weite Kleidung angezogen, damit sie die Veränderung an der Stelle nicht sofort zur Kenntnis nehmen. Ich will es ihnen zuerst sagen. "Setsuna-Schatz, was für eine Überraschung!", begrüßt mich Mutter, als ich vor der Tür stehe. "Hallo Mutter.", begrüße ich sie schüchtern. "Habt ihr kurz Zeit für mich? Ich würde gerne mit euch reden.", komme ich gleich zur Sache. "Sicher doch, wir haben gerade sogar Tee gemacht, du kommst wie gerufen.", witzelt sie und ich betrete das Haus. Bei Tee und Keksen herrscht schon wieder Stille. Ich breche sie. "Warum habt ihr damals Onee-sama geschlagen?", will ich leise wissen. "Wie kommst du jetzt auf deine Schwester?", will Vater wissen. "Sagt es einfach. Bitte. Ich habe mich mit dieser Frage mein ganzes Leben lang zurückhalten müssen. Ich will es wissen.", flüstere ich nun mit mehr Nachdruck. Dieselben Menschen, die immer so lieb zu mir waren. Dieselben haben sich auch mit meiner Schwester angelegt. Haben zurückgeschlagen. Es war so grausam. Ich hasste es so sehr. Nach einer weiteren Schweigeminute begann Vater anschließend zu erzählen. "Wir waren überfordert mit ihr, verzweifelt. Sie hatte sich jeden Tag mit irgendwelchen Altersgenossen geprügelt und auch dich hat sie öfters niedergeschlagen. Wir hatten Angst, hörst du? Auf der einen Seite war sie manchmal so still und hatte keiner Menschenseele etwas angetan, auf der anderen Seite war sie anderen gegenüber oft so feindselig und respektlos, dass wir dachten, wir müssen Feuer mit Feuer bekämpfen. Shizuku war schrecklich eifersüchtig auf alles und jeden, besonders auf dich, Setsuna, Liebes, du warst ihre beste Freundin, aber zugleich auch ihre stärkste Rivalin und schlimmste Feindin. Als sie dich dann eines Tages mit dem Messer angriff und du ins Krankenhaus musstest, war der Zenit erreicht und wir wollten sie nicht mehr sehen. Man sagte, sie hätte deine Pulsschlagader am Hals oder gar dein Herz treffen können. Du hättest sterben können. Doch jetzt bereuen wir, dass wir ihr keine besseren Eltern waren und nicht versucht haben, ihr zu helfen. Jetzt bedaure ich, dass die Chance vergangen ist und sie uns niemals verzeihen wird.", in dem Moment klingele es. Mutter stürmt los, um zu schauen, wer die vormittägliche Ruhe störte, doch anscheinend ist keiner da. Als sie im Briefkasten nachsieht, wundert sie sich. "Wir haben Post bekommen!", bemerkt sie fast schon schockiert. "Von wem denn?", will Vater wissen. "Der Absender ist unbekannt. Da steht nichts.", erklärt Mutter die Lage und setzt sich zurück an den Tisch. Als sie den besagten Umschlag öffnet, hält sie sich augenblicklich die Hand vor den Mund. "Was ist los, Mutter? Vater, wieso guckst du so?", ich verstehe die Welt nicht mehr. Was kann an einem Brief nur so beängstigend sein? Sie überreichen mir ihn stumm. Als ich ihn lese, kann ich ihren Schock auf einmal klar und deutlich spüren und verstehe ihn. "Wenn ihr diese Nachricht lest, bin ich schon längst über alle Berge. Ich werde nicht zurückkehren, ich werde vermutlich noch nicht einmal weiterleben, dennoch will ich euch ein Zeichen geben. Ich bin hier. Doch das nicht für lange, ihr werdet euch fragen, wohin ich gehen werde, wo ich bin und warum das alles. Diese Antwort kann ich euch leider nicht geben. Ich kann nicht einmal von mir behaupten, dass es mir leidtut, was ich euch angetan habe. Dennoch kann ich sagen, dass ich euch ein klein wenig vermisse, so nah und doch fern, wie ich bin. Ich sage euch schon jetzt Lebwohl, dass ihr mich nicht rausgeschmissen habt. Ich bin von selbst gegangen. Es musste sein. Entweder seid ihr an allem schuld oder nur ich bin es. Ich habe dich stets geliebt und gehasst, Schwesterchen, doch ich habe ebenfalls meinen Platz gefunden. Ich habe mich entschieden. Lebt wohl. Gezeichnet, Shizuku." In diesem Moment schießen mir Tränen in die Augen. Meine Schwester... lebt? Sie lebt. Onee-sama war niemals weg. Sie war hier. Ganz nah. Meine große Schwester lebt... und sie... sie kehrt nicht wieder. Was kann ich nur tun? Ich werde meine Schwester nie wieder sehen. Wieso nur? Was habe ich ihr jemals getan? "Onee-sama…", schniefe ich. Diese Idiotin. Diese blöde Kuh. Was lässt sie mich einfach so allein? Auch meine Eltern stimmen ein und weinen mit mir. Eine Weile weinen wir einfach und versuchen, den Text auf uns wirken zu lassen. Und gleichzeitig, ihn zu vergessen. Was tut man in so einer Situation am ehesten? Als die Tränen versiegen, sehen wir einander einfach nur tief in die Augen, bevor meine Mutter wieder das Wort ergreift. "Sag, Kind, bist du noch wegen etwas anderem hier? Ich habe den Eindruck, dir liegt noch etwas auf dem Herzen.", nun ist es wohl an der Zeit mit der Wahrheit rauszurücken. "Ja, das ist genaugenommen wirklich so. Ich wollte euch noch etwas sagen, im Bezug auf mich. Auf die Familie.", spiele ich an und die beiden sehen mich zwar bestimmt, aber auch unschlüssig an. Dann atme ich ein und wieder aus. "Ich bin schwanger." Kapitel 87: Vol. 4 - Verheddert und verdreht im Netz aus Lügen -------------------------------------------------------------- Akira: Es ist mir egal, dass er jetzt sauer auf mich ist, er versteht es eben nicht. Das würde ich zumindest gerne denken, aber das tue ich nicht. Es ist mir nicht egal. Nicht im Geringsten. Kyocchis Meinung ist mir nicht egal. Ich kann ihn nicht einfach durch eine genetisch ähnliche Version von ihm ersetzen. Aber das will ich doch auch gar nicht. Oder? Ich weiß nichts mehr. Ich habe keine Ahnung, was ich mit all dem eigentlich bezwecken will. Was für ein Ziel ich in Wahrheit verfolge, davon habe ich tatsächlich keinen blassen Schimmer. dieser Albtraum gestern nachts macht mir ganz ehrlich immer noch zu schaffen. Er war so real und unheimlich. Ich habe wirklich um mein Leben gefürchtet. Ich hatte so eine Scheißangst. Als wären meine Gedanken und mein Umfeld bislang nur eine Werbeunterbrechung, läuft fast wie von selbst eine Wiederholung von dem Traum letzter Nacht: Ich wachte auf, in einem schlecht beleuchteten Raum, er sah aus wie eine Gefängniszelle, grau, eintönig und hässlich. Als ich mich aufrichtete, stand seltsamerweise die Gittertür meiner Zelle speerangelweit offen, sodass sie nur so schrie: "Flieh hinfort, Akira! Lauf in die Freiheit!", doch so dumm war ich nicht, erst musste ich mich nach etwas umsehen, dass ansatzweise so aussah, als könnte ich mich damit verteidigen, wenn es brenzlich wurde. Ich würde hier ganz bestimmt nicht unbewaffnet zu fliehen versuchen, nein, ganz bestimmt nicht. Ich sah mich um, aber da war nichts, auch keine andere Person, die ich eventuell als meinen Komplizen hätte auserkoren können. Ich war vollkommen auf mich allein gestellt. Doch das Fenster, das übrigens nicht noch zusätzlich durch ein Glas verriegelt war, verriet mir, dass ich mich im obersten Stock befand. Das konnte ja heiter werden. Doch als ich die Gitter am Fenster auch nur umfasste, zerfielen diese einfach so, als wenn ich Hände aus Säure hätte. Das Fenster war groß genug, dass ich hindurchklettern könnte, doch ehe ich es überhaupt in Erwägung zog, erschien plötzlich eine Version von Kyocchi, in einem Kartoffelsack, mit blauen Flecken und Blutergüssen übersät vor mir und stand direkt neben mir am FEnster, durch das ich eigentlich fliehen wollte. "Wenn du fliehst, wird nichts besser! Stell dich dem, Akira! Oder ich werde sterben!", weinte er und in dem Moment gingen, ohne, dass ich überhaupt ausgebrochen war, die Sirenen los. "Alarmstufe dunkelrot, Insasse Nummer 357 entkommt, holt die Kojoten aus dem Keller!", rief eine elektronische durch durch das Gebäude. Als ich zu meiner Gefängnisuniform hinunter sah und eine unübersehbare 357 auf meiner Brust zu erkennen war, schob ich Panik, zog kurz darauf mein Shirt aus und froh durch die Tür, Kyocchi zurückbleibend. Ich rannte durch den Flur, komischerweise war ich der Einzige, der heute ans Ausbrechen dachte. Das Trampeln der Polizisten und das Bellen der Kojoten und wahrscheinlich auch Pitbulls und Bluthunde, wurde immer lauter und kam näher, meine Angst wuchs ins Unermessliche und ich wollte alles, nur nicht ihre Stimmen hören. "Gib dich geschlagen!", "Du kannst deiner Schuld nicht entfliehen!", "Sei ein Mann!", schrien sie und als ich durch irgendeinen Durchschlupf an die frische nächtliche Luft kam und von nun an den endlosen Balkon entlangrannte, bemerkte ich, dass da noch mehr Kyocchis waren, noch mehr verprügelte Kartoffelsack-Versionen von ihm. "Bitte Akira, rette uns! Bitte tu uns nicht weh! Du weißt, dass das alles nicht richtig ist!", jammerten sie alle in verzerrten Stimmen. Ich konnte sie alle nicht mehr sehen, nein, ich wollte gar nicht. Als ich das Ende des Gebäudes, das unmittelbar an die Küste eines Meeres mündete, sah ich keinen anderen Weg und sprang von dem höchsten Punkt des Gefängnisses in die Tiefe. "Hiiiiilfeeeeee!!!!!!", hörte ich mich rufen, doch es gab niemanden, der meinen Sturz abfedern könnte. Ich knallte mit voller Wucht ins Meer und der Schmerz durchbohrte mich fast schon zu Tode. Ich konnte jedoch im Wasser atmen, war aber zu verängstigt, um das war zu nehmen. Ich sank tiefer und tiefer ins Wasser, das Mondlicht entfernte sich weiter und weiter aus meinem Sichtfeld. Ich sah das Blut aus meinem Körper weichen und fühlte mich absolut kraftlos. Ob ich sterben würde? Doch in dem Moment, in dem ich das dachte, erschien schon wieder Kyocchi an meiner Seite. Er ertrank, direkt neben mir. "Hi!", flüsterte er. Ich konnte nicht antworten. Er lächelte. Kyocchi lächelte, als wenn er vorhin niemals geweint hätte. "Akira, sag, magst du es, zu leben?", fragte er, als das Sinken für den Moment aufhörte und wir nicht mehr kopfüber in den Tod sanken. Nun standen unsere Füße unten und unsere Köpfe oben. Ich konnte noch immer nichts sagen. "Und Akira, würdest du weiterleben, nur, um jene zu beschützen, die dir etwas bedeuten und denen du etwas bedeutest? Würdest du leben, nur um in der endlosen Kette der Existenz deinen Platz zu wahren? Damit niemand merkt, dass etwas anders ist als man annimmt? Würdest du das tun oder sterben, weil es schwer ist, diesen Menschen nicht wehzutun.", all dies lies ich auf mich wirken. Was hat das Leben denn bitte für einen Sinn, wenn man nur existiert, um zu existieren? "Mir ist alles egal. Solange ich niemandem zur Last falle, kann ich genauso gut verschwinden. Ich habe keinen Grund zum Leben. Ich habe jeden noch übrig gebliebenen vernichtet. Ich habe niemanden mehr.", konnte ich nun doch antworten. Kyocchi grinste. "Du bist ein Idiot, Akira. Du bist so ein Vollidiot.", flüsterte er, ehe er begann, wieder in die Tiefen des Meeres zu verschwinden, tiefer als ich. "Kyocchi, warte! Kyocchi, das ist nicht wahr, ich... mir ist nicht alles egal! Kyocchi! Bitte geh nicht, Kyocchi!", rief ich, doch er sank tiefer und tiefer und wurde von der Dunkelheit, die in der Schattenseite des Mondes lag, verschluckt. Und ich war wieder allein, als ich von hinten erstochen wurde, tief in den Rücken. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer mir das Messer in den Rücken rammte, sah ich mich selbst. "Egaoshita-kun? Akira Egaoshita, melden!", unser Geschichtslehrer scheint sauer. "J-ja, anwesend!", raune ich durch das Klassenzimmer und schäme mich sofort. Scheiß auf Geschichte, ich bin doch selbst längst Geschichte. "Kannst du uns erläutern, was George Washington mit den Worten 'Wer auf den Krieg am Besten vorbereitet ist, kann den Frieden am Besten wahren.' gemeint haben könnte?", ich denke nach. "Ich schätze, wer weiß, wie man sich verteidigen kann, hängt ganz davon ab, wie wichtig einem am Leben bleiben ist. George Washington war das anscheinend ziemlich wichtig. Es kann aber auch sein, dass er damit meinte, dass jene, die im Krieg am Ehesten überleben, die Ersten sind, die sich entweder darauf versteifen, eben diesen Frieden zu beschützen, oder bereit wären, sich selbst oder anderen das Leben zu nehmen, um ihre eigene Idealvorstellung von diesem Frieden aufrechtzuerhalten.", man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich habe unterbewusst doch ziemlich viel mitgenommen. Und außerdem entspricht das so ziemlich genau meiner eigenen Gedankenwelt in diesem Moment. "Gratuliere, Egaoshita-kun, das war eine sehr gute Interpretation. Wirklich bedauernswert, dass du dich von selbst nie meldest, Junge. Das ist verschwendetes Potenzial. Nun, wie auch immer, Kanzaki-san, könntest du die nächste Aufgabe vorlesen?", und der Unterricht geht weiter. Da habe ich mir gerade noch so den Hintern gerettet. Kyocchi ist heute nicht da. Und Chika auch nicht. Verschwendetes Potenzial. Was für eins habe ich denn überhaupt? Das Potenzial, alles zu zerstören, ja, das ist durchaus vorhanden, denke ich und sehe hinter mir auf Kyocchis Platz. "Verschwinde aus dieser Welt, Abschaum!", steht da klar und deutlich. Doch nicht etwa-! Kapitel 88: Vol. 4 - Eine BFF wie keine andere ---------------------------------------------- Chika: Zu Hause ist mir langweilig, also bei Hanako-chans zu Hause eigentlich, deshalb mache ich das Abendessen. Das heißt, ich schiebe eine Pizza in den Ofen. Das Fieber ist auch gar nicht mehr so hoch. Und meinem Herzen geht es soweit auch ganz in Ordnung. Ich muss weiter so tun, als wenn alles in Ordnung wäre. Ich wundere mich schon ein bisschen darüber, wieso Hanako-chans Eltern niemals zu Hause sind. Irgendwie will sie es mir einfach nicht verraten. Als ich ins Wohnzimmer gehe, laufe ich unvermeidbar und zum x-ten Mal an diesem Bild vorbei. Es zeigt Hanako-chan als kleines Kind, etwa im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern und Großeltern. Sie war wirklich ein süßes Baby. Die Familie Hanazawa im Einklang. Ich frage mich, wie Hanako-chan als Kind wohl war. Ob sie immer so frech, direkt und zugleich so lieb und fürsorglich war. Auf dem Bild jedoch sieht die Mutter etwas apathisch aus, was mich wiederum an meine eigene Mutter erinnert. Dieses Bild macht mich aus irgendeinem Grund traurig. Vielleicht ist auch Hanako-chan traurig, wenn sie es sich zu lange ansieht. Und trotzdem bedeutet es ihr genug, um es auf dem Kamin zu behalten. Sie scheint es nicht zu verstecken, obwohl sie weiß, dass ich hier bin. Ich habe irgendwie Gewissensbisse, hier zu sein, wo es doch für sie so eine blöde Situation ist. Dass ich so krank bin, bei ihr unterkommen muss, obwohl sie die Gefühle für mich nicht aufgeben kann. Ist das nicht grausam von mir, mich da einfach bedienen zu lassen? Neben dem Foto liegt eine CD-Hülle von Ghibli-Studio-Liedern. Ohne, dass ich es will, muss ich an das Lied aus "Chihiros Reise ins Zauberland" denken, "Der Name des Lebens", so hieß dieses Lied, das weiß ich noch. Ein Radio steht direkt unter dem Foto. Ich stelle das Foto vorsichtig beiseite und lege die Disc ein. Ich überspringe so lange, bis ich mein gewünschtes Lied zu hören bekomme. Und tatsächlich, die ersten Töne vom "Namen des Lebens" fallen. Sie warmem Schallwellen hüllen mich ein und mein Herz wird ganz schwer. Für eine Herzkranke wie mich vielleicht nicht ideal, doch es ist ja nicht so, als wäre in diesem Moment mein Leben in Gefahr. Ich erinnere mich. Wie in dem Lied. An den Tag, Tage später, nachdem ich verschwand, weil es nichts mehr gab, das mich hält. Als ich mit meinen Tanten Chihiros Reise ins Zauberland gesehen habe. Trotz der Distanz habe ich Ellies Namen nie vergessen. In viel zu vielen Songs musste ich an ihn denken. Sei es 'See you again' von Wiz Khalifa, 'Mein größter Schatz' aus AngelBeats! oder auch 'Don't forget' aus Deltarune, wann immer ich einen Teil fertiggespielt hatte. Es verging kein Tag, an dem ich nicht mindestens einmal an ihn dachte. Und es fühlt sich an, als ob sich einer dieser Tage, an denen ich weit weg von ihm an ihn denke, wiederholt. Die Einsamkeit hat wieder angerufen: Sie will mich zurück. Das Vermissen wird von Sekunde zu Sekunde, in dem das Lied weiterspielt, schlimmer. Es wird weitergesungen, diese Stimme samt Text hält mich gefangen. Sie singt vom blauen Himmel, einem weißen Ball, der herumliegt und einem Sommer, der niemals vergehen wird. Doch anders als jener Sommer, muss das Lied zu Ende gehen, da ich schritte höre und augenblicklich abschalte. Und dann realisiere ich, als sich unsere Blicke treffen, dass ich traurig bin. Mir tut das kranke Herz auf anderer Weise weh. Ich will ihn sehen. Ich will mit ihm zu diesem 'Ort, der uns vereint'. Sie sieht mich an, als hätte sie Mitleid mit den Gefühlen in mir, die ich nicht aussprechen kann. Vermutlich habe ich Tränen in den Augen. In dem Moment pausiere ich sofort, weil Hanako-chan in der Sekunde ins Wohnzimmer kommt. "'Der Name des Lebens'? Nettes Lied, nicht wahr?", sie scheint absolut nicht sauer zu sein, dass ich einfach ihr Zeug angefasst habe. "J-ja. Das ist voll mein Lieblings-Ghibli-Lied.", bestätige ich. "Du hast Pizza reingemacht? Solltest du dich nicht ausruhen, Chika-senpai?", "Hast ja recht...", gebe ich ihr leise recht. "Wie war die Schule, Hanako-chan?", frage ich aus dem Nichts, weil ich mich danach sehne, wieder mit irgendwem zu reden, auch wenn wir gestern auch geplaudert haben. Aber ich vermisse es trotzdem. Die Einsamkeit, wenn ich nicht in die Schule gehe macht mich fertig... Sie sieht nachdenklich aus, doch sagt nur: "Schule eben, wir aus dem dritten Jahr können echt bald nicht mehr entspannen!". Sie verheimlicht mir etwas. Aber ich denke nicht länger drüber nach und sehe nach der Pizza. "Ist in fünfzehn Minuten fertig.", murmle ich. "Irgendwie freut es mich, dass du hier bist.", meine ich, sie flüstern zu hören. "Wie bitte?", "Ach nichts, vergiss es. Hab mit mir selbst geredet.", wimmelt sie es ab. "Ich mach uns Tee, Chika-senpai, setz dich schon mal auf die Couch.", ordnet sie an und ich mache das auch. Was in der Schule wohl gerade wirklich los ist? Ich schalte den Fernseher an und da läuft gerade eine Dokumentation über Seegurken. Ich muss grinsen, denn diese Tiere sind lustig. Ich hätte Ellie gern gezeigt, wie lustig sie sind. Er hat sich lange nicht mehr gemeldet, zumindest kommt es mir so vor, seit ich bei Hanako-chan wohne. Ich vermisse ihn. Als wir später in Hanako-chans Zimmer die Pizza essen, scheint sie mit den Gedanken irgendwie woanders. Woran sie wohl denkt? Also ich denke gerne an... woran denke ich eigentlich gerne? Ich weiß es nicht. Irgendwie sind meine Gedanken nicht zusammenhängend, sie purzeln einfach übereinander, ohne aufeinander Sinn zu ergeben. Im einen Moment denke ich daran, wie sehr ich Ellie trotz allem unheimlich liebe und im anderen Moment sucht mich Sayaka in Gedanken heim. Ob das auch etwas mit meiner Krankheit zutun hat? Dass meine Gedanken so hysterisch und schnell wechselnd sind, als ob sie jeden Moment für immer verschwinden könnten? Darüber denke ich lieber nicht zu gründlich nach. "Ich habe dich wirklich geliebt, Senpai.", flüstert Hanako-chan plötzlich, als sie gerade den Mund leer hat. Ich verschlucke mich fast an meinem Stück. "W-was? Aber wieso erwähnst du das denn... jetzt?", ich bin vollends verwirrt. "Ich will ehrlich zu dir sein, Chika-senpai. Ich habe immer versucht, einen Bogen um das, was geschehen ist zu machen, aber ich schätze mal, dass das nicht richtig ist. Taiyo habe ich es ja auch erzählt. Und jetzt fehlt nur noch meine beste Freundin. Und Elvis, wenn sich die Chance ergibt. Ich rede nicht gern über meine Vergangenheit, a-also... lass es das bloß wert sein, ja?!", diese Tsundere, denke ich, als ich mir noch etwas von meinem Stück abbeiße. "Wie du vermutlich weißt, starben Shuichiros Eltern, als er sechs war. Doch zuvor sind eben auch schlimme Dinge passiert, ehe ich so getan habe, als wären wir keine Cousins, damit er selbstständig wird. Als ich so eins oder zwei Jahre alt war, da... da hat etwas in meiner Familie zu zerbrechen angefangen. Ich war... ich war, was die Allgemeinheit ein Retortenbaby genannt hat und ja... ich sag mal so, die Ehe meiner Eltern lief dann nicht mehr besonders, auch nachdem ich geboren wurde. Und eines Tages haute meine Mutter dann einfach ab und ließ mich mit meinem Vater zurück. Dieser könnte aber genauso wenig mit mir anfangen wie seine Frau und ließ mich zurück, um nach dieser zu suchen. Bis heute weiß ich nicht, was aus den beiden geworden ist, Papa sucht vermutlich immer noch nach ihr, oder sie haben sich schon lange aufgegeben, ich weiß ja nicht. Auf alle Fälle wurde ich ab da von meinen Großeltern erzogen, doch diese verstarben leider als ich in der Mittelschule war, bei einem Autounfall und so war ich vollkommen am Ende und diesmal wirklich, dachte ich. Ich wollte den Schmerz loswerden, ich wollte, dass andere meinen Schmerz zu spüren bekamen, ich weiß, total idiotisch und begann zu randalieren und zu vandalieren. Ich prügelte mich praktisch mit jedem und hatte mir jeden zum Feind gemacht. Aber es war mir egal. Ich wollte einfach nur... diese Wut, diese Leere, herausbrüllen und an jemand anderem austreiben, in dem ich um mich schlug und trat. Als ich dann von der Mädchenschule geschmissen wurde, hatte ich gemerkt, wie dumm ich war. Ich zog mich mehr oder weniger zurück und versuchte, ein normales Leben zu führen. Alles andere als die verrückte Prügeltante, die ich früher war. Zu der Zeit entdeckte ich das Lolita-Fandom und wurde selbst eine Lolita. Ein paar Mädchen auf der Straße sprachen mich an und sagten so etwas wie 'OMG, du bist so klein und süß, du musst unbedingt in unserem Laden vorbeischauen!' und 'Kannst du bitte, bitte bei uns modeln?'. Weil mir langweilig war, kam ich da rein. Und ehe ich mich versah, kaufte ich ein Outfit und dann auch immer öfter. Ich bemerkte, dass das meine Leidenschaft war und ich es liebte. So konnte ich meine Vergangenheit unter den Rüschen und Schleifchen verstecken und mir ein neues Image zulegen. Ehe ich mich versah, war ich das süße Mädchen. Die Blutrosenoberschule habe ich auch ursprünglich nur besucht, weil mir die schwarze Uniform so gut gefiel und es natürlich auch immer noch tut. Ich meine, sie ist einfach cool. Nun, wie auch immer, ich glaube, ich habe es verstanden. Was Liebe bedeutet. Eine klare Definition gibt es natürlich nicht, aber... ich denke, wenn man jemanden wirklich liebt und es nicht erwidert wird, dann erträgt man es. Weil ich von Anfang an wusste, dass ich keine Chance bei der gebräunten grünhaarigen Schönheit habe, bin ich dementsprechend vorbereitet gewesen. Ich war neidisch auf Elvis und wollte einfach nur bei dir sein. Ich hatte Angst, dass ich mich vielleicht nie wieder verlieben könnte. Doch ich lag falsch. Taiyo hat meine Gefühle verstanden wie niemand sonst, weil wir einander verstanden, kamen wir uns näher. Und jetzt will ich wirklich mit ihm zusammen sein. Ich habe meine Gefühle für dich noch nicht aufgegeben, noch immer sehe ich dich als unerreichbar und anziehend. Womöglich werde ich damit auch nie aufhören. Außerdem... Wie kann man in meiner Situation auf so eine Oberweite nicht neidisch sein?!", "Aaaaahhhhh, Hanako-chan, n-nicht anfassen, das... das ist gegen die Regeln!", keife ich, als sie mir wutentbrannt und voller Neid an die Brüste packt. Sie brummt zwar immernoch missbilligend, doch lässt sie dann los. "Nun, was ich eigentlich sagen wollte, danke. Danke, dass du meine Freundin bist, Chika.", sagt sie nur und lächelt so süß, wie wir es von unserer blonden kleinen Freundin kennen. "Ich bin froh, dir begegnet zu sein. Liebe hin oder her.", nun greift sie sich noch ein Stück Pizza und wir schweigen. "Du bist meine beste Freundin, Hanako-chan, weißt du das?", wo das jetzt herkommt, ist mir selbst ein Rätsel. "Ich weiß.", grinst sie. Extravagant, exzentrisch und der Inbegriff einer Tsundere Loli, wie sie im Buche steht. So ist sie, meine beste Freundin. Kapitel 89: Vol. 4 - Die Liebe meines Lebens -------------------------------------------- Als wir nachher schlafen gehen, lassen mich die Gedanken von heute Mittag auch nicht los. Irgendwas sagt mir, dass sie mir etwas Bestimmtes nicht erzählen will. Was auch immer es ist, ich will es wissen. Aber ich weiß, dass ich keine Antwort bekommen werde. Niemand will mir die Antworten geben, nach denen ich verlange. Woran liegt das bloß? Was habe ich getan, dass mich jeder wie ein rohes Ei behandelt? Weil ich krank bin? Weil mein Herz seine Aufgabe nicht erfüllt, wie es sollte? Ich will überhaupt nicht wissen, wieso. Ich will einfach nur glücklich sein, denke ich, als ich Hanako-chan beim Schlafen zusehe. Ich selbst werde wohl keinen Schlaf finden. Genau wie in jener Nacht. In jenen Nächten. Als Sayaka gestorben ist. In der Restnacht in der sich meine Mutter umgebracht hat, aus lauter Hass auf mich. Und in der Nacht, in der ich fest umschlungen mit Ellie zusammen eingeschlafen bin. Ellie. Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen. Ich frage mich, wie es ihm geht. Wie es in der Schule ohne mich. Wie es Setsuna-sama während der Schwangerschaft geht und wie Shun-sama sich schlägt. Und auch, ob es Onii-sama gut geht. Ich will es wissen. Ich sehe auf den Wecker neben dem Bett. Hanako-chan ist ziemlich schnell eingeschlafen, es ist erst so dreißig nach zehn. Ich beschließe ganz egoistisch, ihn anzurufen. Wie ich ihn kenne, wird er noch wachliegen und grübeln. Es klingelt eine Weile. Doch als ich auch nur mit dem Gedanken spiele, doch aufzulegen und im Himmels Willen schlafen zu gehen, geht er doch ran. "Chika? Wie geht es dir? Wieso rufst du so spät noch an?", typisch Ellie, fackelt nicht lange. "Ganz gut, glaube ich. Wie geht es dir?", entgegne ich und stehe doch auf, um aus dem Fenster zu sehen. Es ist schon dunkel. Na ja, ist auch noch Januar. "Wieso hast du angerufen?", ich kann aus der Verbindung nicht raushören, ob er besorgt ist, oder genervt. Vermutlich beides. "Weil ich deine Stimme vermisse. Und ich vermisse dich, Ellie. Unglaublich.", höre ich mich flüstern und kratze mit meinen Fingern über den Fenstersims. Ellie sagt nichts. "Ich habe dich... auch vermisst.", bricht er etwas unbeholfen die Stimme. So etwas zu sagen, ist für eine Person wie ihn nicht leicht. Er hat Schwierigkeiten damit, seine Gefühle zu zeigen. "Was macht die Schule? Wie geht es Onii-sama, Shun-sama und Setsuna-sama?", bombardiere ich ihn, um etwas Schwung in diese Unterhaltung zu bringen. "Okay, jetzt mal langsam mit den jungen Pferden, also... Erstens, geht so, zweitens, erschöpft, drittens, den Umständen entsprechend.", er scheint von meiner spontanen Art tatsächlich wieder fröhlicher drauf zu sein, denn es sieht ganz so aus, als wäre er froh, mit jemandem zu reden. "Aber jetzt mal du, was machst du gerade, also bei Hanako?", ist er jetzt mit Fragen dran. "Hanako-chan und ich haben Pizza gegessen.", fasse ich zusammen. Ich verschweige ihm besser, dass sie mir erneut ihre, wenn auch verebbende, Liebe gestanden und meine Brüste angefasst hat. Doch den Teil mit der Akzeptanz kann ich ihm erzählen. Hanako-chan wollte es so. "Sie sagte, sie habe verstanden, was Liebe ist, dass sie es nun wirklich mit Onii-sama versuchen will und ich ihre beste Freundin bin und bleibe. Ich glaube, sie freut sich, dass wir zwei zusammen sind.", kichere ich leise. "Das ist schön zu hören.", höre ich ihn ins Handy murmeln. "Ist Shuichiro eigentlich aus dem Krankenhaus entlassen worden? Und wie geht es der Gang?", endet meine Fragerunde noch nicht. "Erstens, ja, zweitens, wenn ich ehrlich bin, es ist nicht wie damals...", ich höre, wie seine Stimme dabei bricht. Und das liegt nicht am jugendlichen Stimmbruch. Irgendwas bedrückt ihn da ganz gewaltig. "Ellie.", sage ich einfach seinen Namen. "Ja?", kontert er. "Sag mal, tut dir vielleicht irgendwas weh?", "Wie meinst du denn das? Also, bis auf die Platwunde an meinem Kopf, wegen der ich auch fast nicht schlafen kann und... ach nein, wieso fragst du?", er hat etwas ausgelassen. Vielleicht die Verletzung an seinem Arm, ich habe es gesehen, als wir einander um den Haufen gerannt haben. "Vergiss es.", das klingt überraschend kalt von mir. Das sieht mir gar nicht ähnlich. Aber vielleicht ist das all den Lügen zuzuschreiben, die ich erzählen musste, um den Schein zu wahren. Dass ich ein ganz normales kerngesundes Mädchen sei. Ich hasse es zu lügen. Ich liebe ihn doch so sehr! Wieso darf ich als Einzige nicht ehrlich zu allen sein? "Chika.", jetzt ist er es, der meinen Namen sagt. "Ja?", "Bist du traurig?", woher kommt das denn plötzlich? "Was? Also... vielleicht, weil ich nicht in die Schule gehen kann, hehe… aber traurig? Wegen etwas anderem, nein.", wieder schweigt er. Irgendwie hört sich sein Schweigen einsam und deprimiert an. Als wolle er sagen, bitte kümmere dich um mich, ich brauche es doch so sehr. "Ich liebe dich. Ich will dich wiedersehen. Ich will wieder in die Schule gehen und dir beistehen.", irgendwas sagt mir, dass es ihm besonders dort schlecht geht. "Ich liebe dich auch. Sehr, Chika, wirklich. Deshalb klinge ich so... Ich bin... nein, ich... vergiss es einfach, ich will nicht, dass-", und er hat aufgelegt. Was bedeutet das? Was willst du nicht, Ellie? Weshalb tut dir die Liebe da nur noch mehr weh? Wann schmerzt es, jemanden zu lieben? Wovor hast du Angst? Ich bin doch bei dir! Ist es wegen Akira? Ich war damals dabei! Es ist mir egal, das würde ich so gerne sagen, aber ich kann nicht! Ich will nicht eifersüchtig sein, dieses Gefühl ist absolut erbärmlich und so... so will ich nicht sein! Deshalb... Nein, nein, nein, bitte hör auf, dir selbst und allen etwas vorzumachen! Ellie, du bist ein Mensch, es ist normal, Fehler zu... Nein, das ist kein Fehler. Das ist... ist das Absicht? Ehe ich den Gedanken zu Ende denke, verkrieche ich mich tiefer in der Decke. Die Krankheit ist schuld, dass mein Herz so schmerzt. Es ist die Krankheit. Und keinesfalls ist es Elvis Kyokei. Elvis: Als ich aufgelegt habe, versuche ich, nicht zu schreien. Es tut so weh, es zu Ende zu denken. Ich hätte ihr beinahe gesagt, dass ich sie betrogen habe. Zweimal. Mit demselben verdammten Typen. Und sie kennt diesen Typen. Das wäre das Ende. Ihre aufrichtigen Gefühle für mich so zu verletzen, kann ich einfach nicht. Vergiss es, vergiss, was so wehtut! Ich rede es mir ein, doch fühle mich immer noch schuldig und nicht schuldig genug. Ich bin so grausam! Ich habe es verdient zu leiden, Asahina hat Recht! Ich stürme ins Bad, mache das Licht an und starre auf die Toilette und, überlege, ob ich meine Meinung über den Bullshit geändert habe. Ja und nein. Aber dieses Gefühl bringt mich fast um. Ich schließe die Tür hinter mir ab, knie mich auf den Boden und schiebe mir wieder die Finger in den Hals. Ich übergebe mich schon wieder. Einfach so. Es fühlt sich schrecklich an, aber ich kann einfach nicht aufhören, es zu tun, wenn der Schmerz zu groß ist, weil ich weiß, dass ich Chika verlieren werde. Sie wird mir das nicht verzeihen, ich kann ihr diesen Sachverhalt nicht erklären und noch weniger rechtfertigen. Ich werde sie nicht behalten. Es sind alles Lügen. Ich lebe in einer einzigen Lüge, aus der ich keinen vernünftigen Ausgang sehe! Ich habe Angst! Chika ist nicht hier. Und sie bleibt es auch nicht. Sie wird gehen. Und ich bin sicher, sie weiß es. Wieder und wieder wiederholt sich der Slogan auf ihrem Lieblingspyjama: LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. LEGENDS NEVER DIE. Doch ich fühle mich so, als wenn sie dennoch sterben wird. Und dass ich ihr Mörder sein werde. Chika selbst wird nicht sterben. Auch dieses Mantra wiederholt sich in Dauerschleife in meinem Kopf. Sie wird nicht sterben, sie wird nicht sterben, sie wird nicht sterben, sie wird nicht sterben, sie wird nicht sterben, sie wird nicht sterben. Ich glaube mir nicht. Ich glaube ihr nicht. Ich kann niemandem und auch nicht mir selbst vertrauen. Ich habe es weder verdient, dass sie anderen mir Vertrauen schenken, noch habe ich den Mut, mich auf andere zu verlassen. Ich bin nur noch ein Wrack. Ein hirngeschädigtes, jämmerliches, dass nicht davor Halt macht, auf homosexuelle Tendenzen eines Opfers einzugehen und dieses für die eigenen Zwecke zu benutzen und ihm falsche Hoffnungen zu machen. Geht es eigentlich noch schlimmer?! Ich hasse das so sehr. Ich hasse mich und die ganze Scheißsituation. Ich habe eine Scheißangst vor der Zukunft. Und deshalb bestrafe ich mich. Und wieder schiebe ich mir die Finger in den Hals, bis ich den Schmerz nicht mehr erbrechen kann. Kapitel 90: Vol. 4 - Die Melancholie der Mutter ----------------------------------------------- Setsuna: Als ich morgens aufwache, denke ich an den gestrigen Tag. Mir ist heute ausnahmsweise nicht einmal schlecht. Und das, obwohl ich die zehnte Woche noch gar nicht erreicht habe. Ich gehe in den Flur und sehe dort Taiyo, der gestern doch wirklich entlassen wurde und dessen Wunde ich nicht nachfragte, in Elvis' Zimmer platzen. "Guten Morgen, Sonnenschein! Heilige Scheiße, du siehst aus wie eine Kreuzung aus Orochimaru und Voldemort!", entfährt es ihm. "Lass mich...", höre ich seinen Bruder antworten. Unauffällig stehle ich mich die Treppe hinunter. Ich denke an Gestern, als ich meinen Eltern von meiner Schwangerschaft erzählt habe. Dieser Tag spielt sich erneut in meinem Kopf ab: "Ich bin schwanger.", sagte ich. Ich wusste nicht, wie es rüberkam, doch in ihren Gesichtern konnte ich sowohl Überraschung als auch... Enttäuschung sehen. Ich verstand nicht, was sie fühlten. Sie schwiegen. "Shun kommt nachher.", ich wollte ihnen auch gleich von den Hochzeitsplänen erzählen, doch gerade wusste ich nicht recht, wie sie überhaupt mit der ersten Neuigkeit klarkamen. "Und wir... wollen heiraten.", brachte ich über die Lippen. Meine Mutter nickte. Doch mein Vater blieb reglos. "Wie lange?", wollte er nur wissen. "Seit... Weihnachten. Schätze ich.", eigentlich war schätzen eine Untertreibung, ich wusste es genau. An diesem Tag haben wir uns vereint. Nun nickte auch er. "Verstehe, und deshalb wollt ihr heiraten?", fragte er. "Nein, nicht nur deshalb.", antwortete ich und sah zu mir herunter. Der Januar endet bald und ich werde den ersten Monat erreicht haben. Wie es wohl weitergeht? "Ich weiß, dass du Shun nicht besonders magst, aber... bitte sieh mich nicht so an. Nicht genauso wie du Keita angesehen hast.", flüsterte ich. "Ich habe nie gesagt, dass ich einen dieser Männer gehasst habe. Ich mache mir Sorgen um dich, Setsuna, Schatz, kapierst du das denn nicht? Was glaubst du, was eine Überwindung es gekostet hat, dich loszulassen? Als Shizuku untergetaucht ist? Du bist das einzige Kind, das wir noch haben, deshalb... fällt es mir auch so schwer, den Männern vollends zu vertrauen, mit denen du verkehrst. Keita habe ich akzeptiert und das wusste er am Ende noch. Bei dem hier allerdings weiß ich nur, dass er ein Lückenfüller ist.", "Er ist kein Lückenfüller. Nicht mehr. Wir lieben einander. Auch, wenn wir uns gegenseitig die Wunden geleckt haben, wir... wir wollen es jetzt wirklich richtig machen.", erklärte ich ihm. Dann schwiegen wir und warteten auf Shun, die Zeit totschlagend. Als mein Mann dann endlich klingelte und ich ihm öffnete, schien er besorgt, als wenn er gar nicht wüsste, wo ich hingegangen war. Doch das wusste er. "Wie haben sie reagiert?", wollte er wissen und sah besorgt aus. "Kann ich nicht sagen. Komm besser selbst rein und rede mit ihnen.", entgegnete ich und er trat ebenfalls ein. Als ich mit Shun wieder das Wohnzimmer betrat, sahen meine Eltern noch immer gleich drein. "Hallo, Shun-san.", begrüßte ihn Vater. "Hi.", erwiderte er fast schüchtern. Wenn man auch bedachte, wieso er hier war, kann man es schon verstehen. "Ihr erwartet also noch ein Kind, nicht wahr? Habt ihr genug Sachen für dieses gekauft? Wie wollt ihr die Hochzeit planen? Gedenkt ihr, wegzuziehen, weil ein Zimmer fehlt?", "Bakura, jetzt löchere sie doch nicht so!", zischte Mutter. "Ich zähle doch nur die Fakten auf, die wichtig sind! Ryoko, denk daran, dass unsere Tochter schon in der letzten Ehe verletzt wurde-", "Das stimmt doch nicht! Keita ist tot, aber ich bereue nicht, ihm begegnet zu sein! Er hat mir immer geholfen und ich habe einen wundervollen Sohn von ihm. Und auch noch einen, den ich jedoch nicht zur Welt gebracht habe! Kannst du nicht einmal versuchen, nicht so herablassend zu-", "Setsuna! Ich verstehe schon. Aber bitte beruhige dich. Dein Vater hat schon Recht mit dem, was er sagt.", hielt mich Shun in meiner Rage auf. "Stimmt. Es tut mir wirklich leid, dass ich laut geworden bin, Vater.", entschuldigte ich mich, doch mein Vater schüttelte nur abwehrend den Kopf. "Es war mein Fehler, ich hätte nicht so unhöflich sein sollen. Aber nun wirklich, wie gedenkt ihr fortzufahren?", kam er mir entgegen. "Mit der... Hochzeit.", Shun ist das wohl wirklich etwas peinlich. "In drei Wochen.", ergänzte ich. "Ich hoffe doch, wir sind eingeladen!", witzelte Mutter. "Aber sicher doch!", freute ich mich. Doch ich dachte sofort wieder an meinen besorgten Vater. Als er meinen Blick bemerkte, meldete er sich wieder zu Wort. "Ich... toleriere... Shun-san. Mach doch, was du willst...", brummte er etwas genierend. "Dein Vater will damit sagen, dass er sich für dich, Shun-san und das Kind freut, dass ihr erwartet.", übersetzte Mutter. "Ryoko!", jetzt wurde er wirklich etwas rot. Shun grinste. Und ich tat es ihm gleich. "Setsuna? Hey, Setsuna!", "J-ja, Shun?", ich war völlig in Gedanken versunken. "Willst du nun einen Kaffee oder darfst du den nicht trinken?", "Ähm, also... ich würde es lieber mal lassen.", antworte ich und sehe auf mein Brot. Die Kinder sind seltsam still. Elvis sieht aus, als hätte er nicht geschlafen und Taiyo trägt seit seiner Ankunft dasselbe. Als wenn er sich nicht umziehen könnte. "Sag mal, Taiyo, wieso hast du dieselben Sachen wie gestern?", will ich wissen. "Das? Ach so... wegen der Verletzung konnte ich mich nicht richtig bewegen, da dachte ich, schlaf ich einfach so.", war seine Antwort. "Hast du was am Arm?", frage ich, weil er den irgendwie auch nicht recht benutzt hat. "Eher Schulter.", komisch wortkarg für Taiyos Verhältnisse. Ich beschließe, nicht weiter nachzufragen, auch wenn es mich brennend interessiert. Und weil ich mir Sorgen mache. Shun und Elvis scheinen es wohl zu wissen, nur ich bin außen vor. Irgendwie fühle ich mich so abgesondert. Ob es daran liegt, dass sie auf mich Rücksicht nehmen, ist höchstwahrscheinlich. Ich weiß, wieso. Und dennoch macht es das alles nicht besser. Ich wollte ihnen doch näher sein, doch jetzt bin ich ihnen auf irgendeiner Weise noch entfernter als vorher. Was kann ich tun? Wie kann ich mich mit meiner eigenen Familie wieder verbunden fühlen, ohne, dass alles nur wegen der bevorstehenden Veränderungen, um den Schein zu wahren, geschieht. Was kann ich tun? Elvis: Als ich in die Schule komme, laufe ich fast Nokia-chan um den Haufen. "T-tut mir leid, Nokia-chan, ich habe nicht aufgepasst.", entschuldige ich mich und ziehe sie wieder auf die Beine. Sie reagiert nicht, sondern sieht mich einfach nur an. Traurig sieht sie mich an. Als wenn sie kurz davor wäre, etwas zu tun, was sie nicht tun will. "Ist alles in Ordnung?", will ich wissen. Jetzt schreibt sie wieder wie üblich und diesmal ist der Text seltsamer. "Bitte verzeih.", steht da. "Hm? Was meinst du mit-", und ehe ich es realisiere, küsst sie mich einfach. Zieht mich an der Krawatte zu sich wie Chika. Doch das ist nicht Chika. "Hey, sag mal, spinnst du?!", vollkommen erschrocken von dieser Aktion, so unerwartet wie sie war und so unberechtigt von dieser Person, frage ich das. "Und was meinst du mit 'Bitte verzeih'? Etwa das hier?", jetzt bin ich wirklich sauer. Man küsst Leute nicht einfach, mit denen man nicht zusammen ist. "Nein. Nicht deshalb. Ich habe s getan, so lange ich noch konnte. Doch das ist nicht der Punkt. Ich bin nur hier, weil die Zeit des Abschieds doch immer näher rückt.", und als sie mir per Text von diesen Worten erfahren lässt, verschwindet sie genauso schnell, wie sie gekommen ist. "Warte, Nokia-chan, du-... diese Göre, Mensch, das ist doch der Hammer, zische ich, als ich sie in der Menge nicht mehr ausfindig machen kann. Zeit des Abschieds? War das nicht ein Zitat von L Lawliet aus Death Note? Ach, wie auch immer, mir kann es eigentlich am Arsch vorbeigehen, das Mädchen hat doch 'nen Dachschaden, Mensch... Ich betrete das Klassenzimmer und dort sitzt Chika wieder an ihrem Platz. Ich will sie gerade zur Rede stellen, dass sie sich doch auszuruhen habe, doch da erblicke ich die Tafel und selbst Akira ist aus seiner wochenlang anhaltenden Apathie erwacht und starrt auf das große Gekritzel. "Kyokei und Egaoshita sitzen auf dem Baum. Knutschen rum, diese Schwuchtel." "Kyokei, siebzehn, Fremdgeher Nummer eins." "Egaoshita ist ein homosexueller Emo ohne Zukunft." "Und die sind in unserer Klasse." "Bestimmt vögeln die auch." "Kyokei hatte Freundschaft-Plus-Beziehung mit Egaoshita, Chika voll verarscht." "Wer zur Hölle war das?!", keife ich, als ich diesen Unsinn, äh, Wahrheit auf der Tafel sehe. Diesen Asahina bringe ich eines Tages wirklich um! "Was denn? Solltest du nicht ehrlich zu deiner Liebsten sein, Schwuchtel? Von Egaoshita haben wir langsam auch die Schnauze voll, deshalb, wieso nicht ehrlich zu der ganzen Klasse 3-6 sein?", halt die Fresse, Asahina. Halt einfach dein vorlautes Maul. Ich bin sprachlos. Jetzt weiß es jeder. Selbst, wenn sich Asahina das mit der Freundschaft-Plus-Beziehung ausgedacht hat, trifft er damit voll ins Schwarze! So viel zu das kannst du dir nicht ausdenken, so mies ist das... Chikas Gesicht zeigt keine Regung. Als ich die verachtenden Blicke meiner Klassenkameraden das letzte Mal gesehen habe, fühle ich, wie sich meine normale Art verabschiedet und mir endgültig alle Sicherungen durchbrennen. So viel Hass auf mich bin ich nicht gewohnt. Das ist zu viel, sie... sie hassen mich. Sie hassen mich. Sie hassen mich. Sie hassen mich. Sie hassen mich. Sie hassen mich. Sie hassen mich. Ich hasse mich. Kapitel 91: Vol. 4 - Das Ende der Welt -------------------------------------- "Ihr... seid doch...", höre ich mich stammeln und Chika bewegt sich noch immer nicht. Akira scheint sich jedoch wieder für die Gleichgültigkeit entschieden haben, als er sagt:"Und weiter?", "Sag mal, was fällt dir eigentlich ein, so gelassen zu sein?! Merkst du nicht, dass wir gerade sozial sterben?!", keife ich, doch noch immer ändert sich nichts. Ich versuche, die hasserfüllten verachtenden Blicke der anderen auszublenden, doch mir ist bewusst, dass uns jeder ansieht. Zufällig die Wahrheit zu erfahren ist das Schlimmste, dass den anderen im Bezug auf mich hätte widerfahren können. "Was schaust du denn so schockiert, Schwuchtel? Bist 'n Blitzmerker, wenn du endlich gerafft hast, wie wenig Daseinsberechtigung du hast. Die arme Chika hat sich doch wirklich Hals über Kopf in dich verliebt, diese dumme Idiotin, doch du wusstest es nicht besser und steigst mit 'nem anderen in die Kiste, Junge, Junge, in deiner Haut würde ich jetzt nicht steck-", "Halt endlich deine verdammte Fresse!", schreie ich und die verhassten Blicke sehen überrascht über meinen Ausraster aus. "Es reicht, Kyocchi, das ist das Ende. Und du weiß-", "Halt auch du die Fresse, Akira, echt!", unterbreche ich ihn barsch. "Och nein, nicht sauer werden, warum denn auch? Helfen wir dir nicht gerade, ehrlich zu deiner Geliebten zu sein? Oder willst du das nicht? Willst du nicht sehen, dass sie bereits merkt, dass du nicht annähernd so perfekt und makellos bist, wie du dich gibst?! Dass du nichts weiter als ein doppelmoralischer Heuchler und ein hilfloser Schlappschwanz bist?! Dir ist echt nicht mehr zu helfen!", grölt Asahina. Normalerweise ist niemand auf Asahinas Seite, doch diesmal scheint keiner sagen zu wollen, dass er falsch liegt. Er hat Recht. Asahina, dieses verdammte Schwein... hat Recht. Unweigerlich denke ich an das Gespräch mit Kaishi an jenem Tag, wenig später, bevor ich zu erzählen begann. Da waren noch Details. Viele Details. "Wie kommt es, dass du mich verfolgst?", fragte ich, nachdem ich mich von dem plötzlichen Angriff erholt hatte. "Eigentlich wollte ich mit dir reden, Kyokei-san. Mir ist zu Ohren gekommen, dass dich die Allgemeinheit nicht sonderlich ausstehen kann, obwohl, was heißt zu Ohren gekommen, ich habe es selbst gemerkt.", meinte er und nahm noch einen Schluck von seinem Energydrink. "Wie immer hast du Recht, Kaishi.", gab ich mir nicht die Mühe, es zu leugnen. Schließlich stimmte es doch. Das war nicht nur Asahina, der meinen Tisch verhunzt hatte. "Hat es vielleicht etwas mit Egaoshita-san zu tun? Und Asahina-kuns Gefolge?", wollte er wissen. "Möglich.", hauchte ich nur und nahm ebenfalls ein Schluck aus meiner eigenen Dose. "Kam es raus? Dass irh beiden ein Verhältnis hattet?", fragte er weiter und ich gab mir Mühe, mich nicht bei einem zweiten Schluck zu verschlucken. "Nicht direkt. Ich denke nur, dass einer von ihnen an jenem Wochenende dort sein gewesen muss und jetzt irgendwie glaubt, ich hätte etwas mit dem Tod von Uchihara-sans Vater zu tun. Bestimmt hatten sie auch vorher etwas gegen mich und als die Ereignisse sich häuften, schien das wohl in einem Schneeballeffekt ausgeartet zu sein.", lachte ich traurig. "Egaoshita-san zieht das Chaos wohl magisch an, was?", murmelte Kaishi. "Was soll das denn bedeuten?", ich war schon empört darüber, so etwas zu hören. "Na ja, dass alles ist schlimm gesagt wohl mehr oder weniger ihm zuzuschreiben. Dennoch kann ich seine verzweifelten Gefühle und Handlungen nachvollziehen. Ein typischer Antagonist aus einer Geschichte, wie spannend.", schmunzelte Kaishi. Sein Lächeln hatte etwas, dass mich fragen ließ, wie um alles in der Welt er zu der Person geworden ist, die ich kenne. Er ist irgendwie einfach undurchdringlich, ich kann es selbst nicht ganz glauben. "Ein Antagonist? Gegen wen den? Wer ist denn der Protagonist deiner Geschichte?", irgendwas sagte mir einfach, dass es seine ist, von der er sprach. "Na, kein geringerer als du, lieber Kyokei-san!", grinste er. Das Lächeln hatte sich nicht verändert. "Warte mal, ich? In DEINER Geschichte? Aber wieso das denn?", das verstand ich wirklich nicht. Ist denn nicht jeder sich selbst der Erzähler? Die Hauptperson seiner eigenen Geschichte? "Weil ich früh gemerkt habe, dass ich nicht vorankomme, wenn ich immer nur aus meiner eigenen Sicht sehe. Dass man nichts erreicht, wenn man immer nur aus der sichtbaren Erzählerposition, die im Geschehen mittendrin ist, erzählt. Als Shuichiros Eltern starben, merkte ich das. Ich habe den armen Kerl völlig verstört in diesem Raum aufgefunden, weil ich zu fällig da war, als es gerade geschehen war. Ich fühlte nichts. Seit jenem Tag glaubte ich, dass ich nur glücklich sein kann, wenn ich anderen Menschen diene. Und das geht am Besten, wenn ich mich an zweiter Stelle befinde und einen auswähle, der meiner Geschichte noch das Eine gibt. Noch eine zweite Person als mich selbst. Und das bist du. Und weil Egaoshita-san, der doch dein persönlicher Widersacher ist, ebenfalls zu den Dingen gehört, die ich bemuttere, fühle ich mich da leicht schuldig, wenn du verstehst.", ich glaubte erst, ihm nicht mehr folgen zu können, doch nun... machte alles Sinn. Selbst, wenn ich wohl noch eine Weile brauchen werde, um mir diese Denke anzueignen. "Bemuttern? Widersacher? Was willst du mir damit sagen, Kaishi?", ich kam mir richtig dämlich vor, dass ich das alles fragte. Bin ich denn wirklich so begriffsstutzig und blöd? "Ich verstehe die Ansichten des Feindes. Ich wäre dennoch erfreut, wenn du mich auf von jetzt an als einen deiner Freunde bezeichnen könntest.", das werde ich Kaishi. Das werde ich. Doch was mich gerade wirklich interessierte, war Shuichiro, der doch durch mich so schwer verletzt wurde. Ich beschloss, ihn zu fragen. Die Ansichten der Feinde verstehen. Ich glaube, das kannst nur du von uns beiden. Nur du. Plötzlich lache ich auf. "Aha. Ahahahaha. Hahahahahahahahaha!!!!! Das ist also das... das Ende?! Oh Mann, ihr seid wirklich witzig! Das... das... das ist doch der Wahnsinn! Jetzt hat also jeder die Wahrheit rausbekommen, was?! Mein Image ist also auch dahin, was?! Meine Beziehung auch, was?! Und alles, woran ich gearbeitet habe, f-fällt einfach ins Wasser!!! Aaaaaaahahahahahahaha, das ist so geil, oh Junge, so habe ich mir das Ende der Welt garn sicher nicht vorgestellt.... Ha, Ha, Haaaaaaahahahahahahahaha!!", ich drehe vollkommen durch. "Ihr.... ihr habt es nicht anders gewollt... dann packe ich halt aus, darauf kommt es auch nicht an! Ja! Ja, ich habe mit Akira rumgemacht! Ja! ja, ich war am Sterbeplatz von Uchihara und ja, das Shuichiro von Dach runtergesprungen ist, ist auch allein meine Schuld! Ich bin ein Abschaum, genau wie ihr behauptet!", gröhle ich und lache mir verzweifelt einen ab. Tränen schießen mir in die Augen, doch fühlen tue ich da absolut gar nichts mehr. Es ist alles so surreal "Asahina, du hattest von Anfang an Recht. Dass Chika mich auserwählt hat, ist auch mehr als nur-", Knall. Knall und ich fliege ein paar Meter, nur um dann just in dem Moment gegen den Fenstersims zu brettern. Meine Nase blutet. "Sag nochmal so etwas Schreckliches und ich bring mich um!", schreit nun Chika, deren Faust mein Geseicht erfasste. "Wie kannst du das nur erzählen?! Alles, was wir zusammen hatten ist für mich der aller größte Schatz! Als meine Mutter starb und mein Vater verschwand, war alles, woran ich dachte, immer nur du! Weil es dich gab, konnte ich immer Hoffnung schöpfen! Es war mir alles egal, ich wollte stets nur an deiner Seite sein und einen Lebenssinn finden! Den fand ich in dir, verdammt noch eins! Und dann sah ich dich sterben, Ellie, hörst du?! Überall war Blut und ich dachte, du würdest niemals zu mir zurückkehren! Ich war kurz davor, mich umzubringen! Ich wusste von Anfang an, wer Akira war und ich wusste auch, wer du bist! Und dennoch wollte ich mit dir zusammen sein, weil ich dich liebe, mehr als ich mich selbst je lieben könnte! Ich habe nur gelebt, weil ich wusste, dass du dich noch erinnern könntest! Als du dies nicht getan hast, ist eine Welt in mich zusammengebrochen! Doch ich habe stetig festgehalten an der Hoffnung in meinem Herzen auf dich! Wieso... wieso hasst du dich selbst so sehr! Warum konntest du denn nicht ehrlich mit mir sein, ich habe alles riskiert! Mir ist egal, dass du mich betrogen hast, aber mir ist nicht egal, dass du dir selbst und allen anderen etwas vorlügst! Egal, was ist, die grausame Wahrheit, die so schmerzt wie Langschwert ist immer noch um Welten besser als diese langjährige antrainierte Lüge von Wahrheit!", ihre Stimme ist so laut, dass sie in meinem Brustkorb widerhallt. Ich komme aus meinem Trip wieder zurück und weiß nun nichts mehr. Was ist das hier? Und wieso kniet Chika vor meinem Antlitz? Die Lüge von Wahrheit, ja? "Ich bin zu schwach. Ich kann nicht entkommen.", murmle ich nur und bemerke an dem Blut, dass meinen Nacken herunterläuft, dass die Platzwunde aufgegangen ist. Ich stehe auf und lasse meine über alles geliebte Freundin, die ich gerade jedoch so schwer seelisch verletzt habe, links liegen. "Kyokei-kun, der Unterricht hat vor zwanzig Minuten begonnen, du kannst nicht einfach-", "Katsuoka-sensei. Wenn ich bleibe, weiß ich momentan sowieso nicht, inwiefern ich die Zukunft und den ganzen Mist verdient habe. Sie sehen doch, dass ich hier nicht erwünscht bin. Wenn ich nicht gleich gehe, wird Chika nur noch mehr verletzt. Und das kann ich mir nicht verzeihen.", ohne, dass ich verstehe, weshalb, lässt meine Klassenlehrerin mein Handgelenk augenblicklich los. "Du bist Einsamkeit gewohnt, was?", flüstert sie. Ich antworte nicht und gehe. Als ich während des Laufens daran denke, umzukehren und mich bei allen Beteiligten für den Aufruhr zu entschuldigen, muss ich nur grinsen und laufe weiter. Ich kann nicht zurück. Chika habe ich verloren. Akira und ich können unmöglich noch Freunde bleiben. Und ich habe alles verloren. Ich gehe, ohne daran zu denken, was das für Folgen mit sich bringt. 'Es berührt mich nicht. Ich will all das nur vergessen. Ich bin wie ich bin und mehr zählt ja auch nicht.', war das nicht eine Passage aus dem Lied namens "Bad Apple"? Wieso erinnere ich mich ausgerechnet jetzt daran, wenn alles vor meinen Augen verschwindet und niemals wieder so schön und glücklich sein wird, wie ich es zu kennen pflegte? Ich beschließe, mit dem Weglaufen nicht aufzuhören und denke nicht weiter drüber nach. Schließlich macht keiner Anstalten, mich aufzuhalten. Keiner Anstalten, mich zu retten. Kapitel 92: Vol. 4 - Komischer Kauz ----------------------------------- Als ich gerade ziellos durch die Gegend umherirre, renne ich versehentlich einen älteren Mann um den Haufen. Dessen Aktenkoffer öffnet sich und das Papier mitsamt dem Inhalt verteilt sich auf dem Asphalt. "V-Verzeihung, ich-", "Du...", brummt der Mann, ohne mich anzusehen. "J-ja?", irgendwie macht der Kerl mich nervös. "Auf der Flucht, was? So wie du rennst...", murmelt er und ich helfe ihm, die Akten einzusammeln. "Kann man behaupten...", antworte ich zögerlich. Zum Lügen habe ich schon wieder absolut keinen Nerv. Ich weiß ja nicht einmal mehr, wo zur Hölle ich nun hinsoll, nachdem ich die Schule jetzt wohl nur noch schlecht betreten kann. "Die naive Jugend, so jung und glaubt, sie müsse weglaufen...", summt er und greift nach den verstreuten Bleistiften. "Na, hören Sie mal, ich habe wirklich keine andere Wahl gehabt! So zu urteilen ist echt gemein von Ihnen!", knirsche ich in einem bemüht höflichen Tonfall. Irgendwie pisst er mich an. "Nun denn, möglicherweise scheinst du eine kleine Chance an recht zu haben. Wie auch immer, wir müssen reden, komm mit.", meint der alte Mann, als er den Aktenkoffer schließt, mein Handgelenk greift und mich, ohne, dass ich auch nur daran denken kann, Einwände zu haben, ins nächstbeste Lokal schleift. "Und wie kommt es, dass ich mit Ihnen an diesem Tisch für Zwei, ohne, dass ich sie jemals gesehen habe, sitze, können Sie mir das vielleicht mal erklären?", Notiz an mich selbst: Mich verdammt noch mal nicht so leicht entführen lassen! "Ach, nun sei doch nicht so, dass du hier bist, hat durchaus seine Gründe. Eines Tages wäre es sowieso darauf hinausgelaufen, Junge. Zwei Rotweine, bitte!", der versucht nicht mal, mich zu beruhigen! Vielleicht sollte ich der Bedienung doch sagen, dass ich etwas anderes haben möchte, da ich Alkohol erstens fast gar nicht vertrage und zweitens Wein generell nicht besonders mag. Und weg ist sie. Scheiße. Dann muss ich wohl austrinken. Mist. "Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet. Wer sind Sie? Und was wollen Sie von mir? Wollen Sie mich betrunken machen, um anschließend zu berauben und zu vergewaltigen, oder was für ein Ziel verfolgen Sie jetzt?", werde ich langsam echt giftig. Diese zwielichtige Person kramt in ihrer Jackentasche und zeigt mir ihren Personalausweis. "Endo... Failman. Endo... Failman… ENDO FAILMAN?!", "Mann, schrei doch nicht so, davon bekomme ich Migräne...", knurrt der alte Mann. "Sie... Sie sind... Chikas Vater.... ?!", kann ich diese Situation immer noch nicht ganz fassen. Ich falle wirklich aus allen Wolken. Dass ich dem Typen einmal in natura begegne, habe ich mir wirklich nicht zu träumen gewagt. "Und ja, der bin ich. Aber genau darüber wollte ich mit dir reden, Kyokei-kun.", "Wie... ähm, Moment mal, haben Sie mich gerade Kyokei genannt? Woher zum Zerteilungsgrad wissen Sie, wie ich heiße?!", im Ernst, dass scheinbar jede fremde Person meinen Namen kennt, finde ich echt nicht witzig. "Ich hab so meine Quellen. Elvis Kyokei, siebzehn Jahre alt, im dritten Jahr der Blutrosenoberschule, Blutgruppe 0-", "Habe verstanden! Gott, das ist gruselig...", zische ich. Der ist doch irre. Wenn der am Ende auch noch weiß, wie lang mein Glied ist, töte ich ihn! "Sie sind doch der Hammer... Das ist Stalking, das wissen Sie, echt, ich bin fassungslos. Nun, bringen wir es hinter uns, was wollen Sie?", versuche ich, mich zu beruhigen. In dem Moment wird uns der Rotwein serviert. Na toll. "Ist vielleicht unnötig zu fragen, aber... in was für einer Beziehung stehst du zu meiner... Tochter.", ich weiß, dass es nicht Chikas leiblicher Vater aka der bis heute scheinbar unentdeckte Vergewaltiger ist. Dieses Wissen lässt mich noch eine Frage fragen wollen: Was interessiert es ihn? "Ich wüsste nicht, wieso ich ihnen das verraten sollte.", antworte ich schnippisch und unterdrücke ein Grinsen. Jetzt ist er mit Empörung dran! "Willst du dich wirklich mit mir anlegen?", fragt der alte Ma-. ähm Chikas Dad und seine Augen flackern bedrohlich. Jetzt habe ich Angst. "I-ich bin ihr fester Freund, bitte schlagen Sie mich nicht!", spucke ich aus und verstecke meinen Kopf schützend vor meinen Armen. "Kein Bock, bin froh, dass du wenigstens ehrlich bist, auch wenn es dir an Respekt vor älteren Leuten fehlt.", labert der wieder in seinen Siebentagebart. "Das ist ja wohl ihre eigene Schuld, wenn Sie mich einfach ohne Vorwarnung entführen und mich mit persönlichen Infos zuballern, die ich von selbst ihnen gegenüber nie preisgegeben habe!", ist der anstrengend! "Ist auch wieder wahr. Nun, meine sogenannte Tochter scheint großen Gefallen an dir gefunden zu haben. Irgendwo musst du schließlich ein anständiger Kerl sein, auch wenn es mir ein Rätsel ist, was sie an einem Warmduscher wie dir findet...", "Langsam machen Sie mich wirklich sauer...", brumme ich und versuche, ihm meinen Rotwein nicht einfach so über den Kopf zu schütten. Denn das hätte dieser Mann wirklich verdient. Andererseits... hat das alles vielleicht sogar einen tieferen Grund? "Das sagen viele, Kleiner. Das sagen viele.", flüstert er und ich komme mit dem ganzen Stimmungs- und Höflichkeitswandel dieses Mannes so langsam an mein Ende. "Wieso haben Sie all diese Dinge getan? Wieso musste Chika ein Schuljahr wiederholen, obwohl sie die Allerbeste war? Warum haben Sie sich nie für sie eingesetzt? Wieso beobachten Sie Chika und mich, anstatt mit ihr zu reden, wie es richtige Väter tun? Haben Sie... haben Sie denn überhaupt eine Ahnung, was Chika alles durchmachen und ertragen musste, nur weil Sie nicht für Sie da waren? Wie-", "Jetzt halt mal die Luft an, Kyokei-kun, und lass mich nachdenken.", der muss erst nachdenken?! "Ich hatte auf der Arbeit keinen sonderlich guten Ruf, ich sah keinen Sinn mehr im Leben und lebte nur, um meinen Platz in dieser Welt einzunehmen. Chika war für mich nie die Tochter, die sie sein wollte, ich hatte oft zu spüren bekommen, dass Sie nicht mein Kind war. Ich war frustriert. Wütend auf alles und jeden und besonders auf mich. Das ließ ich an einem fremden Kind aus. Das war falsch von mir, das gebe ich jetzt offen zu. Dennoch habe ich damals nicht verstanden, wieso ich das tat, ich tat es einfach, es war wie ein Ventil, eine Sucht, von der ich mich nicht losreißen konnte. Ich war ein echtes Arschloch. Deshalb habe ich weggesehen, als ich den Verdacht schöpfte, Sayaka könnte meine Alibi-Tochter missbrauchen. Ich hasste mich lange Zeit dafür und tue es auch in diesem Augenblick. Dass Patricia und ich zueinanderfanden war mehr oder weniger eine Laune des Schicksals. Ich wollte etwas besonderes sein, der auffallendste Exzentriker, den die Welt jemals gesehen hatte. Deshalb änderte ich meinen Vornamen in Failman. Doch ich wurde nicht glücklich. Ich lebte nach dem Motto, wenn alle unglücklicher sind als ich, werde ich selbst vielleicht glücklicher. Doch dem ist natürlich nicht so. Ich habe letztendlich nur gelebt, um zu leben und dabei meinen Mitmenschen geschadet. Wenn du erstmal erwachsen bist, wirst du verstehen, wie sich der Schmerz der Existenz anfühlt.", beendet er seine Ansprache. "Ich... weiß es bereits.", höre ich mich krächzen. "Tatsache?", vergewissert er sich. "Tatsache.", bestätige ich. Ich kann seine Handlungen zwar noch immer nicht nachvollziehen, doch ich glaube, ich kann seine Gefühle verstehen. Kaishi kann das nur, nur er, habe ich geglaubt, doch zum ersten Mal fühle ich mich mit ihm auf einer Wellenlänge. Hoffentlich sind wir zwei noch Freunde. Hach, wahrscheinlich nicht, nach dem, was heute war, ganz bestimmt nicht mehr. "Du scheinst schlauer zu sein als du aussiehst, Junge. Wenn du das tatsächlich schon verstehen solltest, dann sonderst du dich sicherlich stark ab, nicht wahr? Du und meine Tochter, ihr seid so verschieden wie Schwarz und Weiß, hab ich Recht? Sag, liebst du sie wirklich? In meiner Position werde ich das Recht zu dieser Antwort nicht haben, dennoch will ich tief in meinem Herzen das Beste für sie. Das ist alles, was ich noch tun kann, als Vater, der ich sowohl biologisch als auch zwischenmenschlich niemals gewesen bin.", Irgendwie fühlt es sich so an als würde Failman-san mir wirklich vertrauen. "Ich liebe sie. Noch nie in meinem Leben hat es jemanden gegeben, den ich mehr geliebt habe. Wenn ich aber ganz ehrlich bin, dann bin ich vielleicht nicht der, für den mich alle halten. Auch für Chika nicht. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt jemals wiedersehen möchte.", seufze ich und sehe meinen Gegenüber nicht an. Plötzlich höre ich, wie er das Glas anhebt und anschließend fühle ich etwas Nasses und stark riechendes auf meinem Kopf. Da hat der Typ mir doch allen Ernstes seinen Rotwein über den Kopf geschüttet! Ehe ich reagieren kann, schneidet er mir das Wort ab. "Du bist es. Ich habe lange genug zugesehen, du bist der Einzige, dem meine Tochter blind vertraut. Ich sehe es an ihrem Blick. So hat sie noch nie jemandem in meiner Gegenwart angesehen. Wenn du gehst, schwebt sie eventuell in Lebensgefahr. Ich weiß, dass es egoistisch klingen mag, dennoch bitte ich dich: Wenn du Chika wirklich liebst, dann bleib bei ihr und erfülle die Aufgabe, der ich nicht nachkommen konnte. Dir liegt etwas an ihr, mich kann sie nicht ansehen. Sei ein Mann und kämpfe!", und weg ist er, geht zur Theke, fünftausend Yen, ziemlich spendabel für diesen komischen Kauz und dann verschwindet er. "Warte, Failman-san, bleiben Sie hier!", rufe ich ihm hinterher, doch der dreht sich nur um und sagt: "Ich sagte, kämpfe. Sei ein Mann und kämpfe für die, die du liebst. Selbst wenn du mich für einen Hypokriten, einen komischen Kauz halten solltest. Das sind meine wahren Gefühle. Im Ernstfall wirst du mich nicht wiedersehen. Chika ist schwach. Du musst sie mit deiner vorhandenen Kraft beschützen.", jetzt ist er wirklich weg. Komischer Kauz, denke ich und spüle entgegen meinem Willen meinen eigenen Willen den Rotwein hinunter, den mir Failman-san spendiert hat. Das ist ein ganzer Liter. Dann fällt mir ein, dass ich doch auf der Flucht bin. Ich weiß nicht, wohin ich muss, dennoch kann ich nicht zurück. Ich werde Failman-san enttäuschen! Der Typ wird mich dafür hassen. Ich bin eine Enttäuschung für die ganzen Menschen, die mich kennen! Ich muss abhauen! Sofort! Vielleicht ist mir irgendwer gefolgt! Ich verschwinde augenblicklich! Und sofort verlasse ich den Laden. Ich renne wie ein Berserker, der von einer Horde schneller The-Walking-Dead-Zombies verfolgt wird, in die Innenstadt, in der es schwerer ist, die Spur nicht zu verlieren. Ich verstecke mich in einer Ritze zwischen Häusern, um zu verschnaufen. Jetzt, wo ich weiß, in was für einer Gefahr, sozial wie physisch ich stecke, habe ich noch mehr Angst. Werde ich jemals wieder in die Schule zurückkehren? Wird Chika mich nach all den schrecklichen Dingen, die ich gesagt habe, jemals wieder ansehen? Werde ich jemals in Ordnung kommen? Ich glaube, meine Seele hat noch nie mehr geschmerzt als jetzt. Ich... ich will das nicht! Aber ich kann nicht zurück. In gehe tiefer in die Gasse, um an der anderen Stelle wieder rauszukommen und weiterzugehen. Werde ich mich umbringen? Das liegt im Bereich des Möglichen. Vielleicht will ich ja sterben. Verzeih mir, Failman-san. Ich werde deiner Bitte nicht nachkommen. Verzeih mir, Taiyo. Ich werde nicht weiterleben und dein Bruder bleiben. Verzeiht mir, Eltern. Ich werde euch ein schrecklicher Sohn sein, weil ich nicht mehr da sein werde. Verzeih mir, Katsuoka-sensei. Ich werde nicht auf mich Acht geben. Verzeih mir, Shuichiro. Du wirst meine Entschuldigung niemals annehmen. Verzeih mir, Kaishi. Dass ich nur genommen und nie gegeben habe. Verzeih mir, Akira. Dass ich so ein lausiger bester Freund war. Verzeih mir, Chika. Ich werde nicht zurückkehren. "Mister Stark, ich fühle mich nicht so gut.", flüstere ich erstickt, weil ich mich genauso schrecklich fühle, wie alle in dem Infinity War-Film, als sie durch Thanos verschwunden sind. Eine Träne rinnt mir mein Gesicht hinunter. Als ich auf der anderen Seite ankomme, höre ich erneut einen Schuss, der mich sofort durchbohrt. Mein Bein. Man hat mir direkt in den Oberschenkel geschossen. Doch ehe ich schreien kann, greift jemand nach meinem Hinterkopf, gräbt seine Finger in meine Haare und rammt meinen Kopf mit voller Wucht gegen die Straßenlaterne. Hat irgendwer das Licht ausgemacht? Kapitel 93: Vol. 4 - Der verlorene Sohn --------------------------------------- Taiyo: An diesem Tag fühlt es sich irgendwie so an, als wenn alles kurz davor stünde, von der einen auf die andere Sekunde zerstört zu werden. Ich bin seit über einer halben Stunde zu Hause und warte auf Elvis. Normalerweise ist er fast immer früher da als ich. Ich gehe ja schließlich noch arbeiten. Ich rufe ihn auf dem Handy an, doch anscheinend ist es leer. Na ja, das ist es meistens, er vergisst andauernd, das blöde Ding aufzuladen.   "Idiotenbruder...", zische ich vor mich hin, weil ich irgendwie echt etwas Angst um ihn habe.   Ich gehe ins Wohnzimmer und höre Mama telefonieren.   "Was? Wirklich? Davon gibt es auch eine Fortsetzung? Na, du kennst dich aber aus, Akane-chan! Mensch, wir haben uns echt wahnsinnig lange nicht mehr unterhalten, das tut mir echt leid, weißt du? Hab ich schon erwähnt, dass du wieder Tante wirst? W-was soll das denn heißen, Akane-chan? Dieser Witz ist ganz schön trocken, das du es weißt... wie gemein... Oh Danke, deine Glückwünsche sind mein Lebenselixier. Wie auch immer, ich muss jetzt demnächst Schluss machen, bye!", in dem Moment sieht sie mich.   "Oh, Taiyo, ich habe dich gar nicht gehört, stehst du schon lang da?", fragt sie und sieht mich unverwandt an.   Sie hat wieder Augenringe.   "N-nein, ich war grade in meinem Zimmer.", antworte ich knapp und versuche, an ihr vorbeizusehen.   Irgendwie kann ich ihr nicht in die Augen sehen. Nicht nur, weil ich ihr verschwiegen habe, dass ich verdammt noch mal angeschossen wurde.   "Sag mal, Taiyo, wo ist eigentlich Elvis? Sollte er nicht schon seit halb sechs hier sein?", oh nein, jetzt kommt's.   "Weiß nicht. Ich muss weg.", inbegriffen zu gehen, greift sie dann doch nach meinem Handgelenk an dem Arm, dessen Schulter durchlöchert wurde.   Ich beiße die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz das Haus zusammenzuschreien.   "Kann es sein, dass du mir etwas verheimlichst, Kind?", wie rette ich mich nur aus dieser Situation?   "Tatsächlich nicht, nein. Ich glaube, ich will nur Elvis in der Stadt aufsuchen gehen, vielleicht ist er ja bei Chika, vielleicht weiß Hanako etwas, keine Ahnung, sein Handy ist aus.", versuche ich, mich rauszureden.   "Wer ist Hanako?", ich muss echt weg, wirklich!   "Meine Freundin, ich muss jetzt wirklich los!", werde ich langsam ungeduldig. "Bleib nicht zu lange weg.", höre ich sie flüstern.   "Bitte tu dir nicht noch einmal weh.",   "Mach ich nicht.", entgegne ich leise, nehme meine Tasche und diesmal gehe ich wirklich. In Shizukazemachi angekommen, gehe ich noch einmal den Plan durch, den ich nicht habe. Wie will ich eigentlich vorgehen? Elvis hätte vor Stunden von der Schule zurück sein sollen. Wo soll ich nur nach ihm suchen? Wo um alles in der Welt ist er? Ich denke an alle Orte, an denen er sich aufhalten könnte. Die Chinobara Oberschule. Das Krankenhaus.. Der Konbini. Tante Akanes Wohnung. Unsere Wohnung. Chikas Wohnung.    "Wo bist du, Elvis?", hauche ich und mein Atem hinterlässt einen kühlen Rauchschwaden.    Nicht wissend, wo der Weg mich hinführt, nehme ich die Beine in die Hand und mache mich auf die Suche. Auch, wenn ich ehrlich gesagt nur halbherzig auf meine Umgebung achte. Es ist schwer, sich auf sein unbekanntes Ziel zu konzentrieren, wenn die Gedanken nur um diesen einen Menschen kreisen, mit dem man drei Jahre zusammen unter einem Dach gelebt hat. Um dieses starr dreinblickende... Kind. Um diesen gedächtnislosen Kerl, der sich so selbstlos darum bemühte, ein ganz normaler Mensch zu sein. Um diesen ehrgeizigen Fleischroboter, der so kalt war, dass es mir manchmal echt Angst gemacht hat. Um diesen Ersatz seiner vorherigen Version, die sich nicht mehr unterscheiden könnte. Um meinen kleinen... Bruder.   Wieder überschwemmt mich eine Welle Schmerz in der Brust und ich habe das Bedürfnis zu schreien. Ich habe es ihm nicht genug gezeigt. Ich habe es ihm nie so gesagt, dass er es tatsächlich glauben kann. Ich bin der wahre Idiot von uns beiden. Wir beide... waren doch immer zusammen. Damals vor bald achtzehn Jahren, als diese rotäugige Verrückte in das Leben von meinem Vater und mir getreten ist und mir einen Bruder mitgebracht hat. Da waren wir zusammen.  Als du auf die Welt kamst. Da waren wir zusammen. Immer als wir spielten, stritten, uns vertrugen und einfach... am Leben waren. Da waren wir zusammen. Auch als ich um dein Leben gefleht habe. Immer, immer und immer waren wir zusammen.   Es ist nicht deine Schuld, dass du deine Erinnerungen verloren hast. Es ist nicht deine Schuld, dass du dich damals gezwungen sahst zu springen. Es ist nicht deine Schuld, dass du nicht so expressiv bist wie andere Menschen.   Du kannst dich nicht an früher erinnern, du wirst mich nie wieder auf die Weise kennen, wie vorher und die Erkenntnis, dass dir die ganze Familie, ich eingeschlossen, deinen wahren Ursprung verschwiegen hat, ist nichts, was ich je wieder ungeschehen machen könnte. Trotzdem... trotzdem bist du mein Bruder. Falls du immer noch der Meinung bist, den Menschen, der du warst, ersetzen zu müssen, lass dir gesagt sein, dass du das längst nicht mehr musst. Irgendwann habe auch ich das verstanden. Du wirst nie wieder derselbe sein. Ist doch okay. Das werde ich auch nie wieder. Niemand wird das jemals wieder. Beide Versionen von dir sind Elvis. Und diesen Elvis habe ich ehrlich gesagt, unwahrscheinlich lieb. Du bist immer noch ein Mensch mit Emotionen, Mitgefühl und einer Seele. Nichts könnte das je ändern!   Während ich so durch die Gegend renne, wird der herzzerreißende Schmerz in mir drin größer und größer. Und dann ist er so groß, dass ich es nicht mehr halten kann.   "Du...", ich störe gleich sowas von die Nachtruhe, denke ich, als ich Luft in meine Lunge presse, nur um sie wieder herauszuschreien. "Wichser!!!"   Und ein paar schnelle Schritte später finde ich mich vor der Wohnung von niemand Geringeres als vor der von den Hanazawas. Meine Lungen brennen noch vom Rennen und dem langen Schrei von eben. Meine Beine zittern und es ist schwer, sie zum Stehen zu zwingen. Erschöpft wie ein alter Mann betätige ich die Klingel und halte das Gleichgewicht.   "Hallo?", höre ich eine männliche Stimme und kriege einen halben Herzinfarkt. Das passiert nicht wirklich, oder? "Wer ist da?",   "Ähm... ich...", höre ich mich stammeln. "Ich...", scheiße, ich kriege keinen Ton raus.   "Wir kaufen nichts.", lässt mich der Mann am Apparat wissen.    Doch ehe er auflegt und mich draußen weiter frieren lässt, kann ich noch schnell sagen, wer ich bin.   "T-Taiyo hier. Taiyo Kyokei, es ist absolut wichtig und wenn Sie mich hier weiter stehen lassen, wäre das ganz schrecklich gemein von Ihnen. Es geht um Leben und Tod!", japse ich und er scheint mich durch das Guckloch zu beäugen.    Stille.    Dann öffnet er die Tür und mustert mich von oben bis unten.   "Kommen Sie doch rein, junger Mann."   Nicht sein Ernst, oder?!   ***   Doch kaum habe ich die Schuhe ausgezogen und will dem Mann durch die Wohnung meiner Freundin in die Küche folgen, höre ich auch schon Schritte.   "Ist das die Pizza, Pa...", Hanako bleiben die Worte im Hals stecken.   Auch Chika bleiben die Worte im Hals stecken, in dem Moment, in dem sie mich sieht und ihre Augen sich weiten.    "Taiyo?! Was machst du hier?", stammelt sie.   "Onii-sama, ich...", kommt es von der Grünhaarigen.    Diese scheint regelrecht traurig zu sein, dass ich hier bin, so wie sie guckt.   "Junger Mann, Sie kennen die beiden?", erregt der Mann von eben meine Aufmerksamkeit wieder und mein Blick fällt auf ihn.    Ich schaue zwischen ihm und Hanako hin und her. Dann schnappe ich nach Luft.   "Ist nicht wahr, der Typ da ist dein Vater?!", entfährt es mir und Hanako lässt daraufhin seufzend das Gesicht in ihre Handfläche sinken.   "Der Typ da hat übrigens auch einen Namen. Eiji Hanazawa, wenn ich bitten darf. Was willst du hier, Bengel?", und weg ist seine Höflichkeit.   Ich atme ein und wieder aus, ehe ich wieder mit ihm spreche.   "Mein Bruder geht in die Klasse ihrer Tochter. Und er ist weg. Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn.", erzähle ich ihm mein Anliegen.   Hanakos Vater schweigt, ehe er sagt: "Das tut mir leid. In Momenten wie diesen wäre es wohl fehl am Platz, dich zu fragen, in was für einer Verbindung, du mit meiner Hanako stehst oder wie die ganze Geschichte lautet. Vermutlich ist meine Anwesenheit gerade alles andere als gefragt, wenn es nicht darum geht, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Das-",   "Das müssen Sie nicht!", falle ich ihm ins Wort. "Das... mache ich erst, wenn es wirklich nicht anders geht. Aber haben Sie vielen Dank, Hanazawa-san. Das ist wirklich super mega nett von Ihnen.",   Hanakos Vater sieht mich prüfend an, ehe er auf dem Absatz kehrt und in einem Zimmer verschwindet.   "Nimm ihm das nicht übel. Der ist immer so drauf und kommt später wieder raus, um die Vermisstenanzeige trotzdem abzugeben.", lässt Hanako mich wissen, als sie sich mir nähert und die Treppen hinter sich lässt.   Chika folgt ihr zögerlich.   Stille.   "Habt ihr Elvis gesehen?", komme ich  wieder darauf zu sprechen.   Wie aufs Stichwort, atmet Chika dramatisch ein.   "Nein. Haben wir nicht.", presst Hanako hervor. Sie sieht fast genauso traurig aus wie Chika.   "Scheiße, wo steckt dieser Typ... auf diese treulose Tomate ist einfach kein Verlass...", knirsche ich knurrend, um zu verdecken, dass meine Sorgen größer sind, als ich selbst zugeben kann.   Chika tritt näher an mich heran, ohne mich anzusehen.   "E-Ellie... ist keine treulose Tomate. Auf ihn ist auch nicht kein Verlass. Ellie, er... er ist schon fast den ganzen Tag nicht mehr bei uns gewesen. Der Schultag ohne Ellie, der... der war traurig. Alle aus der Gang, auch Hanako-chan und ich waren traurig. Alles an diesem Tag ist so unglaublich traurig. Aber...", sie zwingt sich, mir ins Gesicht zu sehen.   "Dass... dass ich an dieser ganzen Traurigkeit schuld bin! Ich, Chika Failman, ganz alleine, bin schuld daran!", schluchzt sie und in Sekundenschnelle ist ihr allseits liebevolles Gesicht voller Tränen. Ich check gar nichts mehr.   Ich sehe zwischen Chika und Hanako hin und her.   Hanako wirft mir Blicke zu, die so viel bedeuten wie "Tu doch endlich was!".   "Chika, beruhig dich. Hey, Chika, hörst du mich? Warum sollte mein Bruder deinetwegen denn weglaufen?", will ich wissen und nehme sie zögerlich in den Arm, weil sie so schrecklich weint.   "W-weil ich... weil ich in g-geschlagen und ausgeschimpft h-habe... Ich war die mit Abstand schlechteste Freundin auf der Welt!", schnieft sie und ich drücke sie fester an mich, in der Hoffnung, dass ihr Schluchzen weniger qualvoll klingt.    Sie so verzweifelt zu erleben, wie sie weint und nichts von ihrer naiven Fröhlichkeit zurücklässt, tut einfach nur im Herzen weh.   "Nein... Nein, das warst du ganz bestimmt nicht. Chika, du bist weit davon entfernt, die schlechteste Freundin der Welt zu sein. Welche schlechte Freundin würde so um ihren verschwundenen Freund weinen?", frage ich sie und wiege sie sanft hin und her.   "Onii-sama, du verstehst das nicht. Ellie ist verrückt geworden. In dem Moment, in dem er mich gebraucht hat, hatte ich nichts Besseres zu tun als nur von mir selbst zu reden! Das war überhaupt nicht meine Absicht. Aber ich... ich war so... ich war so wütend! So wütend, dass ich ihm wehgetan habe. Was, wenn er sich etwas antut? Was, wenn er unter der Liebe, die ich ihm entgegengebracht habe, letztendlich zusammenbricht, weil ich so geklammert habe? Ich will ihn nicht verlieren, Onii-sama! Ich kann nicht, hörst du? Ich will auch nicht, dass du ihn verlierst.", sie hickst vor lauter Tränen in ihrer Stimme.   "Ich konnte Ellie nicht davon abhalten zu gehen. Ich konnte ihn nicht retten! Es tut mir so leid... Es tut mir... so leid. Es tut mir so leid, Onii-sama!" Ich streichle sie ein letztes Mal, ehe ich sie vorsichtig loslasse, um ihr die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.   "Es wird alles gut. Du hattest bestimmt Angst. Bitte weine nicht mehr, Chika. ", versuche ich, die Tränen einzudämmen. Doch noch immer sieht sie untröstlich und zerstört aus. Zittert noch unter den Nachwehen ihres Schluchzens. Ihrer Traurigkeit. Wie ein Haufen Elend, dass in den Matsch gefallen und von Werwölfen angepisst wurde.   "Ich hab auch Pringles da.", flüstere ich ihr ins Ohr. Ich entlocke ihr ein leichtes, wenn auch trauriges Grinsen. "Oh damn, da hat mein Bruder echt eine ganze Menge Scheiß fabriziert, was? Die Affaire mit diesem Albino, dann jenes Wochenende, der Suizid eines Mitschülers, das hört sich fast nicht real an...", fasse ich ungläubig zusammen.   "Das kannst du laut sagen, Taiyo. Dieser Asahina hat wirklich seine schlimmste Seite ans Licht gebracht. Diese Psychopathen-Lache werde ich niemals wieder aus meinem Kopf kriegen.", murmelt Hanako.   Chika, noch immer den ganzen Rest meiner Chips essend, die mir Hide und Yuki zur Entlassung spendiert haben - Realtalk, sind die noch genießbar?! - kommt nun auch zu Wort.   "Hm... Ellie ist anschließend weggelaufen und war das Thema Nummer eins im gesamten Haus. Schließlich haben alle Geschehnisse alle in der Schule mitbekommen. Das muss ihm... unglaublich im Herzen wehgetan haben.", sie legt eine Pause ein.   "Ich will nicht, dass das so endet wie bei Akiras Verschwinden. Wir dürfen doch nicht einfach alles der Polizei überlassen, du kennst ihn doch, dann kriegt er Angst! Er ist nicht so stabil wie er tut und alle wissen es. Wenn das noch so ist, wird ihn eine weitere Begegnung mit der Polizei ganz bestimmt nicht gefallen.", ergänzt sie.   "Da könntest du Recht haben, Chika. Die Behörden werden zwar so oder so benachrichtigt, das können wir nicht verhindern, jedoch sollten wir den Elvis machen und einen Suchtrupp gründen. Ich glaube, das ist es, was mein Bruder tun würde.", bestätige ich.   Wenn man einen Elvis finden will, dann muss man so denken wie einer, das ist in der Jagt auf die Wildnis nicht anders. Aber sollte ich meinen Bruder denn wirklich mit Jagdbeute vergleichen?   "Hanako hat schon bereits alle vor der Schule versammelt, wir müssen in fünf Minuten zur Planung erscheinen.", meldet sich Hanako zu Wort, die wieder in der dritten Person von sich redet, weil sie sich für besonders schlau hält. Nur diesmal um ein ganzes Stück trauriger.   "Gut gemacht!", lobe ich sie und zücke mein eigenes Handy.   "Entschuldigt mich kurz.", sage ich und gehe ins Badezimmer.   *** "Taiyo? Hast du ihn gefunden? Was dauert das denn so lange?", höre ich Mamas panische Stimme.   "Mum, es geht gerade nicht anders, ich bin gerade in einer Sache drin, es wird länger dauern.", versuche ich, so kurz wie es geht, mich zu erklären.   "Wo ist Elvis? Taiyo, du hast meine Frage nicht beantwortet, ich mache mir wirklich Sorgen um euch, kannst du dir vorstellen wie das für mich ist? Ich kann absolut nichts machen, um meine eigene Familie zu retten, ich bin vollkommen machtlos! Komm jetzt bitte nach Hause. Wenn du Elvis nicht finden kannst, ruf die Polizei und komm jetzt endlich! Bitte! Ich mache mir Sorgen! Elvis sieht seit Tagen so krank aus! Und du hast was an der Schulter! Ich habe Angst, Taiyo, Angst! Bitte hör auf, mich anzulügen...", sie weint ja fast.   Verdammt.   "Gib mir zwei Stunden. Ich komme zurück, ich verspreche es dir, Mama. Aber jetzt muss ich meine Aufgabe erfüllen. Ich muss Elvis retten. Das ist meine Aufgabe.", sage ich zum Schluss.   "Das habe ich auch mal geglaubt.", flüstert sie, ehe sie auflegt.   *** Tatsächlich hat sich die gesamte Klassenkameradschaft von Elvis hier versammelt. Sogar der, von dem ich aufgrund seiner Aura fest davon überzeugt bin, er könnte Asahina sein. Er hat einfach diese Arschloch-Aura, die kann ich riechen. Die Leute sagen immer, ich hätte einen unchristlich guten Geruchsinn. Hanako hat sogar ein Megafon aus Papier mitgebracht, um besser zu allen durchzudringen. Im Licht der Straßenlaterne sieht sie aus wie eine Bandenanführerin.   "Wir haben uns alle hier versammelt um-",   "Das klingt, als ob wer heiratet!", grölt da wer.   "Halt die Fresse, Asahina-kun, denkst du nicht, du hättest genug Schaden angerichtet?!", schimpft Hanako.   "Wie auch immer, wie ihr alle wisst, ist Kyokei-kun, Elvis, "Ellie" oder wie auch immer ihr ihn alle zu nennen pflegt, spurlos verschwunden. Weder auf dem Telefon noch sonst wo erreichbar. Ich habe euch alle hier versammelt, damit wir einen Suchtrupp gründen, so, wie Elvis es auch für Egaoshita-kun getan hat. Die Polizisten sind schon alarmiert, jetzt ist es an uns, den Rest beizutragen, ehe die Dinge wirklich hässlich werden. Over.", damit endet Hanakos Ansprache und sie tritt aus dem Licht zurück.   "Aber warum in aller Welt sollten wir das tun? Warum sollten wir nach jemandem suchen, der von allein verschwinden wollte? Hat er nicht selbst von sich behauptet, nichts anderes verdient zu haben? Dass Chika durch seine Anwesenheit nur verletzt wir- Aaaaahhh! Au- Ich bin doch nur-... Ehrlich-", auf einmal wird dieser Asahina, richtig war meine Hypothese, Mann, bin ich ein Genie, von Chika verprügelt.   "Chika, nicht! Das löst doch absolut keine Probleme, auch wenn Asahina-kun noch so ein ehrenloses Arschloch ist, nein!", Hanako versucht, die beiden auseinanderzubringen, ich stürme mit und entreiße Asahina Chika, doch diese ist stärker als sie aussieht, denn teils trifft sie auch mich mit Händen und Füßen.   "Nein! Lass mich los, Onii-sama! Ich muss ihn bekämpfen! Er ist abgrundtief böse und verdient es!", keift sie, doch ich drücke meine wegziehenden Arme noch enger um ihren entzürnten Körper.   "Nein, musst du nicht, Gewalt ist keine Lösung, Chika!", fahre ich sie an und lande plötzlich mit ihr auf dem harten Asphalt. Chika ist gestürzt.   "Chika? Chika!", jetzt werde ich erneut von Angst durchgeschüttelt und sehe mich nach Chika um.   "O-onii-sama, mein.... mein Herz! Es.... es hat auf-, nein es... es brennt! Onii-sama, ich glaube, ich sterbe! Bitte, ich-", auf einmal sagt sie nichts mehr.   "Planänderung, wir müssen sofort ins Krankenhaus!", höre ich mich durch die Menge rufen. "Chi-chikas Herz... Ich glaube, es funktioniert nicht mehr!" Kapitel 94: Vol. 4 - Falscher Alarm? ------------------------------------ Ein paar Leute, die sich, wie ich wieder schlussfolgerte, wohl die Gang sein müssen, helfen mir, Chika ins Krankenhaus zu bringen. Ich realisiere es selbst nicht ganz, dabei bin ich es, der sie auf dem Rücken trägt. Im Krankenhaus angekommen, ist Chika zwar nach wie vor fast ohnmächtig, jedoch sagt der Arzt nichts weiter als: "Es war nur ein Herzinfarkt.". "Hahahahaha, hört ihr das? Der sagt "nur"! Och Gott, ist das witzig! Im Ernst, wie können sie das nur so runterspielen?!", keife ich. "Es endete nicht tödlich. Daher sehe ich keinen Grund, subtil zu sein. Dennoch sollte sie heute nach zur Beobachtung bleiben, es scheint ernst zu sein.", "Ach, und das erklärt natürlich alles!", bemerke ich giftig und wir verlassen den Raum, um weiter zu planen. Im Flur angekommen, murmelt der Kleinste von der Truppe, ein blonder Junge mit Krücken und ziemlich übel zugerichtet: "Was eine Kacksituation...", "Kannst du lautsagen, Kleiner, verdammt, was machen wir jetzt?!", bestätige ich Nach allen Treffen bei Elvis und mir zu Hause, weiß ich immer noch nicht, wie er heißt. "Sag mal, wieso bist du eigentlich hier, Kyokei-chans Bruder?", fragt er mich auf einmal. "Hanako.", antworte ich nur und das mit den Namen beruht wohl auf Gegenseitigkeit. Bei manchen traut man sich einfach nicht, sie mit Namen anzusprechen. "Das scheint dich ziemlich zu treffen, was, Kyokei-sans Bruder?", meint der Größte von ihnen, der mit den langen Haaren und der Brille. "Wem sagst du das... Wir müssen ihn einfach finden, unsere Mutter ist schon heftig am Durchdrehen und ich so langsam auch, verdammt, wir können uns doch nicht nur auf die Cops verlassen, die verschrecken ihn doch bloß...", knurre ich. "Das ist alles nur deine Schuld.", höre ich Hanako, die die ganze Zeit neben mir stand, flüstern und den Albino attackieren. "Nur weil du so triebgesteuert und egoistisch warst, ist Elvis abgehauen! Er könnte schon längst tot sein, ist dir das klar?! Es ist alles auf deinem Mist gewachsen und du zeigst null Empathie, das... kotzt mich dermaßen an!", schreit sie, als die beiden sich einen Schlagabtausch liefern. Der Albino namens Akira versucht ebenfalls, sie zu treffen, doch wird dabei versucht von der Brillenschlange aufgehalten, diese aber dann doch nichts ausrichtet, weil der weißhaarige Brudervögler einfach zu schnell und stark ist. Dessen Nase blutet, Hanakos Haare völlig durcheinander. Doch ich bin starr wie Eis. Was mache ich da nur? Klar bin ich sauer, aber... ist das denn richtig, zuzuschlagen? "Ich habe so dermaßen die Nase voll von dir, Egaoshita-kun! Du bist so oberflächlich, dass ich kotzen muss! Deinetwegen leidet Elvis und es ist dir komplett egal! Wenn du dich nicht freiwillig entschuldigst, dann verkloppe ich dich so lange, bis du nicht mehr anders-", sie beendet ihren Satz nicht, ehe sie dem Typen, wie er es verdient einen Tritt zwischen die Beine versetzen kann, ramme ich gekonnt mit voller Wucht meine Faust in ihren Bauch. Fassungslos und mit schmerzerfülltem doch zugleich leerem Gesichtsausdruck, landet sie bewusstlos auf dem Boden. "W-warum hast du mich gerettet, Taiyo? Ich dachte, du hasst mich!", reagiert der Albino, der an allem schuld ist. "Ich hasse dich. Ziemlich sogar, meinetwegen kannst dich verpissen, aber ich habe es nicht für dich getan, sondern für Hanako. Ich lasse nicht zu, dass sie sich deswegen erneut wegen Gewalt hasst. Das erträgt sie nicht.", erkläre ich, hebe ihren zierlichen, ohnmächtigen Leib auf und verlasse das Krankenhaus. "Ich werde sie bitten, Albino, Brillenschlange, Blondie und Pferdeschwanz morgen wieder zu versammeln. Für heute ist Feierabend.", finde ich und will gerade gehen, als mich Pferdeschwanz, die ich nun zum ersten Mal höre, aufhält. "Hey! Du! Bruder von Kyo-kun! Was fällt dir ein, mich Pferdeschwanz zu nennen, huh?!", stellt sie mich zur Rede und löst diesen. "Ich heiße Uchihara. Dass mein Vater an jenem Wochenende an dem Kyo-kun auch da war, ins Gefängnis kam und dort starb, hält mich nicht davon ab, dich zu korrigieren! Wir verfolgen alle dasselbe Ziel, wir sind Kameraden, ob wir wollen oder nicht! Sei gefälligst nicht so forsch zu uns, auch wenn es um deinen Bruder geht!", ruft sie. Erst bin ich ziemlich verdutzt, ehe ich spüre, wie ich grinse. "Uchihara, was? Vielen Dank, das hätte ich beinahe vergessen. Kameraden. Von mir aus, aber Albino kann ich dennoch nicht ausstehen.", meine ich und verschwinde. Ich habe mich und die ohnmächtige Hanako auf eine Parkbank vor dem Krankenhaus gesetzt. Sie liegt nun auf meinem Schoß, mit den Händen schlaff runterhängend und den Kopf an mir angelehnt. Langsam kommt sie wieder zu sich. "Wieso hast du das getan?", fragt sie fast unhörbar leise. Ausnahmsweise ist sie mal nicht laut oder böse, weil ich etwas getan habe, das ihr nicht passt. "Ich musste dich aufhalten, Hanako. Du hast schon so viele Menschen krankenhausreif geprügelt und dich dafür gehasst. Selbst, wenn ich Albino auch mal schlagen wollte, ich kenne dich doch. Das hätte ich nicht zulassen dürfen, hörst du? Ich will nicht, dass du dich hasst. Nicht wie ich. Und nicht wie du früher.", erkläre ich erstickt, weil es mir furchtbar leidtut, meine Freundin geschlagen zu haben, die trotz ihrer Vergangenheit doch physisch viel schwächer ist als ich. Wow, Taiyo, du kannst echt gar nicht mit Frauen. Als ich das sage, drücke ich sie fester an mich, nicht nur, weil es kalt ist. Es tut mir leid. "Tut mir leid, dass ich so mies zu euch war, gerade eben.", flüstere ich und parke mein Kinn auf ihrem Kopf. "Es ist okay, wie Kazukawa-kun sagte, du leidest von uns allen praktisch am allermeisten. Ich verzeihe dir, ich hätte nicht handgreiflich werden dürfen, es... es ist nur so, dass... wenn ich zu wütend werde... wenn ich zu wütend werde, kann ich mich nicht kontrollieren.", meint sie und schluchzt. "Du wirst es lernen, ich verspreche es dir.", sage ich und umarme sie fester. "Hey.", haucht sie. "Ja?", antworte ich. "Ist es in Ordnung, wenn wir heute bei dir in der alten Wohnung übernachten? Ich will nicht allein sein in meinem Zimmer, jetzt, wo Chika im Krankenhaus ist. Bitte verlass mich nicht.", fleht sie hautnah und ich spüre fast, dass sie den Part mit dem Verlassen nicht nur auf meine Anwesenheit bezieht. "Also gut.", erlaube ich es, doch ehe es soweit kommt, blieben wir noch eine Weile so in der tiefen Winternacht im Park. Ich habe noch im Hinterkopf, dass Mama mich noch anruft und mich fragt, wo um alles in der Welt ich nur bleibe. Doch an diesem Abend ruft keiner an. Kapitel 95: Vol. 4 - Die Distanz der Liebenden ---------------------------------------------- Als Hanako, wie ich merkte, als ihr Atem langsamer wurde, auf mir eingeschlafen ist, muss ich sie vorsichtig wieder wecken. "Du kannst später bei mir pennen.", sage ich leise, als sie etwas unbeholfen wieder von mir abrückt. "Wie spät ist es?", will sie, sich die Augen reibend, wissen. Ich schaue auf die Parkuhr vor uns. Heilige Scheiße, es ist fast halb Mitternacht! "Ziemlich spät.", antworte ich knapp. Sie nickt nur. "Wer sich vorher angerufen hat, Taiyo, sag, ist das denn jetzt gar nicht mehr wichtig? Du klangst ziemlich gestresst. Ist es vielleicht deine Mutter gewesen?", fragt sie vorsichtig. "Hundert Punkte.", bestätige ich und merke, wie die Müdigkeit mich langsam selbst übermannt. Sie weiß, dass meine richtige Mutter schon lange verstorben ist, es macht mir nichts aus, ihr das gesagt zu haben. "Das muss schrecklich für sie sein. Elvis verschwunden und du hier bei mir. Auch noch in ihrem Zustand. Wie egoistisch von mir.", murmelt sie und senkt den Blick zu Boden. "Das ist doch nicht wahr. Das ist nicht egoistisch, wenn es schlussendlich doch für Elvis ist, nur deshalb sind wir beiden noch hier. Nur deshalb will ich in dieser Stadt bleiben und heute nicht nach Hause gehen. Du willst ihn doch auch so schnell wie möglich finden, oder, Hanako?", muntere ich sie auf. Sie sieht mich wieder an, noch immer müde, aber nicht traurig. "Da könntest du durchaus Recht haben." Zu Hause angekommen, zu meiner eigenen Überraschung steht da noch Elvis und mein Nachname und die Wohnung gehört noch uns, bin ich fast zu müde, um die Tür zu öffnen. Ich habe den Schlüssel dabei, stürme hinein und mache fast schon in derselben Sekunde das Licht an. Ich habe Angst im Dunkeln. Zumindest, wenn ich allein bin. Aber weil ich weiß, dass Hanako da ist, ertrage ich es. "Kann es sein, dass dir die dunkle Wohnung Angst macht, Taiyo?", stimmt, sie war tatsächlich nicht einmal mit mir allein hier. Normalerweise treffen wir uns auch draußen oder bei ihr zu Hause, weil es dort heller ist. Aber jetzt... "Waaaaaas? Ich doch ni-, wem mach ich was vor, ja, ja verdammt, das ist scheißgruselig. Aber ich bin ja nicht alleine hier...", bin ich in der letzten SEkunde doch noch ehrlich. Wir grinsen. In dem Moment klingelt mein Handy und dudelt das Opening von Pretty Cure Stars. Ja, total männlich, ich weiß, aber dieses Lied ist eben ein verdammter Ohrwurm. "Pretty Cure Stars?", bemerkt Hanako und unterdrückt einen Lacher. "Pretty Cure Stars.", bestätige ich ganz selbstbewusst, auch wenn ich spüre, wie rot ich werde. 'Pretty Cure Ah! Pretty Cure Ah! Pretty Cure Ah! Pretty Cure Ah! Jetzt sind wir hier, Mädchen wie wir! Keine Gefahr! Denn wir sind daaaa-', okay, vielleicht sollte ich aufhören, in Gedanken mitzusingen und beim Blond des US-Präsidenten endlich rangehen. "Ja?", "Mir scheint, als wirst du nicht zurückkehren heute Nacht. Elvis genauso.", höre ich Mama leise, fast schon emotionslos sagen. "Setsuna, was sagen sie?", ruft mein Vater um Hintergrund. "Ich finde es gleich raus! Die Vermisstenanzeige ist scheinbar schon aufgegeben worden!", antwortet sie. "Taiyo, hast du nicht zwei Stunden gesagt? Wo bist du, Kind?", fragt sie, wieder ruhig. "Bei der alten Wohnung, noch wurden wir nicht rausgeschmissen.", "Und ist noch wer da? Freunde von Elvis? Deine Freunde? Sag schon, ich will es wissen.", "Hanako ist hier, soll ich sie dir geben?", "Nicht nötig in diesem Moment, du kommst also nicht heim, ja? Und morgen? Es reicht, wenn einer meiner Söhne verschwindet, der andere nicht auch noch.", "Elvis lebt noch.", unterbreche ich ihren Redeschwall. Wie ich mir da so sicher sein kann, ist mir selber nicht klar. "Und woher willst du das nun wissen? Du weißt genauso gut wie ich, wie schnell er in Lebensgefahr gerät. Vielleicht ist er tödlich verwundet. Woher nimmst du dir bloß diese Sicherheit?!", sie weint fast. "Ich spüre es. Er liegt irgendwo in dieser Stadt, lebend, nur weiß ich nicht, bis zu welchem Grad er unverletzt ist. Auch wenn er nur mein Stiefbruder sein sollte, ich weiß, dass noch lebt, ich weiß es einfach. Bitte, Mum. Mach dir für heute Nacht wenigstens keine Sorgen um Elvis und mich. Das ist ja nicht nur für das Kind nicht gut.", wow, kann ich gut improvisieren, wenn es darum geht, Menschen zu beruhigen! "Alle schieben es darauf...", flüstert sie, ehe sie ergänzt. "Ich werde es versuchen. Ich komme, wenn es sein muss auch morgen nochmal vorbei, um zu helfen.", jetzt legt sie echt auf. "Ich bin hier.", flüstert Hanako, anscheinend für sich selbst. "Lass uns reingehen.", schlage ich vor und wir ziehen rasch unsere Schuhe aus. Niemand verliert ein Wort über meine Mutter oder Elvis. "T-tut mir leid, dass das Bett nicht besonders groß ist...", entschuldige ich mich, als wir mein Zimmer betreten. "Kein Problem... echt nicht...", spielt sie es runter und im Begriff, mein Zimmer zu verlassen, dreht sie sich noch um, als sie fragt: "Kann ich wieder etwas von dir leihen?", "Immer doch!", bejahe ich und werfe ihr aus meinem Schrank einen Naruto-Hoodie und eine einfache graue Jogginghose entgegen, die sie mit dem Kopf auffängt. Dann geht sie und ich mache mich daran, mich selbst umzuziehen. Als sie wieder reinkommt, sieht sie, wie letztes Mal auch, als sie meine Sachen anhatte unglaublich süß aus. Eine Weile starren wir uns bloß an, ehe ich die Stille im mondbelichteten Raum breche. "Dann lass uns jetzt mal... schlafen gehen.", wieder nickt sie bloß. Als wir in mein Bett steigen, stolpern wir fast übereinander. Wow. Als wir uns dann doch auf eine Formation, sie innen, ich außen, geeinigt haben, sehen wir einander wieder bloß an. "Chikas Fieber ist nicht besser geworden. Es ist noch so viel. Dass Elvis nicht da ist, scheint ihr noch zusätzlich zuzusetzen, die Arme.", flüstert sie und ihre Augen strahlen trotz ihrer Trauer im Mondlicht, ihre Silhouette ist fast richtig deutlich. Jetzt erst fällt mir auf, dass Hanako nicht mehr Senpai zu ihr sagt. Ist das eine Bewältigungstaktik? Nun ja, ist ja auch egal. "So ist das also...", mehr kann ich nicht sagen, auch wenn ich mir natürlich genauso viele Sorgen um sie mache. Schließlich hatte sie einen Herzinfarkt. Und gleisend hohes Fieber. Das arme Ding. Sie rückt näher an mich ran, ihre Haare kitzeln mein Schlüsselbein. "Aber zum Glück bist du da... geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt man... ich glaube, ich begreife jetzt erst so richtig, was das bedeutet.", überlegt sie und ich höre ihren Herzschlag weiter unter mir, weil sie so klein ist. Wahrscheinlich kann auch sie meinen hören. Ich drücke sie fast schon übervorsichtig an mein Herz. "Ich glaube, ich auch.", flüstere ich. Unsere Beine sind verkreuzt und unsere Herzen schlagen nebeneinander. Sie ist mir so nah wie lange nicht mehr. Wie ich das vermisst habe. Wie es Chika wohl geht im Krankenhaus? Ihr Herz ist nicht so gesund wie die unseren. Und sie ist ganz allein. Selbst ohne ein krankes Herz kann ich mich hineinversetzen. Die Distanz zu Elvis macht sie bestimmt fertig. Elvis, wo zur Hölle steckst du? Ich bin doch der Feige von uns. Selbst wenn es dir noch so schlecht geht, wir waren doch immer zusammen. Wir haben zwar unterschiedliche Dinge erlebt, aber denselben Schmerz geteilt. Das habe ich immer geglaubt. Trotzdem erlaube ich dir auf keinen Fall, einfach aus der Welt zu verschwinden, wie du es damals versucht hast. Selbst, wenn ich es mit dieser ganzen Welt aufnehmen müsste, ich werde dich finden. Ich erlaube Menschen, die mir wichtig sind, nicht, sich einfach so aus der Affäre zu ziehen. Kapitel 96: Vol. 4 - Teamwork, Patchwork, alles arbeitet zusammen. ------------------------------------------------------------------ Als ich aufwache, schläft Hanako noch. Und als mir wieder einfällt, wieso ich wieder in der alten Wohnung bin und Hanako in meinem Bett liegt, seufze ich. Wir stecken wirklich bis zum Hals in der Scheiße und mein Bruder eventuell in Lebensgefahr. Er könnte verdammt noch mal tot sein. Tot. Dieses Wort hallt viel zu laut in meinen Gedanken wider. Elvis könnte sterben. Er ist vielleicht bereits gestorben. Bei dem Bild in meinem Kopf, wie Elvis reglos und blutverschmiert vor meinen Füßen liegt, krampft sich mein Herz zusammen. Es tut so verdammt weh, zu wissen, dass die Chance besteht, dass ich ihn niemals wiedersehen könnte. Dass alles umsonst ist. Und ich absolut machtlos war. Daran will ich nicht denken. Bei meinem inneren Schmerz knirsche ich mit den Zähnen und richte mich auf. Der eventuelle Tod des eigenen Bruders ist ja wirklich eine schöne Vorahnung, um einen noch jungfräulichen Tag zu beginnen. Fick die Henne. Ich stehe vorsichtig und darauf achtend, keinen Lärm zu machen, auf und stehle mich mit meinen Anziehsachen aus dem Zimmer, um zu duschen. Während ich das mache, denke ich wieder viel zu viel nach. Wie ist es nur dazu gekommen? Warum der Albino? Weshalb ist Blondie so verletzt? Und überhaupt, ist Elvis denn wirklich zu hundert Prozent an allem schuld? Das glaube ich einfach nicht. Ich kenne ihn doch. Elvis ist ziemlich desinteressiert anderen Menschen gegenüber, zumindest war er anfangst so. Er war sarkastisch, herablassend und konnte ein ganz schön auf sich selbst fokusierter Arsch sein. Aber er war kein schlechter Mensch. Elvis ist nicht wirklich so herzlos wie er manchmal tut. Er ist auch nicht wirklich egoistisch. Tief im Innern wollte er nie jemandem nachhaltig schaden. Das weiß ich einfach. Er ist immer noch ein Mensch. Der einzige Bruder, den ich habe. Ich muss ihm einfach helfen. "Hoffentlich stirbt er nicht schon wieder fast...", flüstere ich und drehe das kalte Wasser ab. Ich trockne mich also ab, putze meine Zähne, ziehe mich an und versuche dabei, wegen meiner durchlöcherten Schulter nicht die Nachbarschaft zusammenzuschreien. Du willst überhaupt nicht wissen, wie schwer es ist, sich mit einer Schusswunde vernünftig abzutrocknen, geschweige denn anzuziehen. Und sich als Rechtshänder die Zähne mit links zu putzen, weil man es nicht gebacken bekommt, seinen Arm vernünftig zu benutzen, ist nicht witzig. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen, meine Laune nicht in den Keller stürzen zu lassen. Ich muss unbedingt Hide und Yuki davon erzählen. Die beiden hätte ich auch gerne in meinem Suchtrupp. Meine Eltern kommen wahrscheinlich auch, das hat Mama ja schon so prophezeit. Die Gruppe aus Elvis' Klasse wird vermutlich auch noch dazustoßen und dann wären wir mehr als genug Leute, um diesen gefährlich lebenden Depp von Bruder zu finden. Ich kann mich an besten von meinen Sorgen ablenken, wenn ich mich über ihn lustig mache... Hach, Elvis...! In dem Moment kommt Hanako aus dem Zimmer und sieht mich verschlafen an. "Gut geschlafen?", will ich am Tisch sitzend wissen. "So gut, wie man schlafen kann, wenn einer der besten Freunde vermisst wird.", antwortet sie forsch und schaut betrübt drein. Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch im Schlaf an nichts anderes denken können. Aus Elvis möglicher Sicht wurden mir die ganze Zeit im Tokyo Ghoul-Style die Zehen abgetrennt, nur, damit ich dann im radioaktiven Pool ertränkt werden konnte. Frag mich nicht, wie ich bei dem Horror, den ich geträumt habe, nicht ein einziges Mal schweißgebadet aufgewacht bin. "Hab Frühstück gemacht.", merke ich an und nehme noch einen Löffel. Ich brauche ja nicht extra zu erwähnen, dass das Star Wars-Müsli, das ich gerade esse, in drei Tagen abläuft. Hanako sieht das Müsli an und lächelt leicht. Dann setzt sie sich neben mich und wir essen schweigend weiter. "Hast du denen gesagt, dass sie so früh kommen sollen, Hanako?", frage ich. Sie schüttelt den Kopf. "Ich habe ja nichts sagen können, weil ein gewisser Jemand mich ja unbedingt bewusstlos schlagen musste...", brummt sie und funkelt mich böse an. Anscheinend ist sie doch sauer deswegen. "Es... tut mir immer noch leid.", entschuldige ich mich abermals. Sie wechselt wieder die Mimik und spricht weiter. "Aber was tun wir jetzt? Selbst, wenn es uns gelingt, genug Leute zusammenzutrommeln, wo fangen wir an?", wechselt sie das Thema gleichermaßen. "Das sehen wir dann. Mehr geht leider nicht und es gibt nichts, das mich mehr frustriert.", antworte ich und daraufhin wird unsere Klingel geschändet. Ich brumme genervt und wir beide machen uns auf den Weg, zu schauen, wer zu so einer Uhrzeit bei uns aufkreuzt. In Zeiten wie diesen ist so etwas wie zur Schule zu gehen wohl eher nebensächlich. Auch die Uni ist da keine Ausnahme. Es ist egal, dass beides in etwa einer Stunde beginnt. Ich taufe diesen Tag offiziell zum zertifizierten Schwänztag. Und der erste Schwänzer steht gleich hier direkt vor meiner Nase. Vor mir steht der Albino, mit ziemlich tiefen Augenringen und dem seelenlosesten Blick, den ich seit Elvis vor drei Jahren je gesehen habe. Er sieht aus wie ein Zombie und nichtsdestotrotz entfacht er meinen Zorn durch seine pure Präsens einfach so stark, dass ich nicht anders kann, als ihn am Kragen zu packen und anzuschreien. "Du... Deinetwegen ist er weg! Das ist alles deine Schuld! Hanako habe ich gestern vielleicht davon abgehalten, dich zeugungsunfähig zu machen, aber diesmal erledige ich die Drecksarbeit selber!", keife ich und er kassiert die erste Faust, als ich ihn ins Haus ziehe und wir kämpfend auf dem Boden landen. Hanako ist erstmal schockiert, als sie sagt: "Nein, hört auf, ihr beiden, das bringt hier doch niemanden weiter! Lasst das!", doch ich kann nicht damit hören. Ich bin viel zu sauer auf diesen Kerl! "Was zur Hölle willst du eigentlich, Mann?! Sehe ich so aus, als hätte ich ihn im meinem gottverdammten Keller versteckt?! Nein, und jetzt geh endlich runter von mir, du!", schreit er zurück und nun bekomme ich seine Faust zu spüren. "Jetzt spiel nicht den Unschuldigen! Wer hat sich überhaupt hier gewesen und ist Elvis an die Wäsche gegangen, huh?! Das warst du! Und wer ist anschließend einfach abgehauen und hat ihn vollends verstört und voller Schuldgefühle wie ein psychisches Wrack allein gelassen?! Du! Niemand Geringeres als du warst es auch noch, der mit ihm auch noch auf einen scheiß Zug gesprungen ist und ihn fast umgebracht hätte! Du bist krank, Mann! Was weißt du denn schon über Elvis?!", rufe ich, schlage mein Knie in seinen Bauch. In der nächsten Sekunde beißt er mir mit aller Kraft in die Hand. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass die ganze Prozedur mit meiner Schussverletzung noch mehr wehtut, oder? Aber Wut betäubt die Schmerzen, die mich eigentlich davon abhalten sollen, ihn zu schlagen. "Das geht dich ja wohl einen Feuchten was an, du Pisser mit Bruderkomplex! Hast du eigentlich selbst noch ein Leben?! Ich bin zwar nicht oft da, aber du regst mich einfach verdammt noch mal auf mit deiner Anwesenheit! Du glaubst wirklich, du weißt alles besser, nur weil ihr unter einem Dach lebt und kein Mensch weiß, wieso. Du siehst ihm ja nicht mal ähnlich, wer zur Hölle bist du überhaupt?! Macht es so einen Spaß, sich so billig als besser zu verkaufen?! Du bist echt-!", brüllt der, doch ehe er weitersprechen kann, trete ich ihm volle Kanne in die Eier. Schon wieder beißt er mich. Gott, ist das unfair, in einer Prügelei wird nicht gebissen, das weiß doch echt jeder! "Jetzt reicht es echt!", schreit auf einmal Hanako und wir beide bleiben in unserer Bewegung hängen. "Mann, während ihr euch hier gegenseitig die Scheiße aus dem Leib prügelt, könnte Elvis in derselben verschwendeten Zeit weiß Gott was passiert sein! Reißt euch endlich zusammen vertragt euch wenigstens für die Zeit, in der wir ein Suchtrupp sind! Nicht für euch, sondern für Elvis, aber hört verdammt noch mal auf und regelt das wie Erwachsene!", und dann bleibt uns nicht mehr, als einander loszulassen. Ich geh verächtlich von ihm runter uns sage: "Fein. Aber glaub ja nicht, dass ich dich deswegen weniger hassen würde, Albino.", zische ich und versuche wirklich, Hanakos Bitte zu erfüllen. "Als ob ich das von mir behaupten könnte. Bruderkomplex.", gibt er zurück und wir sehen voneinander weg. "Dann werde ich jetzt den Rest der Clique anrufen und sie herbestellen.", meint Hanako. "Taiyo, du kannst deine Eltern und noch andere anrufen, wir brauchen jeden, den wir haben können!", ordnet sie an. "Verstanden.", meine ich und verziehe mich in mein Zimmer. Das kann ja heiter werden. Wenig später haben sich praktisch alle in der Stadt, die Elvis und ich freundschaftlich kennen, im Wohnzimmer versammelt. Die ganze Klasse 3-6, in die Elvis geht, inklusive die Freunde von gestern. Meine komplette Uniklasse, inklusive Hide und Yuki, die jetzt wohl doch wieder zusammen sind. Meine Eltern und sogar der Vermieter der Wohnung, mit dem ich mich doch letztens so gestritten habe. Den habe ich noch nicht einmal eingeladen, was der hier will, weiß ich nicht. Wow, das hier ist wirklich ein Schwänztag, wie er im Buche steht. Auf alle Fälle ist es so rappelvoll, dass sogar die Küche gefüllt ist, und man pro Person gefühlt nicht mehr als zwei Quadratmeter zur Verfügung hat. Ich will gar nicht wissen, wie sich das für meine Mutter anfühlen muss. Diese sitzt mit meinem Vater auf der Couch und versucht so zu tun, als wären hier nicht fast achtzig Menschen in einem normalgroßen Wohnzimmer drin. Macht es mich zu einem schlechten Bruder, meine Mutter und damit das ungeborene Geschwisterkind so zu misshandeln? Kein Plan. Na ja, einmal ist keinmal, aus Ausgleich bin ich die nächsten Monate einfach ein bisschen weniger unmöglich. Und jetzt bin ich hier, mit Hanako eingequetscht in der Küche und versuche nachzudenken, wie es jetzt wohl weitergehen soll. "Sag mal, wie hast du Superhirn dir das denn gedacht, wie das funktionieren soll? Hier bekommt ja richtig Platzangst!", findet Hanako und klammert sich an mich. "Mensch, also, was das Planen angeht, bist du leider echt hundsmiserabel, so leid es mir tut!", ich glaube, sie hat wirklich etwas Platzangst und deshalb denke ich nach. Dann fällt mir in Windeseile doch noch etwas ein. Der Park, aber natürlich! Dort wird mehr als genug Platz frei sein! Ich muss ich zaghaft aus Hanakos Griff befreien und auf den Tresen in der Küche klettern, um eine Durchsage zu machen. "Wir gehen jetzt alle in den Park und planen dann weiter! Wie ihr unschwer erkennen könnt, ist es hier nämlich viel zu eng!", rufe ich durch die Menge, deren Blicke alle auf mir lasten. Die Tatsache, dass ich jedermanns Aufmerksamkeit habe und alles bis auf den Platzmangel so reibungslos verläuft, freut mich. Halte durch, Bruderherz, ich rette dich! Und nein, ich habe keinen Bruderkomplex! Der Plan sieht folgendermaßen aus: Die eine Hälfte der Studenten, der auch ich, zusammen mit Hide und Yuki angehöre, sucht in allen möglichen Winkeln des Westens ab, die andere im Süden. Die ersten fünfzehn Oberschüler der 3-6 suchen den Nachbarbezirk ab, enthalten sind der Albino, Brillenschlange, Pferdeschwa-, ähm, Uchihara und der kleine verletzte Blondie, die anderen dreizehn sehen sich in der unseren Stadtmitte um. Meine Eltern, der Vermieter, und jetzt auch unsere Großeltern, wie ich erst nach der überfüllten Versammlung gesehen habe, wahrscheinlich haben meine Eltern sie angerufen, sowie der Rest der Nachbarschaft, der sich einfach so mit eingegliedert hat, ist frei zu entscheiden, weil mir mehr nicht eingefallen ist. Ich meine, bei all dem Stress kann ich mir ja unmöglich alle toten Winkel dieser Stadt merken, in denen Elvis möglicherweise gefangen gehalten werden könnte und außerdem bin ich ja nicht der Hauptcharakter, ich kann keine Pläne episch erklären... Als meine Gruppe gerade fleißig am Durchforsten von gemeingefährlichen Stützpunkten für Bösewichte ist, finden Hide und ich uns wieder zusammen. Yuki scheint gerade aufs Klo gegangen zu sein und kommt später nach. Irgendwas sagt mir, dass sie uns schlussendlich doch nicht mehr einholen können wird. "So, du und Yuki seid also... wieder zusammen?", frage ich unnötigerweise, um die Stimmung zu lockern. "Scheint so, irgendwie hat es wieder gefunkt zwischen uns.", antwortet er und versucht, mit der verteilten Gruppe, welche teils hier und dort auch mal guckt und nachfragt, Schritt zu halten. Irgendwann werden sie nämlich alle woanders suchen und dann könnten wir sie verlieren. "Hat wohl ziemlich oft gefunkt, schätze ich.", überlege ich laut und denke an die vielen Male, in denen die beiden sich dann doch wieder getrennt haben. Irgendwie hat es am Ende nie wirklich dauerhaft gehalten. "Kannst du lautsagen, Mann...", gibt er zu. "Manchmal habe ich wirklich Angst, dass wir bei einer weiteren Trennung noch nicht einmal mehr Freunde bleiben können, so, wie wir drei sonst immer rumhängen.", seufzt er und hat wieder diesen Blick aufgesetzt. Der so nachdenklich und melancholisch ist. "Da verstehe ich dich, Mann. Ihr wart ja schon so oft zusammen und dann wieder auseinander, da kann ich mir das vorstellen...", gebe ich meinen Senf dazu ab. "Sag mal, wie läuft es eigentlich bei dir, Kyo? Hast du denn jetzt eine?", will er wissen und sieht mich an. "Jep.", sage ich nur, als wäre es keine große Sache. Aber das ist es wohl. Schließlich war ich vor noch nicht allzu vielen Jahren ziemlich fett und hatte dementsprechend auch keine Freundin abgekriegt. Hide war es, dem ich letztendlich verdanken kann, abgenommen zu haben. "Eeeecht? Wer denn? Sag schon, sag schon!", drängt er mich und boxt mir neckisch in die Seite. "Die Lolita von vorhin.", sage ich so lässig wie es geht. Sie haben Hanako gesehen, nachdem sie sich umgezogen und ihre gewohnten Lolita-Klamotten anhatte. "Waaas? Krass, Mann. Aber ist die Kleine nicht ein bisschen jung?", "'Die Kleine' ist siebzehn.", "Ui, stehst wohl auf Lolis, was?", jetzt ist Hide tatsächlich wieder besserer Laune als vorhin, als er über die heikle Beziehung zu Yuki sprach. "Ach, hakt die Schnauze!", kichere ich und boxe zurück. Zumindest jetzt konnte ich für ein paar Minuten vergessen, weshalb wir alle eigentlich hier sind. Elvis. Das ist alles. Nur deshalb kann ich mit Hide hier beim Suchen und Rumfragen so ausgelassen sein. Und auch nur, weil er hier ist. Aber der Grund ist gar nicht so lustig, wie wir beide gerade drauf sind. Ich hoffe wirklich, es geht ihm gut. Ich ertrage es nicht, ihn noch einmal in diesem halbtoten schwerverletzten Zustand zu sehen. Das kann ich einfach nicht. Kapitel 97: Vol. 4 - In den Fängen der Langeweile ------------------------------------------------- Chika: Im Krankenhaus ist es langweilig. Deshalb bin ich ausgebrochen. Ob ich vollkommen bescheuert bin, fragst du dich? Von mir aus, dann bin ich es eben. Doch ich habe es seit gestern nicht ausgehalten. Ellie... Wenn er wie vom Erdboden verschluckt ist, kann ich doch nicht einfach im Krankenbett chillen und mir die Seele baumeln lassen, das kann man doch nicht allen Ernstes von mir erwarten! Ich schaue krame in meiner Jackentasche mein Handy hervor und checke die Uhrzeit. Es ist fast zwei Uhr am Nachmittag. Ellie. Die Sehnsucht macht mich krank. Und dann bin ich zu allen Überfluss noch an allem schuld. Letztendlich bin ich doch ausgetickt und habe ihn geschlagen. Das war gemein von mir. Er ist das wahre Opfer, nicht ich. Herzmuskelschwäche am Arsch, ich muss ihn finden! Selbst, wenn ich dabei draufgehe, dann wird mein Opfer nicht umsonst sein. Verdammt, ich habe diese scharfe Eingebung, die mir einfach sagt, dass ich mich auf die Suche machen muss. Er ist hier in dieser Stadt. Ich spüre es. In meinem funktionsunfähigen Herzen hat er trotz allem allen Platz der Welt. Ich muss ihn retten und mich vernünftig entschuldigen. Ich muss einfach, denn sonst... ist es womöglich schon zu spät. Ich weiß nicht, wann meine Tage gezählt sind. Ich will leben. Selbst, wenn ich mein ganzes Leben lang nur an der Seite von unzähligen Medikamenten und Pillen weiterexistieren kann. Wenn das heißt, dass er und ich noch etwas zeit zusammen haben, ehe ich die größte Reise, die ein Mensch antreten kann, antrete. Ich verirre mich in den Park. Es schaut aus, als wären hier vorher Leute gewesen, viele Leute, denn die Spuren ihrer Schuhsohlen sind noch frisch, das sehe ich. Da liegt ein Schild. "Helft suchen. Wir sind schneller als die Cops. Helft suchen.", lese ich laut und auf einmal fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die suchen nach Ellie. Als ich gerade mit dem Schild in der Hand, wohin auch immer, losstürmen will, renne ich beinahe Akane-sama um den Haufen. Ob sie zu spät kommt? "E-es tut mir-... Chika… -san?", offenbar war sie gestern nicht in der Schicht, als ich eingeliefert wurde. Ich hoffe, sie verpfeift mich nicht. "Akane-sama, also es...", "Chika-san, also... hast du vielleicht eine Ahnung, wo... wo Elvis-chan stecken könnte?! Ich bin Mitglied in Taiyo-chans Suchtrupp und ich... wir müssen ihn finden, bevor etwas Furchtbares passiert!", keucht sie völlig außer Atem. Sie war also wirklich nicht da. "Ich weiß nicht, Aber Akane-sama, du... hast du schon in der Karaokebar nachgesehen? Vielleicht hat er sich dort in der Nähe aufgehalten, da sind wir so gern.", versuche ich, noch mehr von mir abzulenken, auch wenn ich weiß, wie lausig und hundsmiserabel ich mich anstelle. Welcher Intelligenzallergiker entführt jemanden in eine Karaokebar, um bösartige Pläne in die Tat umzusetzen?! Das ist ja wohl zum scheitern verurteilt, Mensch! "Verstehe. Erika-san, ich brauche dich! Wo zur Hölle bist du?!", denkt sie laut. Ehe ich noch etwas sagen oder gestehen kann, dass das eine saublöde Idee ist, dort zu suchen, weil man eh nicht fündig wird, ist sie auch schon weg. Ich seufze. Was kann ich bloß tun? Ich beschließe, mir mit dem wenigen Geld, dass ich in meiner Handyhülle immer für den Notfall aufbewahre, ein Brot zu kaufen und noch etwas spazieren zu gehen, ehe ich zurück ins Krankenhaus flüchte oder sie merken, dass ich nicht da bin. Vielleicht kaufe ich noch etwas anderes. Ich gehe in einen japanischen Süßigkeiten-Laden und entscheide mich dann noch für eine Tüte Manjus. Als ich etwas weiter in Richtung Stadtmitte laufe, sehe ich an der Leinwand weitere Nachrichten über die Woche und wieder einmal bekomme ich es mit der Angst zu tun. "Hallo und willkommen zu den Nachrichten um zwei Uhr auf dem Kamikaze-Channel! Der erst gestern verschwundene siebzehnjährige Elvis Kyokei hat nun, wie seit ebenso gestern herauskristallisiert, auch einen eigenen Suchtrupp wie anonyme Berichterstattungen gestern um neunzehn Uhr am Gebäude der besagten Blutrosenoberschule ergeben. Der ältere Stiefbruder, sowie sämtliche Schul- und Universitätskollegen, die halbe Nachbarschaft dessen, Freunde und Familie und andere erklärten sich dazu bereit, ihrem geliebten Mitmenschen zu helfen. In derselben Nacht jedoch, wurde eine Freundin von ihm in das Schlechtwetterstadter Krankenhaus eingeliefert und laut Zeugenaussage ist diese, wie uns gerade per Fax zu Ohren kommt, das gleiche Mädchen, welches auf den Namen Chika Failman hört, nun auf freier Straße unterwegs. Wir wären Ihnen dankbar, wenn sie sowohl dem Jungen als auch dem Mädchen dabei helfen, wieder ihren Platz zu finden und melden uns wieder, wenn es Neuigkeiten gibt. Vielen Dank, dass sie eingeschaltet haben und auf Wiedersehen!" Scheiß Presse, entfährt es mir in Gedanken, als ich das höre und es sich anfühlt, als lasten auf mir alle Blicke der Welt. Auch, wenn mich in Wahrheit niemand auch nur eines Blickes würdigt. Zum ersten Mal bin ich über das Desinteresse meiner fremden Mitmenschen dankbar. Doch die Nachricht liegt mir nicht nur wegen meiner Erwähnung schwer im Magen. Bei der Erwähnung von Elvis Kyokei zieht sich in mir etwas zusammen. Ich hätte wirklich nicht so mies zu ihm sein dürfen. Es tut so weh. So weh... Ich muss sofort verschwinden! Was, wenn ich ihn niemals wiedersehe und zwar diesmal wirklich?! Was hat das Leben dann noch für einen Sinn? Und wenn ich zuerst sterbe? Ist das denn wirklich eine Lösung, wenn ich dann noch nicht einmal in Frieden vergehen kann?! Nein, nein das ist es nicht! Ich will so nicht enden! Auf keinen Fall! All das denke ich, als ich unter bewölktem Himmel in die Richtung jenes weißen Gebäudes renne. Mein Herz, es... es steht in Flammen! Ich wusste doch, dass eine der Was-auch-immer-Kappen nicht funktionieren und da generell viel kaputt ist, aber... ich muss rennen, ich muss rennen, ich muss-... Ich falle. Ich stürze die letzten Stufen des Zentrum, bei dem die Nachrichten gezeigt wurden, hinunter und lande auf der harten Realität von Betonboden. Mein Herz... schon wieder... Diesmal tut es noch viel mehr weh! Es brennt, es brennt, es brennt! "Hilfe... Hilfe... Hilfe... Irgendjemand...", stammle ich schmerzerfüllt und greife nach dem wichtigsten Organ in meinem Körper, dass spürbar den Geist aufgibt. "Nein, ich... ich darf nicht sterben... Bitte, ich... ich muss leben!", heule ich zerknirscht. "Chika! Ach du meine Güte, Kind, ich... ich bin genau hier!", höre ich eine vertraute und doch fremde Männerstimme aus der Vergangenheit. "Hör mir zu, ich rufe augenblicklich das Krankenhaus an, das wird mein letzter Dienst an dich sein!", sagt diese Stimme mir hysterisch und voller Panik. Ich komme auf die ganze Situation nicht mehr klar. Wer ist das, wer... Moment mal...! Der Mann liegt die Hand auf die Mitte meiner Brust und sein Atem überschlägt sich beinahe. "Verdammte Scheiße, dann mach ich es eben selbst!", keift er und hebt mich binnen drei Sekunden hoch. Ich habe das Gefühl, jede Sekunde gleich zu sterben. Und er ist hier. Er. Er hat mich gehasst. Ich war noch nicht einmal die, die er wollte. Niemand wollte mich und er war doch der König der Unwilligen. Er war es, der mich nicht retten konnte, der mich verlassen hat, als ich die Nähe eines Menschen am meisten gebraucht habe. "Warum...? Warum tust du das für mich...? Ich dachte, du hasst mich. Ich dachte, du wolltest, dass ich leide und am besten sterbe, also... wieso...", keuche ich im Schmerz. "Warum, Dad?", im letzten Satz werde ich schwarz vor Augen. Wieso tust du das, Dad? Was bin ich für dich? Ich wusste, dass dieser Tag kommt, aber... ich habe solche Angst. Ich habe den Zettel in meiner Jackentasche, den ich doch schon so lange für den Fall der Fälle mit mir rumtrage, noch nicht abgeben können. Aber im Ernst, wieso machst du das, Dad? Und nach diesem Satz, kann ich noch nicht einmal mehr denken. Kapitel 98: Vol. 4 - Der Tanz von Gut und Böse ---------------------------------------------- Nokia: "Los jetzt, die Atombomben werden sich nicht von selbst bereitmachen!", keift die Meisterin und ich beeile mich. Manchmal hasse ich mich dafür, dass ich ausgerechnet darin so unchristlich gut bin. Aber scheinbar ist das mein einziger Grund, um zu leben. Um der Meisterin zu dienen. Heute ist also das Ende der Welt. Wieso es gestern allerdings nicht schon war, nein, das weiß ich wirklich nicht. Weshalb hat sie ihn unbedingt hier herbringen müssen? Er ist doch noch immer bewusstlos. Er hat absolut keinen Grund, an dem Plan, die Stadt zu zerstören, teilzuhaben. Wenn er wach wäre, würde das auch keinen Unterschied machen. Das Ende ist so oder so schon so unglaublich nah, dass ich es am liebsten jetzt schon vor Angst beenden will. Aber die Meisterin braucht mich. Ich bin nur Mittel zum Zweck. Ich habe alles so eingefädelt, dass es jetzt so gekommen ist. Ich tippe auf die Tastatur des Computers und lasse die Stimme des Google-Übersetzer-Roboters die meine ersetzen. "Warum tust du das? Hat deine andere Hälfte nicht gesagt, dass es ihr leidtut? Liegt dir absolut nichts an dieser Person? Dass du ihr eigenes Fleisch und Blut mutwillig verletzt? Diese Seite ist noch in dir, du kannst es noch stoppen, Meisterin. Hör auf dein Herz und hör auf, dich selbst zu belügen, um Celestias Willen.", spricht die Stimme meine Gedanken aus und die Meisterin wird böse. "Was fällt dir ein, so aufmüpfig zu sein, huh, Kiara? Um Celestias Willen? Ich bin Celestia. Ich bin es schon immer gewesen. Das ist meine Aufgabe und es ist mir völlig gleichgültig. Du hast nur deine Mission zu erfüllen und mir zu gehorchen. Du bist ein Nichts. Genau wie Ryuzaki. Ihr alle seid zu nichts zu gebrauchen!", ruft sie nur und stapft in den Nebenraum der Halle. Ryuzaki sieht aus dem anderen Kämmerchen zu mir herüber und reicht mir den Schraubenschlüssel, ehe er der Meisterin nachtrottet. Mein Blick fällt auf unsere Geisel. Diese scheint seit sehr langer Zeit auf diesem Stuhl zu verweilen und an der Wand zu lehnen. Der Mund ist mit Panzertape überzogen und die Augen verbunden. Ich stehe mitsamt des Schraubenschlüssels auf und gehe zu ihm. Er scheint eine Mitte von Ruhig und Gestresst gefunden zu haben, auch mit der Augenbinde kann ich sehen, wie seine Lider zucken und trotz des Panzertapes, wie seine Lippen zittern. Mich überkommt wieder dieses Bedürfnis und ich drücke meine Lippen auf die seine, die er nicht zum sprechen benutzen werden kann, wenn er aufwacht. Als ich mich von ihm löse, kann ich die Tränen gerade noch zurückhalten. Ich darf nicht weinen. Ich muss nur dienen und sterben, ist meine Aufgabe erfüllt. Ich versuche vergeblich, etwas zu sagen, doch es kommt nur ein kehliges Krächzen heraus. Ich kann nicht sprechen. Ich würde ihm so gerne mal mit meiner eigenen Stimme sagen, was ich fühle. Doch das geht nicht mehr. Ich bin schuldig und heute werde ich an seinem Tod beteiligt sein. Ich werde ihn umbringen. Nichts auf dieser Welt kann mich diesem grausamen Schicksal entreißen. Nichts auf dieser Welt. Heute wird es also sein, heute wird die Prophezeiung wahr werden, die Celestia empfangen hat. Vor langer Zeit hat sie dieser anderen Seite an ihr diesen Namen gegeben. Sie fürchtet sich vor ihr. Ich sehe es doch. Celestia übernimmt die Kontrolle und zerstört alles, was die Meisterin geliebt hat. Sie ist böse. Doch das werde ich nicht sagen können. Die Meisterin ist krank. Ich muss ihr helfen. Aber ich... ich habe einfach Angst. Setsuna: In der Gegend, in der wir suchen, haben wir jedoch ebenfalls keinen Erfolg, absolut niemand hat auch nur irgendeinen Hinweis darauf, wo mein Sohn sein könnte. Nach Verstecken suchen, die Bösewichte haben, um ihre grausamen Pläne in die Tat umzusetzen, Taiyo sieht eindeutig zu viele Serien... "Hay, Setsuna, willst du vielleicht etwas zu trinken? Ich habe das Gefühl, dass dich diese Situation doch ziemlich durstig macht.", sagt Shun auf einmal. "Ähm... ja, bitte, ein... Mineralwasser hätte ich gern.", entgegne ich und wir kaufen uns beim Bäcker etwas zu trinken. Wenn wir dabei sind, auch etwas zu essen, denn hungrig sind wir auch. Das alles stresst mich. Sehr sogar. Was ist bloß geschehen? Ich nippe an dem Wasser und sehe Shun an. Auch er sieht sichtlich erschöpf aus. "Ich habe Angst...", höre ich mich flüstern. "Eins unserer Kinder ist verschwunden, niemand weiß ob es noch lebt oder tot ist und was die Zukunft bringt... Langsam hinterfrage ich meine Fähigkeit, Shun. Das Baby bekommt mit Sicherheit all den Stress um uns herum mit und wenn es geboren ist, wissen wir doch noch nicht einmal, ob das alles überhaupt reibungslos funktionieren wird, mit den Zimmern oder so, ob wir überhaupt noch in diesem Haus leben und bleiben können...", meine Stimme verzagt. Ich halte meine Tränen zurück und streichle die Stelle, an der gerade ein Mensch entsteht. Armes Kind. "Setsuna, bitte sag doch so etwas nicht. Wir werden Elvis finden. Wir müssen einfach fest daran glauben, hörst du? Die Finanzierung bekommen wir hin und auch die Zukunft meistern wir. Das müssen wir einfach denken, um zu bestehen. Taiyo und Elvis werden bestimmt kein Problem damit haben, sich ein Zimmer zu teilen, wenn gerade die Festtage sind und sie uns besuchen kommen, das... wird sich alles arrangieren. Glaub mir, Schatz.", redet Shun auf mich ein, auch wenn ich in seinen glasigen und müden Augen sehe, dass er das alles längst nicht so positiv sieht, wie er möchte. "Wahrscheinlich hast du Recht. Die beiden sind ja schließlich Brüder. Seit die beiden zusammen allein leben, verbindet sie ein Band, wie ich niemals geglaubt habe, dass es sie vereinen könnte. Aber trotz allem sind sie auch mehr als das. Trotz allem, was in der Vergangenheit war, sind sie und auch wir zu einer richtigen Familie zusammengewachsen. Wie Taiyo einst sagte, er könne fühlen, dass Elvis noch lebt.", erwidere ich und esse noch etwas von meinem Melonenbrötchen. "Das hat er gesagt?", wundert sich Shun. Vermutlich, weil Taiyo in derselben Vergangenheit, von der wir reden, immer so distanziert und einsam war, nicht so, als hätte er eine brüderliche Verbindung zu seinem jüngeren Stiefbruder. Aber tief in seinem Innern hat er Elvis wohl immer geliebt, schätze ich. Ich nicke auf seine Frage und auch er nimmt noch einen Schluck von seiner Cola. Auf einmal übermannt mich wieder die Sorge und ich frage ihn: "Sag mal, dürfen wir hier eigentlich Pause machen? Wir reden schließlich davon, Elvis eventuell das leben zu retten und zu helfen. Dürfen wir hier wirklich einfach Melonenbrötchen essen und etwas trinken?", suche ich Bestätigung von ihm, denn die Antwort in meinem Herzen lautet Nein. "Taiyo hat so viele Kontakte spielen lassen, um ihn zu finden. Wir müssen uns nicht übernehmen. Wenn wir zu lange ununterbrochen suchen, werden wir nicht genug Kraft haben, um uns Mühe zu geben. Eine hundertprozentige Garantie, dass alles gutgehen wird, kann ich dir nicht geben, dennoch...", er beendet seinen Satz nicht. Aber es reicht mir. Shun hat vermutlich Recht. "Ich danke dir...", hauche ich und fahre wieder einmal instinktiv über meinen Bauch. "Sag mal, Shun... Wie sollen wir es eigentlich nennen?", fällt mir gerade aus dem Nichts ein. "Hm... das ist eine gute Frage...", anscheinend weiß er es auch nicht. Wir haben unserer Gruppe über die Pause nicht informiert, sie sind ohne uns losgezogen. "Nun, wie auch immer, wir sollten fertig essen und dann weiter. Besser wäre es, denn wir haben schon unsere Gruppe verloren.", bemerke ich und auch er sieht nun nach draußen aus dem Fenster. "Oh, stimmt. Dann lass uns jetzt mal weiterhelfen!", lässt er sich begeistert mitreißen und wir verlassen kurz darauf den Laden. Chika: Als wir im Krankenhaus ankommen, scheint mein Vater diesmal nun wirklich am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein und legt mich sachte auf den Boden. Kein Wunder, ich bin schließlich ganz schön schwer, denke ich, als ich, wieso auch immer, wieder zu Bewusstsein komme. Mein Herz schmerzt noch immer. "Ich bitte Sie, Sie müssen sie sofort notoperieren! Ihr Herz wird das bald nicht mehr mitmachen, ich schwöre, bitte h-helfen sie ihr, sie ist meine Tochter!", ruft Dad und stolpert so schnell es geht zum Tresen. "Und Sie sind?", will die Frau am Schalter wissen und als sie mich erblickt, scheint sich die Frage in Luft aufgelöst zu haben. "Der Vater?", fragt sie, als Dad seinen Pass herausholt und ihn ihr zeigt. Er nickt hastig. Anscheinend wissen fast alle Ärzte von meiner Herzkrankheit und dass ich zum Scheitern verdonnert bin, wenn ich nicht bald einen Ersatz von dieser Zumutung von Herz bekomme. Ich spüre, wie ich auf eine Trage Hops genommen werde und man nun auf weitere Anweisungen hofft. Diese OP könnte mir vielleicht das Leben kosten, wenn mein Körper das, was man ihm zu ersetzen versucht, nicht annimmt. Wenn er es ablehnt, war es das. "Ich bitte Sie, nehmen Sie mein Herz als Spenderherz, das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann, ich flehe Sie an, bitte! Bitte operieren Sie mit meinem Herz! Dafür würde ich wirklich alles geben!", heult er. Die Frau nickt. "Und Sie sind wirklich sicher? Sie werden sterben, das wissen Sie hoffentlich. Meint die Frau und mustert meinen Vater. Anscheinend weiß sie nicht, ob sie ihm glauben soll. Er könnte ja genauso gut auf Drogen oder betrunken sein. Diese Gefahr besteht praktisch bei allen Menschen, auch die, die keine achtzehn sind. "Das liegt alles in der Hand von Failman-san hier. Sind Sie bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nur, um dem werten Herr hier einen Gefallen zu tun? Sie könnten sterben, auch Sie. Überlegen Sie es sich-", "Ich mach es!", krächze ich und falle ihr damit ins Wort. Wenn das der Wille meines Vaters ist, dann will ich wenigstens bis zum Ende ein erstes und letztes Mal eine gute Tochter abgeben. Und nur ein Mal keine Enttäuschung sein. "Na, wenn Sie das sagen...", die Ärztin zögert, doch leitet sie alles in die Wege. Und ehe ich mich versehe, bin ich ausgezogen in OP-Kleidung und bereit, seziert zu werden. Meinen Vater sehe ich nicht wieder. Aber irgendwas sagt mir, dass er mich gar nicht hassen kann. Wenn er schon sein Leben für mich gibt, macht das alles doch keinen Sinn. Als ich im OP-Raum liege, zieht praktisch mein Leben an meinen Augen vorbei. Alles Schöne, alles Traurige, alles, woran ich mich erinnern kann, alles woran ich geglaubt habe, geht dahin. Vergeht. Wie ein Traum. Wie die Vergangenheit es immer tut. Sie vergeht wie ein Traum, ein verblassender Traum von der Vergangenheit, die einst die Gegenwart war und von ihr ersetzt wurde. Als dem Anschein nach alles bereit ist, meldet sich eine weitere Chirurgin bei mir zu Wort. "Haben Sie noch irgendwelche letzten Worte, ehe es vielleicht das Ende bedeuten könnte?", fragt sie mich. "J-ja... sagen sie einem Jungen namens Elvis Kyokei, dass... ich ihm keinesfalls böse bin und es mir leid tut... Ach ja... und geben sie ihm den Zettel in meinen Anziehsachen... Den muss er... unbedingt haben... Ich sage es Ihnen... Bitte versprechen Sie es mir...", stammle ich und die Frau nickt. Mein Vater ist tot, mein Freund entführt und auch sonst werde ich niemanden mehr sehen. Das ist das Ende, denke ich, als man mir die Sauerstoffmaske auflegt und ich langsam müde werde. "Denk an etwas Schönes.", flüstert die Chirurgin und ich schließe demonstrativ meine Augen, weil ich bereit dafür bin. Eine wahre Märtyrerin, die für das stirbt, woran sie glaubt. Ich will an das Leben glauben. Ich will... an Ellie glauben. Mir fällt spontan ein Lied ein, eines meiner Lieblingslieder, ehe für mich vielleicht für immer die Lichter gelöscht werden. It's been a long day without you, my friend. Oh, and I'll tell you all about it when I see you again. We've come a long way from where we began. Oh, I'll tell you all about it, when I see you again. When I see you again. When I see you again. When I see you again. When I see you again. When I see you again. When I see you again. When I- Kapitel 99: Vol. 4 - Die letzte Mission --------------------------------------- Akira: Langsam tun mir die Beine weh und ich habe wirklich jeden Winkel, der mich umgibt, auf das Kleinste überprüft und durchsucht. Wohin kann man am besten jemanden verschleppen, den man entführt? Diese Frage stelle ich mich. Es gab welche, die nach Hause gegangen sind, bis auf ein paar Ausnahmen, Arschloch Asahina eingeschlossen, sind nur noch wir, die Gang übrig. Sanae ist den Tränen nahe, fast genau wie Hanazawa und KAishi und Shuichiro versuchen, standhaft zu bleiben. Aber irgendwie... sind wir langsam alle sechs am verzweifeln. Ich inklusive. Kaishi schlägt vor, eine Pause einzulegen, weil wir alle praktisch seelisch am Ende sind, oder wie man sagt. Wir lassen uns alle in eine Ecke eines Tempels nieder, um auszuruhen. Langsam ist es sicher Spätnachmittag. "Wisst ihr noch, auf der Klasenfahrt, als Kyokei-chan… aus dem Bus rausgerannt, sich übergeben und endbeschämt die Raststätte angebrüllt hat?", fängt Shuichiro auf einmal an. "Ja, daran erinnere ich mich.", antworte ich und nehme einen Schluck von meinem Energydrink. Den habe ich auf den Weg gekauft. "Kyo-kun hat das wirklich getan? Ich dachte, er wäre eher die ruhige Kuudere-Art, die in Shojo-Manga vorkommt, und in die sich die Protagonistin, in dem Fall, Failman-chan, verliebt...", meint Sanae und beißt in ihr Fertigsandwich, auch das hat sie sich an derselben Ecke wie ich gekauft. "Ist er für gewöhnlich auch, unser lieber Kyokei-san, Jedoch scheint er ziemlich viel durchgemacht zu haben und ist deshalb, was seine Beliebtheit und Drama im Bezug auf ihn angeht so fragil. Ich habe für einigen Monaten in einem Gespräch mit Katsuoka-sensei mitgehört, dass er sowohl psychisch als auch körperlich ziemlich labil sei. Es kann sein, dass ihm sein Ruf als Einprinz deshalb so wichtig ist.", denkt Kaishi, der sich als Einziger an eine Straßenlaterne lehnt und steht. "Ich für meinen Teil finde, dass er uns ruhig hätte mehr vertrauen können. Ich weiß trotz allem praktisch gar nichts über ihn. Ich habe nur gehört, dass er irgendwas am Kopf hatte und ihm jetzt irgendwelche Erinnerungen fehlen, meinte Taiyo, aber sagt Elvis nicht, dass ich das weiß, wenn wir ihn... wiedersehen...", flüstert Hanazawa, die neben Kaishi auf dem Boden sitzt. Ihr Blick ist auf einmal ganz starr. Plötzlich sehe ich etwas darin aufleuchten und sie steht auf, um sich wie Kaishi, an dieselbe Straßenlaterne zu lehnen. Ihr Blick gilt dem Boden. Noch immer leuchtet was auf um ihre Augenpartie. "Hanazawa-san, tut dir vielleicht irgendwas weh?", wendet sich nun doch Kaishi an sie. Er sieht sie besorgt an, diese wagt es aber nicht, auf den viel größeren Kaishi hochzusehen. "Was?! N-nein, ich... Ich hatte nur etwas im... wir müssen weitersuchen, denn... Also, Elvis... ich...", nun sehe ich, wie sie sich doch der Tränenflut ergibt und bitterlich weint. Shuichiro kommt, so schnell es mit Krücken geht, auf sie zu, um sie, die eine Krücke loslassend, mit einem Arm an sich zu drücken. Ihr Weinen ist so klänglich und herzzerreißend, dass auch Shuichiro nicht länger standhaft bleiben kann. "H-Hanako-chan, n-nicht weinen... wir werden Kyokei-chan ganz bestimmt f-finden... Aaaaaahhhhh!!!", fängt nun auch der zu weinen an, Kaishi steht wie bedeppert neben den beiden heulenden Blondinen und weiß nicht, was mit sich anzufangen. Auch dieser versucht sich hinter den von der kalten Luft beschlagenen Brille, zusammenzureißen. "Ich... oh mein Gott... trotz der kurzen Zeit, in der ich ihn kenne, habe ich Kyo-kun trotz dem ganzen Mist und der Sache mit meinem Vater... wirklich unheimlich lieb!", stimmt nun auch Sanae ein und ihre Stimme bricht. "M-Mann... also, wenn jetzt jeder sentimental wird, finden wir diesem Penner doch nie im Leben...", knirscht Asahina, der sich als Einziger einen Dreck um Kyocchi scherrt, jedoch auch Tränen in den Augen hat. "Dann fick dich doch! Du bist schließlich schuld an allem, Missgeburt!", fahre ich ihn an und diese Augen fangen auch noch Wut, die sich mit den Tränen vermischen. "Fick du dich doch! Wenn du Kyokei ficken kannst, dann ja wohl auch dich selber, Hurensohn!", keift er und diesmal rennen ihm wirklich Tränen über die Wange. "Verpiss dich! Wir finden ihn auch ohne dich, Asahina! Wenn du nicht kommen wolltest, wieso bist du dann hier?!", ich bin wirklich echt sauer auf diesen Typen. Nur weil er es nicht lassen konnte! "Weil halt!", schreit er in die anfängliche Nacht, noch mehr Tränen fließen da und er rennt weg. "So ein Pisser... Und der Rest, Mann, Leute, hört auf zu heulen, Hanazawa, Shuichiro und das gilt auch für dich, Sanae… Macht es nicht schlimmer als es ist!", fauche ich, weil ich die Beherrschung über alles, insbesondere über meine Gefühle verloren habe. "Egaoshita-san, du bist wirklich süß, wenn du versuchst, den Starken zu spielen...", witzelt Kaishi und kommt näher. Auch er hat glasige Augen. "Argh,... schwul mich hier nicht an, Mann, du regst mich echt auf! Davon kommt Kyocchi auch nicht schneller zu-", "Ich weiß alles.", unterbricht er meine Rage und trotz der Tränen, in die seine Augäpfel gehüllt sind, bekommt er ein ernstes Gesicht hin. "U-und wenn schon, Mann... was willst du tun? Dich über mich lustig machen, wie du das immer machst, Kaishi, huh? Willst du das?! Ich habe echt die Schnauze verdammt noch mal voll davon, dass jeder mich für alles verantwortlich macht, dann habe ich halt alle Schuld, okay, schön, dass wir das jetzt geklärt ha-", dann hat er mich einfach in den Arm genommen und drückt mich an sich. "Du hast bis jetzt immer versucht, ihn zu beschützen, was?", flüstert Kaishi und ich bin immer noch vollkommen perplex über diese Geste. Sein Körper ist so warm. Genau wie Kyocchis in jener Nacht... "Ja...", flüstere ich zurück, denn mir fehlt jede Kraft, um ihm etwas anderes als die Wahrheit zu erzählen. Dieser Idiot, macht sich immer über mich lustig. "Ich habe dich niemals weinen sehen, Egaoshita-san. Auch wenn ich Kyokei-san genauso wenig hab weinen sehen, sind deine Augen bei weitem die emotionsloseren. Kann es sein, dass er der einzige Grund für dich ist, um Gefühle zu zeigen?", will er wissen und fährt mir fast schon zärtlich über die Haare. Ich nicke in der Umarmung und er drückt mich fester. In dem Moment ist er ihm so ähnlich, dass es mich wütend macht. Er spielt mit meinen Gefühlen und das finde ich echt hundsgemein von ihm. "Und du hast dich auch in ihn verliebt, richtig?", lautet wohl seine letzte Frage und weil das eine ist, die mich ganz speziell, noch mehr als all die anderen Fragen, an ihn bindet, an Kyocchi, fange ich, ohne, dass ich etwas dagegen ausrichten kann, ebenfalls unweigerlich zu heulen an. "Ja. Ja, verdammt. Ja! Es tut so scheiße weh, an allem Schuld zu haben und... ihn vielleicht nie wieder zu sehen!", heule ich tatsächlich und erwidere die Umarmung zum ersten Mal an diesem Tag. Irgendwie sind jetzt alle am Heulen, sogar Kaishis Tränen tropfen auf meine Schulter und ich höre ihn schluchzen. Wir vermissen ihn alle so unglaublich. Wie konnten wir ihm nicht mehr helfen? Warum haben wir diesen Asahina nicht schon eher zu Brei geschlagen, oder zumindest Hanazawa, die das so toll kann, dafür bezahlt? Warum haben wir all diese fiesen Beleidigungen auf seinem Tisch unkommentiert gehalten und ihn deshalb nicht bedrängt? Was waren wir nur für ein lausiges Pack von Freunden? Wieso war ich so ein lausiger bester Freund, in dem ich ihm die kalte Schulter gezeigt habe? In dem Moment stoßen, wie als wäre es ein Signal des Himmels, Schicksal, oder was auch immer, Taiyo und seine zwei Kumpanen, Männlein und Weiblein auf. Auch deren Mitstreiter sind so ziemlich alle AFK gegangen. Langsam drehen sich auch meine Kollegen zu den drei Studenten um. "Heulparade, oder was stimmt nicht mit euch?", fragt das Männlein und bekommt vom Weiblein einen Fußtritt. "Mann, Hide, du kannst dir denken, wieso Edwards Freunde weinen! Taiyocchi ist doch genauso kaputt wegen der Geschichte, hab mal wenigstens etwas mehr Mitgefühl!", schimpft sie mit ihm. "Tut mir ja leid, Yuki... Ich wollte dich nicht verärgern... Du bist doch die Sonne in meinem Herzen..."; murmelt der Typ, der sich als Hide heißend entpuppt. "Jetzt ist nicht die Zeit, um romantisch zu sein, Hide, wir sind mit denen hier doch die Einzigen, die vom Suchtrupp noch übrig und nicht nach Hause gegangen sind! Wir machen das immer noch für Emil!", weist sie ihn erneut zurecht. "Er heißt Elvis.", korrigiert ihn Meister Bruderkomplex. "Och, richtig, vergessen...", entschuldigt sich die sogenannte Yuki. "Du vergisst ihn ständig, Schatz...", seufzt Hide. Taiyos Blick ist ebenfalls betrübt. Irgendwie hat hier jeder einen Hauch von Traurigkeit in seinem Gesicht. Taiyo verliert nicht einmal ein Wort darüber, dass seine Liebste sich gerade an der Brust eines anderem Typen offensichtlich die Augen aus dem Kopf geheult hat. Langsam lässt sie diesen wieder los, Shuichiro, gute Arbeit! Mir fällt ein, dass ich ja selbst noch in Kaishis Armen liege und weil Kyocchis Bruder wahrscheinlich denkt, dass ich in seinen Augen homosexuelle Flittchen alles Männliche, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist, durchnimmt, lasse auch ich meinen Heulpartner wie eine heiße Kartoffel fallen und entferne mich mindestens einen halben Meter von ihm. Kaishi sagt nichts dazu und wischt sich verstohlen die letzten Tränen aus den Augen. So nah waren wir beide uns in den drei Jahren Oberschule wirklich noch nie. Ich kann seine Wärme immer noch spüren... Für zwei Sekunden sieht es aus, als hätte ich meinen Kyocchi-Ersatz noch ein weiteres Mal gefunden, aber mir ist unsere Freundschaft zu wichtig und Akane-san, mit der ich jetzt wirklich zusammen sein will, mir zu sehr ans Herz gewachsen, als dass ich es wagen könnte. Außerdem wurde unsere Freundschaft in der Gang ja bereits durch meine Affäre mit Kyocchi auseinandergerissen und ich kann es mir nicht leisten, den Restfetzen Freundschaft, der davon noch überbleibt, durch eine weitere zu verlieren. Das wäre sowieso keine Liebe, wenn ich es statt mit ihr mit Kaishi versuchen würde und noch nicht einmal mit Kyocchi wäre es etwas für die Ewigkeit. Das liegt einfach fernab von dem, was ich mir ausmalen kann. "Wie es scheint, habt ihr ihn auch nicht gefunden, was?", stellt Taiyo fest und sieht irgendwohin ins Leere. "Haben wir nicht, ja.", antwortet Hanazawa immer noch mit tränenerstickter Stimme. Taiyo nickt nur. "Wie soll es weitergehen? Hast du vielleicht eine Idee, wo wir noch suchen könnten, Kyokei-sans Bruder?", kommt Kaishi wieder zu Wort. "Genau! Es muss einfach irgendwo sein! Keiner hat sich gemeldet und gesagt, dass er ihn hat, aber... wir müssen ihn einfach finden, egal wie dunkel es hier draußen auch ist! Irgendwo müssen die Bösewichte ihn doch einfach versteckt halten, ich rieche es, ihr... ihr Stützpunkt ist ganz in der Nähe!", hat sich Sanae wieder aufgerafft und teilt ihre Visionen mit. "Was Uchihara-san eigentlich damit sagen will, ist: Es kann einfach nicht umsonst gewesen sein und wir müssen einfach weitersuchen. Wir sprechen von einer Entführung, andernfalls wäre seine Suizid begangene Leiche hier irgendwo gefunden worden. Wir müssen es weiterversuchen.", übersetzt Kaishi. "Kazukawa-kun hat Recht! Elvis darf nicht sterben! Als Freunde ist es doch unsere Pflicht, bis zum Ende für ihn da zu sein, auch wenn wir in letzter Zeit nicht viel für ihn getan haben und es eine Distanz gab! Und wenn wir bis spät in die Nacht suchen! Ich gebe nicht einfach auf!", lässt sich Hanazawa leidenschaftlich mitreißen. "Selbst wenn ich technisch gesehen seinetwegen sterben wollte... Ist er einer meiner wenigen Freunde, die ich habe. Ich muss ihn finden und mich entschuldigen, dafür, dass ich so radikal und so eine Memme war.", höre ich Shuichiro flüstern. Alle scheinen eine Entscheidung getroffen zu haben. Sie entscheiden sich dafür, weiterzukämpfen. Nun fehle nur noch ich. "Ich werde wiedergutmachen, was ich verbockt habe. Leute, der Typ lebt noch!", gebe ich auch meine Segen dazu, nicht einen auf entbehrlich zu machen. Aber der, der doch am allermeisten etwas sagen sollte, schweigt. Taiyo sagt absolut nichts. Dabei ist er doch quasi der Anführer des Widerstands, der Leader des Suchtrupps. "Ich-", doch als wie kurz davor sind, zu hören, was er zu sagen hat, schießt da jemand aus weiter Ferne. Das sind keine Jäger, dafür ist die Situation zu dramatisch. Wenn das gerade eine Schusswaffe war, die auf einen Menschen gerichtet war... Taiyo klappt in diesem Moment einfach zusammen. "S-s-scheiße.... Er kommt, er kommt, er kommt! Das ist.... D-das ist, wovon er geredet hat... D-d-d-das ist es!", eingekugelt in einer unmöglichen Pose stottert und zittert er nur noch voller Panik und Angst. "H-Hey, Taiyo! Was ist nur los mit dir!", fragt Hanazawa den verstörten Taiyo und rennt zu ihm. "I-ich glaube, das hängt mit der Schusswunde zusammen, die er letztends hatte... da hat so ein Typ... ihn angeschossen und jetzt hat er... wie du siehst echt Panik...", erklärt ihr Hide. "Taiyo, warum hast du mir nichts gesagt?! Wieso hast du nicht gesagt, dass du verletzt wurdest?!", Hanazawa scheint wirklich besorgt wie noch nie, während ich meine Augen nicht davon abwenden kann, von diesem Szenario. Ich glaube wirklich, ich bin im falschen Film... "Mädel, das spielt ja jetzt wohl auch keine Rolle! Dein Freund liegt hier und bekommt eine Panikattacke und du hast nichts Besseres zu tun, als ihn mit Fragen zu bombardieren? Hide und ich bringen ihn ins Krankenhaus, bleib du bei den anderen und finde Eugen!", giftet Yuki Hanazawa an und ein stiller Krieg unter Frauen bricht aus. Hanazawa erwidert darauf nichts und sieht wortlos zu, wie die Studenten von dannen ziehen. "D-d-d-das war die Warnung.... Die W-Warnung, von der dieser Mistkerl sprach... lasst mich los... der bringt ihn um!", heult Taiyo, kann sich unter Schock jedoch nicht befreien und verschwindet mehr und mehr aus dem Sichtfeld von jedem von uns. Irgendwer hat geschossen. Es kann nicht allzu weit weg sein, wir können, nein, wir müssen einfach dorthin und helfen! Und währenddessen rufen wir die Polizei. Das ist das Letzte, das wir für Kyocchi noch tun können, wenn wir bis zum Schluss gute Freunde von ihm gewesen sein wollen. Dafür setze ich mein Leben aufs Spiel. Ich will ihm noch ein letztes Mal begegnen, ehe ich wie er hoffentlich nicht elendig abgeknallt werde und abkratze. Ich glaube, es... es war Richtung Nordost! Soll das hier wirklich unsere letzte Mission sein, unser letzter gemeinsamer Ausflug als Gang ins Jenseits? "Leute, sprecht mal alle euer letztes Gebet.", höre ich mich fast wie von selbst sagen. "Akira-chan, was hast du vor? Du willst mit uns allen doch nicht etwa-", "Oh doch, doch, das will ich.", ich lege eine Pause ein. "Wir mischen den verfickten Laden mal ordentlich auf, machen ein paar coole Backflips, vermöbeln die bösen Jungs und anschließend, Ladies and Gentlemen, holen wir zurück, was uns gehört!" Kapitel 100: Vol. 4 - In einer weit entfernten Galaxie ------------------------------------------------------ Elvis: Ich weiß nichts über mich. Ich kenne mich nicht. Und auch sonst kenne ich niemanden. Ich bin aber nicht einsam oder so. Irgendwie fühlt es sich an, als ob dies jemand mal in der Vergangenheit sagte oder in Zukunft sagen wird. Als wenn es Parallelen zwischen der meinen leeren Welt und einer anderen gäbe. Ich frage mich, wie diese Person wohl tickt. Ob sie dasselbe fühlt wie ich. Einsamkeit, die nicht da ist. Von der ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie existiert. Wenn dem so ist, will ich sie treffen. Wenn dem so ist, will ich sie fragen. Wie man lebt und existiert. Ich frage mich, ob man Dinge, die nur ausgedacht sind, in einem anderen Universum vielleicht... berühren könnte. Wäre das nicht mal etwas Neues? Ich frage mich das, weil... ich selbst mal etwas anderes berühren will, als die Dinge, die mir zum Greifen nah sind. Ich will mehr. Ich will alles und gleichzeitig irgendwie gar nichts. Aber ich weiß gar nicht, was das ist, was für einen Namen diese Sache trägt, die ich so begehre. Wer bin ich? Meines physischen Erscheinungsbild nach bin ich das, was man in der Menschenwelt wohl einen Teenager, ein Zwischending von Kind und Erwachsenen, nennt. Ich habe nie so sein wollen, wie andere. Und zugleich beneide ich sie so unglaublich. Komisch, oder? Ich befinde mich in einer Art glasklaren blauen Himmel. Über mir sehe ich nämlich einen. Aber unter meinen nackten Füßen sehe ich das Meer. Ein seltsamer Ort. Ich habe das Gefühl, ich war schon einmal hier an einem Ort wie diesen. Nein, nicht nur das, ich war an diesem Ort. Irgendwas tief in mir drin gibt mir einfach diese Sicherheit. Ich sehe mich um und weit und breit ist da nichts als endloses Meer und noch endloserer Himmel. Bis auf ein weißes, wirklich nur rein weißes, Haus dort drüben sehe ich nichts. Soll ich es wagen und nach dem Besitzer Ausschau halten? Auf der einen Seite könnte keiner da sein und ich würde einfach weiter allein sein. Auf der anderen Seite könnten wir zwei Einsamen uns miteinander anfreunden oder zumindest hätte ich jemanden zum reden. Es könnte ja lustig werden. Also nichts wie los, denke ich, als mich meine Beine immer näher zu diesem Haus hintragen. Es handelt sich um mindestens zehn Minuten, bis ich dort bin, etwas ungeduldig macht es mich, aber auch umso neugieriger, was mich dort wohl erwartet. Als ich an diesem fast schon unwirklichen Wohnort stehenbleibe, denke ich kurz nach. Das ist das einzige Haus hier, was, wenn der Besitzer schon längst am Rad dreht und es sich bei diesem um einen gemeingefährlichen Sonderling handelt? Was, wenn er mich im schlimmsten Fall umbringt? Nun, na ja, wenn ich tief genug in mich hineinhöre, dann glaube ich das doch selbst nicht. Außerdem, selbst wenn dies das Ende wäre, was macht das schon? Immerhin habe ich an diesem Ort nichts, aber auch gar nichts, was ich tun könnte. Dieser Ort ist wunderschön, jedoch eine Einöde. "Hallo? Ist da jemand? Hey!", rufe ich, doch es kommt keine Antwort von innen. Vielleicht ist er oder sie verletzt und kann nicht antworten! Oder es ist wirklich keiner da. Aber die Tür steht doch offen. Soll ich reinsehen? Ich denke, die Antwort auf diese Frage ist offensichtlich und stoße die Tür auf. Im Gegensatz zum Äußeren des Gebäudes ist hier mehr Farbe zu sehen, wenn auch nur pastellfarben. Da ist eine hölzerne Treppe in der Ecke, die dem Anschein nach ins obere Stockwerk führt. Weil hier unten nichts dergleichen auf eine momentan anwesende Person hinweist, bleibt mir wohl nichts anderes als oben nachzuschauen. Schüchtern stehle ich mich die Stufen hoch und versuche dabei, auf jedes Geräusch, das nicht von der Treppe, die unter meinem Gewicht knarzt, ausgeht, zu achten. Aber außer mir selbst ist da nichts und niemand, das auch nur einen Mucks von sich gibt. Bin ich wirklich ganz alleine hier? Nennt man so etwas in meiner Welt nicht etwa, ich weiß auch nicht, Hausfriedensbruch? Nun, ich bin jetzt schon viel zu weit in die Materie vorgedrungen und im eigenen Interesse viel zu neugierig, um umzukehren. Und außerdem hatte ich doch keine andere Wahl. Notfalls kann ich ja noch aus dem Fenster springen, falls es eines gibt. Na ja, wie auch immer. Oben angekommen, hat sich der Stil dieses schlichten Hauses nicht geändert. Die Türen sind ebenso hölzern wie die Treppe und das meiste andere hier auch, nur offen ist wie die Haustür nur eine einzige, dessen Zimmer absolut nicht zum Rest der Wohnung passt. Irgendwie total... abgenutzt, zerstört und zerrissen. Ich nähere mich mit leisen Schritten dem Raum und sehe unterschwellig immer noch nach, ob denn wirklich keiner hier ist. Wie es scheint, bin ich also wirklich in ein herrenloses Haus eingebrochen. Zeit zu gehen, denke ich und will gerade gehen, als ich durch den Spalt der Tür, die nun nur noch knapp fünf Schritte von mir entfernt ist und deren Zimmer ich eigentlich gar nicht betreten wollte, etwas Grünes im Wind flattern sehe. Haare. Sehr lange Haare flattern dort im Wind. Da steht wider meiner Erwartung irgendjemand auf einem Balkon und sieht in die Ferne, aus der ich vor zehn Minuten gekommen bin. Das ist doch eine Frau. Ich versuche mich bei dem Anblick ihrer zusammenzureißen und gehe todesmutig durch das Tor ihrer Welt. Da habe ich es, das Zimmer sieht vollkommen furchtbar aus, als hätte hier vor langer Zeit ein Sturm gewütet. "Hey, also... die Tür war offen. Es tut mir leid, dass ich hier reingekommen bin!", rufe ich ihr hinterher, aber sie reagiert nicht. Sie sieht nach wie vor einfach ins Leere. Ich komme nun näher an sie ran und kann nicht verhindern, sie zu mustern. Sie trägt eine kurze, weiße Hose und ein schwarzes, kurzarmiges Oberteil, welches ich zwischen ihrer moosgrünen Mähne erkennen kann. Außerdem ist ihre Haut im starken Kontrast zu meiner eigenen sonnengebräunt und sie strahlt irgendeine sonderbare, ja fast schon gefährliche Aura aus, so voller Entschlossenheit und Feuer. Diese Aura ist die betörend und anziehend, dass ich nicht anders kann, als mich ihr weiterhin zu nähern. "Da gab es mal jemanden, den ich zum Außerwählten auserkoren habe. Aber dies ist lange her. Ich frage mich, ob diese Person mich vielleicht... ebenfalls als ihre Auserwählte auserkoren hat und es Schicksal war. An jenem Tag regnete es, mir war völlig kalt und ich war so verzweifelt und traurig. Doch ich fror nicht nur von Außen. Auch in meinem Herzen tobte der Sturm und der Regen schlug auf mich ein, bis ich mich nicht mehr bewegen wollte und fast aufgab. Doch jene Person an jenem schicksalhaften Regentag ließ die Sonne in meiner Welt wieder erneut am Himmel aufgehen. Seither suche ich.", höre ich sie flüstern. Irgendwie berührt das, was sie sagt, mein Herz. Irgendetwas in ihrem Text fühlt sich so... vertraut an. Als wenn ICH es wäre, der der Auserwählte für sie wäre. Als wenn SIE die Auserwählte für mich wäre. "Such weiter.", antworte ich, auch wenn nichts dafür spricht, dass diese Worte an mich gerichtet sind. Endlich dreht sie sich zu mir um und sieht mich mit ihren schimmernden goldgelben Augen an, die wie echtes Gold nur so funkeln. Ich erhasche ebenfalls einen Blick auf die Vorderseite ihrer Oberteils, auf denen die englischen Letter 'LEGENDS NEVER DIE" prangen. "Es tut mir leid, dass ich ohne deine Erlaubnis hier eingedrungen bin. Ich werde augenblicklich wieder-", doch dazu kommt es nicht. Sie griff einfach nach meinem Handgelenk und macht jetzt auch noch keine Anstalten, dieses wieder loszulassen. "Wie könnte ich weitersuchen, wenn jene Person, der Auserwählte nun von sich aus zu mir gekommen ist?", in ihrem Blick liegt Ernst. "Wie... bitte?", höre ich mich stammeln, doch ihre Aura ist zu stark, um mich gehen zu lassen. "Du bist der Auserwählte. Du bist es, den ich suchte. Du bist der Einzige.", nun sieht sie auf meine Hand, deren Gelenk sie festhält und klingt nun doch etwas schüchtern, ehe sie ihren Kopf wie ein Vogel wieder aufrichtet und sagt: "Du bist endlich zurückgekehrt!", und eine Freudenträne rennt ihre Wange hinunter. Ich bin vollkommen durcheinander. Wer ist dieses mysteriöse Mädchen und warum bin es offensichtlich ich, den sie so verzweifelt gesucht hat? Was will sie von mir? Ich vergesse komplett zu antworten, als sie mein Handgelenk schlagartig wieder loslässt, nur um anschließend ihrem Körper an meinen zu drücken und mich in den Arm zu nehmen. Sie ist so warm und weich, ihre Haare, die so frisch und moosgrün sind, riechen tatsächlich nach dem, dessen Farbe sie tragen. "Lass mir bitte noch... diesen Augenblick.", flüstert sie und ich verstehe gar nichts mehr. "Nach so langer Zeit will ich... dich einfach berühren.", ehe ich an dieser verführerischen Wärme den Verstand verliere, wache ich schlagartig durch den typischen Lärm meines Weckers auf. Ich stöhne genervt und haue diesen, beim Versuch, dieses Geräusch zu unterbinden, zu Boden. "Mann, so ein Mist...", brumme ich, falle aus meinem Bett und drehe den Wecker so um, dass ich die Daten sehe kann, die er anzeigt. "Sechs Uhr dreißig am zwölften April zweitausendsechzehn.", murmle ich und richte mich auf. Bin ja ganz bequem auf meinem Steißbein gelandet, denke ich grimmig und beiße die Zähne zusammen, um den Schmerz zu ertragen. Heute ist wohl der erste Schultag im letzten Jahr der Mittelschule, geht mir durch den Kopf, als ich meine Schuluniform an einem Harken an meinem Schrank hängend sehe. "Elvis-Schatz, wenn du nicht bald aufstehst, wirst du am ersten Tag zu sät kommen!", erinnert mich meine Mutter, die gerade durch die Tür hereinspaziert kommt. "Ich mach ja schon...", erwidere ich schwach und sie verzieht sich wieder. Ich sehe kurz meinen unheimlichen Bruder durch den Türspalt spannen und auch dieser trollt sich nach wenigen Sekunden. Ich sehne mich jetzt schon wieder nach Ferien, doch stehe ich auf und ziehe mich, so schnell ich es im Halbschlaf-Modus hinbekomme, an. Das letzte Jahr der Mittelschule erträgt sich schließlich nicht von selbst. Jedoch habe ich irgendwie eine böse Vorahnung diesbezüglich. Es fühlt sich so an, als hätte ich diesen Tag schon einmal erlebt... Aber nein, so ein Schwachsinn, so etwas existiert schließlich nur in Serien wie "Die Melancholie der Haruhi Suzumiya". Ich mochte diesen Anime, denke ich und versuche, nicht mehr auch nur einen Gedanken an diese Theorie zu verschwenden. Kapitel 101: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 1 -------------------------------------------------------------- Beim Frühstückstisch ist es, wie auch sonst immer, still. Ich sehe unauffällig zu meinem Bruder, der mal wieder viel zu viel Butter auf seinen Toast schmiert. Die Nutella nicht zu vergessen. Ich werde niemals verstehen, wie man Nutella mit Butter essen kann. Er bemerkt meinen Blick und ersticht mich mit seinem kalten Blick. "Was?!", knurrt er und ich verschlucke mich beinahe an meinem Star Wars-Müsli.   "N-nichts... Ähm, Onii-chan, kann ich... die Butter haben?", frage ich stammelnd. Er starrt die Butterdose neben seinem Teller drei Sekunden schräg an und überreicht sie mir wortlos. Eigentlich weiß ich selbst, dass ich für Müsli keine Butter benötige, jedoch will ich so wenig, dass er denkt, ich hätte ihn unnötig provoziert, dass ich mir was überlegen musste.   "Wofür brauchst du für das Müsli denn bitte Butter?", fragt er und ich fliege auf. Verdammt.   "Kannst sie ja wiederhaben, wenn du sie so nötig hast.", antworte ich bissig und er nimmt sie tatsächlich zurück.   "Taiyo-Schatz, denkst du nicht, dass das genug für ein einziges Brot ist?", fragt meine Mutter vorsichtig. Mein Bruder fackelt nicht lange, nimmt sein mit viel zu viel Butter entstelltes Nutella-Brot, das noch unberührt auf seinem Teller liegt und marschiert davon.   "Wo gehst du hin, Junge?", will mein Vater nun auch etwas pikiert wissen.   "Ich esse das Brot in meinem Zimmer...", meint er nur und verschwindet.   "Tut mir leid, das ist meine Schuld, ich hätte nicht nach der Butter fragen dürfen.", entschuldige ich mich unnötigerweise, wie ich es immer tue.   "Nicht doch, es ist nicht deine Schuld, Elvis, auch wenn mich interessiert, wofür du sie eigentlich verlangt hast. Aber egal, dein Bruder macht wahrscheinlich gerade eine schwere zeit durch. Du weißt schon, er ging nicht gerne zur Schule und die Uni macht ihm zu schaffen. Bitte sei nachsichtig mit ihm, ja?", lautet die Devise meines Vaters. Onii-chan ist doch bloß zurückgekommen, weil er aus der Wohnung rausgekickt wurde, denke ich, doch unterlasse einen weiteren Kommentar. Aber im Ernst, er hatte keine andere Wahl und ist deshalb gestern wieder eingezogen, der ist morgen wahrscheinlich wieder weg. Meine Mutter schweigt. "Nun, du musst jetzt aber los, wenn du nicht zu spät kommen willst und wo wir gerade von Schule reden, wie trägst du den Schon wieder deine Schuluniform, wirst du jemals aufhören, einen Kapuzenpullover darunter zu tragen?", bricht sie ihr Schweigen. "Es hindert mich ja keiner daran.", gebe ich achselzuckend zurück, lasse das Müsli links liegen und will auch gehen. "Und was ist mit deinem Müsli?", versucht sie, mich aufzuhalten.   "Ess' ich zum Abendessen.", sage ich nur, nehme meinen Rucksack und verschwinde in die Schule. Auf ein gutes neues Schuljahr! "Jo! Kyocchi! 'nen Morgen!", höre ich Egaoshita rufen, als dieser aus dem Busch herausgesprungen kommt und mich erschreckt.   "Aaaaahhhh!", entfährt es mir und ich falle hin vor Schreck.   "Sag mal, hast du dich wirklich so lange hier versteckt, nur, um mir hier einen Mini-Herzinfarkt einzujagen?!", schimpfe ich und stehe wieder auf. Dass der auch immer so übertreiben muss...   "Ach, nun hab dich nicht so, ein bisschen Angst ist doch schließlich gesund, oder nicht? Lass krachen!", der hört nicht mal zu und harkt sich bei mir ein.   "Denkst du das echt?", flüstere ich, ohne es zu wollen. Diese Gedanken sind doch nicht für fremde Ohren bestimmt! "Wie bitte, was jetzt, hast du was gesagt, Kyocchi?", fragt er und sieht mich neugierig an.   "Ach nichts, ich... habe nur laut gedacht. Lass uns zur Schule gehen.", antworte ich kühl und das machen wir auch. Noch immer versuche ich zu raten, wann Onii-chan wohl wieder abdüst und wieso ich irgendwie das Gefühl habe, dass all das hier, das Leben, dass ich alltäglich lebe, so sinnlos erscheint. Es ist nicht so, als hätte ich es vorher nicht als langweilig und eintönig wahrgenommen, jedoch, seit diesem Traum heute Nacht, ist das Bedürfnis nach etwas, dass mich aus diesem trostlosen Alltag herausreißt, noch mal um ein Vielfaches größer geworden. Egaoshita sagt nichts mehr und wir gehen schweigend in die Schule. Dieses Schuljahr scheinen Egaoshita und ich nicht mehr in einer Klasse zu sein. Ich mag ihn ja schon, aber irgendwie fühlt es sich nicht richtig an, so gleichgültig dem gegenüberzustehen. Schließlich habe ich doch den Stellenwert des besten Freundes, ich muss traurig sein, wenn wir getrennt sind, wenn auch nur ein Stück weit. Egaoshita dagegen scheint ernsthaft sauer zu sein und trollt sich, ehe ich so tun kann, als würde es mich stören. Allein mache ich mich also auf den Weg in meine Klasse. Weil ich heute morgen zu früh los bin, um der unangenehmen Spannung zwischen meinen Eltern zu entfliehen, die einfach schon immer komisch waren, ziehe ich es vor, bei meinem Lieblingsort noch etwas Luft zu schnappen, ehe der Unterricht beginnt. Ich gehe an der Klasse 3-1 vorbei, in die ich jetzt, so wie es aussieht, gehe, sehe dort niemanden herausstechen und gehe weiter in Richtung Schuldach. Dieses ist sozusagen mein zweites Zuhause geworden, weil ich das Gefühl habe, dem Himmel dort näher zu sein, als woanders. Ich weiß auch nicht, woran es liegt, ich sehe einfach für mein Leben gerne sinnlos in die Luft. Am frühen Morgen, wenn das Blau des Himmels sich in meine Netzhaut einbrennt und spät in der Nacht, wenn mich die Schönheit des Nachthimmels fast umbringt. Als wäre der Himmel für mich einer der wenigen Gründe, um weiterzuleben. Denn, mal ganz unter uns, ich habe nicht viel, von dem ich sagen kann, dass ich deshalb unbedingt hier bleiben muss. Ich gehöre wohl zu den Menschen, die immerzu denken, "da muss es doch mehr geben", "So kann es nicht ewig weitergehen!", aber damit fühle ich mich ziemlich allein. Ich kann mit keinem über meine wahren Gefühle reden. Das ist schräg. Niemand ist wie ich. Das ist sowohl ein Segen, weil ich mich darüber freue, mir wenigstens einzubilden, dass ich etwas besonderes bin, aber auch ein Fluch, weil mich das einsam macht und ich kein aufrichtiges Interesse an zwischenmenschlichen Aktivitäten habe und alles spielen muss. Darin bin ich inzwischen so gut, dass ich manchmal wahrhaftig glaube, dass ich normal bin. Nun, es gibt Dinge, die mich wirklich interessieren, wie zum Beispiel Schach oder Science-Fiction, ich lese viel und liebe Filme und so etwas. Meine Lieblings-Anime sind "Code Gease", "Steins:Gate" und "Die Melancholie der Haruhi Suzumiya". Alle haben gemein, dass sie etwas verändern. Etwas, wovon ich nur träumen kann. All diese Charaktere erleben Veränderungen, die von der Norm abweichen und ich, ich bleibe an Ort und Stelle und komme nicht weiter. Als ich die Tür aufstoße und sehe, dass ich vor Schulanfang wohl doch nicht so allein sein werde, wie ich befürchtet habe, überschlägt sich fast mein Atem. Da ist doch tatsächlich das mysteriöse Mädchen aus meinem Traum! Das Mädchen mit den grünen Haaren. Als sie sich umdreht, erstarre ich. Selbst aus der Distanz sehe ich diese goldenen Augen strahlen, und zwar richtig intensiv.   "Du!", sagt sie auf einmal, erhebt ihren Zeigefinger in meine Richtung. Ihre Augen schneiden mich praktisch in zwei Hälften, so scharf ist ihr Blick und so harsch ihre Stimme, daran muss ich mich erst gewöhnen.   "Komm doch näher!", bietet sie an und auf einmal umgibt sie eine ganz andere Ausstrahlung als vorher, als es aussah, als hätte sie mich gerade beim Banküberfall ertappt.   "K-klar...", murmle ich und komme zögerlich näher. Wieder einmal, wie im Traum letzte Nacht, kann ich nicht verhindern, meinen Blick überall umherschweifen zu lassen und sie mir unauffällig, zumindest hoffe ich das, von oben bis unten anzusehen. Im Gegensatz zu ihrem Traum-Ich, wenn ich das mal ganz frech behaupten kann, trägt das grünhaarige Mädchen eine blaue Schleife im Haar und ihr Vorbau ist weitaus größer als ich ihn aus meinem Traum in Erinnerung habe. "Hey! Hat man dir nicht beigebracht, Frauen nicht so anzustarren?!", keift sie auf einmal und ich merke, dass ich zu unvorsichtig war.   "E-es tut mir... echt leid, ich... Also, ich wollte nicht...", doch ehe ich mich fertig entschuldigen und ihr sagen kann, dass ich ihr nicht absichtlich auf die Brüste gestarrt habe, kommt sie mir unerwartet näher.   "...", ich muss schlucken.   Unsere Nasen berühren sich fast. Ihr Blick ist starr und intensiv, noch nie hat mir ein Mensch so tief in die Augen gesehen.   "Diese Augen... Diese roten Augen und dieses Gesicht...", sie atmet dramatisch ein und entfernt sich wieder einen halben Meter von mir, ehe sie fortfährt.   "D-d-du... bist es also wirklich... der Auserwählte... mein... Held...", höre ich sie murmeln und ihr Gesicht ist zum Boden gewandt. Plötzlich springt sie wieder auf.   "Oh mein Gott, Ellie, ich habe dich so abgöttisch vermisst!", heult sie auf einmal und fällt mir mit voller Wucht um den Hals.   "So lange habe ich nur gewartet, ein ganzes Jahr... Jetzt habe ich endlich den Mut gefasst. Dass du hergekommen bist... Ist einfach Schicksal...", flüstert sie und ich vergesse aus lauter Verblüffung fast, wie man atmet.   Dann glaube ich, mich trifft der Schlag, als mir plötzlich alles wieder in den Sinn kommt. Sie ist es. Ach du heilige Scheiße. Ich habe das Gefühl, als bliebe die Zeit stehen. Einfach so. Ich kann mich auf einmal überhaupt nicht mehr bewegen. Und alles an jenem Tag, den ich in den Jahren, die sich über ihn gelegt haben, fast vergessen hätte, wiederholt sich. In einem Augenblick. Auf einmal bin ich nicht mehr vierzehn Jahre alt sondern sechs, auf einmal weiß ich wieder alles. Und die Schuldgefühle wegen dem lodern erneut auf und verbrennen fast meinen Verstand. Es tut in diesem Moment so weh, sich zu erinnern, aber ich kann nicht aufhören und erst recht will ich es nicht stoppen. Und alles dreht sich wieder im Kreis: Ich war allein. Meine Eltern hatten mich vorhin von der Schule abgeholt, doch war mir eingefallen, dass ich, wie auch immer ich das geschafft hatte, meine Tasche vergessen hatte. Ich war nochmal in die Schule gerannt, im Regen, mit einem Schirm, was sich als schwieriger gestaltet hatte, als ich es mir vorgestellt hatte und nun stand ich hier, mit einem dreckigen Regenschirm in einer Schlammpfütze zu meinen Füßen, mit meiner Schultasche, mit der ich eigentlich schnellstmöglich zurückkehren wollte, sie mir jedoch heruntergefallen war und sich der ganze Inhalt auf dem Boden verteilt hatte, und einem leeren Gesicht. Ich spürte, wie wenig ich gerade empfand, noch nicht einmal der Sturz, der doch schon ziemlich wehgetan hatte, konnte mir Tränen entlocken. Ich biss die Zähne zusammen und starrte fast schon entzürnt auf meine Sachen, die von Sekunde zu Sekunde mehr an Nässe zunahmen, weil ich mich nicht beeilte, sie wieder in die Tasche zu tun. Ich starrte mein Mäppchen an, die Schulhefte, die Bücher und nicht zu vergessen meine Zeichnungen, die ich angefertigt hatte, obwohl wir heute keine Kunst hatten. Ich hatte es einfach getan, weil mir langweilig war. Mehr gab es nicht. Mehr hatte ich in meinem sechsjährigen Leben nicht erreicht. Ich hatte Bestnoten und man konnte mich gut leiden, jedoch fühlte ich mich trotz der ganzen Gesellschaft jener, die meine wahren Gedankengänge nicht kannten, tief in meinem Herzen doch einsam und leer. Ich machte das alles nur, um es zu tun. Weil ich wusste, dass mein Umkreis, so blöd das auch klingt, ohne mich nicht derselbe wäre, weil ich wusste, dass ich meinen Posten nicht zu verlassen hatte. Ich war nur hier, damit niemand anderes meinen Platz einnahm oder merkte, wenn etwas anders wäre. Alles nur Show, ich wollte nichts weiter als ihnen das zu geben, was sie mochten und was mich selbst befriedigte. Ich liebte es, zu den Besten zu gehören und weil ich es hasste zu verlieren, sorgte ich eben überall dafür, dass ich das nicht tat, indem ich mich anstrengte, bis ich als Sieger hervorging. Das war mein einziger Lebensinhalt. Ich hatte Angst vor Veränderung und konnte gleichzeitig nicht aufhören, nach ihr zu suchen. Die menschliche Neugier ist einfach unlogisch. Und das wusste ich. Ich hörte nicht auf, meine Zeichnungen im Regen anzustarren, die alle so beeindruckten, mir selbst jedoch Unzufriedenheit einjagten, weil ich niemals sagen konnte, dass sie mir gefielen, zumindest nicht ganz. Ein Bild von mir selbst im Naruto-Stil. Dann ein Bild von meiner Familie. Ebenfalls im Naruto-Stil. Meine Mutter, mein Vater und Taiyo Onii-chan. Ich wusste nicht, wie man eine Familie zu fühlen hatte, irgendwie schien es mir, als wenn ich sie einfach lieben musste, weil sie meine Familie sind und ich ohne sie nicht da wäre. Ja, ich hatte mit vier Jahren bereits gewusst, dass es so etwas Idiotisches wie den Storch, der die Babys bringt, nicht gab und das alles nur eine billige Lüge war, um kleine Kinder wie mich vor der grauenhaften Wahrheit zu schützen. Wenn ein Mann und eine Frau sich ganz dolle lieb haben, steigen sie zusammen ins Bett und tun Dinge, für die sie sich fürchterlich schämen würden, wenn das nichts für die Ewigkeit wäre mit den beiden. Jemand aus dem Kindergarten, mit dem ich mich ganz gut verstand hatte mir das gesagt, er war einer der wenigen, mit denen ich mich tatsächlich fürchterlich gerne unterhielt, weil wir auf derselben Wellenlänge lagen. Jedoch machten wir nicht ganz so viel zusammen, denn sein bester Kumpel war eine ziemliche Heulsuse und brauchte ihn nahezu ständig. Ich blieb also die meiste Zeit, gepaart mit den Stunden allein in meinem Zimmer, in denen ich zeichnete oder sonst was tat, verbrachte ich also die meiste Zeit meines Daseins lieber allein als mit anderen, deren Interessen und Gedanken ich nicht teilte. Ich wollte lieber für mich denken und im Geist frei sein, dort, wo mich keiner schräg anstarrte, wenn ich etwas für mein Alter Unangebrachtes sagte. Plötzlich wurde ich umgerannt und landete auf der Stelle, die ich gerade so intensive angestarrt hatte. Ich wurde noch nasser als ohnehin schon, weil ich zu sehr unter Trance stand, und ja, ich wusste, was das war, auch das hatte mir mein Freund beigebracht, den ich seit der Grundschulzeit, deren erste Klasse bald endete, nicht mehr gesehen hatte, um en Schirm aufzuheben. "Aua, Manno, das tut weh, Herrschaft noch mal...", brummte ich als ich mich umdrehte und da dieses Mädchen vor mir saß. Ihr Blick lag auf dem Boden und sie wagte nicht, mich anzusehen.   "T-tut mir leid...", hörte ich sie wimmern, ehe es in ein mein Herz zerreißendes Weinen ausartete.   "Es tut mir... so leid!", sie heulte so viel und lange, obwohl sie mich doch bloß umgerannt hatte und das so schlimm doch nun auch nicht war.   "H-hey, n-nicht weinen, ich... ich bin okay. Du kannst einen Bonbon haben, wenn du willst.", versuchte ich, sie zu beruhigen, als ich ihr einen Bonbon, den ich mir heute mitgenommen hatte, zu reichen. Sie hörte augenblicklich auf zu weinen und sah mich mit Tränen, die ich trotz des Regens sehen konnte, an.   "Ich darf das echt haben?", flüsterte sie fragend und ich nickte. Sie nahm ihn mir zögerlich aus der Hand und wickelte das Papier auf, ehe sie die runde Süßigkeit in den Mund nahm. Sie wischte sich nun besser gelaunt die Tränen aus dem Gesicht, was nicht viel half, da sie, wie ich, ebenfalls vom Regen durchnässt wurde. Sie bemerkte, dass wir immer noch auf dem nassen Boden saßen und auch, dass ich gerade auf meinen Zeichnungen saß, auf die ich gelandet war. Sie stand so schnell es ging auf und reichte mir ihre Hand, wie auch ich es getan hatte, als ich ihr das Bonbon anbot, dass sie sofort wieder glücklich gemacht hatte.   "Chika bittet dich, ihre Hand zu nehmen!", sagte sie und grinste. Ich nahm sie schüchtern und versuchte einfach, sie nicht schon wieder zum Heulen zu bringen. "H-hast du das gemacht?!", fragte sie auf einmal völlig begeistert, als sie die zerknitterten entstellten Zeichnungen von mir erblickte.   "Das war ich...", bestätigte ich vorsichtig.   "Darf Chika sie wie den Rest der Sachen aufheben?", wollte sie und sprach wieder so, als wäre Chika jemand anderes als sie selbst. Das verwirrte mich, schließlich kannte ich niemanden, der so redete. Wieder nickte ich und gleichzeitig fühlte ich mich schlecht, ein fremdes Mädchen einfach so meine Sachen aufräumen zu lassen.   "Ich finde sie wunderschön...", flüsterte sie und sah sich das Bild, das mich zeigte besonders wehmütig an. Warum nicht das viel bessere Familienbild? Ich fand das Bild, auf dem nur ich allein abgebildet war, einfach... ich mochte es nicht. So sah ich doch überhaupt nicht aus!   "Wirklich? Also ich finde, das Familienbild ist besser...", versuchte ich, es runterzuspielen.   Doch ihr Blick blieb derselbe faszinierte.   "Kann Chika es behalten?"", auf einmal sah sie mich geradezu flehend an. Ich nickte wieder und verstand die Welt nicht mehr. Wenn sie klug wäre oder einen guten Geschmack besäße, hätte sie doch wohl das andere Bild ausgesucht, dachte ich, doch sagte nichts mehr.   "Sag mal, was machst du eigentlich so allein hier? Und wieso willst du nur das Bild von mir und nicht das andere Bild? Ist doch viel fröhlicher...", resümierte ich eher zu mir selbst als zu ihr.   "Familie...", murmelte sie. "Ist das denn... wirklich immer so toll?", ich legte den Kopf schief und versuchte, auf keinen Fall so etwas wie 'Aber klar doch, das ist das Beste auf der Welt!' zu erwidern.   Das glaubte ich doch selbst nicht, das waren doch nichts als Pflichtgefühle, um ein anständiger Sohn zu sein.   "Du empfindest das also auch so?", fragte ich zaghaft und hoffte pathetisch, dass sie nicht wie die anderen war, die sagte, nein, das ist immer das Beste und muss auch so sein.   Natürlich mochte ich meine Familie. Aber ich konnte diese Liebe nicht genauso stark erwidern. Und das fühlte sich mies an. Sie nickte, als sie mir meine geschlossene Tasche mit all dem Zeug wiedergab. Ich nahm sie an mich und hob den Schirm selbst auf, um wenigstens etwas selbst getan zu haben.   "Ich mag meine Familie überhaupt nicht.", kam es ihr überraschend und kaltklingend über ihre vorher noch so fröhlichem Lippen.   "Was? Aber wieso das denn?", erschrak ich über ihren Tonfall, als wir nun beide unterm Regenschirm standen. "Ihretwegen bin ich sitzengeblieben. Wegen meinem blöden Dad. Mum sagt nichts dazu. Ich kann überhaupt keine Träume haben, ohne, dass sie alles zerstören. Ich habe gar nichts. Manchmal würde ich am liebsten einfach verschwinden. Das alles ist doch wertlos. Aber zum Glück ist unsere zweite Etage hochgenug, sodass ich-", und dann schlug ich sie einfach.   Die erste Ohrfeige in meinem Leben gab ich diesem Mädchen, egal, ob man Mädchen nun schlagen durfte oder nicht, es interessierte mich, umgangssprachlich, einen Dreck.   "So was darfst du nicht sagen, du blöde Kuh!", keifte ich unter starkem Regen, weil ich den Schirm erneut hatte fallen lassen, um sie zu treffen.   "Wenn du nachgibst, war es das, verdammt! Du musst echt nicht darauf hören, glaubst du, ich habe einen Grund hier zu sein? Nein. Glaubst du, mir gefällt, wie langweilig das alles hier ist? Nein. Und gibt es irgendwem, den ich wirklich noch an meiner Seite habe, der mich versteht und wegen dem ich auf alle Fälle weiterexistieren muss? Auch nicht, aber weißt du was? Einen Scheißdreck mache ich, ich verteidige einfach meinen Platz und bin allen voraus, damit ich auserwählt werde, um Dinge zu ändern! Und das solltest du auch, wenn du ja angeblich so viel darunter leidest!", alle Emotionen brachen einfach aus mir heraus, alles, was ich niemals jemandem, noch nicht einmal meinem Kindergartenfreund, gesagt hatte, hatte ich ihr einfach so ins Gesicht geschrien.   Und es klang verdammt noch mal unhöflich. Unvorstellbar, dass man mich immer für meine zurückhaltende und höfliche Art lobte, nun habe ich das getan, was absolut keiner, der mich kannte, von mir erwartet hätte. Ich sah zu dem Mädchen und wollte mich entschuldigen, als ich sie erneut weinen sah. Toll gemacht, Elvis, schlägst Mädchen, schreist sie an und bringst sie zum Heulen, dachte ich, doch diese... umarmte mich einfach. Wegen des Regens wusste ich nicht, ob ich alles verstanden hatte, doch ganz nah an meinem Ohr hörte ich etwas, dass sich wie ein aufrichtiges inniges "Danke" angehört hatte. "Wie... bitte?", stammelte ich in den armen dieses seltsamen Mädchens.   "Du hast Chika schon verstanden. Du hast mich verstanden.", murmelte sie nur und ließ mich vorsichtig wieder los. Für einen Augenblick hatte ich fast vergessen, dass wir im Regen standen, so warm war es.   "Darf Chika dich nach deinem Namen fragen?", wollte sie wissen und sah mich mit den Augen, die trotz des trüben Wetters und des Regens goldener nicht hätten strahlen können. Ich nickte und sagte.   "Ich heiße Elvis.", antwortete ich, weil ich davon ausging, dass sie zu denen gehörte, die nicht lange brauchten, um jemanden beim Vonamen zu nennen. Das Mädchen hob den Schirm, den ich hatte fallen lassen, wieder auf und sah mir tief in die Augen, ehe sie sagte:   "Wie der Gitarrentyp? Das ist ja interessant!", es war komisch, ihr beim Sprechen zuzusehen, sie scheint ihre Mimik innerhalb eines Satzes nicht zu ändern und falls doch war es schneller und plötzlicher als es normal wäre. Zu dem 'Wie der Gitarrentyp?' konnte ich nichts weiter sagen, dafür verstrichen zu viele Sekunden danach, als dass es noch angemessen wäre.   "Und du bist... Chika, oder?", entgegnete ich.   "Ja. Die bin ich.", bestätigte sie beinahe klanglos.   "Elvis?", sagte sie meinen Namen mit einem Fragezeichen.   "Ja?", jetzt war ich neugierig, was darauf wohl folgte.   "Darf ich dich Ellie nennen?", hörte ich sie fragen und der Regen prasselte weiter erbarmungslos auf meinen schwarzen Erwachsenenregenschirm. War das nicht ein Mädchenname? Oder war das einfach eine verniedlichte Form für Elvis? Ich vermutete zweiteres und bejahte. "Ellie?", sagte sie noch einmal meinen Namen in der neuen Form. "Ja hoch zwei?", antwortete ich, weil ich Streber schon wusste, was Hochzahlen sind und wie sie aussehen. "Ich liebe dich.", Stille. Was erwiderte man nun darauf? Ich war erst sechs Jahre alt, was wollte ich mit Liebe? Und kannten wir uns nicht erst seit, ich weiß auch nicht, heute? Das war einfach zu viel. Ich verstand die Welt nicht mehr. Schon wieder. Dieses Mädchen verwirrte mich einfach. Es war nicht so, dass ich sie absolut nicht ausstehen konnte oder unfähig, sie zu lieben, ich meine, sie war interessant und schon das, was man unter süß verstand. Aber ich wusste nicht, was Liebe ist. Jedoch wusste ich, dass ich dies nicht fühlte.   "Es... Es tut mir leid!", sagte diesmal ich und verschwand im an Stärke zugenommen habenden Regen, ohne mich umzudrehen oder daran denkend, dass sie noch meinen Schirm hatte.   Ich rannte einfach nach Hause und wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Dieses Mädchen sah ich seither, genau wie den Regenschirm, den sie von mir noch hatte, im Leben nie wieder. Und im Inneren habe ich es im Vergessenen bis zum heutigen Tag bereut, dass ich so taktlos zu ihr war.   "Ach du Scheiße, wir müssen los!", entfährt es dem Mädchen von damals und sie rennt in Sonic-the-Hedgehog davon, weil es schon geklingelt hat und wir mehr als nur zu spät sind, so lange waren wir in der Umarmung, und in meinem Fall in einem Flashback gleichermaßen, gefangen.   "Das, Ladies and Gentlemen, war echt krasse Scheiße vom Feinsten.", moderiere ich für mich selbst, ehe ich Chika, wie ich mir ja jetzt sicher bin, dass sie so heißt, folge und mich auf den Weg in mein Klassenzimmer mache.   Aber wer um alles in der Welt hätte gedacht, dass diese grünhaarige Berserkerin auch in meiner eigenen Klasse auf mich lauern würde? "Ellie, was eine Überraschung? Wir sind dieses Jahr in einer Klasse!", freut sie sich und fällt mir schon wieder um den Hals, ein wenig zu eng, meines Erachtens nach.   "Ich... freu mich auch.", sage ich etwas geniert, weil ich nicht weiß, wie ich mit diesem heißblütigen Pferd umzugehen habe.   "Das klingt aber nicht sehr begeistert, dafür, dass wir uns ewig lange nicht gesehen haben...", bemerkt sie beleidigt. "Das muss Schicksal sein, Ellie, sonst wären wir nun nicht hier! An jenem schicksalhaften Regentag, würde uns so eine Biografie nicht voll reich machen und so?!", wollte sie sich absolut überzeugt meine Zustimmung einholen.   "Ich glaube, du hast eine Meise. Eine radioaktive.", meine ich nur mit einem Lächeln, um ihr wenigstens etwas entgegen zu kommen. Lustig.   "Eine radioaktive Meise? Ellie, du bist ein Genie! Du hast mich gerade auf eine Idee gebracht! Lass uns eine Front gründen! Die radioaktiven Meisen! Klingt das nicht geil?!", die setzt auch noch einen drauf, das wird ja immer krasser. Ach du heilige...   "Wow, du hast es geschafft, diese Unterhaltung in ein noch seltsameres Tief zu bringen. Respekt, Grünschnabel.", so nenne ich sie einfach, weil ich mich nicht dazu überwinden kann, sie beim Vornamen zu nennen und weil sie grüne Haare hat.   "Grünschnabel... Ich glaube, ich mag diesen Namen...", säuselt sie und starrt ins Leere. Das wird ja immer schräger mit der, ich komme nicht darauf klar...   "Ich will ja gar nicht anmaßend sein, aber... könnten sich der Herr und die Dame vielleicht hinsetzen? Der Unterricht hat bereits seit fünfzehn Minuten begonnen und dreißig Sekunden, einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig, vier-",   "Verstanden! Tut uns leid, wir setzen uns!", unterbreche ich unseren ungeduldigen Lehrer und setze mich hin, Chi-, ach vergiss es, ebenso.   Der Unterricht beginnt, aber meine Gedanken sind in einem anderen Universum. Noch mehreren Paralleluniversum, wenn ich ganz genau sein möchte. In allem durchlaufe ich die Möglichkeiten, wie ich diese Situation an jenem schicksalhaften Regentag - gottverdammt, Chika! - hätte meistern können, ohne mich wie ein kompletter Vollidiot anzustellen. Ich komme mit meinen Gedankengängen nicht weiter. Aber was interessiert es mich schon? Das ist schließlich Vergangenheit. Und dass Chika hier ist, ist Zufall. Und, dass ich hier seit bald drei Jahren zur Schule gehe, auch. Weißt du, ich muss auch gut auf meine eigene Gegenwart aufpassen. Meine eigene Wunschvorstellung wahr werden zu lassen. Und die besteht darin, der Allerbeste zu sein. Nur dafür lebe ich. Und für niemanden sonst. Kapitel 102: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 2 -------------------------------------------------------------- Der restliche Schultag geht langweilig und bedeutungslos von statten. Ich habe mich nur wegen des Zwischenfalls umso mehr am Unterricht beteiligt und mir so viele Notizen gemacht, wie ich eben zu machen pflege, Chika wich den ganzen Tag über so gut wie nicht von meiner Seite, außer, dass sie einmal ziemlich schnell aufs Klo musste und dabei panisch aussah. Ich dachte mir nichts dabei, schließlich bin ich wirklich der Letzte, der die schwachen Blasen der anderen hinterfragen müsste. Egaoshita habe ich so gut wie gar nicht mehr gesehen, lediglich in der Pause hat er mich, wie es seiner Art entspricht, vollgequatscht und ist dann wieder abgezogen. Irgendwas an seinem Blick ist irgendwie... ich weiß auch nicht, es ist etwas besorgniserregend, wenn in seinen grauweißen Augen ein Anflug von versteckter Trauer oder extremer Nachdenklichkeit sichtbar ist. Er kann rumalbern wie er möchte, irgendwie ist seit heute etwas anders, nein, nicht nur seit heute, auch am letzten Schultag des zweiten Jahres hat er mich schon so eigenartig angesehen. Ich beschließe jedoch, nicht genauer darüber nachzudenken und bahne mir meinen Weg in ein Zuhause, dass sich jedoch eher wie Mittel zum Zweck anfühlt. Ich bin irgendwie gern zu Hause und gleichzeitig auch nicht. Hauptsächlich wegen meinem Bruder und meinen Eltern, die mit mir wohnen. Irgendetwas in unserer Beziehung und die Atmosphäre zwischen uns ist einfach seit ich denken kann... komisch. Irgendwas riecht da einfach, seit ich bewusst beobachte, nach absolutem Fake. Fälschung. Theater. Reality-TV. Wie ich das hasse. Was meinen Bruder angeht, zwischen uns ist es am schlimmsten. Er hat einfach einen Killerblick, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt und scheint mich einfach aufs Übelste zu missbilligen, in was für einer Weise auch immer. Nun, er war nicht immer so. Als ich noch so, zwischen ein und vier Jahre alt war, da mochte er mich. Fast mein gesamter Lebensinhalt während dieser Zeitspanne in meinem Leben bestand darin, dass mein großer Bruder mit mir spielte und mich unglaublich lieb hatte. Jedoch, nun, er scheint gemobbt worden zu sein, dann begann er mich förmlich zu hassen. Keine Ahnung, was ich damit zu tun habe, dass er gemobbt wurde und womit ich das verdient habe, aber ich ertrage es. Aber mal ganz unter uns, selbst wenn er mich vielleicht nicht ohne zu zögern umbringen würde - weil ihm vielleicht doch noch etwas an mir liegt? - bin ich so oft kurz davor zu sagen, dass er verdammt noch mal selbst schuld daran ist, wenn er ständig alles in sich hineinfrisst, und das meine ich auch so, denn er ist ziemlich dick und hat Problemhaut. Außerdem redet er fast niemals und verbringt die meiste Zeit mit seinem Computer, um irgendwo in den Weiten des Internets Online-Games zu zocken. Alles was er hatte, waren eine Tasche voller Videospiele und ein Riesenvorrat an heruntergeladenen Manga auf seinem Tablet. Ich kann nicht sagen, dass ich Onii-chan, selbst, wenn er es eventuell täte, hassen würde, aber ich bin, seit er aus seiner Wohnung geschmissen wurde und wieder bei uns ist, ziemlich gestresst von ihm. Manchmal frage ich mich, ob wir überhaupt Brüder sind, denke ich und schließe die Haustür meiner Wohnung auf. Meine Mutter sieht sich gerade schweigend eine Folge Slippy Stairs an und mein Vater sitzt im Sicherheitsabstand von etwa vierzig Zentimetern neben ihr. Von meinem Bruder fehlt jede Spur. Wahrscheinlich spielt er Darksouls oder Call of Duty, wie fast alle Nullacht-Fünfzehn-Gamer es tun. Auf einmal ertönt das Klingeln des Telefons und mein Vater steht auf, um ranzugehen. "Hallo?", höre ich ihn sagen. Sein Gesichtsausdruck versteift sich und er guckt so ernst und aufmerksam wie noch nie. Doch irgendetwas muss gesagt worden sein, dass alles, wirklich alles in diesem Moment für seine Welt zerstört und auf dem Boden hat zerschellt lassen. Plötzlich reißt er die Augen auf und lässt den Apparat wie eine heiße Kartoffel fallen. Und er selbst gleich hinterher. "Shun?", fragt meine Mutter besorgt, fast als wüsste sie, was los wäre, anders als ich. "Papa? War das vielleicht... eine Kündigung?", will ich ganz leise wissen, ob wir jetzt arbeitslos sind. Meine Mutter verdient in ihrem Laden gerade nicht sonderlich viel. Und wenn mein Vater seinen Job als Polizist los wäre, wäre das ein finanzieller Ruin für unsere Familie. "Schlimmer noch...", flüstert er mit noch immer vollkommen verstörten, aufgerissenen Augen. Onii-chan kommt aus seiner Ecke und sieht nach, was los ist, als mein Vater uns mit ersticktem Tonfall mitteilt: "O-onkel Jun ist... Jun ist gerade... gestorben. Er ist einfach weg. Wir werden ihn niemals wiedersehen... Scheiße.", seine Mimik verändert sich nicht und es sieht nicht so aus, als wäre da noch Blut vorhanden oder irgendein... Gefühl in seinem Gesicht abzulesen. Niemand wagt sich zu bewegen, aber aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Onii-chan unentwegt zittert. Diesen verlorene hoffnungslose Anblick volle Verzweiflung der dem unseres Vaters mehr als jeder andere gleicht, werde ich in meinem ganzen Leben wohl niemals vergessen. Onkel Jun ist tot. Wir waren ihn so oft besuchen. Er war so etwas wie der beste Freund meines Vaters, der auch sein Bruder gewesen ist. Den hat er jetzt verloren. Auch ich mochte Onkel Jun. Nun ist er weg. Und ich fühle nichts. Dafür verfluche ich mich. Drei Tage später, nach der Beerdigung voller Leid und Trauer, bin ich, zumindest glaube ich das, allein zu Hause. Meine Eltern haben nicht aufgehört zu weinen, mein Bruder tat dasselbe in seiner Ecke, in der ihn niemand heulen hörte. So schmerzerfüllt war sein Blick auch ohne, dass er weint, noch nie. Ich habe gerade Kopfhörer auf, weil ich nicht jeden an meinem Musikgeschmack teilhaben lassen will, aber auch, um die Musik noch rechtzeitig abzuschalten, wenn nötig. Mir fällt ein, dass ich in dem Zimmer, dass Onii-chan gehört, aber irgendwie auch nicht, mein Buch vergessen habe. Tribute von Panem Band zwei. Ich gehe stark davon aus, dass es noch dort ist, immerhin ändert er selten etwas in einem Zimmer und wahrscheinlich ist er sowieso bereit, so schnell wie möglich abzureisen, weil ich bezweifle, dass er bleiben will. Nur einen Rucksack voller Kleidung, mehr hat er im Grunde auch gar nicht dabeigehabt. Weil es die ganze Zeit so still ist und ich auch in seinem Zimmer Schrägstrich Nicht-Zimmer keine Gaming-Geräusche erfasse - und ich zu nervös bin, um zu klopfen und ein grimmiges 'Herein?!' zu hören - , gehe ich todesmutig - und absolut von allen guten Geistern verlassen - durch die Tür. "Sorry, muss kurz rein.", murmle ich und husche an ihm vorbei, ehe das Donnerwetter über mich hereinbricht. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist?! Habe ich herein gesagt, oder kannst du dich selbst einladen?!", keift er und seine Stimme ist so laut, dass sie in meinem Kopf sogar leicht echot. Ich bin starr vor Schreck und sprach- und bewegungsunfähig. "Glaubst du, du darfst einfach alles, nur weil du hier noch wohnen kannst?! Raus aus meinem Zimmer, Mann!", schreit er und nun steht er direkt vor mir. Ich fasse nun doch Fuß und mache auch mal den Mund auf. "Jetzt reicht's doch mal, echt! Musst du mich immer zusammenstauchen, obwohl ich nichts gemacht habe, huh?! Was ist dein scheiß Problem?! Wieso muss ich immer herhalten, wenn du einen auf Männerperioden-Opfer machst?! Du machst mich echt sauer mit deinem Schmarotzer-Lifestyle! Ich habe nur Tribute von Panem holen und wieder gehen wollen, aber vielen Dank, jetzt ist mir die Lust vergangen!", das war hart. "Ich soll ein Schmarotzer sein?! Du bekommst doch alles in deinen verwöhnten Arsch geschoben! Schon mal darüber nachgedacht, dass es noch andere Menschen gibt und dir nicht die ganze Welt gehört?! Allein deine Anwesenheit nervt mich!", oh nein, das hätte er nicht sagen dürfen! "Oh, oh, jetzt habe ich aber Angst, du glaubst, ich sei egoistisch?! Fein, wann habe ich jemals etwas Egoistisches gesagt oder getan, huh? Schieß los, Bruder! Ich finde ganz ehrlich, dass du definitiv mehr Dreck am Stecken hast als ich, dass du es weißt!", jetzt scheinen wir mit jedem Schlagabtausch wütender und lauter zu werden. Das ist doch wohl nicht wahr! "Du bist oberflächlich wie scheiße und fragst mich Müsli kauend nach der Butter, nur, um dich über mich lustig zu machen! Ich sehe doch wohl, wie du auf mich herabsiehst!", brüllt er und ich wage kaum, ihn ins Gesicht zu sehen, nur ab und zu. "Wie soll es auch anders sein?! Du sagst nie etwas, duscht vielleicht einmal die Woche und ich dachte vor zwei Jahren, dass ich dich nach dem Auszug nie wieder sehe, bis du letztens doch zurückkamst, weil du die Miete nicht bezahlen konntest! Wie soll ich da denn nicht auf dich herabsehen, wenn ich nicht so tief gesunken bin wie du?!", mir wird immer weniger bewusst, wie Arschloch-like ich mich anhöre, aber das beruht ja unschwer erkennbar auf Gegenseitigkeit. "Ich glaub' es harkt, wenigstens schleime ich mich nicht mit der noch stilleren, selten was sagenden Höflichkeit in Person bei unseren Eltern ein!", das wird er bereuen, denke ich und gehe zum Gegenangriff über. "Ach ja? W-wenigstens bin ich kein Vollversager und fett!", das hat gesessen, bemerke ich, als es zu spät ist. Mein Bruder ist schneller als er aussieht. Mit gefühlten 80 km/h brettert er meinen erwürgt werdenden Hals gegen die Wand und drückt zu, bis ich fast nicht mehr imstande bin, zu atmen oder vernünftig nachzudenken. "O-onii-chan, ich...", krächze ich, als er mir die Luft abdrückt und ich die Kälte der Zimmerwände auf meinem Nacken zu spüren bekomme. "Wag es ja nicht, je wieder so über mich zu reden. Was glaubst du eigentlich, wer ich bin und wer du bist? Halt verfickt noch mal deine vorlaute kleine Fresse im Zaum!", höre ich ihn bedrohlich knirschen, ehe er ausholt und ich durch seine andere Faust einen vernichtenden und sich fast schon tödlich schmerzhaft anfühlenden Schlag in die Magengrube einstecke. Während ich Onii-chans Blick nicht deuten kann, höre ich mich selbst stumm und erstickt nach Hilfe schreien, kriege jedoch keinen Ton heraus, als die Welt in tiefes Schwarz eintaucht und verschwindet. Als ich wieder zu mir komme, ist das ohnehin schon leer gewesene Zimmer, noch leerer als zuvor. Als wenn niemals wieder jemand zurückgekehrt wäre und es auch in Zukunft nie wieder tun würde. Ich will aufstehen, da durchfährt mich ein zerreißender Schmerz in der Magengegend. Ich heule fast auf, doch beiße ich die Zähne zusammen, weil ich nicht weiß, ob meine Eltern beide schon zu Hause sind. Es brennt. Dermaßen. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Bauchschmerzen. Schon gar nicht, weil mir irgendjemand dort reinschlug. Meine Kopfhörer hängen mir nun auf den Schultern und ganz leise höre ich noch etwas von der fripSide-Playlist, die ich mir zusammengestellt habe, weil mir die Songs so gut gefallen. "Only my railgun can shot it, im Augenblick.", murmle ich zu dem Lied, obwohl das die falsche Strophe ist, die zweite und nicht die erste, die ich gerade mit meiner hundsmiserablen, auch noch verkloppten Stimme, die gerade eher flüstert als singt, nachahme. Mein Gott, mir tut, obwohl er mich bloß im Magen getroffen hat, irgendwie alles weh. Scheiße weh. Ich war gerade verdammt noch mal bewusstlos deswegen. Ich hoffe, die Nachbarn haben nichts gehört. Heute ruft mich keiner, weil es Abendessen gibt. Es sind alle immer noch zu weggetreten und traurig wegen Onkel Jun. Ich weiß noch nicht einmal, ob jemand da ist, geschweige denn meine Anwesenheit und die Abwesenheit Onii-chans zur Kenntnis genommen hat. Ich schaffe es langsam wieder mich trotz der Schmerzen wieder aufzurichten und sehe einen Spiegel. Seit Onii-chan vor zwei Jahren ausgezogen ist, gleich nach der Highschool, hat meine Mutter in dem leeren Zimmer einen Spiegel angebracht. Fragt mich nicht, wieso. Ich sehe mein noch immer leichenblasses Gesicht in der Spiegelwelt aufleuchten und sehe mich lange an. Warum juckt dich nicht, wenn jemand stirbt? Wieso ist dir egal, dass Egaoshita, dein bester Freund nicht mehr in deiner Klasse ist? Was zur Hölle ist falsch mit dir?! All das schreie ich mir in Gedanken ins Gesicht. Was ist los mit mir? Ist es, weil ich spüre, dass etwas innerhalb meines Umfeldes nicht stimmt? Dass meine Familie wirklich nicht das ist, was ich zu glauben vorgebe? Wo bleibt das Mitgefühl, wenn man es braucht? Wo ist die Liebe? Wieso kann ich ihnen nicht im Geringsten zurückgeben, was sie mir geben? Ich nehme den Spiegel in die Hand. Meine Augen sehen verzweifelt aus und meine Lippen zittern. Ich sehe aus, als wäre ich kurz davor, irgendetwas Wahnsinniges zu tun. Wer weiß, vielleicht bin ich ja des Wahnsinns?! In dem Moment lasse ich die spiegelnde Fläche, und das ist nur eine Platte ohne Rahmen und ohne nichts, fallen. Ich lasse es einfach auf dem Boden zerschellen und das Gefühl der Zerstörung befriedigt mich. Ich grinse und lache auf. Nur kurz. Dann holt mich wieder jenes Gefühl ein, das ich fühle, wenn ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich bücke mich und studiere die Splitter, die ich erschaffen habe. Eines sieht besonders scharf aus. Ich nehme es in meine Hand und fahre mit voller Absicht und Kraft über meine andere Handfläche, ich drücke dabei richtig zu. Ich drücke das Stück Spiegel in meiner Faust zusammen und Blut läuft aus meiner Hand. Ich bin wie versteinert. Es macht mir fast schon Angst, zu sehen, wie mein Blut, das eigentlich drin bleiben sollte, hervortritt. Na ja, irgendwann ist immer das erste Mal. Aber was mich noch mehr beschäftigt... "Wieso… wieso fühle ich nichts...? Was ist falsch bei mir?", flüstere ich fast klanglos und die Tränen fließen. Warum weine ich? Was mache ich eigentlich hier? Wieso fühle ich mich so leer? Wieder kommt keiner. Ich bin allein. An darauffolgenden Tag bin ich scheinbar in Onii-chans Zimmer mit dem zerbrochenem Spiegel eingeschlafen und hatte nichts zum Abendbrot. Onii-chan ist nicht zurückgekehrt. Vermutlich bleibt das auch so. Mann, ich war wirklich respektlos. Wenn ich mich bloß entschuldigen könnte... Aber wie es scheint, ist er über alle Berge und per WhatsApp ist scheiße. Mir tut die Hand weh. Schon klar, die hat ja auch geblutet. Ich stehle mich kurzerhand ins Badezimmer und suche irgendwo nach Verbandszeug. Das finde ich schnell. Ich putze mir die Zähne und kehre zurück in mein eigenes Zimmer, um meine Schuluniform anzuziehen. Als ich gerade fertig bin, merke ich, dass es fast fünf Uhr morgens ist. Viel zu früh also. Ich kann die Faust meines Bruders noch immer in meinem Bauch spüren, jeden einzelnen Knochen, der sich auf mein Fleisch in Form von Schmerz verewigt hat. Es tut nicht mehr ganz so weh, ich weiß bloß, dass gestern keiner ins Zimmer gekommen oder nach mir gesehen hat. Diese Tatsache ist schlimmer als die Schmerzen. Bin ich denn wirklich so überflüssig? Na ja, vielleicht sollte ich meine Eltern einfach etwas ruhen lassen. Ich gehe einfach eine Runde spazieren, denke ich und schreibe einen Post-it. "Bin früher los, macht euch keine Sorgen. Morgen übrigens. Falls ihr Onii-chan sucht, nein, ich habe ihn nicht gesehen und er kommt auch nicht zurück. Nein, er ist nicht tot. Er ist einfach gegangen.", Mit einer meines Erachtens akzeptablen Entschuldigung verlasse ich die Wohnung. Ich habe meine Schultasche und alles dabei, denn ich habe selbst auch nicht das Gefühl, als ob ich wiederkehren würde. Zumindest nicht mehr heute an diesem Morgen. Ich gehe ein wenig im Park umher. Dort ist es nebelig, es herrscht überall ein ziemlich hartnäckiger Nebel, jedoch kann ich noch irgendwie so die Hindernisse umgehen. Typisches Aprilwetter irgendwie. Ich gehe umher, Musik hörend, und ja, wieder fripSide und nachdenkend. Als ich beinahe gegen einen Baum renne, erblicke ich jemanden auf einer einsamen Park sitzend und fast wie hypnotisiert in die Ferne sehend. Ich schleiche mich auf leisen Pfoten wie ein Ninja an diese Person heran, ehe ich fast schon schockiert feststelle, dass es sich hierbei um niemand Geringeres als Egaoshita handelt. "Egaoshita-kun? Was machst du denn hier?", entfährt es mir weniger überrascht klingend als ich es tatsächlich bin. "Kyocchi?", auch er scheint überrascht zu sein. Hat Egaoshita da wirklich sogar leichte Tränen in den Augen? Ach nein, das liegt sicherlich an der Kälte. Es ist ziemlich frisch gerade. "Das Gleiche könnte ich dich fragen.", meint er, als er aufsteht und nun direkt vor mir steht. "Ich habe zuerst gefragt.", erwidere ich kühl und hoffe auf eine Antwort. "Da hast du auch wieder Recht, Mann. Ich, na ja, also ich... wollte einfach spazieren gehen.", sagt er noch im letzten Moment und sein Gesicht scheint einen Ausdruck von Rettung angenommen zu haben. "Ich ebenfalls, Egaoshita-kun. Welch Zufall.", kommentiere ich. "Um noch nicht einmal sechs Uhr morgens?", fragt er. "Auch das könnte ich dich auch fragen.", gebe ich nur wieder, was ich schon bereits sagte. "Oh Mann, stimmt ja.", seufzt er. "Sollen wir noch bei mir vorbei? Wir könnten noch die Zeit totschlagen, bis wir in die Penne müssen.", schlägt Egaoshita vor. "Okay, wieso nicht? Ich habe sowieso nicht vor, wieder nach Hause zu kommen. Lohnt sich ja nicht.", sage ich zu und kurz darauf finden wir uns vor einem Wohnheim wieder. Bis jetzt habe ich nicht gewusst, dass Egaoshita nicht bei seinen Eltern oder so lebt. "Du lebst hier? Ich dachte, Mittelschüler dürfen hier gar nicht allein leben...", denke ich laut, als wir dort sind. "Dürfen sie auch nicht. Aber ich hab so meine Gründe. Frag einfach nicht.", bedeutet er mir, den Mund zu halten. Na gut, dann muss es wohl sein. "Respekt, hier sieht es ja aus wie in einer Zombieapokalypse.", bemerke ich, als ich diese unordentliche und verdreckte Beleidigung einer Einrichtung sehe. "Ach, hab dich nicht so, ist doch voll bequem...", mault er, weil ich seinen Sinn für Ordnung nicht verstehe. "Na, wenn du das sagst...", gebe ich mich geschlagen und setze mich auf einen Stuhl, der zum Schreibtisch gehört. "Und, was machen wir jetzt?", frage ich meinen Gastgeber. "Wir könnten-", sein Satz wird vom meinem Magenknurren unterbrochen. Beschämt drehe ich mich weg. "Wir könnten essen.", beendet er ihn und sieht sich in seinem Schrank scheinbar nach etwas Essbaren um. Das ist ein Kleiderschrank, wie hoch soll ich meine Erwartungen beim Essen denn nun schrauben? "Hier.", und schon fliegt mir eine Packung Sandwich entgegen, Egaoshita hat eine andere selber in der Hand. "Dann lass uns mal essen.", murmelt er eher zu sich selbst. Er setzt sich auf sein Bett und versucht, die Packung zu öffnen, was ihm sofort gelingt. Ich dagegen habe so meine Schwierigkeiten damit. "Setz dich doch dazu.", bietet er an, ohne mich anzusehen. Ich stehe auf und setze mich neben ihn. Ich versuche nach wie vor erfolglos an die Sandwiches zu kommen und als Egaoshita das sieht, nimmt er mir sanft aber bestimmt die Packung aus der Hand, als er sagt: "Lass gut sein, ich mach das schon.", und wieder schafft er es. Er überreicht mir stumm die Packung und wir essen schweigend, ohne einander anzuschauen. Diese Atmosphäre macht mich wahnsinnig. Irgendwas in Egashitas Aura verrät mir, dass ihn irgendwas brennend beschäftigt. Nur wird er mit der Sprache nicht rausrücken. Stattdessen essen wir bloß und ignorieren diese geheimnisgeschwängerte Luft so gut es geht. "Sag mal, Egaoshita-kun, was ist denn eigentlich los mit dir?", will ich wissen, nachdem wir fertiggegessen haben und ich die Stille zwischen uns nicht länger ausgehalten habe. Seine Augen weiten sich. Doch er nimmt sofort wieder eine neutrale Mimik an und schaut zu mir. "Was meinst du, Kyocchi?", nettes Schauspiel, Egaoshita, nettes Schauspiel. "Tu nicht so, Mann. Du weißt doch selber, dass da was im Busch ist.", entgegne ich überraschend giftig. Warum nervt mich das so? Er scheint jedoch gar nicht richtig zu reagieren, als ich gerade so garstig zu ihm war. "Egaoshita-kun, rede mit mir!", jetzt werde ich langsam ungeduldig. Normalerweise ist er der Gesprächigere von uns beiden, dieser Rollentausch ist kein ganz so Leichtes für mich. "Nein, ich rede nicht.", flüstert er. "Wie?", was soll denn das jetzt? Erde an Egaoshita, wach auf und benimm dich normal! "Bitte geh wieder. Und triff mich nach der Schule im Geräteschuppen, ich will jetzt allein sein.", okay, jetzt wird es schräg. Wann wollte Egaoshita jemals allein sein? "Ich verstehe es zwar nicht, aber ich tue dir den Gefallen, wenn es das ist, was du willst.", teile ich ihm noch mit, ehe ich ungewiss sein Zimmer verlasse und es sich anfühlt, als wäre unsere Freundschaft kurz davor, in die Brüche zu gehen. Irgendetwas sagt, dass ich für sein derartiges Auftreten verantwortlich bin. Irgendetwas sagt mir, dass dieses Bedürfnis nach Einsamkeit uns nachher später beide zueinander zurückführt. Dass dies der Anfang vom Ende ist. Vielleicht doch nur Einbildung? Interpretation? Lüge? Nein, mein sechster Sinn hat immer Recht. Ich überstehe den Schultag wie sonst auch und kann es kaum erwarten, Egaoshita im Geräteschuppen zu treffen. Ich bin unfassbar gespannt und neugierig. Als die Stunden dann endlich überstanden sind, renne ich förmlich nach unten in den Geräteschuppen, erwartend, dass Egaoshita hier irgendwo sein muss. Die Tür steht offen und ich spaziere geradewegs herein. Jedoch ist keiner da. "Hallo? Egaoshita-kun?", rufe ich in normaler Lautstärke und sehe mich um. Von meinem besten Freund fehlt jede Spur. Typisch, immer muss er mich verarschen und amüsiert sich prächtig beim Gedanken, dass ich erneut drauf reingefallen bin. Ich gehe ein wenig weiter und schaue mich mehr um. Ich klappere gefühlt jeden Winkel ab und bin je mehr Sekunden verstreichen, desto genervter. Ich gehe jetzt, denke ich und will gerade gehen, als ich den Rücken vom Eingang entfernt ein Klicken höre, sodass es sich anhört, als ob ich gerade eingesperrt worden wäre. Anscheinend hat jemand die offene Tür bemerkt und wollte des Pflichtbewusstseins halber mal abschließen. Verdammt. "Hallo? Hallo! Ich brauche Hilfe! Ich bin eingesperrt! Bitte! Irgendwer-", doch plötzlich verdunkelt sich mein Sichtfeld und ich spüre kalte Finger auf meinen Augenlidern. "Wie schön, dass du doch gekommen bist.", sagte eine mir vertraute Stimme. Sie klingt gar nicht neckisch wie sonst. Irgendwie emotionslos und doch leicht zitternd, wie eine alte Mikrowelle. "Das ist nicht witzig, Mann. Mich einzusperren, geht echt zu weit.", brumme ich, die Augen immer noch verdeckt. "Aber nicht doch, das war ich gar nicht. Eigentlich ist es mir aber auch egal.", gibt die Stimme zurück. Der ist doch irre. "Du bist wirklich ein Idiot, Egaoshita-kun.", knurre ich und nehme seine Hände aus meinem Gesicht, um etwas sehen zu können. Er hat wieder diesen Blick. Und ich bin mir auf unerklärliche Weise nun doch zu einhundert Prozent sicher, dass ich der Grund bin. Wieso auch sonst sind wir beide, er und ich, ganz allein, eingeschlossen, an einem Ort wie diesen? Einen anderen Grund kann ich mir in einer Situation wie dieser nicht vorstellen. Ich befinde mich praktisch im Auge des Sturms und diese unangenehme Vorahnung, die ich seit meinem ersten Tag im neunen Jahr habe, dass etwas ganz gewaltig nach hinten los gehen könnte, verstärkt sich immens. Dieser Blick von Egaoshita macht mir beinahe Angst, so unendlich fremd kommt er mir vor. "Sag mal, was ist denn mit deiner Hand passiert, Kyocchi?", fragt er und hebt sie hoch, um sie sich anzuschauen. Stimmt, die habe ich heute ja frisch verbunden und das Blut ist noch nicht ganz alt. "Das ist gar nichts.", sage ich und hole sie mir zurück. "Lügner.", höre ich ihn flüstern. "Ist ja ziemlich viel Verbandszeug für so ein bisschen Nichts. Komm, mur kannst du es doch sagen. Ist ja nicht so, als wenn dir das beim Runterholen passiert ist oder so.", witzelt er und boxt mir spielerisch in die Seite. "Sowas mache ich nicht. Und nein. Aber wenn du es wissen willst, ich habe gestern was fallen lassen.", erzähle ich ihm die halbe Wahrheit. Er sieht mich kurz noch skeptisch an, lässt es aber dann doch auf sich beruhen und setzt sich auf die Matte vor uns. "Was wolltest du jetzt? Wir sind hier eingesperrt und wenn du das wirklich nicht warst, dann hast du wohl besorgter zu sein. Wie auch immer, was wolltest du jetzt genau von mir.", komme ich auf das Thema zurück und setze mich neben ihn. Diese Aura lässt mich wirklich nichts Gutes erahnen. Wieder weiß ich gar nicht, was ich fühlen soll. Irgendwie, also, ganz verrückt, ich weiß, haben seine Wangen heute mehr Blut intus, es sieht fast so aus, als wenn er rot werde würde. Er sagt nichts. "Egaoshita-kun, ist alles in Ordnung? Komm, lass gut sein, der Witz mit dem Geräteschuppen und dem Alleinsein ist nicht witzig.", versuche ich, ihn zum reden zu animieren. "Das sollte es auch gar nicht.", antwortet er kühl. Ehe ich etwas Weiteres in die Richtung fragen könnte, spricht er weiter. "Ich habe nachgedacht. Über alles. Über dich und über diese verrückte Grünhaarige in der Pause. Und auch über mich. Irgendwie ist das schon komisch, was? Wie sie dir an den Lippen hängt, obwohl du dich nicht die Bohne für sie interessierst. Irgendwie kommt sie mir echt verzweifelt vor.", hat er das... wirklich gesagt? Das ist eines der nachdenklichsten Worte, die seinen Mund jemals verlassen haben. Aber da ist doch mehr, oder? Das kann nicht nur der Grund sein, wieso er mich hier haben wollte. Das ist es nicht, ganz sicher. "Wie... meinst du... das?", irgendwie komme ich noch immer nicht darauf klar, wie analytisch mein bester Freund drauf ist. "Denk doch mal scharf nach. Dieses Mädchen strahlt so viel von der 'Ich-bin-nicht-so-Eine-Art aus, dass es schon gar nicht mehr normal ist. Ich meine, sie ist hübsch und so. Aber auch voll anhänglich, hab ich das Gefühl. Wie sie an dir klebt, mit ihren großen Brüsten, vermutlich macht sie das mit Absicht, schon mal daran gedacht?", wow, der Typ hatte ja schon immer einen trockenen Humor, aber das? Das ist ja schon fast gemein. Ich will sie verteidigen, ihm sagen, dass Chika ihre Brüste nicht dazu benutzt, um mich für sich zu gewinnen und ein ganz anständiges, normales Mädchen ist. Aber ich kann nicht. "Du bist gemein, Egaoshita-kun. du kannst sie nicht einfach indirekt als Schlampe betiteln, das macht man nicht.", sage ich lediglich, weil ich das nicht wahrhaben will, jedoch auch nicht vom Gegenteil sprechen kann. Ich kann nicht von mir behaupten, nicht auch mal mit dem Gedanken gespielt zu haben, dass sie ihr Äußeres benutzt, um Aufmerksamkeit zu bekommen, insbesondere von mir, dem sie vor acht Jahren ihre Liebe gestanden hat. Ob das noch gültig ist? "Versuchst du etwa, sie zu verteidigen? Was hast du davon? Erzähl mir bloß nicht, dass du sie genauso geil findest, wie sie dich. Wenn du sie jetzt liebst, bist du ganz sicher nicht so vernünftig und klug, wie du dich immer gegeben hast, also erzähl mir nichts.", "Ich verteidige sie nicht, ich bin bloß nicht so flachköpfig wie du.", kommt es von meiner Seite. "Wer weiß, vielleicht bin ich ja flachköpfig wie du sagst, aber was soll's? Am Ende braucht man kein großes Sichtfeld, um ihre Masche zu erkennen. Bestimmt kennt sie dich, seit ihr Kinder wart und versucht, dich im Unterricht zu stören. Die Kindheitsfreundin. Die kleine Schwester. Ich sag es dir, das mit den Rollen ist gar nicht so abwegig, wenn du die Sache mal objektiv betrachten würdest.", objektiv? Ist es nicht das, was ich mein ganzes Leben lang gemacht habe? Alles neutral aus der Sicht des Beobachters zu sehen? Ich habe es immer getan. Und wenn ich tief in mich hineinhöre, dann wäre es tatsächlich klüger, auch diesbezüglich eine objektive Ansicht zu vertreten. Schließlich habe ich noch nie jemanden an mein Innerstes ranlassen wollen, von einer Liebesbeziehung ganz zu schweigen. Chika ist eine Nervensäge, kommt es mir in den Sinn. Ich habe nur versucht, höflich zu sein, wie immer, wenn ich lebe, und ich lebe immer. Aber eigentlich geht mir dieses Mädchen, auch wenn ich es niemals aussprechen und meinen Ruf ruinieren würde, voll auf den Geist. "Vielleicht hast du ja ausnahmsweise Recht, Egaoshita-kun. Und was gedenkst du, soll ich tun? Ihr sagen, dass ich auf Typen stehe und vor ihren Augen mit dir rummachen, oder was?", bluffe ich sarkastisch, aber Egaoshita findet das offensichtlich zum Schießen. "Du bist echt zum Wahnsinn, Mann! Sind wohl doch nichts weiter als ein Haufen notgeiler Gelangweilter.", kichert er und wischt sich die Augen. "Ach... so witzig war das auch wieder nicht.", komme ich auf den Teppich zurück, wo Egaoshita noch immer nicht angelangt ist. "Oh doch, Mann. Das ist der Knaller. Ich fahr voll drauf ab.", meint er und ist auf einmal viel leiser, sodass seine auch sonst vibrierend heisere Stimme ein wenig rauchiger klingt. Auf einmal sieht er mir mit einer ähnlichen Intention in die Augen. "Wie meinst du das, Egaoshita-kun?", will ich wissen, als sein Blick unverändert bleibt. Doch anstelle einer Antwort wie angebracht, empfange ich seine Lippen auf meinen und seine Zunge in meinem Mund. Ehe ich mich versehe, liege ich rücklings auf der Weichbodenmatte und Egaoshita liegt auf mir. In diesem Moment fühlt sich sein Körper so zerbrechlich und fragil an, dass ich zunächst Angst habe, zu reagieren. Ich fühle seine verschränkten Finger zwischen den meinen und in der Sekunde habe ich doch eigentlich aus diesem surrealen Traum Schrägstrich Nicht-Traum aufzuwachen und ihn zu fragen, ob bei ihm denn gerade nicht jegliche Synapsen unterbrochen wurden oder wieso er so spinne, aber ich unternehme rein gar nichts. Ich werde gerade geküsst. Von einem Kerl. Einen, den ich kenne. Ist das nicht moralisch falsch? Ich meine, was würden meine Eltern, die Kirche und überhaupt alle sagen, wenn sie mich hier mit Egaoshita herummachen sehen? Obwohl ich es nicht erwidere, scheint es kein Ende zu nehmen. Ich sollte mich wehren, ich sollte sagen, dass Chikas Spielchen es mir wert sind, wenn das heißt, dass ich nicht mit einem Menschen männlichen Geschlechts derartig intimen Kontakt habe. Ich darf nicht und dennoch, es... es fühlt sich irgendwie gut an. Mir das durch den Kopf gehen zu lassen und darüber nachzudenken, macht es nicht weniger verrückt. 'Vielleicht bin ich ja des Wahnsinns', dachte ich, als ich gestern den Spiegel habe fallen lassen. Und jetzt bin ich mir sicher, ja, ja das bin ich wirklich. Schleichend, fast ohne, dass ich es merke, erwidere ich seine Zungenbewegung und beginne, mich mehr und mehr an ihm festzuhalten. Er ist so kalt und warm, irgendwie habe ich trotz allem keine klaren Gefühle. Was tue ich hier? Was mache ich da mit Egaoshita? Wenn er tatsächlich romantische oder sexuelle Wünsche im Bezug auf mich hat, dann muss ich das auf der Stelle lassen! Ich darf nicht! Es ist nur so schwer, sich von ihm zu lösen. Das aber passiert schneller als ich denken kann, denn Egaoshita richtet sich nun wieder auf und sieht mich einfach weiter an. "Wie war das so, Kyocchi?", der hat Nerven, denke ich. Nur, weil ich nicht schnell genug reagiert habe, ist das noch lange nichts, das mir gefallen sollte. "Was meinst du?", stelle ich mich blöd. "Ich weiß, dass du es auch willst.", flüstert er. "Halt die Schnauze.", sage ich, bewege mich jedoch nicht. Ich bin immer noch paralysiert von seiner unbegrenzten Nähe von vorhin. Haben wir das gerade wirklich getan? "Bockig wie immer, wie lustig.", grinst er. Mir wird das langsam wirklich zu viel. Ich schlüpfe unter Egaoshita hinweg und bin wieder auf den Beinen, um meine Tasche aufzuheben. "Ist es das, was du von Anfang an wolltest? Rummachen? Dein Ernst?", will ich sichergehen, dass das alles nicht nur ein mieser Scherz war. "Wieso nicht? Ich helfe dir, diese Nervensäge loszuwerden? Sind Freunde nicht dazu da? Außerdem machst du mich irgendwie ganz schön geil.", der spinnt doch! "Du hast wohl ein Rad ab. Ich brauche deine Hilfe nicht. Und das eben war ein Fehler, ich hätte schneller reagieren sollen. Ich stehe auf Mädchen.", knirsche ich und suche nach einem weiteren Ausgang. "Bist du dir bei der Reaktion wirklich sicher?", ärgert er mich. "Halt die Fresse.", brumme ich, finde ein Fenster und klettere daraufhin in die Freiheit. Kapitel 103: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 3 -------------------------------------------------------------- "Wo warst du?!", will mein Vater ziemlich zornig wissen, als ich ziemlich zu spät zu Hause ankomme. "Ich war im Geräteschuppen eingesperrt.", antworte ich wahrheitsgemäß und wenig beeindruckt. "Und wie erklärst du dir den zerbrochenen Spiegel und die Blutlache dort? Elvis, was war da los?", jetzt klingt er besorgt und hebt meine Hand hoch. "Ich bin dagegen gekommen und hab das Teil runtergeschmissen, wollte es aufheben und hab mich verletzt. Ich mach den Scherbenhaufen auch weg, versprochen.", gehe ich mehr ins Detail und schlurfe seelenruhig an ihm vorbei, als ich meine Hand ein zweites Mal wieder zu meinem Eigen machen muss. "Darum geht es nicht!", meint er, doch erwidert nichts weiter auf mein Verhalten. Nachdem ich verspätet zu Mittag gegessen habe, fege ich wie versprochen das Zimmer. Noch nicht einmal wegen Onii-chan hat er mich ausgefragt. Womöglich hat er sich mit der Zukunft, dass er nicht mehr wiederkommt, - vielleicht nie wieder, wer weiß? - abgefunden. Die Tage vergehen und das Schuljahr nimmt seinen Lauf. Chikas Verhalten, dass von Zeit zu Zeit wirklich seltsam scheint hinterfrage ich schon gar nicht mehr, zumindest rede ich es mir so ein. Ich ließ mich bis jetzt nicht von ihr beeindrucken, seit zwei Monaten nun gehen wir in eine Klasse und sitzen nebeneinander. Ich bin kalt wie immer. Ich schreibe Bestnoten wie immer. Ich bin immer noch ich und nichts änderte sich. Nur, dass Egaoshitas und meine Freundschaft nicht mehr die Gleiche ist. Jetzt ist es nur noch Mittel zum Zweck und es gibt nichts, was ich tun kann, außer mich zu fügen. Ich zeige es nicht, aber tatsächlich habe ich Angst. Ich habe das Gefühl, wir können keine Freunde mehr sein, wenn ich das hier gewaltsam beende. Zumal er ja eigentlich nur mit mir rummacht, weil er weiß, dass Chika mich nervt. Ich benutze ihn bloß, um das nicht zu vergessen und vielleicht zu glauben, dass sie es nicht auf mich abgesehen hat. Doch wie könnte ich, schließlich war da noch diese Sache in der Vergangenheit und... Nein, ich will nicht darüber nachdenken. Ich kann mit keinem darüber reden. Egaoshita ist, bis auf die Tatsache, dass ich ihm nichts von dem Traum von Chika und dem Flashback von ihr nichts erzählt habe, der Einzige, den ich habe. Ich bin das Letzte, ich weiß. Ich frage mich schon lange nicht mehr, was für ein Ziel ich eigentlich in Wahrheit verfolge. Er weiß doch bestimmt, dass ich ihn benutze. Aber warum ist er dann absolut nicht böse auf mich? Weil ich zulasse, dass er mich berührt, obwohl ich nichts für ihn übrig habe, dass müsste ihn doch eigentlich unglaublich irritieren, wenn nicht sogar deprimieren. Auch heute ist einer dieser belanglosen Tage, ich lasse mich von Chika vollquatschen und spiele meine Rolle des Eisprinzen und Egaoshita und ich reden kein Wort über unsere ungesunde Beziehung. Ich habe irgendwie den Sinn von Richtig und Falsch verloren. Das mit Egaoshita darf nicht sein. Er ist ein Junge. Und ich bin auch ein Junge. Auch das rede ich mir immer wieder ein, aber egal, was ich tue, immer wieder führt mich irgendwas zurück zu ihm. Ich verstehe mich selber nicht. Wieso tue ich das? Ist es wirklich nur, um mich von Chika abzulenken? Das ist keine Liebe. Das ist nichts anderes als reiner und kalter Egoismus. Ich quäle ihn. Und ich belüge sie. Und töte mich selbst innerlich. Es gibt kein Entkommen. Ich bin zu schwach, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ich sitze in meinem Zimmer und scrolle durch YouTube. Heute bin ich nicht unbedingt in der Stimmung, irgendwelche Videos zu sehen, die mir letztendlich nicht in meiner Situation helfen könnten. Doch da stoße ich auf ein Lied von Vocaloid. Ein Cover von Interviewer mit Klavierbegleitung. Wieso nicht? - denke ich, als ich es antippe und der Musik lausche: Laut Popsongs ist jeder unersetzlich, doch selbst wenn das stimmt, man bemerkte es nicht, wenn ich von irgendwem ersetzt werden würde, dann - Es würde niemandem auffallen. Von einem belanglosen Tag zu anderen verändern wir uns're Persönlichkeit, wenn wir reinpassen sollen oder wollen, denn ganz allein trauen wir uns verdammt wenig zu. Alte Wunden, beginnen zu jucken, fangen an zu bluten, bloß nicht dran kratzen. Der Text vor mir ertrinkt unter Tränen, ich will mich nur verstecken, unter Decken Lieder hören. Was ist dein Lieblingsgenre? Dein liebster Interpret? Was isst du wirklich gern? Was ist dein liebstes Getränk? Und magst du irgendwen so ganz besonders gern? Doch, bloß nicht falsch verstehen, ich mein, so jemand könnt ich für dich nie sein. Das Lied klimpert weiter und ich kann nicht verhindern, dass mein ganzes Leben bis zu diesem Moment an meinen Augen vorbeizieht. Ich kenne dieses Lied. Ich kenne des Text. Ich kenne Vocaloid, höre aber eher was anderes. Ich bin streng genommen noch nicht einmal sonderlich tief in der Fangemeinde. Trotzdem fühlt es sich so an, als warte ich auf etwas oder jemanden. Als würde dieser oder diese, diese Sache, mich endlich dorthin bringen, wo ich hinmöchte, wo auch immer dieser Ort liegt, den ich so gerne sehen möchte. Ich habe mich mein ganzes Leben nach Veränderung gesehnt. Egal auf welche Weise sie provoziert werden würde, ich habe es mir so gewünscht, aus dem Alltag auszubrechen, dass es schon fast erbärmlich ist. Ich versteh das nicht. Warum kann ich nicht aufhören. Hör verdammt noch mal auf zu heulen! Wenig später finde ich mich draußen wieder. Es regnet. Ich habe es drinnen irgendwie nicht mehr ausgehalten. Ich gehe ein wenig im Park umher. Ich habe keinen Schirm, nur meine Regenjacke über meine Schuluniform, die ich nicht ausgezogen habe. Ich verstehe mich immer noch nichts. Man weint nicht einfach, obwohl man die Gefühle nicht zuordnen kann. Das macht absolut keinen Sinn, ich weiß nicht mehr, wohin mit mir. Das ist doch alles Bullshit! Plötzlich sehe ich da jemanden liegen. Neben einem Gebüsch. Scheiße. Ich renne so schnell ich kann zu dieser Person, nur um festzustellen, dass es sich um das grünhaarige Mädchen handelt, das einfach so reglos mit offenen Augen auf dem Boden chillt. "Bist du eigentlich vollkommen bescheuert?!, keife ich unerwartet laut. Sie sieht zu mir nach oben und grinst bloß matt. "Ellie, was eine Überraschung.", murmelt sie und richtet sich auf. "Du hast doch einen Knall...", sage ich und gebe ihr meine Jacke, weil sie selbst vollkommen durchnässt ist. "Was machst du hier?", zische ich und wringe ihr das Wasser aus der grünen Mähne. Ihre Verantwortungslosigkeit macht mich aus irgendeinem Grund echt sauer. "Ich bin geflohen.", sagt sie leise. "Geflohen?", wiederhole ich. "Geflohen.", wiederholt auch sie. "Wovor solltest du den weglaufen?", ich bin ja so naiv. Kapitel 104: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 4 -------------------------------------------------------------- Der restliche Schultag geht langweilig und bedeutungslos von statten. Ich habe mich nur wegen des Zwischenfalls umso mehr am Unterricht beteiligt und mir so viele Notizen gemacht, wie ich eben zu machen pflege, Chika wich den ganzen Tag über so gut wie nicht von meiner Seite, außer, dass sie einmal ziemlich schnell aufs Klo musste und dabei panisch aussah. Ich dachte mir nichts dabei, schließlich bin ich wirklich der Letzte, der die schwachen Blasen der anderen hinterfragen müsste. Egaoshita habe ich so gut wie gar nicht mehr gesehen, lediglich in der Pause hat er mich, wie es seiner Art entspricht, vollgequatscht und ist dann wieder abgezogen. Irgendwas an seinem Blick ist irgendwie... ich weiß auch nicht, es ist etwas besorgniserregend, wenn in seinen grauweißen Augen ein Anflug von versteckter Trauer oder extremer Nachdenklichkeit sichtbar ist. Er kann rumalbern wie er möchte, irgendwie ist seit heute etwas anders, nein, nicht nur seit heute, auch am letzten Schultag des zweiten Jahres hat er mich schon so eigenartig angesehen. Ich beschließe jedoch, nicht genauer darüber nachzudenken und bahne mir meinen Weg in ein Zuhause, dass sich jedoch eher wie Mittel zum Zweck anfühlt. Ich bin irgendwie gern zu Hause und gleichzeitig auch nicht. Hauptsächlich wegen meinem Bruder und meinen Eltern, die mit mir wohnen. Irgendetwas in unserer Beziehung und die Atmosphäre zwischen uns ist einfach seit ich denken kann... komisch. Irgendwas riecht da einfach, seit ich bewusst beobachte, nach absolutem Fake. Fälschung. Theater. Reality-TV. Wie ich das hasse. Was meinen Bruder angeht, zwischen uns ist es am schlimmsten. Er hat einfach einen Killerblick, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt und scheint mich einfach aufs Übelste zu missbilligen, in was für einer Weise auch immer. Nun, er war nicht immer so. Als ich noch so, zwischen ein und vier Jahre alt war, da mochte er mich. Fast mein gesamter Lebensinhalt während dieser Zeitspanne in meinem Leben bestand darin, dass mein großer Bruder mit mir spielte und mich unglaublich lieb hatte. Jedoch, nun, er scheint gemobbt worden zu sein, dann begann er mich förmlich zu hassen. Keine Ahnung, was ich damit zu tun habe, dass er gemobbt wurde und womit ich das verdient habe, aber ich ertrage es. Aber mal ganz unter uns, selbst wenn er mich vielleicht nicht ohne zu zögern umbringen würde - weil ihm vielleicht doch noch etwas an mir liegt? - bin ich so oft kurz davor zu sagen, dass er verdammt noch mal selbst schuld daran ist, wenn er ständig alles in sich hineinfrisst, und das meine ich auch so, denn er ist ziemlich dick und hat Problemhaut. Außerdem redet er fast niemals und verbringt die meiste Zeit mit seinem Computer, um irgendwo in den Weiten des Internets Online-Games zu zocken. Alles was er hatte, waren eine Tasche voller Videospiele und ein Riesenvorrat an heruntergeladenen Manga auf seinem Tablet. Ich kann nicht sagen, dass ich Onii-chan, selbst, wenn er es eventuell täte, hassen würde, aber ich bin, seit er aus seiner Wohnung geschmissen wurde und wieder bei uns ist, ziemlich gestresst von ihm. Manchmal frage ich mich, ob wir überhaupt Brüder sind, denke ich und schließe die Haustür meiner Wohnung auf. Meine Mutter sieht sich gerade schweigend eine Folge Slippy Stairs an und mein Vater sitzt im Sicherheitsabstand von etwa vierzig Zentimetern neben ihr. Von meinem Bruder fehlt jede Spur. Wahrscheinlich spielt er Darksouls oder Call of Duty, wie fast alle Nullacht-Fünfzehn-Gamer es tun. Auf einmal ertönt das Klingeln des Telefons und mein Vater steht auf, um ranzugehen. "Hallo?", höre ich ihn sagen. Sein Gesichtsausdruck versteift sich und er guckt so ernst und aufmerksam wie noch nie. Doch irgendetwas muss gesagt worden sein, dass alles, wirklich alles in diesem Moment für seine Welt zerstört und auf dem Boden hat zerschellt lassen. Plötzlich reißt er die Augen auf und lässt den Apparat wie eine heiße Kartoffel fallen. Und er selbst gleich hinterher. "Shun?", fragt meine Mutter besorgt, fast als wüsste sie, was los wäre, anders als ich. "Papa? War das vielleicht... eine Kündigung?", will ich ganz leise wissen, ob wir jetzt arbeitslos sind. Meine Mutter verdient in ihrem Laden gerade nicht sonderlich viel. Und wenn mein Vater seinen Job als Polizist los wäre, wäre das ein finanzieller Ruin für unsere Familie. "Schlimmer noch...", flüstert er mit noch immer vollkommen verstörten, aufgerissenen Augen. Onii-chan kommt aus seiner Ecke und sieht nach, was los ist, als mein Vater uns mit ersticktem Tonfall mitteilt: "O-onkel Jun ist... Jun ist gerade... gestorben. Er ist einfach weg. Wir werden ihn niemals wiedersehen... Scheiße.", seine Mimik verändert sich nicht und es sieht nicht so aus, als wäre da noch Blut vorhanden oder irgendein... Gefühl in seinem Gesicht abzulesen. Niemand wagt sich zu bewegen, aber aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Onii-chan unentwegt zittert. Diesen verlorene hoffnungslose Anblick volle Verzweiflung der dem unseres Vaters mehr als jeder andere gleicht, werde ich in meinem ganzen Leben wohl niemals vergessen. Onkel Jun ist tot. Wir waren ihn so oft besuchen. Er war so etwas wie der beste Freund meines Vaters, der auch sein Bruder gewesen ist. Den hat er jetzt verloren. Auch ich mochte Onkel Jun. Nun ist er weg. Und ich fühle nichts. Dafür verfluche ich mich. Drei Tage später, nach der Beerdigung voller Leid und Trauer, bin ich, zumindest glaube ich das, allein zu Hause. Meine Eltern haben nicht aufgehört zu weinen, mein Bruder tat dasselbe in seiner Ecke, in der ihn niemand heulen hörte. So schmerzerfüllt war sein Blick auch ohne, dass er weint, noch nie. Ich habe gerade Kopfhörer auf, weil ich nicht jeden an meinem Musikgeschmack teilhaben lassen will, aber auch, um die Musik noch rechtzeitig abzuschalten, wenn nötig. Mir fällt ein, dass ich in dem Zimmer, dass Onii-chan gehört, aber irgendwie auch nicht, mein Buch vergessen habe. Tribute von Panem Band zwei. Ich gehe stark davon aus, dass es noch dort ist, immerhin ändert er selten etwas in einem Zimmer und wahrscheinlich ist er sowieso bereit, so schnell wie möglich abzureisen, weil ich bezweifle, dass er bleiben will. Nur einen Rucksack voller Kleidung, mehr hat er im Grunde auch gar nicht dabeigehabt. Weil es die ganze Zeit so still ist und ich auch in seinem Zimmer Schrägstrich Nicht-Zimmer keine Gaming-Geräusche erfasse - und ich zu nervös bin, um zu klopfen und ein grimmiges 'Herein?!' zu hören - , gehe ich todesmutig - und absolut von allen guten Geistern verlassen - durch die Tür. "Sorry, muss kurz rein.", murmle ich und husche an ihm vorbei, ehe das Donnerwetter über mich hereinbricht. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist?! Habe ich herein gesagt, oder kannst du dich selbst einladen?!", keift er und seine Stimme ist so laut, dass sie in meinem Kopf sogar leicht echot. Ich bin starr vor Schreck und sprach- und bewegungsunfähig. "Glaubst du, du darfst einfach alles, nur weil du hier noch wohnen kannst?! Raus aus meinem Zimmer, Mann!", schreit er und nun steht er direkt vor mir. Ich fasse nun doch Fuß und mache auch mal den Mund auf. "Jetzt reicht's doch mal, echt! Musst du mich immer zusammenstauchen, obwohl ich nichts gemacht habe, huh?! Was ist dein scheiß Problem?! Wieso muss ich immer herhalten, wenn du einen auf Männerperioden-Opfer machst?! Du machst mich echt sauer mit deinem Schmarotzer-Lifestyle! Ich habe nur Tribute von Panem holen und wieder gehen wollen, aber vielen Dank, jetzt ist mir die Lust vergangen!", das war hart. "Ich soll ein Schmarotzer sein?! Du bekommst doch alles in deinen verwöhnten Arsch geschoben! Schon mal darüber nachgedacht, dass es noch andere Menschen gibt und dir nicht die ganze Welt gehört?! Allein deine Anwesenheit nervt mich!", oh nein, das hätte er nicht sagen dürfen! "Oh, oh, jetzt habe ich aber Angst, du glaubst, ich sei egoistisch?! Fein, wann habe ich jemals etwas Egoistisches gesagt oder getan, huh? Schieß los, Bruder! Ich finde ganz ehrlich, dass du definitiv mehr Dreck am Stecken hast als ich, dass du es weißt!", jetzt scheinen wir mit jedem Schlagabtausch wütender und lauter zu werden. Das ist doch wohl nicht wahr! "Du bist oberflächlich wie scheiße und fragst mich Müsli kauend nach der Butter, nur, um dich über mich lustig zu machen! Ich sehe doch wohl, wie du auf mich herabsiehst!", brüllt er und ich wage kaum, ihn ins Gesicht zu sehen, nur ab und zu. "Wie soll es auch anders sein?! Du sagst nie etwas, duscht vielleicht einmal die Woche und ich dachte vor zwei Jahren, dass ich dich nach dem Auszug nie wieder sehe, bis du letztens doch zurückkamst, weil du die Miete nicht bezahlen konntest! Wie soll ich da denn nicht auf dich herabsehen, wenn ich nicht so tief gesunken bin wie du?!", mir wird immer weniger bewusst, wie Arschloch-like ich mich anhöre, aber das beruht ja unschwer erkennbar auf Gegenseitigkeit. "Ich glaub' es harkt, wenigstens schleime ich mich nicht mit der noch stilleren, selten was sagenden Höflichkeit in Person bei unseren Eltern ein!", das wird er bereuen, denke ich und gehe zum Gegenangriff über. "Ach ja? W-wenigstens bin ich kein Vollversager und fett!", das hat gesessen, bemerke ich, als es zu spät ist. Mein Bruder ist schneller als er aussieht. Mit gefühlten 80 km/h brettert er meinen erwürgt werdenden Hals gegen die Wand und drückt zu, bis ich fast nicht mehr imstande bin, zu atmen oder vernünftig nachzudenken. "O-onii-chan, ich...", krächze ich, als er mir die Luft abdrückt und ich die Kälte der Zimmerwände auf meinem Nacken zu spüren bekomme. "Wag es ja nicht, je wieder so über mich zu reden. Was glaubst du eigentlich, wer ich bin und wer du bist? Halt verfickt noch mal deine vorlaute kleine Fresse im Zaum!", höre ich ihn bedrohlich knirschen, ehe er ausholt und ich durch seine andere Faust einen vernichtenden und sich fast schon tödlich schmerzhaft anfühlenden Schlag in die Magengrube einstecke. Während ich Onii-chans Blick nicht deuten kann, höre ich mich selbst stumm und erstickt nach Hilfe schreien, kriege jedoch keinen Ton heraus, als die Welt in tiefes Schwarz eintaucht und verschwindet. Als ich wieder zu mir komme, ist das ohnehin schon leer gewesene Zimmer, noch leerer als zuvor. Als wenn niemals wieder jemand zurückgekehrt wäre und es auch in Zukunft nie wieder tun würde. Ich will aufstehen, da durchfährt mich ein zerreißender Schmerz in der Magengegend. Ich heule fast auf, doch beiße ich die Zähne zusammen, weil ich nicht weiß, ob meine Eltern beide schon zu Hause sind. Es brennt. Dermaßen. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Bauchschmerzen. Schon gar nicht, weil mir irgendjemand dort reinschlug. Meine Kopfhörer hängen mir nun auf den Schultern und ganz leise höre ich noch etwas von der fripSide-Playlist, die ich mir zusammengestellt habe, weil mir die Songs so gut gefallen. "Only my railgun can shot it, im Augenblick.", murmle ich zu dem Lied, obwohl das die falsche Strophe ist, die zweite und nicht die erste, die ich gerade mit meiner hundsmiserablen, auch noch verkloppten Stimme, die gerade eher flüstert als singt, nachahme. Mein Gott, mir tut, obwohl er mich bloß im Magen getroffen hat, irgendwie alles weh. Scheiße weh. Ich war gerade verdammt noch mal bewusstlos deswegen. Ich hoffe, die Nachbarn haben nichts gehört. Heute ruft mich keiner, weil es Abendessen gibt. Es sind alle immer noch zu weggetreten und traurig wegen Onkel Jun. Ich weiß noch nicht einmal, ob jemand da ist, geschweige denn meine Anwesenheit und die Abwesenheit Onii-chans zur Kenntnis genommen hat. Ich schaffe es langsam wieder mich trotz der Schmerzen wieder aufzurichten und sehe einen Spiegel. Seit Onii-chan vor zwei Jahren ausgezogen ist, gleich nach der Highschool, hat meine Mutter in dem leeren Zimmer einen Spiegel angebracht. Fragt mich nicht, wieso. Ich sehe mein noch immer leichenblasses Gesicht in der Spiegelwelt aufleuchten und sehe mich lange an. Warum juckt dich nicht, wenn jemand stirbt? Wieso ist dir egal, dass Egaoshita, dein bester Freund nicht mehr in deiner Klasse ist? Was zur Hölle ist falsch mit dir?! All das schreie ich mir in Gedanken ins Gesicht. Was ist los mit mir? Ist es, weil ich spüre, dass etwas innerhalb meines Umfeldes nicht stimmt? Dass meine Familie wirklich nicht das ist, was ich zu glauben vorgebe? Wo bleibt das Mitgefühl, wenn man es braucht? Wo ist die Liebe? Wieso kann ich ihnen nicht im Geringsten zurückgeben, was sie mir geben? Ich nehme den Spiegel in die Hand. Meine Augen sehen verzweifelt aus und meine Lippen zittern. Ich sehe aus, als wäre ich kurz davor, irgendetwas Wahnsinniges zu tun. Wer weiß, vielleicht bin ich ja des Wahnsinns?! In dem Moment lasse ich die spiegelnde Fläche, und das ist nur eine Platte ohne Rahmen und ohne nichts, fallen. Ich lasse es einfach auf dem Boden zerschellen und das Gefühl der Zerstörung befriedigt mich. Ich grinse und lache auf. Nur kurz. Dann holt mich wieder jenes Gefühl ein, das ich fühle, wenn ich nicht weiß, wohin mit mir. Ich bücke mich und studiere die Splitter, die ich erschaffen habe. Eines sieht besonders scharf aus. Ich nehme es in meine Hand und fahre mit voller Absicht und Kraft über meine andere Handfläche, ich drücke dabei richtig zu. Ich drücke das Stück Spiegel in meiner Faust zusammen und Blut läuft aus meiner Hand. Ich bin wie versteinert. Es macht mir fast schon Angst, zu sehen, wie mein Blut, das eigentlich drin bleiben sollte, hervortritt. Na ja, irgendwann ist immer das erste Mal. Aber was mich noch mehr beschäftigt... "Wieso… wieso fühle ich nichts...? Was ist falsch bei mir?", flüstere ich fast klanglos und die Tränen fließen. Warum weine ich? Was mache ich eigentlich hier? Wieso fühle ich mich so leer? Wieder kommt keiner. Ich bin allein. Kapitel 105: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 5 -------------------------------------------------------------- An darauffolgenden Tag bin ich scheinbar in Onii-chans Zimmer mit dem zerbrochenem Spiegel eingeschlafen und hatte nichts zum Abendbrot. Onii-chan ist nicht zurückgekehrt. Vermutlich bleibt das auch so. Mann, ich war wirklich respektlos. Wenn ich mich bloß entschuldigen könnte... Aber wie es scheint, ist er über alle Berge und per WhatsApp ist scheiße. Mir tut die Hand weh. Schon klar, die hat ja auch geblutet. Ich stehle mich kurzerhand ins Badezimmer und suche irgendwo nach Verbandszeug. Das finde ich schnell. Ich putze mir die Zähne und kehre zurück in mein eigenes Zimmer, um meine Schuluniform anzuziehen. Als ich gerade fertig bin, merke ich, dass es fast fünf Uhr morgens ist. Viel zu früh also. Ich kann die Faust meines Bruders noch immer in meinem Bauch spüren, jeden einzelnen Knochen, der sich auf mein Fleisch in Form von Schmerz verewigt hat. Es tut nicht mehr ganz so weh, ich weiß bloß, dass gestern keiner ins Zimmer gekommen oder nach mir gesehen hat. Diese Tatsache ist schlimmer als die Schmerzen. Bin ich denn wirklich so überflüssig? Na ja, vielleicht sollte ich meine Eltern einfach etwas ruhen lassen. Ich gehe einfach eine Runde spazieren, denke ich und schreibe einen Post-it. "Bin früher los, macht euch keine Sorgen. Morgen übrigens. Falls ihr Onii-chan sucht, nein, ich habe ihn nicht gesehen und er kommt auch nicht zurück. Nein, er ist nicht tot. Er ist einfach gegangen.", Mit einer meines Erachtens akzeptablen Entschuldigung verlasse ich die Wohnung. Ich habe meine Schultasche und alles dabei, denn ich habe selbst auch nicht das Gefühl, als ob ich wiederkehren würde. Zumindest nicht mehr heute an diesem Morgen. Ich gehe ein wenig im Park umher. Dort ist es nebelig, es herrscht überall ein ziemlich hartnäckiger Nebel, jedoch kann ich noch irgendwie so die Hindernisse umgehen. Typisches Aprilwetter irgendwie. Ich gehe umher, Musik hörend, und ja, wieder fripSide und nachdenkend. Als ich beinahe gegen einen Baum renne, erblicke ich jemanden auf einer einsamen Park sitzend und fast wie hypnotisiert in die Ferne sehend. Ich schleiche mich auf leisen Pfoten wie ein Ninja an diese Person heran, ehe ich fast schon schockiert feststelle, dass es sich hierbei um niemand Geringeres als Egaoshita handelt. "Egaoshita-kun? Was machst du denn hier?", entfährt es mir weniger überrascht klingend als ich es tatsächlich bin. "Kyocchi?", auch er scheint überrascht zu sein. Hat Egaoshita da wirklich sogar leichte Tränen in den Augen? Ach nein, das liegt sicherlich an der Kälte. Es ist ziemlich frisch gerade. "Das Gleiche könnte ich dich fragen.", meint er, als er aufsteht und nun direkt vor mir steht. "Ich habe zuerst gefragt.", erwidere ich kühl und hoffe auf eine Antwort. "Da hast du auch wieder Recht, Mann. Ich, na ja, also ich... wollte einfach spazieren gehen.", sagt er noch im letzten Moment und sein Gesicht scheint einen Ausdruck von Rettung angenommen zu haben. "Ich ebenfalls, Egaoshita-kun. Welch Zufall.", kommentiere ich. "Um noch nicht einmal sechs Uhr morgens?", fragt er. "Auch das könnte ich dich auch fragen.", gebe ich nur wieder, was ich schon bereits sagte. "Oh Mann, stimmt ja.", seufzt er. "Sollen wir noch bei mir vorbei? Wir könnten noch die Zeit totschlagen, bis wir in die Penne müssen.", schlägt Egaoshita vor. "Okay, wieso nicht? Ich habe sowieso nicht vor, wieder nach Hause zu kommen. Lohnt sich ja nicht.", sage ich zu und kurz darauf finden wir uns vor einem Wohnheim wieder. Bis jetzt habe ich nicht gewusst, dass Egaoshita nicht bei seinen Eltern oder so lebt. "Du lebst hier? Ich dachte, Mittelschüler dürfen hier gar nicht allein leben...", denke ich laut, als wir dort sind. "Dürfen sie auch nicht. Aber ich hab so meine Gründe. Frag einfach nicht.", bedeutet er mir, den Mund zu halten. Na gut, dann muss es wohl sein. "Respekt, hier sieht es ja aus wie in einer Zombieapokalypse.", bemerke ich, als ich diese unordentliche und verdreckte Beleidigung einer Einrichtung sehe. "Ach, hab dich nicht so, ist doch voll bequem...", mault er, weil ich seinen Sinn für Ordnung nicht verstehe. "Na, wenn du das sagst...", gebe ich mich geschlagen und setze mich auf einen Stuhl, der zum Schreibtisch gehört. "Und, was machen wir jetzt?", frage ich meinen Gastgeber. "Wir könnten-", sein Satz wird vom meinem Magenknurren unterbrochen. Beschämt drehe ich mich weg. "Wir könnten essen.", beendet er ihn und sieht sich in seinem Schrank scheinbar nach etwas Essbaren um. Das ist ein Kleiderschrank, wie hoch soll ich meine Erwartungen beim Essen denn nun schrauben? "Hier.", und schon fliegt mir eine Packung Sandwich entgegen, Egaoshita hat eine andere selber in der Hand. "Dann lass uns mal essen.", murmelt er eher zu sich selbst. Er setzt sich auf sein Bett und versucht, die Packung zu öffnen, was ihm sofort gelingt. Ich dagegen habe so meine Schwierigkeiten damit. "Setz dich doch dazu.", bietet er an, ohne mich anzusehen. Ich stehe auf und setze mich neben ihn. Ich versuche nach wie vor erfolglos an die Sandwiches zu kommen und als Egaoshita das sieht, nimmt er mir sanft aber bestimmt die Packung aus der Hand, als er sagt: "Lass gut sein, ich mach das schon.", und wieder schafft er es. Er überreicht mir stumm die Packung und wir essen schweigend, ohne einander anzuschauen. Diese Atmosphäre macht mich wahnsinnig. Irgendwas in Egashitas Aura verrät mir, dass ihn irgendwas brennend beschäftigt. Nur wird er mit der Sprache nicht rausrücken. Stattdessen essen wir bloß und ignorieren diese geheimnisgeschwängerte Luft so gut es geht. "Sag mal, Egaoshita-kun, was ist denn eigentlich los mit dir?", will ich wissen, nachdem wir fertiggegessen haben und ich die Stille zwischen uns nicht länger ausgehalten habe. Seine Augen weiten sich. Doch er nimmt sofort wieder eine neutrale Mimik an und schaut zu mir. "Was meinst du, Kyocchi?", nettes Schauspiel, Egaoshita, nettes Schauspiel. "Tu nicht so, Mann. Du weißt doch selber, dass da was im Busch ist.", entgegne ich überraschend giftig. Warum nervt mich das so? Er scheint jedoch gar nicht richtig zu reagieren, als ich gerade so garstig zu ihm war. "Egaoshita-kun, rede mit mir!", jetzt werde ich langsam ungeduldig. Normalerweise ist er der Gesprächigere von uns beiden, dieser Rollentausch ist kein ganz so Leichtes für mich. "Nein, ich rede nicht.", flüstert er. "Wie?", was soll denn das jetzt? Erde an Egaoshita, wach auf und benimm dich normal! "Bitte geh wieder. Und triff mich nach der Schule im Geräteschuppen, ich will jetzt allein sein.", okay, jetzt wird es schräg. Wann wollte Egaoshita jemals allein sein? "Ich verstehe es zwar nicht, aber ich tue dir den Gefallen, wenn es das ist, was du willst.", teile ich ihm noch mit, ehe ich ungewiss sein Zimmer verlasse und es sich anfühlt, als wäre unsere Freundschaft kurz davor, in die Brüche zu gehen. Irgendetwas sagt, dass ich für sein derartiges Auftreten verantwortlich bin. Irgendetwas sagt mir, dass dieses Bedürfnis nach Einsamkeit uns nachher später beide zueinander zurückführt. Dass dies der Anfang vom Ende ist. Vielleicht doch nur Einbildung? Interpretation? Lüge? Nein, mein sechster Sinn hat immer Recht. Ich überstehe den Schultag wie sonst auch und kann es kaum erwarten, Egaoshita im Geräteschuppen zu treffen. Ich bin unfassbar gespannt und neugierig. Als die Stunden dann endlich überstanden sind, renne ich förmlich nach unten in den Geräteschuppen, erwartend, dass Egaoshita hier irgendwo sein muss. Die Tür steht offen und ich spaziere geradewegs herein. Jedoch ist keiner da. "Hallo? Egaoshita-kun?", rufe ich in normaler Lautstärke und sehe mich um. Von meinem besten Freund fehlt jede Spur. Typisch, immer muss er mich verarschen und amüsiert sich prächtig beim Gedanken, dass ich erneut drauf reingefallen bin. Ich gehe ein wenig weiter und schaue mich mehr um. Ich klappere gefühlt jeden Winkel ab und bin je mehr Sekunden verstreichen, desto genervter. Ich gehe jetzt, denke ich und will gerade gehen, als ich den Rücken vom Eingang entfernt ein Klicken höre, sodass es sich anhört, als ob ich gerade eingesperrt worden wäre. Anscheinend hat jemand die offene Tür bemerkt und wollte des Pflichtbewusstseins halber mal abschließen. Verdammt. "Hallo? Hallo! Ich brauche Hilfe! Ich bin eingesperrt! Bitte! Irgendwer-", doch plötzlich verdunkelt sich mein Sichtfeld und ich spüre kalte Finger auf meinen Augenlidern. "Wie schön, dass du doch gekommen bist.", sagte eine mir vertraute Stimme. Sie klingt gar nicht neckisch wie sonst. Irgendwie emotionslos und doch leicht zitternd, wie eine alte Mikrowelle. "Das ist nicht witzig, Mann. Mich einzusperren, geht echt zu weit.", brumme ich, die Augen immer noch verdeckt. "Aber nicht doch, das war ich gar nicht. Eigentlich ist es mir aber auch egal.", gibt die Stimme zurück. Der ist doch irre. "Du bist wirklich ein Idiot, Egaoshita-kun.", knurre ich und nehme seine Hände aus meinem Gesicht, um etwas sehen zu können. Er hat wieder diesen Blick. Und ich bin mir auf unerklärliche Weise nun doch zu einhundert Prozent sicher, dass ich der Grund bin. Wieso auch sonst sind wir beide, er und ich, ganz allein, eingeschlossen, an einem Ort wie diesen? Einen anderen Grund kann ich mir in einer Situation wie dieser nicht vorstellen. Ich befinde mich praktisch im Auge des Sturms und diese unangenehme Vorahnung, die ich seit meinem ersten Tag im neunen Jahr habe, dass etwas ganz gewaltig nach hinten los gehen könnte, verstärkt sich immens. Kapitel 106: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 6 -------------------------------------------------------------- Dieser Blick von Egaoshita macht mir beinahe Angst, so unendlich fremd kommt er mir vor. "Sag mal, was ist denn mit deiner Hand passiert, Kyocchi?", fragt er und hebt sie hoch, um sie sich anzuschauen. Stimmt, die habe ich heute ja frisch verbunden und das Blut ist noch nicht ganz alt. "Das ist gar nichts.", sage ich und hole sie mir zurück. "Lügner.", höre ich ihn flüstern. "Ist ja ziemlich viel Verbandszeug für so ein bisschen Nichts. Komm, mur kannst du es doch sagen. Ist ja nicht so, als wenn dir das beim Runterholen passiert ist oder so.", witzelt er und boxt mir spielerisch in die Seite. "Sowas mache ich nicht. Und nein. Aber wenn du es wissen willst, ich habe gestern was fallen lassen.", erzähle ich ihm die halbe Wahrheit. Er sieht mich kurz noch skeptisch an, lässt es aber dann doch auf sich beruhen und setzt sich auf die Matte vor uns. "Was wolltest du jetzt? Wir sind hier eingesperrt und wenn du das wirklich nicht warst, dann hast du wohl besorgter zu sein. Wie auch immer, was wolltest du jetzt genau von mir.", komme ich auf das Thema zurück und setze mich neben ihn. Diese Aura lässt mich wirklich nichts Gutes erahnen. Wieder weiß ich gar nicht, was ich fühlen soll. Irgendwie, also, ganz verrückt, ich weiß, haben seine Wangen heute mehr Blut intus, es sieht fast so aus, als wenn er rot werde würde. Er sagt nichts. "Egaoshita-kun, ist alles in Ordnung? Komm, lass gut sein, der Witz mit dem Geräteschuppen und dem Alleinsein ist nicht witzig.", versuche ich, ihn zum reden zu animieren. "Das sollte es auch gar nicht.", antwortet er kühl. Ehe ich etwas Weiteres in die Richtung fragen könnte, spricht er weiter. "Ich habe nachgedacht. Über alles. Über dich und über diese verrückte Grünhaarige in der Pause. Und auch über mich. Irgendwie ist das schon komisch, was? Wie sie dir an den Lippen hängt, obwohl du dich nicht die Bohne für sie interessierst. Irgendwie kommt sie mir echt verzweifelt vor.", hat er das... wirklich gesagt? Das ist eines der nachdenklichsten Worte, die seinen Mund jemals verlassen haben. Aber da ist doch mehr, oder? Das kann nicht nur der Grund sein, wieso er mich hier haben wollte. Das ist es nicht, ganz sicher. "Wie... meinst du... das?", irgendwie komme ich noch immer nicht darauf klar, wie analytisch mein bester Freund drauf ist. "Denk doch mal scharf nach. Dieses Mädchen strahlt so viel von der 'Ich-bin-nicht-so-Eine-Art aus, dass es schon gar nicht mehr normal ist. Ich meine, sie ist hübsch und so. Aber auch voll anhänglich, hab ich das Gefühl. Wie sie an dir klebt, mit ihren großen Brüsten, vermutlich macht sie das mit Absicht, schon mal daran gedacht?", wow, der Typ hatte ja schon immer einen trockenen Humor, aber das? Das ist ja schon fast gemein. Ich will sie verteidigen, ihm sagen, dass Chika ihre Brüste nicht dazu benutzt, um mich für sich zu gewinnen und ein ganz anständiges, normales Mädchen ist. Aber ich kann nicht. "Du bist gemein, Egaoshita-kun. du kannst sie nicht einfach indirekt als Schlampe betiteln, das macht man nicht.", sage ich lediglich, weil ich das nicht wahrhaben will, jedoch auch nicht vom Gegenteil sprechen kann. Ich kann nicht von mir behaupten, nicht auch mal mit dem Gedanken gespielt zu haben, dass sie ihr Äußeres benutzt, um Aufmerksamkeit zu bekommen, insbesondere von mir, dem sie vor acht Jahren ihre Liebe gestanden hat. Ob das noch gültig ist? "Versuchst du etwa, sie zu verteidigen? Was hast du davon? Erzähl mir bloß nicht, dass du sie genauso geil findest, wie sie dich. Wenn du sie jetzt liebst, bist du ganz sicher nicht so vernünftig und klug, wie du dich immer gegeben hast, also erzähl mir nichts.", "Ich verteidige sie nicht, ich bin bloß nicht so flachköpfig wie du.", kommt es von meiner Seite. "Wer weiß, vielleicht bin ich ja flachköpfig wie du sagst, aber was soll's? Am Ende braucht man kein großes Sichtfeld, um ihre Masche zu erkennen. Bestimmt kennt sie dich, seit ihr Kinder wart und versucht, dich im Unterricht zu stören. Die Kindheitsfreundin. Die kleine Schwester. Ich sag es dir, das mit den Rollen ist gar nicht so abwegig, wenn du die Sache mal objektiv betrachten würdest.", objektiv? Ist es nicht das, was ich mein ganzes Leben lang gemacht habe? Alles neutral aus der Sicht des Beobachters zu sehen? Ich habe es immer getan. Und wenn ich tief in mich hineinhöre, dann wäre es tatsächlich klüger, auch diesbezüglich eine objektive Ansicht zu vertreten. Schließlich habe ich noch nie jemanden an mein Innerstes ranlassen wollen, von einer Liebesbeziehung ganz zu schweigen. Chika ist eine Nervensäge, kommt es mir in den Sinn. Ich habe nur versucht, höflich zu sein, wie immer, wenn ich lebe, und ich lebe immer. Aber eigentlich geht mir dieses Mädchen, auch wenn ich es niemals aussprechen und meinen Ruf ruinieren würde, voll auf den Geist. "Vielleicht hast du ja ausnahmsweise Recht, Egaoshita-kun. Und was gedenkst du, soll ich tun? Ihr sagen, dass ich auf Typen stehe und vor ihren Augen mit dir rummachen, oder was?", bluffe ich sarkastisch, aber Egaoshita findet das offensichtlich zum Schießen. "Du bist echt zum Wahnsinn, Mann! Sind wohl doch nichts weiter als ein Haufen notgeiler Gelangweilter.", kichert er und wischt sich die Augen. "Ach... so witzig war das auch wieder nicht.", komme ich auf den Teppich zurück, wo Egaoshita noch immer nicht angelangt ist. "Oh doch, Mann. Das ist der Knaller. Ich fahr voll drauf ab.", meint er und ist auf einmal viel leiser, sodass seine auch sonst vibrierend heisere Stimme ein wenig rauchiger klingt. Auf einmal sieht er mir mit einer ähnlichen Intention in die Augen. "Wie meinst du das, Egaoshita-kun?", will ich wissen, als sein Blick unverändert bleibt. Doch anstelle einer Antwort wie angebracht, empfange ich seine Lippen auf meinen und seine Zunge in meinem Mund. Ehe ich mich versehe, liege ich rücklings auf der Weichbodenmatte und Egaoshita liegt auf mir. In diesem Moment fühlt sich sein Körper so zerbrechlich und fragil an, dass ich zunächst Angst habe, zu reagieren. Ich fühle seine verschränkten Finger zwischen den meinen und in der Sekunde habe ich doch eigentlich aus diesem surrealen Traum Schrägstrich Nicht-Traum aufzuwachen und ihn zu fragen, ob bei ihm denn gerade nicht jegliche Synapsen unterbrochen wurden oder wieso er so spinne, aber ich unternehme rein gar nichts. Ich werde gerade geküsst. Von einem Kerl. Einen, den ich kenne. Ist das nicht moralisch falsch? Ich meine, was würden meine Eltern, die Kirche und überhaupt alle sagen, wenn sie mich hier mit Egaoshita herummachen sehen? Obwohl ich es nicht erwidere, scheint es kein Ende zu nehmen. Ich sollte mich wehren, ich sollte sagen, dass Chikas Spielchen es mir wert sind, wenn das heißt, dass ich nicht mit einem Menschen männlichen Geschlechts derartig intimen Kontakt habe. Ich darf nicht und dennoch, es... es fühlt sich irgendwie gut an. Mir das durch den Kopf gehen zu lassen und darüber nachzudenken, macht es nicht weniger verrückt. 'Vielleicht bin ich ja des Wahnsinns', dachte ich, als ich gestern den Spiegel habe fallen lassen. Und jetzt bin ich mir sicher, ja, ja das bin ich wirklich. Schleichend, fast ohne, dass ich es merke, erwidere ich seine Zungenbewegung und beginne, mich mehr und mehr an ihm festzuhalten. Er ist so kalt und warm, irgendwie habe ich trotz allem keine klaren Gefühle. Was tue ich hier? Was mache ich da mit Egaoshita? Wenn er tatsächlich romantische oder sexuelle Wünsche im Bezug auf mich hat, dann muss ich das auf der Stelle lassen! Ich darf nicht! Es ist nur so schwer, sich von ihm zu lösen. Das aber passiert schneller als ich denken kann, denn Egaoshita richtet sich nun wieder auf und sieht mich einfach weiter an. "Wie war das so, Kyocchi?", der hat Nerven, denke ich. Nur, weil ich nicht schnell genug reagiert habe, ist das noch lange nichts, das mir gefallen sollte. "Was meinst du?", stelle ich mich blöd. "Ich weiß, dass du es auch willst.", flüstert er. "Halt die Schnauze.", sage ich, bewege mich jedoch nicht. Ich bin immer noch paralysiert von seiner unbegrenzten Nähe von vorhin. Haben wir das gerade wirklich getan? "Bockig wie immer, wie lustig.", grinst er. Mir wird das langsam wirklich zu viel. Ich schlüpfe unter Egaoshita hinweg und bin wieder auf den Beinen, um meine Tasche aufzuheben. "Ist es das, was du von Anfang an wolltest? Rummachen? Dein Ernst?", will ich sichergehen, dass das alles nicht nur ein mieser Scherz war. "Wieso nicht? Ich helfe dir, diese Nervensäge loszuwerden? Sind Freunde nicht dazu da? Außerdem machst du mich irgendwie ganz schön geil.", der spinnt doch! "Du hast wohl ein Rad ab. Ich brauche deine Hilfe nicht. Und das eben war ein Fehler, ich hätte schneller reagieren sollen. Ich stehe auf Mädchen.", knirsche ich und suche nach einem weiteren Ausgang. "Bist du dir bei der Reaktion wirklich sicher?", ärgert er mich. "Halt die Fresse.", brumme ich, finde ein Fenster und klettere daraufhin in die Freiheit. Kapitel 107: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 7 -------------------------------------------------------------- "Wo warst du?!", will mein Vater ziemlich zornig wissen, als ich ziemlich zu spät zu Hause ankomme. "Ich war im Geräteschuppen eingesperrt.", antworte ich wahrheitsgemäß und wenig beeindruckt. "Und wie erklärst du dir den zerbrochenen Spiegel und die Blutlache dort? Elvis, was war da los?", jetzt klingt er besorgt und hebt meine Hand hoch. "Ich bin dagegen gekommen und hab das Teil runtergeschmissen, wollte es aufheben und hab mich verletzt. Ich mach den Scherbenhaufen auch weg, versprochen.", gehe ich mehr ins Detail und schlurfe seelenruhig an ihm vorbei, als ich meine Hand ein zweites Mal wieder zu meinem Eigen machen muss. "Darum geht es nicht!", meint er, doch erwidert nichts weiter auf mein Verhalten. Nachdem ich verspätet zu Mittag gegessen habe, fege ich wie versprochen das Zimmer. Noch nicht einmal wegen Onii-chan hat er mich ausgefragt. Womöglich hat er sich mit der Zukunft, dass er nicht mehr wiederkommt, - vielleicht nie wieder, wer weiß? - abgefunden. Die Tage vergehen und das Schuljahr nimmt seinen Lauf. Chikas Verhalten, dass von Zeit zu Zeit wirklich seltsam scheint hinterfrage ich schon gar nicht mehr, zumindest rede ich es mir so ein. Ich ließ mich bis jetzt nicht von ihr beeindrucken, seit zwei Monaten nun gehen wir in eine Klasse und sitzen nebeneinander. Ich bin kalt wie immer. Ich schreibe Bestnoten wie immer. Ich bin immer noch ich und nichts änderte sich. Nur, dass Egaoshitas und meine Freundschaft nicht mehr die Gleiche ist. Jetzt ist es nur noch Mittel zum Zweck und es gibt nichts, was ich tun kann, außer mich zu fügen. Ich zeige es nicht, aber tatsächlich habe ich Angst. Ich habe das Gefühl, wir können keine Freunde mehr sein, wenn ich das hier gewaltsam beende. Zumal er ja eigentlich nur mit mir rummacht, weil er weiß, dass Chika mich nervt. Ich benutze ihn bloß, um das nicht zu vergessen und vielleicht zu glauben, dass sie es nicht auf mich abgesehen hat. Doch wie könnte ich, schließlich war da noch diese Sache in der Vergangenheit und... Nein, ich will nicht darüber nachdenken. Ich kann mit keinem darüber reden. Egaoshita ist, bis auf die Tatsache, dass ich ihm nichts von dem Traum von Chika und dem Flashback von ihr nichts erzählt habe, der Einzige, den ich habe. Ich bin das Letzte, ich weiß. Ich frage mich schon lange nicht mehr, was für ein Ziel ich eigentlich in Wahrheit verfolge. Er weiß doch bestimmt, dass ich ihn benutze. Aber warum ist er dann absolut nicht böse auf mich? Weil ich zulasse, dass er mich berührt, obwohl ich nichts für ihn übrig habe, dass müsste ihn doch eigentlich unglaublich irritieren, wenn nicht sogar deprimieren. Auch heute ist einer dieser belanglosen Tage, ich lasse mich von Chika vollquatschen und spiele meine Rolle des Eisprinzen und Egaoshita und ich reden kein Wort über unsere ungesunde Beziehung. Ich habe irgendwie den Sinn von Richtig und Falsch verloren. Das mit Egaoshita darf nicht sein. Er ist ein Junge. Und ich bin auch ein Junge. Auch das rede ich mir immer wieder ein, aber egal, was ich tue, immer wieder führt mich irgendwas zurück zu ihm. Ich verstehe mich selber nicht. Wieso tue ich das? Ist es wirklich nur, um mich von Chika abzulenken? Das ist keine Liebe. Das ist nichts anderes als reiner und kalter Egoismus. Ich quäle ihn. Und ich belüge sie. Und töte mich selbst innerlich. Es gibt kein Entkommen. Ich bin zu schwach, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ich sitze in meinem Zimmer und scrolle durch YouTube. Heute bin ich nicht unbedingt in der Stimmung, irgendwelche Videos zu sehen, die mir letztendlich nicht in meiner Situation helfen könnten. Doch da stoße ich auf ein Lied von Vocaloid. Ein Cover von Interviewer mit Klavierbegleitung. Wieso nicht? - denke ich, als ich es antippe und der Musik lausche: Laut Popsongs ist jeder unersetzlich, doch selbst wenn das stimmt, man bemerkte es nicht, wenn ich von irgendwem ersetzt werden würde, dann - Es würde niemandem auffallen. Von einem belanglosen Tag zu anderen verändern wir uns're Persönlichkeit, wenn wir reinpassen sollen oder wollen, denn ganz allein trauen wir uns verdammt wenig zu. Alte Wunden, beginnen zu jucken, fangen an zu bluten, bloß nicht dran kratzen. Der Text vor mir ertrinkt unter Tränen, ich will mich nur verstecken, unter Decken Lieder hören. Was ist dein Lieblingsgenre? Dein liebster Interpret? Was isst du wirklich gern? Was ist dein liebstes Getränk? Und magst du irgendwen so ganz besonders gern? Doch, bloß nicht falsch verstehen, ich mein, so jemand könnt ich für dich nie sein. Das Lied klimpert weiter und ich kann nicht verhindern, dass mein ganzes Leben bis zu diesem Moment an meinen Augen vorbeizieht. Ich kenne dieses Lied. Ich kenne des Text. Ich kenne Vocaloid, höre aber eher was anderes. Ich bin streng genommen noch nicht einmal sonderlich tief in der Fangemeinde. Trotzdem fühlt es sich so an, als warte ich auf etwas oder jemanden. Als würde dieser oder diese, diese Sache, mich endlich dorthin bringen, wo ich hinmöchte, wo auch immer dieser Ort liegt, den ich so gerne sehen möchte. Ich habe mich mein ganzes Leben nach Veränderung gesehnt. Egal auf welche Weise sie provoziert werden würde, ich habe es mir so gewünscht, aus dem Alltag auszubrechen, dass es schon fast erbärmlich ist. Ich versteh das nicht. Warum kann ich nicht aufhören. Hör verdammt noch mal auf zu heulen! Wenig später finde ich mich draußen wieder. Es regnet. Ich habe es drinnen irgendwie nicht mehr ausgehalten. Ich gehe ein wenig im Park umher. Ich habe keinen Schirm, nur meine Regenjacke über meine Schuluniform, die ich nicht ausgezogen habe. Ich verstehe mich immer noch nichts. Man weint nicht einfach, obwohl man die Gefühle nicht zuordnen kann. Das macht absolut keinen Sinn, ich weiß nicht mehr, wohin mit mir. Das ist doch alles Bullshit! Plötzlich sehe ich da jemanden liegen. Neben einem Gebüsch. Scheiße. Ich renne so schnell ich kann zu dieser Person, nur um festzustellen, dass es sich um das grünhaarige Mädchen handelt, das einfach so reglos mit offenen Augen auf dem Boden chillt. "Bist du eigentlich vollkommen bescheuert?!, keife ich unerwartet laut. Sie sieht zu mir nach oben und grinst bloß matt. "Ellie, was eine Überraschung.", murmelt sie und richtet sich auf. "Du hast doch einen Knall...", sage ich und gebe ihr meine Jacke, weil sie selbst vollkommen durchnässt ist. "Was machst du hier?", zische ich und wringe ihr das Wasser aus der grünen Mähne. Ihre Verantwortungslosigkeit macht mich aus irgendeinem Grund echt sauer. "Ich bin geflohen.", sagt sie leise. "Geflohen?", wiederhole ich. "Geflohen.", wiederholt auch sie. "Wovor solltest du den weglaufen?", ich bin ja so naiv. Kapitel 108: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 8 -------------------------------------------------------------- "Was interessiert dich das?", fragt sie auf einmal für ihre Verhältnisse unerwartet abweisend, sie ist doch sonst nicht so. "Wie auch immer, komm einfach mit.", bestimme ich, weil ich keine Ahnung habe, wo sie wohnt und sie vollkommen nass ist, sich also noch erkälten könnte. Aber wieso komme ich dem überhaupt entgegen? Ich bin schließlich nicht ihre Mutter. "Wohin denn?", will sie wissen und sieht mich unverwandt an, als wenn sie nicht gerade am Boden lag und verprügelt aussah. "Zu mir nach Hause, Dummkopf. Du erkältest dich noch.", knirsche ich, ziehe meine Jacke aus und werfe sie ihr über den Kopf. Was ist nur los mit mir? Keine Ahnung, ihre Naivität macht mich irgendwie einfach sauer, sie scheint gar nicht auf sich aufpassen zu können. "Komm mit, ich warte nicht auf dich.", fordere ich sie auf, mit dem Gedanken spielend, dass ich letzteres vielleicht nicht so gemeint habe. Ist ja schon peinlich genug, dass ich überhaupt um ihre Sicherheit besorgt bin. Sie nervt mich doch praktisch nur. "J-ja!", entgegnet sie zögerlich und rennt mir unaufhörlich bis zu mir nach Hause nach. Ich schließe die Tür auf und komme rein, als wir dort sind. "Ist niemand da?", kommt es unverblümt aus ihrem Mund. "Scheint so.", erwidere ich kühl und versuche, ruhig zu bleiben. Irgendwie bin ich das nämlich nicht. Dass sie mich derart durcheinanderbringt, ist echt lästig. "Kannst gleich hier duschen gehen, ich leih dir was von mir.", sage ich, als ich mit dem Zeigefinger auf die Tür des Badezimmers zeige und in meinem Zimmer verschwinde, nicht merkend, dass Chika mir dicht auf den Versen ist. "Das ist also Ellies Zimmer...", stellt sie murmelnd fest. "Ich habe nicht gesagt, dass du reindarfst. Und hör endlich auf, mich so zu nennen.", brumme ich, doch sie rührt sich nicht. Komisches Mädchen, denke ich und hole einen Batman-Hoodie und eine mittellange Jogginghose hervor, auch das werfe ich ihr entgegen. Hauptsache, sie geht so schnell wie es geht, ihre Anwesenheit macht mich schon in der Schule ganz verrückt. Sie kann während des Unterrichts einfach nie ihren Schnabel halten und flirtet förmlich mit mir und das ständig. Kriegt sie überhaupt irgendwas vom Unterricht mit? Und wenn sie mich nicht gerade nervt, schläft sie. Diese hyperaktive, durchgeknallte Ziege ist einfach unfassbar. Schweigend und ein Grinsen unterdrückend, geht sie dann in die Dusche und ich bleibe im Zimmer allein zurück. Ich lasse meinen Blick ein wenig im bekannten Zimmer umherschweifen. Ich mag mein Zimmer, es ist ein Zufluchtsort. Und sie kam einfach herein. Ziege. Ich beschließe, etwas Tee zu machen und verschwinde aus dem Raum. Ich entscheide mich für Früchtetee und lasse ihn ziehen. Ich höre die Duschgeräusche aus dem Badezimmer. Ich bin schon wieder allein. Meine Eltern sind wahrscheinlich in ihrem Zimmer und blasen Trübsal und Onii-chan wird nicht wiederkommen. Und selbst wenn, was dann? Es würde nichts daran ändern. In meinem Herzen sieht es immer gleich aus, egal ob ich glücklich, traurig, wütend oder beschämt bin, immer frage ich mich, ob es das alles auch wert war. Das ist es fast nie. Manchmal denke ich daran, aufzugeben und einfach zu sterben, aber dann würde das, was ich Chika damals gesagt habe, keinerlei Bedeutung mehr haben. Auch sie hätte keinen Lebensinhalt mehr, zumindest kann ich mir das vorstellen. Und allein diese Vorstellung macht mir Angst. Ich nehme die Kanne und die Tassen auf die Platte und gehe zurück ins Zimmer. Ich stelle sie auf meinen Schreibtisch. In dem Moment kommt Chika zurück. Wir starren einander an, einfach so, für viel zu lange. Ihr steht der Batman-Hoodie einfach viel zu gut. "Ui, du hast Tee gemacht? Kann ich den trinken?", fragt sie begeistert, als sie diesen auf meinem Tisch sieht. "Nein, der ist nur zum Anschauen gedacht.", verneine ich sarkastisch und fülle die erste Tasse. Als ich die zweite fülle, höre ich sie hinter mir schniefen. "Hast du dich nun doch erkältet?", will ich wissen, ohne allzu interessiert oder besorgt zu klingen. "N-nein, das ist es nicht.", antwortet sie. "Ich bin nur unglaublich froh, bei dir zu sein.", sie flüstert beinahe, als sie das sagt. Ich bemerke, dass sie wirklich mehr als nur froh ist, so froh, wie kein normaler Mensch, wenn er aus dem Regen aufgesammelt wird. Als ob sie wirklich auf der Flucht gewesen. Als hätte ich ihr sozusagen Asyl gewährt. "Hey, Chika.", errege ich die Augen den wimmernden Mädchens. "Ja?", fragt sie mit laufender Nase. "Kann es sein, dass du missbraucht wirst?" "Was? Wie kommst du denn jetzt darauf? Bin ich wirklich so hässlich und schlimm aussehend?", lautet ihre empörte Reaktion auf meine Frage. "Stell dich nicht dümmer als du bist und sag die Wahrheit.", wo das herkommt, ist mir selbst ein Rätsel. Irgendwie beschäftigt es mich einfach brennend. "Keine Ahnung, wovon du redest.", meint sie, diesmal absolut nicht gespielt schockiert sondern kühl wie ich jeden Tag. "Sag es. Kein normaler Mensch reagiert so! Ja oder Nein, die Antwortmöglichkeiten sind begrenzt, also raus mit der Sprache!", keife ich und wundere mich selbst über meinen Tonfall. Normalerweise interessiert es mich nach der ersten Antwort nicht weiter, was die Menschen fühlen oder gefühlt haben. Ich tue zumindest so, obwohl es mir nie Ruhe lässt vor Neugier. Aber jetzt? Brenne ich vor Wissbegierde. Plötzlich sieht sie zu Boden, ehe sie auf einmal beginnt, sich aus der Hose zu schälen und ich vor Überraschung fast zusammengezuckt wäre. "Willst du jetzt strippen oder was?", frage ich, weniger harsch oder laut wie ich wollte, sondern stockend, weil mich das doch sehr aus dem Konzept bringt. Oh Mann, die ist doch vollkommen irre! Als sie sich auch noch des Batman-Hoodies entledigt, bin ich kurz davor 'Stopp' zu rufen, als ich es sehe. Auf ihrem ganzen Körper, trotz der Bräune erkennbar, blaue Flecken, blutige Kratzer und aggressive Bisswunden abzuzeichnen, sogar Abdrücke von Fesseln. Oh. Mein. Gott. "Zufrieden?" ,murmelt sie und setzt sich auf mein Bett. "Wer hat das getan?", will ich von ihr wissen und starre tatsächlich ganz schön. Trotz allem Schock kann ich nicht darüber hinweg sehen, dass in meinem Zimmer, ja richtig, in meinem, ein Mädchen nur mit BH und einer Unterhose vor mir steht und zudem noch eine ziemlich ansehnliche Oberweite für eine Mittelschülerin hat. Ihre so schöne Figur wird von den Narben und Kratzern, die sie trägt, verunstaltet, eine jede zeugt von einer langen, qualvollen Geschichte, zu viel für ein so junges Mädchen in meinem Alter. Das alles ist auch noch frisch. "Meine Adoptivschwester.", meint sie achselzuckend. "Die ist doch des Wahnsinns, mein Gott, das ist ja schrecklich!", bemerke ich, je länger ich sie ansehe, desto mehr. "Nun, nicht mehr.", flüstert sie und fast zeitgleich sehe ich diese furchtbaren Narben an ihrem Handgelenk. Auch das noch, denke ich und setze mich fast unbeholfen neben sie. "Was heißt das?", verstehe ich nicht, was das bedeutet. "Sie ist nicht mehr da.", "Nein, echt? Sag, was mit ihr los ist.", "Nein, dass ich dir das hier gezeigt habe, reicht. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Du hasst mich doch eh.", "Das ist nicht wahr!", widerspreche ich ihr und drücke sie an den Schultern auf das Bett, sodass ich ihr in die Augen sehe. Ich bin direkt über ihr. "Ellie... Du willst es nicht wissen. Ich sage es dir, du würdest mir nicht verzeihen.", haucht sie und ich sehe die Bissspuren auf ihren Schultern und teilweise auch ähnliche Verletzungen, vermutlich auch Bisse und Kratzer auf ihrer Brust. "Sag es, nichts ist schlimmer, als das hier. Mehr als in die Flucht geschlagen hast du sie sowieso nicht.", rufe ich, nicht müde werdend, sie an den Schultern zu packen. "Ich habe sie getötet, ist es das, was du hören willst?!", schreit sie und ich zucke zusammen. Dann schiebt sie sich an mir vorbei, steht auf und geht zurück ins Bad. "Wo gehst du hin?", erlaube ich mir zu fragen, da sie zu Hause offensichtlich nicht mehr erwünscht ist. "Nach Hause!", keift sie, als ich sie mit der noch immer nassen Uniform das Bad verlassen sehe. "Du kannst nicht nach Hause!", höre ich mich widersprechen. "Wieso denn? Was willst du eigentlich von mir? Du bist doch nur genervt von mir! Dass ich jemanden getötet habe, trägt wohl auch nicht dazu bei! Es ist absolut nichts wert und es interessiert dich doch null, wenn ich dir sagen würde... Wir sehr ich dich liebe!", heult sie und zieht in Sonic-the-Hedgehog-Geschwindigkeit ihre Schuhe an, um abzudüsen. Wieder einmal bin ich nur mit mir selbst in Gemeinschaft. Liebe. Dieses Mädchen hat ihre Schwester, die sie, wahrscheinlich auch sexuell, belästigt hat, umgebracht. Und mich interessiert es nicht. Zumindest rede ich mir ein, dass es mich nicht interessiert. Aber tief in mir drin, brenne ich in Fantasie mit einem Flammenwerfer ein Loch in den Himmel, in der Hoffnung, dass Gott mich durch dieses sehen und mir Anweisungen, was ich tun soll, um Chika zu retten, geben kann. In Gedanken renne ich ihr nach, nehme sie in den Arm und sage ihr, dass das alles nicht stimmt. Und entschuldige mich, dass ich so barsch zu ihr war. Aber in Wahrheit tue ich nichts dergleichen. Kapitel 109: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 9 -------------------------------------------------------------- "Es tut mir leid! Ich kann das nicht mehr!", entschuldige ich mich, als wir zwei, Egaoshita und ich, allein im Klassenzimmer sind.   Das ist gar nicht unsers. Wir haben uns hier reingeschlichen, in der Zwischenpause. Er sieht zu Boden und lacht auf, ein bisschen verrückt und wahnsinnig. Dann schaut er wieder auf und sieht mich mit Tränen in den Augen an, sodass ich richtig erschrecke.   "Kein Ding, wir waren doch sowieso nie richtig zusammen, Kyocchi. Du kannst gehen mit wem du willst, Alter. Wir sind schließlich immer noch Freunde, was?", und ehe ich mich versehe, treffen seine Lippen wieder die meinen, doch ich bin viel zu weggetreten und schweren Herzens, um darauf zu reagieren.   Ich kann seine Trauer fast schon schmecken. Seine Lippen zittern leicht. Dann löst er sich und sagt:   "Zur Erinnerung an die alten Zeiten, Kumpel. Man sieht sich!", und dann ist er eigentlich auch schon wieder weg.   Trotz seines munteren Lachens ist mir nicht entgangen, wie sehr er leidet. Ich weiß noch nicht einmal wieso. Ich will es gar nicht wissen. Aber warum fühle ich mich dann so schuldig? Weil ich erst jetzt quasi mit Egaoshita Schluss gemacht und diese Freundschaft-Plus-Beziehung nicht schon viel eher beendet habe? Ich weil noch nicht einmal genau, wieso ich jetzt eigentlich so weit gegangen bin, nicht länger mit ihm herumzumachen. Ist es wegen Chika-san? Diesen Gedanken schüttle ich ab und gehe in die nächste Stunde Geschichte. Egaoshita wollte mich nach der Stunde noch einmal in einem leeren Klassenzimmer treffen, um etwas Wichtiges zu sagen, schätze ich. Ich dachte mir nichts dabei und jetzt bin ich hier, allein in meinem Klassenzimmer durch das Fenster sehend, wo es heftig regnet und stürmt. Irgendwie ist es die ganze Woche so. Chika-san ist seit dem Ausziehvorfall überhaupt nicht mehr gekommen, um mich zu nerven. Sie sah seither so aus, als ob sie jederzeit in Tränen ausbrechen könnte. Als wäre kurz darauf noch etwas Schrecklicheres geschehen... Egaoshita kommt zu seinem eigenen Treffen zu spät. Doch nun ist er hier. Ausdruckslos. Und sieht blasser aus als ohnehin schon. In seinen hellen Augen, die den Anschein erwecken, er wäre blind, sehen aus wie tot.   "Ich lasse dich nicht los.", höre ich ihn flüstern, als er immer näher kommt.   "W-was hast du vor, Egaoshita-kun?", höre ich mich verdattert stammeln.   "Ich gebe dich nicht auf.", murmelt er schon wieder und er ist mir nun ganz nah.   Dann küsst er mich heftig und ich kriege vor Überrumplung keinen Ton heraus. Der ist doch des Wahnsinns! Das mit uns ist aus! Es war nie an! Ich liebe Chi-... Moment mal, was wollte ich gerade denken? Chika-san? Ich... liebe... Chika-san? Habe ich das wirklich...? Aber es hört sich so ehrlich an in meinem Kopf, wie etwas, von dem man weiß, dass es stimmt, es aber nicht wahrhaben will. Die, die mich so durcheinander bringt, die ich im Stillen eigentlich ganz lustig finde und die meinetwegen nicht aufgibt, das... ist niemand Geringeres als dieses Mädchen. Trotz allem ist sie es, die meinen Panzer durchbrechen wollte. Sie ist es, an die ich dachte, als ich 'Interviewer' gehört habe. Sie ist es. Sie ist die Auserwählte. Das wird mir jetzt klar, doch es ist zu spät.   "Nein, Egaoshita, lass es, ich-... Aufhören!", befehle ich ihm erstickt, als wir auf dem Boden landen und weitermachen. Aber er sagt nichts, er ist viel zu weit weg. Plötzlich höre ich jemanden die Tür öffnen und mir gefriert schon wieder einmal in diesem Schuljahr das Blut in den Adern.   "Ellie...?", bemerkt Chika stockend, dass ich gerade mit Egaoshita rumgemacht habe.   "Chika, ich...", doch mir fehlen die Worte, ich habe ihr nichts zu sagen und kann nichts erklären.   Wir sind kein Paar. Und jetzt, nachdem sie das gesehen hat, werden wir es auch niemals sein.   "Ellie, ich... ich dachte, du...", und dann fällt sie von der einen auf die andere Sekunde in Ohnmacht.   "Failman-san! Failman-san, was ist mit dir... Kyokei-kun und Egaoshita…-kun? Was zur Hölle macht ihr da?!", will eine Mitschülerin empört wissen.   Vermutlich weil jeder weiß, dass Chika-san in mich verliebt ist und jeder Chika-san mag. Wir beide sind immer noch wie erstarrt. Und wie das Schicksal es so will sind da auf einmal irgendwie viel zu viele. Jeder hat es gesehen. Und das alles wäre nicht passiert, wenn ich Egaoshita nicht vertraut hätte. Jetzt ist alles aus, mein Ruf dahin, meine Freundschaft, meine Liebe, ich verliere alles in einem einzigen Moment. An den Rest kann ich mich nicht erinnern. Am darauffolgenden Tag ist Egaoshita krank. Zumindest kreuzt er nicht auf. Ich gehe nur in die Schule, weil ich es mir nicht erlaube, wegen so etwas zu schwänzen. Ich höre jeden überall tuscheln. Und die Tatsache, dass ich weiß, worüber, macht das auch nicht weniger beunruhigend. Man stellt mir ein Bein, beleidigt mich und ist wütend auf mich. Chika-san ist nach wie vor nicht ansprechbar. Ich bin nirgendwo willkommen. Ich habe keinen Ort mehr, an dem ich erwünscht bin. Ich habe meine Prinzipien über Bord geworfen und alle Beteiligten enttäuscht. Ich kann mich selbst nicht mehr ab. In der Pause bin ich nach wie vor hypnotisiert und leer im Herz, ich will das alles beenden. Sofort. Ich gehe, als wenn ich nie etwas anderes gemacht hätte auf das Schuldach herauf. Mieses Wetter, Regen, Sturm, ein bisschen Hagel und Blitz, wie an jenem schicksalhaften Regentag mit Chika-san, und ja, den nenne ich noch so und als sie bei mir zu Hause war. Auch heute. Wenn es weiter so fleißig regnet, werde ich nicht allzu viel Spuren und eine Sauerei hinterlassen. Ich werde verschwinden und niemals wiederkehren. Als ich jedoch oben bin, ertönt eine vertraute Stimme, eine, die ich nicht erwartet habe zu hören. "Tu da nicht!", schreit sie.   "Wenn du das tust, habe ich keinen Sinn mehr zum Leben! Ich brauche dich! Ich brauche nichts und niemanden als dich, Ellie! Gerade jetzt!", ich drehe mich um und erblicke die Person, die mich die ganze Zeit geliebt hat. Mich erfüllt Verzweiflung. Sie kommt näher, um mir wieder einmal tief aus ihren goldenen Augen ins Gesicht zu sehen.   "Und wenn ich es doch tue? Was, wenn das die einzige Möglichkeit ist, auch nur ein klein wenig Veränderung zu erfahren, huh?! Vielleicht bin ich für das Leben auf der Erde einfach nicht gemacht! Das ist doch sinnlos!", keife ich durch das Rascheln der feuchten Blätter und das Plätschern der Regentropfen.   Und dann schlägt sie mich. Ohrfeigt mich, dass es sich gewaschen hat. Es zieht.   "Das ist nicht der Ellie, den ich kenne. Wieso machst du nur so sehr einen auf schwach? Das bist nicht du!", ruft sie mir entgegen. "Was weißt du schon?! Woher willst ausgerechnet du wissen, wie ich bin, Chika-san? Niemand weiß das!", fauche ich und weiche viel weiter in Richtung Abgrund von Schuldachrand zurück.   "Gott vielleicht? Ich dachte, du wüsstest es besser!", meint sie und ihr Blick verrät mir, dass sie nicht scherzt.   "Für den bin ich doch eine Zumutung! Du weißt genauso gut wie ich, wie wenig das Christentum für Jungs die mit anderen Jungs rumknutschen, übrighaben! Also erzähl mir nichts!" heule ich und dieses brennende Gefühl in meinem Innern wird immer unerträglicher.   "Und wenn schon! Das ist noch lange kein Grund, um vorzeitig zu sterben! Überleg doch mal, wie viele Dinge es gibt, für die es sich zu leben lohnt! Und jetzt komm zurück auf den Boden der Tatsachen! Du bist talentiert und kannst alles! Ich brauche dich, um zu leben und nicht an den Schuldgefühlen zu sterben! Mum hat sich in der Nacht, in der Sayaka starb umgebracht und Dad ist verschwunden! Die einzige Person, die ich noch habe, bist du!", schreit sie.   Ich gefühlskalter Psychopath weiche dennoch zurück, mehr und mehr darauf gefasst, gleich am Boden zu zerschellen.   "Nein... Bitte nicht... Ellie!!!", es tut mir leid, ich kann nicht. Ich habe zu viel Schaden angerichtet und weiß, dass ich es auch in Zukunft nicht anders machen werde. So bin ich nun mal. Ich weiß doch schon, dass die Zukunft düster und grau ist.   "Kämpfe...", flüstert sie, als sie fast genau so nah ist und nach meiner Hand greift.   Ich steige auf die Erhebung und stehe nun über ihr. Ich lache. Ich lache, denn es ist so verdammt witzig. Es ist lächerlich witzig. Es ist ein trauriges Lachen. "Chika-san", sage ich, immer noch mit einem Lachkrampf im Bauch. "Ellie.", flüstert sie und sieht mich unentwegt an. "Ich habe dir nie gesagt, was für einen hübschen Namen du eigentlich heißt. Die Kanji für Intellekt und Güte. Du bist vielleicht nicht die hellste Leuchte auf der Torte, aber lieb bist du allemal. Ich habe dir nie erzählt, wie sehr ich es schätze, mit dir über all diese Dinge zu sprechen. Über das Universum. Den Sinn des Lebens. Über den Menschen. Du bist die Einzige, der ich all diese Gedanken anvertrauen konnte. Du hast mich trotz allem nie schief angesehen. Ich konnte stolz, aufbrausend und anstrengend sein, wie ich wollte. Du hast nie aufgehört, an mich zu glauben und mir zuzuhören. Du sollst wissen, dass ich dir von Herzen dankbar bin, Chika-san." "Ellie...", Chika-sans Stimme ist ganz schwach geworden. Sie ist wie gelähmt und sieht mich weiter an. Sogar wenn sie weint und im Regen steht, ist sie wunderschön. Ihre Kleidung ist aufgeweicht. Ich kann unter ihre Bluse alles sehen. Wieder zieht ein Grinsen meine Mundwinkel nach oben. "Ich habe dir auch nie gesagt, wie verflucht hübsch du eigentlich bist. Niemandes Haare berühre ich lieber als deine. Nie habe ich geglaubt, dass ich Grün jemals so lieben könnte. Deine Augen haben schöneres Gold als tatsächliches. Deine Haut ist so unglaublich sanft. Durch die Dunkelheit dieser konnte ich zunächst nicht sehen, wie sehr die auf ihr wehgetan wurde. Diese Narben von Nägeln, Zähnen und Verzweiflung. Als ich dich das erste Mal an der Schule sah, war ich wirklich hin und weg, um ehrlich zu sein. Nicht nur wegen deines atemberaubenden Busens. Sondern insgesamt. Du bist wunderschön, Chika Failman-san." "Ellie...", schluchzt sie und legt ihre Hand auf ihr Herz. Sie verkrampf ihre Hand um den Stoff. "Und beide Faktoren haben sich tief in meinem Innern eingebrannt, weißt du? Ich war glücklich, dass ich jemandem damals helfen konnte, dadurch, einfach ich selbst gewesen zu sein. Ich war glücklich, der Person, die ich damals retten konnte, erneut zu begegnen. Glücklich. Das habe ich mir aber erst jetzt so richtig eingestanden. Ich hatte Angst, ich war stolz, ich war stur, ich... war ein strohblöder Vollidiot. Ich war so ein strohblöder Idiot. Das Gefühl, dass ich hatte, wenn du mich ansahst. Die Hitze in meinem Kopf, wenn du mich zufällig berührst. Die Ausgelassenheit, wenn wir miteinander reden. Das Kribbeln in meinem Bauch, wenn ich an dich denke. Das hat mir so eine Angst eingejagt. Ich kannte so was nicht. Es lag außerhalb meiner Kontrolle. Und wenn Dinge aufhören, in dieser zu liegen, dann... dann will ich sie nicht. Ich wollte nichts riskieren. Ich wollte nicht, dass es peinlich wird. Ich wollte nicht, dass es zwischen uns anders wurde, trotz dessen, dass ich mir Veränderung wünschte. Das war alles, was ich vor Veränderung auf Teufel komm raus beschützen wollte. Ich wollte nicht, dass du den Elvis siehst, der zu schwach ist, um dich wie den Mann in der Beziehung zu beschützen wie du es verdienst. Also... sagte ich nichts und spielte weiter den sturen Idiot. Aber... ich kann das nicht mehr. Ich kann dich nicht länger zappeln lassen. Es tut nur noch weh! Es zu unterdrücken und an meinen dämlichen Prinzipien festzuhalten... tut mir einfach nur noch im Herzen weh!", hauche ich und der Kloß in meinem Hals ist so groß, dass er sich nun auch in meiner Brust breitmacht.   Ich möchte schreien.   "Schließlich... liebe ich dich doch! Ich, Elvis Kyokei, der Idiot, der dich nicht so behandelt hat, wie er sollte, der sich selbst belogen hat, habe mich unsterblich in dich verliebt, Chika Failman! Es ist dämlich, klischeeerfüllt, unpassend und unreif, es in einer Situation wie der hier zu sagen, nachdem ich unsere beiden Leben gleichzeitig ruiniert habe, aber... das ändert nichts an meiner Liebe zu dir, Chika-san!" "Ellie! Komm runter zu mir! Bitte steh zu deinen Worten und hör nicht auf, mich zu lieben! Lass uns gemeinsam von hier verschwinden! Wir können überallhin verschwinden, wenn du das möchtest! Ich folge dir bis ans Ende der Welt, wenn du nur zu mir zurück kommst, Ellie! Wenn du bei mir bleibst! Du bist alles, was ich will! Du kannst immer meine Haare anfassen. Du kannst mir immer in die Augen sehen. Du kannst immer meine Narben berühren und meine Haut streicheln. Du kannst sogar mit mir schlafen! Ich tue alles, was du willst, dass ich tue. Ich bin hier bei dir. Ich werde immer hier sein, wenn du das auch bist!", Chika-san schreit mich an wie ich sie angeschrien habe.   Jedes Wort bohrt sich in mein Herz. Und ich weiß, dass sich auch meine Worte in ihr Herz gebohrt haben. Herrschaft noch mal, sie ist verdammt noch mal der Wahnsinn. Und dass ich, trotz dass ich bei ihr sein will, mir verbiete, da runterzusteigen, macht mich selbst zur Ausgeburt des Wahnsinns. "Tut mir leid. Tut mir leid, ehrlich. Ich kann das nicht. Ich kann nicht, hörst du? Ich... ich kann nicht. Chika-san, ich kann das einfach nicht. Ich bin zu schwach.", hauche ich und stoße mich rückwärts über die Kante.   Und jetzt falle ich unendlich tief. Ich höre sie schreien. Chika-san schreit sich die Seele aus dem Leib, presst unsäglich viel Luft aus ihrer Lunge, schreit sich das Herz aus der Brust, als gäbe es einen Preis zu gewinnen und einen Geist in der Hölle schmoren zu lassen. Auch ich könnte schreien. Ich könnte so viel schreien. Ich könnte schreien, weinen und vor Angst nach Hilfe, die nicht kommt, rufen. Doch ich tue nichts dergleichen. Mein Leben zieht an meinen Augen vorbei. Elvis, nicht mal ein Jahr alt, schreit, weil er sich eingeschissen hat. Er ist ein ganz normales Baby. Ich falle. Elvis, vielleicht zwei Jahre alt, hält sich am Bein seiner Mutter fest, weil der Hund so böse knurrt. Er ist ein gewöhnliches Krabbelkind, dass schon ein wenig laufen kann. Ich falle schneller. Elvis, um die fünf Jahre alt, wie er der Geschichte Punchinellos lauscht und böse auf die anderen Puppen ist. Wären sie bloß netter zu ihm gewesen. Hätten sie ihn doch bloß akzeptiert, völlig egal, wie hässlich und abgenutzt er war. Ich falle am schnellsten. Elvis, etwa neun Jahre alt, wie er mit Onii-chan heimlich The Fast and the Furious schaut, obwohl sie das beide nicht dürfen. Er und sein Bruder waren Jungs, wie sie jeder kennt. Ich falle schneller als mein Bruder immer die Treppen runter. Elvis, fast vierzehn Jahre, wie er Onkel Jun besucht und gesagt bekommt, dass dieser an Hodenkrebs erkrankt ist. Er ist überrascht über die spontane Erkrankung, spricht sein Beileid aus, während sein Bruder in der Ecke frustfrisst. Ich falle so schnell, dass mein Körper anfängt, Feuer zu fangen. Elvis, so was von vierzehn Jahre alt, wie er auf Onkel Juns Beerdigung den Lieblings-Bibelvers seines Onkels vorliest und als Einziger nicht weint, während alle anderen vor Flüssigkeitsverlust förmlich am Boden sind. "Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar." Währenddessen Elvis Onkel Juns Wunsch gewährt, Psalm 23 aufzusagen, singt seine Mutter derweil sein Lieblingslied. Sein Onkel meinte, wenn sie nicht Anwältin wäre, dann wäre sie Sängerin. Dieses Lied in der letzten Folge von AngelBeats!. Onkel Jun hat diesen Anime geliebt. Mit Tränen, die ihr die Wange hinunterlaufen hüllt sie alle in die Klänge von Mein wertvollster Schatz* ein. Sie kann nicht mehr weitersingen, denn sie bricht weinend in sich zusammen. Ich falle so schnell, dass ich die Schallmauer durchbrochen habe. Noch mehr Erinnerungen an meine Mutter blitzen vor meinen Augen auf. Von allen in der Familie, wenn es nicht gerade Onii-chan war oder mein Vater, der mir gegenüber eher reserviert war, war sie mir stets am nächsten. Mit Onii-chan alberte ich rum, mit meinem Vater unternahm ich nicht oft etwas, doch meine Mutter war stets für mich da. Auch wenn ich mich ihr fast niemals von selbst zuwandte. Ihr warmes Lächeln, das Strahlen ihrer Augen, die genauso aussehen wie die meinen und ihre warmen Hände auf meinem Kopf. Mir war in letzter Zeit nicht klar, wie geliebt ich eigentlich war. Selbst wenn sie mich wegen Onkel Juns Tod leicht vernachlässigt hat, sie hat mich nie vergessen, zumindest nicht absichtlich. Mein Leben war allseits behütet und selten gelang es irgendwem, mein Innerstes zu berühren. Ich bin so ein Idiot. Ich habe nie gewusst wie gut ich es habe.   "Alles vergeht. Ich habe nichts mehr.", höre ich mich flüstern. Ich falle in Lichtgeschwindigkeit schnell, denn da ist nur noch die Dunkelheit. Meine Gesichtshälfte landet auf dem harten Asphalt. Schädelbruch. Meine Arme sind vorne und die Ellenbogen tun weh. Doppelter Armbruch. Mein Bauch wird von der Treppenstufe aufgerissen und mein Rücken macht Geräusche, die er nicht machen sollte. Wirbelsäulenbruch. Meine Beine knallen hinten ebenfalls auf den Treppenstufen auf, ich kann sie nicht benutzen, um vor dem Schmerz davonzulaufen. Doppelter Beinbruch. Es schmerzt unfassbar und trotzdem gebe ich keinen Mucks von mir. Ich kann nicht. Ich kann gar nichts mehr sagen. Ich kann nicht einmal mehr richtig denken. Alles, was mir durch den Kopf schwirrt, ist so wirr und zusammenhangslos, als würde ich nicht nur mein Leben, sondern auch den Verstand verlieren. Donald Trump sollte weniger Fake-Bräune benutzen. Die Hauptstadt von Deutschland ist Berlin. Der Ortsfaktor der Erde beträgt 9, 81. Was passiert, wenn ich mich selbst esse? Ach ja... sich selbst essen... Es ist nicht möglich, sich selbst vollständig einzuverleiben. Spätestens, wenn man nur noch aus seinem Torso besteht, gibt es so gut wie nichts, was man noch abschneiden und essen könnte, ohne zu sterben. Auch Schlangen ist es nicht möglich, sich komplett selbst zu fressen. Doch wäre es theoretisch möglich, den eigenen Körper immer weiter hinunterzuschlucken, ohne dass der Rachenraum dabei kaputtgebissen würde, wo würde man landen, gäbe es kein Loch mehr, durch das man sich selbst ausscheiden könnte? Man würde vermutlich so klein werden, bis man in dieser Welt nicht mehr ist. Nicht einmal als Bakterium, denn nicht einmal die werden kontinuierlich kleiner. Wenn man also verschwinden würde aus dieser Welt, wo würde man landen? Tot wäre man in der unseren auf jeden Fall, da in dieser kein Herz mehr schlägt und kein Gehirn arbeitet. Aber wo würde all das landen? Es ist schließlich kein normaler Tod, den man da sterben würde. Himmel und Hölle, die beiden Optionen erscheinen mir an der Stelle so... vage. Jemand, der sich durch ein so utopisches Schlupfloch aus der Existenz schleicht, kann doch nicht so enden wie alle anderen. Kann nicht dieselben Dinge sehen wie alle anderen. Das ist unspektakulär. Das ist geschmacklos. Das ist... unfair. Aber das ist egal. Ich habe mich nicht selbst gegessen. Es ist mir nicht vergönnt, ein anderes Universum zu sehen, in das ich wiedergeboren werde. Höre ich auf, das Leben unter meiner Haut zu spüren - oder irgendetwas anderes -, wird mein Körper sich so oder so auf seine eigene Art selbst verspeisen. Und die Insekten, Maden und Bakterien helfen ihm dabei. Meine Art dahinzuscheiden ist wie die jedes anderen Durchschnittsbürgers. Auf seine eigene Art unspektakulär, geschmacklos und... unfair. Ich spüre ein warmes rotes Nass unter meinem Körper entweichen. Es vermehrt sich die Pfütze, sie wird größer und größer und der Schmerz ist dumpf. Es ist so heiß und kalt gleichzeitig, trotz des Regens der unaufhörlich auf meinen Kopf einschlägt. Ich nehme nichts mehr war. Ich vergehe. Und wenn ich die Schafe zähle, bis ich nicht mehr da bin, dann bin ich jetzt, wo es mir nicht mehr gelingt, das Wort Schaf überhaupt einer Wissensmenge zuzuordnen, bereits tot. Schafe, Schafe, Schafe. Ein Teil von mir bereut es ganz schrecklich. Ein Teil von mir weiß nicht, warum er überhaupt hier gewesen ist. Schafe, Schafe, Schafe. Um sich am Leben festzuhalten, dafür ist es schon lange viel zu spät. Schafe, Schafe, Schafe. Vielleicht bin ich ja dieses sogenannte Schaf... aber... Was in Gottes Namen soll dieses verdammte Schaf eigentlich sein? Was ist überhaupt ein Gott? Was ist überhaupt ein Name? Was ist "verdammt"?   Elvis Kyokei hat diese Welt endgültig verlassen. Tut...    mir...   leid...    Chika...   -san Kapitel 110: Vol. 5 - An jenem schicksalhaften Regentag Teil 10 --------------------------------------------------------------- Ich treibe tiefer und tiefer in warmen Wasser. Ich habe Sinn für Orientierung lässt verloren. Es ist dunkel. Ich habe keine Ahnung, wohin ich treibe. Ich bin umgeben von unendlichen Schwarz. Jedoch bekomme ich plötzlich den Halt zurück der mir fehlt, ich lande vorsichtig auf kaltem Boden, das Wasser hat mich sachte dorthin getragen. Da ist eine spiegelnde Oberfläche, auf der ich gelandet bin. Ich sehe mich, schätz ich. Ich hebe meinen Blick und erschrecke, als ich das gleiche Gesicht noch einmal erblicke. "W-wer... bist du?", höre ich mich fragen und bin von einer kalten Angst ergriffen. "Ich bin du. Ich bin die Seite an dir, die alles beendet hat.", sage ich, wenn ich das sein soll, aus der Kopie. Mein Zwilling sieht mir identisch, bis auf die Tatsache, dass meine Augen blutrot sind und seine grün wie Gift. "Das verstehe ich nicht. Warum hast du das getan? Ich-", doch ich kann nicht weitersprechen. Ich erinnere mich nicht an die Zeit vor der Dunkelheit. Was meint er mit beenden? Was genau hat er beendet? "Wow, du scheinst echt dumm zu sein, was? Die Erinnerungen verloren, oder wie habe ich das zu verstehen?", sagt jene Person, die sich als mich ausgibt. "Ich weiß momentan noch nicht einmal, was Erinnerung bedeutet.", antworte ich. "Nun denn, ich schätze, das ist sowieso nicht länger von Nöten. Du kannst auch ohne mich nichts ausrichten. Ich bin ein Teil von dir, von Anfang an war ich da. Und ohne mich existierst du doch gar nicht. So bist du nun mal. Ein Schatten deiner Selbst.", meint der Klon und lacht böse. Ich knirsche mit den Zähnen. "Und wenn schon. Ich kann jetzt vielleicht nichts tun. Was macht das schon?", will ich wissen, stehe auf und stehe ihm nun direkt gegenüber. "Eines Tages töte ich dich eigenhändig.", beschließe ich und sehe ihm tief in die grünen Augen. "Tu's doch, schaffst du nicht. Du bist zu schwach. Du kannst nicht entkommen. Hast du das nicht selbst gesagt?", grinst er. "Ich weiß gar nicht, was du meinst.", pariere ich sein Spielchen und kehre ihm den Rücken. Vor mir tut sich ein Tor auf, ein unsichtbares, welches in eine weiße Unendlichkeit führt. Weil ich nichts zu verlieren habe und mein anderes Ich andernfalls sowieso nur weiter stumpf auf mich abfeuern würde, gehe ich hindurch. Dann ist alles zu hell für meine an das Dunkel gewöhnte Augen und ich kneife sie kurz wieder zusammen. Als ich es nach und nach schaffe, finde ich mich irgendwo in einer Art Zimmer wieder. Und da sind lauter Menschen, die mich anschauen, als wäre etwas gestorben. Ich? Was soll's? Ich für meinen Teil kenne sie nicht, denke ich, doch die Frau umarmt mich, als sei ich ihr eigenes Kind. Das verwirrt mich. "Ich dachte, du würdest niemals wieder aufwachen.", weint sie und ich spüre ihre Tränen meinen Nacken herunterlaufen. Der Mann hinter ihr hat meine andere Hand in der seinen und versucht, nicht in Tränen auszubrechen. Dahinter steht noch ein dicker Junge, vermutlich gehört auch der zu dieser fremden Gruppe. Ich reagiere nicht. Ein Mann in Weiß betritt den Raum und lächelt mich warmherzig und gleichzeitig steril an. Bestimmt machen das alle von seiner Sorte. Ich liege immer noch. Mein Kopf schmerzt, mein Rücken, mein Bauch, meine Beine, alles. "Einen guten Morgen, wie ich sehe, bist du aufgewacht, junger Mann.", sind seine Worte und die Frau, die sich an mich drückt, lässt wieder von mir ab. "Wie fühlst du dich? Ich habe dir einen Spiegel mitgebracht, damit du weißt, wie du aussiehst.", meint der Mann in Weiß und hält mir den Spiegel vor. Ein nahezu weißes Gesicht, dunkelrote Augen, von denen eines komplett durch Verbände und Pflaster verdeckt ist, kinnlange Haare und blaue Lippen. Ich sehe so anders aus als alle anderen im Raum. Wie ich mich fühle, fragt er, wie ein Fremdkörper natürlich! Ich zeige es nicht, aber ich bin gerade nur noch verstört und verängstigt. "Aber Herr Doktor, wieso... wieso sagt er denn gar nichts?", will die Frau mit Tränen in den Augen wissen. "Nun, ich denke nicht, dass es an körperlichen Schäden liegt, es liegt zwar eine äußerst schwere Gehirnerschütterung vor, etliche Knochenbrüche und Fleischverletzungen, aber seine Stimmenbänder und der Halsbereich ist unverletzt.", erklärt er und fährt mir vorsichtig über den Hals, als müsste er seine Aussage auf ihre Echtheit überprüfen. "Ich denke, dass die Stummheit ihres Sohnes eher psychischer Natur ist, das ist bei vielen Amnesie-Patienten der Fall.", erläutert er. Sohn? "Wird er denn wieder sprechen können?", fragt der Mann, der meine Hand nicht loslässt. "Vermutlich ja, jedoch ist das ein größerer Prozess, vielleicht wird er heute noch etwas sagen, vielleicht aber auch nicht, es muss nicht unbedingt Stummheit sein, vielleicht traut er sich nur nicht.", antwortet der Weiße und wendet sich an mich. "Kannst du reden, Junge? Und hast du sonst noch Beschwerden. Wie viele Finger halte ich hoch?", fragt er und hebt die Hand. 'Es sind vier. Und nein.', will ich sagen, doch kommt nur ein Krächzen heraus. Ich erschrecke. Irgendwas in meinem Kopf verweigert mir diese Handlung. Ich will sprechen und doch kommt nichts raus. "Zufrieden?", meldet sich der Dicke zu Wort. "Wenn er nicht reden kann, kann er auch nicht sagen, wie viele Finger es sind!", schnauzt er den Mann an. Das ist ein Arzt, fällt mir nun ein, so nennt man die Sorte. "Taiyo, jetzt reicht es! Findest du nicht, dass diese Situation schon schwierig genug ist?!", schimpft der Unrasierte, der meine Hand hält. Ich zucke zusammen. "Ist alles in Ordnung? Kann ich dir vielleicht irgendwas bringen?", fragt die Frau und sieht mich besorgt an. Ich liege mit einem dröhnenden Kopf und gebrochenen Knochen im Krankenhaus - so heißt dieser Ort also! - aber hey, sonst geht es mir gut! Auch das hätte ich gerne gesagt. Mich nervt das alles. Und es stresst mich. Doch ich glaube, mich bedürftet es tatsächlich etwas. Ich weise auf den Stift und den Block des Arztes. Ich würde gerne freundlich darum bitten, doch wie alle unschwer erkennen können, bringe ich noch nicht einmal das zustande. "Du willst etwas schreiben? Aber sicher, ich glaube, das würde dir ungemein helfen.", erlaubt es mir der Arzt und händigt mir die Sachen aus. Ich greife nach dem Stift und befühle ihn. Aluminium und Plastik. Ich nehme meinen Mut zusammen und führe den Stift übers Papier. Die Worte springen nur so über und zu meiner eigenen Überraschung kann ich sie am Ende sogar lesen, da ist eine Zeichnung von einem Sandwich - und auch daran erinnere ich mich! - und da steht sogar noch mehr: 'Ich kann nicht reden. Das waren drei Finger. Ich möchte ein Sandwich essen, auch wenn ich nicht weiß, ob ich das kann. Wer bin ich? Und wer seid ihr?' Die Augen der Frau, deren Sohn ich wohl zu sein scheine, weiten sich, füllen sich mit Tränen. Ich drehe mich zu ihr um und will wissen, was los ist. Ich schreibe erneut etwas auf. 'Was ist los? Kann ich vielleicht was machen, damit du nicht weinen musst?', sind meine Worte, doch sie steht nur auf und sagt: "Es ist nichts, Schatz, ich... ich muss mich nur dran gewöhnen... Ich bring dir dein Sandwich.", murmelt sie und verlässt den Raum. Und weg ist sie. Ich bin wohl ihr Sohn, deshalb tut ihr weh, wenn ich nicht weiß, dass sie meine Mutter ist. Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, ich kann niemandem trauen, noch nicht einmal mir selbst. Und der Dicke da drüben scheint Taiyo zu heißen. Der, der noch immer meine Hand festhält ist vielleicht mein Vater und das ist ein Arzt. Und wer bin ich? Wie lange bin ich schon hier? "Zu deiner Frage, du bist seit zwei Wochen im Koma gewesen. Das hier ist deine Familie... Und ja, du kannst ein Sandwich essen, die Verletzung lässt nicht zu, dass du nicht essen kannst. Und dein Name ist amtlich... Elvis Kyokei.", wow, sind das viele Informationen. Das ist meine Familie, ich kann mein Sandwich haben und heiße Elvis Kyokei. Dieser Name und dieses Gesicht sagen mir nichts. Ich kann mich an nichts erinnern, was sich vorher abgespielt hat. Ich nicke nur verstehend. Auch wenn ich mich fühle, als wenn ich nicht das kleinste Bisschen von überhaupt irgendwas verstanden. Ich höre meinen Magen knurren. Ich sehe zu mir herunter und fahre vorsichtig über ihn, erschrecke, als ich den riesigen wattebepackten Verband auf meinem Bauch spüre. Das Ding ist echt groß. Wie tief müssen meine Wunden bitte sein? Da kommen noch weitere Leute in mein Zimmer. Ein altes Ehepaar, auch das könnte mir fremder nicht vorkommen. "Elvis, Kind... Herrje, wie... wie geht es dir?", fragt die alte Frau und kommt näher. Gleich beschissen, denke ich. "Er kann nicht reden.", brummt der Dicke, der dem Anschein nach Taiyo heißt. Na, wie die Sonne strahlend, erscheint er mir nicht gerade. Ich bekomme zahlreichen Besuch, an den ich mich nicht erinnere, die Gesichter verschwimmen vor meinen Augen, der Tag endet wie er angefangen hat. Ich weiß nach wie vor fast nichts. Kapitel 111: Vol. 5 - Im Angesicht meiner Feinde ------------------------------------------------ Akira: "Akira-chan, sag mal bist du komplett des Wahnsinns? Wir haben es hier mit gemeingefährlichen Kriminellen zu tun, die so was von geladene Waffen haben und uns das Hirn aus dem Schädel ballern, wenn wir uns auch nur einbilden, ihre gemeingefährlichen Pläne zu durchkreuzen! Es klingt voll cool, aber, du bist doch vollkommen lebensmüde! Das können wir nicht!", macht mich Shuichiro fertig, nachdem Taiyo und der Rest der Studentenverbindung sich verzogen hat. Er muss sogar ein zweites Mal weinen. Scheiße, der hat wirklich Angst. Aber als ob ich nicht auch Angst hätte! Eine Scheißangst! "Da muss ich Fuji-kun leider zustimmen, wir können das nicht, Akira. Das mit der letzten Mission klingt wirklich mega, aber ich habe Angst. Was wenn alles umsonst ist? Wenn unser Opfer keinen Unterschied macht? Das ist zu grausam, der arme Kyo-kun. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.", bestärkt ihn sogar Sanae, die das zwar genauso episch in ihrer Vorstellung hat wie ich, aber wenig begeistert scheint. Sie hat den gleichen verängstigten Blick wie Shuichiro. Fuck, ich stoße hier auf Granit. "Dem muss ich mich leider anschließen. Egaoshita-san, das ist viel zu riskant. Wir werden sterben, das wäre unser sicherer Tod.", Kaishi ist ebenfalls nicht auf meiner Seite. Ich grabe meine Fingernägel noch tiefer in meine Handflächen, die ich zu Fäusten geballt habe. "Ich glaub es nicht. Erwartet ihr allen Ernstes, dass ich einfach tatenlos zusehe, wie diese Bastarde meinen besten Freund abschlachten?! Wie könnt ihr alle nur so verdammt starrköpfig sein und einen auf 'Ich bin so vernünftig' machen? Kommt schon, dann sterben wir wenigstens gemeinsam! Was haben wir zu verlieren? Am Ende haben wir es wenigstens versucht. Ich würde eher sterben, als am Ende zu wissen, dass ich Kyocchis Tod vor ein paar Jahren vielleicht hätte verhindern können, wenn ich losgestürmt wäre, um ihn zu retten. Euch geht es bestimmt genauso, ich weiß es! Ich weiß doch ganz genau, dass euch Kyocchi nicht viel weniger wert ist als mir!", keife ich in die Nacht. "Willst du so unbedingt sterben, Egaoshita-san? Willst du alles, woran du gearbeitet hast wegschmeißen, um Kyokei-san am Ende doch nicht geholfen zu haben? Was hast du für eine Garantie? Ich bitte dich, nein, ich flehe dich, im Namen unserer Freundschaft darum, vernünftig zu sein und uns nicht alle ins Jenseits zu befördern. Ich will nicht sterben. Niemand hier im Kreis. Ich habe Angst. Bitte sei nicht so dumm, Egaoshita-san. Bitte.", haucht Kaishi. "Kaishi-chan, ich habe auch Angst. Verdammt Angst. Ich will nicht sterben. Nach allem was ich getan habe, ist in der Hölle bestimmt schon irgendwo mein Name eingraviert! Aber jetzt geht es nicht um uns. Auch nicht um mich. Es geht um Kyokei-chan. Als seine Freunde haben wir ihn vernachlässigt. Das ist die Möglichkeit, es wiedergutzumachen. Ich schließe mich Akira-chan an. Sterben ist doof, ich weiß. Aber ein Feigling und ein Versager gleichzeitig zu sein, weil man einem Freund in Not nicht helfen will, ist in diesem Moment um Welten doofer! Ich habe überreagiert und so zum Schaden beigetragen, den er erlitten hat. Wenn jemand ihm helfen muss, dann sind wir es. Und zwar alle zusammen.", widerspricht ihm Shuichiro. Anscheinend hat er es wirklich geschafft, seine Angst zu überwinden, der Gute. "Du hast Recht, Shuichiro! Wir waren eine Zumutung von Freunden! Wir retten ihn und rächen uns an diesen Waffenheinis! Was du gerade gesagt hast, war das mit Abstand Coolste, was du je gesagt hast! Ich war niemals stolzer darauf, deine Cousine zu sein.", strahlt Hanazawa. "Moment mal, ihr seid Cousin und Cousine?", stammle ich überrascht. Shuichiro nickt und Hanako streicht sich etwas beschämt eine Strähne aus dem Gesicht. "So eine weltbewegende Erkenntnis ist das nun auch nicht...", daraufhin kichert Shuichiro. "Das wird also eine richtige Schlacht, kann ich das so verstehen?", höre ich Kaishi murmeln, als er sein Handy zückt. "Aber klar.", sage ich. "Aber wen rufst du an?", will ich wissen. "Die Polizei. Ich sage ihnen, dass ich einen Verdacht habe, wo sich der Ursprung allen Übels befindet.", meint er. "Irgendwo hier. In einem Versteck oberhalb oder auch unter der Erde. Ich vertraue darauf "Lass uns dieses kitschige Hand-auf-Hand-Ding machen und das Ding auseinandernehmen! Die fünf Muskeltiere retten Kyokei-chan!", jubelt Shuichiro und hält seine freie Hand hin. Hanazawa kommt hinzu. Sanaes auch. Auch meine. Und anschließend Kaishis. "Wie wissen doch alle, was wir jetzt zu schreien haben, oder, Leute?", frage ich in die Runde. "Für Elvis.", flüstert Hanazawa, auch wenn es vielleicht zu spät sein könnte und er längt tot. Doch wir spüren, das er noch lebt, da bin ich sicher. in diesem Moment ist es egal, dass wir ihn sonst nie beim Vornamen nennen. "Für Elvis!", rufen wir und stürmen wir kopflos durch die Dunkelheit, bereit, unser Leben zu opfern. Doch Shuichiro ist nicht so schnell. "Es wäre besser, wenn du gehen würdest, Shui.", meint Kaishi. Shuichiro seufzt. "Ich zähle auf euch.", sind seine letzten Worte, ehe er uns in die entgegengesetzte Richtung verlässt. Der Rest von uns stürmt weiter. Elvis: Als ich aufwache, sehe ich nichts. Meine Augen sind verdeckt und mein Mund durch Panzertape zugeklebt. Meine Arme sind an den Händen verbunden und meine Beine an den Füßen an den Stuhl gefesselt. Ich sitze in der Dunkelheit und weiß nicht, wie lange ich hier schon bin oder welchen Tag wir haben. Noch nicht einmal, ob es Tag ist oder Nacht. Der Holzstuhl unter meinem Hintern ist unbequem und kratzt. Die Kälte, die mich in dem unbekannten Raum umhüllt, fühlt sich trocken und erdrückend an. Als wäre ich mehrere Meter unter der Erde, wo mich niemand schreien hört. Ich weiß zunächst gar nichts. Mein Kopf ist nahezu wieder von dieser weißen Leere erfüllt, wie damals im Krankenhaus, als ich vergessen hatte, wer ich bin. Dann glaube ich, mich trifft der Schlag, als mir alles, aber auch wirklich alles wie der einfällt. Wie ein Blitz krachen die Bilder und Erinnerungen auf mich ein und ich keuche schwer. Mein Herz klopft wild als ich jedes vorbeirauschende Bild wahrnehme mit all seinen Farben, Geräuschen, Gefühlen und Menschen, die mit ihnen verbunden sind. Es ist so heftig, dass ich das Gefühl habe, meine Lungen bersten und ich selber reiße entzwei. Dann hört der heftige Tsunami aus verlorenen Erinnerungen auf und es fühlt sich an, als wurde mir soeben die Seele herausgerissen, als auch, als ob ich zum ersten Mal in den Genuss käme, eine zu haben. Ach. Du. Heilige. Scheiße. Da ist keine Gedächtnislücke mehr in meinem Kopf. Keine leere Wand vor meinem geistigen Auge. Ich erinnere mich an diesen Tag. Ich erinnere mich voll und ganz an meine Vergangenheit. An mein ganzes Leben. An mich selbst. Ich erinnere mich an alles, was ich gefühlt habe, an alles, was ich erlebt habe, alles, woran ich geglaubt habe, die ganze Geschichte. Ich fühle alles Mögliche, während der Nachgeburt an Informationen in meinem Kopf. Ich bin so glücklich wie eine Braut, so zornig wie ein Bär, der zu früh aus dem Winterschlaf geholt wurde und so tieftraurig wie ein Kind, dessen Katze daran glauben musste. Ich könnte lachen, heulen, tanzen, singen, schreien, alles gleichzeitig, doch gefesselt und geknebelt gestaltet sich all dies als nicht sehr leicht. Ich kann mich nicht bewegen und ich kann die Kugel in meinem Bein immer noch spüren. Ob mich das schlussendlich an der Flucht hindern wird? Ich will es gar nicht wissen. Und damit endet es nicht. Ich weiß nicht nur, was sich vor drei Jahren abgespielt hat, nein, ich weiß auch, was sich zuvor abgespielt hat. Ich habe Chikas Herz gebrochen, schon wieder. Akiras und mein Geheimnis kam raus. Ich bin ausgerastet und abgehauen. Ich wurde angeschossen und an die Straßenlaterne gedonnert, nur um hierher gebracht zu werden, wo auch immer dieses 'hier' auch sein soll. Zuvor habe ich mich außerdem noch mit Chikas Vater höchstpersönlich unterhalten. Je mehr meine Erinnerungen zurückkehren, desto mehr bekomme ich es mit der nackten Panik zutun. Was, wenn ich sterbe? Was, wenn ich Chika niemals sagen werde, dass ich mich an alles, insbesondere an sie, erinnere? Das wäre der absolute Supergau. Es spielt keine Rolle, dass durch diese Worte, selbst wenn sie Chika erreichen würden, irgendetwas von dem, was unsere Beziehungs einst war, zurückkehrt. Das ändert nichts an meiner Liebe zu ihr. Doch zunächst muss ich hier irgendwie rauskommen. Ich schreie nicht nach Hilfe, das ist die erste Sache, die ich schon mal nicht falsch mache. Stattdessen schmeiße ich mich an die Seite, auch wenn ich nicht weiß, was mich dort erwartet, wenn ich falle. Der Tod? Nun, ich muss es eben versuchen, auch wenn es darauf hinausläuft. Zu meiner Überraschung falle ich keinen Abgrund hinunter noch landet mein Kopf in einer Bärenfalle. Ich lande einfach nur auf der rauen Steinwand und der Stuhl steht schief. Autsch. Das tat weh, ist aber kein Vergleich zu meinem Bein. Es brennt abgöttisch. Ich versuche, mit meinen Füßen den Boden zu erreichen, um den Stuhl dann mit Schmackes in Tausend teile zu zerschmettern. Ich stehe zwar nur auf den Zehenspitzen, doch als ich mich mit dem Oberkörper hochzudrücken versuche und den zierlichen Stuhl mit der Kraft der Schwerkraft tatsächlich kaputtmache, bin ich ehrlich stolz auf mich. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Stuhl derart alt ist, oder, ich mich so frei bewegen kann, dass ich springen und runterfallen kann. Und dass ich ihn zerstören könnte, ich meine, ich habe seit gefühlt Wochen nicht mehr richtig gegessen vor Sorge und Stress. Und außerdem war ich ja auch noch ziemlich fleißig am Kotzen. Dass ich da trotz meines Untergewichts die Freiheit vom Stuhl kriege, erleichtert mich ungemein. Ich schaffe es, mich irgendwie aus den Fesseln an Füßen und Händen zu lösen und ziehe das Tape von meinen Lippen wie ich die Augenbinde ebenfalls entfernen kann. Eine Art Keller. Ich kann die Umrisse erkennen, doch als ich Stimmen hinter der Tür registriere, halte ich unverzüglich den Atem an. "Ryuzaki, stell dich nicht so an, es war nur ein Streifschuss.", meint eine Stimme herablassend. "Du bist witzig. Ich mache das alles letztendlich doch nur, weil ich keinen Sinn im Leben sehe und du meine Frau umgebracht hast.", zischt Ryuzaki und erntet wohl einen Schlag von dieser Frau, deren Stimme ich doch irgendwo mal gehört habe. "Halt die Klappe, darüber reden wir nicht. Hast du vergessen, was du eigentlich alles für mich getan hast und ich für dich? Trauerst du diesem Flittchen etwa immer noch nach? War der Sex mit mir nicht fantastisch? Du bist in den Jahren so ein Waschlappen geworden, dass ich es gar nicht glaube. Jetzt schau nach den Bomben. Und sag Kiara, sie soll die kleineren Granaten in ihre Tasche packen, für den Fall, dass die Sache hier wirklich mehr eskaliert als sie sollte. Die Stadt zerstören ist das Eine, aber das Andere, wenn hier unbefugtes Personal vorbeischaut. Jetzt beweg deinen Arsch.", keift sie und ich höre die Schritte des Mannes, die sich entfernen. Kiara... Doch nicht etwa- "Mal schauen, wie es unserer süßen Geisel geht!", lacht sie verrückt auf und stößt die Tür auf. Ich erblicke wie es aussieht den Drahtzieher hinter all dem. Und wen ich da erblicke, nein, dass hätte ich erwarten können. Doch diese Person, die ich hätte erwarten können, in diesem Zustand diesen Gesichtsausdruck machen zu sehen, lässt mich innerlich sterben. "Du bist... der Drahtzieher?", meine Stimme überschlägt sich förmlich. Ich hätte es mir fast schon denken können. Diesen Blick, den sie mir immer gegeben hat. "Ich bin alles, was du willst!", grinst sie fies. "Es... es war so offensichtlich. Es sind immer die Unscheinbaren. Du hast mich doch von unserer ersten Begegnung gehasst, gib's doch zu. Du warst von Anfang an mein Feind, ist doch so, Erika Kurodate-san!" Kapitel 112: Vol. 5 - Die Wahrhaftige ------------------------------------- Das ist der absolute Oberhammer! "Du warst das alles? Du hast meinen Bruder angegriffen? Du steckst hinter all dem? Was soll das alles? Wieso solltest du nur so etwas Schreckliches tun?!", keife ich und stehe wutentbrannt auf, den Schmerz mit aller Kraft unterdrückend. "Wieso? Die richtige Frage ist doch wohl eher... Wieso nicht? Du bist schließlich das perfekte Racheobjekt. Es läuft alles nach Plan. Das wird ein Feuerwerk, ein Spektakel und du sitzt in der ersten Reihe. Du bist sowas wie mein Ehrengast. Du darfst dich geschmeichelt fühlen!", die spinnt doch völlig. "Wieso solltest du die Stadt zerstören wollen, huh? Was habe ich mit alldem zu tun? Oder mein Bruder? Was gibt dir das Recht, allen, die mir wichtig sind, wehzutun? Es würde mich nicht wundern, wenn du auch noch den LKW von damals auf mich gehetzt hättest!", knirsche ich und versuche, sie bedrohlich anzusehen. "Du bist nicht so dumm wie du aussiehst, hundert Punkte, Bürschchen. Genaugenommen, ja, du hast richtig geraten! Der Mann, der damals am Steuer jenes LKWs gesessen hat, war niemand Geringeres als mein treuer Komplize Ryuzaki. Doch eines musst du mir lassen, diesen Auftrag hat er ganz allein zu verantworten. Es war eine Art Überraschung für meine Wenigkeit. Aber zu deiner Beruhigung: Er hätte dich nicht so stark gerammt, dass du stirbst oder gar... das Gedächtnis verlierst! Es lag weder in Ryuzakis noch in meiner Intention, dich vorort umzubringen. Und Ryuzaki wusste das. Ich kenne dich, Elvis Kyokei. Ich weiß wer du bist und was für eine korruptierte Seele du wirklich bist. Niemand wollte einen gewöhnlichen Mord an dir ausüben, zumindest habe ich nicht den ausdrücklichen Befehl dazu erteilt. Ich habe nicht mehr gewollt, als deinen Geist Stück für Stück so verkommen zu lassen, dass du mit eigenen Beinen in unsere Arme rennst. Das hätte ich dann erledigt. Na ja, jedoch hat es letztendlich zur absoluten Zerstörung nicht ganz gereicht. Deine vollbusige Freundin kam schließlich zur Stelle und hat sogar diesen unbedeutenden Akt ruiniert. Wow, so eine dumme Schlampe findet man echt nicht alle Tage.", kichert sie. "Du spinnst doch! Du hast sie wohl nicht mehr alle! Und wenn du noch ein schlechtes Wort über Chika verlierst, komm ich näher und schiebe dir deine bescheuerte Gasmaske so tief in den Arsch, dass du es schmecken kannst!", blaffe ich und schaue dabei unauffällig ob sie Waffen bei sich trägt. Ein Waffengürtel. Keine Überraschung. Wie hätte ich mir auch Hoffnungen machen können, sie fertigzumachen? "Ach, du willst mir drohen? Wie süß, scheinst dir ja ordentlich was auf dich einzubilden, Kindchen.", diese..."Was hast du überhaupt gegen mich?! Was habe ich dir oder irgendwem sonst hier am Arsch der Welt angetan?! Wieso musstest du all die Jahre bloß zusehen, wie ich leide und dich darauf aufgeilen, dass ich irgendwann genug ausraste, damit du mich töten kommen kannst?! Sag schon, worum geht es hier wirklich und was habe ich mit all dem hier zu tun?! Schlimmer als den Plan die Stadt zu zerstören, kann es unmöglich werden!", brumme ich, bereit, die Überreste ihres Stuhls gegen sie zu verwenden. "Ach, nein, gegen dich persönlich habe ich nichts. Ich will dich einfach nur tot sehen. Nachdem ich dir den Rest gegeben habe, der dich auch ohne meine Hilfe zu dem Schatten deiner Selbst gemacht hat, der du jetzt bist. Ich habe gesehen, wie du gesprungen bist. Wie du von Sekunde zu Sekunde mehr von deinem Verstand verloren hast. Ich war geduldig wie ein Kätzchen. Aber jetzt, nach so einer langen Werbepause, kann ich den Plan beenden, den ich seit über siebzehn Jahren ruhen lassen musste. Ihr Gesicht, wenn sie das sehen würde, wäre traumhaft! Ich hasse dich nicht. Zumindest nicht ansatzweise so sehr wie ich sie hasse.", sie funkelt mich böse an und fährt fort. "Ich werde Windstillhausen, dieser verdammten, ach so schönen Stadt den Erdboden gleichmachen. Kein Fleisch wird verschont bleiben. Ich werde es sein, die der ganzen Geschichte ihr Ende bringt. Ich hatte das ja eigentlich mit Schlechtwetterstadt vor, aber was will man machen, wenn die Schachfiguren unartig sind? Sie werden alle sterben. Die ganze falsche Hoffnung, all diese verlogenenen Menschen, mein eigener Clan, Kiara, Ryuzaki und du gleich mit!", faucht sie und macht mich damit rasend. Nur über meine Leiche. "Ach, wirklich?", lache ich, selbstsicherer als ich wirklich bin. "Du willst jeden töten, dich selbst und die Stadt zerstören? All die unschuldigen Menschen des schönen Windstillhausen? All die unwissenden Kinder und erschöpften Rentner? All die naiven Schüler und Studenten, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben? Du maßt dir an, über Leben und Tod zu entscheiden, nur weil du selbst einen riesigen Spaß daran hast, gedächtnislose Jungs zu kidnappen? Wer bist du, dass ich dich damit durchkommen lassen könnte?", fordere ich Antworten von der Frau, die ich augenscheinlich nie gekannt habe. "Bist du wirklich bereit, die Böse zu sein und von den Hauptcharakteren eins aufs Dach zu bekommen, nur weil du dir mit deinen eigenen diabolischen Plänen im Weg stehst und eigentlich gar nicht weißt, was du da tust? Willst du wirklich-", "Aufhören...", unterbricht sie mich murmelnd. "Erika-sa-", "Halt dein Maul! Ich will es nicht hören! Ich wollte ihr nicht wehtun! Ich will nicht, dass sie blutet! Irgendwer... irgendwer... bitte rette mich!", schreit sie und verkrampft sich in einer Position, in der sie ihre Ohren zuhält und zittert. Das verwirrt mich. Wie kann eine Frau, welche kein Problem damit hat, eine ganze Stadt zu zerstören und Genozid zu begehen, nur um nächsten Moment fast in Tränen ausbrechen? Das ist doch längst nicht mehr die Erika-san, die ich kenne. Doch darüber kann ich nicht lange genug nachdenken, als sie sich wieder einkriegt und mir eine Pistole hinschmeißt. Das kühle Material fühlt sich komisch an. Als gehöre es gar nicht in meine Hände. "Was soll das werden? Du gibst deinem Feind eine Waffe? Bist du irgendwie bescheuert oder so?", will ich ziemlich perplex wissen und ziehe, so gut ich kann,ein hämisches Gesicht. Vorsichtig versuche ich, mit meinen zittrigen Händen den Abzug festzuhalten. Dass ich von eben immer noch nichts verstanden habe, dränge ich zunächst in den Hintergrund. "Du hast es gesehen, oder? Du und ich sind korruptierte Seelen, die die Welt nicht länger von Nöten hat. Niemand, der ein Herz wie jeder andere hätte, wäre bereit, seine Kameraden hinter sich zu lassen, sich umzubringen oder die Menschen zu verlassen, die man liebt! Das ist das Ende, und du weißt es! Wenn du darauf bestehst, mir das Gegenteil zu beweisen, dann kämpfe. Ich bin dir körperlich und geistig überlegen, es wird also keinen großen Sinn machen, ob du versuchst, meine Pläne zu durchkreuzen oder nicht. Nachdem du all dies erfahren hast, kann ich dich nicht länger am Leben lassen. Dein Schicksal ist ohnehin un-aus-weich-lich!", Diese Silbentrennung geht mir echt sowas von gegen den Sender. Andererseits habe ich keine Wahl und sehe mich gezwungen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, um diese Trulla ruhigzustellen. Egal wie sehr ich vor Stress, Aufregung und Angst kotzen könnte. Und trotzdem gilt mein Blick nur der Pistole in meinen Händen. Der Pistole, mit der ich diese Frau erschießen könnte, wenn ich stark genug wäre. "Meinetwegen. Zieh dich warm an, alte Frau. Ich bin hier definitiv nicht das Opfer.", gebe ich mehr mir selbst zu verstehen und schaffe in Wahrheit nicht einmal mehr, ihr ins Gesicht zu sehen. "Auch dann nicht, wenn ich es wahr, die deinen Vater ermordet hat?", dieser Satz lässt mich so erschaudern, dass ich versehentlich ihrem grausamen Grinsen begegne. In meiner Brust zieht sich alles zusammen und ich habe das Gefühl, als ob ich in meinem Leben nie größere Panik verspürt hätte als jetzt. Falls ich vorher noch irgendwie mutig war, ist von diesem Mut jeder kleinste Rest Flöten gegangen. "Och, sieh an, der gute Mann ist ja auf einmal ganz kleinlaut!", säuselt sie mit diesem schrecklichen Gesicht. Lauf weg, Elvis! Sie wird dich umbringen! Du hast keine Chance gegen sie!, solche Gedanken sind es, die in meinem Kopf Karusell fahren. "Es tut mir leid, ich bin zu schwach.", kommt mir wieder in den Sinn und mir ist nach Heulen. Ich bin nicht der Held aus einem Anime, der durch die Kraft der Freundschaft zum Stärksten der Stärksten wird. Diese Freunde habe ich nicht mehr, diese Kraft habe ich nicht mehr! Alle Kräfte haben mich verlassen. Ich bin absolut kraftlos. Ich habe nichts außer der Pistole, die in meinen schweißnassen Händen fast zu Boden fällt. Mir bleibt nicht mehr als zu zittern und mein eigenes Herz rasen zu hören, als würde es gleich durch meinen Pullover springen. Ich könnte gar nicht abdrücken, selbst, wenn ich wollte! Mir ist so schrecklich kalt. Meine Seele reißt beim Anblick dieser Person gänzlich entzwei. Mein ganzer Körper ist wie gelähmt, als sie mich allein mit ihrem Blick ersticht, der immer näher kommt. Jeder Schritt bringt mich dem Tod näher... Gleichzeitig wünsche ich mir aber, dass es dabei bleiben würde, als sie das Messer zückt und alles woran ich denken kann, die Klinge ist, die meinen Vater getötet hat. Erika-san steht nun direkt vor mir. Die Klinge voller Rost und altem Blut direkt vor meinen Augen. Und hinter der Klinge, das abscheulichste Lächeln, das ich je gesehen habe. Der Tod ist buchstäblich genau vor meiner Nase. Ich rieche ihn. Ich spüre ihn. Verdammt. Dann spüre ich etwas Warmes meine Beine hinunterlaufen, dass wenig später wieder abkühlt und meinen Angstzustand schürt. Ich habe mir in die Hose gemacht. Akira: Schon wieder fällt ein Schuss und niemand weiß woher. Wir rennen wie Berserker durch das nasse Gras und haben alle nur ein Ziel. Nicht zu sterben. Wir alle sind vielleicht kurz davor, die dümmste Entscheidung unseres Lebens zu treffen. Doch andererseits, sie unterstützen mich. Das weiß ich zu schätzen. "Verdammt, wo ist dieses scheiß Versteck?!", flucht Hanazawa, als wir ziemlich nahe an den Wald kommen. "Wüsste ich auch nur allzu gerne. Es ist zum Haare raufen, wir haben absolut keinen Anhaltspunkt, wo er stecken könnte.", regt sich Kaishi auf. "Was hast du der Polizei über den Stützpunkt gesagt, Kazu-kun? Wir wissen doch auch nicht, wo der sein soll...", fragt Sanae ihn maulend. "Ich sagte nur Richtung Wald. Zumindest damit liegen wir einigermaßen richtig. Auch wenn mir lieber wäre, ich hätte sie angerufen, bevor sich rausstellt, dass wir absolut keine Ahnung haben, was wir hier eigentlich machen.", Kaishi seufzt. Dann weitet er in der zunehmenden Dunkelheit die Augen und zückt ein zweites Mal episch sein Handy. "Und wer ist es diesmal, den du anrufen willst?", will ich wissen und sehe ihn an. "Einen Krankenwaagen. Eventuell die Feuerwehr, wenn da hier eskaliert. Dass sie Kyokei-san ein anständiges Bett, eine Heizung und Essen zur Verfügung gestellt haben, während er sich in ihrer Gewalt befand, bezweifle ich einfach mal stark. Wer weiß, was er sich an Verletzungen zugezogen hat, während er beim Feind die Nacht überleben musste?", das er scheint mir einleuchtend... Wir begeben uns also noch tiefer in den Wald. Und nach einer gefühlten Ewigkeit zerreißt ein Schrei die nächtliche Stille. "Kyaaahhhh!!!", kreischt plötzlich Hanazawa und ich zucke zusammen. "W-was ist passiert?", stammle ich, überfordert mit der Tatsache, dass auch Hanazawa wie ein normales Mädchen kreischen kann. Und dann merke ich, sie ist gar nicht mehr da. "Hanazawa-san? Ist alles okay? Hey, Hanazawa-san! Wo bist du?!", erkundigt sich Sanae und im selben Moment sehen wir weiter hinten im Wald, in einem üppigen Dickicht Hanazawas blondes Haar schwach aufleuchten. "Hanazawa-san, was tust du da unten? Es ist gefährlich, einfach so die Gruppe zu verlassen und auf eigene Faust das Versteck zu suchen!", schnauzt Kaishi sie an, als wir sie auf dem Boden des Abhangs sehen. Völlig verstört sitzt sie da und sieht dann, worauf sie gelandet ist. "Ich... ich... ich glaube, ich habe es gefunden...", stottert sie völlig überwältigt und winkt uns zu sich ran. "Ein Gulli mitten im Wald? Irre...", entfährt es Sanae wenig später, als wir ebenfalls zu Hanazawa hinuntergeschlittert sind. "In der Tat.", bestätigt Kaishi. "Nun bedarf es uns, eine ausgeklügelte Taktik zu finden, diese mindestens acht Kilogramm schwere, und womöglich verschlossene, Steinplatte zu-", "Von der Mitte zur Titte, zum Sack, zack zack!", höre ich Hanazawa keifen und im nächsten Moment erbebt der Boden um den Gullideckel. "Uah, Akki, ein Erdbeben!", erschrickt Sanae und klammert sich an mir fest. "Jep, das kannst du laut sagen. Aber, jetzt mal ehrlich, Hanazawa, was sollte den dieser beknackte Trinkspruch vor deiner Attacke?", frage ich mich und Hanazawa klettert aus dem Krater, der nun ein bisschen Licht durchlässt. "Das... ist mir so rausgerutscht... Wenn man so einen Angriff tätigen kann, ist es doch völlig egal, was man dabei sagt!", rechtfertigt sie sich. "Schaut mal, ihr drei, wenn man den Dreck weggemacht, kann man eine Wendeltreppe erkennen, die nach unten führt.", erregt Kaishi wieder unsere Aufmerksamkeit. "Tatsache? Okay, nichts wie rein!", bin ich gleich bereit, zu kämpfen. "Nicht so schnell.", hält mich Kaishi noch auf. "Da wir nicht wissen, wann und ob wir da lebend wieder herauskommen, wäre es leichtsinnig, als ganze Gruppe da runterzugehen, ohne, dass die Rettungskräfte wissen, wo sie suchen sollen. Uchihara-san, du bist das schwächste Glied unserer Truppe, ich bitte dich daher, hier auf die Rettungskräfte zu warten.", "Manno! Immer bin ich außen vor...", brummt sie und sucht einen Weg aus dem Abhang. "Dann lasst uns mal rein.", seufzt Kaishi. Es sieht eher aus wie eine übergroße Garage, wenn du mich fragst. Schlecht beleuchtet, aber wider meiner Erwartung wohl ziemlich aktiv in Gebrauch. Doch ehe wir weiterkönnen, steht da dieses kleine Mädchen vor uns, die die Uniform der Blutrosenoberschule trägt. Hinter ihr stehen noch drei weitere Männer. "Unbefugtes Personal.", sagt einer der Männer. "Auf sie.", und schneller werden sie handgreiflich als wir reagieren können, doch da haben sie die Rechnung ohne uns gemacht. Hanazawa-san ist stärker als alle drei und zerlegt die drei Erwachsenen in einem Rekord von einer Minute und sechsunddreißig Sekunden, ohne, dass wir etwas tun mussten. In Handumdrehen waren alle Kampfunfähig und Hanazawa sieht trotz allem immer noch süß aus. "Keine würdigen Gegner für mich.", flüstert sie und sieht sich das den Kniestrumpf, der im Kampf runtergerutscht ist, wieder ein Stück nach oben. "Hanazwa, ich mag ja nicht anmaßend sein, aber da steht noch... sie.", gebe ich ihr zu verstehen und bedeute ihr, sich nach der Uniformträgerin umzudrehen. "Ihr seid stärker als ihr ausseht. Er ist nicht hier. Verschwindet, solange ihr noch lebt.", ertönt eine elektronische Stimme, die sie soeben durch ihr Gerät zum Leben erweckt hat und nun wieder wegpackt. Sie sprintet auf uns zu, knockt Kaishi aus und von da an geht alles viel zu schnell. Noch nicht einmal unsere Lolita-Kämpferin Nummer eins, die versucht, Kaishi zu retten und selbst aktiv zu werden, kann sich von ihren Angriffen ausruhen. Nur mich hat sie kaltgelassen. "Flieh, Egaoshita-kun, rette ihn! Ich kann ihren Angriffen nicht länger standhalten!", ruft sie und kassiert einen Schlag in ihr kleines Gesicht. "O-okay!", tue ich ihr den Gefallen und will gerade gehen, als ich Akane-san die Wendeltreppe hinunterstürzen sehe. "Au...", winselt sie, steht auf und wieder treffen sich unsere Blicke. "Akane-san, komm mit, wir müssen Kyocchi retten! Ich weiß nicht, wieso du hier bist, aber ich erklär es dir später, jetzt beweg deinen Hintern hierher!", kommandiere ich die Ältere und sie folgt mir aufs Wort. Im Ernst, was hat sie hier verloren? Wir sprinten also durch den schlecht beleuchteten Korridor, vor uns in weiter Ferne hören wir jemanden. Immer wieder macht Akane-san den Eindruck, nicht mehr zu können und fast zu fallen. Doch je lauter die Stimmen werden, desto mehr versucht sie, sich nichts anmerken zu lassen. Um sie verschnaufen zu lassen, nehme ich ihre Hand und wir verschanzen uns im toten Winkel unserer Feinde. Als Akane-san jedoch um die Ecke guckt und dort eine Frau im schlechten Licht erblickt, atmet sie schwer. "Akane-san, was ist mit dir? Wieso guckst du so seltsam auf diese Frau?", will ich wissen und ergreife ihre zittrige Hand.   "Ich kenne diese Person.", murmelt sie und bewegt ihre Hand Richtung Handtasche.   "Diese Person mit der Gasmaske am Hals hat meinen Bruder umgebracht. Ich habe sie gesehen, als ich damals davongelaufen bin. Und jetzt hat sie das Gleiche mit meinem Neffen vor. Es passt alles zusammen. Erika-san, diese verdammte Verräterin. Sie... sie hat ihn umgebracht... Sie war damals da... Sie hat nur darauf gewartet, dass Setsuna-san und ich ihn sehen. Diese verdammte Schlampe, sie... sie ist an allem schuld. Ich habe dieser Frau blind vertraut... Ich hatte sie lieb... Diese Heuchlerin!", knirscht sie und zieht ein riesiges Küchenmesser aus ihrer Handtasche.   "Akane-san, das ist zu gefährlich. Du wirst noch-",   "Ich hasse diese Person. Fahr zur Hölle, Erika-san!", schnieft sie, ehe sie aufsteht und davonbeschwichtige ich sie, doch sie ist schneller weg als ich bis drei Zählen kann.   "Waruuuuuum?!", und ihre Verzweiflung erfüllt den ganzen großen Raum, als sie davonsprintet und es nichts gibt, was ich tun kann, um sie zu retten. Elvis: Doch ehe Erika-san mir auch nur ein Haar krümmen kann, wird sie von meiner Tante zur Seite geworfen.   "Tante Akane?! Akira?! Was zur-",   "Verschwindet! Elvis-chan, Akira-kun, los, verschwindet! Hier ist es nicht sicher! Wenn ihr hier bleibt, werdet ihr getötet!", keucht sie, als die beiden versuchen, sich gegenseitig abzustechen. Dabei schlägt Erika-san meiner Tante mit dem Griff ins Gesicht und die kaputte Brille fällt auf den baufälligen Boden.   "Kyocchi, wir müssen hier weg! Kyocchi!", versucht Akira, mich aus der Schockstarre zu befreien und greift meine Schulter.   Doch ich bewege mich keinen Zentimeter. Im schlechten Licht sehe ich immer wieder das Blut der beiden spritzen. Blutspritzer überall! Es ist wieder dasselbe! Ich bin absolut machtlos. Doch als ich kurz davor bin, mit Akira die Flucht zu ergreifen, ertönt ein Schrei im Versteck, so schrecklich und herzzerreißend, dass sich mein Herz davon niemals wieder erholen wird. Inmitten der schlechten Beleuchtung sehe ich die weit aufgerissenen Augen meiner Tante, und das Blut, das aus ihrem Mund quillt. Und weiter südlich... klafft ein riesiges Loch.   "Du hast dich kein bisschen verändert, Akane Kyokei-chan. Aber was will man machen? So der Bruder, so die Schwester. Zu dumm!", grinst Erika-san und schubst meine Tante mit dem Messer in der Brust von sich.   "Tante Akane!", keuche ich fassungslos. "Akane-san, nicht!", kommt es von Akiras Seite und so schnell wir können halten wir auf sie zu.   "Akane-san, du musst wach bleiben! Sanae wartet draußen auf die Rettungskräfte, sie... sie können dir helfen! Akane-sa-",   "Schhhh, Akira-san. Bitte sieh mich nicht so an... Wenn du mich so ansiehst, werde ich nicht stark genug sein, meine letzten Worte zu sagen.", lacht sie schwach.   "Sag doch sowas nicht, Tante Akane! Wir stehen das zusammen durch!", schniefe ich, doch anstatt Hoffnung zu schöpfen, legt sie uns beiden jeweils eine Hand auf.   "Ich war... bis zuletzt ein ziemliches Miststück, was? Ich habe zu viel Alkohol getrunken, geflucht, gelogen und war egoistisch. Ich war wohl... die schlechteste Tante, die man sich vorstellen kann, was? Man könnte sagen, ich sei eine Versagerin auf ganzer Linie. Ich hatte vorehelichen Geschlechtsverkehr. Ich habe kein Stück über die Konsequenzen nachgedacht und mich einzig und allein meiner Lust hingegeben. Ich habe Erika-san zur Hölle gewünscht, wo es Menschen doch verboten ist, über andere zu richten, geschweige denn über Leben und Tod zu entscheiden. Jetzt gegen Ende erst bin ich wohl wieder ganz bei Sinnen, ironischerweise... Ich habe gesündigt ohne Ende... Und dennoch gibt es Menschen, die mich bis meinem Tod geliebt haben. Mein Bruder, Setsuna-san, die ganze Familie. Auch Taiyo-chan, Elvis-chan und Akira-kun. So viel habe ich gelernt, erlebt und gesehen. Von meinen Sünden abgesehen... gibt es nicht viel, was ich aufrichtig bereue... Lediglich...", sie hustet Blut.   "Lediglich?", wollen Akira und ich synchron wissen.   "Nun ja... Ich werde das Kind, dass Setsuna-san und Shun-san bald bekommen... in diesem Leben nicht mehr sehen. Auch die Kinder meiner Neffen... werde ich niemals im Arm halten können... Aber ebenso... wird das Kind von Akira-kun genau hier... niemals Schönheit der Welt erblicken können.", sie schluchzt leise und versucht, noch länger wachzubleiben.   "Ich habe euch alle beide total lieb, wisst ihr? Ich liebe euch... So sehr... Ich werde... euch immer lieben.", dann schließen sich langsam, aber bestimmt ihre Augen und ihr Kopf rollt zur Seite.   Mein ganzer Körper ist taub. Ich weine nicht einmal. Ich habe keine Ahnung, ob ich überhaupt wach bin und nicht doch alles träume. Nichts davon fühlt sich real an.   "Akane-san? Akane-san! Nein, du darfst nicht sterben! Ich will nicht, dass du stirbst! Ich will das überhaupt nicht! Du warst alles, woran ich noch glauben konnte, hörst du?! Schau her, ich bin bei dir! Hey, ich bin's, Akira!", schreit er den Leichnam meiner Tante an. Irrationaler Vollidiot.   "Ich wollte immer bei dir sein! Ich wollte und ich werde auch immer bei dir sein, wenn du nur jetzt wieder die Augen öffnest, Akane-san! Mehr verlange ich nicht von dir! Echt nicht! Es fehlt doch noch so wenig! So wenig zu dem Leben, dass wir beide führen könnten, wenn du nur wieder aufwachen und mir sagen würdest, dass du mich liebst!", schreit mein bester Freund eine Frau an, von der er dachte, dass die Beziehung mit ihr all seine Probleme lösen könnte. Irrrationaler Vollidiot.   "Es darf hier nicht enden, es darf einfach nicht! Ich wollte wirklich deine Liebe erwidern! Ich wollte mit dir davonlaufen! Mit dir leben! Ich wollte doch nur, dass du weiter an meiner Seite bist!", schreit der Junge und belügt sich selbst beim Versuch, an die Zukunft mit der Frau, die da blutend vor ihm liegt, aufrichtig zu glauben. Irrationaler Vollidiot.   "Mir egal, ob das mit uns falsch war, ich kann nicht ohne dich! Das will ich gar nicht! Das ist mir so egal! Das ist mir alles so egal!", weint Akira und eine Träne tropft auf Tante Akanes Wange. "Aaaaaaaaaahhhhhh!!!!!!", brüllt er verzweifelt, als würde er gerade physische Schmerzen durchleiden. Im nächsten Moment verliert er das Bewusstsein und landet nehmen ihr. In meinem Kopf herrscht Leere und dumpfer Schmerz, erdrückender als alles, was ich jemals an Leere spüren durfte. "Können wir dann weitermachen?", fordert Erika-san mich nach dem Tod meiner Tante noch allen Ernstes erneut zum Kampf heraus.   "Ahaha...", höre ich mich selbst leise kichern.   "Was ist so lustig?", fragt Erika-san zu recht.   "Hahaha... hahahahahahahaha!", kichere ich wie der letzte Idiot weiter und fahre mir durch die verklebten Haare.   "Eine Sache habe ich jetzt verstanden, jetzt macht irgendwie alles Sinn..", murmle ich, als jegliche Gefühle nur noch dumpfe Echos in meinem Inneren sind.   "Was?", versteht Erika-san nicht.   "Ich habe es verstanden. Du hast nicht ganz gelogen, aber komplett ehrlich warst du nun mal auch nicht. Ich bin nicht entführt worden, weil meine korruptierte Seele dich dazu veranlasst, zu töten, was bereits tot ist. Zudem kommt noch dein unstillbarer Rachedurst durch deinen abgrundtiefen Hass auf sie.", ich greife nach der Pistole, die ich habe fallen lassen und stehe schwerfällig auf.   "Dein komisches Gesicht,dass du mich immer so grimmig ansiehst, wie gesagt- der Hass auf sie... Das ist mehr als nur angestaute Wut. Rache wolltest du, das wollte sicher noch irgendwer anders. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin, ist echt zum Schießen. Dass ausgerechnet du meinen Vater auf dem Gewissen hast, das wäre zusammengefasst die perfekte Rache an deiner Schwester. Lass mich raten, du bist abgehauen, hast Jahre später ihren Ehemann ermordet und aus Rache hast du dir vorgenommen, den Sohn deiner verhassten Schwester zu überwachen, systematisch in den Wahnsinn zu treiben und anschließend wie den Vater vorher auszulöschen. Alles nur, damit die Erzfeindin einer kleinen Schwester bitterlich weint. Ist es nicht so, Shizuku Shizuhara?" Kapitel 113: Vol. 5 - Auswegsloser Kampf ---------------------------------------- "Ist es nicht so, Shizuku Shizuhara?", damit habe ich den Nagel wohl auf den Kopf getroffen, denn Erika-sans Augen weiten sich gewaltig. "Ist lange her, dass dich jemand so genannt hat, was? Dann muss ich wohl Recht haben. Beenden wir es. Gib auf, alte Frau, laut meiner Hypothese hast du die Bomben, die die Stadt zerstören wohl schon längst aktiviert. Ich lasse nicht zu, dass du jeden umbringst. Deine bescheuerten Bomben werde ich eigenhändig entschärfen. Deshalb kann ich nicht gegen dich kämpfen. Es gibt bessere Methoden, also-", "Was fällt dir ein, so überheblich mit mir zu sprechen?!", brüllt sie und kommt auf mich zu, schneller als ich aussprechen kann. Ehe sie mir aber das Messer in den Körper rammt, halte ich es mit meiner Faust auf, nur um es im nächsten Moment zu bereuen. Meine Hand! Blut... Nein, ich... ich muss stark bleiben, ich... ich darf nicht verlieren! Meine Gegnerin bringt mich erneut mit ihren Blicken um, als sie versucht, das Messer umzudrehen und aus meiner Hand zu ziehen. Kurz schaffe ich es, zu widerstehen, meine Handflächen nicht abgeschabt zu bekommen, doch als ich merke, wie mich die Kraft verlässt, erinnere ich mich an den Plan. Panisch sehe ich mich in dem schwachen, gelblichen Licht um. Irgendwo muss es sein, ihr Schwachpunkt. Wenn ich loslasse, ohne zu wissen, was ich tue, sterbe ich. Ich bin nicht bei Sinnen genug, um sie abzuknallen! Mir fällt vor Panik wieder fast die Klinge aus der Hand, sie sind schleißnass. Dass ich das Messer festhalten kann, sollte faktisch eigentlich überhaupt nicht möglich sein! Aber was soll's, es lebe die Plot-Armor! Und tatsächlich erscheint die Lösung direkt vor meinen Augen... Das ist es! Dafür, dass die Widersacher dieser Geschichte so böse und mächtig sind, sind sie nämlich ganz schön... bezwingbar. In einem Aspekt sind sie mir gegenüber nämlich nicht im Vorteil: Sie haben nicht daran gedacht, die Kappe ihres Sicherheitskastens zu reparieren. Und das wird mir wiederum zum Sieg verhelfen. Lebensmüde wie ich bin, reiße ich das blutige Messer samt noch blutigere Hand nach unten, zücke meine eigene Waffe, ziele und im nächsten Moment ist das Licht komplett verschwunden. "Verdammt, der Sicherheitskasten! Du fühlst dich sicherlich total schlau, nicht wahr? Du entkommst mir nicht, Bastard!", flucht sie, bevor ich die schmerzenden Beine in die Hand nehme und die Flucht ergreife. Ich weiß nicht genau, wie lange ich in der Dunkelheit umherirre. Es könnten Sekunden, Minuten, aber auch Stunden sein, in denen ich durch die Tiefen des Verstecks haste und mir die größte Mühe gebe, ihre Schritte nicht zu hören. Sie ist wahnsinnig schnell. Nie gelingt es mir, in einem Versteck länger als fünf Minuten durchzuschnaufen und dabei auch noch meinen Atem zu kontrollieren, damit sie mein aufgeregtes Keuchen nicht hört. Das Ticken der Bomben, die die ganze Stadt binnen kurzer Zeit auf dem Gewissen haben könnten, macht die ganze Sache auch nicht besser. Sie könnten alle sterben! Ich könnte sterben! Und nun liegt das Schicksal aller Beteiligten auf meinen schwachen Schultern... Herrschaft noch mal, wieso ausgerechnet ich?! Selbst wenn es mir gelingen sollte, Erika-san zu töten, man kann doch nicht von mir erwarten, eine Bombe zu entschärfen, ohne zu wissen, ob nach dem Entschärfen der einen mit den anderen dasselbe passiert? Ich komme in einem Raum an, in dem als einziger noch die Stromversorgung noch intakt ist. Als mir dämmert, dass das die Konsole ist, die den ganzen Plan am Leben erhält, dämmert mir, wieso. Alle Knöpfe müssen bereit sein, wenn es nötig ist. In diesem Raum also keine Notstromversorgung zu haben, wäre also ziemlich... idiotisch. Noch immer umklammere ich die Pistole in meinen schweißnassen Händen voller Blut. Mittlerweile schwitze ich dieses sogar, so sehr stresst mich das alles. Die ebenso roten Ziffern, die den Countdown darstellen, beruhigen mich auch nicht gerade. Mir bleiben etwa zwei Minuten, bevor der Laden und das Leben, dass ich mir in dieser Stadt aufgebaut habe, von der einen auf die andere Sekunde in Flammen aufgeht. Inzwischen bin ich aber schon so gestresst, dass es mich fast schon wieder entspannt, absolut machtlos und überfordert zu sein. Ich schüttle den Kopf. Nichts daran ist entspannend, machtlos am Arsch, es ist noch nicht zu spät! Okay, okay, ich muss irgendwie dafür sorgen, dass alle Bomben gleichzeitig abgeschaltet werden... Aber wie? Ich könnte die Pistole nehmen und wie bescheuert so lange auf das Ding draufballern, bis niemand darauf kommt, dass das mal unser Untergang hätte sein sollen. Aber was für eine Garantie habe ich bitte? Okay, okay, hier ist der Plan mit den Bomben im Versteck, dort der mit denen, die in der ganzen Stadt verteilt sind. Wenn ich es mir recht überlege, ist entschärfen vielleicht das falsche Wort. Ich will ja gar nicht, dass es überhaupt explodiert! Ich will, dass der Countdown einfach aufhört, meine Freunde zu bedrohen. Die Bomben könnten alle miteinander verbunden sein, müssen es aber nicht. Herrschaft noch mal, es könnte alles umsonst sein, wenn ich hier... Augenblick! Das ist doch... Ich fasse es nicht! Es war die ganze Zeit vor meiner Nase! War ja klar, dass selbst dieser Drecksverein auch noch so ein bisschen weiterdenkt und sich den Rückzug freihält, falls es nicht anders geht. Du kannst mir glauben oder nicht, aber... da ist ein Knopf! Ein verdammter roter Knopf! "Ahaha... Ahahahahaha!!!", versuche ich, mein Kichern zu unterdrücken. Das ist selbst in so einer lebensbedrohlichen Situation einfach zu komisch! Ich schlage also mit der Pistole das Glas kaputt und und drücke grinsend den Kopf, bevor die letzten Sekunden verstreichen, die uns alle umgebracht hätten. Der Countdown stoppt und die sämtliche Bomben auf beiden Karten verblassen, als hätten sie nie existiert. So unrealistisch und einfach hätte ich mir meinen Sieg hier unten nicht vorgestellt. Ich meine, wenn man es genau nimmt, hat die Autorin es sich hier wirklich leicht gemacht, absolut überhaupt niemandem etwas in Bezug auf das Entschärfen von Bomben beizubringen. Ich freu mich trotzdem! Freudentränen tropfen auf die Knöpfe. "Ich... ich habe... sie alle gerettet. Ich... ich war gerade... total cool, oder?", schluchze ich und wische mir mein Gesicht trocken. Genug der Heulerei, es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Ich drehe mich also um, will gerade gehen, nur, um wieder ihrem grausamen Grinsen zu begegnen. "Glaubst du, du entkommst mir einfach so, Elvis Kyokei?", und hätte ich mich nicht schon vorher eingenässt, ich schwöre, ich hätte es wieder getan. Ich bin so was von gefickt. Die Angst umhüllt mich wieder, sie kommt näher mit jedem Schritt, den Erika-san in meine Richtung macht. Es ist das Gleiche. Wieder greift der Tod nach mir. Und wieder gibt es nichts, was ich dagegen tun kann. "Du hast sämtliche Bomben außer Kraft gesetzt? Alle Achtung, Elvis. Es ist ja nicht so, als könnte jeder Idiot einen Knopf betätigen. Ich hätte nicht gedacht, dass du es mit deiner Beinverletzung schaffen würdest, so weit zu laufen. Ich hätte wisseb müssen, dass man Ryuzaki keine Schlüssel anvertrauen sollte. Aber egal, selbst wenn die Stadt heute doch nicht in die Luft geht. Du wirst trotzdem sterben. Genau wie ich.", ihre Worte hallen in meinem Kopf wieder, der vor Angst so leergefegt ist, dass es schmerzt. Doch da ist eine Sache, die ich inmitten der Leere nicht verdrängt habe. Welche mir in diesem Moment so eine Kraft verleiht, als hätte Gott persönlich durch diesen Menschen gesprochen, ohne dass dieser es überhaupt wusste. "Der Grund, weshalb ich lebe, bist du. Ich war eine lange Zeit sehr traurig, ich hatte mir alle Welt zum Feind gemacht. Meine Familie und jeden, der von den Vorfällen wusste, die allein meine Schuld waren. Der Einzige, den ich hatte, auf den ich zählen konnte, Ellie, das warst du. Deshalb sag sowas nicht, verliere nicht den Mut. Sei nicht so gemein zu dir. Egal was kommt, egal was in der Vergangenheit, die du vergessen hast, vorgefallen ist. Egal, ob du dich vielleicht nie wieder an mich erinnern wirst. Ich bleibe für immer und ewig an deiner Seite, Ellie.", bekräftigt mich meine vergangene Freundin. Das Mädchen mit den grünen Haaren und der Iris aus Gold. Der Mensch, der nie den Glauben an mich verlor. Durch den ich ein besserer Mensch wurde, durch den mir mehr übernatürliche, nahezu göttliche Kraft zuteil wurde, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich darf nicht sterben. Nicht, solange, Chika Failman irgendwo da draußen noch auf mich wartet! Furchtlos wie ich bin, und das überrascht mich selbst, trotze ich ihrem Blick und halte ihr schneller die Pistole an den Kopf als sie die Klinge an meinen Hals halten könnte. "W-was... was zur Hölle ist auf einmal los mit dir?! Wo ist deine Angst hin?! Warum... warum lächelst du?! ... Wie... wie kommt es, dass du scheinbar absolut keine Angst vor mir hast...? Ich habe deine Mutter umbringen wollen... Ich habe deinen Vater ermordet. Deine Freundin wäre beinahe durch die Pläne meines Komplizen getötet worden... Ich habe deinen Bruder angeschossen... Ich habe sogar deine Tante vor deinen Augen erstochen und doch... bist du so gefasst... Dabei... hast du doch auch... diese eine Seite an dir... Ich verstehe es nicht...", stammelt Erika-san. "Das stimmt nicht ganz. Ich zeige es nicht, aber gerade habe ich so viel Angst wie noch nie zuvor... Ich könnte sterben und weiß das... Tante Akanes Tod und deine Enthüllung schockieren mich zutiefst und ich... ich kann dir nicht verzeihen, weißt du? Aber... trotz allem habe ich vor dir persönlich keine Angst... Es war nur dein Blick. Wir sind uns... ähnlich, da hast du Recht, diese Seite an mir, die alles beendet hat, die dafür gesorgt hat, dass ich überhaupt... geflohen bin... ja, wir... wir sind durchaus verwandt... Jedoch... lasse ich dennoch nicht zu, dass du...", ich atme ein und wieder aus. "Alle dafür büßen lässt. Meine Mutter hat dir vielleicht nicht helfen können, aber sei dir bewusst, dass sie dich immer irgendwo geliebt hat. Deine Eltern auch, selbst wenn du mir nicht glaubst. Wir alle könnten dich wieder willkommen heißen, wenn du nur wieder zurückkehren würdest... Du gehörst trotz allem immer noch zur Familie. Ich will... die echte Erika-san sehen. Shizuku Shizuhara, wie sie wirklich leibt und lebt!", ich drücke die Waffe noch immer an ihre Stirn. Absolute Funkstille. Nur ganz leise hört man noch Kleinigkeiten in der Szenerie. Ich höre Helikopter und mehrere Leute hier reinlaufen. Ob sie alle gekommen sind, um mich, der doch alles zerstört hat, zu retten? Hat einer meiner Freunde etwa Hilfe geholt? Werden sie Erika-san denn verzeihen, auch wenn sie ihre beste Freundin und meine geliebte Tante umgebracht hat? Vermutlich nicht, aber... ich will diese Frau verstehen. Ich will die Sache aus ihrer Sicht sehen. Ich will ihr Sagen, dass sie nicht allein ist und dass es nichts bringt, die Stadt zu zerstören, um ihrer kleinen Schwester eins auszuwischen. Ich will die echte Erika-san sehen. "Jetzt reicht es... hör verdammt noch mal auf, mir ins Gesicht zu lügen!", schreit sie und als ich für die stille Zeit nur einen Moment unachtsam war, rammt sie mir mit voller Wucht ihr gezahntes und absolut nicht für den Küchengebrauch vorhergesehenes Messer in den Bauch. "Aaaaaaaaaahhhhh!!!!", noch nie habe ich so einen scharfen Schmerz verspürt. Die kalte Klinge in meinem warmen Innenlenen fühlt sich schrecklich an. Ich spüre Luft, wo ich verdammt noch mal keine zu spüren habe! Es tut so weh! Es ist schlimmer als meine Verletzung zuvor. Versteh mich bloß nicht falsch, von einem Schuldach zu stürzen und mit der unteren Hälfte auf Treppen zu landen, ist absolut nicht geil. Aber das hier, das ist ein völlig anderes Paar Schuhe! Es gibt kein Zurück. Das kalte Metall hat sich bereits unumkehrbar in meinen Körper gebohrt. Dasselbe kalte Metall, dass noch immer mit dem Blut meiner Tante getränkt ist. Das gleiche Metall, welches ebenso in meinem Vater gesteckt hat! Erika-san keucht und atmet schwer, dann liegen wir beide wie die letzten Idioten an der Wand gelehnt. Und ich versuche, nicht zu sterben. Ich stöhne vor Schmerz. Es will nicht aufhören zu bluten. Meine Finger sind voller Blut. Mein Pullover ist längst nicht mehr blau. Und in meinem Kopf erscheint immer wieder das Bild, wie ich blutverschmiert im Regen und im Sterben liege. "Tut mir leid, ich... ich kann mich nicht kontrollieren...", flüstert Erika-san und verwirrt mich in meinem Schmerz. Geht wieder ihre empfindliche Seite mit ihr durch? "Ich habe, um ehrlich zu sein... Angst vor ihr... meiner Schwester... ich habe ihr so viel Leid zugefügt... und jetzt habe ich ihren Sohn tödlich verwundet, das... das habe ich immer gewollt, aber jetzt... fühlt es sich absolut nicht so toll an... Ich habe noch immer keine Genugtuung erhalten... Ich weiß, es ist unmöglich von mir, aber... kannst du deinem Mörder nicht vielleicht doch... noch ein letztes Mal verzeihen...?", murmelt sie und ich spüre heiße Tränen in meine Wunde tropfen. "Nur, wenn du mir... alle Einzelheiten erzählst, Erika-san... und du Mama eine letzte Botschaft überbringst, eine nette... nur, dann... Tantchen...", stammle ich, so gut es mit einer Wunde, die einem bestimmt einige Organe eingerissen hat, geht. "Also schön... Ich bin, nachdem ich Setsuna habe umbringen wollen, geflohen... ein paar Jahre ging ich einfach mit mehreren falschen Namen durch das Land und habe den Sinn im Leben verloren. Irgendwas hat mich jedoch in die Szene gebracht, sowohl dort, wo deine Eltern jetzt leben, als auch die Stadt, in der du jetzt lebst. Ich lernte Ryuzaki kennen, der mir Unterschlupf gewährte... Er war es, der mein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, er... er ist so etwas wie ein illegaler Arzt. Wie du mich da noch als Shizuku Shizuhara identifizieren konntest, grenzt an ein Wunder. Es müssen wohl meine Haare sein. Wie auch immer, wie haben uns immer wieder getroffen. Wir merkten schnell, dass mein Racheplan und sein Wunsch, etwas Verbotenes zu tun, sich deckten. Und wir gründeten bald so etwas wie eine Bootleg-Mafia. Den Clan. Und wie ich vorhin zugab, haben wir zusammen einen Anschlag auf jenes Büro ausgeübt und ich habe deinen Vater ermordet. Ich wusste, dass es Setsuna das Herz brechen würde. Ich wollte ihr erst ihren Ehemann und dann ihren Sohn wegnehmen. Ich habe mich für besonders schlau gehalten, weil ich es so weit gebracht hatte. Anscheinend wusste Kyokei noch nicht einmal, dass es eine Frau war, die sein Leben beendete. Zurück zum Thema, Ich begann mich mehr und mehr in Ryuzaki zu verlieben. Doch eines Nachts, als wir gerade dabei waren, meinte er, wir könnten uns nicht mehr sehen, da er ins Krankenhaus müsse. Dass er aussteigen wollte. Sinneswandel, schlechtes Gewissen, so etwas. Er wollte sich weigern, seiner eigene Grausamkeit weiter freien Lauf zu lassen, in dem er mit mir zusammen war. Er meinte, er habe eine schwangere Frau namens Hotaru, welche ein Kind erwartete und zwar von ihm. In mir zog sich alles zusammen. Diese Schlampe nahm mir meinen Geliebten weg, dachte ich, obwohl es doch eigentlich umgekehrt war. Nach der Geburt, als alles schlief, habe ich sie umgebracht und das Baby entführt. Einfach so. mich hat die Verzweiflung gepackt. Ich konnte nicht anders. Ryuzaki war alles, was meinem Leben einen Sinn gab, der Einzige, der mich verstand. Doch als er herausfand, dass ich sie umbrachte, schien er noch nicht einmal mit der Wimper zu zucken. Er hatte keine Gefühle, weder für sie noch für mich. Er meinte, er sei so etwas wie das Äquivalent eines Psychopathen. Das waren für mich so etwas wie die magischen Worte, er freute sich, dass wir mehr oder weniger dasselbe fühlten. Wir gaben dem Kind, dass eigentlich auf den Namen Haku Hanazawa hörte, den neuen Namen Kiara Nojimiya, damit der Schwindel aufrechterhalten blieb. Kiara weiß ihren richtigen Namen noch immer nicht. Ich als ihre Stiefmutter habe sie dazu benutzt, um an Informationen zu kommen. Sie ist sehr gewissenhaft in ihrer Arbeit, jedoch scheint sie sich doch tatsächlich in dich verliebt zu haben. Ich kann mir vorstellen, dass sie unsäglich eifersüchtig auf dieses grünhaarige Mädchen ist, dass immer bei dir ist. Ein wenig leid tut sie mir, aber zugleich interessiert es mich eigentlich nicht weiter. Ich habe immer nur an mein eigenes Wohl gedacht. Ich habe das Leben noch nie lieb gehabt. Die Bomben hätten nicht mehr lange gebraucht, das alles war nichts weiter als ein riesiger Gruppensuizid. Ryuzaki wollte auch sterben. Aber jetzt... jetzt ist alles egal. Dein Bein hat die längste Zeit zum Rennen ausgehalten. Und an der Stichwunde, die ich dir in meinem Zorn zugefügt habe, wirst du verbluten. Ich habe jedem wehgetan, sogar dir... Dabei bist du ja eigentlich unschuldig gewesen und... hattest nur das Pech, der Sohn meiner Schwester zu sein. Deshalb... Ich bitte dich, Elvis Kyokei. Töte mich. Jetzt!", fleht sie. "Ich... ich kann nicht.", meine ich und merke, wie mir selbst noch mehr Tränen kommen, nicht nur wegen der Schmerzen. "Doch, du... du musst, anders ziehe ich das Messer wieder raus und töte mich damit selbst... Du würdest ohnehin sterben. Also nimm die verdammte Pistole und töte mich! Nimm es und räche dich für all das Leid, dass ich allen zugefügt habe. Tu es. Und falls du es doch überleben solltest, aus welchem Grund auch immer, sag Setsuna, dass ist ein Waffenstillstand und viel Glück. Sag ihr, dass ich es nicht geschafft habe, mich zu ändern. Aber sag ihr auch, ich hätte dich darum gebeten. Das habe ich. Und jetzt drück ab. Es ist mein letzter Wille. Vom Sohn meiner verhassten und zugleich geliebten Schwester getötet zu werden. Das ist mir jetzt klar. Mach hinne!", schluchzt sie. Ich greife mit letzten Kräften nach der Waffe, die ich vorhin habe fallen lassen. "Eins noch, Erika-san... glaubst du an Jesus?", will ich wissen, komme mir dumm vor und kotze Blut. "Daran zu glauben, dass es eine höhere Macht gibt, reicht nicht, um ewig in Frieden zu ruhen. In diesem Moment... durch dich Idioten, den ich bis zuletzt getroffen habe, bereue ich sowieso alles, was ich getan habe. Verflucht sei das alles. Es gurkt mich an, weder meine Schwester, noch meinen Schwager, dich oder sonst wen jemals gut behandelt zu haben. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, um noch einmal Setsunas große Schwester sein zu können... Ehrlich, ich würde es wirklich tun.", haucht sie, so schwach, als würde sie auch ohne meine Hilfe gleich sterben. "Es ist zu spät.", bedauert sie schließlich. "Es ist niemals zu spät, um sich seine Fehler einzugestehen.", wiederspreche ich. "Dummkopf.", sie sieht mich mit Tränen in den Augen an. "Wenn ich ehrlich bin, tröstet es mich etwas, an der Seite eines Familienmitgliedes zu sterben. Mit dir zusammen. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, um dich zu lieben wie eine richtige Tante es tun würde. Wie Akane-chan dich geliebt hat.", kichert sie. Daraufhin grinse ich schmerzerfüllt. Da steckt immer noch ein Messer in mir drin. "Dann lass uns zusammen sterben.", flüstere ich. "Wenn es wirklich dein Wunsch ist, dass ich dein Leben beende, dann... soll es so sein.", entschließe ich mich doch dafür und schiebe ihr die Pistole zwischen die Brüste. "Danke, Elvis.", höre ich sie. sagen Ich kneife die Augen zu und drücke ab. Knall. Ich habe gerade einen Menschen umgebracht. "Ruhe in Frieden, Tante Shizuku.", flüstere ich, als ich sie vorsichtig wieder öffne. Derr Schmerz in meiner Körpermitte zerreißt michmach wie vor fast. Ich beiße die Zähne zusammen. Das Blut hört und hört nicht auf zu fließen. "Ich... ich lebe.", flüstere ichm Ich lebe. Und dennoch. Ich bin wohl kurz davor. Zu sterben. Dass meine Geschichte so enden würde. Dass ich alle meine Freunde und meine Familie verlieren würde, dass ich beide Tanten verlieren würde und eine davon sogar selbst umgebracht habe? Ich habe alles verloren. Vor meinem Antlitz erscheint Nokia-chan. Sie tritt in den Kontrollraum und sieht mich wie immer aus emotionslosen Augen an. Nur diesmal schwingt wie beim letzten Mal ein kleiner Fetzen Trauer mit. Obwohl sie meine Gegnerin ist und ebenfalls hinter all dem steckt, bin ich irgendwie irgendwo trotzdem erleichtert, dass es ihr gut geht. Gott sei Dank. "Hey, Nokia-chan, dein... dein echter Name lautet... Haku… Haku Hanazawa... Du bist echt bemitleidenswert.", kommt es mir stotternd über die Lippen. Sie nickt nur und tritt näher. Hanakos kleine Halbschwester also... irgendwas in ihrem Gesicht kam mir schon immer bekannt vor, auch wenn sie die schwarze Haare und Augen ihres Vaters geerbt hat. "Du hast mich all die Zeit geliebt, was? Es tut mir leid, dass ich deine... Gefühle nicht erwidern kann, Nokia-chan... Ist es okay, wenn ich dich weiterhin so nenne?", frage ich und versuche, am Leben zu bleiben. Wieder nickt sie und kniet vor mir. Sie tippt etwas in ihr Handy und zeigt es mir. "Ich habe dich sehr geliebt. Tut mir leid, dass ich dabei helfen musste, dich umzubringen.", steht da. "Ach was... und, Nokia-chan... von deiner Zugehörigkeit mal ganz abgesehen, bist du ein... wirklich liebes Mädchen, weißt du? Lass uns im nächsten Leben bessere Freunde sein, ja? Für mich jedenfalls... warst du indirekt bereits ein Teil dessen, welchen ich meinen Freundeskreis nenne.", ich lache. Nokia-chan kommt meinem Gesicht wieder näher, doch ist diesmal weitaus dezenter und küsst mich sanft auf die Wange. Währenddessen schmerzt das Loch in mir ein paar Prozent weniger. Sie löst sich wieder von mir und zeigt mehr Emotionen als je zuvor. Sie lächelt süß und gibt sich gleichzeitig Mühe, nicht zu weinen. Ich greife mit meiner blutverschmierten Hand nach ihrem Kopf und fahre ihr über die unordentlichen Haare. Nokia-chan zeigt mir wieder ihre Freude und steht wieder auf. Sie verbeugt sich und verschwindet in der Dunkelheit. Dort höre ich eine elektronische Stimme, die ich aber nur noch ganz schwer verstehen kann. Nicht, weil ich anfange, schlecht zuhören. Sondern, weil ich vor Todesgefühl gar nicht mehr wach genug bin, um auf irgendwas zu achten. Im nächsten Moment sacke ich zur Seite und lande in meinem eigenen Blut. Es ist kalt. Es ist heiß. Ich kann mich nicht mehr spüren. Ich kann förmlich fühlen, wie das Leben aus meiner physischen Gestalt weicht. Ich habe Angst. Dann ist das wohl wirklich das Ende meiner Geschichte. Meine Zeit ist gekommen. Dann ist es wohl an der Zeit für meine letzten Worte. Vielen Dank, Failman-san. Ich werde Ihre weisen Worte immer in meinem Herzen wahren. Vielen Dank, Taiyo. Dafür, dass ich dein Bruder sein durfte. Vielen Dank, Eltern. Für alles, was ihr für mich getan habt. Vielen Dank, Katsuoka-sensei. Dass Sie sich immer um mich gekümmert haben. Vielen Dank, Shuichiro. Dass du wenigstens für eine gewisse Zeitspanne mein Freund warst. Du hast mir immer wieder gezeigt, dass es Menschen gibt, die viel zu witzig sind, um wahr zu sein. Vielen Dank, Kaishi. Dass du mich aufgefangen hast, als es mir schlecht ging, du auch sonst immer jemand warst, der mich verstand. Vielen Dank, Akira. Dass du mein bester Freund warst und mich immer wieder dazu gebracht hast, Neues von dieser Welt zu lernen. Vielen Dank, Chika. Du hast mir gezeigt, was Leben bedeutet. Du hast mir zurückgegeben, was ich glaubte, für immer verloren zu haben. Mit diesen Worten verlasse ich diese Welt, als etliche Nerven ihren Job kündigen und ich aufhöre, etwas zu fühlen. Mein Herz scheint aufzugeben und mein Geist schläft ein für immer. "Vielen Dank, meine Lieben.", flüstere ich, dann wird alles kalt. Meine Sinne funktionieren nicht mehr. Die Schafe sind gezählt, wie meine Tage gezählt sind. Die Zeit ist gekommen und ich höre aus weiter Ferne eine Explosion. Das vielleicht Letzte, was ich von dieser Welt, diesem Leben noch wahrnehmen werde. Ich vergehe tatsächlich. Es fühlt sich an, als ob ich schwebe. Ich habe gegen den Tod verloren. Kapitel 114: Vol. 5 - Begegnungen vom Gestern und Morgen -------------------------------------------------------- Nokia: Kyokei-senpai liegt reglos am Boden. Es kommen vermehrt Menschen in den Stützpunkt des Kurodate-Clans. Mir bleibt nichts anderes als Hilfe zu holen, damit diese Geschichte nicht vergessen wird. Ich habe seine Freunde verprügelt. Ich habe ihn verraten. Ich habe keinen Grund zu leben. Wo zur Hölle ist Ryuzaki? Ich denke zurück. An die Mittelschulzeit, als ich ihn schon beobachtet habe. Als er damals gesprungen ist, habe ich mich schon einmal so gefühlt wie jetzt. Ich wollte sterben. Und habe nach einem Küchenmesser gegriffen. Ich habe es mir einfach ohne zu zögern in den Hals gerammt. Ich frage mich, ob Kyokei-senpai überlebt hätte, wenn ich damals gestorben wäre und nicht lebend und stumm wäre wie jetzt. Dann wäre alles besser. Ich rufe das FBI, denn das hier ist hochgradig kriminell, was wir getan haben. Auch wenn so oder so alle sterben werden. Wenn nicht jetzt alle sterben. Das Gebäude ist alt, es wäre ein Leichtes, es mit meinen Bomben zu Fall zu bringen. Ich habe auch das Krankenhaus angerufen. Mit meiner unechten Stimme. Doch nun ist es an der Zeit zu gehen, denke ich und hole das Benzin aus einem Nebenzimmer, um es auf dem Boden zu verteilen. Ich hole auch einen Strick und ein Strichholz-Set. Ehe ich bis Drei gezählt habe, habe ich schon ein Feuer entfacht. Ich sehe zu der Unterführung zu der unteren Etage. Ich gehe dorthin, baue eine Schlinge dort auf und hänge meinen Hals hinein. Als ich es festgebunden habe, sehe ich noch ein letztes Mal zu Senpai. Die Bomben haben Feuer gefangen. Etwas explodiert. Ich habe immer noch eine Bombe in meiner Tasche. Als ich sie zünde, springe ich vom Gelände. Elvis: Ich weiß nicht, wo ich bin. Dieser Ort ist mir vertraut und doch so fremd, Da ist unter mir das Meer, direkt unter meinen Füßen, als wäre ich Jesus höchstpersönlich. Aber ich bezweifle das, schließlich kann sich keiner in eine Gottheit verwandeln und wenn, dann wäre es ziemliche Gotteslästerung. Wie auch immer, ich bin nicht Jesus, ich bin Elvis Kyokei und bin... was bin ich? Bin ich nicht gerade gestorben? Ich glaube schon. Ich bin tot. Aber was ist das? Ist das der Himmel? Ein Trugbild der Hölle? Bin ich jetzt so etwas wie ein Isekai-Protagonist? Auch das bezweifle ich. Plötzlich werde ich von riesigen Wellen verschluckt und versinke. Aber ich werde nicht nass. Komisch. Aber die Kälte erfasst mich dennoch. Tiefer und tiefer, als ob ich gerade ertrinke. Bin ich jetzt auch noch Petrus, oder was? Doch das Wasser endet abrupt. Und ich falle in Wolken. Wolken? Bin ich vielleicht wirklich im Himmel? Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass dieser Ort rein physisch auf der Erde und auch sonst wo nicht existiert. Dann ist das also wirklich das Leben nach dem Tod, oder? Das muss es. Dann muss ich Tante Akane finden. Und nachschauen, ob Erika-san vielleicht doch noch hier ist. Ich gehe ein wenig umher, doch das Wolkenmeer endet nicht. So habe ich mir den Himmel nun auch wieder nicht vorgestellt. So... langweilig und unspektakulär? "Hallo? Ich bin Elvis, siebzehn, neu, und brauche das W-LAN-Passwort!", rufe ich zur Provokation. Vielleicht ist das auch gar nicht der Himmel. Vielleicht lande ich auch gleich in der Hölle, wenn ich auch nur einen Schritt weitergehe. Kann ja ein bisschen rumalbern, ehe sich der Rat der Engel doch dafür entscheidet, mich ins brennende Erdgeschoss zu versetzen. Vielleicht wurde ich wirklich verarscht. "Lange nicht gesehen.", begrüßt mich eine Stimme, die ich zuvor noch nie gehört habe. Ich drehe mich um und hätte mich vor schreck fast eingenässt. Doch warte mal, ich habe keine Garantie, ob er das wirklich ist! Aber trotzdem... "Sprachlos? Ich fände es nett, wenn du wenigstens Hallo gesagt hättest, wie unhöflich...", ist jene Person gespielt beleidigt. "Nein, nicht doch... ich bin nur.... Hallo, ich... ich will nach Hause gehen, kannst du mir vielleicht sagen, wie... aber... ach vergiss es, ich kann nicht nach Hause. Ich kann nirgendwohin.", gebe ich es auf. "Ach, nicht doch, du bist zu Hause. Gewissermaßen. Wie wir alle. Doch fürs Erste bin nur ich für dich sichtbar, mein Junge. Ich habe auf dich gewartet, Elvis.", dieses Gesicht, das dem von Tante Akane so ähnlich sieht. "Oh mein Gott... Du... du bist Keita... Ach du heilige Scheiß-, oh mein Gott, ich... ich glaub, ich wird gleich ohnmächtig...", stammle ich, als mich diese Erkenntnis erneut übermannt. "Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja jetzt da.", meint er, strichelt mir übers Haar, über das komischerweise kein Verband mehr liegt und lächelt mich warmherzig an. "Ich... ich habe dich die ganze zeit vermisst. Ich... ich war so traurig, dass ich dich nie kennenlernen durfte. Es war so gemein. Jeder wusste die Wahrheit, nur ich nicht. Ich... Ich...", aber mehr kann ich gar nicht sagen, die tränen überfluten mich und meine Augen verwandeln sich in Niagara-Fälle. "Ist ja schon gut...", beruhigt er mich und nimmt mich in den Arm. Er füllt sich so unwirklich und gleichzeitig so real an. "Ich weiß nicht, ob du es schon weißt... Ich weiß nicht, wie du darauf reagieren wirst. Aber es wäre besser, wenn ich dir jetzt sage, dass wir... also, die Familie... nicht mehr nur aus mir und meiner Mutter bestehen. Ich... Ähm, also Mama hat einen neuen Mann, den sie demnächst heiraten will, mein Stiefvater und einen Bruder habe ich deshalb auch... Mama und ihr neuer Mann erwarten sogar ein Kind... das muss komisch für dich sein, aber... ich... ich musste es dir einfach sagen, Keita...", schniefe ich. Ich freue mich zwar irgendwie drauf, aber ich kann nicht verhindern, mich für Keita schlecht zu fühlen. "Aber Kind, das weiß ich doch längst.", antwortet er wider meiner Erwartung zu Schweigen. "Wie bitte? Du weißt das? Aber... du hast sie doch wirklich geliebt! Muss es nicht schmerzhaft sein, mit anzusehen wie das Leben derer, die du geliebt hast, einfach ohne Weiteres weitergeht? Ich meine... vermisst du sie denn nicht? Liebst du sie denn gar nicht mehr?", höre ich mich schluchzen, weil ich es nicht verstehen kann. "Das ist kompliziert, Kleiner. Ich liebe Setsuna sehr. Ich habe auch dich unheimlich lieb. Jedoch wäre es egoistisch, sich zu wünschen, dass Setsuna niemals wieder mit einem anderen Mann glücklich wird. Ich bin froh, dass es in dem fall mein bester Freund ist. Ich freue mich für sie.", flüstert er. "Aber... was ist mit deinen eigenen Gefühlen? Ich meine, verletzt es dich denn überhaupt nicht, zu wissen, dass sie mit jemand anderem geschlafen hat, während du sie niemals wieder auch nur sehen kannst?!", frage ich energisch, als ich mich von ihm löse und ihm tief in die Augen sehe. Er grinst nur. "Elvis. Im Leben geht es um weitaus mehr als mit dem Menschen, mit dem man die Nacht verbracht hat, bis zum Tod zusammenzubleiben. Ja, die Nacht mit ihr war die schönste in meinem Leben, jedoch sind diese Zeiten vorbei. Ich bin nicht länger Teil dieser Welt, mein Schicksal ist es, eine Erinnerung zu sein, die sie nie vergisst. Ich weiß, dass wir uns im Herzen immer noch lieben. Doch ich bin nicht mehr ihr Mann, sondern Takamiya. Im Jenseits gibt es so etwas wie Ehe nicht mehr. Doch das geht in Ordnung. Das ist das Schicksal aller Ehemänner, die vor ihren Frauen sterben. Dass sie lediglich eine Erinnerung werden, jedoch eine schöne, die einen das ganze Leben begleitet. Weil ich das weiß, freue ich mich einfach nur mit. Du musst es jetzt nicht verstehen. Jetzt hast du noch dein Leben vor dir. Du kannst die Liebe noch in vollen Zügen genießen. Bis dass der Tod euch scheidet. So heißt es schließlich.", "Woher willst du das wissen? Ich bin auch tot. Ich habe keine Hoffnung mehr, ich werde vielleicht die Gelegenheit verpassen, mich bei ihr zu entschuldigen. Ich bin garantiert keine schöne Erinnerung.", brumme ich. "Ach, das glaube ich nicht. Die Kleine ist schließlich so gern mit dir zusammen, so zärtlich wie du mit ihr bist.", das hat er jetzt nicht gesagt! "W-was soll das denn heißen?! Willst du damit anmaßen, dass du mich die ganze Zeit beobachtet hast?! Manno, du bist echt ein Schwein!", rege ich mich auf, als ich an das Rummachen mit Chika denke. "Nicht direkt, aber teilweise konnte ich es mir denken, ich war doch auch mal in deinem Alter...", "Das ist nicht witzig...", knurre ich und versuche nicht an das Gefühl zu denken, als wir uns gegenseitig berührt haben. Dieser Kerl! "Sag mal, werde ich bei dir bleiben? Ich meine, ich werde dich vermissen, du bist ja immerhin mein leiblicher Vater, den ich mein ganzes Leben lang nicht gekannt habe, ich werde dich mein ganzes Leben nicht mehr sehen. Was mache ich denn jetzt?", will ich wehmütig wissen. "Lebe einfach. Ich glaube fest daran, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist, Elvis. Wir werden uns ein andermal wiedersehen, wenn du älter bist. Viel älter oder vielleicht bleibst du hier. Aber das wirst du nicht. Gott hat nicht vorhergesehen, jetzt schon die große Reise in den Himmel antrittst. Du scheinst den Faden verloren zu haben, was? Doch denke daran, du bist keine Enttäuschung für unseren himmlischen Vater.", ich schluchze wieder. "Ich danke dir, Vater. Vielleicht gehe ich wirklich. Vermutlich. Definitiv. Ich werde dich vermissen.", verabschiede ich mich schweren Herzens von ihm. "Gleichfalls. Denk ab und zu an mich, ja? Mach's gut, Sohnemann!", verabschiedet sich auch er. Ich gebe mir richtig Mühe, nicht augenblicklich in Tränen auszubrechen, schon wieder. Dann verblasst das Bild von Keita. Und das des Himmels. Und alles ist wieder schwarz. Kapitel 115: Vol. 5 - Fragmente von damals ------------------------------------------ Mein Blick fiel auf den Bären. Damals, als ich im Krankenhaus die Welt nicht wiedererkannte. Ich taufte ihn auf den Namen Eberhard, nachdem ich ein deutsches Buch gelesen und den Namen als angemessen empfunden hatte. Ich hatte sehr viel gelesen. Taiyo verließ mich jedoch kurz nach meinem Aufwachen. "Guck Digimon.", waren seine Worte, ehe ich ihn für eine lange Zeit nicht mehr sah. Das tat ich dann auch. Mimis Lied gab mir Hoffnung darauf, bald wieder der Alte zu sein. Diese Hoffnung wurde letztendlich nur zur Hälfte erfüllt, jedoch reichte das mir. Ich sah in meiner Zeit im Krankenhaus und der Zeit des Hausunterrichts jedoch noch etwas anderes. "Shelter". Ein Lied von Porter Robinson und Madeon, ein Kurzfilm über ein Mädchen, das in einer Simulation lebt. Sie hat nur ihr übergroßes Tablet, mit dem es die Welt um sie herum nach Belieben verändern kann. Sie ist nicht einsam, sagt sie, doch ihr Blick sagt etwas anderes. Eines Tages kommen die Erinnerungen an die Zeit vor der Simulation, in der sie liebt in einer Welle von unzähligen Gefühlen und Flashbacks ihres Vaters zurück. Zu Anfang des Kurzfilms sagte sie: "Was wird aus mir, von jetzt an? Nach einiger Zeit habe ich aufgehört, darüber nachzudenken. Vielleicht habe ich vergessen... wie man überhaupt nachdenkt. Nichts ändert sich mehr. Diese Welt gehört niemand anderem als mir. Tag ein, Tag aus, geht das so weiter. Aber ich bin nicht einsam. Es stört mich überhaupt nicht." //Keine Nachricht in 2539 Tagen.// Doch als sie alles gesehen hat, die Wahrheit hinter ihrem Dasein, denkt sie zum Schluss folgendes: //1 neue Nachricht.// "Selbst, wenn mich diese Erinnerungen traurig machen, muss ich weitergehen und weiter an die Zukunft glauben. Selbst, wenn ich meine Einsamkeit realisiere und kurz davor bin, alle Hoffnung zu verlieren, diese Erinnerungen machen mich stärker. Ich bin nicht allein. Und das dank dir. Ich danke dir." Nachdem ich das sah, fing in an zu weinen. Ein Glück war ich allein. Mein Handy war kaputt, weil auch dies beim Unfall zu Schaden gekommen war. Ich hatte ein neues bekommen. Ich verlor alle Nummern und hatte keine Freunde mehr. Ich erinnerte mich nur an das Nötigste. Ich war allein. Doch das Video, das Lied und der Bär der Frau, die sich als meine Tante herausgestellt hatte, gaben mir Kraft. Das machte alles erträglicher. Und trotzdem. Als ich aufwache, bin ich schon wieder im Krankenhaus. Mir tut schon wieder alles weh. Und es ist noch viel schlimmer als letztes Mal. "Oh mein Gott, er ist aufgewacht! Elvis! Elvis, hörst du mich? Ich bin's, Taiyo!", höre ich eine schniefende Stimme und werde daraufhin feste umarmt. "Taiyo, das tut ihm doch weh... Ach, Elvis!", höre ich nun auch unseren Vater, der am anderen Rand des Bettes in Tränen ausbricht. Jemand drückt meine Hand und weint ebenfalls. "Du machst Sachen, Kind... Ich dachte, du würdest nie wieder aufwachen!", weint meine Mutter und tränt auf meine Hand. "Ich will ja nicht unhöflich sein, aber... Taiyo, das tut krass weh.", krächze ich und er lockert seinen Griff etwas. "Es tut mir leid, dass ich so viel Chaos angerichtet habe... Besonders Mama wollte ich das nicht antun... Wirklich, es... es tut mir leid.", höre ich mich fast klanglos flüstern. "Es ist okay, Dinge passieren. Das Wichtigste ist doch... das du noch am Leben bist, Elvis.", haucht meine Mutter und streichelt mir übers Haar. "Wie lange lag ich hier?", will ich wissen, als ich mich mustere. "Drei Wochen weggetreten.", meldet sich mein Vater zu Wort. "Was ist passiert, als ich nicht da war?", frage ich und sehe meine Mutter an. "Akane-chan wurde begraben und wir sind immer noch untröstlich... Aber Shun und ich haben ebenfalls geheiratet. Irgendwie kann ich mich wegen der Beerdigung nicht ganz darüber freuen, sie hätte dass Baby bestimmt gerne kennengelernt.", murmelt sie mehr zu ihren Beinen als dass sie mir die Lage schildert. "Und ich... also... ich habe Hanako 'nen Antrag gemacht.", erzählt Taiyo, als wäre das das Normalste der Welt. "Du hast was?!", wiederhole ich ungläubig, will mich gerade vorbeugen, doch fahre schmerzerfüllt zurück. Mir tut immer noch alles scheiße weh... "Jep. Etwa drei Tage nach der Beerdigung. Das tröstet mich wenigstens ein wenig über Tante Akanes Tod hinweg, auch wenn es immer noch wehtut. Mann, ich vermisse sie so unglaublich...", und in dem Moment wird mir alles noch deutlicher bewusst. Tante Akane ist tot und es ist meine Schuld. Wäre ich nicht, hätte sie gar nicht herkommen müssen. Ich habe die Schwester meiner Mutter getötet. Ich habe den verdammten Stein ins Rollen gebracht. EIn Arzt betritt den Raum. "Wie gut, dass du wach bist, Kyokei-kun, ähm, wie soll ich sagen, da ist ein Brief für dich.", er räuspert sich. "Besser gesagt meinte Chika Failman-san, ich solle ihn dir geben.", mir schwant nichts Gutes in dem Augenblick und vorsichtig befühle ich das Papier, dass man mir überreicht. Da ist ein LEGENDS NEVER DIE-Button drauf. Typisch Chika, denke ich und grinse. Doch irgendwas sagt mir, das wird mir noch vergehen. Kapitel 116: Vol. 5 - Gedanken an die gute alte Zeit ---------------------------------------------------- Kaishi: Es ist sicherlich merkwürdig, wenn ich das so sage, jedoch habe ich das Gefühl, dass wir alle seit dem Vorfall schlauer geworden sind, ich eingeschlossen. Ich habe nachgedacht. Kyokei-san liegt seit drei Wochen im Krankenhaus. Mir wurde lediglich die Hand verstaucht. Er dagegen schwebte in Lebensgefahr und niemand weiß, wann er aufwacht. Ob heute, morgen oder in zehn Jahren. Vielleicht bleibt ihm genau in diesem Moment das Herz stehen. Er könnte jederzeit tot sein, einfach so. Ich habe begriffen, dass man zur Tat schreiten muss, bevor es zu spät ist. Kyokei-san hat mir das indirekt beigebracht. Er hat hart gekämpft, doch das Schicksal hat es sich anders überlegt. Wie Egaoshita-san sagen würde, Schicksal ist eine Bitch. Jetzt habe ich den Mut, mich bei Shuichiro zu entschuldigen. Viel, viel, viel zu spät, aber besser spät als nie. Ich klopfe an. "Du kannst reinkommen, Kaishi-chan.", sagt er und ich trete ein. "Nichts hat darauf hingewiesen, dass ich es bin.", murmle ich. "Ich hab geraten.", meint er bloß. Er liegt auf seinem Bett und zockt. Er sieht mich nicht an und ist voll ins Spiel vertieft. Ein wenig zu vertieft, wenn du mich fragst. Was eine peinliche Stille zwischen uns. "Kann ich mich dazugesellen?", frage ich und richte meine Brille. Shuichiro zuckt mit den Schultern. Dann setze ich neben ihn. Wo fange ich nur an?! "Bist du sauer auf mich, Shui?", frage ich. "Wieso?", stellt er sich blöd. Er klingt absolut desinteressiert. "Weil ich ein Arschloch bin.", antworte ich ihm. "Es gibt miesere Arschlöcher als dich. Mich zum Beispiel.", witzelt er traurig. "Wenn du meinst.", tue ich so, als wenn das alles wäre, was es zu sagen gibt. Dann fällt mir meine Pflicht wieder ein und ich setze mich aufrecht hin. "Ich finde, ich bin definitiv das größere Arschloch von uns beiden.", teile ich ihm erstmal mit. Das reicht, dass er die Konsole aus der Hand legt und sich ebenfalls aufrecht hinsetzt. "Kaishi-chan. Was ist los?", er scheint zu merken, wie sehr ich innerlich tobe. "Es tut unglaublich weh, jemandem, der einem wichtig ist, nicht entgegenkommen zu können. Zu wissen, dass man absolut keine Hilfe ist. Absolut macht- und nutzlos. Es gibt kaum ein tragischeres Gefühl, als wenn ein guter Freund dich um etwas bittet und du weißt, dass du diese Bitte abschlagen musst, weil es eben nicht anders geht. Man hat Angst, dass diese eine Sache für immer Spuren im Herzen beider Freunde hinterlässt. Es zerreißt einen, daran zu denken, wie sehr man der anderen Person damit wehtut, obwohl man genau das niemals tun wollte. Zu wissen, dass die Dinge niemals wieder so werden wie vorher und man eventuell die Person für immer verloren hat, ist einer der grausamsten Dinge, die man fühlen kann. Ich wollte nur, dass du das weißt. Ich kann nicht oft genug sagen, wie leid es mir tut.", mit den Worten stehe ich auf. Ich will gerade gehen, da greift Shuichiro meine Hand. "Geh nicht, Kaishi-chan! Geh nicht... Bitte sag sowas nicht. Es ist so deprimierend, wenn du so über mich redest. Weißt du, wie ich mich dann fühlen muss? Wie ein Versager! Ich meine, ich bin ein Versager. Immerhin habe ich nichts gewonnen und nur andere Menschen durch mein Handeln verletzt. Auch dich, Kaishi-chan. Es ist alles meine Schuld. Dabei kannst du doch gar nichts dafür. Nur weil du all die Jahre mein Freund warst, bin ich die fröhliche Person, die alle kennen. Und irgendwie stimmt es ja auch, dass ich fröhlich bin. Es gibt so gut wie jeden Tag Dinge, die mir Freude bereiten und jeder Tag, den ich mit dir und den anderen verbringen durfte, war es wert, in Erinnerung zu bleiben. Aber... ich bin eben nicht nur das. Gleichzeitig gibt es keinen Tag, an dem ich mich nicht daran erinnere, dass ich ihnen nicht helfen konnte. Dass meine Eltern sich umgebracht haben, habe ich nie verdaut. Ich habe mir weh getan, mit Absicht, ich habe mich schuldig für ihren Tod gefühlt. Ich habe nie gewusst, wie schlecht es ihnen geht, deshalb... Na ja, dachte ich, wenn ich damals wenigstens gewusst hätte, dass sie sterben wollen, hätte ich es verhindern können. Unwahrscheinlich, ich weiß, schließlich war ich gerade mal fünf, als es passiert ist. Da kann man nichts ausrichten. Ich habe wirklich nicht mehr leben wollen, ich fühlte mich für den Moment einsamer als je zuvor. Alles war trostlos und deprimierend. Ich dachte, die Welt mag mich wirklich kein bisschen. Aber dann gab es da noch dich. Du hast die ganze Zeit, während den Reinigungsarbeiten und auch auf der Beerdigung nie meine Hand losgelassen, weißt du noch? Du warst als Einziger für mich da, als ich niemanden mehr hatte. Ich war glücklich, bei dir einzuziehen. Ich hatte endlich eine richtige Familie. Ich konnte wenigstens für den Großteil der Zeit vergessen, wie verdammt traurig ich bin. Ich bin dir so viel schuldig. Ich habe mich wirklich furchtbar verhalten. Ich war egoistisch. Im Innern wusste ich, dass mit Kyokei-chan etwas nicht stimmt. Ich habe es von Anfang an irgendwie geahnt. Trotzdem hat die traurige Seite mich vom Dach springen lassen. Ich bin fast gestorben. Ich hätte vielleicht nie wieder laufen können. Fast hätte ich das letzte Bisschen Freude, dass mir geblieben ist, auch noch verloren. Für irgend so einen Blödsinn. Es stimmt nicht, als ich gesagt habe, dass du das Letzte bist. Mir egal, dass meine Gefühle für dich hoffnungslos sind. Ich habe kein Recht, dich so zu beschlagnahmen. Du hast mich damals gerettet. Du warst meine erste Liebe. Aber du warst in Katsuoka-sensei verliebt. In mir ist noch viel zu viel kaputt, als dass ich mich mit jemand anderem gegenseitig aufbauen könnte. Eines Tages kann ich das vielleicht, also... aufrichtig lieben und der ganze coole Scheiß, aber... nicht jetzt.", "Shuichiro. ", bin ich jetzt an der Reihe, seinen Namen zu sagen. Er sieht zu mir hoch. "Ja?", im nächsten Moment umarme ich ihn. Einfach so. Diesmal will ich alles richtig machen. "Kaishi-chan, du erdrückst mich.", flüstert er. "Ich danke dir, Shui. Verzeihst du mir auch wirklich? Willst du trotz allem immer mein bester Freund bleiben? Auch wenn ich so gemein zu dir war?", will ich wissen. "Ja, ja ich will. Das klingt, als ob wir heiraten würden.", kichert er. "Du hattest schon immer die verrücktesten Ideen, Shui.", entgegne ich. Shuichiro erwidert die Umarmung. "Kaishi-chan?", "Ja?", "Darf ich heulen?", "Bist du meinetwegen doch traurig?", "Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe damit gerechnet, einen Korb zu kriegen. Ich habe nie in Erwägung gezogen, dein Lover zu werden. Aber trotzdem... tut mir die Brust weh.", "Das ist normal, Shui. So ist das mit der Liebe. Sie tut weh. Diesen Schmerz kenne ich vielleicht genauso gut wie du.", "Ehrlich? Dein Shirt wird pitschnass sein. Ich kann es wirklich nicht länger halten...", "Shuichiro, es ist okay. Vielleicht werde ich dich wegen Katsuoka-sensei genauso vollheulen, wie du mich. Obwohl, eher nicht so. Du bist kleiner als ich.", "Stimmt auch wieder. ", im nächsten Moment höre ich ihn leise schluchzen. Erst ist es nicht viel, dann wird es heftiger und ich spüre eine Pfütze Tränen auf meiner Brust. Er weint noch heftiger als bei der Klassenfahrt. Shuichiro ist eine richtige Heulsuse. Aber so hat er noch nie geweint. So schmerzerfüllt. Seine Liebe zu mir muss wohl mehr an ihm genagt haben, als er zugibt. Du warst tapfer, mein Freund. Auch ich habe jetzt einen Kloß im Hals. Toll gemacht, Mann. Und dann muss ich ebenfalls heulen. Katsuoka-sensei. Ich habe keine Ahnung, ob ich sie jemals vergessen werde. Ich will es nicht vergessen, auch wenn sie heiraten wird. Ich werde sie immer gernhaben. Ich habe Katsuoka-sensei mein ganzes Leben lang lieb. Auch Shuichiro habe ich lieb, und Kyokei-san und Egaoshita-san. Ich bin nicht allein. Ich kenne jemanden, der den gleichen Schmerz kennt wie ich. Diese Person halte ich gerade. Vorsichtig lösen wir uns wieder voneinander, ich wische ihm die Tränen weg. "Na komm, wir haben genug geflennt.", finde ich und fahre ihm übers Haar. "Find ich auch. Es tut mir leid, dass ich so miese Sachen gesagt habe. Ich wollte eigentlich immer nur, dass du ehrlich mit dir bist. Das war der falsche Weg.", "So falsch wie der Weg, den Tom Cruise gewählt hat, als er sich bei Butters im Schrank versteckt hat?", erinnere ich ihn an diese eine Folge aus South Park. "Genau.", bestätigt Shuichiro und lacht. "Aber da gibt es noch etwas, das ich tun will. Ich will Kyokei-chan noch besuchen. Vielleicht liegt er immer noch im Koma, aber ich will ihn trotzdem sehen! Bitte komm mit, Kaishi-chan, bitte!", Ich seufze, weil ich dieselbe Idee habe, Shuichiros Art, um etwas zu bitten jedoch echt witzigerweise kindisch ist. Dieser Junge ist einfach zeitlos. "Also gut, vermutlich ist das keine schlechte Idee." "Kaishi, Shuichiro, ich... hab euch nicht erwartet. Tut mir leid, wegen der Umstände von vor drei Wochen... wirklich...", murmelt Kyokei-san und packt ein Stück Papier unter die Decke. Er sieht wirklich schlimm aus. Seine Familie ist wohl gerade da. Als seine Eltern mich ansehen, stelle ich mich der höflichkeitshalber vor. "Kazukawa mein Name, tut mir leid, dass ich hier einfach reingeschneit komme.", "Aber nicht doch, Elvis freut sich doch sicher, wenn seine Freunde ihn besuchen kommen.", entgegnet seine Mutter. "Meine Rede, nach allem, was passiert ist, ist das sehr nett von dir, Kazukawa-kun. Die Besuchszeiten sind bald vorbei, wir müssen noch die Katze füttern, aber ihr beiden könnt mit Taiyo noch hierbleiben.", meldet sich auch der Vater zu Wort. Kyokei-sans Bruder scheint mich nun endlich richtig zu bemerken, als er bei seinem Handyspiel gerade am Versagen ist. "Oh, Brillenschlange, dich habe ich ja gar nicht bemerkt... Warte mal... hast du Donuts dabei?", "Erstens, ich heiße nicht Brillenschlange sondern Kazukawa und ja, ich habe Donuts dabei. Ich bin überrascht, wie du das herausgefunden hast.", antworte ich etwas pikiert. Kyokei-sans Bruder und ich scheinen nicht ganz auf einer Wellenlänge zu sein. Irgendwie komme ich mit derart lockeren Menschen nicht klar, mich einfach Brillenschlange zu nennen, erachte ich als sehr unhöflich. "Also, wir gehen jetzt, bis morgen, Elvis, wir bringen dann auch Kaguya mit.", teilt ihm der Vater mit und auch die Mutter erhebt sich von ihrem Sitz. Wenig später sind die beiden auch schon durch die Tür verschwunden. Ich stelle die Tasche mit den Donuts auf den Tisch neben dem Bett ab. "Shuichiro, sag mal... bist du immer noch der Meinung, ich hätte dir Kaishi wegnehmen wollen?", fragt er plötzlich, immer noch liegend. "Nein.", antwortet er knapp. "Bist du noch sauer auf mich?", macht er weiter. "Nein.", wiederholt er. "Aber... meinetwegen bist du jetzt farbenblind. Du kannst immer noch nicht richtig laufen, weil du meinetwegen gesprungen bist. Wie kommt es, dass du absolut nicht abgeneigt mir gegenüber bist? Das habe ich verdient.", seine Stimme zittert fast. Er versucht sich mit Mühe einen Donut aus der Box zu fischen und zieht sich angestrengt zur entsprechenden Seite. Noch kann er sich nicht aufrichten, aber ich glaube, das hat noch einen weiteren Grund... "Ich Flegel, Kyokei-san, ich hätte es aufs Bett legen sollen!", ärgere ich mich über mich selbst und lege ihm die Box auf den Schoß. "Ach, nicht doch, ich... ich will so viel es geht noch Dinge selbst machen.", flüstert er. "Was meinst du damit?", will Shuichiro wissen. Kyokei-san packt den Rand der Decke und zieht ihn weg, sodass wir ein Blick auf seine Beine werfen können. Bei dem Anblick stockt mir der Atem. Ihm fehlt über ein Dreiviertel seines rechten Beines. In dem Moment verlässt sein Bruder das Zimmer. "Kyokei-san... Du... wie ist das-", "Der Schuss hat es absterben lassen.Die mussten es amputieren.", murmelt er zerknirscht und versucht gefühlsneutral zu gucken, was ihm nicht gelingt. "Kyokei-chan…", wimmert Shuichiro und kann gar nicht richtig hinsehen. "Das ist wohl die gerechte Strafe für mein Handeln.", schätzt er und sieht auf das mysteriöse Papier auf seinem anderen Bein. "Das ist gar nicht wahr, Kyokei-chan, ich bin vielleicht farbenblind und kann immer noch nicht laufen, aber das... da bin ich gerade noch froh, echt jetzt! Vielleicht bin ich durch das Missverständnis zwischen uns beiden jetzt nie wieder in der Lage, Farben richtig zu erkennen, aber... wenigstens bin ich nicht blind! Weißt du, das wäre ja noch schlimmer, ich weiß, aber doch hauptsächlich, weil ich dann... alle meine Freunde, und auch dich, nicht mehr sehen könnte!", widerspricht ihm Shuichiro und schluchzt wieder. Kyokei-sans Augen weiten sich bis zum Geht-nicht-mehr, als er das hört. "Ach... komm... deshalb musst du doch nicht weinen, Shuichiro… Mann, ich... sonst werde ich auch... also, ich... ich werde...", und nun schnieft auch er. Shuichiro hinkt zu seinem Freund und umarmt ihn etwas unbeholfen. Leise fließen Tränen, den ich höre sie nicht richtig weinen. Auch ich kann nicht verhindern, dass meine Augen wieder feucht werden. Nicht nur, weil auch ich von Schuldgefühlen geplagt wurde, nein, sondern auch, weil meine besten Freunde wieder beste Freunde sind. Fehlt nur noch Egaoshita-san. Was der wohl gerade macht? Nach etwa drei Minuten rührender Versöhnung, sehe ich auf die Uhr. "Shuichiro, ich... ich mag ja gar nicht herzlos sein, aber-", "Da fällt mir ein...", unterbricht mich Kyokei-san wieder etwas gefasster. "Ich habe mich wieder erinnert. Das mit meiner Amnesie ist jetzt sowieso egal. Wir drei kannten uns irgendwie schon... vom Kindergarten, hab ich recht?", und mit einem Mal vergesse ich, was ich eigentlich sagen wollte. Ich habe im Leben nicht gedacht, dass er sich jemals wieder an mich erinnern würde. Ich habe es doch nie so schwer genommen, dass er sich nicht erinnerte, aber... was ist das dann wieder für ein Gefühl? Shuichiros Augen strahlen wie verrückt. "Oh... Kyokei-chan, ich hab dich so lieb!", heult er wieder und umarmt die arme Sau. "Uah, Shuichiro, nicht so fest! Meine Eingeweide! Wenn du dich so an mich drückst, verblute ich vielleicht!", mault der Patient und Shuichiro lässt wieder von mir ab. "Sorry...", gibt er kleinlaut von sich. "Alles gut, ich lebe ja noch!", meint Kyokei-san und lächelt, wenn auch etwas gequält. "Wir sollten jetzt gehen. Es werden ihn bestimmt noch andere besuchen wollen.", und wie aufs Stichwort wird die Tür geöffnet. "Asahina-kun?", wundere ich mich, als ich ihn sehe. "H-halt die Schnauze. Ich will überhaupt nicht hier sein.", zischt er. "Mikoto, sei nett!", schimpft eine Frauenstimme hinter ihm. "Okay, Mann... Tut mir leid, Kazukawa. War wohl zu heftig, ich meinte es nicht so. Ich meine, könnten du und Fujisawa bitte gehen? Ich will mit Kyokei allein sein.", bittet er mich gezwungenermaßen freundlicher. "Aber sicher doch, Asahina-kun. Shui, wir gehen!", "Aber... was macht Asahina denn hier? Der hat doch alles gemacht!", brummt Shuichiro und wischt sich die Tränen aus den Augen. "Ich hoffe du schämst dich ordentlich, du... du...!", "Shuichiro, lass gut sein. Wir wissen alle, dass er die Schuld nicht allein trägt.", funkt Kyokei-san dazwischen und bedeutet uns, ihn in die Fänge seines Erzfeindes zu übergeben. Wie mutig von ihm, denke ich und verlasse den Raum. Kapitel 117: Vol. 5 - Versönung und Waffenstillstand ---------------------------------------------------- Elvis: Ich war sichtlich überrascht, als sich Asahina hier einfach hat blicken lassen. Mir fällt wieder ein, was ich Shuichiro und Kaishi gezeigt habe und verdecke es, bevor Asahina es sehen kann. Offenbar ist der Fall erfolgreich umgangen worden. Asahina sagt nichts. "Heute noch!", zischt eine Frauenstimme von draußen und Asahina zuckt zusammen. "Bringen wir es hinter uns...", murmelt er zu sich selbst und schaut mir wirklich in die Augen. "Also, Kyokei, es... es tut mir leid. Alles, meine ich. Tut mir leid, dass ich und meine Freunde dich so misshandelt haben, ich... ich weiß doch auch, dass das echt scheiße von mir war. Ich hoffe, du hasst mich jetzt nicht komplett und kannst mir eines Tages verzeihen.", bittet er mich mit bebender Stimme um Vergebung. Doch so weit kann ich jetzt noch nicht denken. "Darf ich dir noch eine letzte Frage stellen, Asahina?", frage ich vorsichtig und wage gar nicht, mir einen weiteren Donut in den Mund zu schieben, da die Spannung es nicht zulässt. "Nur zu.", erlaubt er es mir. "Wieso hast du das alles getan? Warum... hast du mich so sehr gehasst, also, von Anfang an?", stelle ich meine Frage und versuche, den Blick nicht von ihm abzuwenden. "Ich bin mir, ehrlich gesagt, voll nicht sicher...", grinst er dümmlich. "Bitte was?!", bin ich schockiert. Nach allem, was er mir angetan hat, weiß der Typ noch nicht einmal wieso?! "War doch nur ein Scherz, Mann. Bist du schreckhaft... wie auch immer, ich... ich war hauptsächlich neidisch. Ich meine, du hattest alles, nein, du hast immer noch alles, was ich nicht habe. Du hast gute Noten, bist cool, hast eine Freundin und drei Lakaien und außerdem mögen dich alle. Ich dagegen habe nichts. Meine Leute sind zwar ein wenig mehr als dein, jedoch sind wir zu sechst immer noch Feigling, ich meine, noch nicht einmal untereinander sind wir uns wirklich vertraut wie du und deine Leute. Ich werde vermutlich sitzenbleiben, ich rassele irgendwie überall durch und bin optisch einfach nur so verdammt durchschnittlich, dass es fast hässlich ist. Weil du mir mit all dem ein Dorn im Auge warst, konnte ich nicht anders als dich zu hassen, sonst hätte ich es nicht ertragen. Ich habe Nachforschungen angestellt und all diese Fakten gesammelt, mit denen wir dich letztendlich in den Ruin getrieben haben, in dem du gerade steckst. Als Indiz, dass du doch nicht so viel besser bist als ich. Aber das war falsch. Ich habe nicht gewusst, dass das so eine Verzweiflung in dir auslöst und abhaust. Ich hatte nicht vor, dich hierher zu bringen. Wirklich.", täusche ich mich oder hat Asahina da wirklich Tränen in den Augen? "Ich wüsste nicht, wieso jeder so scharf auf meinen Lifestyle sein sollte. Vielleicht bin ich beliebt, habe eine Freundin, und keine Lakaien, wie du sagst, sondern Freunde, aber... wie du ja jetzt weißt, führe auch ich ein stinknormales Leben und habe selbst Probleme. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Abschluss schaffe, weil ich ja eine Weile nirgendwo wirklich hinkann. Vermutlich schreibe ich hier alles Wichtige, aber vor der Abschlusszeremonie, so wie ich gerade aussehe, habe ich irgendwie Angst.", ich weiß auch nicht, wieso ich ihm das sage. "Ach übrigens, Kyokei, das eben habe ich gesehen.", entgegnet er plötzlich. Ich fahre zusammen. "Das hast du?", ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich schäme mich fast schon. Dieser Anblick ist mir doch selbst nicht geheuer. Dieses verbrannte und anschließend amputierte Bein macht mir Angst. Und die Tatsache, dass ich jetzt ebenfalls zu der "Behinderten"-Fraktion gehöre und meine Tage als Zweibeiner gezählt sind, macht mich fast depressiv. Ich kann mich noch nicht einmal aufrichten, ohne, dass mir alles wehtut. Schon wieder dieselbe Stelle. Jetzt kann ich einmal weniger ungeniert duschen oder wie jeder andere Typ auch ohne Neoprenanzug oder Shirt ins Schwimmbad. Ich hasse mein Leben. "Kannst du es mir vielleicht... noch mal zeigen?", in dem Moment wird die Tür aufgeschlagen. "Mikoto Asahina, als jemand, der bereits ein Ohr verloren hat, erachte ich es als sehr unhöflich, eine Person, die eine ihrer Gliedmaßen verloren hat, zu fragen, ob man die abgeschnittene Stelle noch einmal sehen darf! Merk dir das und entschuldige dich!", ruft eine temperamentvolle hübsche Frau, als sie hier reinplatzt und ich sehe, dass der armen Frau wirklich das linke Ohr fehlt. Dieses wird zwar durch die Haare verdenkt, jedoch kann ich es erkennen. "Oh Mann, Mama, okay, Kyokei, es tut mir leid, ich frage nicht mehr.", entschuldigt er sich demütig, als seine Mutter sich aufregt. "Wie unhöflich von mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Midori Asahina, seine Mutter, ich habe von dem Vorfall von vor drei Wochen gehört und möchte dir hiermit mein vollstes Beileid aussprechen. Ich habe deine Eltern vorhin rausgehen sehen und weil Mikoto und ich gerade in der Nähe waren, sind wir sofort vorbei und jetzt hier. Ich hoffe inständig, dass dich diese Summe zumindest ein wenig über den Schmerz hinwegtröstet.", da ist ein Koffer voller Scheine, so hoch wie in den Filmen nicht, aber diese Summe ist trotzdem... Ach du heilige... "Aber das sind doch mindestens fünf Millionen Yen, wie... so viel Geld kann ich doch nicht annehmen...", stammle ich vollends verdattert. "Ich flehe dich an, Kyokei-kun. Anders kann ich mir nicht verzeihen. Ich bin eine gute Bankerin und habe letztens im Lotto gewonnen, es geht also in Ordnung.", "Aber... wann werden Sie jemals wieder so viel Geld durch Lotterie gewinnen? Das können Sie doch nicht einfach-", "Doch. Bitte nimm es. Ich flehe dich inständig an.", "A-aber dafür müssen sie sich doch nicht auf den Boden... o-okay, wenn Sie das glücklich macht, Asahina-san, dann... dann nehme ich es!", gebe ich mich geschlagen, ehe sich diese Frau an der grenze der Demütigung auch noch auszieht. "Wie gut, dass wir uns doch verstehen, Mikoto, wir gehen.", ordnet seine Mutter an. Kurz darauf sind die beiden auch schon wieder verschwunden. Ich weiß nicht ob ich Asahina verzeihen kann, denke ich, doch als man gerade vom Teufel spricht, kommt dieser doch tatsächlich zurück. "Asahina, hast du vielleicht etwas vergessen?", frage ich und kann mich nicht erinnern, dass er etwas dabei hatte. "Ja, also... das... Ding, dass ich dir letztens über den Kopf geschüttet habe, das... das war kein Sperma und schon gar nicht meins! Ich... ich habe einfach Mayonnaise, Wasser mit Zuckerguss gemischt und habe alle angelogen, die nicht darauf gekommen sind. Es ist nur so klebrig gewesen, weil ich so gut im Mischen bin... Also bitte denk nicht, ich hätte mir wirklich so viel runtergeholt, das... das stimmt nämlich nicht.", der klingt ja richtig verzweifelt, hoffentlich ist seine Mutter nicht in Hörweite, sonst wäre das peinlich. Ich grinse. Jetzt so ich so drüber nachdenke, macht das Sinn. Auch wenn ich natürlich keinen Vergleich habe. "Aber das weiß ich doch längst." Kapitel 118: Vol. 5 - Vergeben und vergessen für immer ------------------------------------------------------ Akira: Was sich gerade abgespielt hat, das ist von Nöten gewesen. Es war fällig. Ich musste einfach, besonders nach allem, was passiert ist. Nach allem, was passiert ist, ist mir irgendwie, ich weiß auch nicht warum, ein Licht aufgegangen. Es hat mir die Augen geöffnet. Ich weiß zwar nicht direkt, also wortwörtlich, was für eine Erkenntnis sich da in meinen Verstand geschlichen hat, aber vielleicht muss ich das ja auch gar nicht, denke ich auf dem Weg zu meinen Eltern. Crash und ich, das mit uns ist nun endgültig geklärt. Ich kann nicht fassen, dass er mir verziehen hat. Ich habe wie vermutlich jeder, der involviert war, nach vielen vergangenen Tagen, Mut gefasst und habe aufgehört, davonzulaufen. Ich habe mich endlich bei Crash entschuldigt, wie in Dauerschleife werde ich mir dem bewusst. Er meinte zwar, es müsse nicht sein, doch ich war da anderer Meinung. Ich dachte an die Zeit zurück, in der ich noch verdrängte, wie selbstsüchtig ich mich aufführte. Ich habe die Sache damals mit Kyocchi nie richtig verdaut. Am Ende wurde mir nur gesagt, dass ich schuld daran war, dass er verletzt wurde, Chika hat mich dafür regelrecht gehasst, auch wenn sie es nicht zeigte. Was sie mir gegenüber jetzt empfindet, weiß ich nicht. Auf jeden Fall habe ich im zweiten Jahr der Oberschule Crash kennengelernt. Im Arcade haben wir uns getroffen und von da an wurde das so etwas wie ein Ritual. Ich habe gearbeitet und meine Eltern haben mich finanziell unterstützt, also ging das schon in Ordnung. Ich habe aber auch, je mehr Zeit ich mit Crash verbrachte, mehr darüber nachgedacht, aufzugeben und mich an ihm anzulehnen. Als dieser Gedanke, an jenem Tag bei ihm zu Hause, im Haus am See, am stärksten war, hatten wir Sex miteinander. Akane kannte ich zwar bereits vorher, jedoch war das mit Crash und mir anders. Akane war zu dem Zeitpunkt etwa neununddreißig. Ich war fünfzehn. Wir konnten uns gut verstehen, wie wir wollten, es gab noch immer diese Grenze, die wir nicht überschritten. Wir redeten bloß. Wir wollten den jeweils anderen nicht in Schwierigkeiten bringen. Eine Beziehung zwischen uns hätte unsere Gesellschaft im Leben nicht akzeptiert. Anders als bei mir und Crash. Der war zwar auch ein ganzes Stück älter als ich, aber immer noch jünger als sie. Neunzehn. Er war greifbarer. Er habe keinen Ruf zu verlieren, behauptete er immer. Die beiden Faktoren haben gereicht, um mit ihm zu schlafen. Ich weiß, mit sechzehn Jahren ist das viel zu früh und überhaupt, aber damals habe ich mich einfach nach nichts mehr als nach Erlösung gesehnt. Ich wollte, dass mich irgendwer von den Schuldgefühlen wegen Kyocchi und dem hoffnungslosen Verlangen befreit. Mehr habe ich nicht gewollt. Ich habe Crash soweit vertraut, dass ich ihm die Sache erzählt habe. Crash hat mich verstanden, mir war egal, dass er mir nie erzählen wollte, was er beruflich macht oder wieso er allein in diesem Haus lebt. Ich mochte ihn einfach als Person. Ich schrie vor Schmerz und Erregung, ich konnte nicht sagen, ob ich es genoss oder leidete. Ich weiß es bis heute nicht. Aber wir trafen uns vorher auf alle Fälle öfter, um rumzumachen. Nach dem Geschlechtsverkehr jedoch bekam ich es mit der Angst zu tun und hörte auf, mich zu melden. Irgendwas sagt mir, dass ihn das irgendwo tief im Innern verletzt hat. "Ich werde, wenn ich aus diesem Laden raus bin zurück nach Russland gehen und mir eine neue Identität aufbauen, ich schwör's dir, Alter!", waren seine Worte vorher, bevor ich gegangen bin. Crash, oder auch, wie sein echter Name lautet "Rudolf Podolski", ist es, wie er mir eben sagte, leid, ein einfacher Drogendealer zu sein. Er will etwas sein oder haben, auf dass er später stolz sein kann. Er meinte, er wollte ursprünglich in der Szene groß werden, um seinen Vater zu finden, der eben in jener Szene verkehrte, jedoch anonym eine unerreichbare Legende für ihn war, welche es vorher erstmal zu beeindrucken galt. Doch damit will er abschließen. Er meinte, jetzt denke er darüber nach, was er der Nachwelt hinterlassen könnte, was er machen könnte, um in der Welt ein Zeichen zu setzen und niemals vergessen zu werden. Ich werde mir ein Beispiel an ihm nehmen. Ich werde, selbst wenn die ganze Welt ihn vergisst oder nur einen Dealer in ihm sieht, nie vergessen. Ich werde keinen von ihnen vergessen. "Akane.", hauche ich in den Sonnenuntergang. Bald wird es Abend. Ich frage mich, ob meine Eltern mich überhaupt noch sehen wollen. "Akira, was führt dich denn hierher?", will meine Mutter wissen, als ich vor der Tür stehe. Sie fragt noch nicht einmal, wieso ich mich erst jetzt melde. Ich bin unfassbar selten bei meinen Eltern zu Hause. "Ich wollte einfach reden, Mama.", murmle ich, ziehe meine Schuhe aus und komme ohne Erlaubnis herein. Mein Vater sagt nichts dazu. Als ich die Tür schließe und mich der Couch nähere, auf der er sitzt, schaltet er den Fernseher aus. "Worüber wolltest du reden, Akira?", kommt er gleich zur Sache, als ich mich etwas schüchtern neben ihn setze. Dass ich letztens ohnmächtig in einer Lagerhalle aufgefunden wurde, nachdem ich mich mit diversen Typen um das Leben meines besten Freundes geprügelt habe, scheint er wohl immer noch nicht ganz überwunden zu haben. Vermutlich ist er der Meinung, dass das eher meine Schuld ist als dass es ein Unfall wäre. Er hat mir nämlich letztens auch ganz schön die Leviten gelesen, nachdem meine Wunden behandelt wurden. Wir alle scheinen keine Nacht im Krankenhaus verbracht haben zu müssen, auch wenn Hanazawa-san es wohl von allen des Kyocchi-Rettungsteams am schlimmsten erwischt hat. Ein fehlender Backenzahn, gebrochene Rippen, ein verstauchtes Knie und etliche blaue Flecken, dieser Schlagabtausch mit diesem Mädchen scheint ihr wirklich schwer zugesetzt zu haben. "Es tut mir leid. Für alles, was ich in den Jahren bei euch vermasselt habe. Ich habe am Ende nie daran gedacht, dass ihr ja auch noch da seid. Ich habe mich mehrmals in Lebensgefahr gebracht und eure Standpauken einfach leer über mich ergehen lassen. Ich war ein furchtbarer Sohn, hab Scheiße gebaut und saß euch auf der Tasche. Tut mir leid.", gegen Ende werde ich leiser und wage nicht, einen von ihnen anzusehen. "Das ist sehr erwachsen von dir, mein Junge.", meint mein Vater und ich spüre deine Hand auf meiner Schulter. Mein Junge... Zum ersten Mal nennt er mich so. Normalerweise war ich mein ganzes Leben lang Akira. Meine Mutter, also meine leibliche, hat augenscheinlich nie gewollt, dass ich von ihr erfahre, entgegen ihres Willens haben meine Adoptiveltern mir doch die Wahrheit gesagt. Am Ende Eltern doch alle drei, dass ich glücklich werde. Und es war ja nicht so, als wollte mir meine "echte" Mutter nie und nimmer begegnen, sie hatte bloß Angst davor. Sie war so ein zu bemitleidender Mensch. "Ich bin ehrlich stolz auf dich, Kind. Du hast endlich Verantwortung für dein Handeln übernommen und hast dich prächtig entwickelt. Du machst auch bald deinen Abschluss. Ich weiß, dass es oft nicht einfach für dich war, jedoch warst du stärker als wir dachten. Selbst wenn du nicht unser leibliches Kind bist, bist du trotzdem unser geliebter Sohn, Akira, bitte vergiss das nicht.", ergänzt meine Mutter. Ich glaub, ich muss gleich heulen. Noch nie habe ich mich meinen Eltern gegenüber so verbunden gefühlt. Noch nie. Immer bin ich ihnen aus den Weg gegangen, weil ich nicht ertragen konnte, ein Fremder zu sein, dabei ist mir fast entgangen, wie sehr... wie sehr sie mich lieben. Ich bin wirklich ein kompletter Vollidiot. Plötzlich fahre ich zusammen. "W-wie spät ist es?!", frage ich panisch und sehe auf die Uhr meine Vaters. "Viel zu spät... Oh mein Gott, ich komme zu spät!", stelle geschockt fest und bin gerade in Inbegriff zu gehen, als meine Mutter mich doch noch aufhält. "Wo willst du zu dieser Zeit noch hin?", "Ich muss noch ins Krankenhaus, Kyocchi besuchen, vielleicht ist er aufgewacht und-", "Beeil dich einfach und geh!", drängen mich meine Eltern im Chor. "Danke.", grinse ich hastig, ehe ich die Schuhe anziehe und dem Krankenhaus entgegenstürme. Mach hinne, Akira, mach verdammt noch mal hinne! Kapitel 119: Vol. 5 - Ein Idiot kommt selten allein --------------------------------------------------- Taiyo: Ich konnte diesen Anblick einfach nicht ertragen. Es war einfach schrecklich. Ich wusste, dass Elvis das rechte Bein fehlt, weil es durch die Explosion vorort verbrannt und wegen des Gifts am Absterben war, aber es noch einmal so zu sehen, ich einfach zu grausam. Er wäre beinahe gestorben. Noch haben wir es ihm nicht gesagt. Drei Wochen weggetreten und für eine Stunde noch nicht einmal am Leben. Ich habe ihn wieder so sehen müssen. Hide und Yuki waren bei mir, wir sind sofort ins Krankenhaus, als wir die Sirenen gehört haben und da sahen wir ihn. Es war noch schlimmer als vor drei Jahren. Viel schlimmer. Ich wusste es. Damals habe ich ihn nicht eingeliefert werden sehen, aber nicht nur deshalb. Er war voller Blut und sah gar nicht mehr menschlich aus. In dem Moment hat es sich angefühlt, als wäre etwas in mir gestorben. Hanako und der Rest der Truppe wanderten zwar auch ins Krankenhaus und auch bei ihnen war ich, jedoch, nachdem sie aufgewacht sind, wollten sie sofort zu Elvis, genau wie ich. Ihre Verletzungen waren immerhin nicht ganz so gravierend wie die meines Bruders. Ich erinnere mich noch ganz klar an das komplette Bild. Seine Schuluniform mitsamt dem Hoodie darunter zerrissen und ein Messer steckte in ihm drin. Er wurde sofort notoperiert. Und trotzdem hieß es, dass er während der OP gestorben ist, sein Herz ist stehengeblieben, hieß es. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Ich wollte nicht akzeptieren, dass er stirbt, ich wollte und konnte nicht. Doch irgendwie hat er es doch überlebt. Es hieße ebenfalls, dass er im Lagerhalle tot aufgefunden wurde, dass er auch dort absolut pulslos war. Aber genau weiß ich es trotz allem nicht. Ich schlürfe den Energy aus dem dem Automaten in der Kantine auf Ex runter und mache mich auf den Heimweg. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Bevor ich hier noch irgendwas kaputt mache. Während ich das Krankenhaus verlasse und es draußen schon gehörig dunkel geworden ist, lasse ich die vergangenen Wochen erstmal vor meinem inneren Auge Revue passieren, beschließe jedoch, mich erst zu Hause, auf ein Glas imaginären Vodka, auszuruhen und über alles nachzudenken. Doch ehe ich überhaupt irgendwohin gehen kann, werde ich in der Dunkelheit von einer unbekannten Person, die es offenbar mehr als eilig hat, um den Haufen gerannt. "Au, pass auf, wo du hin-...", trotz dessen, dass ich immer schlechter erkennen kann, der da vor mir steht oder liegt, kriege ich fast die Vollkriese, als ich wutentbrannt erkenne, wer einen auf Quarterback gemacht hat und nun orientierungslos auf mir drauf liegt. "Macht es dir vielleicht etwas aus, von mir runterzugehen, Albino? Was machst du überhaupt hier?", schnauze ich ihn an, weil er indirekt meine Tante und um ein Haar auch meinen Bruder auf dem Gewissen hat. "Meine Rede, was machst du eigentlich hier? Du bist echt lästig, Arsch.", brummt er, will gerade weiterrennen, als ich seinen Arm erfasse. "Jetzt mal langsam mit den jungen Eseln, du bleibst schön hier. Die Besuchszeit im Krankenhaus ist eh vorbei, sie also zu, dass du Land gewinnst.", komisch, indem ich ihn festhalte, halte ich ihn vom Landgewinnen doch eigentlich ab... Ich bin viel zu angepisst, um mir darüber Sorgen zu machen, schließlich kann er sich selbst befreien und dann nach Hause gehen, wenn er Manns genug ist. Dieser Typ nervt. "Nope. Und es heißt, mit den jungen Pferden und nicht Eseln. Dummkopf.", das reicht, ich bekämpfe ihn jetzt! "Du kleiner, mieser...", schneller als er bis Drei zählen, bin ich auf den Beinen und habe seinen Kragen in der Hand. "Willst du mit mir allen Ernstes um die Differenzierung von Huftieren diskutieren? Wir haben hier wirklich wichtigeres zu besprechen...", knirsche ich, nicht nur, weil ich mich als Student ein bisschen schäme, mich vor einem Kind rechtfertigen zu müssen. Vielleicht bin ich ja nicht so intelligent wie der Rest, vielleicht esse ich ja ein bisschen zu viel Star-Wars-Müsli für einen normalen Menschen, aber das ist doch kein Grund, mich so lächerlich zu machen! Ich bin kein Deut weniger sauer auf ihn. Ich erwarte, dass er sich bis zum Geht-nicht-mehr demütigt. Aber andererseits bringt mir das auch nicht meine Tante zurück... "Du... scheinst mich ja echt nicht leiden zu können, was, Bruderkomplex?", "Nenn mich nicht so, und ja, ich kann dich tatsächlich so voll nicht ab, dass das klar ist! Ich habe auch meine Gründe...", "Ich denke nicht, dass Kyocchi sich freuen würde, wenn du mich umbringen würdest, wenn du also so nett wärst und mir nicht mein Lieblingsshirt ausleierst, bin ich bereit, dich nicht mehr auf deinen Bruderkomplex anzusprechen.", der hat doch einen an der Klatsche... Nichtsdestotrotz lasse ich ihn widerwillig fallen und tue so, als wenn mich tatsächlich interessieren würde, was der Kerl mir hier vielleicht noch an nützlichen Infos freiwillig rausrückt. Ich muss wohl oder übel mit diesem Scheißkerl reden. "In den Park. Jetzt. Wenn du leben willst.", ich übersetze, damit meine ich, lass uns reden, auch wenn ich nur so kurz davor bin, dir deinen verdammten Hals umzudrehen. "Was wolltest du jetzt? Willst du mich tatsächlich umbringen und meine Leiche hier im Park in den See schmeißen?", will er sarkastisch wissen. "Ich habe still und leise beschlossen, dich am Leben zu lassen.", entgegne ich trocken. "Was war da los? Wieso stand alles in Flammen und wieso wart ihr alle ohnmächtig? Wie kann es sein, dass meine Tante dir augenscheinlich gefolgt ist, obwohl ihr beiden unmöglich etwas miteinander zu tun hattet? Rede.", lasse ich den Cop raushängen, mein Vater wäre sicher stolz auf mich, wenn er sehen würde, wie sachlich ich gerade bin. Normalerweise gehöre ich ja eher zur Quasselstrippen-Fraktion, aber nicht heute. Heute nur das, was auch wirklich verwertet werden kann. Ich habe, nachdem du die Vollmeise wegen der Knarre bekommen hast, die Lagerhalle, aus der wir vermutet haben, dass der Schuss kam, unter meinen Besitz gebracht. Dann standen dieses Mädchen und diese Typen vor uns, und es wurde ganz krass wie in den Filmen geprügelt. Am Ende haben deine Liebste und dieses Mädchen einen Kleinkrieg gegeneinander geführt, wie der ausging weiß ich allerdings noch immer nicht ganz. Hanazawa-san war am Ende wie der Rest wohl bewusstlos. Das Mädchen selbst ist tot, so sagen es zumindest die Rettungskräfte. Wie auch immer, dann ist deine Tante erschienen, zu der ich gleich komme, wir haben uns nach oben geschlichen und da sahen wir es. Erika Kurodate aus dem Krankenhaus, du weißt schon, die beste Freundin von ihr, gegen deinen Bruder kämpfend. Ich weiß nicht, was die Olle zu ihm gesagt hat, aber das scheint ihn zusätzlich aus dem Konzept gebracht zu haben. Auf alle Fälle ist Akane… ich meine, deine Tante total ausgeflippt, weil diese Gasmaske, die Kurodate an ihrem Hals trug sie anscheinend an den Mörder ihres Bruders erinnert hat. Sie ist kopflos losgestürmt und ich konnte sie nicht aufhalten, als diese Verrückte sie einfach vor meinen Augen erstochen hat. Ich habe sie sterben sehen und dann wurde mir selbst schwarz vor Augen, weil ich diesen Anblick nicht ertragen konnte. Mehr kann ich dir nicht sagen. Es... tut mir aufrichtig leid.", er wagt nicht, mich anzusehen. Ich weiß inzwischen mehr oder weniger, dass Tante Akanes Bruder damals ermordet wurde, damals haben sie keine Anstalten gemacht, darüber zu reden. Nicht wenn ich unmittelbar in der Nähe war natürlich, so blöd sind sie dann doch nicht, aber hin und wieder habe ich Spion ein wenig mitgehört, einfach nur, weil ich es wissen wollte. Wissen ist macht, und ich wollte ihnen unbewusst wohl wissen lassen, dass ich kein dummes Kind bin, das tatsächlich glaubt, es ginge alles mit rechten Dingen zu. "Wieso ist sie dir gefolgt?", will ich wissen, weil das einer der unbeantworteten Fragen ist, die mir noch im Kopf umherschweben. "Du würdest es nicht verstehen. Du würdest mich wirklich umbringen und in den See schmeißen, wenn ich dir das erzählen würde.", meint er mit schuldbewusster Miene. "Und wenn ich dir hoch und heilig verspreche, dass ich das nicht tun werde.", "Wirst du trotzdem, ich habe genug Angst vor dir, um darauf nicht reinzufallen.", "Und wenn ich dir hoch und heilig verspreche, dass du keine Angst vor mir zu haben brauchst?", "Dann glaube ich dir immer noch nicht. Ich bin doch nicht bescheuert.", der ist hartnäckig, aber das bin ich auch! "Und wenn ich dir sage, dass ich dich auf dieselbe Art verprügle, wie ich es letztens versucht habe, bis du es mir sagst?", ist mein letztes Angebot und er zuckt wirklich ängstlich zusammen. "Dir traue ich das sogar zu... Okay, setzt dich besser.", bereitet er sich mental auf dieses Geständnis vor. Ich hoffe, es ist nicht das, wonach es sich anhört. Ich hoffe, das ist nicht das, was sich da gerade in meiner wilden Studentenfantasie abspielt. Ich hoffe es abgrundtief. Ich tue ihm den Gefallen und setze mich auf die nächstbeste Bank. Er setzt sich schüchtern neben mich. "Okay. Atmen, Akira. Deine Tante und ich hatten ein Verhältnis. Sie war in mich verliebt und wir haben die Nacht miteinander verbracht.", kommt es, wie aus der Pistole geschossen, aus seinem Mund und ich wage mich nicht zu bewegen, ehe ich in schrilles Gelächter ausbreche. "Aaaaaaahahahahahahahaha, oh mein Gott, das ist das mit Abstand Absurdeste, das ich nach diesem Vorfall, nein, in meinem Leben gehört habe! Du und Tante Akane, ich schmeiß mich weg! Du warst kurz davor, mein Onkel zu werden. Aaaaaaahahahahahahahahaaaaa!", ich kann mich gar nicht mehr beruhigen, bin unauffällig aufgestanden und ehe dieser Typ überhaupt daran denken kann, zu mir aufzusehen, verpasst ihm meine Faust seiner Schmerzempfindung im Gesicht eine Typveränderung. Seine Nase blutet. Offenbar bin ich ziemlich gut darin, Leuten die Scheiße aus dem Leib zu boxen. Elvis, Hanako, ihr dürft nun zustimmend nicken. "Du hast gesagt, ich soll die Wahrheit sagen.", flüstert er, ohne seinen Nacken wieder in den Normalzustand zu stimmen. "Ich habe nie gesagt, dass ich die keine verpassen würde, wenn ich sie rausfinde.", meine ich nur. "Der Punkt geht an dich.", gibt er sich geschlagen und wischt sich die Nase. "Ich habe es gewissermaßen auch verdient. Du hast wirklich allen Grund, mich zu hassen. Dass ich deinen Bruder so oft in Gefahr gebracht habe und mit deiner Tante geschlafen habe. Dass sie, wenn sie noch leben würde, auch noch schwanger von mir wäre, würdest vermutlich auch nicht witzig finden. Ich habe es verdient, schlag mich ruhig noch ein zweites Mal, ich toleriere es, ich bin Weltabschaum, verstanden, tob dich aus.", seufzt er. Wieder bin ich fassungslos. Sie war auch noch schwanger von ihm? Wow, dieser Kerl ist wirklich... keine Ahnung, aber zumindest steht er sogar auf, mir direkt gegenüber, damit der Schlag noch einmal so richtig, hehe "umwerfend", wird. Diesmal ist es eine Ohrfeige, die ich ihm verpasse, zweimal das Gleiche zu tun, ist irgendwie lahm. "Du hast Recht. Du bist wirklich das Allerletzte. Ich habe allen Grund, wütend auf dich zu sein, weil du mir fast meinen Bruder und absolut nicht nur fast meine Tante weggenommen hast. Du warst schwanzgesteuert, verantwortungslos und hast dich schlussendlich nur darum gekümmert, wie du allein am besten über die Runden kommst. Wenn ich dich, wenn Hanako nicht dazwischengefunkt wäre, damals wirklich kastriert geprügelt hätte, wäre das die vermutlich beste Genugtuung für den ganzen Scheiß, den du angestellt hast. Du hast keine Ahnung, wie sehr ich gerade das Bedürfnis verspüre, dich möglichst qualvoll auf den Mond zu schießen, wo du erstickst und implodierst. Aber stattdessen...", diese Geste überrascht ihn vermutlich ungemein. "Danke ich dir. Dafür, dass du wenigstens versucht hast, meinen Bruder zu retten, von allen neben mir am meisten. Danke, Akira.", und zum ersten Mal habe ich ihm gegenüber seinen Namen ausgesprochen. Für alle, die es nicht wissen, ich habe diesen Mistkerl wider meiner vorherigen Emotionen, einfach so umarmt. Wahrscheinlich denkst du dir jetzt so, 'Ist das wieder einer von Taiyos Tricks, um seine Feinde auszuknocken, nachdem er sie hinters Licht geführt hat?', aber was, wenn ich sage, dass das nicht wahr ist? Zumindest habe ich eigentlich nicht den Ruf, so hinterhältig zu sein. Klar, ich bin irgendwo vielleicht noch nicht ganz in Stimmung für bedingungslose Versöhnung, jedoch muss man manchmal einfach verzeihen. Zu etwas andere fehlt mir, mal ganz unter uns, einfach jegliche Kraft. Akira, ich erlaube, ihn ebenfalls einfach ganz frech beim Vornamen zu nennen, sagt noch immer nichts. Vielleicht ist es Überraschung, vielleicht auch Schock, vielleicht aber auch, weiß er, dass dieser Moment einfach keine Worte benötigt. Vielleicht, nein, irgendwann kommt dieser Tag. Daran glaube ich, das habe ich schon immer. Dass dieser Tag kommt, an dem wir alle über all das nachdenken, an die gute alte Zeit und Freunde sind. Daran, dass wir alle eines Tages auf all das hier zurückblicken und lachen. Dann mache ich meinem Namen alle Ehre und strahle einfach genauso, wie die Sonne über uns. Genau das wünsche ich mir in dem Moment. Dass ich diesem Typen, egal wie sehr er mir auch wehgetan hat, eines Tag gegenüberstehen kann, und sagen kann, der hier ist mein Homie. Kapitel 120: Vol. 5 - Aschenputtels Botschaft an den Prinzen ------------------------------------------------------------ Elvis: Nachdem es dunkel ist, alle gegangen sind und ich endlich wieder allen Mut, den ich vorhin nicht einsetzen konnte, gesammelt habe, fällt mein Blick wieder auf den Brief von Chika. Irgendwas sagt mir, dass mir das wieder so unangenehm unter die Haut gehen wird. Ich habe bis jetzt noch nicht mit ihr reden können. Ich weiß noch nicht einmal, wie es gesundheitlich überhaupt um sie steht. Ob die Krankheit, deren Namen ich nicht kenne, sie nicht schlussendlich doch umgebracht hat. Ich schüttle den Kopf, so gut es. Ich muss bald schlafen gehen, Mensch, das mit dem Mut fassen hat viel zu lange gedauert... Wie auch immer, ich lese den jetzt und damit basta, ist mir egal, was für schlimme Schriften und Chroniken mich dort erwarten, ich wurde abgestochen und mein Bein ist weg, schlimmer kann mein Tag sowieso nicht werden! Außer... Nein, darüber wird jetzt auch nicht nachgedacht! "Für Elvis Kyokei von Chika Failman. PS: Blutrosenoberschule, Sasuke-Haarschnitt und rote Augen.", ich grinse, noch immer nervös.. "Was ist das denn für eine Beschreibung?!", Ich öffne diesen beschissenen Brief jetzt in drei, zwei, eins... "Hi. Ich bin's, Chika. Wer auch sonst? Das ist meine Handschrift. Da sind meine Fingerabdrücke drauf. Das ist meine DNA, die du da gerade angefasst hast. Ich würde auch gerne mal deine DNA anfassen, wenn du verstehst, was ich meine, (zwinker, zwinker!). Aber nein, was rede ich da? Das ist gegen die Regeln. Wenn du magst, dann fasse ich deine DNA aber gerne auf andere Weise an. Ich würde dich von hier aus, von wo ich das hier gerade schreibe, so gern in den Arm nehmen. Ich will dich berühren, dich küssen und am liebsten mein ganzes Leben lang niemals wieder deine Hand loslassen. Ich denke oft an dich, weißt du? Es ist mir egal, ob du dich an mich erinnern kannst oder du dein Leben lang ein ganz normales Leben ohne Erinnerungen an damals lebst. Das habe ich mir eingeredet, um es mir leichter zu machen, aber das stimmt nicht. Unser Schicksal hing und vielleicht hängt es immer noch am seidenen Faden, nicht nur wegen der Erinnerungen, die sich von dir fernhalten. Ich selbst stehe ebenfalls auf Messers Schneide. Ich starre gerade beleidigt aus dem Fenster des Krankenhauses. Ich träume jede Nacht, in der wir uns nicht sehen, von dir. In meinen Träumen lächelst du. Ich will auch den echten Ellie nochmal lächeln sehen. Ich will es sein, die ihn zum Lächeln bringt. Ich will, dass er glücklich ist. Ich möchte, die Eine für ihn sein. Weil ich aber nicht weiß, wie lange ich diesen Gedanken irdisch festhalten kann, habe ich Angst. Wenn du das liest, bin ich nämlich vielleicht gar nicht mehr. Du musst wissen, dieser Brief ist nur für den absoluten Notfall, den ich dir gleich schildern werde. Vielleicht bin ich bereits tot oder anderweitig unfähig, noch einmal mit dir über alles zu reden. Vielleicht lebe ich aber auch noch und bringe dir Morgen ein Fertigsandwich mit, weil ich so mies in der Küche bin. Du würdest vielleicht sagen: 'Also ein selbstgemachtes wäre wirklich authentischer, Chika. Du musst wirklich lernen, wie man die Küche benutzt.'. Ich würde dann sagen: 'Aber ich habe das mit meinem eigenen Geld gekauft. Also, wenn das nicht mehr zählen würde, müsste am Valentinstag jeder seine Pralinen selbst machen.'. Du würdest bestimmt erwidern: 'Herrschaft noch mal, wie um alles in der Welt sind wir von Fertigsandwiches auf den Tag, der im Namen der Liebe kommerziell ausgeschlachtet wird, gekommen?' Und dann ich so: 'Weil ich dich doch liebe, du Unromantiker…' Dann könnten wir die ganze Zeit darüber reden, wie die Welt am 14. Februar aussähe, wenn man sich anstelle von Schokolade, Schinkensandwiches schenken würde. Wie gravierend die Sandwichindustrie davon profitieren würde, während die Schokoladenindustrie bitterneidisch wäre. Ich stelle es mir unglaublich witzig vor, mit dir über all diese Banalitäten reden zu können. Doch leider wird dieser Fall eventuell niemals eintreten. Ich will es dir nun hier schreiben, für den Fall der Fälle, in denen wir beide niemals wieder einander in natura begegnen, unsere Lippen sich niemals treffen und unsere Hände niemals untereinander die Ringe tauschen. Für diesen schrecklichsten aller Fälle bin ich vorbereitet und doch habe ich unglaubliche Angst davor. Hier kommt es, hier ist der Grund für den Brief. Ich liege mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus, mir tut alles weh und ich habe wahnsinnige Angst, es könnte zu einem anderen Zeitpunkt schlimmer kommen als jetzt. Ich habe ein schwaches Herz, das nennt sich Herzmuskelschwäche, und hinzu kommt eine unbekannte Krankheit gefolgt von Fieberausbrüchen und hohem Blutdruck. Niemand weiß genau, inwiefern das mit meiner Herzkrankheit zusammenhängt, jedoch sind diese beiden Faktoren unweigerlich miteinander verbunden. Oftmals bekomme ich wegen des unzureichenden Sauerstoffes in meinem Herzen nicht genügend Luft und brauche einen Inhalator. Niemand sonst soll es sehen. Ich bin immer in eine Kabine im Mädchenklo geflüchtet, damit niemand meine Fassade des fröhlichen Mädchens hinterfragt. Auch du hättest ursprünglich gar nicht merken sollen, dass mein Herz wohl während des LKW-Unfalls ins Stocken geriet. Zumindest habe ich mich für den Moment so gefühlt, als ob ich sterbe. Es tut mir leid, dass ich dir das nie erzählt habe. Diesen Brief zu schreiben, weil ich im schlimmsten Fall sterben könnte, fühlt sich ganz schäbig an. Ich schreibe ihn schließlich für den Fall, dass ich unerwartet von uns gehen muss, ohne dir zu erzählen, wieso. Mir fehlt einfach der Mut. Deshalb trage ich immerzu diesen Brief mit mir herum, falls ich nicht zurückkomme. Ich will nicht sterben, weißt du? Ich habe eine komische Art, das zu zeigen, würde vermutlich ein Außenstehender sagen. Ich kleide mich wie ein eine Goth-und-Emo-Mischung, um an meinem Todestag möglichst cool auszusehen. Obwohl ich bei meiner Beerdigung letztendlich sowieso etwas anderes trage, etwas Schickes. Aber das ist mir egal, ich stehe nun einmal auf dunklere Farben, auch wenn mir jeder sagt, mir stünden hellere und knalligere Farben wie Orange und Gelb besser als Lila und Schwarz. Dabei mag ich es doch gar nicht so besonders, so auszusehen wie das Maskottchen einer Fruchtsaftagentur, das möglichst viele Kunden an Land ziehen soll. So jemand bin ich eigentlich gar nicht. Ich will gar nicht so im Rampenlicht stehen und ein Saft-Maskottchen sein, so wie man es anhand meiner feuchtfröhlichen Persönlichkeit ablesen könnte. Lieber will ich im Stillen einfach das Leben genießen und nicht gehetzt werden. Ich will mir doch viel lieber Zeit dafür nehmen, jeden einzelnen besser kennenzulernen, als eine ganze Gruppe zu unterhalten. Besonders dich. Es gibt noch so viel, was ich von der Person, die ich über alles liebe, lernen möchte. Woher weht deine ewige Begeisterung für Kapuzenpullis? Wieso lebst du mit deinem Bruder ganz alleine? Wie sind deine Eltern drauf? Was für ein Typ Pokémon wärst du gerne? Was ist deine Lieblingsserie? Wie fandest du das Ende von Death Note, war es gut so oder total scheiße? All das und noch mehr hätte ich dich gerne gefragt. Doch weil ich nicht weiß, ob ich zu diesem Zeitpunkt noch in der Lage bin, bitte ich dich, es in Gedanken zu beantworten oder wenn du und ich uns wiedersehen. Vielleicht kenne ich die Antworten auf diese Fragen aber auch bereits. Ich frage mich, ob wir dann auch wirklich vereint sind. Ob wir dann das sind, was wir vielleicht geworden wären, liefe damals alles glatt. Ich frage mich das, obwohl ich mir gefühlsmäßig doch zu hundert Prozent sicher bin, dass wir so oder so zueinander finden werden. Du bist irgendwie dieser Schicksalsmensch für mich. Wie jene Person, über die in all den Liedern gesungen wird, immerzu, wenn es um die Liebe geht. Ich habe nach dem Vorfall, der uns entzweite blöderweise meinen Standort gewechselt. Aber nach zwei Jahren verfolgte mich jener Traum noch immer. In meinem Traum warst immer du es, der mich gefunden hat. Jedes einzelne Mal. Doch endlich habe ich meinen Platz gefunden. Ich fand ihn in dir. Wo du auch bist, bin auch ich zu Hause. Dein Weg soll auch meiner sein, das habe ich mir immer gewünscht. Wie in dem Lied aus LoveLive! von µ´s. Ich denke besonders hier an dich, das ist das Lied, dass mir am meisten klargemacht hat, dass nur du und keiner sonst der Eine für mich bist. 'Du musst mir gar nicht antworten, da ich schon lange weiß, dass der Ort in unserem Herz derselbe ist. Unser'n Dauerlauf geben wir niemals auf, es wird schwer, aber es gelingt uns gemeinsam Unsere erfreuten Herzen treiben uns voran. Die Flügen schlagen aufgeregt, wir sind soweit Wenn du nun mit mir über die Wünsche sprichst, den Glanz der Augen vergess' ich nicht, Ich liebe ihn... Ich liebe ihn!' Kennst du LoveLive! ? Ich liebe ihre Lieder, hör doch mal rein, wenn ich schon zwei Minuten geopfert habe, um den ersten Refrain aus dem Internet abzuschreiben. Das Lied heißt 'Unser LIVE-LIFE mit dir', die erste Single. Dieses Lied ist so etwas, wie mein seelisches Zuhause, dass mir den Weg zu meinem anderen gezeigt hat. Den Glanz, den ich mir vorstelle, den deine Augen machen, wenn du mir erzählst, wofür du lebst und was du liebst. Ich würde ihn so gerne sehen. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn schon, ohne ihn gesehen zu haben. Ich will es sein, die deine Mauer durchbricht. Das ist mein Ninja-Weg. Wo das jetzt herkam? Keine Ahnung. Und... tut mir leid, dass du das erst jetzt alles über mich erfährst, weil ich das Gefühl hatte, es könnte in naher Zukunft mit mir zu Ende gehen. Das ist total gemein von mir. Wenn du nun an meiner Beerdinung oder so bist und mich ansiehst als die, die falls sie stirbt, dir diesen Brief geben lässt und das war's, dann... Kannst du ruhig böse auf mich sein. Ich bin dafür ja auch ein bisschen böse auf mich. Falls es mich also wirklich nicht mehr gibt... Danke. Danke, dass ich deinetwegen verstanden habe, wofür es sich zu leben lohnt. Danke bis zum Geht-nicht-mehr, ich werde dich niemals vergessen." Kapitel 121: Vol. 5 - Nach Anbruch der Dämmerung ------------------------------------------------ Taiyo: Es ist dunkel in der Wohnung, als ich zu Hause ankomme. Meine Eltern scheinen wohl schlafen gegangen zu sein. "Ich bin zu Hause.", murmle ich im Wissen, dass es keiner hört. Ich bin einfach weggerannt, sobald ich ihn hab losgelassen. Ich wusste nicht, was er auf das, was ich gemacht habe, erwidert, also bin ich, aus Angst, im Gedanke an die Versöhnung verletzt zu werden, geflohen. Auch wenn ich ihn gerade nicht ganz gut leiden kann, habe ich es einfach nicht fertiggebracht, auf ewig auf Kriegsfuß mit ihm zu sein. Egal wie sehr ich eine Person verachte, ich kann sie nicht auf Dauer als meinen Feind betrachten. Was, wenn diese Person am Ende meine letzte Hoffnung ist? Ich habe viel zu große Angst davor, abzustürzen, wenn ich von einer Person abhängig bin, die verfeindet mit mir ist, und mir deshalb nicht hilft. Es gibt Menschen, die ich meide, aber keinen von ihnen würde ich heute noch sagen, dass ich sie hasse. Auch wenn ich das wirklich tun würde. Ich bin wirklich armselig. Und trotz meiner Ängste, hat sie Ja gesagt. "Du bist echt Wahnsinn, Hanako.", flüstere ich, als ich auf meinem Tablet auf YouTube herumscrolle. Ich habe lange keine Videos auf meinem Kanal mehr hochgeladen. Na ja, gewissermaßen hat auch keiner wirklich gefragt. Ich bin hauptsächlich ein erfolgloser Letsplayer mit zweitausend Abonennten. Letztes Video: Vor fast drei Jahren. Zu der Zeit, in der Elvis in meine Wohnung gezogen ist. Beziehungsweise, ich in die exakt gleiche, die wir seinetwegen verlassen haben und auch mal, als das Haus von Ungeziefer belagert wurde, einzog. Seitdem wusste ich nicht mehr, wo ich mich zu Hause fühlen soll. Ich habe meine Zeit sowohl dort als auch hier verbracht. Erst waren wir in der kleinen Wohnung, als mein Vater und ich mit meiner Mutter zusammenzogen, wenig später ist Elvis geboren worden. Dann gab es wenig später den Ungeziefer-Vorfall und wir mussten kurz weg, für fast ein Jahr, in die Wohnung, in der ich mich jetzt befinde. Dann kehrten wir zurück. Dort blieben wir auch fürs Erste. Als dann Elvis in der Mittelschule gesprungen ist und im Krankenhaus war, fanden meine Eltern, dass er sich nach der Entlassung lieber in die Nicht-Ungeziefer-Wohnung zurückziehen sollte, weg vom alten Umfeld, um sich zu erinnern. Er selbst verbrachte aber sowieso mehr Zeit im Krankenhaus. Zumindest glaube ich das, ich weiß es nicht, schließlich bin ich wenig später von der Bildfläche verschwunden. Dann habe ich fast ein ganzes Jahr an mir gearbeitet, immer wieder gab es Rückschläge und ich war kurz davor, aufzugeben. Ich habe so oft versucht, meinem Elternhaus zu entfliehen, dass ich um keinen Preis zurückwollte, ich war mehrmals obdachlos und ging nicht zur Uni. Ich hatte keinen Job. Dann traf ich auf Hide, der, wie sich rausstellte, in unsere alte kleine Wohnung, gelebt hat. Er war es, der es mir letztendlich ermöglicht hat, zu der Person zu werden, die das gerade denkt. Ich durfte in meine eigene Wohnung zurückkehren. Wir gingen dann auch zur selben Uni, als ich dann doch einen Job fand, als Kellner, Putzkraft, Kassierer, ich habe wirklich alles getan, um Hide finanziell nicht auf den Sack zu gehen. Das Letzte, was ich wollte, war, dass er mich für einen Schmarotzer hielt, wie Elvis es mir mal in einem Streit klargemacht hat. Daran erinnere ich mich noch. Als eines Tages dann der Anruf meiner Eltern, dass Elvis gerne zurück in die Wohnung ziehen will, bekam ich es mit einem richtigen Dilemma zu tun. Ich wollte ihn nicht wegschicken und ein noch größeres Arschloch sein. Ich wollte aber auch nicht Hide rausschmeißen, nach allem, was er für mich getan hat. Er war neben Yuki, seiner Freundin Schrägstrich Exfreundin, mein einziger richtiger Freund. Als ich Hide, nach einer verlorenen Partie Mario Kart mehr oder weniger erzählen musste, wer genau angerufen hatte, verstand es Hide sofort, und kündigte seinen Mietvertrag. Ich sagte ihm "Du musst das nicht machen, Mann! Deinetwegen habe ich doch schließlich-", doch ehe ich ausreden konnte, meinte er nur: "Wenn der Bruder meines Kumpels, der 'nen Dachschaden hatte, herkommen will, dann soll er auch. Kyo, Junge, was glaubst du, wieso du dich letztendlich so krass angestrengt hast? Am Ende hast du es doch für ihn getan, oder? Deshalb gehe ich. Wir sehen uns noch in der Uni und ursprünglich ist es dich immer noch deine Wohnung gewesen, oder? Jetzt sei ein Mann und sag ihm, dass ein Platz frei ist, dann schmeißen wir eine Party für ihn und lassen uns volllaufen. Was meinst du, klingt doch supi!", er ist am selben Tag verschwunden. Nachdem mir Elvis also mein Sixpack gefingert hat, hatten Hide und Yuki die Knaller bereit und jubelten. Der hat echt mächtig blöd aus der Wäsche geguckt, unbezahlbar, dieser Anblick. Hat gar nicht damit gerechnet, dass man eine Party für ihn schmeißt. Aber wieso erinnere ich mich daran? Ausgerechnet jetzt. In letzter Zeit denke ich oft an früher. Elvis hat sich in den fast drei Jahren, in denen wir nun zusammen wohnen, irgendwie voll verändert. Als er kam, war er irgendwie noch eine Art Kind, ein selbstständiges, wortkages und ziemlich kaltes Kind, aber auf jeden Fall, hatte er irgendwas Zerbrechliches an sich. Jetzt ist er zwar noch immer nicht ganz abgehärtet, dass bin ich aber auch nicht, aber er ist viel... menschlicher. Er hat wirklich viel durchgemacht. Das haben wir wohl beide. Irgendwie ist es schon ganz witzig, wie wir uns dauernd voneinander abgestoßen und trotz allem am Ende doch zueinander gefunden haben. Das Gleiche könnte ich zu ihr sagen. Dieses Mädchen, der ich einen Antrag gemacht habe. Einfach so, drei Tage nach der Beerdigung meiner Tante. Es ist mir irgendwie einfach klargeworden, von der einen auf die andere Sekunde hat es in meinem Kopf einfach "Peng!" gemacht und ich dachte mir so 'Junge, wenn du die jetzt nicht gleich fragst, wirst du vielleicht ewig der Aufhänger von Yukide, das ist der Shipping-Name von Hide und Yuki, sein!'. Sie ist in der Zeit, in der ich so traurig war, in der ich mich gefreut habe ebenso, nie von meiner Seite gewichen. Als meine Tante beerdigt wurde, als ich nur noch ein emotionales Wrack war, mit dem man nichts anfangen konnte, wurde sie nie müde, meine Hand zu halten. Als meine Eltern geheiratet haben, hat sie sich mit mir gefreut. Ich erinnere mich noch, wir sind durch den Friedhof gegangen, einfach so. Wie auch immer, dann gingen wir so und gingen... und gingen... und gingen... "Gibt es einen bestimmten Grund, wieso du spazieren gehen wolltest, Hanako?", fragte ich, nachdem die Stille zwischen uns so unerträglich geworden war. "Nein. Ich wollte nur nicht, dass du in deiner Wohnung vor dich hin vegetierst. Noch nicht einmal in die Wohnung deiner Eltern, sondern in die von dir und Elvis. Meine Güte, schämst du dich denn überhaupt nicht, deinen Eltern so viel von dem gemeinsamen Leid zu verschweigen?", versuchte sie, mich etwas auf die Palme zu bringen, wie sie es manchmal tut, wenn sie merkt, dass ich das eine Gefühl nur durch ein anderes übertönen kann. Sie ärgerte mich mit Absicht, sie lässt die unberührte Unscheinbare raushängen, nur, damit ich etwas fühle. "Wenn du meinst.", sagte ich nur und sah, dass es ziemlich bald zu regnen begann. Aber keiner von uns dachte daran, sich irgendwo unterzustellen oder umzukehren. Da lag etwas in der Luft, dass jeden Rückzug verweigerte. Ich wusste nicht, wieso wir an einen Friedhof kamen, wirklich nicht. Tante Akanes Leiche ruhte in der anderen Stadt. Bei meinen Eltern. Neben ihrem Bruder. Das hätte sie so gewollt. Tante Akane. Ich ertrug es nicht, daran zu denken, dass ich sie niemals wieder würde lachen sehen. Aber auch nicht weinen. Ich wusste nicht, wann meine Tante jemals irgendwas dergleichen getan hatte. Sie war einfach da. Viel auf Reisen und unerreichbar, nur, als ich in Hides Schrägstrich meine Wohnung zog, wurde sie sesshaft. "Es tut mir leid. Dass ich dich einfach gerade so blöd an der Nase rumführe, Taiyo. Sicher willst du gar nicht an einen Friedhof entlang gehen.", sie blieb einfach stehen. "Weißt du, ich... ich weiß nicht, wie es ist, wenn jemand stirbt. Nicht wirklich, ich... ich kann nur nicht verstehen, wieso es so wehtut, wenn ein Mensch seine physische Gestalt verlässt. Ich verstehe es nicht. Als meine Eltern verschwanden und meine Großeltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, da... habe ich nichts gespürt. Ich bin absolut kaltblütig, was den Tod anderer Menschen angeht, Taiyo. Deshalb... tut mir leid. Ich... ich habe nicht auf deinen Gefühlen für sie rumtrampeln wollen!", sie brach in Tränen aus, ohne, dass ich wirklich verstand, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. Ich trat vorsichtig näher an sie ran, ich berührte ihre Wange, um ihr die Tränen, die nicht versiegen wollten, wegzuwischen. "Bitte wein doch nicht, ich... Hanako, es ist in Ordnung, du hast nicht gemacht. Ich erwarte nicht, dass du die Gefühle anderer zu hundert Prozent verstehst. Bitte... bitte bring mich nicht auch noch weinen, Mensch, die Beerdigung ist doch... drei Tage her!", dann weinte ich schlussendlich doch wie ein Schlosshund und band Hanako unnachlässig mit meinen zittrigen Armen an mich. Wir standen einfach da, während es stärker zu regnen begann und wir weinten. Niemand verstand, wieso das eigentlich passierte. Es fühlte sich so komisch an. Ich wollte, dass sie zu weinen aufhörte, doch konnte das selbst nicht. Ich hielt sie fester und sie mich, wir konnten überhaupt nicht anders. Als wir dann jedoch langsam keine Kraft mehr für die Tränen hatten, hielten wir einander einfach nur anschweigend fest. Die Wärme, die wir trotz des Regens spürten, war fast schon unwirklich, ich fragte mich, ob sie sie ebenfalls spürte. "Sag mal, Taiyo, findest du wirklich, dass es in Ordnung ist, wenn nicht alle meine Gefühle dieselben sind, wie die der anderen? Wenn ich als Einzige nichts fühle und absolut herzlos bin? Ich hoffe, du weißt, dass ich nicht annähernd so süß und lieb bin, wie ich aussehe.", flüstert sie und der regen verebbt etwas. "Ist es nicht.", lautet meine Antwort. Doch ehe sie das falsch verstehen könnte, füge ich noch hinzu: "Weil ich weiß, dass du nicht herzlos bist. Selbst, wenn du etwas nicht sofort verstehen solltest, was den Tod oder Mitgefühl angeht, selbst wenn, weiß ich, dass du absolut nicht kalt bist. Tief im Innern wirst du die Menschen um dich herum immer gernhaben, egal, wie es von außen hin aussieht, das weiß ich einfach.", "Meinst du das ernst?", geht sie sicher. "So ernst wie die Tatsache, dass Madhouse zu No Game No Life Staffel zwei immer noch nichts gesagt hat.", "Himmel, ist das ernst.", "Und wie.", "So ernst wie meine Gefühle für dich.", "W-wie jetzt?", "Hanako Hanazwa, willst du mich heiraten?", es wurde stiller, ich hörte nichts als den Regen plätschern. Hanakos Atem verschnellerte sich und ich befürchtete das Schlimmste, doch dann hörte ich sie nach Luft holen, als die Spannung stieg. "Ja. Ja. Ja, ich will.", hauchte sie. "Nice.", murmelte ich, um zu überspielen wie übertrieben ich gerade das Bedürfnis verspürte, einfach die ganze Welt zu umarmen und vollends auszurasten. Wir standen eine ganze Weile dort und freuten uns leise. Keiner vermochte, etwas zu sagen oder den intimen Kontakt zum anderen zu beenden. Bis mein Handy schon wieder das Opening von Pretty Cure Stars dudelte und Hide mich anrief. Er wollte wissen, wo ich plötzlich war, nachdem ich mich drei Tage lang in meiner Wohnung habe verbarrikadiert und keine Anrufe habe durchgehen lassen. Heute hatte ich es ausnahmsweise angenommen, wenn irgendwer, in dem Fall er, anrief. Hide wollte feiern gehen, bei ihm zu Hause, ich weiß, wie das war, wenn man als Student mal nicht auf dem neusten Stand ist. Man bemerkt die Partys erst, wenn sie kurz davor sind, zu steigen. Hanako und ich liefen einfach nur etwas peinlich berührt, von dieser rüden Unterbrechung zu Hides Wohnung und sagten nichts mehr. Ich würde Hide nachher alle Einzelheiten erzählen. Und Elvis, wenn der endlich mal aufwachen würde. Eine Woche später, als meine Eltern sich dann frisch vermählt hatten, konnten Hanako und ich es wohl beide kaum erwarten, selbst mal am Altar zu stehen und uns das Jawort zu geben. Dieser Tag würde nun eher kommen, als ich dachte. Und dieser Gedanke, es endlich getan zu haben, der machte mich unendlich stolz, aber auch unendlich traurig, dass meine Tante weder meine Hochzeit noch die von Elvis jemals live miterleben würde. Wer weiß, wie gut die Streamingdienste im Jenseits sind, vielleicht gibt es dort auch gar keinen Empfang. Ich glaube, nach diesem Flashback bin ich endlich eingeschlafen. "Gute Nacht, Tante Akane.", flüstere ich, ehe ich endgültig wegdämmere. Kapitel 122: Vol. 5 - Die Frau fürs Leben und dem danach -------------------------------------------------------- Elvis: Es braucht einen Moment, bis ich wieder begreife, wieso ich hier angekabelt, schweißgebadet und verwirrt in einem Krankenbett liege. Ich lag drei Wochen im Koma, habe ein Bein verloren und nachdem meine verschollene Tante tiefer in mir drin war als ich es jemals in meiner Freundin, bezweifle ich, dass die Organe in meinem Bauch je wieder so funktionieren werden, wie sie sollten. Und wieder einmal spüre ich all das. Die Schmerzmittel haben leider nicht die Fähigkeit, meine Gedanken und den daraus resultierenden dumpfen Schmerz abzustellen. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich habe ständig an Chika denken müssen. Ob sie mich ebenfalls so sehen musste? Ob sie ebenfalls mit ansehen musste, wie ich tot ins Nichts starre? Ich bin gestorben. Und dass ich aufgewacht bin ist ein Verstoß gegen jegliche Logik. Drei Wochen also, nicht wissend, ob ich dieses Mal auch am Leben bleibe, hat man mich beobachtet. Drei Wochen sind eine lange Zeit. Der Arzt meinte, die Stelle, an der mein Bein fehlt, wird bestimmt gut heilen. Was die Stelle in der Magengegend betrifft, sagt er, dass ich mich darauf einstellen sollte, wegen der geschädigten Organe Nebenwirkungen davonzutragen. Was er damit meint, weiß ich allerdings nicht. Was wohl passiert, wenn ich versuche, aufzustehen und nach Chika zu suchen? Ob dann wieder alles voller Blut ist? Ist sie es wert, sich bei diesem Versuch zu verletzen und einen Tag länger hier zu sein oder sogar zu sterben? Aber so was von! Ich riskiere es. Als ich mich mit den Armen von hinten abstütze, durchfährt mich ein stechender Schmerz im Magen. Absturz. Es tut so unbegreiflich weh! Sofort zucke ich zusammen und lande zurück in derselben Position, wimmernd und schluchzend, weil es so wehtut. Es tut so verflucht weh! Die Panik rennt wieder durch meine Blutbahnen und ich höre mich verzweifelt nach Luft schnappen. Es tut so wahnsinnig weh!  Keuchend halte ich meine Hand gegen die Stelle und die Tränen verbinden sich mit dem Bettlaken. Es tut so herzzerreißend weh! Ich greife so fest ins Bettlaken, dass meine Handflächen bluten. Zu etwas anderem bin ich nicht imstande.   Ich kann nicht mehr! Ich habe mir selbst zuzuschreiben, dass ich nicht einmal aufrecht sitzen und ihr sagen kann, was ich ihr sagen muss! Was ich verdammt nochmal für sie empfinde! Völlig egal, ob tot oder lebendig, wenn ich nicht wenigstens ein letztes Mal nach ihr suche, wie lebenswert ist mein Dasein dann noch? Mir ist klar, dass es dumm ist, wegen einer Jugendliebe seinen Lebenswillen anzuzweifeln, aber sei du mal ein siebzehnjähriger ehemaliger Amnesie-Patient, der tödlich verwundet in einem Bett daran denken muss, dass das Mädchen, das er liebt, eventuell nicht mehr lebt und die einzige Person, die die unheilbare Trauer in seinem Inneren heilen kann, niemand Geringeres ist als dieser siebzehnjährige ehemalige Amnesie-Patient selbst! Ich bin immer noch ein Teenager, zu heulen und mein Leben zu hassen liegt in meiner DNS!   Gegen meinen Willen gebe ich also meinen Instinkten nach und lasse den aufkommenden Heulkrampf, der aus meiner tiefgreifenden Verzweiflung resultiert, über mich ergehen. Der einbeinige Kerl liegt weinend im Bett, weil die Schmerzen zu stark sind, als dass er sich aufmachen könnte, um nach Mädchen zu sehen, das er liebt. Wie bescheuert ist das denn?   "W-wieso... wieso... wieso habe ich es so weit kommen lassen? Warum liege ich hier? Wieso stehen immer und immer wieder so viele Dinge zwischen ihr und mir? Ich... ich will doch nur, dass sie nicht mehr weint! Ich will sie so glücklich machen, wie sie es zu sein verdient! Ich möchte sagen, dass ich es versucht habe. Dass ich wieder Hoffnungen hatte, obwohl alles dagegen sprach. Ich wollte sagen, dass ich nicht mehr der bin, der ich war, bevor ich sie nochmal kennengelernt habe! Dass die Sorge um einen anderen Menschen nichts ist, was man für sich selbst tut, sondern, weil es das ist, was einen Menschen zu einen Menschen macht. Ich möchte, dass sie das sieht, also... bitte, irgendwer... lass mich diesen Schmerz zumindest ein Stück weit überwinden!", schreie ich nahezu, schlinge noch enger die Arme um mich und hoffe, dass niemand hört, wie erbärmlich Elvis Kyokei gerade am Flennen ist.   Ohne, dass ich mir erklären kann, wieso, fällt mir das Zitat von diesem einen Arzt ein, der gestern bei mir war und sich um mich gekümmert hat.   "Du wirst mir in deinem jetzigen Zustand vermutlich nicht glauben, aber wenn all das an dir verheilt ist und du eine Prothese trägst, wie die Narbe davon, weißt du, wie du dann aussiehst? Wie ein richtig krasser Kerl! Einer, der echt was überstanden hat! Total wild! Als Arzt sollte ich sowas vielleicht nicht sagen, aber darauf stehen die Frauen doch wie verrückt, Kleiner!".   Gestern war ich wegen diesem Kommentar echt böse auf diesen Kerl. Ich meine, wer ist er, dass er alle Frauen und meine Freundin gleich mit, unter einen Kamm scheren kann? Wer sagt, dass Chika so einen Kriegsgefangenen-Look mag? Aber, und das muss ich dem Kerl leider lassen, Chika ist, trotz dass er "die Frauen", also alle meinte, etwas Besonderes. Wenn ich Glück habe, dann ist dieser Kink in Chikas Augen vielleicht genau das, was sie daran erinnert, was wir alles durchgemacht haben. Eine bittersüße Erinnerung an den Stress, der in einem so erotisierenden Moment nach einer Belohnung verlangt? Und ist diese "Belohnung" auch dann noch entlohnend, wenn ich keine Ahnung habe, wie man einbeinig vögelt? Was hat dieser Arzt mit mir angestellt?! Ich muss grinsen inmitten dieses Sturms aus meinen Gedanken. Dann lache ich. Davon tut mir zwar der Bauch weh, aber in den Sekunden meines Lebens überflutet mich eine solche Welle feuchtfröhlicher Glückseligkeit, dass es sich fast lohnt, dafür ein wenig zu leiden. Ich weiß nicht genau, woher diese gute Laune kommt, aber es ist mir egal.   "Ich... ich kann nicht mehr! Herrschaft noch mal, ich bin doch endblöd!", lache ich und mein Atem beruhigt sich etwas.   Da ich wieder in der Realität angekommen bin, muss ich mich fragen, wie ich diesen lebensmüden Plan in die Tat umsetzen will. Vorsichtig schiebe ich mein intaktes Bein Richtung Bettkante und mein Blick fällt auf die Krücken, die da an der Wand gelehnt sind. Und Schmerztabletten. Ich strecke meinen Arm nach ihnen aus, mit all der Kraft, die in mir steckt, öffne die Packung und schlucke drei von ihnen, für jede grauenvolle Woche, die ich Chika habe warten lassen. Todesmutig springe ich aus dem Bett. Zum Glück konnte ich an der Wand landen. Sonst wäre ich eventuell auf den Boden, auf meinem Beinstummel gelandet und ich will nicht wissen, mit wie viel Dezibel ich mir damit mein Hirn und das der anderen Patienten so früh am Morgen weggeballert hätte. Ich greife nach den Krücken. Noch spüre ich die Bauchwunde nicht aufgehen oder das Blut in meine Hose fließen. Ich habe es aus dem Bett geschafft. Es tut nicht mehr "Fick die Henne, ich verrecke!"-weh, sondern eher so "Rosen sind rot, das Leben ist ein Arschloch, ich leide zwar, aber hey, ich lebe noch."-weh. Dieser kleine Sieg gehört mir ganz allein. "Hast du das gesehen, Idris? Hast du das gesehen?", reibe ich meinem anderen ich meinen Triumph unter die Nase, wie dieses es all die Zeit mit mir getan hat. Ich bin ja normalerweise kein schadenfreudiger Mensch, aber diese Situation, in der sich das Blatt wendet, weckt den Sadisten in mir. Ich kann meine Hausschlappen gerade nirgends finden, aber dafür fehlt mir die Zeit. Die ist schon vorhin, seit der wahrlichen Tragik einer Bettgeschichte, Flöten gegangen. Dann stoße ich die Tür auf und sehe die gewöhnliche Szene im Flur eines Krankenhauses zur frühen Stunde. Lediglich ein paar Ärzte sind auf den Beinen, laufen durch die Gegend und erledigen ihre Aufgaben. Die andere Hälfte der Menschen hier liegt in den Federn. Ich klettere todesmutig die Treppen hinunter - was ein Akt mit Krücken und einem fehlenden Bein! - und springe mit all meiner Kraft zur Rezension. Als die Frau an der Rezeption mich sieht, weiten sich ihre Augen, ehe ihre Überraschung der Desinteresse Platz macht. Dann mal los. "Hallo, wissen Sie zufällig, wo Chika Failman untergebracht ist? Sie wissen schon, gebräunt, grüne Haare und-", "Bist du nicht Kyokei-kun aus der Notaufnahme? Wieso bist du nicht auf deinem Zimmer und kurierst deine Wunden aus?",unterbricht sie mich harsch. Oh Mann, die scheint ihren Job echt zu hassen. "Nach drei Wochen geht es mir schon wieder viel besser, danke der Nachfrage, aber es ist wirklich dringend! Ich muss sie finden und mich vergewissern, dass es ihr gut geht. Können Sie mir nicht bitte verraten, wo sie steckt?", hake ich nach und die desinteressierte Frau seufzt. Ich kann nicht sagen, woran ich bei ihr bin und ob sie überhaupt willig ist, mir von Nutzen zu sein. Dann sieht sie mich an und starrt mir strengen Gesichts in die Augen. "Dir ist klar, dass dein Verhalten sowohl an Selbstmord als auch an Belästigung grenzt. Nach dem, was dir zugestoßen ist, ist es mit drei Wochen komatöser Bettruhe nicht getan, oder irre ich mich da?", "Also, ich-", "Und was das Mädchen Chika Failman-san betrifft, ich weiß nicht, was genau du von ihr willst, aber auch sie unterliegt der Bettruhe. Selbst wenn auch Failman-san wie du auf die hirnverbrannte Idee kommt, sich in ihrem Zustand dieser zu entziehen, rate ich davon ab, nach ihr zu suchen. Glaubst du wirklich, dass dieses Mädchen wollte, dass du dich für es in Gefahr begibst und so zugerichtet nach ihr schaust, anstatt zu warten, dass du gesund wirst?", das hat gesessen. Diese Worte bohren sich in mein Herz und ich müsste kämpfen, um nicht über sie nachzudenken. Leider sind meine Kraftreserven bereits dieser Aktion versprochen, sodass ich nicht anders kann. Was um alles in der Welt versuche ich eigentlich? Und überhaupt, wäre es faktisch nicht vernünftiger, dass sie zu mir käme, anstatt ich zu ihr, da sie meines Wissens nach noch beide Beine hat? Vielleicht wäre es das. Aber... die Person, die auf die andere zukommen, zu sprechen und sich zu entschuldigen hat, die bist niemand Geringeres als die, welche das hier gerade denkt. "Sie haben recht. Chika wäre ziemlich empört über meine Verantwortungslosigkeit über mich selbst, sie einen Tag nach meinem Koma direkt zu suchen, aber... ich sehe sie viel lieber empört, als totunglücklich darüber, dass ich sie nicht gesucht habe! Ich bin Ihnen dankbar, dass sie sich um unsere Gesundheit sorgen, aber... diesem Mädchen, wenn auch zum letzten Mal, als ihren Freund zu begegnen, das ist allein meine Sache.", Meine Entschlossenheit scheint sie ziemlich zu beeindrucken, sodass ich meine Chance wittere. Was zum Fick habe ich da nur gerade von mir gegeben? Für wen halte ich mich, dass ich das Recht habe, mich so wichtig zu machen? "Von mir aus, sie ist im zweiten Stock in Raum sechzehn.", knickt sie ein und gibt Auskunft. "Und nimm den Aufzug, wenn du schon dein Leben riskiert hast, die Treppe zu benutzen.", ergänzt sie noch mit einem Blick in die entsprechende Richtung. Ehrenfrau. Ich küsse ihre Augen, telepathisch, versteht sich.   "Vielen Dank, Ta-...", den Rest der geburtsbereiten Worte verbanne ich in letzter Sekunde in meinen Kehlkopf zurück, damit keiner von ihnen das Tageslicht erblickt. "Tut mir leid, ich gehe schon.", und weg bin ich. Tante. Ich bin sicher, dass, wenn ich dieses Wort ausgebrochen, ich augenblicklich zu weinen angefangen hätte. Tante Akane. Bei ihrem Tod war ich so überwältigt, dass ich anstelle von Tränen in meinem Gesicht nichts als erdrückende Leere in meinem Herzen verspürt habe. Trauer. Die Frau, die ich mit diesem Bären verbinde. Die Frau, die meine Lehrerin war. Die Frau, die bezüglich ihrer Haarfarbe billig log. Die Frau, die insgeheim die Zwillingsschwester meines toten Vaters war. Die Frau, die mir neben Haarfarbe und Vater auch die Affäre mit meinem besten Freund verschwieg. Diese Frauen, völlig egal, wie zusammenhangslos sie einzeln zueinander sind, alle zusammen ergeben sie meine geliebte Tante.  Nie wieder werde ich sie lachen hören. Nie wieder wird sie mir etwas beibringen. Nie wieder wird sie mich umarmen. Nie wieder werden wir in diesem Leben einander sehen. Weiterzuleben bin ich nicht länger nur denen schuldig, die sich wie ich im Leben befinden. Ebenso denen, die den nächsten Morgen nicht überlebt haben.   "Chika!", raune ich atemlos durch den Raum, als ich die Tür aufreiße.   Ohne darauf zu warten, hereingebeten zu werden. Sie hätte noch schlafen können, oder sich umziehen können, sie hätte nackt sein können. Auch, wenn ich letzteres vielleicht gar nicht so schlimm fände. Zumindest wäre ich über jegliche Entscheidung des Universums für eine dieser Situationen glücklich. Denn das Zimmer ist leer. Da ist nichts.  Nur die generische Einrichtung eines Krankenzimmers, das Ticken der Uhr darin und eine Atmosphäre, die einem das Gefühl gibt, zu spät zu kommen. Ob es sich um Sekunden, Minuten, Stunden oder Tage handelt, die man nun zu spät ist, will ich, um ehrlich zu sein, überhaupt nicht wissen. Ich bin allein in ihrem Zimmer. Völlig auf mich allein gestellt. Mit keinem anderen, der bei mir ist, außer mir selbst. Wie Kevin McCallister aus Kevin - Allein zu Haus. Wie Shinji Ikari aus Neon Genesis Evangelion. Wie Annne Shirley aus Anne auf Green Gables. Wie der Roboter WALL-E aus, nun ja, WALL-E.   Chika. Sie war hier. Die Betonung liegt auf wahr. Sämtlicher Mut entweicht mir. Unabhängig davon, ob sie weg ist, weil ihr Körper ihre Seele entlassen hat oder sie wie damals im Winter davongelaufen ist, das mir so oder so einfach nur im Herzen weh. Ist sie meinetwegen davongelaufen? Wurde mir verschwiegen, dass sie eigentlich schon längst nicht mehr unter uns weilt? Den Kopf hängen lassend entfährt mir ein trauriger Seufzer. Ich bin untröstlich. Ich denke an Chika und ich bin wahrlich untröstlich. Sie war wundervoll. Sie war wunderschön. Sie, Chika Failman, war ein einziges Wunder. Sie hat geschafft, eine Legende zu sein, die niemals stirbt. Zumindest nicht in meinem Herzen. Nie wieder wird sie darin sterben. Nie werden meine Gefühle für sie darin sterben.   Ich denke an sie.  Chika, wie ich ihr als Kind begegne. Chika, wie sie mir im Traum erscheint. Chika, wie wir uns auf dem Dach begegnen. Chika, wie ich sie an einem schicksalhaften Regentag auffinde. Chika, wie ich sie am selben schicksalhaften Regentag verliere. Chika, wie sie mich an einem anderen schicksalhaften Regentag auffindet. Chika, wie sie mich am selben anderen schicksalhaften Regentag verliert.   Das Dach. Herrschaft nochmal, das Dach. Das Dach. Ein Ort, an dem wir so viel erlebt und gedacht haben. Das Dach. Über dem Boden und unter den Weiten des Himmels. Das Dach. Die alltägliche Geburtsstätte unseres alltäglichen Gedankenvekehrs. Das Dach. Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?   In meinem Kopf startet ein Countdown für einen Geistesblitz. Drei... Zwei... Eins... Das ist es!   Wenn ich nicht zumindest versuche, sie auf dem Dach des Krankenhauses zu finden oder zu spüren, dann ist das doch wohl die mit Abstand größte Verschwendung einer möglichen Veränderung in der Geschichte des... in der Geschichte von uns zweien. Sie hat so etwas Klischeehaftes immer geliebt.  Ich muss da hoch, wenn auch nur, um an sie zu denken. Sie ist einer dieser Menschen, die es lieben, in die Sterne oder den Sonnenuntergang zu schauen, bis ihnen der Nacken wehtut. Auch, wenn zu dieser Zeit weder das eine noch das andere möglich ist. Ich muss trotzdem da hoch, mindestens, um ihr später vielleicht zu erzählen, dass ich dort episch rumgestanden bin. Episch rumgestanden bin für sie. Ich könnte so mit einer Wahrscheinlichkeit, die gegen Null geht, herausfinden, ob sie noch lebt. Und so blöd sich das anhört, ich habe das riesige Bedürfnis, es gerade deswegen zu tun. Sie ist erst tot, wenn ich es erfahre. Hastig stampfe ich in den Flur zurück. Bitte sei am Leben, Chika! Die letzte Zeit, die wir zusammen hatten, war ihr Leben in Gefahr. Dass sie vielleicht noch nicht gehen muss, erfüllt mich mit so großer Freude, sodass ich neue Kraft schöpfe. Sie lebt. Anders hätte mir die Frau an der Rezeption sicher Bescheid gegeben. Mein Glaube an ihr Wohlergehen verhält sich wie die Bögen meiner Herzfrequenz. Hoch und runter, hoch und runter. Wie das alberne Spiel mit Gänseblümchen. "Sie liebt mich, sie liebt mich nicht." In der einen Sekunde lebt sie, in der anderen ist sie tot.   Sie lebt. Vielleicht. Sie wartet auf mich. Vielleicht. Auf mich, der sie verletzt hat. Vielleicht. Trotz allem, wartet sie auf mich. Vielleicht. Und trotz all der schlimmen Dinge, die ich gesagt habe, liebe ich sie noch. So was von nicht nur vielleicht.  Ich liebe sie wie verrückt. Und ich glaube, ich habe endlich begriffen, warum.   Also renne ich so gut ich kann weiter.    Jeder ist sich selbst der Erzähler. Auch Chika ist für sich selbst der Hauptcharakter. Wir alle sind das. Jeder von uns hat seine Geschichte. Und das hier ist meine, denke ich, als ich zu ungeduldig bin, um auf den Aufzug zu warten und die Treppen so schnell es mir möglich ist, erklimme. Chika. Chika ist es. Chika, für dich renne ich, auch wenn ich es nicht kann. Ich... ich kämpfe! Ich will es immer und immer wieder mit der ganzen Welt aufnehmen und dich retten kommen, wenn du mich brauchst! Ich habe es verstanden. Du sollst meinetwegen nicht mehr allein weinen müssen. Nie wieder. Ich will nicht, dass sie weint. Ich will nicht, dass sie den Glauben an das Leben verliert, nur weil ich sie schlecht behandelt habe. Ich werde mich erneut in sie verlieben und der beste Freund sein, den sie sich ausmalen kann. Wenn sie es mir nur erlaubt. Ich liebe sie. Ich will, dass sie niemals wieder einsam ist, ich... ich werde sie da oben finden und ihr erneut meine unsterbliche Liebe gestehen. Auch wenn ich sie schlussendlich woanders finde, dann sage ich es ihr einfach nochmal! Ich weiß, was ich verbockt habe. Und ich weiß, was ich jetzt zu retten habe. Wen ich zu retten habe. Und das ist sie.   Mir egal, wenn das mit uns nie wieder sein kann. Wenn ein anderer Kerl sie mehr verdient hat als mich. Ich werde ihr sagen, was gesagt werden muss, sodass sie weiterlebt, unabhängig der Wunden, die ich ihr zugefügt habe.   "Nur noch ein kleines Stück! Komm schon, Elvis, so wenig drauf hast du auch nicht!", knirsche ich, als ich es endlich in den höchsten aller Stocke geschafft habe.   Mit Leibeskräften schlage ich die Tür auf und versuche gerade noch so, nicht einzuknicken. Ich sehe niemanden. Weit und breit keine Spur von ihr. Chika ist nicht hier. Wo um alles in der Welt ist sie bloß? Versteckt sie sich? Will sie vielleicht aus dem toten Winkel erscheinen und erwartet unerwartet merken, dass sie mir wichtig ist? Denn dieser Platz ist leer. Nur ich und ein paar Bänke und Bäume. Und so erscheint sie, wie ich es inzwischen erwartet unerwartet von ihr kenne, aus dem toten Winkel hier oben auf dem Dach. Sie hat mich anscheinend nicht bemerkt. Oder sie tut nur so. Und was davon auch immer es ist, sie auf mich warten zu sehen, macht mich glücklicher als alles andere. "Ob er wohl kommt? Ob er wach ist? Klar doch, Onii-sama, Setsuna-sama und Shun-sama waren hier gestern hier. Auch Kaishi und Shuichiro waren das. Sogar Asahina hat ihn besucht. Es fehlt nur noch Chika. Ob er ihr verzeiht, nachdem sie so zickig zu ihm war? Ob er mich immer noch liebt? Ich hoffe es. Ich hoffe das ganz fest. Ellie war es, der mir beigebracht hat, dass man manchmal Dinge tun muss, die einem widerstreben. Gehört auch das dazu? Gehört auch Chika zu den Dingen, um die er sich kümmern muss, selbst wenn er es nicht möchte? Ellie, sag... wurde ich Teil der Routine, zu der Pflicht, die zu dem gehört, was du nun einmal für richtig hälst? Wie steht dein Herz dazu? Hat die Routine namens Chika bereits eine graue Farbe angenommen? Ist sie ausgeluscht? Wenn ich in beiden Szenarien gesagt hätte, was ich fühle für dich, hätte ich anstatt meine Tränen zu trocknen, deine Hand ergriffen... wärst du mir zuliebe geblieben? Wärst du stärker als jene andere Seite von dir und wärst der Ellie, den ich so liebe? Wärst du auch jetzt, als mein Freund, Retter und Seelenverwandter willig, an meiner Seite zu bleiben?.", sie läuft immer weiter an das abgesperrte Geländer, um über die Stadt zu sehen, über die Stadt, in der wir zwei wieder vereint wurden. Shizukazemachi, die Stadt, in der Frieden und Wind einander schmeicheln. Das ist der Ort, an dem wir hingehören. Sie hält vor der Absperrung inne und verschränkt die Finger in den Drahtlücken. Sie scheint mich immer noch nicht bemerkt zu haben und ich bewege mich nicht. Nach all der Anstrengung und der Mühen, die ich nicht gescheut habe, um hier zu sein, kriege ich noch nicht einmal mehr die Zähne auseinander, um ihr zu sagen, dass es mir leidtut, dass ich sie liebe und dass ich sie nie wieder so verletzen will. "Das... das wäre ich! Das bin ich auch jetzt! Das werde ich immer, wenn du mich bittest!", rufe ich, als der Mut zu lange auf sich warten lässt. Ich habe es einfach rausgeschrien. Sie dreht sich nicht um. Aber ich kann nir vorstellen, wie ihr Gesicht gerade aussieht. Tränen rennen ihr bestimmt die Wangen hinunter und ihre Augen haben wieder diesen Glanz, den ich an ihr so liebe. Der Glanz ihrer goldenen Augen. Wie in dem Lied. Unser LIVE-LIFE mit dir. Ganz Recht, mit so einer, gleich das eigene Leben einer verrückten Liveübertragung aus dem Fernsehen. Über Punkrock, Musik-Anime und ganz besonders Legenden, die einfach nicht sterben. "Du hast gesagt, dass du mich liebst, dass du in mir deinen Lebenssinn gefunden hast! Chika, ich... ich will, dass du ihn nicht an einer Person wie mir festmachst! Du wirst sonst furchtbar traurig und leer sein, wenn du diese Person verlierst! Ob ich noch dein Freund bin oder nicht ändert nichts an der Tatsache, dass ich sterblich bin! Das ist eine Tatsache, die wir nicht ändern können! Selbst, wenn ich nicht länger das Anrecht habe, an deiner Seite zu sein, ich... Chika, ich will das du glücklich wirst! Ich möchte, dass du niemals vergisst, wofür es sich zu leben lohnt. Dass es toll ist, zu leben, zur Schule zu gehen und eine Familie zu haben, die dich liebt! Denn, lass dir gesagt sein, auch wenn du dich einsam fühlen solltest, selbst, wenn du mir nicht verzeihen kannst, Chika, für mich bist du inzwischen so etwas wie meine Familie. Und bestimmt auch für Hanako, Taiyo, meine Eltern und alle anderen, die wir kennen! Deshalb, sag so etwas bitte nicht. Auch, wenn ich gehe, auch wenn du gehen solltest, ich will dir bloß sagen, dass ich von jetzt an... dass ich von jetzt an lebe, ohne es zu bereuen! Ich habe es schon einmal versucht, aber jetzt lebe ich wirklich so, wie ich weiß, dass es lebenswert ist. Du hast mir das beigebracht. Ich... ich liebe dich, Chika. Es tut mir leid, dass es nun zu spät ist. Ich wünschte, ich könnte die zeit noch mal zurückdrehen und dir ein besserer Freund sein. Aber es geht nicht. Selbst wenn du nicht mehr mit mir zusammen sein willst, wozu du jedes Recht hast, tue ich so, als wäre das okay für mich. Ich tue so, als würde ich dir einen besseren Freund wünschen, auch wenn ich mir in Wahrheit wünsche, dass ich derjenige sein werde, zu dem du angekrochen kommst, weil es mit sonst keinem klappt, wobei ich ebenfalls so tue als ob mich das nicht freuen würde. Ich bin froh, deine erste Liebe gewesen zu sein. Ich bin froh, dass du meine erste Liebe warst. Obgleich wir uns in diesem Leben noch begegnen oder nicht, ich danke dir. Ich lerne weiterhin, dir und der Menschheit nichts mehr vorzulügen. Das verspreche ich dir.", am Ende verzagt meine Stimme fast. Jetzt habe ich alles gesagt. Ganz recht, ich tue so, als ob es mich nicht stören würde, dass Chika diesen Kink eventuell niemals sehen wird, weil es zu so einer Situation nicht kommen kann. Wenn das das Ende meiner ersten Liebe ist, dann weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen will. Ich meine, was könnte jetzt noch mit uns passieren? Und hier kommt es, die Zahl der Möglichkeiten ist einfach viel zu groß. Ich komme mir vor wie in einer von Taiyos geliebten Ren'ai-Adventures, bei denen man Angst hat, eventuell nicht mit dem Mädchen zu enden. Ich stehe eventuell vor dem frustrierendsten Bad Ending, das ich je gesehen habe. Bei dem Gedanken wird mir ganz schlecht. In was für Situationen finde ich mich nur immer wieder? Quälend langsam dreht sich das Main Girl meiner persönlichen Visual Novel um, jede Sekunde zwingt das Universum ein Stückchen mehr, willkürlich auf Bad- oder Happy Ending zu drücken. Die Strickjacke, die cool auf ihren Schultern liegt, flattert dramatisch im Wind. Chikas Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten. Ihre Augen sind feucht und ihr Blick undurchdringlich. Irgendwie ist er so nichts aussagend, als sie näherkommt, näher an mich ran. Wenn sie mich erneut schlägt oder ohrfeigt, dann habe ich das verdient. Soll sie machen, ich stehe da drüber. Ich erlaube es ihr. Vielleicht wünsche ich es mir, so ein ganz kleines bisschen, weil ich weiß, dass ich es verdient habe. Dass es richtig ist. Ich habe schon immer das getan, was richtig ist. Und auch heute erliege ich dieser Pflicht. Hoffentlich hat sie das verstanden. Sie kommt näher und dann noch näher, dass es anfängt, komisch zu werden. Ich realisiere erst jetzt, als sich unsere Lippen nach langer einer gefühlten Ewigkeit vereinen, was sie vorgehabt hat. Als sie mich küsst, fühlt es sich an, als hätte sie meiner trostlosen, grauen Welt wieder ihre Farben zurückgegeben. Ich denke über ihre Worte von vorhin nach. Es stimmt, dass sie zu meinem Leben gehört, aber sie ist es erst, die diese graue Masse einer alltäglichen Routine doch erst so farbenfroh macht. Ihr Geschmack ist so süß, ich habe fast vergessen, wie sich Chikas Lippen auf den meinen anfühlen. Diese Berührung sagt irgendwie nichts, aber gleichzeitig spricht sie Bände. 'Ich verzeihe dir, Ellie. Alles. Du warst das Allerletzte und doch habe ich dich unsäglich lieb.', meine ich fast schon telepathisch von ihr zu hören, aber vielleicht bilde ich es mir auch ein. Mit Krücken in den Achseln zu knutschen tut nach einiger Zeit weh, deshalb muss ich mich von ihr lösen, wir sehen einander einfach nur an. "Ich hatte schon Angst, du würdest niemals wiederkommen. Ich dachte, Ellie würde mich vielleicht nicht mehr mögen.", flüstert sie leicht erstickt. "Dummkopf, natürlich mag ich dich noch. Ich bin es, der das denken müsste.", widerspreche ich und streife ihre Wange. Wann haben wir uns das letzte Mal berührt? Weihnachten? Es ist fast Februar vorbei. Eine viel zu lange Zeitspanne. "Du hast mich gefunden, Ellie. Ursprünglich wollte ich ja zu dir kommen und hatte vor, diesen Zettel wegzuschmeißen. Aber irgendwie habe ich mich geniert, herzukommen, sodass ich immer wieder hier hoch bin, um aus dem Himmel direkt Kraft zuu tanken. Irgendwie wollte ich wohl, dass du es siehst, auch wenn das... echt verantwortungslos ist, dich so herkommen zu lassen. Bist du sauer auf mich?", sie schaut ganz schuldbewusst, senkt den Blick und auch ihre Antenne macht eine entschuldigende Verbeugung. "Ach, das... ist schon okay. Der Wille zählt ja... und so. Ich war es ja, der sich entschuldigen musste, also... alles gut. Außerdem sind wir ja jetzt hier, und... du musst wissen, ich... habe ziemlich viel gelernt, als ich bewusstlos war!", dieser blöde Mist einer beiläufigen Bemerkung heißt, ich habe den Kern unserer Beziehung ergründet, die damit begann, dass du mir zurückgeben wolltest, was mir gehört. "I-ist es das, was ich denke, dass es ist? Du weißt schon... das?", sie scheint es zu schnallen. "Jep.", bestätige ich."Du kannst dich wieder an jenen Tag und die Ereignisse erinnern? Vielleicht sogar... An deine Kindheit? An dein ganzes... Leben?", flüstert sie fast klanglos. Mir kommen die Tränen. Jetzt wo sie dem noch mehr Ausdruck verliehen hat, kann ich die Tränen nicht zurückhalten. So vieles davon tut so weh. Das tut es immer noch. Aber ich würde diese Erinnerungen für nichts auf der Welt eintauschen. Ich nicke erneut, als eine Träne sich anbahnt und in meinem Pflaster verschwindet. Sie lächelt und auch ihr kommen die Tränen. "Ich bin so froh, Ellie. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie.", haucht sie. Und wir küssen uns noch einmal, kurz und flüchtig. Und dann starren wir uns wieder einfach nur blöd an. Ihr Blick fällt auf mein Bein, das nicht da ist. Wieder daran zu denken ist wohl schwer für uns beide. "Was ist nur passiert? Ellie, ist das passiert, nachdem du davongelaufen bist?", fragt sie. Da sie die Nachrichten wohl mitbekommen hat, brauche ich die Explosion am Ende und das Kurodate-Versteck wohl nicht zu erwähnen. Erst bin ich bewusstlos, nur um dann aufzuwachen und den Mörder meines Vaters zu bekämpfen - im Vergleich zu der wilden Nacht ist der Rest meines Lebens ja nahezu sterbenslangweilig. Aber so was sagt man ja nicht, wenn man überlebt. Das ist gemein denen gegenüber, die diesen Rest des Lebens noch mit einem verbringen. "Sei bitte nicht traurig, ja? Das wird schon wieder. Ich bin natürlich geschockt, aber... wir schaffen das!", beschwichtige ich sie. Sie lächelt matt. "Hey, Chika, also, ich habe übrigens deinen Vater getroffen. Ich richte dir von ihm aus, dass er kein absolutes Arschloch ist. Der Kerl ist zwar echt komisch, aber es tut ihm leid, sagt er, ich... ich wollte es nur gesagt haben.", fällt mir noch ein. Sie sieht Richtung Himmel. "Du bist wirklich schräg, Dad. Jetzt werden du und Ellie niemals anstoßen. Aber... danke. Danke, dass du so des Wahnsinns bist, dass du... einer fremden Göre wie mir... dein Leben geschenkt hast. Danke.", flüstert sie nach oben und wieder glänzen Tränen in ihren Augenwinkeln. Ich glaube, ich habe es verstanden. Da war etwas mit ihrem Herzen. Ihr Vater ist nicht mehr da. Failman-san hat ihr also tatsächlich sein Herz überlassen. Ich blicke ebenfalls gen Blau und sage: "Der Rotwein war scheußlich. Aber hab Dank, lieber Failman-san. Dank ihnen werde ich niemals aufgeben!", wir sehen uns an uns sagen wieder nichts. "Ich will leben, Ellie. Für dich und für Dad. Ich lasse sein Opfer nicht umsonst sein. Ich werde eine Tochter, auf die er von oben stolz sein kann, das ist mein Traum. Ich bin wieder gesunden Herzens. Und ich glaube, die andere Krankheit wird ebenfalls nicht wieder ausbrechen. Das weiß ich zwar nicht mit Sicherheit, aber... ich bin froh. Ich bin froh... am Leben sein zu dürfen.", auch Chika scheint sich nach der Geschichte weiterentwickelt zu haben. Wie wir alle, schätze ich. Wir alle werden langsam erwachsen. Auch ich. Und auch sie. Jeder tut sein Bestes, in der Hoffnung, am Ende sagen zu können 'Ich habe ein großartiges Leben gehabt.'. In meiner Vorstellung von Leben egal, wie lang es sich erstreckt, ist Chika an meiner Seite, sei es der Schulabschluss, das Altersheim oder mein Sterbebett. Sie ist immer mit dabei. Und auch fühle das Gleiche. Ich umarme sie. Auch das habe ich ziemlich lange nicht mehr gemacht. "Am Leben zu sein... darüber bin ich auch froh.", und ehe wir fertig sind, entlassen werden oder die Abschlusszeremonie beginnt, sind wir hier, nah beieinander wie Sardinen in der Büchse. "Ich liebe dich, Ellie.", höre ich sie flüstern, als wir uns ein wenig entfernen, um einander anzusehen. "Ich liebe dich auch, Chika.", lautet meine Antwort wie sie immer lauten wird. Unsere Lippen geben sich wieder ein High Five - High Two? - und unsere Arme schlingen sich wieder ujm die Taille des jeweils anderen. Beinahe verschmelzen wir im anderen, ohne Aussicht auf ein Ende. Die Umgebung um uns vergessen wir fast komplett. Hier sind nur noch wir. Ich fühle mich wieder eins mit ihr und sie mit mir. Als wenn wir niemals getrennt gewesen wären. Kapitel 123: Vol. 5 - Rückkehr einer Legende, die niemals stirbt ---------------------------------------------------------------- Akira: Heute ist die Abschlusszeremonie. Wir haben dieses Schuljahr wirklich überlebt. Ich bin tatsächlich weiter am Leben. Krass. Ich weiß nicht, wie die Zukunft aussieht. Ich habe ehrlich gesagt ein wenig Angst vor ihr, weil so vieles in der Vergangenheit zerbrochen wurde und sich nicht mehr wiederherstellen lässt. Meine Mutter liegt unter der Erde begraben und mit meinem Vater konnte ich auch nicht über mehr sprechen als über das Ende, welches in meinen Augen der einzig wahre Weg ist. Das von mir geschriebene Ende, bei dem alle Beteiligten glücklich sein werden, auch wenn manche von ihnen nicht mehr da sind. Akane-san ist unwideruflich tot. Ich werde sie nie wieder sehen. Nicht in diesem Leben. Ich denke immer noch an sie. Ich werde immer an sie denken. Sie war eine wundervolle Frau. Ich denke, ein Teil von mir hat sie irgendwo wirklich geliebt, wenn auch auf andere Weise. Auf meine Weise. Ich habe sie so sehr geliebt. Ich bin mit Freuden in ihrer Liebe ertrunken. Ich ließ mich davon einlullen und ich war... glücklich. Es gab Hoffnung für mich und die setzte ich auf sie. Auf das Leben in ihrem Bauch, von dem ich viel zu spät erfahren habe. Verdammt, ich werde niemals drüber hinwegkommen. Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, wie es wäre, wäre ich in jener Nacht stark genug gewesen, um sie zu retten. Auch wenn ich es versuche, es geht nicht. Es tut so weh an sie zu denken. Es tut so weh, daran zu denken, sie verloren zu haben. Sie und Kind, das wir beinahe zusammen gehabt hätten. Mein eigenes Fleisch und Blut. Das ist ein Schmerz, den ich mit niemandem teilen kann. Niemand würde mich verstehen, wenn ich sagen würde, wie schrecklich ich mich dabei fühle, einen verfickten Teil meiner Selbst verloren zu haben. Und obwohl es so wehtut, denke ich weiter an sie und lasse es einfach nicht ruhen. Lasse es nicht gut sein. Trauere weiter um sie. Um ihr Lächeln.  Um ihre Freundlichkeit. Um ihre Tollpatschigkeit. Um den schwarzen Haaransatz inmitten der rot gefärbten Mähne. Um das Violett ihrer Augen. Um Ihre Stimme. Um Ihre Schwäche für Romanzen. Niemals werde ich irgendwas dergleichen vergessen können. Niemals werde ich Akane-san vergessen können.  Ich werde Akane-san nie wieder in ihrer kleinen Wohnung antreffen können und trotzdem sind die Erinnerungen an sie so allgegenwärtig.   "Sei nicht traurig, weil es vorbei ist. Sei froh, dass es passiert ist.", wer das gesagt hat, weiß ich nicht mehr, aber das ist nicht der Punkt.   Ich bin traurig, weil es vorbei ist. So sehr, dass ich keine Ahnung habe, ob es besser wäre, wenn das alles nie passiert wäre oder ob es gut so ist, dass alles so gekommen ist. Je mehr man liebt, desto schlimmer ist es, wenn es vorbei ist. Man fragt sich, ob das alles es am Ende überhaupt wert war. Man wiegt das Schöne und das Schmerzhafte auf einer Waage ab, die einem auch keine hilfreiche Antwort geben kann. Liebe ist Schmerz, Schmerz ist Liebe und egal wie wenig Sinn das auf den ersten Blick ergibt, davon bin ich seltsam stark überzeugt. Zu lieben heißt, auch mal zu leiden, zu leiden heißt, dass man auch lieben kann. Es leidet immer der Teil von einem, der liebt.   Ich habe Akane-san geliebt. Ich habe auch meine leibliche Mutter geliebt. Ich habe, und das am allerheftigsten, Kyocchi geliebt.   Auch, wenn es aussichtslos war, ist und bleiben wird, - nein, gerade deshalb - muss ich diesen Weg gehen. Ich werde ihn noch ein letztes Mal sehen. Ich will ihn noch ein letztes Mal sehen. Ich sehe sie ein letztes Mal, meine große Liebe. Bevor ich für immer von der Bildfläche verschwinde. Bevor ich mich nur daran erinnern kann, wie sich seine seidig schwarzen Haare unter meinen Händen angefühlt haben. 'Du bist ein Idiot, Akira.', hallt sein Lieblingsspruch für mich in meinem Kopf wider.   'Nicht nur irgendeiner.', denke ich mir als Antwort aus. 'Ich bin dein Idiot.'   Ich schmunzle und dabei mein Herz bricht ein weiteres Mal. Reißt noch ein klein wenig mehr ein, so unscheinbar, dass es fast gar nicht passiert. Das geht mir näher als ich zugeben kann. Alter, ich meine, ein verficktes Loch in meiner Brust zu spüren. Doch fast perfekt getimt, spüre ich Sanaes zarte Stimme in meinem Ohr.   "Akira, und du hast auch wirklich alles?", will Sanae wissen. Ich nehme ihre Hand und lächle. Es ist gemein von mir, dass ich fast vergessen habe, dass sie da ist. Dass sie für mich da ist.   "Ich habe mehr als genug." Elvis: Der erste Ort, den ich sehen will, nachdem ich so lange der Schule ferngeblieben bin, ist das Klassenzimmer der 3-6. Nicht nur, weil mir beim Gedanken, diesen Vollärschen von Klassenkameraden über den Weg zu laufen ganz komisch wird. Und nachdem ein Messer, dessen Besitzer jetzt nicht namentlich genannt werden darf - du verdammte Hobelschlunze - meinem Innenleben einen unerwünschten Besuch abgestattet hat, findet mein Magen nichts dergleichen komisch genug, um sich nicht einmal umzudrehen. Mir ist jetzt schon schlecht, dabei ist doch überhaupt keiner in der Nähe. Vielleicht spielt da auch das Wissen mit, dass wir diesen Ort, wenn all das hier vorüber ist, nie wieder betreten werden, ebenfalls in meine Übelkeit mit ein. So schrecklich mein letzter Aufenthalt hier auch gewesen ist, das ist immer noch der Ort, an dem ich drei Jahre meines Lebens verbracht habe. Trotz dessen, dass ich einfach nur Elvis' Leben an seiner Stelle fortgeführt habe, nun ist alles anders. Es fühlt sich anders an. Ich fühle mich anders an. Ich habe meine Erinnerungen zurück und bin viel... reaktiver als vor all dem. Entsprechend empfinde ich etwas Neues. Ein neues Gefühl, welches ich mit diesem Gebäude in Verbindung bringe. Wehmut. Ich bin glücklich, aber auch traurig, hier zu sein und all diesen Reize in diesem Raum ausgesetzt zu sein.   "Ist alles in Ordnung, Ellie? Tut dir irgendwas weh?", möchte Chika wissen, die die ganze Zeit hier war. Sowohl das Jahr über als auch als sie mich bis hierhin begleitet hat.   "Ach, es geht schon. Danke.", sage ich und schenke ihr ein kleines Lächeln, woraufhin sie ebenfalls lächelt.   "Dann lass uns mal aufmachen.", schlage ich vor, doch ehe ich den Türgriff auch nur streife, höre ich schnelle Schritte und ein ebenso schnelles Keuchen. Ich drehe mich um und auf dem Boden liegt die Sportleiche von Barutani.   "B-Barutani-san, was ist denn mit dir passiert?!", quiekt Chika ganz erschrocken und erschrickt noch mehr, als diese ein wenig zu flott wieder auf den Beinen ist und uns scharf ansieht. Doch Schärfe in ihrem Blick durchweicht in dem Moment, in dem sich mein Blick und der ihre flüchtig begegnen.    Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die sie sofort wieder wegzuwischen vermag. "Du bist also wirklich zurückgekehrt, Kyokei-kun.", sagt sie und ihre Stimme klingt fester als erwartet. Ihr Blick ist wieder fest. Du bist stark, Barutani.   "Es tut mir leid, dass ich dich nicht besuchen kam. Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, dir in irgendeiner Weise von Nutzen gewesen zu sein, als man gegen dich war. Da ist so viel, wofür es sich zu entschuldigen lohnt, aber dann bin ich bis Weihnachten nicht fertig. Was ich eigentlich sagen will... Entschuldige. Und danke. Und...", jetzt bricht ihre starke Stimme aber doch und ich weiß nicht, ob ich ihr folgen kann oder nicht. Sie wischt sich erneut Tränen aus dem Gesicht, nur um wieder einen starken Blick aufzusetzen.   "Lebewohl.", sagt sie und kämpft ganz unauffällig erneut mit den Tränen. "Lebe auch du wohl, Failman-san.",   "Dir ebenfalls... Lebwohl.", erwidere ich nach einer kurzen peinlichen Stille. "Lebwohl, Yoshiko Barutani und danke. Fürs Verteidigen.", daraufhin strahlen ihre Augen und ihre Wangen röten sich, ehe sie mit beiden Handflächen in ihr Gesicht klatscht.   Dann lächelt sie und rennt schneller weg als Chika in Episode 1.   "Da werden Erinnerungen wach, nicht wahr?", versuche ich Chika an jenen schicksalhaften Moment zu erinnern.   Erst begreift sie nicht, worauf ich hinauswill, dann schnappt sie nach Luft und sieht mich mit aufgerissenen Augen an.   "Und wie, Ellie. Und wie!", haucht sie und ich spiele mit dem Gedanken, sie daran zu erinnern, dass sie blinzeln soll.   "Wir haben uns das erste Mal geküsst. Noch ein wenig warten und das ist unser Kuss-Jubiläum.", fällt mir auf.   "Dann sind wir nur leider Gottes nicht mehr hier und dürfen auch nicht rein. Irgendwie schade, es nicht so feiern zu können.", Chikas Wangen füllen sich spielerisch mit Luft.   "Ach, das ist schon in Ordnung.", finde ich. "Vielleicht können wir so nicht feiern. Aber jetzt können wir etwas anderes ähnlich feiern.", wieder schaffe ich es, meine Freundin zu verwirren.   "Was feiern wir beide neben dem Schulabschluss?", ich spüre, sie kommt sich herzlich dumm vor.   "Das kann vieles sein. Unsere Rückkehr an die Chinobara Oberschule. Die Rückkehr der Vergangenheit, die wir teilen. Die Rückkehr unserer unschuldigen Zweisamkeit außerhalb des Krankenhauses. Es kann alles sein, Chika. Alles, was es wert ist, gefeiert zu werden.",   Das Gold in ihren Augen meliert wieder mit den Sonnenstrahlen, die in den Flur fallen. Chika strahlt über meine Worte und nimmt mein Gesicht in ihre Hände.   "Du hast keine Ahnung, wie schön ich dieses Alles-Rückkehr-Jubiläum finde, das wir gerade haben.",   "Ach wirklich? Ich meine zu wissen, wie es noch schöner werden kann.", lasse ich sie wissen und schnappe sanft nach ihren Lippen.   Chika zu küssen macht immer Spaß. Es ist schön. Alles gerade ist so schön.   Als wir uns wieder voneinander lösen strahlt Chika weiter.   "Dann lass uns mal da weitermachen, wo wir eben aufgehört haben.", versuche ich noch einmal, in diesen Raum reinzukommen. Chika nickt fröhlich.   Zusammen legen wir unsere Finger in die Türöffnung und ziehen sie ebenfalls zusammen auf. Noch nie habe ich diese Tür so  sanft geöffnet.   Wir betreten den Raum ebenso sanft, als würde er in die Luft gehen, wären wir auch nur eine Spur zu gelassen und leichtfertig.   "Das weckt ebenfalls Erinnerungen, was, Ellie?", fragt sie mich und lächelt ihr süßes Lächeln.   "In der Tat, das tut es.", mein Blick fällt auf die letzte Reihe. Ich nähere mich meinem Tisch und fahre mit der Hand über die Tischplatte.   Die Beleidigungen und Todesdrohungen sind unkenntlich gemacht worden. Da es sich wohl nicht so gut mit einem herkömmlichen Schwamm und Wasser hat wegmachen lassen, griff die verantwortliche Person anscheinend zu ziemlich aggressiven Chemikalien. Jetzt ist der arme Tisch ganz hässlich. Ich hoffe, die Schule entsorgt ihn. Ansonsten bekomme ich Mitleid mit meinem Nachgänger. Die arme Sau fände das definitiv nicht lustig.   "Hey, Ellie, schau mal, wie cool das ist!", reißt mich Chika aus den Gedanken und ich hebe wieder den Blick in ihre Richtung.   Als ich das tue und die Tafel ansehe, prangt ein Schriftzug auf ihr, welcher Chikas Existenz manifestiert.   "Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." - Albert Schweizer   "Ich bin beeindruckt, Chika. Das sind ziemlich bedeutsame Worte, wenn man bedenkt, dass dir dieses Zitat aus dem Nichts eingefallen ist.", gebe ich anerkennend meinen Kommentar dazu ab. Chika grinst schelmisch.   "Na komm, mach doch auch. Was auch immer du gerade fühlst, lass es raus. Wer auch immer das hier sieht oder nicht sieht, auch wenn hier sauergemacht wird, diese Worte sind geschrieben worden. Sie werden immer geschrieben worden sein."   "Eine Art indirekte Unsterblichkeit im Raum-Zeit-Kontinuum? Weil wir es in der Zeitlinie der Existenz getan haben und so dementsprechend als Vergangenheit allgegenwertig sind, auch wenn niemand das weiß?", versuche ich, ihre Intention dahinter zu erraten.   "Genau!", du bist die Einzige, der ich so etwas Verrücktes erzählen kann.   Ich humple also zur Tafel und Chika drückt mir das mickrige Stück Kreide in die Hand. Ich halte vor der grünen Leinwand inne und denke scharf nach. Was will ich dem Universum entgegenschreien? Was will ich getan haben? Was will ich gesagt haben? Was ist meine Spur in der Timeline der Existenz?   Erinnerungen durchfluten meinen Körper.   Erinnerungen an die Existenz. An den Schmerz, an die Freude, an den Frust, an den Schock. An alles, was zur Existenz gehört. Als wäre allein das Haften von Knochen auf Fleisch schon eine Schwerstarbeit.   Was habe ich gesehen?  Was habe ich gehört? Was wurde mir beigebracht? Was habe ich gefühlt?   Ich will eine Spur hinterlassen. Man soll wissen, dass ich hier gewesen bin. Ich will mich manifestieren. Ich will nicht vergessen werden. Nicht so, wie ich sie vergessen habe. Ich werde gewesen sein. Ich, Elvis Kyokei, ich... ich...   Und mit dem letzten vollendeten Hiragana* habe ich es geschafft. Ich habe meine Existenz manifestiert. Es ist albern, es scheint unbedeutend, aber ich fühle mich toll.   "Ich bin hier."**   Dann lache ich. Ich lache aus vollem Herzen. Daraufhin lacht auch Chika. Ich fühle mich erleichtert. Mir schießen Tränen in die Augen, so gut fühle ich mich. Die Erleichterung, nicht einfach nur zu tun, was ich als Platzhalter nun einmal tun muss. Die Erleichterung, aber auch nicht einfach leer zu sein. Die Erleichterung, tatsächlich zu mir selbst gefunden zu haben. All diese Erleichterungen erfüllen mich und lassen mich lachen. Es ist schön hier.   "Wie schön, dass es dir besser geht, mein lieber Kyokei-san.", höre ich aus dem nichts Kaishi hinter mir, der wieder seine Hand auf meine Schulter platziert hat, wie er es immer tut, wenn er mir zeigt, dass ich nicht allein bin.    Ich erschrecke zu Tode, als er das macht.   "Herrschaft noch mal, wo kommst du denn jetzt auf einmal her, Kaishi?!",   "Ach, von zu Hause. Wir haben ja schließlich noch ein wenig Zeit, bis die Abschlusszeremonie beginnt.", Kaishi lacht und fährt mir durch die Haare.   "Und schau mal, wer noch alles gekommen ist, um dich zu sehen.", referiert er mit einer Augenbewegung auf das andere Ende des Raums. Und ich bin sprachlos über diesen Anblick. Sie alle sind da.   "Leute, ihr... aber wie?", mir fehlen die Worte.   "Mal ehrlich, Elvis. Wenn jener einfach nur seinen eigenen Film fahren würde wie du, wären wir ganz sicher nicht hier. Wir haben nach dir gesucht, ist doch logisch! Und Barutani gefragt, die mich arme Sau um ein Haar überrannt hätte. Also echt.",   "Ach, ich bin sicher, du hättest Kyo-kun auch ohne Baru-chan gefunden, so wie du an ihm hängst. Sechser Sinn und so.", lacht Uchihara.   "Ach, halt doch die Fresse.", brummt Hanako mit geröteten Wangen und wendet den Blick ab.   Shuichiro verkneift sich ein Lachen, Akira versucht dasselbe und versagt dabei.   "Kyokei-chan.", Shuichiro wischt sich die Tränen aus den Augen und sieht mich an. "Glückwunsch!",   Mir fällt wieder ein, wieso wir eigentlich in der Schule sind. "Danke. Glückwunsch auch an dich, Shuichiro. An euch alle.", lasse ich durch die Runde gehen.   Uchihara fallen Chikas und meine Manifestationen auf der Tafel auf. Sie grinst erst das Gekritzel und dann uns beide an.    "Wenn ihr so freundlich wärt, ich muss das auch ausprobieren.", Uchihara grinst uns an, greift nach einem anderen Stück Kreide und schreibt auf, was auch immer sie aufschreiben will. Als sie fertig ist grinst sie uns erneut entgegen.   "Ich will die Selene zu jemandes Endymion sein."   "Für die Zukunft. Und weil ich es kann.", untermalt sie und hält das Stück Kreide auf offener Handfläche und mit ausgestecktem Arm in die Runde.   "Wer ist der Nächste?", fordert sie den weiteren Schreiber grinsend auf.   "Dann bin ich mal so frei!", fühlt sich Shuichiro berufen und greift nach dem Stück Kreide. Jetzt ist er es, der schreibt, was auch immer er schreiben möchte. Bei ihm steht:   "Wenn Call of Duty 'Ruf der Pflicht' heißt, besteht meine Pflicht aus essen, schlafen, zocken."   "Ich meine, kommt schon, ich werd' einfach LetsPlayer. Macht sicher Spaß!",   "Und fett macht es auch noch.", ergänzt Kaishi belustigt, woraufhin Shuichiro rot anläuft.   "Manno, ich bin nicht fett, das ist nur Babyspeck! Seit... siebzehn Jahren.", Akira lacht sich schlapp.   "Oh, Mann, Shuichiro, ich weiß jetzt schon, wessen zurückgebliebene Kommentare ich am meisten vermissen werde.", seufzt Akira und nimmt dem Riesenbaby die Kreide aus der Hand.   "Schicksal ist eine Bitch, aber ich bin ihr motherfucking Zuhälter.",   "Was zur Hölle soll das denn heißen? Bist du Vollzeit-Idiot oder was?", versteht Hanako nicht.   "Das wirst du verstehen, wenn du älter bist, Hanazawa.", winkt er ab.   "Ich bin älter als du!", schnauzt sie und klaut ihm die Kreide.   "Am Ende der letzten Staffel soll geklatscht werden, weil der Cast dieser Show sein Bestes gab.",   "Pah, was du kannst, kann ich ebenfalls!", knirscht Hanako, auch wenn sie dabei unpassend zufrieden aussieht.   "Hier bitte, Kazukawa-kun. Wenn Elvis und Chika schon an der Reihe gewesen sind, bist du der Letzte von uns.", fällt ihr ein und sie gibt Kaishi die Kreide, die es braucht, um sich auszudrücken.   Dieser lässt sich nicht lumpen und macht sich sofort an die Arbeit.   "Des Menschen Herz ist wie Quecksilber, jetzt da, bald anderswo, heute so, morgen anders gesinnt." - Martin Luther   "Ich halte mich einfach an Failman-san. Nur ein Zitat wäre ja irgendwie schade.",    "Kaishi-kun, ich bin so gerührt!", haucht Chika und ich fahre ihr kopfschüttelnd durch die Haare. Diese verrückte Nuss.   Eine Weile sind wir alle sieben ganz still. Niemand wagt, etwas zu sagen. Wir haben unsere Spuren hier hinterlassen, jetzt gibt es nichts mehr, was wir noch tun können. Hier waren wir also. Im Klassenzimmer der 3-6. Unsere Geschichte, nein, unsere Geschichten, werden immer hier sein wie abgestandene Luft. Ich glaube, jeder Anwesende ist sich dem bewusst. Wir werden alle mehr oder weniger getrennte Wege gehen. Wir tun, was alle Klassenkameraden am Ende der Schulzeit tun. Wir graduieren. Die Schwere in den Herzen aller hüllt auch mich ein und verbietet mir, auch nur irgendwas zu sagen. "Wir müssen zur Zeremonie." "Wir kommen zu spät." Würde ich irgendwas dergleichen sagen, wäre es vorbei. Unsere Zeit zusammen hier. Unsere Gegenwart. Niemand ist bereit dafür, niemand wird je dafür bereit sein, aber ich beiße in den sauren Apfel - in den vergifteten Apfel -, als ich sage: "Lasst uns gehen. Die Zeremonie beginnt gleich."   ***   Und nun sitzen wir hier, in der Sporthalle, darauf wartend, aufgerufen zu werden und sich die eine oder andere Anekdote des einen oder anderen Abschlussklässlers anzuhören. Schöne "Oh mein Gott, es ist Kyokei-kun! Und Failman-san!", entfährt es einem Mitschüler als er uns beide die Sporthalle betreten sieht. "Ellie!", schreckt Chika auf, als ich plötzlich auf dem Boden liege. Urplötzlich bin ich umarmt worden. "Barutani?Könntest du bitte-...", sofort lässt sie mich wieder los, verbeugt sich und rennt mit hochrotem Kopf davon. "H-hey! Barutani! Was ist mit ihr?", verstehe ich nicht. "Ach, Kyokei. Du bist doch endblöd.", höre ich Asahina seufzen, der sich ebenfalls zur Traube dazugesellt. "Die Olle steht auf dich!", hilft er mir auf die Sprünge. Und als er mir aufhilft, kann ich nicht mehr als mich über seine komische Hilfsbereitschaft zu wundern. "Asahina, was-", "Schnauze. Es ist ja nicht so, dass ich deinetwegen irgendwie netter zu Leuten sein will... Arsch.", brummt er. "Sieh an, der gute Asahina hat es ja doch noch geschafft. Und ich dachte, dir werden vom Mobbing-Business niemals die Schlüpfer voll!", lacht Yamato über die Situation, woraufhin Asahinas Wangen noch roter werden als Taiyos Haare. "W-weißt du was, Yamato? Fick dich! Von allen Nebencharakteren dieser Serie bist du der mit Abstand nervigste!", keift Asahina und macht auf dem Absatz kehrt. "Pah, ich geh dann mal! Bin eh nur gekommen, um auf Herr Verschwindibus zu warten. Der Ehrenrunden-Squad hat hier heute eh nichts verloren...", hört man ihn noch grummeln, ehe er komplett verschwindet. Ich unterdrücke ein Grinsen und schaue mich in der Menge nach meinen Leuten um. Heute ist ein ganz besonderer Tag. Einer, den wir alle nicht vergessen werden. Dass ich meine Schuluniform überhaupt noch anziehen würde, hätte ich nicht gedacht. Ich wusste nicht mal, ob mir der Schulabschluss nach allem überhaupt möglich ist. Schließlich habe ich ziemlich lang im Krankenhaus gechillt und dort alles unter Beobachtung gemacht. Ich habe einen Notendurchschnitt von 91 Punkten, ich bin ziemlich zufrieden. Chika ist ebenfalls zufrieden, auch wenn sie mit ihren 73 Punkten ein wenig geschmollt hat, dass ich so viel besser bin als sie. Na ja, wie auch immer, heute werden wir vielleicht in die Geschichte eingehen, wenn auch nur für uns allein. "Ich bin froh, dass du es hierher geschafft hast, Kyokei-san.", höre ich Kaishi, der wieder seine Hand auf meine Schulter platziert hat, wie er es immer tut, wenn er mir zeigt, dass ich nicht allein bin. "Ich bin auch froh! Heute sind wir endlich fertig mit der Schule und können krasses Zeug machen! Ich werde jetzt offiziell zertifizierter Fortnite-YouTuber!", kommt nun auch Shuichiro, der wieder, anders als ich, ohne Krücken gehen kann, wenn auch schwer. Vermutlich versucht er es gerade aus, ohne es wirklich zu dürfen. Ob er das getan hat, um für heute besonders gut auszusehen? Hach, Shuichiro, dieser Kerl ist einfach nicht von dieser Welt.   So sind wir einfach, die Gang. Eine absolutes generische Auswahl an Charakter-Klischees und zugleich unvergleichliche Freunde, ohne die ich einfach nicht leben kann. Aber wo ist denn eigentlich Akira? Ich erblicke ihn irgendwo in der Ecke der Sporthalle mit Uchihara-san reden. Sie scheinen wirklich vertieft zu sein. Was die gerade wohl am besprechen sind? Doch ehe ich länger drüber nachdenken kann, hat die Zeremonie bereits begonnen. Der gravierende Moment im frühen März, der Moment, auf den der ganze Jahrgang das ganze Jahr gewartet hat. Als alle Platz genommen haben, muss ich stets daran denken, dass auch ich ziemlich gleich sogar etwas sagen muss, wenn ich mein Zeugnis erstmal bekommen habe. Verflixt, was, wenn ich mich verhasple? Scheiße, ich habe wirklich absolut nichts auswendig gelernt, was ich da oben sagen werde! Im Krankenhaus waren es bloß irgendwelche Stichwörter, die ich mir aus dem Hut gezaubert und aufgeschrieben habe. Ich habe nicht mal einen Hut! Die Mützen-Masche gehört meinem Bruder, ich dagegen trage weder etwas auf dem Kopf noch fühle ich mich danach, der großen Masse etwas Cooles, Kluges oder Witziges mitzuteilen! Ich werde es so verbocken! Ich kann mich nur gerade so auf die Reden der anderen konzentrieren. Ich spüre eine Hand in der meinen. "Es wird alles gut, Ellie schafft das!", flüstert Chika, die meine Hand genommen hat, als sie meine Nervosität bemerkt hat. Ich lächle schüchtern und schrecke auf, als urplötzlich mein Name aufgerufen wird. "Wird schon schief gehen.", murmle ich grinsend, als ich mit zittrigem Knie und leicht beschämtem Krückengang den Weg auf die Bühne finde. Als ich mit einer Hand das Zeugnis dankend entgegen nehme, sehe ich auf die Menge. Alle Blicke sind auf mich fokussiert. Ich schlucke kurz und atme. Dann stehe ich vor dem Mikrofon. "Hi. Mittlerweile ist es sicher kein Geheimnis, dass in letzter Zeit viele Dinge, unschöne Dinge im Bezug auf mich in der Klasse und außerhalb vorgefallen sind. Ich entschuldige mich hierfür. Das Leben ist nicht in schwarz und weiß unterteilt sagt man, und vermutlich bin ich das beste Beispiel dafür, wer die Grauzone als Ausrede missbraucht. Aber das Grau kann man waschen, wie ich ebenfalls erkannt habe. Dinge können nicht immer rückgängig gemacht oder repariert werden, es gibt Dinge, mit den muss man einfach leben. Dinge wie eigene Fehler, falsche Entscheidungen oder die graue Spirale der Ewigkeit. Aber das ist okay, denn hier sind mir auch viele gute Dinge widerfahren, die ich auch jetzt, nachdem ich mehrmals abgestürzt bin, nie vergessen werde. Es war eine schöne Zeit mit meinen treuen besten Freunden, Lehrer, denen ich dankbar bin und meiner Freundin, Chika Failman. Danke dir, dass du an meiner Seite bist und mich nicht aufgabst, als ich das tat. Danke an alle Beteiligten, Lehrer, Mitschüler, für die drei unvergesslichen Jahre an der Blutrosenoberschule, in denen ich lernen durfte, was wirklich wichtig ist." Dass mir das einfach spontan eingefallen ist. Uff. Es ist still, dann kriege ich tosenden Beifall. "Go, Elvis! Go, Elvis!", "Das ist unser Sohn!", ich bin etwas peinlich berührt, als ich Taiyo und meine Eltern da jubeln höre. Doch während ich abgehe, winke ich und sage: "Das ist meine Familie!". Nachdem alle ihre Zeugnisse erhalten haben, gibt es wohl noch ein kleines Extra. Angeblich soll das alle Schüler an die Zeit der Oberschule erinnern, ehe sie sich in alle Himmelsrichtungen verstreuen. Plötzlich erhebt sich Hanako aus ihrem Sitz und geht zur Bühne. "Liebe Schülerinnen und Schüler, ehe ihr alle euren Weg geht, wird es noch eine bewegende Darbietung einer Schülerin geben, die mich bat, all ihren hier anwesenden Freunden, noch ein Lied mitzugeben. Lauscht nun den Tönen unserer geschätzten Hanako Hanazawa aus der Klasse 3-6.", kündigt Katsuoka-sensei an. Dann erklingt das Lied "Ich bitte dich um Flügel". "Ich hege einen Wunsch, so lange, ich wünsch es mir, erfüllte er sich jetzt, hätt' ich nun ein Paar Flügel. Bitte lass ihn wahr werden, meinen Wunsch von gefederten Weiß auf meinem Rücken, um zu fliegen wie ein Vogel! Hoch am Himmel will ich sein, von ganz unten winzig klein, fliegen, frei sein und nie mehr wein'. Breit ich meine Flügel aus, bleibt die Traurigkeit dann aus, Ich steige nun ins Blau empor, wie nie zuvor~" Auch Hanako erntet ein begeistertes Publikum und ist mehr als gerührt, dass dieses ihren Gesang so feiert. Damit ist die Zeremonie beendet, draußen lachen und heulen die meisten. Auch ich muss mir am großen Ende die eine oder andere Träne verdrücken. Wir haben es also wirklich geschafft. Gerade plaudern wir, die ganz aus dem Main-Cast meines Lebens, Chika, Kaishi, Shuichiro, Chika und Hanako, über die Dinge, die wir planen zu tun, als Shuichiro plötzlich auffällt, dass Uchihara-san und Akira sich reichlich Zeit damit lassen, uns beizuwohnen.   "Wo sind eigentlich Akira-chan und Uchihara-san?", wundert er sich.   "Die beiden lassen sich wirklich alle Zeit der Welt. Ziemlich unverschämt meines Erachtens nach.", brummt Kaishi.   "Nicht aufregen, Kaishi-kun. Die beiden kommen bestimmt jeden Moment. Außerdem sind wir doch erst seit fünfzehn Minuten hier draußen oder so.", beschwichtigt ihn Chika.   "Ich denke, ich sehe mal nach. Ich traue Akira nicht zu, zu verschwinden, ohne episch Tschüss zu sagen.", gebe ich meinen Senf dazu und mache mich so schnell es mit einem Bein geht auf den Weg.   "Kyokei-chan, warte! Du kannst uns doch nicht auch noch verlassen!", ruft mir Shuichiro nach, aber ich humple weiter den Weg, der von der Schule wegführt.   *** Der Weg erscheint schmerzhaft lang. Dann endlich sehe ich ihn. Er steht einfach da und sieht sich melodramatisch die Aussicht von hier auf Windstillhausen an. Seine weißen Haare wehen dabei traurig im Wind. Noch nie hat der Anblick eines Rückens mich so viel Trauer spüren lassen.   "Warte, Akira, die Party ist doch noch gar nicht vorbei!", versuche ich, ihn aufzuhalten, wobei auch immer.   Ich nähere mich ihm und greife völlig außer Atem seine Schulter. Als er sich zu mir umdreht, sieht er wehmütig aus. Er sieht mich melancholisch an, aus Augen, die so grau sind wie der bewölkte Himmel. Der gleiche Himmel wie an dem Tag, an dem er nicht an meiner Seite war, als ich ihn am meisten brauchte...   "Kyocchi, du hast doch meinetwegen ein Bein verloren, oder?", fängt er wieder damit an.   "Was willst du damit sagen? Es ist doch wieder dran. Das ist nicht deine Schuld gewesen. Ich bin davongelaufen. Ich habe dir schlussendlich zuerst wehgetan. Nach Strich und Faden habe ich dich benutzt, um nicht jemandem zu verfallen, dem ich insgeheim eigentlich verfallen bin. Du hast gefälligst nicht so schuldbewusst zu gucken, hast du verstanden? Jetzt komm und bleib!", rede ich ihm das aus, aber es sieht nicht so aus, als ob das was bewirkt.   "Du bist echt lieb, Kyocchi. Ich bin froh, dass ich dein bester Freund sein durfte.", flüstert er und ein paar Kirschblüten fliegen an uns vorbei. Der Wind trägt sie fort, sie verrotten wenig später. Der Kirschblütenregen ist nie von Dauer, weil auch der Frühling nicht von Dauer ist. Dann gibt es neue Kirschblüten, während die alten nie wieder zurückkehren.    "Ich bin nicht lieb. Ich verdiene es nicht einmal, dass du mich bei diesem Spitznamen nennst.", knirsche ich. Akira lächelt gequält.   "Glaub mir, du verdienst jeden niedlichen Spitznamen der Welt, Alter.", vor seinen Augen ist der allseits bekannte Nebelvorhang, der ihn aussehen lässt, als wäre er nicht ganz bei sich.   "Du bist doch verrückt.", daraufhin lacht er leise.   "Ich war glücklich, dass du es warst, Kyocchi. Ich bin auch jetzt glücklich, dass du es bist. Ich werde immer glücklich sein, dass du es gewesen bist.", mir schwant nichts Gutes bei dem unterschwelligen Ton, der in seinen Worten mitschwingt.   "Ich werde vielleicht nicht zurückkehren.", ich hätte es wissen müssen. Nein, ich wusste es bereits.   "Wieso das denn? Warum solltest du das nicht? Was ist denn überhaupt los, Akira? Du bist die ganze Zeit so... seltsam.", dass alles passt mir nicht. Diese ganze Situation ist wie eine Tablette, die zu breit ist, um meinen Hals zu passieren und zudem noch viel zu bitter ist.   "Vielleicht bin ich das. Aber du musst ohne mich weitermachen, Kumpel. Wir wissen beide, das ist das Beste für uns beide.", was zur Hölle redest du da?    "Was soll das denn schon wieder heißen? Das Beste für uns beide? Dass ich nicht lache, das ist doch lächerlich! Ich will nichts davon hören! Nichts davon, wie du abhaust, jetzt, wo alles perfekt sein könnte. Hör auf, mich so anzusehen, als ob das hier wirklich das Ende vom Ende wäre! Ich will nicht, dass es das Ende ist! Und du willst das auch nicht! Ich sehe dir doch an, dass du nicht wirklich gehen willst! Mir egal, ob ich unsere Freundschaft erst später zu schätzen gewusst habe und die Gefühle anderer Menschen verstanden, aber... nicht mal ich habe verdient, so zurückgelassen zu werden!", keife ich und meine Augäpfel brennen.   "Kyocchi, bitte. Mach es mir doch nicht so schwer.", murmelt er und senkt den Blick.   "Natürlich mache ich es dir schwer! Ich bin dein Freund, Akira! Und auch du bist mein Freund. Das hast du mir immer gesagt. Hast du eine Vorstellung davon, wie das alles gerade auf mich wirkt? Nach so einer grauenvollen Nacht wieder mit allen zusammenzufinden hat mich wirklich glücklich gemacht. Zu glauben, dass jetzt, wo ich dich durch die Erinnerungen nun vollständig kennengelernt habe, wir einander wieder eine Chance geben könnten, hat mich wirklich glücklich gemacht. Wie kannst du erwarten, dass ich dich nach all dem einfach so gehen lassen kann? Andere Frage, wieso ist es für dich denn so leicht? Mich und alle anderen einfach so zu verlassen? Hast du in mir überhaupt jemals wirklich einen Freund gesehen? Hast du mich überhaupt jemals geliebt, wie du meintest?! Ist das alles, was ich dir jemals bedeutet habe, Akira?!", werfe ich ihm an den Kopf.   "Das stimmt nicht, Kyocchi. Du weißt, dass das nicht stimmt.", widerspricht er leise.   "Dann sag mir... wenigstens, wieso du gehen musst. Wieso du mich so kaltherzig wegwerfen musst. Wieso kannst du nicht einfach wieder der Akira sein, den ich gekannt habe? Mein bester Freund Akira.", will ich wissen.   "Weil unser Weg in keinem Universum der gleiche geblieben wäre. Egal, wie ich dir nach deinem Verschwinden begegnet wäre, es wäre auf diesen Punkt hinausgelaufen. Ich hätte in keiner dieser alternativen Realitäten die Kaltherzigkeit besessen, die Fresse zu halten, immer wäre ich irgendwann mit der Sprache rausgerückt. Es hätte immer damit geendet, dass ich den Verstand verloren und dich gekränkt hätte. Dich erneut zerstört hätte. Ich habe geglaubt, mit dem Wechsel auf die Oberschule und dir, der sich an nichts erinnern kann, würden sich meine Sünden in Luft auslösen. Daran wollte ich wirklich glauben. Ich wollte daran glauben, dass es möglich wäre, noch ein zweites Mal dein Freund zu sein. Ich lag falsch, Kyocchi. Ich lag so unglaublich daneben. So sehr, dass es wehtut. Es brennt, mein Gott. Bitte sei doch vernünftig. Sei noch ein bisschen sanft zu mir. Mach es nicht noch schlimmer, in denen du die Tatsachen verleugnest." murmelt er fast klanglos. Ich senke den Blick. Mir sind alle akzeptablen Worte für Abschiede wie weggeblasen.   "Mistkerl. Ich hasse dich.", flüstere ich nur.   Und kaum habe ich das ausgesprochen, spüre ich wieder seine Lippen auf meinen. Es kommt so plötzlich, dass ich mich fragen muss, ob ich mir das nur einbilde. Mir seine Dummheiten einbilde, damit es für mich so aussieht, als ob noch viele weitere Dummheiten auf diese folgen würden. Aber das hier ist echt. Akira ist echt. Was angebracht wäre, wäre ihn von mir zu schieben, weil ich eine Freundin habe und sie liebe. Und das stimmt, ich liebe sie. Ich liebe sie und ich will sie in diesem Leben noch viel öfter küssen als jetzt. Doch der Kuss hier, den ich mit Akira habe, der ist so... anders als der aller bisher. Er rammt mir nicht die Zunge in den Hals, um mir seine Lust aufzuzwingen. Er fährt mir nicht in die Hose, um mich zu verführen. Ich habe das Gefühl, als wäre Akira zum ersten Mal nicht einfach nur geil oder verzweifelt im Bezug auf mich. Akira ist, er ist einfach nur... zärtlich. Er ist lieb. So sanft war es zwischen uns noch nie. In seiner Berührung liegt... Abschied. Reue. Zuneigung. Trauer.   Akira ist traurig. Er ist verletzt. Dieser Junge sieht keinen anderen Ausweg und genauso wenig sehe ich einen. Das hier passiert nur, weil er genau weiß, dass es nicht mehr passieren wird. Dass dies unser letzter Kuss ist solange wir leben. Und darüber hinaus. Die Berührung unserer Lippen versiegelt das mit uns, lässt es ausklingen, lässt es enden. Dass man uns sehen könnte, dass Chika uns sehen könnte, dass alles macht mir Angst. Aber würde ich zurücktreten und ihm ins Gesicht sehen anstatt die Augen zu schließen, würde es so schrecklich wehtun. Weil er mich liebt. Und weil es endet. Das hier ist der allseits bekannte Kiss of Death.   "Ich hab dich lieb, Kyocchi.", teilt er mir mit, als er sich von mir löst.   "Ich liebe dich.", und fährt mir ein letztes Mal durch die Haare.   "Lebwohl, mein Freund. Und danke für alles.", sind seine letzten Worte an mich.   Dann höre ich, wie sich seine Schritte von mir entfernen. Sie werden immer leise, bis ich ihn nicht mehr laufen hören kann. Wenn ich meinen Blick hebe, werde ich ihn vermutlich auch nicht mehr sehen. Nie wieder.   *** "Ellie, ist alles in Ordnung?", fragt mich Chika, die plötzlich hinter mir steht.   "J-ja, alles bestens. Lass uns zurück zu den anderen gehen.", schlage ich vor.   "Du hast gefunden, wonach du gesucht hast, oder?", will sie etwas geistesabwesend wissen.   "Das habe ich.", flüstere ich.   "Das freut mich.", teilt sie mir mit.   "Du hast hart gekämpft, stolzer Krieger.", murmelt sie.   Ich streiche ihr eine Strähne aus dem Gesicht.   "Du aber auch.", daraufhin lächeln wir etwas traurig und gehen schlussendlich wirklich.   Auch wenn ich in Gedanken immer noch an Ort und Stelle stehe. Ob auch Akira vorhat, zu einer Erinnerung zu werden wie mein Vater? Ob ich ihn jemals wiedersehe? Das eben war wirklich ein Abschied, oder? Der letzte Tag. Er will gehen. Ich lasse ihn gehen. Vielleicht hat er Recht und es ist das Beste. Wenn wir getrennte Wege gehen. Wenn ich vergesse, wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt haben. Wenn ich vergesse, wie ich mich parallel beinahe in ihn verliebt hätte und damit erneut verletzt worden wäre. Ich vergesse es nicht. Akira ist mein bester Freund und das ändert sich nie. Niemals. Ich denke daran zurück. Dass ich unsere Freundschaft viel mehr habe beschützen wollen und sie gerettet hätte, würde man mir den Wunsch gewähren, in die Zeit zurückzukehren, um noch einmal mit ihm befreundet zu sein. 'Ich danke dir.', das war es, was ich ihm sagen wollte. Das war es, was ich ihm bis zuletzt aber nicht sagen konnte. Jetzt bereue ich, diese Chance verpasst zu haben. Wie in dem Lied, die Vorahnung, die der Winter mir gab. Das war unser letzter Tag. Kapitel 124: Vol. 5 - Die Aftershowparty unserer Helden ------------------------------------------------------- Taiyo: Als wir nach den Feierlichkeiten dann auch wirklich nach Hause gegangen sind, ist Elvis und mir irgendwie komisch zum Schweigen zumute, auf dem Weg, den wir mit der Bahn zurücklegen. Wir haben wirklich mit allen, die wir kennen, den ganzen Tag einen drauf gemacht. Sogar unsere Eltern, wenn auch nicht ganz so heftig, das tut ja unserer Mutter momentan nicht so gut. Elvis muss vorerst nicht mehr ins Krankenhaus, er muss lediglich Medis nehmen und auf sich aufpassen. Wenn alles schön heilt, haben dir Ärzte gesagt, kann er die Prothese haben. Doch diesbezüglich muss er sich wirklich krass gedulden. Mann, der arme Kerl tut mir echt unwahrscheinlich leid. Ist echt eine Scheißsituation für meinen Bruder. Generell ist gerade, auch wenn man es heute vor lauter Party nicht gespürt hat, eine komplizierte Zeit. Wir wissen immer noch nicht, wo wir bleiben, ob wir zusammenziehen, wo es sich vielleicht gar nicht lohnt, auch wenn das Baby irgendwann sicher sein eigenes Zimmer haben möchte. Ich bin, wenn ich meinen Job als Kellner an den Nagel hängen muss, auf einen richtigen Job aus. Das ist ein komisches Gefühl. Dann habe ich mich doch für etwas ganz anderes entschieden. Es sieht aus, als hätte ich völlig umsonst studiert. Auch, wenn wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Ich hatte schließlich den Spaß meines Lebens. Aber was strebe ich denn außer diesem Job denn noch in meinem Leben an? Klar, Hanako heiraten, dies das, auch wenn sie, nachdem sie vorgesungen hat, von so zwielichter Typen von Was-weiß-ich von wegen Plattenvertrag in die Mangel genommen wurde. Angeblich waren sie Angestellte im KamikazeChannel, der letztens gecancelt und angeklagt wurde, wegen Verletzung der Privatsphäre, Freiheitsberaubung und Verstoß gegen diverse andere Bedingungen, weswegen der Sender schließen musste und der Produzent wohl ins Kittchen gewandert ist. Das muss man sich vorstellen, meine Mutter persönlich hat sich beim Sender beschwert, dass diese derartige Infos, die nicht für das Fernsehen bestimmt sind, rausgehauen und unter Beichte auch noch das ganze Geschehen mitverfolgt, das heißt Elvis und Chika hinterher geschnüffelt, haben. Das war ein Donnerwetter, als sie das spitzgekriegt hat, kam vielleicht etwas zu spät, aber ich sag mal, man sollte Mama besser nicht verärgern. So auf Hundertachtzig habe ich sie wirklich noch nie erlebt. Ich sehe zu ihr rüber. Ihr Kopf ist an der Schulter meines Vaters angelehnt. Sie sehen aus, als würden sie jeden Moment einschlafen. Sie scheinen meinen Blick überhaupt nicht zu bemerken. Dann sehe ich zu Elvis. Auch der sieht nicht besonders wach aus. Sein Blick ist wie ausgestorben. Im nächsten Moment fällt auch sein Kopf auf meine Schulter. Ich zucke zusammen. "Sorry.", murmelt er und setzt sich wieder richtig hin. "Schon okay, es war ein anstrengender Tag.", meine ich und wuschle ihm durchs Haar. "Da fällt mir ein, Elvis, du hast doch bald Geburtstag. Gibt es irgendwas, dass du dir zum achtzehnten wünschst?", fällt mir ein. Elvis senkt wieder den Blick. Ich erinnere mich an seinen sechzehnten Geburtstag, bei dem er noch deprimierter ausgesehen hat als jetzt. Das war einer der schlimmsten Geburtstage, die ich je gesehen habe. Weil ausgerechnet am vierzehnten März sein über alles stehendes Idol Stephen Hawking davonschied. Er hat wirklich versucht, stark zu bleiben, nachdem die Person, zu der er aufsah, gestorben ist und hat sichtlich dabei versagt. Er hat sich den ganzen Tag in sein Zimmer zurückgezogen und war deprimierter als je zuvor. Als er dann auch nicht zum Abendessen kam, reichte es mir dann, ich habe ihn einfach genommen und bin mit ihm um die Häuser gezogen. Wir waren in einem Club, in einem Restaurant, und anschließend im Kino. Alles auf meinen Nacken. Ich habe tatsächlich geschafft, ihn glücklich zu machen. Ob ich es dieses Jahr auch schaffen kann? Wie sagt man so schön? Auch das liegt wie die Zukunft nach dem Schulabschluss in den Sternen. - Dreizehn Tage später - "Alles. Gute. Zum. Geburtstag!", gratulieren wir ihm so früh am Morgen. "Es ist schon morgen...?", murmelt er. "Ich hab den miesesten Schlaf seit L aus Death Note, Herrschaft noch mal...", Elvis richtet sich im Bett auf, reibt sich die Augen und als er mich und seine Schulfreunde sieht, kriegt er einen Anfall. "W-w-w-was um... Taiyo, was machen denn alle so früh hier?!", erschrickt er und Blondie versucht, nicht über seine Überraschung zu lachen. "Das war zufällig mein Verdienst. Ich habe Taiyo gefragt, wann du Geburtstag hast. Nach all den Episoden, als die gute Freundin, die ich nun einmal bin. Ich dachte, am Mittag zu feiern, das kann doch jeder. Also habe ich allen gesagt, wir treffen uns alle um halb Acht in Schlechtwetterstadt! Bin ich nicht der Wahnsinn?", "Natürlich bist du der Wahnsinn! Ich bin im Schlafanzug, vollgeschwitzt, ungeduscht und habe noch nicht mal Zähne geputzt. Wie kommst du auf die Idee, dass ich dann in der Verfassung bin, Leute zu empfangen?", seufzt Elvis und vergräbt sich wieder tiefer in der Decke. "Du bist echt undankbar...", brummt Hanako. "Das ist es nicht... Irgendwie freut mich das ja auch, dass ihr alle an mich gedacht habt...", nuschelt Elvis. "Aber...", er macht eine Pause. "Eben nur irgendwie, weil ich seit dem Vorfall irgendwie überhaupt nicht mehr wirklich in Partystimmung bin. Es gefällt mir nicht, dass ich jemanden erschossen habe. Ich habe jemanden umgebracht. Und nicht nur das: Durch den Brand, der nach meiner Entführung gesetzt wurde, haben sicherlich noch andere Menschen ihr Leben gelassen. Ich habe irgendwie einfach ein schlechtes Gewissen, als einbeiniger Massenmörder immer noch am Leben zu sein.", erklärt er seine Gefühle in dem Moment. "Ellie...", höre ich Chika-chan sagen. "Kyokei-san.", kommt es von der Brillenschlange. Ich schnaube genervt. "Dein Kopf funktioniert noch, also warum so niedergeschlagen schauen? Elvis, Mann, du... du bist einer der mit Abstand schlausten Menschen, die ich kenne, ich war jedes Mal neidisch, wenn du das bewiesen hast, also... Kannst du doch nicht so tun, als wenn die restlichen Gliedmaßen nicht da wären. Dein Pessimismus macht mich ernsthaft sauer, weißt du das? Und sieh es mal so, jetzt kannst du, wenn du wieder fleißig laufen lernst von dir behauten, der halbe Fullmetal Alchemist zu sein und du weißt, wie cool der ist!", erst sieht er mich an, als sei ich der Bürgermeister von Absurdistan, dann lacht er auf. "Du bist echt bescheuert, Mann! Aber danke, das hab ich jetzt gebraucht!", lacht er. Ich finde, ich bin ein fantastischer Bruder. Wo wir gerade von Coolness reden, hat eigentlich irgendjemand etwas von Akira-chan gehört?", will Blondie wissen. "Ich habe weder ihn noch Uchihara erreichen können.", berichtet Hanako. "Sie sind also seit dem Schulabschluss einfach... verschwunden?", resümiert die Brillenschlange. "Exakt.", bestätigt sie. "Akira und Uchihara-san sind verschwunden. Ich frage mich, ob sie gerade glücklich sind.", flüstert Chika-chan. "Das wüsste ich auch gern.", gesteht mein Bruder und richtet sich wieder etwas auf. "Kyokei-san, was ist nach unserem Abschluss noch vorgefallen? Du meintest, er sei nach Hause gegangen, aber bist du sicher, dass er nicht wenigstens dir einen kleinen Hinweis gegeben hat?", hakt die Brillenschlange weiter nach. "Also... ich weiß nicht so viel mehr als du, Kaishi. Wenn ich ehrlich bin, er hat nicht mehr gesagt, als dass er vielleicht nicht mehr zurückkommt.", haucht er und die Augen hinter der Brille weiten sich. "Das hat er gesagt? Was stimmt nicht mit diesem Kerl?!", regt er sich auf. "Mit Akira ist alles okay! Es... war meinetwegen.", versucht mein Bruder, ihn zu beruhigen. "Ist doch egal... da saß er doch mindestens genauso tief in der Scheiße. Dass er dann einfach verschwindet, als hätte das alles nichts mit ihm zu tun... ist einfach unverzeihlich.", knurrt er gen Boden. "Kaishi-chan, sowas kannst du doch nicht sagen. Er ist immer noch unser Freund!", beschwichtigt ihn Blondie. "Genau, Kaishi. Ich bin vielleicht die Letzte, der man das glauben würde, aber ich denke, dass Akira das nicht aus purem Egoismus gemacht hat. Er hat vielleicht mehrmals versucht, mir meinen Freund auszuspannen, ist unverschämt und ich gebe mir große Mühe, ihn auszustehen, aber... wenn er die Flucht ergreift, weil seine Liebe zu Ellie so schmerzhaft ist, dann... ist so etwas zu sagen... total gemein!", gibt ihm Chika-chan noch den Rest. Daraufhin sagt er nichts mehr. "Ich bin dennoch der Meinung von Kazukawa-kun. Das ist unverantwortlich und sehr Ich-bezogen. Und dennoch... Chika hat irgendwie ja auch recht.", findet Hanako. "Akira ist... wirklich ein Idiot.", schmunzelt Elvis etwas traurig. "Und Uchihara-san ist ihm einfach blind gefolgt. Aber irgendwie kann ich weder dem einen noch der anderen irgendwas nachtragen. Es ist wie es ist. Und es gibt nichts, das wir dagegen tun können.", erzählt er mehr für sich selbst. "Das können wir wirklich nicht.", bejaht die Brillenschlange. "Was wir aber können, und das müssen wir unentwegt, ist mit unserem Leben fortzufahren. Ob Egaoshita-san zurückkommt oder nicht liegt nicht in unserer Verantwortung. Alles, was wir jetzt noch tun können, ist die Tatsachen zu akzeptieren und uns daran zu erinnern, dass wir auch noch leben und mit der schwindend geringen Möglichkeit zu leben, überrascht werden, ihn wiederzusehen.", gibt er seine Meinung dazu ab. "Ich werde bald studieren und die Stadt verlassen. Nachdem ich so über Egaoshita-san gelästert habe, klingt der Plan, die Stadt zu verlassen, ziemlich hypokritisch, aber-", "Das geht schon okay.", fällt ihm Elvis leise ins Wort. "Von mir aus kann Shuichiro dir da nachmachen.", "Aber woher willst du wissen, dass-", "Ich kenne euch doch! Ihr beiden seid doch immer zusammen. Shuichiro könnte vielleicht alleine in der Villa zurückbleiben, alleine irgendwo studieren gehen und sonst irgendwas machen... Aber das würde er nicht machen. So gut kenne ich ihn. Und ich kenne auch dich, Kaishi, gut genug, um zu wissen, dass du ihn insgeheim doch in deiner Nähe haben willst, weil er einfach zu zerstreut ist, um auf sich selbst aufzupassen! Deshalb... chillt mal.", Blondie und Brillenschlange sehen sich etwas verwirrt an und seufzen dann synchron. Ich unterdrücke ein Grinsen. Mein Bruder hat echt einen Haufen komischer Mitstreiter. "Ihr... kommt doch zurück, oder?", will Hanako wissen. "Du, aber auf jeden Fall! Allein deshalb, weil das unsere Stadt ist!", antwortet Blondie. Hanako strahlt dabei förmlich. "Ich hoffe doch, du studierst nicht das Gleiche wie Kazukawa-kun.", kichert sie. "Eher übernehmen die Enten den Planeten! Weißt du eigentlich, wie schwer es ist, in Mathe überhaupt irgendwas hinzuschreiben, was auch nur irgendwie wie Lösungsweg aussieht?", empört sich Blondie. Jetzt kann ich nicht mehr und mir entfährt ein belustigtes Schnauben. "Ihr seid echt ein witziger Haufen.", finde ich. "Ein Haufen trifft es wirklich gut, es ist mir echt ein Rätsel, wie so unterschiedliche Leute, die sich zu viert eine Gang nennen, sich durch Zufall fast verdoppelt haben.", denkt Elvis laut. "Stimmt. Am Anfang waren es nur wir, du, Shuichiro und ich. Dann kamen zuletzt noch die Mädels dazu. Failman-san, Hanazawa-san und Uchihara-san. Es sind nicht so viele, die dazugekommen sind, aber es ist doch ein gravierender Unterschied zum ersten Jahr.", stimmt ihm die Brillenschlange zu. Dann wird die Tür schwungvoll aufgerissen und Finnland taucht auf. "Heyho! Finnland wünscht ebenfalls alles gute zum-", dann sieht sie die Brillenschlange und zuckt zusammen. "Ka-ka-kazukawa-kun? Was machst du denn hier?", stammelt sie und hält sich am Türrahmen fest. "Nur meinen Kumpel besuchen.", "Warte mal, Finnland, du kennst Kaishi?", ist Elvis verwirrt. "Lange Geschichte, nicht wahr, Takamiya-san?", "Und dann kam ich im Female-Finnland-Cosplay...", schnieft sie und sinkt errötet in sich zusammen. "Alles in Ordnung, Takamiya-san?", fragt die Brillenschlange besorgt und wendet sich an Finnland, um ihre Schulter zu berühren. Das scheint ihre Scham aber nur zu verschlimmern und sie winselt noch mehr. "Ich denke, wir sollten so langsam aber auch wieder raus. Wir können weiterfeiern, wenn Kyokei-san sich angezogen hat. Außerdem sind seine Eltern durch das alles bestimmt ebenfalls wach geworden. Nichts für Ungut, Takamiya-san.", "Heul...", wenig später sind sie dann alle draußen. Nur ich bin kurz noch bei ihm. "Das ist ganz schön viel, wenn du mich fragst. Geht es dir wirklich gut? Es ist schließlich immer noch dein Geburtstag. Dafür ist die Stimmung vorhin ja ziemlich erdrückend gewesen.", gebe ich meinen Senf ab. "Es geht wirklich. Es war sogar ganz lustig, dass sogar Finnland miteinbezogen war. Glaubst du, zwischen Kaishi und ihr läuft was?", fragt sich Elvis. "Unser Cousinchen scheint ja echt in ihn verschossen zu sein. Echt bisschen niedlich, wie ihre Aufmerksamkeit noch etwas anderem als Cosplay und Hetalia gilt.", lache ich. "Das war ein echt taffes Jahr, was?", denke ich wieder zurück. Elvis nickt. "Wer hätte gedacht, dass mein süßer, kleiner Bruder seine Freundin mit einem anderen Kerl betrügt?", sage ich tatsächlich laut, aber nur, weil ich seine Reaktion sehen will. "A-also, das... geht dich ja wohl überhaupt nichts an!", brummt er. "Ich war geschockt, Elvis. Der eigene Bruder fährt zweigleisig, mein armes Herz... Wobei, mit dieser Synchronsprecherin und dem Haarschnitt ist es eigentlich keine Herausforderung, deine sexuellen Neigungen zu erklären.", schieße ich den Vogel entgültig ab. "Du blöder Sack, was fällt dir eigentlich ein?! Warte nur, bis ich wieder laufen kann, dann jage ich dich und garantiere für gar nichts!", knurrt er und ich lache mich schlapp. "Nicht nötig, war nur ein Scherz, sorry. Aber, jetzt echt, wieso das alles? Du hast Chika-chan doch geliebt, nicht wahr? Du wolltest sie doch überhaupt nicht betrügen.", werde ich wieder ernst. "Die Erinnerungen. Um die zurückzubekommen, hätte ich vielleicht sogar meine Seele verkauft. Akira hat auch zu ihnen gehört, zu den Erinnerungen an die Vergangenheit, meine ich. Deshalb habe ich es ihm erlaubt. Schäbig, ich weiß. Aber... jetzt weiß ich es ja besser.", Elvis lächelt etwas traurig. Ich stehe auf, um zu gehen, damit er sich anziehen kann. "Ich lasse dich jetzt dann auch mal allein." Kapitel 125: Vol. 5 - Der Abspann erklingt und da stehen unsere Namen --------------------------------------------------------------------- - Vier Jahre später - Elvis: "Haben wir alles?", frage ich, während Taiyo die Teller auf den Couchtisch legt. "Also Essen auf jeden Fall. Was ist das noch gleich für eine Party? Hab ich irgendwie immer noch nicht ganz verstanden...", murmelt er und das Besteck kommt hinzu. "Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch keinen richtigen Namen dafür. Es ist irgendwie eine Kreuzung aus Klassentreffen, Familientreffen und einer Versammlung des Freundeskreises.", überlege ich, wie man das hier am besten beschreiben könnte. "Sag mal, El, wo ist Chika denn eigentlich abgeblieben?", will er wissen, als alles Essen, Trinken und Besteck essbereit aufliegt. "Sie wollte ihre Verbindungen spielen lassen und wollte nochmal anrufen, um sicherzugehen, dass auch jeder kommt. Sie müsste gleich da sein und uns Bericht erstatten.", erkläre ich und genau dann klingelt es. "Sie können alle kommen!", verkündet sie fröhlich und fällt mir stürmisch um den Hals. "Das freut mich.", flüstere ich, als ich ihre Umarmung sanft erwidere. Chika scheint mir seit der Partyplanung irgendwas vorzuenthalten. Umso gespannter bin ich, was sie sich schlussendlich dabei dachte. "Ich bin fertig, jetzt heißt es nur noch warten, Kameraden.", meint mein Bruder und er hat wirklich Recht. Alles dekoriert und toll aussehend, Versorgung genug für alle. Wir haben wirklich ganze Arbeit geleistet. Die meisten von den Partygästen hat man seither einfach aus den Augen verloren, das ist die Möglichkeit, wieder miteinander zu reden. Es hat sich viel getan in den letzten vier Jahren. Und doch wohne ich immer noch zusammen mit Taiyo und Chika zusammen in derselben Nachbarschaft. Was die Gang betrifft, das Erwachsen werden hat uns zwar auseinandergetrieben, aber nicht irreparabel getrennt. Kaishi und Shuichiro sind ans andere Ende des Landes gefahren. Hanako hat sich in der Musik einen Namen gemacht. Uchihara-san ist verschwunden. Zusammen mit dem Gründer unserer Gang. Was die kleine Nokia-chan angeht, ich weiß nicht, wohin sie verschwunden ist. Ob sie tot ist oder noch lebt. Ich hoffe nur, sie ist glücklich dort, wo sie nun ist. Wir alle sind irgendwie unsere Wege gegangen. Heute sollen sie sich das erste Mal seit langem wieder kreuzen. Als ich gerade prüfen will, ob das Essen auch präsentabel liegt oder steht, klingelt es auch schon und vor mir stehen Hide und Yuki. "Moinsen, wir stürmen die Party.", grinst Yuki und die beiden schleichen sich einfach elegant an mir vorbei. Ich grinse ebenfalls. Taiyo meinte damals, die beiden blieqben nie lange zusammen, aber auf mich wirkten sie zu der Zeit und der, in die wir nun leben, als wenn sie nichts auf der Welt trennen könnte. Als ich erneut versuche, nach dem Essen zu sehen, klingelt es wieder hinter mir. "Hallöchen, wir kommen jetzt einfach rein!", höre ich eine Kleinkinderstimme sagen, ehe meine Eltern und ich einander begrüßen können. Ich sehe nach unten und da ist ein Kind. Erst komme ich nicht drauf und sage Hallo zu meinen Eltern, doch als ich mir einen Reim daraus mache, das Kind mit meinen Eltern, dass ein bisschen aussieht, wie ich in weiblich... Oh mein Gott. "Und hallo, Schwesterchen, Mann, ich hab dich fast gar nicht wiedererkannt!", freue ich mich, sie zu sehen und hebe die Kleine hoch wie Simba. "Ich habe letzte Woche gelernt, wie ich meinen Namen schreibe. Ist Akari nicht unglaublich?", fragt sie und strampelt mit den Beinen. "Ich bin stolz auf dich, Schwesterchen, dass du mit drei schon schreiben kannst!", quieke ich und drücke sie an mich. "Taiyo, unsere Eltern und Schwesterchen sind da!", rufe ich, damit dieser auch mal ankommt. Ich übergebe ihm unsere kleine Schwester wie eine Ware und er freut sich ebenfalls riesig, sie zu sehen. "Ach du Heilige, Mann, bist du groß geworden, Schwester.", findet auch er, denn tatsächlich war es gar nicht so leicht, zwischen dem Säugling, den wir vor vier Jahren haben rausflutschen sehen und dem violetthaarigen kleinem Mädchen, eine Verbindung zu sehen. Nur ganz knapp. Ich erinnere mich noch daran, wie wir alle gegrübelt haben, wie wir die Kleine wohl nennen sollen. Als ich dann auf die Idee kam, sie nach Tante Akane zu benennen, um ihr wenigstens etwas von dieser lieben Person mitzugeben, haben alle zugstimmt. Sie beginnen mit demselben Zeichen für die Farbe rot (赤). Akari Kyokei. Ich bin sicher, dass sich Tante Akane darüber bestimmt gefreut hätte. Auch ein Großteil der Rest der Familie ist hier. Da sind meine Tante väterlicherseits mit Finnland und meine Großeltern. Zu den Eltern von meinem leiblichen Vater gibt es keinen Kontakt seit seinem Tod, hat meine Mutter mal gesagt. Das ist eine lange Geschichte. Als ich auch die alle begrüßt habe, wird es allmählich voller und lauter in der kleinen Wohnung. Meinem Familie, Taiyos Freunde, Chika, ich... da fehlt ja nur noch die Gang aus alten Zeiten! Wie aufs Stichwort erscheinend klingelt es und als ich wieder aufmache, meine ich, Shuichiro und Kaishi zu erblicken. Meine Güte, der allseits kleine und zierliche Shuichiro hat ja einen richtigen Vollbart! Er selbst ist aber noch immer so klein und zierlich wie in der Oberschule, schon eine witzige Kombi. Kaishi hingegen sieht fast noch genauso aus wie ich ihn kenne, nur trägt er einen Laborkittel und eine andere Brille. Ob er den Betreib seines Vaters weiterführt? "Willst du gar nicht Hallo sagen?", weckt mich der bärtige Shuichiro aus meinen Analysen. "J-ja, Shuichiro und Kaishi, hallo zusammen, meine Fresse, habt ihr euch verändert, ich sag nur: Shuichiros Bart.", lache ich, weil ich mich noch immer nicht ganz an diesen Anblick gewöhnen kann. Shuichiro grinst und streicht stolz drüber. Ein wenig ironisch, wie das unmännlichste Mitglied unserer Gang urplötzlich zum haarigen Alpha mutiert. Akira muss das sehen! Akira... Als wir gerade im Begriff sind, die Tür zu schließen, gesellt sich eine weitere Person zu uns, nur diesmal ist es wirklich unmöglich, sie auszumachen. Da steht eine im knielangen Mantel, einer schwarzen Sonnenbrille und einem Mundschutz vor uns und sagt gar nichts. Sie starrt uns einfach nur an. "Kann ich irgendwas für sie tun?", frage ich etwas nervös. "Denk scharf nach und du wirst sehen, dass diese Frage nicht angebracht ist.", sagt sie nur, doch die Stimme sagt mir etwas. "Sie kommt mir bekannt vor...", denkt Shuichiro und schaut sie sich näher an. Sie weicht erschrocken zurück. "Wie jetzt, ihr wisst nicht, wer das ist?", plötzlich steht auch Chika im Schuhraum, die mysteriöse kleine Frau musternd. "Gibt es Probleme?", auch Taiyo ist gekommen, um aus dieser Situation schlau zu werden. "Argh… Ihr Einfaltspinsel...", knurrt sie plötzlich, als sie beginnt, sich ihres großen Mantels zu entledigen, ihrer Sonnenbrille und ihres Mundschutzes ebenso. Erst ist es still, dann trifft uns alle der Schlag. "Hanako?!", sind wir alle im Kollektiv verblüfft. "In natura, irgendeine Maßnahme brauche ich schließlich, um mich vor den Paparazzi zu verstecken, wir ihr sicher wisst.", erzählt sie, als wäre dies in keinster Weise merkwürdig. "Krass. Stimmt ja, du bist die Sängerin von CandyStar, dieser Idolgruppe. Du bist echt unglaublich.", mir fällt wieder ein, dass Hanako ja einen Plattenvertrag bekommen hat, nach dem Schulabschluss, wie pünktlich. Sie grinst zufrieden, Kaishi und Shuichiro sind noch immer sprachlos. Na ja, vom Idolbusiness haben die sowieso keinen Plan, vielleicht wollen sie einfach nichts Falsches sagen. "Ach, Hanako, Lass dich drücken, Mann, ist das lange her!", "Taiyo, ich hab dich so vermisst!", heult sie und wird sogleich von ihm hochgehoben und umarmt. Ein wirklich schräges Paar, denke ich und lächle. Damit meine ich, nachdem sich alle ins Wohnzimmer eingegliedert haben, wir wären komplett, doch, durch di offene Tür, an der ich jetzt stehe, um weitere Partygäste zu empfangen, schrecke ich plötzlich auf, als alles echt schnell geht. "Jetzt komm endlich, Darling! Das sind unsere Freunde! Reiß dich zusammen und sag Hal-, Kyo-kun?", Uchihara-san ist wie der Wind einfach hier und ist überrascht, mich zu sehen, obwohl ich der Gastgeber bin. Als ich sehe, wer ihr Darling ist und gerade widerwillig hierhergeschleppt wurde, meine ich, zu halluzinieren. "Ah... Aaaaaaaaaakira?!", fahre ich zusammen und falle zurück vor Überraschung. "Ich werde nur mit zwei As geschrieben.", grinst er nur. Dass der auf meiner Party aufkreuzen würde, hätte ich echt nicht gedacht, nachdem er seit vier Jahren untergetaucht ist. Er sieht so anders aus. Er wirkt so anders. Irgendwie passt er so überhaupt nicht in die Szene. Er ist ebenfalls erwachsen geworden. Genau wie ich. Er ist etwas gewachsen und breitschultriger als früher, so kommt es mir vor. Sein grauäugiger Blick sieht nicht mehr so aus, als läge er in Nebeln. Und auch sein Gesicht sieht härter aus. Die Veränderungen, durch die ich selber ja auch irgendwo ein wenig gegangen bin, wirken an ihm so absurd, dass es mir Angst macht. "Sanae, kannst du den anderen sagen, dass sie schon mal ohne uns anfangen können?", fragt er seine Begleitung, welche daraufhin lächelt und nickt. "Geht klar!", meint sie. "Ich bin doch der Gastgeber!", will ich mich beschweren, aber Uchihara-san ist schon an mir vorbeigehuscht. "Kommst du kurz mit?", fragt mich Akira und sieht mich an, als wäre es wichtig. In seinem Blick liegt hierfür das richtige Maß an Dringlichkeit. Sein Bike ist bestimmt schon bereit, so wie ich ihn kenne. "Ich komme mit.", gebe ich mich geschlagen, ziehe mir die Schuhe an u nd wir machen uns auf den Weg, wo auch immer sein Ziel liegen mag. "Krass, dieser Platz ist wirklich schön.", bemerke ich, als wir von dort aus unseren Bezirk erblicken können und sogar noch etwas darüber hinaus. Wir haben die Aussicht auf alle nahezu drei Bezirke des Witterungskreises. "Das ist er wirklich.", meint er und setzt sich auf die Bank vor uns, als er mir bedeutet, das Gleiche zu tun. Ich setze mich neben ihn und sehe mit ihm ins Leere. Wo soll man anfangen, nachdem man so lange Zeit getrennt war? Wie soll man es beenden, wenn man glaubte, es bereits beendet zu haben? "Kyocchi, sag mal, hasst du mich?", beginnt er den ersten Satz unserer fälligen Konversation mit dieser einen Frage. "N-nein. Das habe ich dir doch schon einmal gesagt. Egal, wie oft ich drauf und dran war, dich zu hassen... ich habe es nie getan. Dazu war ich nicht stark genug.", lasse ich ihn wissen und schiele mit dem Auge auf sein Seitenprofil. Damit wäre ich davongekommen, hätte ich nicht gemerkt, dass er mit seinem Auge das Gleiche mit meinem Seitenprofil macht. Ich schaue zurück ins Leere und er tut es mir gleich. "Wenn das so ist, dann bin ich froh, dass du so ein Schwächling bist.", flüstert er. "War.", verbessere ich ihn. "Wie du meinst.", Akira seufzt und fährt sich mit der Hand die Haare aus dem Gesicht. Sie sind ziemlich lang geworden. Ich erkenne einen waschechten Vokuhila in seinen Haaren. "Akira, sag mal... hast du mich denn gehasst?", kontere ich mit einer Gegenfrage, selbst wenn ich nicht sagen kann, wieso. "Bist du bescheuert? Wir wissen beide, dass ich das nie konnte.", Akiras Stimme lächelt. Wieder herrscht Stille zwischen uns. Wann immer einer von uns etwas sagt, antwortet der andere und lässt es wieder still werden. So kommen wir hier nicht weiter. Herrschaft nochmal, das hier muss doch zu irgendetwas führen! "Ich glaube, ein Teil von mir hat dich wirklich dazu bringen wollen, mich zu hassen.", sagt er schließlich ganz leise und verwirrt mich damit erneut. "Wie meinst du das, Akira?", verstehe ich ihn nicht. Ich sehe ihn an, um herauszufinden, was in seinem Kopf vorgeht. Akiras Blick ist durchdringend und starr. Neutralität und Vorsicht spiegeln sich darin. "Das war doch offensichtlich.", fängt er an. "Ein Teil von mir hat sich gewünscht, dass du mich verachtest. Alles andere hätte sich einfach falsch angefühlt. Ich wollte, dass du mir verzeihst. Aber zu wissen, dass das nur passiert ist, weil du meinetwegen alles vergessen hast, tat einfach nur weh. Diese Art von Vergebung war die schlimmste, die ich je erfahren habe. Also wollte ich... dass du mich hasst. Ich wusste, dass du mich hassen würdest, würdest du deine Erinnerungen zurückbekommen und die Wahrheit erfahren. Obwohl ich wusste, dass dein Hass auf mich mir das Herz brechen würde, ging ich so weit und tat alles in meiner Macht stehende, damit dein Gedächtnis zurückkehrt. Damit ich die Realität nicht aus den Augen verliere. Um mich für die Fehler aus der Vergangenheit zu bestrafen.", Akiras Stimme zittert leicht. "Egal, was ich getan hätte, es gab kein Richtig oder Falsch mehr. Ich habe mich selbst verloren... Sekunde.", Akira kramt in seiner Jackentasche und zieht ein Feuerzeug heraus. Als er eine Zigarette aus der anderen hervorholt, weiß ich zunächst gar nicht, was passiert oder ich fühlen soll. Akira raucht., flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Selbstmord auf Raten. Lungen so schwarz wie ein Abgrund. Als er die Zigarette angezündet zwischen seine Lippen plaziert und den Rauch tief einzieht, zieht sich zeitgleich etwas in meinem Innern zusammen. War ich das? Akira wendet sich wieder an mich, nur um sich wieder meinem Blickzu entziehen. Er schämt sich vor mir. "Weißt du, Kyocchi, wenn man den besten Freund in den Selbstmord treibt und ihn das Jahr darauf begegnet, ohne, dass dieser wutentbrannt auf einen losgeht oder traumatisiert davonläuft, ist das schon ein ziemlich abgefucktes Gefühl. In dem Moment, in dem ich realisierte, dass du durch die Verletzungen nicht mehr wusstest, wer an allem Schuld hatte, schwor ich, vom Neustart, der mir von nun an vergönnt war, ein besserer Freund zu sein als damals. Damals, als ich nicht der beste Freund war, der an deiner Seite bleibt, wenn sich die ganze Welt gegen dich stellt. Aber überzeugt ich von meinem Plan auch war, so hatte er auch einen Haken. Je länger ich dabei war, es wiedergutzumachen, desto länger sah ich mit an, wie du innerlich nur noch weiter zerbrochen bist. Egal, wie sehr du dich um eine kalte Miene bemüht hast oder tatsächlich hattest... ich habe die ganze Zeit gespürt, wie weh es dir tat, dein Ich für immer vorloren zu haben und nicht zu wissen, was passiert ist oder was für ein Mensch du warst. Dich leiden zu sehen habe ich nicht länger ausgehalten. Also gab ich es auf. ICh gab es auf, dich hinters Licht zu führen. Ich gab es auf, zu versuchen, mich selbst hinters Licht zu führen. Und dann gab ich endgültig meinen Gefühlen nach.", ich sehe den Rauch von Akiras Zigarette in der Luft verschwinden, auch wenn ich ganz genau weiß, dass er das nicht tut. Er verschwindet nicht. Er wird unsichtbar davongetragen und vermischt sich mit der Luft. Eine Koexistenz der Atemgase. "Um dir deinen Wunsch zu erfüllen, war ich bereit, unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Aber nicht im demütigen Sinne. Ich war egoistisch und das wusste ich. Es war pure Absicht. Ich habe mich nur von meinen Trieben leiten lassen, nicht daran interessiert, was das zur Folge hat. Ich wollte nicht einzig und allein deine Rettung, Kyocchi. Ich wollte haupsächlich, aber das wollte ich nicht wahrhaben...", Akira schluckt und verzieht das Gesicht. "Deinen Körper.", noch nie hat eine solch offensichtliche Offensichtlichkeit sich so tief in mein Herz gebohrt. Akira ist der selbstloseste und gleichzeitig selbstsüchtigste Kerl, der mir je untergekommen ist. Dieser Mann hat es geschafft, mich an meine Grenzen zu bringen. Er hat mich benutzt, belogen und lächerlich gemacht. Ich sollte ihn hassen. Ich sollte ihn zusammenschlagen. Ich sollte ihn anschreien. Ich sollte ihn aufgeben. Ich sollte ja so verdammt viel, weil ich so viel ertragen musste durch ihn. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht mehr als ihn ausreden und mein Herz langsam und qualvoll brechen zu lassen. Mal wieder. "Ich wollte auf der einen Seite, dass du erwiderst, wie ich fühle. Ich wollte es wirklich. Aber auf der anderen Seite wollte ich nichts als Schmerz, um mit allem, was meine Schuld war, fertigzuwerden. Ich brauchte deine Liebe, um glücklich zu sein und ich brauchte deinen Hass, um für meine Verhältnisse ein guter Mensch zu sein. Anders ertrug ich es nicht.", Akira atmet den Rauch aus und sieht mich an. Reue spiegelt sich darin. "Tut mir leid. Tut mir verdammt leid. Tut mir schrecklich leid. Tut mir verfickt leid. Tut mir so hart leid. Es-", seine Stimme bricht wieder und er knirscht mit den Zähnen. "Es tut mir leid. Tut mir leid, Mann. Diesmal wirklich. Ich war ein schreklicher Freund und Mensch. Ich werde mich ändern, wenn ich es nicht schon getan habe. Hat echt lange gedauert, was?", Akira sieht sowohl erleichtert als auch tieftraurig aus. Ich habe sowohl das Bedürfnis, ihm den Hals umzudrehen als auch jenes, ihn in den Arm zu nehmen. "Akira, sag...", bin ich mit Reden dran. "Wieso... wieso hattest du mich so gern, wie... wieso wolltest du es unbedingt mit mir tun? Diese Frage beschäftigt mich schon seit jener Nacht, als du mich geküsst hast. Ich will dich verstehen, Akira. Wo warst du? Wo war Uchihara-san? Was hast du all die Jahre gemacht?", mit den Worten, die mir all die Zeit unter den Nägeln brannten, kann ich nun endlich etwas anfangen. Akira sieht mich etwas leer an, nur damit ihm dann ein Lächeln über die Lippen huscht und er hysterisch zu lachen beginnt. "Akira, was zum Fick ist falsch mit dir?! Ist dir klar, dass du mich mehrmals mehr oder weniger vergewaltigt hast?! Du hast meine Beziehung ruiniert, mit meiner Tante geschlafen und unsere Gang fast auseinandergerissen. Nur, um dann für vier Jahre zu verschwinden und das Mädchen, das unglücklich in dich verliebt war, mitzunehmen und nie wieder von dir hören zu lassen. Ich bin sehr gespannt, was du geisteskranker Psychopath jetzt zu lachen"Wieso ich... so gefüllt habe? Ich weiß nicht, ich... Du hast immer so einen beherrschten Eindruck gemacht, du hast in allem dein Bestes gegeben und gleichzeitig hattest du kein Gespür für die Gefühle anderer Menschen. Zumindest in dem Punkt glichen wir uns. Als dieses Mädchen dich damals so belagert hat, ist was in mir zusammengebrochen und ich hatte das Gefühl, ich müsse dich mit aller Kraft vor ihr beschützen, koste es , was es wolle. Ich habe zu dir aufgesehen, ich wollte, dass unsere Freundschaft darüber hinausgeht und niemals endet. Ich habe mir gewünscht, der zu sein, der sieht, dass du nicht unfehlbar bist, ich wollte, dass du mir gegenüber vollends ehrlich bist, selbst wenn ich deinen Panzer mit Gewalt öffnen müsste. Aus dieser Neugierde und dem Beschützerinstinkt wurde dann immer stärkere Zuneigung, die ich nicht klar ausdrücken konnte. Ich wollte deine Nähe spüren und etwas haben, was niemand anderem vergönnt war, ich wollte deine Nummer eins sein, so egoistisch sich das auch anhört. Ich habe die Vorsicht deinerseits ausgenutzt, um dich berühren zu können, ich habe deine Freundlichkeit ausgenutzt und dich manipuliert, weil ich wusste, dass ich dir wichtig bin, wenn auch nicht komplett egal. Aber selbst wenn ich Sex mit dir gehabt hätte, würde das nicht zwangsläufig dazu führen, dass ich dein wahres Ich gesehen hätte. Ich habe sogar meine eigenen Pläne dazu missbraucht, um dir derart nah zu sein. Idiotisch, was?", Akira lacht auf. "Du bist wirklich lieb, Akira.", das überrascht ihn und seine Augen weiten sich. "I-ich?", stammelt er. "Wieso das denn? Nach allem, was ich getan habe, würde ich mich wirklich alles andere als lieb bezeichnen.", "Kann sein, dass du nicht immer alles richtig gemacht hast, aber wer hat das schon? Du hast am Ende doch immer an meiner Seite sein wollen, nicht? Auch wenn deine Absichten vielleicht nicht die Besten wahren, sind sie im Kern immer noch die eines besten Freundes, so wie ihn jeder haben sollte. Dass du die Wahrheit sehen wolltest, die Wahrheit hinter meiner kalten, perfekten Maske, ist gut. Wenn du dich mit dem oberflächlichen Kram zufrieden gegeben hättest, dann wüsste ich nicht, ob dies auch dann noch sowas wie eine beste Freundschaft wäre. Ich habe mich geirrt, als ich sagte, du seist oberflächlich. Das stimmt nämlich gar nicht. Ich brauche dich, Akira. Das ist, was ich dir damals sagen wollte, vor vier Jahren, bevor du aus meinem Leben verschwunden bist. Du bist mein bester Freund und ich... hätte das besser würdigen sollen.", erkläre ich und spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. "Jetzt erzähl doch auch mal über dich. Was war die letzten vier Jahre? Ist Uchihara-san denn wirklich mit dir durchgebrannt?", lasse nun auch ich den Neugierigen raushängen. Akira sieht ein wenig verlegen drein, dann fasst er die Zeit, in der wir getrennt waren, zusammen. "Ich bin nach Las Vegas. Mein Vater hat mich wider meiner Erwartung, es selbst zu tun, angerufen, also... mein leiblicher. Wir haben geredet und irgendwie bin ich ihm zwar immer noch etwas böse gewesen, dass er meine Mutter im Stich gelassen hat, jedoch... konnte ich damals auch nicht auflegen. Er wollte wieder Zeit mit mir verbringen, als Entschädigung für alles uns so. Ich dachte daran, dass meine Mutter vor ihrem Tod gerne nach Vegas gegangen wäre, also sagte ich 'Nur wenn wir nach Vegas fliegen.' Ich wusste, dass ich hierfür alles zurücklassen müsste, ich habe es aber nicht übers Herz gebracht, Sanae ohne Vorwarnung allein zu lassen und habe ihr alles erzählt. Daraufhin wollte sie ebenfalls nach Vegas mit mir und meinem Vater. Ich habe dort gelebt und studiert, ich habe eigentlich gar nicht geplant, zurück nach Japan zu fliegen, aber... als ich von deinem Buch, "Das Ich mit den grünen Augen" im Internet erfahren habe, da... habe ich es mir bestellt. Einfach so. Und es binnen einer Woche unter Verdeck durchgelesen. Als ich es abgeschlossen hatte, wurde mir klar, dass ich mich nicht länger selbst belügen kann und mich dem stellen muss, das ich angefangen habe. Mein Vater hat dort jetzt eine Wohnung, also in Vegas. Als ich dann auch ins Land der aufgehenden Sonne zurückkehrte, habe ich nahezu pünktlich eine WhatsApp von Chika bekommen, dass eine Party bei dir steigt. Irgendwie sind wir zwei nie ganz warm miteinander geworden, aber ich glaube, sie toleriert mich jetzt etwas mehr, zumindest hoffe ich das. In Vegas wars echt toll, Sanae und ich haben ziemlich viel erlebt, aber... ich habe dich nun mal ebenfalls vermisst, Kyocchi.", irgendwie strahlt Akira eine nie gesehene Zufriedenheit aus, die ich fast schon riechen kann. "Auch ich habe dich vermisst, Akira. Sehr sogar, ich habe Sorgen gemacht, ob du überhaupt noch am Leben bist. Aber sag mal, wie ist das denn jetzt mit Uchihara-san und dir? Seid ihr jetzt irgendwie... zusammen oder was?", will ich abschließend noch wissen. Akira zuckt bei der Frage tatsächlich etwas zusammen. "Irgendwie.. ja, nicht nur irgendwie, wir... wir sind zusammen. Ich glaube, ich habe es nach all den Jahren geschafft, ihre Liebe für mich zu erwidern. Wir erwarten sogar ein Kind.", "Waaaaas?!", das haut mich zugegeben echt vom Hocker. Akira wird Vater?! "Ja, verrückt, nicht? Ich kann es selber nicht ganz fassen, Vater zu werden und wusste nicht ganz, wie du reagieren würdest, nachdem das mit deiner Tante...", "Denk nicht darüber nach, das... das ist jetzt nicht weiter wichtig. Wir werden Tante Akane niemals vergessen, das ist doch das Einzige, was wir jetzt noch tun können. Ich freu mich für dich und Uchihara-san, wirklich. Alles Gute, Akira.", Akira hat sich wirklich gewandelt. Er scheint viel ruhiger zu sein. "Plötzlich umarmt er mich einfach so. "A-Akira? Ist alles in Ordnung?", will ich wissen. "Ja. Jetzt sowieso. Ich... ich habe dich so verdammt doll vermisst, Kyocchi, ich... ich hoffe, du bist wirklich nicht mehr sauer auf dich und bleibst auch ja... bis zu deinem Tod mit Chika zusammen. Ich war nie froher, dein bester Freund zu sein.", schnieft er und bricht in Tränen aus. Ich erwidere seine Umarmung und auch mir Laufen die Tränen über die Wangen. Akira ist so warm. Dies ist die Geschichte von Liebe und Freundschaft, wie sie beinahe zerbricht, und die Beteiligten schlussendlich doch zusammenfinden, weil ihr Band alles überlebt. Das ist unsere Geschichte. Und hier in dieser Stad spielt sie ab. Wie im Film sehe ich die Namen aller unserer Freunde herunterrasseln. Es ertönt das Lied vom Abspann, ja, das ist unser Lied. Ich nenne es, das unltimative Happy End, denke ich, während ich weiß, dass all unsere Freunde hier unten auf uns warten. Epilog: Vol. 5 - Das war ich, das bin ich, zweifellos. ------------------------------------------------------ - 17 Jahre später - "Und das, Kinder, ist die Geschichte, wie ich eure Mutter kennengelernt habe.", beende ich meine Lebensgeschichte und seufze. Schnief. "Chinatsu, wieso heulst du jetzt?", versteht Tsubasa die Tränen seiner Schwester, die weinend ihr Popcorn isst, nicht. "Tsubasa, du Eisklotz... das ist so viel besser als Twilight. Manno, du hast echt keinen Sinn für Romantik, Mann!", weint Chinatsu und ihr Bruder kann darüber nur den Kopf schütteln. "Du bist einfach unmöglich.", seufzt nun auch er. Obwohl die beiden Zwillinge sind, könnten sie wohl unterschiedlicher nicht sein. Ich schmunzle drüber und sehe etwas verlegen zu meiner Frau. Chika hat größtenteils mich erzählen lassen. Ich wollte immer wieder sichergehen, ob ich das auch wirklich sagen soll, sie nickte jedes Mal. Es ist schwer, über unsere Vergangenheit zu reden, vor allem wegen dem Betrug, den ich ihr vor langer, langer Zeit angetan habe. "Ist alles in Ordnung, Chika?", frage ich. "Alles gut, ich... musste nur an damals denken, also... an alles, meine ich. Wir haben so viel erlebt, das... fühlt sich heute nur so... so weit weg an. Als hätten wir in ein Paralleluniversum gewechselt, komisch, oder?", findet sie und sieht mich unverwandt an. Nach all den Jahren ist es immer noch Chika, die neben mir ist, trotz ihrer inzwischen vierzig Jahre ist sie noch immer dasselbe fantasievolle Mädchen, dass nun seit über fünfzehn Jahren mit mir verheiratet ist. Es ist sehr viel passiert. Nachdem wir im März 2024 wieder alle zusammen vereint waren, war nichts mehr wie es war. Akira und Uchihara-san haben bereits ein Kind erwartet, da war ich zweiundzwanzig. Dieses war ein kleines weißhaariges Mädchen, dass auf den Namen Nana Egaoshita hört. Im selben Jahr haben dann endlich mein Bruder Taiyo und Hanako, das japanweit bekannte Idol, welches seine Karriere ohne mit der Wimper zu zucken, an den Nagel hing, geheiratet, wenig später bekamen auch die ein Kind namens Hayato Hanazawa. Taiyo wollte nicht, das die Musikkarriere seiner Frau in Vergessenheit gerät, also war er es, der seinen Nachnamen aufgab. Zu der Zeit war ich dann dreiundzwanzig und noch immer nur mit Chika verlobt. Nach der Geburt Hayatos habe ich dann meinen Mut zusammengenommen und ihr einen Antrag gemacht. Wenig später, da war ich vierundzwanzig waren dann auch schon unsere Zwillinge Tsubasa und Chinatsu Kyokei auf der Welt. Fünfzehn Jahre sind seit ihrer Geburt vergangen und ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich bin beim Anblick der Schmerzen erleidenden Chika damals beinahe ohnmächtig geworden. Ich habe mich so hilflos gefühlt und habe mich immerzu gefragt, ob ich es überhaupt würdig sei, der Vater dieser Kinder zu sein. Ich hatte Angst. Doch als ich die beiden dann endlich sehen und fühlen konnte, dachte ich, verdammt ja, diese Aufgabe ist meine! "Oh mein Gott!", holt mich Tsubasa wieder in die Wirklichkeit zurück. "Nee-san, wollten wir nicht noch mit Nana und Hayato ins Kino?! Wir kommen noch volle Kanne zu spät!", entfährt es ihm wie unter Strom. "H-hast ja Recht, Mama, Papa, wir müssen sofort weg!", sagen die beiden im Chor und ehe ich noch etwas erwidern kann, sind die beiden auch schon aus dem unserem Schlafzimmer gestürmt, haben ihre Schuhe angezogen und sind weg. "Hach, Kinder...", murmle ich. Ich denke daran zurück, wie ich in deren Alter war. Sie sind überhaupt nicht wie ich, weiß ich und lächle, nur Tsubasa erinnert mich mit seiner Inkompetenz in Bezug auf die Gefühle von Chinatsu an mich. "Morgen gehen sie doch in die Highschool, nicht wahr?", fällt es Chika plötzlich ein. "J-ja, hast Recht, Mann, wie schnell die Zeit vergeht...", kommentiere ich nur und denke ebenfalls an meine Zeit in der Oberschule zurück. Die Blutrosenoberschule, das waren noch Zeiten. Dass Tsubasa und Chinatsu dieselbe Uniform wie ihre Eltern tragen werden, entlockt mir ein Lächeln. Wie sie sich wohl schlagen werden? "Ich bin stolz auf die beiden.", flüstert Chika. "Da schließe ich mich an. Mit denen wird es echt nie langweilig.", meine ich und kralle mir etwas von Chinatsus Popcorn. "Mit dir im Übrigen auch nicht!", stichelt Chika. "Was soll das denn heißen?", grinse ich und streiche ihr durchs Haar. Diese glückliche Zukunft, in der wir uns nun befinden, hätte ich anfänglich nie für möglich gehalten. Ich hatte immer Angst vor ihr, war nichts weiter als ein Junge, der daran geglaubt hat, die Zukunft wäre finster und grau. Ich wusste nicht, wohin mit der Gegenwart und dachte, selbst wenn ich sterbe, geht es zwar weiter, aber das alles verwandelte sich früher oder später in eine graue oder gar schwarze Masse, da die Ewigkeit nicht endet. Ob es nun eine gute oder eine schreckliche ist, irgendwann hört man zwangsläufig auf, den Alltag leben zu wollen. Wie soll man etwas genießen oder das Leid aufrechterhalten, das im Jenseits, ob Himmel oder Hölle, auf einen wartet, wenn das Gestern und das Morgen sich immer und immer wieder wiederholen? Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken, zumindest ein wenig, jetzt versuche ich nur noch, einfach zu glauben und zu leben. Ich bin doch tatsächlich wieder im Glauben angekommen, unabhängig von meiner Vergangenheit. Ich habe aufgehört, mich zu fragen, was, wenn er mich gar nicht mehr haben will, nur, weil ich mit Akira rumgemacht habe? Ich wollte nicht mehr daran denken und dachte einfach, sei's drum, ich habe nichts zu verlieren, wenn ich wieder versuche, gläubig zu werden. Meine Mutter hat mir damals mehr oder weniger dabei geholfen, als wir uns ausgesprochen haben, das war an meinem achtzehnten Geburtstag, als ich die anderen für zehn Minuten aus meinem Krankenzimmer gebeten habe. Ich habe gesagt, dass ich am Tod der Anführerin des Kurodate-Clans schuld war. Dass ich es war, der von ihr persönlich dazu genötigt wurde, sie zu erschießen. Dass sich Erika Kurodate als die seit Jahren vermisste Shizuku Shizuhara herausstellte, ihre Schwester. Dass ich sie umgebracht hatte. Es tat mir schrecklich weh, das zu sagen. Dass ich, ihr eigener Sohn, ihre Schwester, ganz gleich, ob genötigt oder nicht, unwiderruflich auf dem Gewissen, habe. Sie war sehr lange ziemlich still, doch dann sagte sie, nachdem ich ihr alles erzählt habe: "Ich danke dir, dass du ehrlich zu mir bist. Was passiert ist, ist schrecklich und zu wissen, dass meine Schwester nicht gerettet werden konnte, bricht mir das Herz. Ich weiß nicht, wie viel ich geben würde, um sie zurückzuholen oder diesen Vorfall ungeschehen zu machen. Aber... wenn ich daran denke, dass ich selbst beinahe den Glauben an ihre Heilung aufgab und mein Sohn ihren letzten Willen erfüllt hat, dass... dass er sich retten konnte und wieder bei mir ist... ich werde etwas brauchen, um es zu verdauen, aber... ich danke dir dennoch, dass du noch am Leben bist, mein Sohn. Wirklich. Ich kann und will dir nicht die Schuld an ihrem Tod geben. Für die Presse sah es aus, als wäre es ein Selbstmord. Ich nehme die Wahrheit mit ins Grab.", damit war unser Gespräch beendet. Trotz ihrer Worte, konnte ich förmlich sehen, wie sehr ich sie verletzt hatte. Dass ich es war, der den Abzug unter sonstigem Opfer seines Lebens betätigen musste. Ich fühle mich seit meiner Bekehrung irgendwie komisch besser, als wenn nun alles zwar nicht vergessen worden, aber verziehen ist. "Ich liebe dich wirklich sehr, Elvis.", haucht sie und ich bin einen Moment verwirrt darüber, dass sie mich bei meinen richtigen Namen nennt. "Ich liebe dich auch, Chika.", hauche ich ebenfalls und fahre ihr mit der Hand über die Lippen, als ich sie kurz darauf küsse. Das ist wieder einer dieser Abende, an denen mich ihre Küsse an jene Nacht erinnern, in der wir so viel mehr als Mitmenschen oder gar Liebespaar waren. In der Nacht zwei Monate nach unserer Hochzeit. Die Wärme zwischen uns und die Liebe, die Form annahm bis ins Unermessliche, werde ich im Leben niemals wieder vergessen. Es ließ mich für die gefühlte Unendlichkeit vergessen, dass ich jemals allein gewesen bin. Ich fragte mich, wie ich jemals ohne sie leben konnte. Ohne die Liebe meines Lebens. Ohne Chika. Langsam sinken wir auf das Bett, auf dem noch etwas Popcorn liegt und die Berührung unserer Lippen gewinnt mehr an Intensive, dass es mir mehr und mehr den Verstand raubt. Beinahe taucht ein Flashback vor meinem geistigen Auge an die erste Nacht, die wir derart miteinander verbrachten, auf, doch wurde sofort von der heutigen verdrängt. Fast schon beiläufig dimme ich das Licht durch die Fernbedienung in unserem Raum, als wir unserer Kleidung entrinnen und uns im Meer der Steppdecke und der Hitze unserer Körper verlieren. Es ist dunkel im Zimmer, nur das Mondlicht scheint durch die Gardienen auf uns herab. Wie in jener Nacht. Egal, wie oft wir uns ineinander verirren, nichts kommt gegen die erste Zärtlichkeit annähernd an. Doch auch das hier, das war wundervoll. Weil sie es war, mit der ich diese zärtlichen Stunden verbracht habe. Weil es Chika ist. "Du bist wirklich unglaublich, Ellie.", flüstert sie. Weil ich nicht weiß, ob das auf meine Persönlichkeit oder auf meine Fähigkeiten im Bett bezogen war, ziehe ich sie, statt ihr eine erwidernde Antwort zu geben, näher an meine Brust. "Und du bist feucht vom Schweiß.", ärgere ich sie und drücke meine Lippen auf ihre Stirn. "Du kannst wirklich ein Trampel sein, was die Gefühle deiner Frau angeht, weißt du das? Aber... trotz allem ist das noch immer der Ellie, den ich immer geliebt habe und immer lieben werde.", flüstert sie in der nächtlichen Atmosphäre. "Du, Ellie, denkst du denn, dass es denn immer und ewig so weitergehen wird?", will sie auf einmal wissen. "Ich werde von jetzt an ganz bestimmt nicht jede Nacht mit dir schlafen.", nehme ich sie erneut auf den Arm, weil ich es witzig finde. "Das meine ich doch nicht. Ich meine, das alles hier. Der Frieden mit all unseren Freunden, mit deinen Eltern, Onii-sama und allen anderen. Und auch mit Nana-chan und Hayato-kun. Auch mit Akari-chan. Glaubst du, wir werden, wie seit unserem Treffen mit allen einen solchen ewig währenden Frieden genießen?", fragt sie, als würde sie hinterfragen, ob wir immer so glücklich sein werden. Ich beiße ihr ins Ohr. "Au, was sollte das denn auf einmal?", bemerkt sie etwas pikiert, doch denkt nicht daran, sich von mir zu lösen. "Es war nicht nur Frieden, den wir seither erlebt haben. Und es wird auch nicht immer nur Frieden geben. Dinge ändern sich, Dinge sterben und Dinge werden geboren. Das ist der Kreislauf des Lebens und wir sind das beste Beispiel hierfür. Aber trotz allem dürfen wir weder das Glück noch den Schmerz vergessen. Es wird immer irgendwo Hoffnung für uns geben, da bin ich mir seit Jahren sicher. Den habe ich von dir gelernt, diesen unverbesserlichen Optimismus. Wir werden niemals vor etwas geschmissen, das ein Mensch nicht ertragen kann. Komisch, wie ein bisschen Christentum was verändern kann, was?", ich lache leise auf. "Ich denke, da könntest du Recht haben.", murmelt sie, als sie meine Hand auf ihrem Herzen platziert, wenn sie mir zeigen will, dass sie mir vertraut wie auch ich ihr vertraue. "Ich bin froh, dich zu haben.", höre ich sie flüstern, als sie zu mir aufsieht und sie mich küsst. Es ist erneut ein sehr langer Kuss, wie in den Filmen, bei denen alle Klischees von Tratschtanten wie blöde rumquietschen und einen Fangirltod sterben. Ich habe mich vor langer Zeit gefragt, wieso ich diese Frau eigentlich liebe. Nachdem Akira es mir vorgehalten hat, ich könne sie eventuell wegen der leere in meinem Innern benutzen, als sei sie nicht mehr als eine Ablenkung von der Melancholie. Ich habe hin und wieder tatsächlich mit en Gedanken gespielt, dass es so sein könnte. Ich hatte Angst, sie zu verlieren, weil ich sie angeblich benutzt habe. Doch ich lag falsch. Grottenfalsch. Ich liebe sie. Die Liebe braucht keinen Grund, sagt man, doch ein paar müsste ich schon noch nennen, keinen Grund hin oder her. Ich liebe ihre spontane Art, dass sie aufrichtig und neugierig ist. Ihre Einfühlsamkeit und Empathie, dass sie versteht und nicht verleugnet, was sie getan hat. Ich liebe, wie aufrichtig, ehrlich und nett sie ist, dass sie jedem Menschen eine Chance gibt und mir beigebracht hat, an das Gute im Menschen zu glauben. Ich liebe ihre Gewitztheit, dass sie einen zum Lachen bringt mit ihrer komischen Art, Farbe darin zu sehen, in dem ich, außer endlosem Schwarz und Weiß, nichts erkennen kann. Diese strahlend goldenen Augen, diese beruhigend moosgrünen langen Haare, diese weiche sonnengebräunte Haut, die mich an den Sommer erinnert, dieses Lächeln. Alles verbindet sich zu der Traumfrau, die ich im Leben nicht missen will. Ich habe verstanden, was es ist. Wonach ich all die Jahre gesucht habe. Es war nicht etwa das unbegrenzte Verständnis der Gefühle anderer, es war auch niemand allein, der mich erfüllt, selbst einen Platz, an dem ich bleiben kann und nie wieder gehen will, das alles wollte ich zwar, doch in Wahrheit wollte ich hauptsächlich noch etwas viel größeres. Ein Herz, das lieben und leben kann. Eines, dass nicht an Gleichgültig- oder Bitterkeit zerbricht, sondern immer wieder durch Liebe geheilt und gestärkt werden kann. Eines, wie nur Gott es geben kann. Eines, an dem die Menschen um mich herum, mitgewirkt und mich zu der Person gemacht haben, die ich jetzt bin. Es gibt keine Rechtfertigung für Leid und Leid zufügen. Die Erde ist verdammt und alle wissen das. Seit diese willensschwachen Idioten von Adam und Eva von dieser 'falschen Schlange' - Oh Mann, war der schlecht - verführt wurden, gegen dieses eine Gesetz zu verstoßen. Das gibt 'Du hattest eine Aufgabe. Und du hast versagt.' noch mal eine ganz andere Bedeutung. Wer weiß, vielleicht liegt das daran, dass die beiden sich nicht von Anfang an für Gott entschieden haben. Hätten sie gesagt, 'Ich bleibe bei ihm, egal was passiert, schließlich hat er mich ins Leben geholt.', wäre das vielleicht nicht passiert. Gott ist sicherlich der Einzige, bei dem ein solcher Satz keineswegs gefährlich wäre. Schließlich hat er mich all das aus der Vergangenheit unbeschadet, wenn man von den Narben an meinem Körper und dem falschen Bein absieht, überstanden und konnte sogar etwas genießen. Wenn das kein Grund zum Weiterleben, Arbeiten und Beten ist, dann vergrab mich doch. Das ist eine Geschichte übers Leben. Eine, bei der ich des Öfteren fast vergessen hätte zu atmen und es vermutlich auch noch in Zukunft werde. Das Übliche eben. Bis dass der Tod uns scheidet und nicht früher. Es gibt noch so viel zu erzählen und zu erleben. Unser ganzes Leben lang. LEGENS NEVER DIE. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)