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Du mußt weitermachen, John!

von

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Phasen der Trauer

Er hatte die Akten studiert. Hatte Seite um Seite gelesen. Vernehmungen. Interviews. Berichte.

Er hatte Videoaufzeichnungen angesehen von allen möglichen Vorfällen, die mit Moriarty in Verbindung gebracht wurden. Von Verhören überführter oder mutmaßlicher Täter, von denen man eine Verbindung zu Moriarty vermutete. Stundenlang.

Und er hatte doch erst an der Oberfläche all dessen gekratzt. Es würde noch viel, viel Zeit in Anspruch nehmen.
 

Er saß in der vollbesetzten Tube zwischen den Menschen, die um diese Zeit noch unterwegs waren. Es war schon recht spät, und er würde vermutlich morgen früh, wenn er zu seiner Schicht aufbrechen würde, ziemlich müde sein.

Ach, zur Hölle damit. Er hatte sich nun mal entschieden, die Sache anzugehen, und wenn er etwas tat, dann auch mit vollem Einsatz. Die daraus entstehenden Unannehmlichkeiten würde er eben in Kauf nehmen.
 

Ein wenig erschöpft von dem langen Tag sah er sich um und dann geschah es.

Dort hinten, einige Meter von ihm entfernt, am anderen Ende des Waggons, stand eine schlanke Gestalt in einem langen, eleganten Mantel. Einem Belstaff. Darüber ein Hinterkopf, eingehüllt in einen Mopp wilder, schwarzer Locken.

Sherlock.
 

Johns Herz setzte einen Augenblick aus, der Schweiß brach ihm aus.

Sherlock?

Aber das konnte doch nicht sein ... !!!

Er holte tief Luft und schloss einen Augenblick die Augen, hin und her gerissen von Gefühlen, die eine Mischung aus Angst, Hoffnung, Panik und wieder Hoffnung waren ...

Als er die Augen wieder öffnete, war die Gestalt verschwunden.
 

John sprang auf und lief in die Richtung, wo die Person gerade noch gestanden hatte. Doch in diesem Augenblick hatte die Bahn den nächsten Bahnsteig erreicht, angehalten und die Türen öffneten sich. Die Menschen strömten nach draußen und im Gedränge verlor John den Überblick.

„Sherlock!?“, rief er verzweifelt in die Menge hinein.

„Sherlock...!!!“
 

Als er schließlich mit den anderen Fahrgästen den Waggon verlassen hatte und auf dem Bahnsteig stand, blickte er sich verzweifelt um. Aber die Gestalt – war es wirklich Sherlock gewesen? - war nirgends zu sehen.

Einige andere Menschen, die ihn wohl erkannt hatten, immerhin war er eine in London wohlbekannte Persönlichkeit, warfen ihm fragende Blicke zu.
 

John spürte, wie ihm die Tränen kamen. Und es wurde ihm klar, dass er die Trauer noch lange nicht bewältigt hatte. Noch lange nicht.

Verdammt, er wollte nicht hier, inmitten einer Menschenmenge, losheulen.

Ein Zittern durchlief ihn, doch er schaffte es, sich zusammenzunehmen und die Tränen zurückzudrängen.

Ich muss nach Hause, dachte er, nach Hause in die Baker Street. Ich muss zur Ruhe kommen.

Die Wohnung in Mrs. Hudsons Haus, ein Sessel, der Kamin, der Schädel, all das, so sehr es ihn auch an Sherlock erinnerte, hatte doch etwas vertrautes, und so sehr er auch trauerte, fand er hier doch Geborgenheit. Und genau die brauchte er jetzt, um nicht am Ende noch völlig durchzudrehen.
 

John meldete sich am nächsten Tage krank, und zwar sowohl bei seinem Arbeitgeber als auch beim Yard. Er fühlte sich nicht in der Lage, irgendetwas konstruktives zu tun. Die Begegnung ... oder was auch immer es gewesen war ... von gestern Abend hatte ihn doch ziemlich mitgenommen. Er saß wie erstarrt den halben Tag in seinem Sessel.

Schließlich begann er zu weinen. Er weinte bitterlich und jammervoll. Seine Augen brannten, das Blut pochte in seinen Adern, sein Herz schmerzte. Doch diese Tränenflut schien ihn ein klein wenig aus der Starre zu reißen. Als die Tränen versiegten, fühlte er sich ein wenig besser.

Und er war wieder bereit, sich dem, was da geschah, zu stellen.
 

Er schnappte sich sein Laptop und begann, sich im Internet durch einige Medizinseiten und Foren zu arbeiten, die sich mit Psychologie, und zwar speziell Trauerpsychologie beschäftigten.

Sicher waren diese Dinge in seinem Studium am Rande erwähnt worden, doch nicht genug, als dass er sich wirklich damit ausgekannt hätte. Also machte er sich daran, sein Wissen aufzufrischen.
 

Nun, stellte er fest, auch wenn Trauer bei den meisten Menschen nach einem ähnlichen Schema abläuft, ist es doch bei jedem anders.

Zu Anfang befindet man sich im Schock. In dieser Zeit begreift man nicht, was wirklich geschehen ist. Auch wenn der Intellekt es begreift, tut die Seele das noch lange nicht. Man fühlt sich, als wäre der Verstorbene nur gerade nicht hier. Würde wiederkommen. Wäre am anderen Ende der Welt oder im Zimmer nebenan, aber jedenfalls noch da.
 

Bei einer gesunden Trauer geht diese Phase irgendwann in eine Phase des Begreifens und der tiefen Verzweiflung über, eine Verzweiflung, die schmerzhaft und schlimm ist und unterschiedlich lange dauert, aber da sie begründet ist und auf soliden Planken steht haben das Leben und der Alltag, die Liebe und die Lebensfreude die Chance, sie irgendwann in eine dumpfe Trauer und schließlich in eine nur noch im Hintergrund bestehende Trauer zu verwandeln, so dass man wieder glücklich sein und lachen kann.

Man vergisst den geliebten Menschen deswegen nicht etwa, und vielleicht hat man noch nach Jahrzehnten Augenblicke, wo einen die Trauer zutiefst packt. Aber sie überlagert nicht mehr das gesamte Leben.
 

In der Anfangsphase, in der Phase des Schocks, des Nichtbegreifens kann es durchaus vorkommen, dass der Trauernde den Verstorbenen zu sehen glaubt, in einer Menschenmenge, am anderen Ende einer Straße; in Ausnahmefällen sieht er ihn sogar vor sich stehen und spricht mit ihm.

Das vergeht bei einer gesunden Trauer.
 

Nun, nicht jede Trauer verlauft „gesund“.

Bei knapp 10 Prozent aller Trauernden verläuft die Trauer pathologisch.
 

John klappte das Laptop zu und seufzte.

Wenn man es recht bedachte war es kein Wunder. Die Umstände von Sherlocks Tod waren alles andere als gewöhnlich gewesen. Die Zeit danach war chaotisch. Aber auch die Tatsache, dass John mit Sherlock den einzigen Menschen verloren hatte, der es geschafft hatte, ihn aus seinem eigenen schwarzen Loch zu holen ... nur um ihn dann mit seinem Tod wieder da hinein zustürzen.
 

Es war also alles andere als ein Wunder, dass Johns Trauer nicht gewöhnlich verlief, und er sich offenbar aus der Phase des Schocks noch nicht richtig gelöst hatte, obwohl Sherlocks Sprung nun schon mehrere Monate her war.

Es war also alles andere als ein Wunder, das John halluziniert hatte und geglaubt hatte Sherlock zu sehen.
 

Die Frage war nur, jetzt wo er um die Schwierigkeiten seiner ganz persönlichen Trauerarbeit wusste ... würde er es bewältigen oder würde es alles noch schlimmer werden?



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