Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 1: Off to a good start. (Or not.) ----------------------------------------- „Ja, ja selbstverständlich nehmen wir diese Funktion auch in die Werbung auf! Natürlich, immerhin haben wir das letzte halbe Jahr investiert, um sie zu perfektionieren!“ Am anderen Ende der Leitung brachte der Marketingleiter der Kaiba Corporation Einwände vor, die sein Vorgesetzter jedoch nicht gelten ließ. Der saß soeben zu ungewöhnlicher Zeit – es war 10:30 Uhr an einem Sonntag – in seiner Limousine auf dem Weg zur Schule. „Es ist mir egal, wenn Sie dafür alle Anzeigen nochmal umstellen müssen! Ja, mir ist bewusst, dass Sonntag ist, aber ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Sie arbeiten doch im Marketing, also seien Sie gefälligst kreativ und lassen Sie sich etwas einfallen! Gut, ich muss auflegen. Bedauerlicherweise bin ich kommende Woche wohl nicht in gewohntem Maße erreichbar, aber ich werde mich später noch einmal melden. Falls es noch weitere Verzögerungen gibt, möchte ich trotzdem unverzüglich informiert werden, ist das klar? Danke, auf Wiederhören!“ Seto legte auf und steckte das Handy in seine rechte Manteltasche. Es würde wohl für die nächsten Tage eines seiner letzten ausführlicheren Geschäftstelefonate sein, wie er vermutete. Umso wichtiger, dass der Start der Marketingkampagne für die lang erwartete nächste Duel Disk-Generation, die in wenigen Wochen erscheinen sollte, noch ordentlich in die Wege geleitet wurde. Sein kleiner Bruder, der ihm gegenüber saß, sah ihn mit einem sanften Lächeln an. „Zum Glück wirst du auf der Klassenfahrt nicht ganz so viel arbeiten können. Ich hoffe wirklich, du kommst ein bisschen runter und kannst mal entspannen.“ Seto schnaubte verächtlich. „Eine ganze Woche mit Muto, Wheeler und dem Rest des Kindergartens und du redest von Entspannung? Das kannst du nicht ernst meinen, Mokuba!“ Der ließ sich von seiner positiven Sichtweise jedoch nicht abbringen. „Du wirst es schon überleben. Und du kommst mal raus und siehst was anderes, wenn du schon mit der Gesellschaft nicht einverstanden bist.“ Ach, sein Bruder und dessen nicht enden wollender Optimismus. Auf seinen Geschäftsreisen kam er auch raus und sah etwas anderes, dafür brauchte er definitiv keinen Reisebus voller unreifer Heranwachsender – eine Bevölkerungsgruppe, mit der er sich trotz seines Alters nicht identifizierte. Heranwachsend: ja, das war er bedauerlicherweise, der Biologie geschuldet; unreif: keineswegs, ganz im Gegenteil. Zweifelnd schüttelte er den Kopf und antwortete ausweichend, um Mokuba zumindest noch ein wenig in der naiven Vorstellung zu belassen, er könnte in irgendeiner Form eine erfreuliche Zeit haben. „Wir werden sehen.“ Ihm stand in keiner Weise der Sinn danach, sich bereits im Vorhinein mit den kommenden Tagen auseinanderzusetzen; es war schon schlimm genug, dass er sie noch durchleben müssen würde. So sah er nur aus dem Fenster der Limousine und genoss bewusst ein letztes Mal die Ruhe vor dem einwöchigen Martyrium, das ihm bevorstand. Einige Kilometer entfernt stand Duke Devlin, seines Zeichens Erfinder von Dungeon Dice Monsters und Besitzer des Spieleladens Black Clown, mit seinem stellvertretenden Filialleiter Hisoka hinter dem Verkaufstresen. Er hatte ihn ausnahmsweise am Sonntag kurz einbestellt, um ihm letzte Instruktionen zu geben, bevor er eine Woche lang nicht da sein würde. Gestern war so viel Kundschaft im Geschäft gewesen, dass sie dazu nicht gekommen waren. „Und denk dran, am Mittwoch kommt eine große neue Lieferung Duel Monsters Displays, die prominent im Laden platziert werden müssen, am besten da drüben, gleich am Eingang. Und außerdem kommt noch ein Schwung Brettspiele, die wir nachgeordert haben. Also stell sicher, dass genug Leute da sind, um beim Ausladen und Einräumen zu helfen!“ „Klar, hab ich auf dem Schirm!“, bestätigte Hisoka. „Wunderbar. Falls etwas sein sollte, ich habe mein Handy dabei, aber bitte ruft wirklich nur an, falls jemand im Sterben liegt oder so. Ich bin ziemlich weit weg, kann also ohnehin nicht viel machen und ich möchte ganz gerne einfach eine entspannte Woche mit meinen Freunden haben.“ Kollegial klopfte ihm sein junger Mitarbeiter auf die Schulter und lachte. „Keine Angst, Duke, fahr du mal auf deine Klassenfahrt. Falls jemand im Sterben liegt, sind wir mit dem Notarzt wahrscheinlich ohnehin besser dran. Wir schmeißen den Laden hier schon, du weißt doch, dass du dich auf uns verlassen kannst.“ Der Schwarzhaarige seufzte und nickte. „Ja, das kann ich. Danke, auch dafür, dass du extra nochmal reingekommen bist! So, jetzt muss ich mich aber langsam wirklich auf den Weg machen.“ Er schnappte sich seine Reisetasche aus der Ecke hinter der Kasse und warf sie sich über die Schulter. „Bis übernächste Woche!“ „Viel Spaß!“, verabschiedete Hisoka seinen jungen Chef. „Danke!“ Duke lächelte und winkte noch einmal zum Abschied, bevor er den Laden verließ und sich auf sein Fahrrad schwang. Zum Glück hatte er es nicht übermäßig weit bis zur Schule. Ebendort stand vor dem Gebäude bereits der Reisebus bereit. Roland parkte die Limousine ein wenig abseits weiter vorne an der Straße. Als sie zum Stillstand kamen und der Motor abgeschaltet wurde, erwachte Seto wie aus einer Trance. Er griff sich seine elegante lederne Aktentasche, die seinen Laptop und alles wichtige enthielt, was er zum Arbeiten benötigte und überprüfte noch einmal seine Manteltaschen nach Smartphone und Geldbeutel. Mokuba hatte ihn überzeugt, gewissermaßen in Zivil aufzutreten und eher normale Kleidung anzuziehen, da sie einige Ausflüge machen würden und er doch sicherlich nicht auffallen wolle. Den schlichten, aber trotzdem nicht minder teuren beigefarbenen Kurzmantel trug er nur selten und hatte darum noch keine durch Gewohnheit festgelegten Plätze für seine essentiellen Habseligkeiten. Einige Mitschüler verabschiedeten sich noch von ihren Eltern, andere luden ihre Sachen ein oder stiegen bereits in den Bus, sodass glücklicherweise niemand wirklich Notiz von ihrer Ankunft nahm. Roland öffnete die Wagentür und die beiden Brüder stiegen aus. Seto nahm seinen kompakten silbernen Rollkoffer von ihm entgegen und schüttelte ihm zum Abschied kurz die Hand. „Auf Wiedersehen, Roland. Und Sie wissen ja …“ Routiniert spulte der Assistent die allseits bekannte Order ab. „Selbstverständlich, Master Seto, kein Fernsehen oder Computerspiele für Master Mokuba, bevor nicht alle Hausaufgaben erledigt sind. Und kein zu langes Aufbleiben.“ Zufrieden nahm Seto es zur Kenntnis. Man konnte sagen, was man wollte, auf Roland war wirklich Verlass. „Ganz genau. Bis in einer Woche.“ „Auf Wiedersehen, Sir.“ Zögernd fügte er noch hinzu: „Ich wünsche … angenehme Tage.“ Seto verdrehte darauf nur die Augen und wandte sich mit ernstem Gesicht seinem kleinen Bruder zu. „Du hast es gehört, Mokuba!“ Mit einem fröhlichen Grinsen gab der Angesprochene zurück: „Ja, Seto. Mach dir keine Gedanken, Roland und ich machen das schon. Wie sonst auch.“ Der Junge war es durch Setos regelmäßige Geschäftsreisen schon gewohnt, einige Tage alleine mit dem erfahrenen Assistenten zu verbringen. „Gut.“ Seto musterte seinen Bruder noch einmal eindringlich und seufzte schließlich. „Mein Gott, wie siehst du wieder aus?“ Mokubas Haare machten ihn irgendwann noch wahnsinnig, aber der Junge war in dieser Hinsicht sehr bestimmt und wollte sie partout nicht kürzen lassen. Wieder einmal hing ihm eine dicke lange Strähne mitten in den Augen und Seto konnte einfach nicht anders, als sich hinunter zu beugen und sie ihm aus dem Gesicht zu streichen. Nur widerstrebend ließ Mokuba es geschehen. „Mann Seto, muss das echt immer sein? Ich bin schon groß und es stört mich echt nicht!“ Seto richtete sich wieder auf und schüttelte nur den Kopf. Diese Diskussion hatten sie schon zu oft ohne Ergebnis geführt. „Auf Wiedersehen, Mokuba.“ Der kurze Ärger des Kleinen war so schnell wieder verflogen wie er gekommen war. „Tschüß Seto, und viel Spaß – es wird bestimmt toll!“ Mokubas Arme schlossen sich um seine Taille und er konnte nicht anders, als die Umarmung kurz zu erwidern und seinen Bruder an sich zu drücken. Ein paar Sekunden später lösten sie sich und Seto ging mit seinem Koffer zum Bus. Mokuba winkte ihm noch einmal kräftig, bevor er mit Roland wieder in die Limousine stieg und zur Villa zurückfuhr. Duke wusste gar nicht, warum er sich so beeilt hatte. Zwanzig Minuten vor der geplanten Abfahrtszeit stellte er sein Fahrrad an der Schule ab und ging zum Bus. Seine Freunde saßen schon darin und winkten ihm zu, während er noch kurz seine Tasche in den Laderaum warf. Yugi, Tea, Tristan, Joey und Ryou erwarteten ihn ganz am Ende des Busses in der letzten Reihe. Während er sich durch den Gang nach hinten arbeitete, begrüßten ihn einige Mädchen aus der Klasse schüchtern. An stressigen Tagen empfand er seine Fangirls manchmal als anstrengend, aber heute war seine Laune ausgezeichnet und so erwiderte er die Grüße mit einem lässigen Augenzwinkern. Als er sie dabei dann auch noch anlächelte, versanken die Damen schmachtend und errötend in ihren Sitzen. Es würde einfach großartig werden: eine Woche ganz weit weg vom Business und seinem Laden; stattdessen einfach nur eine Menge Spaß mit seinen Freunden. Wie oft konnte er sonst bei irgendwelchen Aktionen nicht dabei sein, weil er bis zum Hals in Arbeit steckte? Da war eine ganze Woche wirklich ein Geschenk, auch wenn schulische Themen und Lehrinhalte involviert waren. „Hey Duke, da bist du ja endlich!“, wurde er noch im Gang stehend von Tristan begrüßt. „Hi Leute, ja, ich musste noch dafür sorgen, dass der Laden läuft, während ich nicht da bin. Aber das ist alles geklärt und jetzt kann ich mich voll darauf konzentrieren, eine Woche lang eine gute Zeit mit euch zu haben. Ich sehe, euer Plan ist aufgegangen, Joey extra zeitig abzuholen, damit er den Bus definitiv nicht verpassen kann?“ Joey verschränkte beleidigt die Arme und verdrehte die Augen. „Ja, der ist super aufgegangen. Mich hat natürlich keiner gefragt. Ernsthaft Leute, ich bin doch kein kleines Kind mehr, ich wäre schon rechtzeitig gekommen!“ „Ja ja, glaub das mal weiter.“, gab Tea abgeklärt zurück. Zu Duke gewandt fuhr sie fort: „Hier, den Platz neben Tristan haben wir für dich freigehalten.“ „Wow, sogar am Fenster, was verschafft mir die Ehre?“, erkundigte er sich überrascht. Mit einem breiten Lächeln klärte sie ihn auf: „Dass du mal eine ganze Woche Zeit hast und wir sie dir so angenehm wie möglich machen wollen!“ Da musste man sich ja regelrecht geschmeichelt fühlen! Nonchalant gab er daher zurück: „Das wäre doch nicht nötig gewesen. Dafür reicht doch schon deine Anwesenheit, Tea!“ Leicht errötend winkte sie ab. „Ach, hör doch auf!“ Auch wenn sie eher selten Zielobjekt von Dukes – wie sie es nannte – Charme-Attacken wurde und sie wusste, dass er diese Dinge nicht wirklich ernst meinte, bedeutete das nicht, dass sie vollkommen immun dagegen war. Letzten Endes war sie auch nur ein Mädchen und Duke nun mal unbestritten einer der attraktivsten Jungs der Schule. Meistens ignorierte sie diese Tatsache einfach nur, weil er sich seiner Ausstrahlung nur zu bewusst war und sein daraus resultierendes, offensives und vollkommen substanzloses Flirt-Verhalten ihr massiv auf den Keks ging. Gerade hatte sich der Schwarzhaarige hingesetzt und wollte seine Jacke ausziehen, da vibrierte es in seiner rechten Tasche. ‚Was wird Hisoka wohl vergessen haben?‘, dachte er mit einem Seufzen. Er zog sein Telefon aus der Jacke und sah auf das Display. Nanu? Was wollte der denn – und vor allem an einem Sonntagvormittag? Da sie noch etwa fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt hatten, stand Duke direkt wieder auf und drückte sich an Tristan und Joey vorbei in den Gang: „Entschuldigt mich kurz, da muss ich rangehen.“ Er verließ den Bus und ging ein paar Meter weg. Ein kurzer Blick über seine Schulter verriet ihm, dass seine Freunde besorgt aus dem Fenster zu ihm sahen. Mit voller Absicht wandte er ihnen den Rücken zu. Bei allem gerechtfertigten freundschaftlichen Interesse, aber seine geschäftlichen Themen waren immer noch primär seine eigene Sache. Mit einem Wisch über das Display, das den Namen ‚Maximillion Pegasus’ zeigte, nahm er den Anruf entgegen. „Hallo Max, was verschafft mir das überraschende Vergnügen?“ Pegasus’ vertraute Stimme erklang ein wenig blechern an seinem Ohr. „Guten Tag, Duke, mein Lieber. Es tut mir leid, dich stören zu müssen, aber ich würde nicht an einem Sonntag anrufen, wenn es nicht dringend wäre, darum komme ich gleich zur Sache. Ich habe mir gestern die aktuellen Verkaufszahlen für unser Produktportfolio und auch die Spielezahlen in den Arenen zu Gemüte geführt. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber seit einigen Monaten, vor allem in diesem Sommer, bleiben die Zahlen für Dungeon Dice Monsters hinter den Planungen zurück – und zwar weit. Dem Vorstand wird das gar nicht gefallen.“ Duke massierte sich mit der freien Hand den Nacken, während er zuhörte und versuchte herauszufinden, worauf Max hinaus wollte. Er kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass sein Mentor ihm noch nicht alles gesagt hatte. „Aber Max, saisonale Schwankungen sind doch ganz normal. Es war ein heißer Sommer, da sitzen die Kids nun mal nicht so gern in einer geschlossenen Halle oder zu Hause am Tisch, um DDM zu spielen. Ich wette, das beobachtest du bei Duel Monsters in kleinerem Maßstab auch.“ Der erfahrene CEO widersprach: „Nein Duke, bedauere. Für die Arenen gibt es Schwankungen, ja, aber nicht bei den generellen Verkaufszahlen. Keine Einbrüche, auch nicht im Sommer. Ich habe leider keine Zeit mich intensiver mit der Ursachenforschung zu befassen, das muss deine Aufgabe sein. Ich habe dir bereits die entsprechenden Berichte geschickt. Wenn du dir alles angeschaut hast, solltest du dir unbedingt Gedanken darüber machen, welche neuen Ideen und Lösungsvorschläge wir dem Vorstand präsentieren können, um die Zahlen wieder nachhaltig nach oben zu bringen. Ich befürchte, sie könnten sich sonst gezwungen sehen, ernsthafte Konsequenzen zu ziehen und das Geschäft mit Dungeon Dice Monsters stark herunterzufahren oder perspektivisch sogar einzustellen. Und ich fürchte mein Wort allein würde nicht ausreichen, um das zu verhindern.“ Duke seufzte tief und lief nervös von links nach rechts. „Okay, wann kommt der Vorstand das nächste Mal zusammen?“ „Übernächste Woche, die Zeit drängt also.“ Toll, nächsten Monat wäre ihm lieber gewesen. Duke konnte sein Missfallen nur schwer verbergen. „Aber Max, wie stellst du dir das vor? Ich bin ab heute eine ganze Woche auf Klassenfahrt, da kann ich nicht arbeiten.“ Das sanfte Kopfschütteln von Max sah Duke praktisch vor sich. „Das, mein junger Freund, ist leider ebenfalls dein Problem. Lass dir etwas einfallen! Ich melde mich noch einmal mit einem genauen Termin für deine Präsentation vor dem Vorstand.“ Obwohl Pegasus ihn nicht sehen konnte, nickte Duke unbewusst und seine Stimme wurde wieder ruhiger. „Alles klar. Danke für die Vorwarnung, Max.“ „Viel Erfolg, Duke!“, wünschte ihm Pegasus zum Abschied. Der junge Spieleentwickler legte auf und atmete einmal tief durch. Mit einem, wie er hoffte, möglichst neutralen Gesichtsausdruck stieg wieder in den Bus. Seine Freunde musterten ihn eindringlich, während er sich wieder auf seinen Platz ganz hinten links fallen ließ. „Was ist los? Es hat den Eindruck gemacht, als wäre es wichtig gewesen.“, durchbrach Yugi als erster die gespannte Stille. „Hoffentlich nichts schlimmes?“, schloss sich Ryou an. Duke schüttelte den Kopf. „Nein, macht euch keine Gedanken, es war nichts weiter. Jedenfalls nichts, das mir die Klassenfahrt und die Woche mit euch vermiesen kann.“ Er zwang sich zu einem hoffentlich unbeschwert wirkenden Lächeln – was nützte es, die anderen jetzt mit runterzuziehen? Es würde sich schon eine Lösung finden – wie immer, versuchte er sich zu beruhigen. Richtig daran glauben konnte er im Moment allerdings noch nicht. „Wirklich?“, bohrte Tea noch einmal nach. „Ja, glaubt mir, alles okay.“ bekräftigte er noch einmal mit einiger Überwindung. Auch Tristan sah ihn noch einmal prüfend an, kam aber offenbar zu keinem Ergebnis. „Dann ist ja gut.“ Nach einer kurzen Pause fügte er an alle gerichtet hinzu: „Oh Leute, das wird eine richtig starke Woche, das fühle ich.“ Duke sah abwesend aus dem Fenster. Oh ja. Eine richtig starke Woche. Kapitel 2: Unpleasant surprises. (More than expected.) ------------------------------------------------------ Seto hatte sich in der Zwischenzeit widerstrebend dem Bus genähert und seinen Koffer in den Laderaum geschoben. Im Anschluss stellte er in aller Seelenruhe seine lederne Laptop-Tasche am Boden ab, zog seinen Mantel aus, legte ihn sich über den Arm und hängte die Tasche wieder über seine Schulter. Bloß keine übermäßige Eile! Jede Sekunde, die er noch nicht in diesem Bus verbringen musste, war immens wertvoll. Schlussendlich musste er sich allerdings eingestehen, dass es sinnlos war, das Unvermeidliche noch länger hinauszuzögern und feige noch dazu. Er hatte schon ganz andere Dinge durchgestanden, da würde er doch wohl eine lächerliche Woche Klassenfahrt aushalten – mal ganz davon abgesehen, dass er nicht gedachte, für die Dauer der Fahrt komplett auf seine Arbeit zu verzichten. Es würde genügend Gelegenheiten geben, bei denen er entweder den Laptop aufklappen oder telefonieren konnte und die würde er bestmöglich nutzen, wo immer sie sich bieten würden. Insofern war doch am Ende alles halb so schlimm. Mit diesen beruhigenden Gedanken und einem letzten tiefen Atemzug stieg er schließlich die schmalen Stufen hinauf und betrat das Fahrzeug. Die Platzsituation an Bord ließ leider enorm zu wünschen übrig, wie er nach einem kurzen Rundumblick feststellen musste. Ein Großteil der vorderen Plätze war bereits belegt und im hinteren Bereich hatten sich Muto und Konsorten breit gemacht. Auf der linken Seite in der Mitte konnte er dann aber doch noch einen leeren Zweiersitz entdecken. Zielstrebig reservierte er sich den Platz und rutschte ans Fenster durch. Niemand würde so lebensmüde sein und sich neben ihn setzen, so hoffte er und behielt zu seiner Zufriedenheit recht. Seine Ausstrahlung hatte einmal mehr ihren Dienst getan. Während Seto sich noch einrichtete und seinen Mantel an einem der Haken am Fenster aufhängte, baute sich Frau Kobayashi, ihre Klassenlehrerin, vorne in der Mitte des Busses auf und blickte aufmerksam durch die Reihen ihrer Schüler. Sie war eine resolute Frau Mitte fünfzig mit einem recht uninspirierten Pagenschnitt und trug eigentlich immer Bluse, Rock und Blazer, jedoch meist in recht abenteuerlichen Mustern und Kombinationen. Heute hatte sie sich für ein bräunliches, kariertes Tweed-Kostüm und eine feuerrote Bluse entschieden. Nach einem letzten Kontrollblick auf ihre Liste sah sie auf, schob ihre Brille wieder nach oben und kam nach kurzer Zählung zu dem Ergebnis, dass alle anwesend waren. Das Starten des Motors war ihr Signal und so gab sie den offiziellen Startschuss für die Klassenfahrt, während der Bus anfuhr: „Liebe Schüler, ich freue mich sehr, dass wir gemeinsam diese wunderbare kleine Klassenfahrt nach Nagano unternehmen können. Uns erwarten ein tolles Programm und eine wunderschöne Herberge mitten in der Natur. Ich wünsche mir, dass Sie diese sechs Tage genießen werden, Interesse an den Ausflügen zeigen und alles in allem Spaß haben. Dabei erwarte ich aber natürlich, dass Sie sich trotzdem zu benehmen wissen, immerhin stehen Sie kurz vor Ihrem Abschluss und sind damit praktisch erwachsen!“ Seto verdrehte die Augen und massierte sich die Stirn. Wie konnte sie Lehrerin sein und gleichzeitig so viele grobe inhaltliche Fehler in ihren Äußerungen machen! Von Spaß zu reden, wenn der Kindergarten mitfuhr, ach, überhaupt alle seine unreifen, nervigen Mitschüler; von erwachsenem Benehmen zu reden, wenn insbesondere Wheeler dabei war… Er wäre überhaupt nicht hier, wenn er es Mokuba nicht vor Jahren vermutlich in einer spontanen geistigen Umnachtung versprochen hätte. Aber gut, damals hatte er auch noch nicht gewusst, dass er mit Individuen wie dem Köter in eine Klasse gehen würde. Kurz nach Gozaburos Verschwinden hatte Seto entschieden, dass sie auf eine staatliche Schule wechseln würden, hauptsächlich, um seinem Bruder eine möglichst normale Kindheit zu ermöglichen und die Geschehnisse der letzten Monate und Jahre Stück für Stück hinter sich zu lassen. Der Kleine hatte jedoch darauf bestanden, dass auch er in der Konsequenz soweit irgend möglich ein normaler Schüler sein sollte. Dazu gehörte, dass er sich nicht aus allen Sonderaktivitäten unter dem Vorwand seiner Arbeit ausklammerte. Explizit hatte Mokuba ihm das Versprechen abgerungen, dass er wenigstens einmal mit auf eine Klassenfahrt fahren würde ‚wie ein normaler Mensch in deinem Alter’. Bisher hatte er die Einlösung erfolgreich vermeiden können, weil es bei jeder anstehenden Fahrt etwas gegeben hatte, das ihn in der Firma unabkömmlich gemacht hatte. Die jetzige Klassenfahrt war nun aber die letzte vor seinem Abschluss, sodass Mokuba darauf beharrt hatte, dass er mitfuhr, koste es, was es wolle. Und Seto Kaiba hielt nun einmal seine Versprechen, insbesondere dann, wenn es sein kleiner Bruder war, dem er sie gegeben hatte. Nachdem Frau Kobayashi ihre Ausführungen beendet hatte, überlegte Seto mit einem Seufzen, was er nun in seinem rollenden Gefängnis anfangen konnte. Normalerweise wäre die Busfahrt eine gute Gelegenheit, einfach weiter zu arbeiten. Allerdings herrschte ein Geräuschpegel, der jegliche Konzentration im Keim erstickte – eine regelrechte Kakophonie der Belanglosigkeiten, über die sich seine Mitschüler überall um ihn herum unterhielten. Irgendwo hinter ihm stritten Wheeler und Taylor lauthals über die Bettenaufteilung; vor ihm erörterten zwei Mädchen ein Beziehungsdrama aus ihrem Volleyballverein. „Alter, wenn es Doppelstockbetten gibt, werde ich sowas von oben schlafen!“ „Joey, das siehst du völlig falsch, ich schlafe natürlich oben.“ „Naja, und Mizumi meint, Makoto wäre ihr untreu gewesen, dabei war das gar nicht so, es war nur voll das Missverständnis. Das Mädchen, von dem sie dachte, er hätte sie mit ihr betrogen, war eigentlich nur seine Cousine, die zu Besuch war. Sie waren aber auch irgendwie beide daran schuld. Makoto hat nie gesagt, wie wichtig ihm Mizumi ist und sie hat ihn nie zur Rede gestellt, sondern einfach ihre Theorien gesponnen.“ „Tris, ich bitte dich. Ich bin viel agiler als du und leichter außerdem.“ „Agil? Du kannst doch noch nicht mal eine Leiter hochklettern, ohne dir tödliche Verletzungen zuzuziehen. Und wie viel wiegst du nochmal?“ „Echt? Das ist ja ein Ding. Ja, Vertrauen ist wirklich der Kern jeder Beziehung, da kann man sagen, was man will. Man muss einfach ehrlich miteinander über seine Gefühle reden und sich zuhören, sonst gibt es nur Probleme.“ „Jungs, Jungs, wartet doch erstmal ab. Vielleicht gibt es mehrere Doppelstockbetten und ihr könnt beide oben schlafen?“ „Ja, das hab ich ihr ja auch gesagt. Jedenfalls haben sie sich jetzt wieder vertragen und sind voll glücklich zusammen.“ Um Himmels Willen, dachte Seto, konnte er nicht noch kurzerhand aus dem Bus springen und die Woche über irgendwo ausharren? Er war doch im Grunde ein genügsamer Mensch: Wasser, Strom, Internet und ein bisschen Ruhe, das war doch wirklich nicht zu viel verlangt. Nach seiner Rückkehr würde er Mokuba dann einfach erzählen, was für eine tolle Klassenfahrt es gewesen war und ihm jeglichen Kontakt zum Kindergarten auf Lebenszeit verbieten, weil sie die Wahrheit kannten (und ihm generell den letzten Nerv raubten). Unbewusst schüttelte er den Kopf. Nicht zu fassen, kaum zehn Minuten waren vergangen und er wurde schon albern. Außerdem fühlte er, wie sich erste Kopfschmerzen ankündigten. An geschäftliche Telefonate war unter diesen Umständen natürlich überhaupt nicht zu denken, geschweige denn daran, den Laptop herauszuholen, um die aktuellen Produktionsstatistiken weiter auszuwerten. Dafür benötigte er Ruhe und Privatsphäre und beides war aktuell so unerreichbar wie das nächste Sonnensystem oder ein IQ über 100 für Wheeler. Es nützte alles nichts, er konnte erst dann weiter arbeiten und vor allem seinen Marketingleiter zurückrufen, wenn sie angekommen waren. Notgedrungen ergab sich Seto daher in sein Schicksal, holte Kopfhörer aus seiner Tasche und verband sie mit seinem Smartphone. Musik zu hören war doch bei weitem angenehmer als an den unqualifizierten Gesprächen seiner Mitschüler teilhaben zu müssen. Mit verschränkten Armen ließ er sich tiefer in den Sitz sinken. Während am Fenster die herbstliche Landschaft vorüber zog, umfingen ihn die ersten vertrauten Klänge. Oh ja, wesentlich besser! Eine Weile sah er noch nach draußen, bis er schließlich seine Augenlider nicht mehr länger offen halten konnte und langsam eindöste. Nach einigen Stunden Fahrt erreichten sie gegen 17 Uhr Nagano. Seto erwachte aus seinem dämmerigen Halbschlaf, als der Bus langsamer durch den Stadtverkehr manövrierte. Die Herberge befand sich allerdings nicht direkt in der Stadt, sondern etwas außerhalb, sodass der Bus nur kurze Zeit später die urbane Zivilisation wieder weitestgehend hinter sich ließ. Über immer engere und sich stärker windende Straßen erklommen sie einen dicht bewaldeten Berg. Mit jeder neuen Haarnadelkurve fragte sich Seto, ob sie am Ende der Fahrt wirklich eine Jugendherberge oder nicht eher eine einsame Burgruine auf schroffen Felsklippen erwarten würde. Schließlich bogen sie jedoch in eine Einfahrt ein und kamen vor einem mehrstöckigen, älteren Haus zum Stehen. Da es bereits dämmerte, war von dem umliegenden weiträumigen Freigelände nicht mehr viel zu sehen, aber Frau Kobayashi hatte hier und da fallen lassen, dass es wohl auch Sportanlagen geben sollte. Nur wenige hundert Meter weiter war dann allerdings schon nichts als Wald zu sehen. Willkommen in der Einöde, dachte Seto nur bitter und hoffte, dass man hier in den letzten Jahren wenigstens in der Lage gewesen war, eine halbwegs ordentliche Internetleitung zu verlegen. Nachdem alle ihr Gepäck aus dem Bus geholt hatten, sammelte sich die Klasse dicht gedrängt im Foyer der Herberge; Grüppchen standen zusammen und quasselten aufgeregt durcheinander. Frau Kobayashi wechselte einige Worte mit der Empfangsdame und bekam von ihr eine Belegungsliste auf einem Klemmbrett ausgehändigt, prüfte sie kurz und blickte dann durch die Reihen ihrer Schüler. „Meine Damen und Herren, wenn ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte! Zur Zimmerbelegung: Für die Mädchen haben wir zwei Viererzimmer, es sollte also genau aufgehen. Für die Jungen hatten wir ursprünglich vier Viererzimmer gebucht. Allerdings hat auch eine andere Schule ab übermorgen parallel einen Aufenthalt hier und bei der Buchung ist etwas durcheinander geraten, sodass wir nur noch drei Viererzimmer haben können. Zusätzlich gibt es aber noch ein einzelnes Zweierzimmer, auf das wir glücklicherweise ausweichen können, sodass sich niemand das Zimmer mit Unbekannten teilen muss. Ich gebe Ihnen jetzt insgesamt fünf Minuten Zeit, sich auszumachen, wer mit wem in ein Zimmer zieht und das hier in diese Liste einzutragen. Und bitte bleiben Sie zivilisiert!“ Während ihrer Ansprache hatten sich schon dutzende Blicke in der Klasse getroffen. Als Frau Kobayashi geendet hatte, wuselten die Schüler durcheinander und es wurde laut diskutiert. Seto blieb als einziger vollkommen unbeteiligt, ging stattdessen in aller Seelenruhe zu der Liste und trug sich für das Zweierzimmer ein. Wenn er schon den Raum und damit ein Stück seiner Privatsphäre mit jemandem teilen musste, dann doch bitte nur mit einer und nicht gleich mit drei anderen Personen. Wer auch immer sich das unsägliche Konzept „Viererzimmer“ ausgedacht hatte, gehörte ernstlich bestraft. Im Grunde war schon eine zweite Person in seinem Schlafzimmer eine zu viel, aber Ausnahmen wie Hotel- oder Einzelzimmer durfte es für ihn, Mokuba sei Dank, ja nicht geben. Während die Liste sich weiter füllte, hatte Frau Kobayashi bereits die Schlüssel in Empfang genommen. Als die vorgegebene Zeit um war, nahm sie das Klemmbrett und rief nach und nach die einzelnen Gruppen auf. „Zimmer 14: Gardner, Ishiguro, Takahashi, Yuki.“ Tea nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und stieg mit den drei anderen Mädchen die Treppe hinauf. Die Lehrerin fuhr der Reihe nach mit dem anderen Mädchen- und dem ersten der Jungenzimmer fort. Beim zweiten Jungenzimmer horchte Seto unwillkürlich kurz auf. „Zimmer 29: Muto, Wheeler, Taylor, Bakura.“ „Sorry, Alter!“ hörte er den Köter zu irgendjemandem sagen, bevor dieser mit Yugi und den anderen dreien die Treppe hochstieg. Nachdem auch das letzte Viererzimmer vergeben worden war, sah Seto, wer offenbar von Wheeler gemeint gewesen war. Nur er und Devlin standen noch in der Eingangshalle, wobei letzterer gerade den Zimmerschlüssel für Nummer 21 ausgehändigt bekam und ihn dann auffordernd ansah. „Kommst du, Kaiba? Sieht so aus, als wären wir die Glücklichen mit dem eigenen Badezimmer.“ Ein eigenes Badezimmer? Na wenigstens etwas, dachte sich Seto, nahm stumm seinen Koffer und stieg hinter Devlin die Treppe hinauf. Da insgesamt nicht vier, sondern fünf männliche Wesen dem Kindergarten angehörten, hatten sie wahrscheinlich ausgelost, wer als einziger nicht zusammen mit den anderen ins Zimmer kam. Dieses Los hatte also Devlin ereilt, wofür Seto der guten Fortuna ein wenig dankbar war. Nicht auszudenken, er hätte eine Woche mit Taylor oder, Gott bewahre, Wheeler in einem Zimmer verbringen müssen. In diesem Fall hätte er sich auch gleich eine Kugel geben können. Nein, Devlin war wohl noch einer der erträglicheren Teile der Gurkentruppe. Ihr Zimmer war das letzte auf der linken Seite des Ganges im zweiten Stock. Devlin schloss auf und trat ein, Seto folgte ihm auf dem Fuße. „Oh.“, stieß der Schwarzhaarige überrascht aus und schnell erkannte Seto den Grund dafür. Der karg eingerichtete Raum enthielt neben zwei Schränken, zwei Stühlen einem winzigen Tisch und zwei Nachtschränkchen nur … ein Doppelbett, das an der rechten Seite des Raumes stand. Seto schloss kurz entnervt die Augen: „Ernsthaft?!“ Devlin ging weiter in den Raum hinein. „Hm, versteh’ mich nicht falsch, Kaiba, ich schreie jetzt auch nicht gerade Hurra, aber wir müssen uns wohl damit abfinden. Kobayashi-sensei meinte vorhin schon am Rande, dass das kein Standardzimmer ist und wir es nur wegen der Mehrfachbelegung bekommen haben.“ An ihn gewandt schlug er mit einem ironischen Grinsen vor: „Ich kann aber natürlich auch gerne fragen gehen, ob Tristan mit dir tauschen möchte. Also falls du lieber in einem Doppelstockbett mit Joey schlafen und das Gemeinschaftsbad nutzen möchtest, dann …“ Zähneknirschend gab Seto zurück: „Danke, ich verzichte.“ „Dachte ich mir.“, erwiderte der Schwarzhaarige noch immer grinsend und fragte ganz sachlich weiter: „Also dann, wer schläft auf welcher Seite?“ Schon allein die Tatsache, dass er sich mit derartigen Fragen auseinandersetzen musste, ließ Seto die ganze Klassenfahrt-Aktion noch mehr bereuen als ohnehin schon. Aber im Moment waren seine Alternativen nun einmal stark limitiert. Schicksalsergeben entschied er schließlich: „Ich schlafe am Fenster.“ „Okay, dann die Türseite für mich.“ antwortete Devlin lächelnd und warf seine Reisetasche auf die entsprechende Seite des Bettes. Wie um alles in der Welt konnte Devlin das so gelassen nehmen? Sein eigener Enthusiasmus, so eng und privat mit jemandem in einem Raum zu leben und vor allem zu schlafen, den er kaum kannte, hielt sich in den engsten nur vorstellbaren Grenzen. Während Seto dieser Gedanke noch durch den Kopf ging, inspizierte Devlin das Badezimmer, zu dem eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes führte. „Hm, gar nicht mal schlecht.“ stellte er fest, als er wieder hinaus trat. Seto hatte unterdessen beschlossen, seine Gedanken und seine Energie nicht länger an die zweifelsohne missliche Gesamtsituation zu verschwenden, an der er aktuell ohnehin nichts ändern konnte, sondern sie stattdessen in etwas Produktives zu investieren. Laut seiner Armbanduhr hatten sie noch etwa 45 Minuten Zeit, bis es um 18 Uhr Abendessen gab, und die würde er für seine aufgeschobenen Telefonate und ein paar E-Mails nutzen. Routiniert öffnete er seine Tasche, die er wie seinen Mantel auf dem Bett abgelegt hatte, und griff in das Laptop-Fach. Als er seine Hand wieder hinauszog, fand er darin jedoch nicht etwa seinen Computer vor, sondern ein dünnes Buch ähnlicher Größe und Schwere mit dem Titel „Die Dinosaurier und ihre Welt“ – ein altes Kindersachbuch, das Mokuba einst abgöttisch geliebt hatte. Darauf prangte mittig ein gelbes Post-It mit einem gekritzelten, kleinen Strubbelkopf darauf, der ihm die Zunge herausstreckte. Oh nein! Nein, nein, nein! Das konnte nicht wahr sein! Und bitte nicht auch noch … Seto ließ das Buch auf das Bett fallen, als hätte er sich daran die Finger verbrannt und kramte fast schon panisch in seinem Mantel nach seinem Smartphone. Bitte nicht auch noch das Handy, bloß nicht! Ein prüfender Blick von allen Seiten bestätigte ihm, dass es aussah wie immer. Vorhin im Bus war ihm ja auch nichts ungewöhnliches daran aufgefallen und seine Musik war auch darauf gewesen. Empfang hatte er, aber offenbar kein mobiles Internet. Trotzdem atmete er erleichtert auf. Gut, immerhin konnte er telefonieren und endlich seinen Marketingleiter zurückrufen. Er navigierte in das Adressbuch, um die Nummer zu wählen, fand dort jedoch … nichts. Das Adressbuch enthielt nur einen einzigen Eintrag: Mokuba Kaiba. Just in diesem Moment bitterer Erkenntnis vibrierte das Gerät in Setos Hand – er hatte eine SMS von besagtem einzigen Kontakt erhalten. Hey Seto, du solltest mittlerweile festgestellt haben, dass ich dein Telefon und deinen Laptop ... nun ja, ersetzt habe. ;-P Auf dem neuen Handy hast du weder Internet noch Telefonnummern. In eurer Unterkunft gibt es auch kein WLAN, ich habe mich im Vorfeld erkundigt. Das heißt für dich 7 Tage ganz ohne Arbeit! :D Als er fertig gelesen hatte, schloss er kurz die Augen und atmete tief durch. ‚Ganz ruhig bleiben!‘, dachte er mit seinem letzten Rest an Selbstbeherrschung. Er tippte zurück: Das wird ein sehr(!!!) ernstes Nachspiel haben, Mokuba!!! Normalerweise war er kein Freund der exzessiven Nutzung von Interpunktion, aber in diesem Fall schien es ihm ausgesprochen angebracht, um seine Stimmung zu unterstreichen. Die Antwort kam nahezu postwendend: Mir egal, das war es wert! Viel Spaß!!! ;-D Und dahin ging seine Selbstbeherrschung. „Verdammt, dieser kleine …!“ Wütend schleuderte er das Telefon auf den Boden. Da es über eine stabile Hülle und das Zimmer über Teppich verfügte, passierte dem Gerät zum Glück nichts. Wenige Sekunden später schalt er sich in Gedanken für seinen kurzen Ausbruch und hob es wieder auf. Dabei bemerkte er, dass ihn grüne Augen fragend und ein wenig erschrocken musterten. Ach ja, Devlin war ja auch noch da. Wahrscheinlich sollte er die Situation zumindest kurz erläutern, wenn er nicht von der Person für vollkommen wahnsinnig gehalten werden wollte, mit der er sich in den kommenden Tagen das Zimmer – und bedauerlicherweise auch das Bett – würde teilen müssen. Mit einem Seufzen erklärte er an den Schwarzhaarigen gewandt: „Mokuba hat …“ Er musste gar nicht weitersprechen, denn offenbar hatte Devlin bereits zwei und zwei zusammengezählt. „Dich arbeitsunfähig gemacht, wie ich vermute. Mein Beileid, würde ich mal sagen.“ Hätte Seto genauer hingesehen, hätte er in Dukes Blick eine kleine Spur Belustigung erkennen können. So aber beachtete er ihn nicht weiter und nickte nur mechanisch, anstatt etwas zu erwidern. Er ließ sich auf der Bettkante nieder, stützte die Ellenbogen auf die Knie und massierte sich die Schläfen. Schon wieder diese Kopfschmerzen! Aber so wie sich seine Lage darstellte, war es ja auch kein Wunder. Eine ganze Woche umgeben nur von Idioten und er konnte die Zeit nicht im entferntesten sinnvoll nutzen. Warum zum Teufel wollte ihn sein Bruder nur so über Gebühr quälen? Und seit wann steckte eigentlich so ein kleiner Sadist in ihm? Das waren ja ganz neue Seiten, die sich da offenbarten. „Ich geh mal zu den anderen, ihr Zimmer angucken. Den Schlüssel lasse ich dir hier. Bis dann!“, hörte er Devlin wie aus weiter Entfernung sagen. Die Tür fiel hinter dem Schwarzhaarigen ins Schloss und Seto war zum ersten Mal seit heute Morgen wieder ganz sich selbst überlassen. Kaum allein, ließ er sich rücklings auf das Bett fallen und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und durch die Haare. Womit hatte er das alles nur verdient? Kapitel 3: Keeping the distance. (Quite desperately.) ----------------------------------------------------- Nachdem Duke die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich einen Moment lang mit dem Rücken dagegen sinken und schloss die Augen. Auch wenn er auf Kaiba hoffentlich diesen Eindruck gemacht hatte, war er doch weit weniger entspannt und gelassen, als er sich hatte anmerken lassen. Eigentlich hätte diese Woche einfach großartig werden sollen: viel mehr Zeit als sonst mit seinen Freunden, lange Abende und Nächte mit lustigen Gesprächen in ihrem gemeinsamen Zimmer, vielleicht mit dem ein oder anderen alkoholischen Getränk, das Joey und Tristan mit Sicherheit reingeschmuggelt hatten. Stattdessen verbrachte er die sechs Nächte allein in einem Zimmer mit Sir Seto Kaiba, Lord von Stress und Angespanntheit. Im Gegensatz zu Joey hatte er zwar kein direktes Problem mit ihm, aber es war nun einmal kein Geheimnis, dass sein Name nicht unbedingt als Synonym für „Spaß“ taugte. Wann immer Duke den Brünetten sah, stieg sein persönliches Stresslevel und er dachte fast schon automatisch an Arbeit. Verständlich, denn selbst in der Schule nahm Kaiba ja nur eher beiläufig am Unterricht teil, während er die meiste Zeit verbissen Zahlen und Buchstabenreihen in seinen Laptop hackte. Und wenn es eines gab, was Duke auf dieser Klassenfahrt unbedingt hatte vermeiden wollen, dann war es an Arbeit zu denken. Allerdings war es damit seit Pegasus’ Anruf am Vormittag aber ohnehin vorbei gewesen. Schon im Bus war es ihm schwergefallen, den Unterhaltungen der anderen zu folgen; immer wieder waren seine Gedanken zu dem Telefonat und Pegasus’ Worten zurückgekehrt. „…sie könnten sich sonst gezwungen sehen, ernsthafte Konsequenzen zu ziehen und das Geschäft mit Dungeon Dice Monsters stark herunterzufahren oder perspektivisch im schlimmsten Fall sogar einzustellen.“ Wie sollte er noch in dieser Woche mit einem Plan um die Ecke kommen, das zu verhindern, wenn er jeden Tag bei irgendwelchen Ausflügen in der Weltgeschichte herumspringen würde und seine Freunde erwarteten, dass er die restliche Zeit mit ihnen verbrachte? Sicher, er konnte ihnen immer noch die Wahrheit sagen, aber dann würden sie sich nur Sorgen machen und versuchen ihm zu helfen, womit die Woche nicht nur für ihn, sondern auch für sie gelaufen wäre. Außerdem hatte er nichts von seinen Arbeitsutensilien dabei und selbst wenn, hätten sie ihm wohl nicht sonderlich viel gebracht. Vielleicht hätte er sich die Berichte von Pegasus anschauen können, aber die hätten ihm vermutlich auch nicht mehr gezeigt, als was Max ihm bereits am Telefon geschildert hatte: Niedrige Verkaufszahlen, vor allem im Sommer. ‚Okay, Duke, Schluss mit Selbstmitleid! Fokus!’, ermutigte er sich selbst in Gedanken. Als allererstes brauchte er eine Hypothese, wodurch die schlechten Zahlen zustande kamen, erst dann konnte er sich auf die Suche nach sinnvollen Lösungsansätzen begeben. So wie er jetzt hier stand, aufgewühlt und ratlos im Flur der Jugendherberge, würde er diese aber wohl kaum finden. Außerdem wusste er noch gar nicht, wann genau er übernächste Woche präsentieren musste. Je später, desto mehr Zeit würde er auch nächste Woche noch haben, sodass übermäßiger Aktionismus jetzt vielleicht gar nicht zielführend war. Gute Ideen konnte man nun mal nicht erzwingen, sondern sie ergaben sich meist ganz natürlich, wenn man ihnen nur genügend Raum gab. Für heute wäre folglich das beste, was er tun konnte, die sprichwörtliche Pistole auf seiner Brust vorerst zu ignorieren und allem seinen Lauf zu lassen. Ob ihm das wirklich gelingen würde, blieb mal dahingestellt. Fest stand auf jeden Fall, dass er dazu so viel Zeit wie möglich mit seinen Freunden und außerhalb des gemeinsamen Zimmers mit Kaiba verbringen musste. Genau betrachtet schlief er ja eigentlich nur dort und ganz ehrlich, am Ende war das vermutlich sogar ruhiger und angenehmer als in Doppelstockbetten mit den Jungs – von dem eigenen Badezimmer als offensichtlichem Bonus mal ganz abgesehen. Schließlich atmete er noch einmal kurz durch, stieß sich von der Tür ab und ging zum Zimmer von Yugi und den anderen. Kurz war er überrascht, als ihm Tea öffnete. Offenbar hatten die Mädels sich bereits eingerichtet und jetzt verbrachte sie die Zeit bis zum Abendessen ebenfalls noch bei den anderen. „Hey Duke, da bist du ja. Hereinspaziert!“ „Na, wie ist das Zimmer so? Ah ja, ähnlich luxuriös wie unseres.“ Wie nicht anders zu erwarten, machte auch dieser Raum mit seinen vier Schränken und zwei Doppelstockbetten einen eher kargen Eindruck. Auf dem rechten oberen Bett saß Joey, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und die Beine über den Bettrand in der Luft baumelnd; Tristan auf dem linken, direkt an der Leiter mit den Füßen auf der vorletzten Sprosse. Yugi und Ryou hatten sich, wie nach der Diskussion im Bus zu erwarten gewesen war, jeweils mit den unteren Betten begnügen müssen. Letztere war wohl noch immer nicht ganz beendet und Tristan schien gerade ernsthaft einen Seitenwechsel in Betracht zu ziehen. „Also wenn man es mal so betrachtet, dann ist unten vielleicht doch besser, gerade, wenn man nachts mal raus muss…“ Jetzt erst schien er zu bemerken, dass jemand dazugekommen war. „Oh hey, Duke! Mann, sorry nochmal, aber da hat dich das Glück einfach echt im Stich gelassen beim Auslosen.“ Am amüsierten Gesichtsausdruck seines Freundes erkannte der Schwarzhaarige eindeutig, dass die Entschuldigung nicht ganz so ernst gemeint war, wie es den Anschein hatte. So schüttelte er nur lächelnd den Kopf und winkte ab. „Alles gut, Leute, macht euch keine Gedanken. Ich werd’s schon aushalten mit Kaiba. Das Zimmer ist ansonsten eigentlich auch ganz nett und wir haben ein eigenes Bad, was schon ein enormer Vorteil ist, das müsst ihr zugeben.“ Den Nachteil in Gestalt des Ehebetts würde er hingegen schön außen vor lassen und so lange wie möglich vertuschen. Wenn Duke auf eines verzichten konnte, dann darauf, sich die ganze Woche dumme Sprüche von Joey und Tristan zu diesem Thema anzuhören. „Ist ein Punkt, aber ob es das wert ist, im Gegenzug die ganze Nacht alleine mit dem Geldsack zu sein? Mir wäre es das jedenfalls nicht.“, warf Joey kritisch ein. Duke ließ sich neben Ryou auf dem linken unteren Bett nieder, sah zu dem Blonden hinauf und gab lachend zurück: „Oh, wenn ich du wäre, sicherlich nicht. Dann würde ich in permanenter Angst leben, weil Kaiba mich jederzeit im Schlaf mit einem Kissen ersticken könnte. Aber da ich im Gegensatz zu dir keine Erzfeindschaft mit ihm unterhalte, bin ich zuversichtlich, dass er davon absehen wird.“ Die anderen lachten ebenfalls, Joey jedoch strich sich sinnierend mit Daumen und Zeigefinger über das Kinn. Offenbar hatte Duke ihn gerade auf einen interessanten Gedanken gebracht. „Hm, wenn ich so darüber nachdenke: eigentlich ist das doch die Chance schlechthin!“ „Kaiba mit einem Kissen zu ersticken?!“, fragte Tristan mit erhobener Augenbraue. „Nein, Blödmann! Ich meine, Duke wird Kaiba ja ganz privat und so erleben. Also, wenn du irgendwelches komprimierendes Material entdeckst …“ Duke verdrehte die Augen. „Kompromittierend, Joey.“ Der Blonde sah ihn verdutzt an. „Ähm …. Gesundheit?!“ Duke seufzte. „Das Wort heißt kompromittierend.“ „Ach, ist ja auch egal! Wenn du also irgendwelches belastendes Material über Kaiba herausfindest, das ich in einem unserer Streits beiläufig … einflechten kann, dann sag’s mir!“ Tea bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Joey!“ Der Blonde hob darauf entschuldigend die Hände und zog die Schultern hoch. „War ja nur’n Witz!“ War es das wirklich? Da es um Kaiba ging, war Duke sich da nicht ganz so sicher. Schnell wechselte Yugi das Thema, um das kurze unangenehme Schweigen zu durchbrechen: „Wir sollten nach dem Essen mal schauen, was der Gemeinschaftsraum so hergibt. Vielleicht gibt es ja ein paar coole Spiele. Ansonsten weiß ich nicht, wie es euch geht, aber ich habe auch ein paar neue Karten in meinem Deck, die ich gerne ausprobieren würde.“ „Das ist eine fantastische Idee, Yugi.“, pflichtete ihm Tea bei und auch Tristan schloss sich an. „Ja, die hochprozentigen Getränke und das Flaschendrehen laufen uns ja erstmal nicht weg.“ Duke schmunzelte. Sehr gut, Tristan und Joey hatten also tatsächlich an der Getränkefront vorgesorgt! Was konnte es besseres geben, um ihn von seiner kritischen Lage abzulenken, als einen kleinen feucht-fröhlichen Klassenfahrt-Abend mit seinen Freunden? Vielleicht nicht sofort heute, aber gewiss an einem der folgenden Tage. „Apropos Essen: Leute, wir müssen langsam runter, glaube ich.“, unterbrach Ryou die Unterhaltung. „Na endlich, ich hab einen Bärenhunger!“, kam es von Joey und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den Speisesaal. Sehr zu Joeys Missfallen stand an diesem Abend nur eine leichte und bekömmliche Suppe auf dem Speiseplan. „Mann, da reichen ja drei Teller nicht, dass ich satt werde! Haben wir nicht noch Chips dabei, Tris?“ Der nickte bestätigend. „Ja, haben wir, aber bedenke: Wenn du heute alle fünf Tüten leerst, um satt zu werden, weiß ich nicht, wann wir dazu kommen werden, neue zu besorgen. Aber vielleicht kommen wir ja morgen in die Stadt oder so.“ Als wäre es ihr Stichwort gewesen, erhob sich in diesem Moment Frau Kobayashi. „Meine Damen und Herren, wenn ich kurz um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit bitten dürfte! Zum Tagesablauf morgen: Gleich am ersten Tag erwartet uns ein wirkliches Highlight, wie man so schön sagt. Wir werden das Naturkundemuseum besuchen.“ Allseits genervtes Stöhnen ging durch den Saal – zugegeben nicht die Reaktion, mit der die Lehrerin gerechnet hatte. „Nun tun Sie nicht so, das wird sehr interessant. Das Naturkundemuseum hier ist eines der besten im ganzen Land und wir werden mit Sicherheit aufregende Dinge sehen und lernen! Nun zur Zeitplanung: Um sieben Uhr wird es hier Frühstück geben, um acht Uhr treffen wir uns im Foyer und brechen auf. Ich wiederhole: sieben Uhr Frühstück, acht Uhr Aufbruch. Ich erwarte pünktliches Erscheinen. Ist das klar?“ Die Schüler nickten vereinzelt. „Gut, dann essen Sie weiter und verbringen Sie den Abend, wie es Ihnen beliebt. Aber bitte bleiben Sie im Gebäude und verhalten Sie sich ruhig und zivilisiert, wir wollen doch der Schule keine Schande machen. Und denken Sie daran, ab 22 Uhr beginnt die Nachtruhe. Ich möchte Sie dann bitte alle in Ihren eigenen Betten vorfinden. Guten Abend.“ Damit setzte auch sie sich wieder an ihren Platz und begann zu essen. „Eigene Betten? Warum betont sie das extra so?“, fragte Tristan irritiert in die Runde. Ryou zuckte mit den Schultern. „Naja, sie ist schon lange Lehrerin und hat sicherlich schon einige Klassenfahrten mitgemacht.“ An dieser Stelle senkte er verschwörerisch die Stimme. „Sie muss ihre Gründe haben – du verstehst…“ Das Gespräch drehte sich weiter um mögliche Motive und frühere Erlebnisse von Frau Kobayashi und die geäußerten Theorien wurden immer wilder. Duke ließ seinen Blick beiläufig durch den Raum schweifen und verharrte kurz bei Kaiba, der einige Meter entfernt alleine an einem Tisch saß, mit unbewegtem Gesicht seine Suppe löffelte und scheinbar mit den Gedanken ganz woanders war. Nachdem das Abendessen beendet war, erkundeten die Freunde wie geplant den Gemeinschaftsraum der Herberge. In der Tat gab es dort neben einigen Tischen und Sesseln ein Regal mit Brettspielen sowie eines mit Büchern und sogar einen Billard-Tisch in einer Ecke, der allerdings gerade schon von einer anderen Gruppe aus ihrer Klasse in Beschlag genommen wurde. So blieb es bei dem Plan erst einmal ein paar Runden Duel Monsters zu spielen, um ihre neuen Karten einzuweihen. Nach drei mehr oder weniger spannenden Matches in diversen Paarungen, entschieden sie sich, das Spiel zu wechseln und steckten nun mitten in einer Runde Monopoly, bei der Yugi sie alle nach Strich und Faden abzog. Sein Ruf als König der Spiele machte also auch vor solch trivialen Spielen nicht Halt. Er besaß bereits mehrere Straßenzüge mit vier Häusern, sowie drei von vier Bahnhöfen. Duke hatte von seinem Platz aus die Tür im Blick und kurz nach einem seiner Züge tauchte dort eine gänzlich unerwartete Gestalt auf: Mit Kaiba hätte er hier am allerwenigsten gerechnet, ließ doch schon allein das Wort „Gemeinschaftsraum“ auf eine grundsätzliche Inkompatibilität der Räumlichkeit zum Naturell des Firmenchefs schließen. Mit einem abschätzigen, fast schon angeekelten Blick sah er sich um und ging dann ohne Umschweife zum Regal mit den Büchern. Klar, dachte Duke, wenn er nicht arbeiten konnte, musste auch ein Seto Kaiba seine Zeit irgendwie herumbringen. Der Brünette überflog kurz die Titel, zog mit gezieltem Griff ein Buch heraus und verließ den Raum so schnell und nahezu unbemerkt wie er gekommen war. ‚Wie ein Vampir, der kurz vor Sonnenaufgang noch ein letztes Opfer entführt, bevor er wieder in seinen Sarg muss‘, dachte Duke und lächelte in sich hinein. Joey setzte dieser fragwürdigen, aber amüsanten Assoziation ein jähes Ende: „Boah ey, das kann doch echt nicht wahr sein!“ Schnell wandte Duke seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiel zu und stellte erfreut fest, dass der Blonde nun schon zum fünften Mal auf seine Schlossallee mit mittlerweile drei Häusern gekommen war. Da wurde eine saftige Miete fällig! „Duke, Alter, gib’s doch zu, du hast was mit den Würfeln angestellt!“ Der nicht ganz ernsthaft so Beschuldigte schüttelte mit gespieltem Entsetzen den Kopf. „Also Joey, was denkst du nur von mir? Du weißt doch, dass ich sowas niemals tun würde. Wenn ich bei irgendetwas keinen Spaß verstehe, dann wenn es um Würfel geht. So gut solltest du mich doch eigentlich mittlerweile kennen. Und jetzt her mit deinen Scheinchen!“ Widerwillig und leise schimpfend suchte Joey sein letztes Spielgeld zusammen und händigte es dem Schwarzhaarigen aus. Pünktlich um 22 Uhr betrat Duke das Doppelzimmer, nachdem Yugi das Spiel mit weitem Abstand gewonnen und Frau Kobayashi sie ordnungsgemäß aus dem Gemeinschaftsraum verscheucht hatte. „Kaiba, bist du noch wach?“ flüsterte der Schwarzhaarige in den kühlen und stockdunklen Raum, nachdem er die Tür leise geschlossen hatte. Keine Antwort. Schlief Kaiba wirklich schon oder wollte er einfach nur seine Ruhe haben? Beides war möglich. Hm, Licht wäre gut. Aber wenn er jetzt irgendeine Lampe anschalten würde, wäre Kaiba sicherlich not very amused. Nein, rücksichtsvoll wie er war, zückte er stattdessen sein Handy und aktivierte die Taschenlampen-Funktion. Langsam bewegte Duke sich in Richtung Bett, wo er den Umriss des scheinbar schlafenden Kaiba erahnen konnte, der ihm den Rücken zugewandt hatte. So leise wie nur möglich bugsierte er seine Tasche vom Bett auf den Boden und kramte nach seinen Schlafsachen und seinem Kulturbeutel. Sobald ein Geräusch dabei nur ein wenig lauter war, zuckte er unwillkürlich zusammen. Kaibas Laune hatte sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Laufe des Abends nicht signifikant gebessert und er konnte gut darauf verzichten, aufgrund einer irgendwie gearteten Lärm- oder Licht-Belästigung von ihm angeblafft zu werden. Nachdem er schon einmal seine Schuhe ausgezogen hatte, schlich er auf Zehenspitzen leise in Richtung Badezimmer – bis nach drei Schritten sein rechter kleiner Zeh aufgrund der mangelhaften Lichtsituation äußerst schmerzhafte Bekanntschaft mit der vorderen Ecke des Bettes machte. „Au, verdammt!“ stieß er gerade noch flüsternd durch seine zusammengepressten Zähne aus, bewahrte sein Handy nur knapp vor einem Absturz und hüpfte halb auf einem Bein bis ins Badezimmer. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, konnte er endlich richtiges Licht anschalten. Puh, gerade so geschafft! Duschen würde er morgen früh, darum brauchte es jetzt nur die nötigste Körperhygiene. Nachdem er sich kurz gewaschen, umgezogen und Zähne geputzt hatte, zog er das Haargummi aus seinen Haaren und legte sein Stirnband ab. Mit der Bürste bearbeitete er sein langes schwarzes Haar in aller Gründlichkeit – so viel Zeit musste sein – und erneuerte dann seinen Zopf. So hoch, wie er ihn jetzt ansetzte, würde er beim Schlafen nicht stören. Auch den langen Kajalstrich unter seinem linken Auge zog er noch einmal neu. Wie gut, dass er sich extra einen besonders wasser- und wischfesten Stift gekauft hatte. Der würde hoffentlich auch beim Schlafen noch halten. Nicht ein einziger anderer Mensch hatte ihn in den letzten Jahren ohne seine Frisur und sein Makeup zu Gesicht bekommen – noch nicht einmal seine Freunde. Und wenn es nach ihm ging, würde es dabei auch bleiben, selbst nachts. Sollten sie ihn doch alle für verrückt halten, er hatte seine Gründe. Nach einem letzten Blick in den Spiegel verließ er das Badezimmer und arbeitete sich wieder mit aktiviertem Handylicht zurück zum Bett, diesmal glücklicherweise ohne weitere Komplikationen. Am Ziel angekommen schlug er die Decke auf, rückte das Kissen zurecht und bedeckte es mit einem Handtuch. So groß war sein Vertrauen in den neuen Kajal dann doch noch nicht und Rückstände auf dem Kissen mussten echt nicht sein. Endlich ließ er sich auf die Matratze niedersinken. Moment, DIE Matratze?! Seine Hände tasteten vorsichtig in Richtung Bettmitte und tatsächlich schien da keine Ritze zu sein. Ja, es war wirklich nur eine Matratze. Und sie war weich. Wirklich extrem weich. Ihn beschlichen erste Zweifel, ob nicht vielleicht das Doppelstockbett doch die bessere Option gewesen wäre. Die geschlossenen Gardinen ließen nur wenig Licht in den Raum, aber Duke erkannte auch so, dass Kaiba noch immer mit dem Rücken zu ihm lag und zwar so weit am Rand des Bettes, dass man guten Gewissens von Maximalabstand sprechen konnte. Ich meine, Duke wird Kaiba ja ganz privat und so erleben. Joeys Worte von vorhin hallten in seinem Kopf wider und ihm wurde zum ersten Mal der Ernst der Lage bewusst. Da drüben lag Seto Fürst von Kühl und Unnahbar Kaiba persönlich – im selben Bett wie er. Trotz Maximalabstand war er nur weniger als einen Meter entfernt. Von Mokuba vielleicht einmal abgesehen, war Duke dem Brünetten in diesem Moment so nah wie vermutlich selten ein Mensch zuvor, zumindest im physischen Kontext eines Bettes. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Bloß nicht zu viel darüber nachdenken, beschwor er sich und versuchte sich so unauffällig wie möglich auf die Seite zu drehen. Das allerdings gestaltete sich der Matratzensituation sei Dank wesentlich schwieriger als gedacht. Jede seiner Bewegungen, und wenn er sie auch noch so dezent zu halten versuchte, brachte die Unterlage verräterisch ins Wanken. Kaiba, egal ob tatsächlich schlafend oder nicht, würde das unweigerlich merken. Aber es nützte ja nichts, er musste das jetzt durchziehen. Nach einigem quasi-dezenten Geruckel lag er endlich erfolgreich mit dem Rücken zum Fenster und seinem unfreiwilligen Zimmergenossen gedreht. Genau wie der Brünette rutschte er noch etwas weiter an den Rand des Bettes und blieb schließlich ganz still liegen. Angespannt lauschte Duke in die Dunkelheit und traute sich kaum zu atmen. Nach einigen Minuten, die sich wie Stunden angefühlt hatten, kam erneut Bewegung in die Matratze, diesmal von der anderen Seite. Das sanfte Rascheln von Kleidung und einer Decke war zu vernehmen und Duke schluckte unwillkürlich. Wenn er sich in den nächsten Minuten umdrehte, dann würde er Kaiba sehen können. Als einer von nur ganz wenigen Menschen auf diesem Planeten hatte er die Möglichkeit Seto Kaiba schlafen zu sehen, ob nun echt oder gespielt. Seine Neugier und sein Pioniergeist waren auf jeden Fall geweckt. Sollte er es wagen? Er hielt den Atem an. Nein, das Risiko war zu groß. Er musste unbedingt vollkommen sicher sein, dass Kaiba wirklich schlief. Am Ende würde er aus dem Nichts die Augen öffnen und sehen, wie Duke ihn anstarrte. Oh nein, auf diesen peinlichen Moment konnte er gut verzichten oder sein Aufenthalt in diesem Zimmer würde noch unangenehmer werden als er ohnehin schon war. Stattdessen brachte Duke sich wieder zur Ruhe, versuchte krampfhaft weiter still liegen zu bleiben und seinerseits einzuschlafen. Ob es nun an den aufwühlenden Erlebnissen des Tages, der ungewohnten Umgebung, der Befremdlichkeit der Bettsituation oder an allem zusammen lag: Der Schlaf wollte ihn einfach nicht überkommen. Sein einziger Trost war, dass es dem guten Kaiba offensichtlich ähnlich zu gehen schien, denn der wälzte sich – wie die verräterische Matratze zuverlässig offenbarte – ebenfalls immer wieder ruhelos von einer Seite auf die andere. Prima, dann musste er sich nicht ganz so idiotisch vorkommen, auch wenn die Situation zweifelsohne etwas unfreiwillig komisches an sich hatte. Wirklich jedes Mal, wenn sich einer von ihnen beiden drehte, bewegte sich die Unterlage auf und ab wie ein Schiff bei starkem Seegang oder eine undichte Luftmatratze, obwohl sie es beide nach bestem Vermögen zu vermeiden suchten. Wenn nicht die Gefahr bestanden hätte, Kaiba zu stören, Duke hätte laut und ein wenig verzweifelt gelacht. Endlich – nach gefühlten Stunden des sinnlosen Wachliegens – fiel der Schwarzhaarige dann aber doch in einen kurzen und unruhigen Schlaf. Kapitel 4: Coming up with a plan. (Of sorts.) --------------------------------------------- Duke saß allein in einem Reisebus. Was zum Teufel machte er hier und wo waren alle? Die Klassenfahrt ging doch gleich los, oder etwa nicht?! Nur wenige Sekunden später begannen sich wie aus dem Nichts die Wände des Busses an den Kanten zu öffnen und aufzufalten. Als der Bus schließlich komplett verschwunden war, sah er sich irritiert um. Er stand mitten auf einem Dungeon Dice Monsters Spielfeld. Der Bus war anscheinend wie ein Würfel dimensioniert worden. Bedeutete das, er war das Monster? Ihm blieb keine Zeit, um die Frage zu durchdenken, denn er sah sich direkt dem Gegner oder vielmehr den Gegnern gegenüber. Mehrere Anzugträger standen überlebensgroß hinter dem Spielfeld und sahen auf ihn herab. Der mittlere der Männer nahm drei Würfel in die Hand und schleuderte sie ihm entgegen auf das Spielfeld. Kurz befürchtete Duke, sie würden ihn treffen und unter sich begraben, waren sie doch um einiges größer als er, aber sie verfehlten ihn knapp und blieben rund um ihn herum liegen. Der erste Würfel zeigte auf der Vorderseite ein Diagramm mit einer sinkenden Kurve, der zweite - 45%, der dritte die durchgestrichenen Buchstaben DDM. Wie aus dem Nichts stand auf einmal Pegasus neben ihm. „Das nenne ich mal einen Angriff, was Duke? Kannst du dem standhalten? Diesmal werde ich dir nicht unter die Arme greifen – das musst du alleine schaffen! Achja, und du hast genau eine Woche Zeit!“ Max verschränkte die Arme und schien abzuwarten, was er tun würde. Völlig perplex und überfordert stand er der scheinbaren Übermacht gegenüber und wusste nicht recht, was er unternehmen sollte. Angst stieg in ihm hoch und er wandte sich ab. Auf der anderen Seite des Spielfeldes – seiner Seite, dem Vorstand gegenüber – blickten seine ebenso überlebensgroßen Freunde enttäuscht auf ihn herab. Yugi musterte ihn mit ernstem Gesichtsausdruck: „Ach Duke, wir würden dir ja gern helfen, aber wie sollen wir das machen, wenn du uns nichts erzählst?“ Tea neben ihm fragte weiter: „Warum versuchst du immer alles mit dir selbst auszumachen? Wir sind doch für dich da.“ Nach ihr setzte Tristan den Reigen fort: „Glaubst du, wir könnten deine Probleme nicht verstehen?“ Joey schüttelte nur den Kopf: „Oder hältst du dich etwa für was besseres?“ Verzweifelt versuchte Duke sich zu rechtfertigen: „Nein, natürlich nicht, Leute. Ich will euch da einfach nicht auch noch mit reinziehen. Es reicht doch, wenn ich mir Sorgen mache. Ihr habt schon so viel Mist durchgemacht, da sollt ihr mal eine unbeschwerte Zeit genießen und euch nicht auch noch um meine Probleme kümmern.“ Mit traurigen Augen schüttelte Yugi den Kopf und auf einmal war es der Pharao, der zu ihm sprach: „Mach, was du für richtig hältst, Duke, aber denk daran, dass sowohl die Dinge, die wir aussprechen, als auch die, die wir verschweigen, Konsequenzen mit sich bringen.“ Mit diesen mysteriösen letzten Worten verschwanden seine Freunde im düsteren Nichts und seine unterstützende Spielfeldseite war verwaist. „Hey, Leute, wartet!“, rief er ihnen nach, aber es hatte keinen Zweck. Als er sich wieder umdrehte, standen noch immer Pegasus und der Vorstand abwartend vor ihm und die Symbole des Misserfolgs auf den Würfeln starrten ihm anklagend entgegen. Noch einmal forderte Max ihn auf, diesmal in strengerem Ton: „Na los, sag uns, Duke, wie willst du dein Spiel retten? Der Vorstand verlangt Antworten!“ Verzweifelt rannte er auf den quadratischen Feldern des Spielfelds hin und her und versuchte nachzudenken, als einer der Vorstände den Befehl gab, den ersten der Würfel zu dimensionieren. Die Seiten öffneten sich, fielen auf dem Spielfeld an ihre Plätze und vergrößerten so den Zugriffsraum der Männer. In dem Würfel befand sich Frau Kobayashi. Sie stürmte über die Felder auf ihn zu, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich, ohne dass er sich wehren konnte. „Sie kommen jetzt erstmal schön mit ins Naturkundemuseum, junger Mann!“ Er versuchte zu protestieren: „Aber das geht nicht, ich muss doch …“ Sie schüttelte den Kopf und packte noch etwas fester zu: „Sie müssen gar nichts anderes, Mr. Devlin, sie sind noch Schüler und müssen darum tun, was …“ Noch bevor er erfahren konnte, wer oder was nach Meinung von Frau Kobayashi festlegte, was er zu tun und zu lassen hatte, riss er sich mit aller Kraft los und rannte zurück in die Spielfeldmitte. Er wusste, die Zeit für sein Spiel verging gnadenlos, während er noch immer zu keiner Lösung gefunden hatte. Die Vorstandsmitglieder verschränkten die Arme, blickten kritisch auf ihn herab und begannen zu tuscheln: „Sehen Sie ihn sich doch an, er ist viel zu jung! Der hat doch keine Ahnung vom Geschäft und und wie so etwas läuft. Es war ein netter Versuch, aber jetzt sollten wir dem ein Ende setzen.“ „Die Performance des Spiels ist einfach zu schlecht geworden. Eine kurze Eintagsfliege, davor habe ich Pegasus ja die ganze Zeit gewarnt.“ „War doch nicht anders zu erwarten bei einem Duel Monsters-Spin-Off mit Würfeln. So etwas trägt nie lange.“ Energisch versuchte Duke sich gegen die Vorwürfe zur Wehr zu setzen. „Hey! Jeder, der einmal DDM gespielt hat, weiß, dass es so viel mehr ist, als ein Duel Monsters mit Würfeln! Ihr könnt mir das nicht wegnehmen! Das ist mein Spiel und ich kann und werde das richtig groß machen!“ In seiner Verzweiflung wandte er sich noch einmal an Pegasus: „Max, jetzt sag doch auch mal was! Du weißt, wie gut es ist! Wir könnten doch versuchen …“ Er brachte den Satz einfach nicht zu Ende, denn in Wahrheit hatte er keine Ahnung, was genau sie versuchen konnten. Mit einem tiefen Seufzer sackte er in der Spielfeldmitte zusammen, während der Vorstand begann, den zweiten verbliebenen Würfel zu dimensionieren, der sich nun langsam zu öffnen begann. Pegasus Anzug verfärbte sich von rot zu schwarz, während er konstatierte: „Es tut mir leid, Duke. Sieht aus, als hättest du es nicht geschafft.“ Damit verschwand auch er und verschwamm in der diffusen Masse der Vorstände. Duke war jetzt ganz allein auf dem Spielfeld. Gleich hatte sich der zweite Würfel komplett geöffnet und das Monster oder was auch immer darin war, würde ihn vermutlich vernichten. Zum Vorschein kam eine ihm wohl bekannte menschliche Gestalt. Ein großer, schlanker Mann, vielleicht Mitte Fünfzig mit schwarzen Haaren und kurzem Vollbart, der ebenfalls einen schwarzen Anzug trug. Oh nein, nicht er! Dukes Herz schlug so schnell, dass er befürchtete, sein Brustkorb würde gleich nachgeben. Der Mann trat auf Duke zu, beugte sich zu ihm hinunter, legte ihm die Hand ans Kinn und hob seinen Kopf, sodass er gezwungen war ihm ins Gesicht zu sehen. Der Mann schüttelte den Kopf und lächelte dabei mitleidig. „Duke, du dummer Junge. Ich hab dir doch immer gesagt, alleine würdest du es zu nichts bringen! Komm wieder zurück zu mir, dann ändern wir das. Gemeinsam.“ Gerade wollte Duke energisch widersprechen, als … Ein ungewohnter, schriller Ton riss ihn aus seinem Alptraum. Was war das denn? Sich mit dem Arm die Augen abschirmend blinzelte er vorsichtig gegen das erste Tageslicht. War es wirklich schon wieder hell? Verdammt, er war doch eben erst richtig eingeschlafen. Nicht, dass es besonders erholsam gewesen wäre, aber trotzdem… Die Matratze schaukelte leicht und er drehte den Kopf. Ah, Kaiba war gerade aufgestanden. Folgerichtig musste es sein Wecker gewesen sein, der geklingelt hatte. Einen Moment blieb Duke noch auf dem Rücken liegen, rieb sich das Gesicht und starrte an die Zimmerdecke. Das beklommene Gefühl in seiner Brust ließ nur langsam nach. Dieser Traum würde ihn noch verfolgen, das fühlte er. Schließlich setzte er sich im Bett auf und schaute sich noch immer leicht duselig im Raum um. Auf der anderen Seite des Bettes kniete Kaiba auf dem Boden über seinen geöffneten Koffer gebeugt, wo er wohl seine Kleidung für den heutigen Tag zusammensuchte. Seine Haare waren leicht zerstrubbelt und er trug ein dunkelblaues T-Shirt (das hundertprozentig irgendwo ein KC-Logo zierte) sowie eine graue leichte Schlafhose. Wow, man konnte ja beinahe auf den Gedanken kommen, es mit einem normalen Menschen zu tun zu haben. Ohne von dem Schwarzhaarigen Notiz zu nehmen, ging Kaiba mit seinen Klamotten ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich ab. Dukes Blick fiel auf das Nachtschränkchen seines Bettnachbarn. Da lag der Kartenanhänger mit dem Bild von Mokuba darin, das von ebenjenem manipulierte Telefon, sowie eine silberne Armbanduhr auf dem Buch, das der Brünette sich gestern aus dem Gemeinschaftsraum geholt hatte. Duke musste leicht den Kopf neigen, um den Titel lesen zu können: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. ‚Hm, wie passend.‘, schoss es ihm durch den Kopf und er schmunzelte. Nicht ganz Dracula, aber auch nicht so weit weg von seiner Vampir-Assoziation. Noch einmal seufzte er und rieb sich das Gesicht und die Augen, um den Traum zumindest für den Moment abzuschütteln und sich endlich zu fokussieren. Kaiba war bestimmt jemand, der sich nicht ewig im Bad aufhielt, also sollte er auch langsam mal aufstehen und seine Klamotten heraussuchen. Gedacht, getan. Seine schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt mit rotem Bund, das würde in Verbindung mit dem Haarband an roten Akzenten für heute reichen. Als er alles beisammen hatte, setzte er sich auf das Bett, checkte die Meldungen auf seinem Smartphone und wartete. Kaum zehn Minuten später trat Kaiba fertig angezogen, aber mit noch leicht nassen Haaren aus dem Badezimmer. Mokuba hatte offensichtlich auch bei seiner Kleidung ein Wörtchen mitgesprochen; gestern war das Duke noch gar nicht so richtig aufgefallen. Der Brünette trug nicht wie sonst seine engen schwarzen Sachen und seinen auffällig wehenden weißen Mantel, sondern eine ganz normale, schmal geschnittene hellgraue Jeans mit braunem Gürtel, der genau zu der Farbe seiner eleganten Lederschuhe passte. Dazu ein weißes Hemd, ordentlich in die Hose gesteckt, über das er gerade noch einen dünnen, dunkelblauen Wollpullover zog. Mit routinierten Handgriffen richtete er erst den Hemd- und Pulloverkragen und zog dann die Manschetten des Hemdes ein wenig aus den Ärmeln hinaus, sodass edle, schwarz- und silberfarbene Manschettenknöpfe zum Vorschein kamen. Auch wenn sie schlicht aussahen, zweifelte Duke für keine Sekunde daran, dass jedes einzelne der Kleidungsstücke verdammt teuer gewesen sein musste. Das war also Kaibas Definition eines normalen, unauffälligen Looks. Irgendwer würde ihm mal sagen müssen, dass eigentlich auch „Business Casual“ für einen Menschen seines Alters noch nicht casual genug war. Aber hey, es sah nicht schlecht aus und für die Ausflüge war es definitiv dezent genug. Kaiba war wohl nicht entgangen, dass Duke ihn angesehen hatte. Im Gegenzug wurde nun Duke aus kühlen, blauen Augen gemustert. Der Brünette hielt für einen kurzen Moment in seiner Bewegung inne. Natürlich, jetzt fragte er sich bestimmt, ob er, Duke, ernsthaft mit Make-Up geschlafen hatte. Pff, sollte er doch. Der Schwarzhaarige begegnete dem mit einem freundlich vorsichtigen „Morgen!“, wurde danach allerdings nicht einmal eines weiteren Blickes gewürdigt. Kaiba trat indes zu seinem Nachttisch, legte sich die Uhr um das linke Handgelenk, hängte sich seinen Kartenhänger um und schob ihn unter seinen Pullover. Jetzt, bei näherem Hinsehen sah er ziemlich fertig aus. Nun gut, um ihn selbst stand es wohl nicht viel besser, immerhin war die erste Nacht in dem Bett mit Wellengang für keinen von ihnen in irgendeiner Weise erholsam gewesen. „Du bist fertig im Bad?“, fragte Duke sicherheitshalber noch einmal nach und als der Brünette darauf nur stumm nickte, erhob er sich vom Bett und ging nun ebenfalls mit seinen Klamotten hinein. So langsam musste er sich sputen, er hatte nur noch knapp fünfzehn Minuten bis zum Frühstück. Der kleine Raum war noch geschwängert mit feuchter Luft und den Resten eines angenehmen, fruchtig-herben Duftes. Was auch immer es war, ob Kaibas Duschgel, Shampoo oder Parfüm, er mochte es. Nur zu gerne hätte er die Quelle genauer identifiziert, aber offenbar hatte der Brünette alle seine Waschsachen wieder in seinen Kulturbeutel zurück getan und diesen verschlossen auf den Fliesenabsatz über dem Waschbecken gestellt. Mein Gott, wie paranoid konnte man denn sein? Aber das Täschchen aufzumachen kam nicht in Frage. Nicht nur wäre er sich enorm merkwürdig dabei vorgekommen, in Kaibas Pflegeprodukten im wahrsten Sinne des Wortes herumzuschnüffeln; andererseits lag ihm noch Joey mit seinem ‚komprimierenden‘ Material im Ohr. So packte er stattdessen sein eigenes Waschzeug aus, zog die Schlafsachen aus, öffnete seine Haare und stieg unter die Dusche. Zum Glück wurde das Wasser schnell warm, auch wenn der Wasserdruck etwas zu wünschen übrig ließ. Gründlich wusch er sich Körper und Haare (Shampoo und Conditioner – wenn schon, denn schon!), zog sich nach dem Abtrocknen und Fönen an, schminkte sich neu, legte sein Haarband und den Würfel-Ohrring wieder an und war damit im Grunde fertig, um in den Tag zu starten. Als er aus dem Bad kam, fand er das Zimmer leer vor; Kaiba musste also schon hinunter gegangen sein. Auch Duke ging noch ein letztes Mal zu seinem Nachttisch, legte seinen Clownanhänger um, den er dort abgelegt hatte, und steckte sein Telefon in die Hosentasche. Dann verließ auch er das Zimmer in Richtung Speisesaal. „Mann, Leute, ich wünschte, ich hätte Popcorn!“ hörte er Joey sagen, als er unten ankam und zu seinen Freunden stieß. „Was hab ich denn verpasst?“, erkundigte er sich neugierig. Joey fasste genussvoll die bisherige Handlung des Schauspiels zusammen, welches er und die anderen offenbar schon seit einigen Minuten gebannt verfolgten: „Alter, es ist göttlich! Kaiba war am Buffet und hat gesehen, dass es da nur Milch, Tee und Saft gibt. Dann ist er zu der Küchenlady und hat nach Kaffee gefragt. Du hättest seinen Blick sehen sollen, als sie sagte, dass es für die jungen Gäste“, er machte Gänsefüßchen in die Luft, „keine koffeinhaltigen Getränke gibt, weil das ungesund wäre. Ihm ist echt alles aus dem Gesicht gefallen. Naja, seitdem streitet er sich mit der armen Frau rum und ist richtig angepisst. Diese Klassenfahrt ist jetzt schon super!“ „Ah ja.“, erwiderte Duke langgezogen und sah jetzt auch zu dem Brünetten hinüber, der beide Arme dominant auf den Tresen der Durchreiche zur Küche gestützt hatte und die ältere Dame auf der anderen Seite mit seinem Blick regelrecht aufspießte. In einem dazu passenden Tonfall, der so scharf war, als könnte er ihr damit die Kehle durchtrennen, fauchte er sie an: „Hören Sie, Werteste, ich bin nicht aus eigenem Antrieb hier oder meinen Sie, es macht mir Spaß eine ganze Woche mit diesen … Subjekten hier zu verbringen? Dazu habe ich eine absolut grauenhafte Nacht mit extrem wenig Schlaf in diesem minderwertigen Etablissement hinter mir. Wenn Sie mir jetzt also nicht sofort einen Kaffee organisieren, dann haben Sie nächste Woche so viele Klagen am Hals, dass Sie diesen Witz von einer Herberge hier zumachen können! Haben Sie verstanden?“ Die Dame rührte sich nicht und blickte ihn aus großen Augen eingeschüchtert an. „Also nochmal in aller Kürze, damit Sie mein Anliegen wirklich einwandfrei verstehen: Kaffee! Stark, schwarz, viel! Ich warte!“ Duke hatte sich voll auf die Szene vor ihm konzentriert, sodass ihm erst in dem Moment, als Kaiba die Worte „Stark, schwarz, viel!“ ausgesprochen hatte, der Ernst der Lage dämmerte. Kein Kaffee? Das war unmöglich, völlig ausgeschlossen, ganz besonders nach dieser Nacht! Für die anderen war es wohl ziemlich egal, aber er war, selbst wenn er gut geschlafen hatte, ohne eine morgendliche (und in der Regel auch nachmittägliche) Mindestzufuhr schlicht nicht in der Lage, am normalen Leben teilzunehmen. So ließ er von einem Moment auf den anderen seine verdutzten Freunde stehen, sprintete zu Kaiba und der Durchreiche und lächelte der Küchendame freundlich, aber leicht außer Atem entgegen: „Für mich bitte auch, wenn Sie einmal dabei sind, danke!“ Ein Seitenblick mit hochgezogener Augenbraue von Kaiba traf ihn. „Was?“, erwiderte Duke sachlich. „Glaubst du etwa, du bist der einzige hier, der morgens nicht ohne Kaffee auskommt?“ Kaiba nahm es schweigend zur Kenntnis und so standen sie sich ein paar Minuten in seltsamer Symmetrie gegenüber und warteten: der eine links, der andere rechts von der Durchreiche jeweils mit verschränkten Armen, eine Schulter an die Wand gelehnt. Wieder stieg Duke der fruchtig-herbe Duft in die Nase und diesmal sogar noch intensiver als im Badezimmer. Unbewusst atmete er tiefer ein. Mit jedem Atemzug mehr tippte er auf Parfüm. Gutes Parfüm. Wirklich gutes Parfüm. Erst das Klappern von Porzellan holte ihn wieder in die Realität; offenbar hatte er unbewusst die Augen geschlossen. Die Küchenfrau reichte Kaiba mit zitternden Händen eine große Tasse dampfenden Kaffees, den er mit einem unwirschen „Geht doch!“ statt eines Dankes entgegennahm und sich an einen noch leeren Tisch setzte. Umgehend bekam auch Duke seine Tasse, bedankte sich vielmals, auch im Namen von Kaiba (es sich mit Küchenpersonal zu verscherzen, war schließlich nie eine gute Idee) und ging zurück zu seinen Freunden. Tristan sah ihn bei seiner Rückkehr prüfend an: „Alter, du siehst echt beschissen aus!“ Duke lachte und setzte sich auf den Platz neben ihm. „Also an deinen Komplimenten musst du wirklich noch arbeiten, ist ja kein Wunder, dass du bei den Mädels nicht landest. Nein, Spaß beiseite, ich hab kaum geschlafen. Darum bin ich dem guten Kaiba auch nicht ganz undankbar für seine Aktion.“ Da er weder das Bett noch seinen Traum weiter thematisieren wollte, blickte er in die Runde und ging direkt zur Gegenfrage über: „Wie war denn eure Nacht so?“ Ryou sah ebenfalls nicht sonderlich fit aus und erklärte: „Ach, Joey hat so laut geschnarcht, es war kaum auszuhalten. Yugi war schlau und hatte Ohrstöpsel dabei, Tristan und ich müssen heute erstmal welche auftreiben.“ Yugi lächelte verlegen. „Ja, entschuldigt, ich hätte euch vorwarnen sollen, aber ich habs einfach vergessen.“ An dieser Stelle musste sich Joey einschalten: „Leute, ihr tut ja so, als wäre das ein Verbrechen an der Menschheit. Ich kann nichts dafür, ich hab nun mal eine verengte Nasenscheidewand.“ Tristan hatte gerade einen Schluck Saft genommen, prustete in sein Glas und verschluckte sich fast vor Lachen. „Alter, du kannst doch sowas nicht sagen, während ich trinke.“ „Mann, das heißt nun mal so, das ist ganz normale Anatomie, Tris.“ „Dass du diese Wörter überhaupt kennst!“ „Was soll das denn jetzt heißen?!“ Das Gespräch ging noch eine Weile so weiter. Duke, Tea, Ryou und Yugi grinsten sich nur an und schüttelten leicht die Köpfe. Den Anruf von Pegasus am Tag zuvor und seinen Traum hatte Duke in diesem Moment beinahe vergessen. Da die Herberge so weit außerhalb der Stadt lag, glich der Weg ins Museum zeitweise eher einer Wanderung. Erst einmal mussten sie etwa zwanzig Minuten lang das abschüssige, kurze Waldstück durchqueren, um den nächsten kleinen Vorort mit U-Bahn-Anschluss zu erreichen, von dem aus sie nochmals dreißig Minuten fahren würden. Der Weg war allerdings nicht unangenehm, denn es war ein freundlicher Oktober-Tag und die Sonne ließ die bunten Baumkronen im Wald noch mehr erstrahlen. Umso frustrierender war freilich für die meisten die Aussicht den Tag in einem Museum verbringen zu müssen. Die Schüler liefen ausgedehnt und in ihren üblichen Grüppchen nebeneinander, Frau Kobayashi eher in der Mitte im Gespräch mit Ginta, dem Klassensprecher. Yugi und seine Freunde befanden sich fast am Ende der Kolonne. Ihre Unterhaltung drehte sich schon seit mindestens fünfzehn Minuten ausschließlich um die neuen Karten, die sie gestern ausprobiert hatten. Duke für seinen Teil hatte sich in keiner Weise aktiv daran beteiligt – nicht, dass es irgendjemandem wirklich aufgefallen wäre, denn bei aller persönlichen Verehrung für Max war seine eigene Leidenschaft für Duel Monsters bei weitem nicht so ausgeprägt wie bei seinen Freunden und das wussten sie auch. Das Thema jedoch, sowie das noch immer leise nachhallende, beklemmende Gefühl aus dem Traum konfrontierten ihn zwangsweise wieder mit dem Problem seines eigenen Spiels und seine Gedanken kreisten wie wild um die eine zentrale Frage: Warum verkaufte und spielte sich DDM im Sommer im Vergleich so viel schlechter als Duel Monsters? Schon seit sie losgegangen waren, dachte er auf dieser einen Frage herum und hatte noch nicht mal den Ansatz einer Ahnung. Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. „Mann, mit den neuen Karten kamen so viele coole Strategien rein, im nächsten Turnier wäre ich damit aber mal so richtig weit vorne.“ Wie üblich strotzte Joey nur so vor Selbstbewusstsein. „Apropos, wann ist denn mal wieder eins?“, fragte Tristan in die Runde. Yugi antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Nächsten Monat findet die Stadtteilmeisterschaft bei uns im Laden statt.“ Joey schüttelte ein wenig enttäuscht den Kopf. „Ja, aber das ist ja nur langweilig am Tisch. Also nicht, dass das gestern keinen Spaß gemacht hat – zumindest bis du mit mir den Boden aufgewischt hast, Yugi. Aber ich will mal wieder ein richtig krasses Turnier spielen, so richtig mit Duel Disk und so.“ Tea dachte kurz nach. „Mhm, müsste nicht ohnehin die neue Duel Disk bald erscheinen? Ich würde mal stark davon ausgehen, dass es dann auch wieder ein großes Turnier geben wird.“ Ryou verdrehte die Augen und kommentierte nicht ohne eine Spur Ironie: „Wenn man nur jemanden kennen würde, der praktisch an der Quelle sitzt und den man fragen könnte…“ Es war klar, dass er Kaiba meinte, allerdings wurde sein Beitrag komplett ignoriert. Tristan zückte stattdessen sein Handy und tippte kurz darauf herum. „Stimmt, ich hab grad nochmal nachgeschaut, der Release-Termin ist ja wirklich nicht mehr so weit weg. Wenn das so ist: was macht Kaiba dann überhaupt hier?“ Hier horchte Duke zum ersten Mal kurz auf und unterbrach für einen Moment seine Grübeleien. Auch Tea wunderte sich: „Und würde man dann nicht wenigstens erwarten, dass er pausenlos am Telefon hängt? Soweit ich das sehe, hat er heute den ganzen Tag noch nichts dergleichen gemacht.“ Duke entfuhr ein amüsiertes Schnauben und er schmunzelte. Kaibas Gesichtsausdruck, als er das Buch aus der Tasche gezogen und dann panisch sein Handy untersucht hatte, war einfach göttlich gewesen. Eigentlich hätte man es auf Video aufnehmen und Mokuba schicken müssen. Sofort waren alle Augen seiner Freunde auf ihn gerichtet. „Wieso lachst du?“, erkundigte sich Tristan. „Oh, ich bin sicher, dass Kaiba gerade nichts lieber tun würde, als zu arbeiten. Das Problem ist nur: er kann nicht. Mokuba hat ihn gewissermaßen … offline gestellt. Er hat weder einen Laptop, noch kann er telefonieren, wie er gestern Nachmittag in meinem Beisein feststellen musste.“, klärte Duke sie grinsend auf. Glückselig lächelte Joey in sich hinein. „Hach, das wird ja immer besser! Ich mochte den Kleinen ja schon immer gern, aber das setzt dem wirklich nochmal die Krone auf. Siehst du, Duke, genau sowas habe ich gestern gemeint. Das sind echt nützliche Insider-Informationen.“ Tea warf ihm einen tadelnden Blick von der Seite zu. „Meinst du nicht, du genießt das ein bisschen zu sehr?“ „Zu sehr? Nein, genau richtig! Diese ganze Klassenfahrt ist, was Kaibas Angepisstheitsfaktor anbelangt, bisher eine einzige Freude für mich. Gönnt das dem alten Joey doch mal!“ Yugi schüttelte nur den Kopf und kam schnell wieder auf das eigentliche Thema zurück. „Ich bin schon echt gespannt, was die neue Duel Disk kann. Ich hoffe, ich bekomme sie wieder einfach so, denn die wird bestimmt erstmal richtig teuer sein. Aber wenn sie alles noch realistischer macht, dann wird das wieder richtig stark.“ Dem konnte sich Joey nur anschließen. „Seht ihr, und genau darum hätte ich ja auch mal wieder Bock auf so ein Turnier. Es ist halt einfach nochmal ne ganz andere Liga, wenn da wirklich der Schwarze Rotaugendrache vor mir steht und Feuer spuckt, als wenn da nur die lahme Pappkarte vor mir liegt. Es ist echt krass, wie sehr ich mich in den letzten Jahren daran gewöhnt habe. Und du kannst es theoretisch halt einfach überall haben, wo ein bisschen Platz ist. Ich meine klar, die Karten kann ich auch überall hin mitnehmen und spielen, aber für das Hologramm-Zeugs musste man ja früher immer in so eine blöde Arena und das hat ja auch was gekostet. Mit der Duel Disk hab ich das einfach immer dabei.“ Moment, was hatte Joey da gerade gesagt? Duke spulte die Worte noch einmal in seinem Kopf ab. … überall, wo ein bisschen Platz ist …für das Hologramm-Zeugs musste man ja früher immer in so eine blöde Arena. … Mit der Duel Disk hab ich das einfach immer dabei. …immer dabei. Von den anderen unbemerkt hellte sich sein Blick auf und sein Herzschlag beschleunigte sich. Das konnte es doch sein, oder nicht? War nicht Dungeon Dice Monsters im Moment wie Duel Monsters, bevor es die Duel Disk gegeben hatte? Man konnte es klassisch am Tisch spielen oder in einer Arena. Beides war im Sommer eher ungünstig, wenn man nichts anderes wollte, als mit seinen Freunden draußen im Grünen zu sein. Für Duel Monsters ermöglichte die Duel Disk ein Spielerlebnis der besten technischen Qualität, egal, wo man war, ganz besonders aber draußen, wenn man die Möglichkeiten wirklich ausreizen wollte. Definitiv ein guter Grund, warum Duel Monsters auch im Sommer noch lief, während ein Tisch- und Indoor-Arena-Spiel wie DDM zurücksteckte. Hm, klang erstmal logisch. Aber konnte es wirklich so einfach sein? Die einfachsten Lösungen waren ja nicht selten die richtigen. Wenn das hier auch der Fall war, dann gab es eigentlich nur einen offensichtlichen und naheliegenden nächsten Schritt… „Kaiba läuft da vorne – ich wette, er freut sich einen ab, diese flammende Lobrede nochmal höchstpersönlich aus deinem Mund zu hören, Joey.“ „Klappe Tris, du weißt so gut wie ich, dass der Pinkel das unter Garantie niemals von mir zu hören kriegt. Dem kriecht sein Ego doch jetzt schon aus allen Körperöffnungen, die Genugtuung geb ich ihm da nicht auch noch.“ Während sich seine Freunde weiter unterhielten, wanderte Dukes Blick zu dem gerade erwähnten Kaiba. Kopfhörer im Ohr und die Hände in den Taschen seines elegant geschnittenen, beigen Mantels vergraben, ging er mit weitem Abstand von allen anderen vorneweg. ‚Was für Musik hört jemand wie Kaiba eigentlich?‘, schoss es ihm bei dem Anblick beiläufig durch den Kopf. Egal, das tat gerade nichts zur Sache, zurück zum Punkt. Wenn seine Überlegungen tatsächlich stimmten, dann war er bei dieser Klassenfahrt nicht in der schlechtesten, sondern im Gegenteil in der bestmöglichen Ausgangsposition überhaupt. Seto Kaiba höchstselbst war greifbar und in seiner unmittelbaren Nähe – sogar im selben Zimmer! Er würde nicht erst umständlich einen Termin mit ihm ausmachen müssen, er konnte einfach so direkt mit ihm über seine Idee sprechen: Eine Duel Disk für Dungeon Dice Monsters! Wenn das die Vorstände von Industrial Illusions nicht überzeugen würde, was dann? Bei Kaiba würde er angesichts seiner aktuellen Situation vermutlich auch nur offene Türen einrennen. Die Aussicht auf Arbeit auf dieser für ihn ansonsten recht trostlosen und anstrengenden Klassenfahrt wäre auf jeden Fall ein starker Pluspunkt und selbstverständlich würde es für ihn auch ein gutes Geschäft werden, davon war Duke überzeugt. Allerdings war es dafür unabdingbar ihm die wahren Hintergründe – die schlechten Verkaufszahlen – und die Dringlichkeit des Vorhabens – eine Woche Zeit – erst einmal zu verschweigen. Andernfalls würde Kaiba womöglich die Sinnhaftigkeit und Profitabilität in Zweifel ziehen und sofort ablehnen. Duke atmete einmal tief durch und ließ sich zufrieden, aber auch mit dem kribbeligen Gefühl innerer Aufregung, durch die Bäume die Sonne ins Gesicht scheinen. Nicht schlecht. Wesentlich schneller als erwartet hatte er eine sinnvolle Hypothese entwickelt (wenn das alles vorbei war, würde er sich bei Joey bedanken müssen), sowie eine solide Lösungsidee. Jetzt musste er nur noch einen guten Zeitpunkt abpassen, um Kaiba anzusprechen und das am besten heute noch. Kapitel 5: Fear of missing out. (Maybe unfounded.) -------------------------------------------------- Auf dem Weg zur U-Bahn hatte Seto sich wieder bestmöglich abgesondert und hing seinen Gedanken nach. Was blieb ihm auch groß anderes übrig? Dieser Tag hatte für ihn genauso begonnen, wie der vorherige aufgehört hatte. Mit ziemlicher Sicherheit hatte er in den letzten fünf oder sogar zehn Jahren keine so miserable Nacht mehr gehabt. Eine bewusst durchgemachte Nacht war im Zweifel wesentlich angenehmer, wie er aus Erfahrung wusste. Natürlich hatte er noch nicht geschlafen, als Devlin wiedergekommen war, und er hatte durchaus amüsiert dessen krampf- und schmerzhaften Versuch verfolgt, leise und unauffällig zu sein. Tja, übertriebene Rücksicht lohnte sich eben einfach nicht. Wie schlecht das Bett wirklich war, hatte er erst in vollem Umfang begriffen, als Devlin sich ebenfalls hingelegt hatte. In fremden Umgebungen zu schlafen bereitete ihm normalerweise keine Probleme, war es doch eine zwingende Notwendigkeit, dass er auch auf Geschäftsreisen in wechselnden Hotelzimmern eine zumindest akzeptable Portion Schlaf bekam. Aber da erfüllten die Betten eben in der Regel auch die grundlegendsten Qualitätsstandards, wovon hier keine Rede sein konnte. Dazu kam die Tatsache, dass er jede noch so kleine Bewegung von Devlin spüren konnte und mehr noch das Wissen, dass es sich umgekehrt nicht anders verhalten musste. Dieser Verlust seiner intimsten Privatsphäre war wahrscheinlich einer der unangenehmsten Punkte an dieser ganzen Klassenfahrt-Geschichte. Wenn er eines auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann sich angreifbar zu fühlen und auch wenn er es ungern zugab, war das in dieser Situation – im selben Bett mit jemandem zu liegen, den er kaum kannte – der Fall. Zwischenzeitlich hatten sie den Wald verlassen und passierten die ersten kleinen Straßen und Häuser des Vorortes von Nagano. An der etwas maroden U-Bahn-Station erwarb Frau Kobayashi ein Gruppenticket und dirigierte nach dem ausführlichen Studium des Fahrplans ihre Schüler zum richtigen Gleis. Die U-Bahn war hier glücklicherweise nicht übermäßig frequentiert, sodass Seto seinen Abstand zur restlichen Klasse weiterhin etwas größer halten konnte. Vielleicht konnte er so den Eindruck aufrecht erhalten, dass er nichts mit diesem präpubertären Haufen unter Leitung einer verrückten alten Schachtel zu tun hatte. Als sie die Treppen hinabgingen, stieg ihm der starke Geruch von schlecht belüfteten Tunneln und alten Maschinen in die Nase und er fragte sich unweigerlich, wie Menschen sich dem jeden Tag aufs Neue aussetzen konnten. Er selbst hatte noch nie den öffentlichen Personennahverkehr benutzen müssen und angesichts der Zustände, die er hier erlebte, war er sich sehr sicher, dass er es dabei auch belassen wollte. Noch ein Grund, warum diese Klassenfahrt so unfassbar belastend war: er wurde in einer Tour mit Dingen konfrontiert, auf die er gut und gerne hätte verzichten können. Kurz vor dem Gleis erspähte Seto einen kleinen Kiosk, der in großen Lettern Coffee to Go offerierte. Ha, der erste annähernd erfreuliche Anblick des Tages. Das war seine Chance, seinen Koffeinspiegel noch etwas weiter in Richtung Normalmaß zu bringen. Die eine Tasse in der Herberge war ja geradezu lächerlich gewesen. (Und mal ganz allgemein: kein Internet, kein Kaffee beim Frühstück – welcher lebensfremde Idiot betrieb dieses jämmerliche Haus eigentlich?!) Frau Kobayashi hatte laut angekündigt, dass sie zu Gleis 2 mussten und ein kurzer Blick auf die Anzeigetafel verriet ihm, dass der Zug erst in knapp zehn Minuten einfahren würde – mehr als genug Zeit also, sich noch einen großen Kaffee und eine Zeitung zu kaufen. Auf diese Weise ausgestattet war die halbstündige U-Bahn-Fahrt für Seto trotz der für ihn ungewohnten rumpelnden und quietschenden Geräuschkulisse schon um einiges erträglicher geworden. In Zeiten wie diesen lernte man eben auch Kleinigkeiten zu schätzen. Nachdem er einen Sitzplatz gefunden hatte, schlug er fast schon begierig den Wirtschaftsteil auf, um sich so wenigstens ein bisschen von dem nagenden Gefühl abzulenken, ins Hintertreffen zu geraten und etwas zu verpassen. Sein Telefon würde unter normalen Umständen beinahe im Minutentakt pingen und vibrieren, was bei anderen wohl Stress auslösen würde; für ihn war es jedoch nurmehr ein fast schon beruhigendes Hintergrundrauschen, das den Takt seines Lebens bestimmte. So machte Seto die Stille und Tatenlosigkeit seines manipulierten Smartphones denn auch wesentlich mehr zu schaffen, als er zugeben wollte, vermittelte es ihm doch nur zu deutlich, dass er nicht in seiner gewohnten Sicherheit durch den Tag wandeln konnte: Mit der ToDo-Liste und dem Terminkalender als seinen Auto-Piloten, die ihm erlaubten, seine Gedanken wichtigeren Inhalten zu widmen als der Frage ‚Was mache ich als nächstes?‘. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie sehr ihn der kleine Stunt seines Bruders im Laufe der Woche zurückwerfen würde: E-Mails im vierstelligen Bereich, Berichte, die er lesen, wichtige Absprachen, die er nachholen musste. Für diese ganze Nummer hatte Mokuba Hausarrest verdient bis er achtzehn war! Endlich im Museum angekommen schlossen sie ihre Sachen weg und wurden dann von einem korpulenten und bebrillten Mann namens Professor Nakamura in Empfang genommen: „Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren, zu einer aufregenden Reise durch mehrere hunderttausend Jahre Naturgeschichte!“ Hm, wohl eher mehrere hunderttausend Jahre Langeweile, dachte Seto zynisch, während der Professor fortfuhr: „Normalerweise würden wir Sie chronologisch durch das Museum führen: von der Erdentstehung bis in die Gegenwart. Ich für meinen Teil habe gute Erfahrungen mit dem umgekehrten Ansatz gemacht: Ich starte am liebsten in der heutigen Zeit, zu der Sie Bezüge haben, wo Sie sich auskennen, und arbeite mich dann in frühere Zeiten zurück – natürlich unter Berücksichtigung wichtiger Zwischenstationen. So wird es nach und nach immer fremder und immer spannender für Sie!“ An den Gesichtern der Schüler war genau abzulesen, für wie aufregend und innovativ sie den Ansatz des Professors wirklich hielten; der ließ sich davon allerdings nicht beirren und ging zielstrebig voran in den Ausstellungsraum, in dem er mit der Führung beginnen wollte. Frau Kobayashi für ihren Teil war sichtlich begeistert und schien sich sofort mit ihm verbündet zu haben, um ihre mittelmotivierten Schüler von den Ausstellungsstücken und der Vielzahl an naturkundlichen Themen zu begeistern. Der erste Raum, in den sie geführt wurden, war überschrieben mit „Stadt und Land – die Wanderung der Vielfalt“ und behandelte, wie der Name nur zu genau verriet, städtische wie ländliche Flora und Fauna dieser Tage und die Verschiebung des Artenreichtums hin zu ersterer. Die Ausstellung lebte von Dioramen voller Pflanzen und verschiedenster ausgestopfter Tiere und beleuchtete nicht nur Japan, sondern Beispiele aus allen Kontinenten. Der Professor erklärte also nicht nur ausgestopfte Singvögel heimischer Provenienz, sondern auch ausgestopfte Braunbären, die in Alaska in die Städte drangen und Müll durchwühlten oder die Überhandnahme von Waschbären und Ratten in anderen Teilen der Welt – ebenfalls durch teils lebensechte, teils eher verstörende Dermoplastiken repräsentiert. Frau Kobayashi bemühte sich nach Kräften und mit gemischtem Erfolg die Schüler einzubeziehen und stellte hin und wieder Fragen, die sich auf Themen bezogen, die sie im Unterricht bereits behandelt hatten. Der nächste Teil der Führung befasste sich mit dem Lebensraum Dschungel und dem dortigen Artensterben und brachte Seto unweigerlich dazu sich zu fragen, wie lange es jetzt eigentlich her war, dass er den Nachhaltigkeitsbericht für die Firma in Auftrag gegeben hatte? Er sollte einmal nachhaken, wie der aktuelle Stand war. Wenn sein Smartphone schon sonst wenig konnte, so konnte er sich damit doch wenigstens Erinnerungen einspeichern. Der Professor erklärte unterdessen ausgiebig die verschiedenen lebenden Insekten, die in diesem Teil des Museums gehalten wurden. Auf dem Weg zu einem Terrarium mit Stabheuschrecken kam Seto nicht umhin zu hören, wie Wheeler vor sich hin plapperte: „Immer, wenn ich solche Viecher sehe, frage ich mich: Was macht eigentlich Weevil Underwood heutzutage? Und hat er sich mittlerweile endlich mal eine normale Brille zugelegt?“ Himmel, die Frage, die sich eher stellte, war, ob Wheeler sich nicht mittlerweile mal ein Gehirn zugelegt hatte. Unter normalen Umständen hätte Seto das durchaus auch laut geäußert, aber in seinem momentanen Zustand konnte er den Spannungskopfschmerz schon bei der Vorstellung von Wheelers aufgebrachter Stimme spüren. Darauf konnte er gerade dankend verzichten, also behielt er seine Kommentare vorerst für sich. „Als nächstes widmen wir uns einem der spannendsten Kapitel der Naturgeschichte, meine Damen und Herren! Charles Darwin und der Evolution!“, kündigte Professor Nakamura die nächste Abteilung an. Nicht nur wurde darin Darwins Seereise behandelt sowie seine Schlussfolgerungen auf der Grundlage unterschiedlicher Vogelschnäbel, nein, es gab auch einen Abschnitt, der sich ausführlich mit der Menschheitsentwicklung befasste. Seto sah immer wieder entnervt auf seine Uhr, deren Zeiger sich unnatürlich langsam vorwärts bewegten. Waren sie wirklich erst seit zwei Stunden hier? Kaum zu fassen, wie langsam die Zeit verging, wenn man nichts besseres zu tun hatte, als von einem dicken, schwitzenden Mann durch ein mittelinteressantes Museum geführt zu werden und Dinge erzählt zu bekommen, die man ohnehin schon wusste. Ein bisschen Holographie-Technik in den Ausstellungsräumen würde wirklich Wunder wirken für mehr Lebendigkeit in der Informationsvermittlung, vor allem bei einem Thema wie diesem. Hm, keine schlechte Idee eigentlich! Museen wären ein ganz neuer Absatzmarkt. Immerhin etwas, wofür dieser Ausflug gut war. Er würde gleich seinen Vertriebsleiter anrufen und … ach, verdammt! Ein Blick auf das reflexhaft hervorgeholte Mobiltelefon genügte, um ihm erneut ins Gedächtnis zu rufen, dass das nicht möglich war und auch auf absehbare Zeit nicht sein würde. Verdammt! Hier gingen ihm handfeste Zeitvorteile durch die Lappen und Zeit war nun einmal gleichbedeutend mit Geld – viel Geld! – vor allem in der Technologie-Branche. Hausarrest war vielleicht gar nicht die beste Bestrafung für Mokuba. Wenn er es recht bedachte, würden Computer- und Konsolenverbot ihn viel empfindlicher treffen. Natürlich ebenfalls bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr, darauf hatte Seto sich bereits festgelegt. Er verstaute das Telefon wieder abwesend in seiner hinteren Hosentasche, als Frau Kobayashi ihn ansprach. „Mr. Kaiba, warum zählen Sie uns nicht einmal die wichtigsten Menschenarten auf, wir hatten das Thema ja bereits im Unterricht, wie Sie sich sicherlich erinnern können?“ Ah ja, er erinnerte sich dunkel. In besagter Biologie-Stunde hatte er verschiedene Displayvarianten für den Lebenspunkte-Anzeiger der neuen Dueldisk verglichen. Kurioserweise half es ihm, an die Arbeit zu denken, die er in den jeweiligen Unterrichtsstunden erledigt hatte, um sich an den nebenbei vermittelten Stoff zu erinnern. Mit einem Seufzen begann er seine gelangweilte Aufzählung: „Die Vorläufer der Hominiden waren die Australopithecinen. Danach kamen der Homo rudolfensis, der Homo habilis, dann der Homo erectus, …“ An dieser Stelle wurde er durch ein Prusten von Joey und Tristan unterbrochen und auch einige andere Schüler konnten ein Lachen nur knapp unterdrücken. Seto rollte mit den Augen, schüttelte den Kopf und kommentierte trocken: „Wie man sieht, hat bei manchen Exemplaren die Entwicklung an dieser Stelle bereits aufgehört.“ „Hey!“, protestierte Joey und funkelte ihn böse an, wurde aber durch einen einschüchternden Blick von Frau Kobayashi zum Schweigen gebracht, der das unreife Verhalten ihrer Schüler sichtlich unangenehm war. „Bitte fahren Sie fort, Mr. Kaiba.“, forderte sie ihn schließlich auf, nachdem sie ihre Brille wieder gerichtet und Professor Nakamura entschuldigend angesehen hatte. „Es folgten der Homo neanderthalensis und schließlich der Homo sapiens.“ „Danke, Mr. Kaiba, das war vollkommen korrekt.“ Natürlich war es das. Setos Agonie in dieser Abteilung verringerte sich nicht gerade, als Professor Nakamura auch noch ausführlich auf die Frage eines Mitschülers einging, ob zwischen den verschiedenen Arten auch Paarung stattgefunden hatte. Die folgende „Entwicklungsgeschichte der Pflanzen“ war genauso spannend, wie sie sich anhörte. Immer wieder zückte Seto aus Reflex sein Telefon, nur um sogleich festzustellen, dass sich darauf nichts getan hatte, weil sich darauf ja gar nichts tun konnte. Mit jedem Mal ein Stück entnervter ließ er das Smartphone zurück in seine hintere Hosentasche gleiten. Das wievielte Mal war das jetzt? Er hatte aufgehört zu zählen. Warum sollte Mokubas Computer- und Konsolenverbot eigentlich schon mit achtzehn enden? So richtig volljährig war man doch eigentlich erst mit 21 … Dukes Blick wanderte während der Führung in regelmäßigen Abständen zu seinem temporären Mitbewohner, um dessen Stimmung und damit die Erfolgschancen seines geplanten Vorstoßes abzuschätzen. Sein Zwischenresümee: Eine nuancierte Mischung aus gelangweilt, genervt und frustriert. Auf dem Weg zwischen den Exponaten, während alle anderen lachten und schwatzten, ging der Brünette immer allein und mit etwas Abstand hinter der Gruppe her. Zwei Mal war er bisher von Frau Kobayashi aufgerufen worden, um eine Frage zu beantworten, was er widerwillig, aber stets korrekt getan hatte. Jetzt zog er schon zum dritten Mal innerhalb von zwanzig Minuten sein Telefon aus der Hosentasche, nur um es dann sogleich wieder entnervt zurückzustecken. Im Gegensatz zu sonst schien es ihm auch mit jedem Mal schwerer zu fallen, seinen Frust zu verbergen. Es war kaum zu glauben, aber in jenen kurzen Momenten wirkte Seto Kaiba, der Leiter eines milliardenschweren Unternehmens mit mehreren Tausend Mitarbeitern, beinahe verloren. Aber irgendwie war es ja auch logisch. Er selbst liebte es, über seine Arbeit, sowohl im Laden als auch für Dungeon Dice Monsters, mit seinen Mitmenschen und Altersgenossen (und -genossinnen!) in Kontakt zu kommen. Für Kaiba war die Arbeit im Gegenteil sein absolutes Distinktionsmerkmal (oder seine Ausrede?), um sich von anderen und vor allem Gleichaltrigen rigoros abzusondern. Nahm man ihm das weg, blieb im Grunde nur ein 18-Jähriger in überdurchschnittlich teuerer Kleidung zurück, der in seiner Klasse keinerlei Anschluss hatte. Auch wenn Kaiba selbst diesen Fakt höchstwahrscheinlich nicht als Problem empfand, wäre er mit Sicherheit trotzdem froh über ein bisschen gewohnte und in seinen Augen sinnvolle Beschäftigung. Wie gut, dass Duke dafür sorgen und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte. Es war wirklich der perfekte Plan. Inzwischen hatte Kaiba zum fünften Mal vergebens auf sein Handy geschaut, sodass Duke entschied, dass es an der Zeit war, ihn kurzerhand schon einmal neugierig zu machen – ob Kaiba es nun selbst so sah oder nicht, er hatte es ohne Zweifel nötig. Anders als von Professor Nakamura behauptet, wurde die Führung mit dem weiteren Eintauchen in die Vergangenheit nicht interessanter. Als nächste Station hatte er unter der Überschrift „Erdentstehung“ das Mineralienkabinett auserkoren. Rings um einen großen unregelmäßig geformten Stein blieben sie stehen und der Blick des Professors hellte sich auf, als würde er vor einem einmaligen Naturwunder stehen. „Dieses scheinbar so ordinäre Stück Gneis hier ist etwas ganz besonderes, ob Sie es glauben oder nicht.“ „Ich glaube es nicht.“, murmelte Seto leise zu sich selbst. Er hörte ein kurzes amüsiertes Schnauben neben sich und bemerkte mit einem Seitenblick, dass Devlin sich neben ihn gestellt hatte – was einigermaßen auffällig war, stand er, Seto, doch schon die ganze Zeit absichtlich mindestens anderthalb Meter von allen seinen Mitschülern entfernt und versuchte mit vor der Brust verschränkten Armen und kaltem Blick jedwede Interaktion von sich fernzuhalten. Der Schwarzhaarige hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und rückte unauffällig noch ein paar Zentimeter näher an ihn heran, sodass sein rechter Oberarm Setos linken streifte. Ein kurzer Schauer überlief ihn. Er mochte solche unbeabsichtigten Berührungen ganz und gar nicht, beherrschte sich aber und zuckte nicht zurück. Was sollte das bitte werden, wenn es fertig war? Jetzt beugte Devlin seinen Kopf ganz leicht zu ihm hinüber, den Blick noch immer stoisch nach vorn gerichtet, so als würde er dem Professor zuhören, und begann zu flüstern: „Hey Kaiba, hör mal, ich hab noch ein Thema mit dir zu bereden – geschäftlich. Da wir ja ohnehin noch ein paar Tage gemeinsam verbringen werden, dachte ich, ich kann einfach direkt mit dir darüber sprechen. Vielleicht später auf dem Rückweg?“ Der Angesprochene zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Ein geschäftliches Thema also? Überraschend, aber interessant. Mit ebenfalls nur leicht geneigtem Kopf flüsterte er diskret zurück: „Dir ist nach gestern aber schon klar, Devlin, dass ich im Moment nichts in die Wege leiten kann, selbst wenn ich wollte?“ Duke sah ihn schmunzelnd von der Seite an und nickte. „Klar soweit, aber erstmal brauche ich weder deine Technik noch deine Mitarbeiter, sondern nur deinen Kopf und den hast du ja ganz offensichtlich bei dir.“ Diese Feststellung erforderte keine artikulierte Antwort. „Hm.“ Der Schwarzhaarige lächelte zufrieden. „Okay, dann also später, auf dem Weg zur Herberge. Bis dann!“ Als hätte Devlin es so getimt, forderte Professor Nakamura sie in diesem Moment auf, weiter zum nächsten Objekt zu gehen, sodass er die Gelegenheit nutzen konnte, beiläufig zu seinen Freunden zurückzukehren, als wäre nichts geschehen. Schade eigentlich, dachte Seto unwillkürlich, als die Wärme an seinem linken Arm langsam verschwand. Gerne hätte er jetzt und hier weitergesprochen. Falls Devlins Anfrage kein absoluter Blödsinn war, würde er gleich vielleicht zum ersten Mal in über 24 Stunden wieder etwas objektiv sinnvolles tun können. Fraglos eine erfreuliche Aussicht. Damit hatte der ach-so-gewitzte Mokuba gewiss nicht gerechnet, dachte er nicht ohne Genugtuung. Unwillkürlich wurde sein Schritt etwas beschwingter, auch wenn sich der weitere Aufenthalt im Museum angesichts der positiven Erwartung jetzt natürlich umso mehr in die Länge zog. Allerdings beendete Professor Nakamura die Führung dann doch noch mit einem kleinen Höhepunkt. Als letztes betraten sie einen großen und hohen Saal, in dessen Mitte sich majestätisch mehrere große und einige kleinere Dinosaurierskelette teilweise bis fast an die Decke erhoben. Frau Kobayashi stellte zufrieden fest, dass hier tatsächlich einmal alle ihre Schüler bei der Sache waren und ihre staunenden Blicke durch den Raum schweifen ließen. Auch der Professor schien das sichtlich zu genießen, während er an den gezeigten Beispielen die grundlegenden Fakten zu Entstehung, Vermehrung und Aussterben der Dinos nebst den wichtigsten fleisch- und pflanzenfressenden Arten erläuterte. Nach einem letzten Fazit kam er zum Schluss. „Und damit wäre ich also offiziell am Ende meiner Führung. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen.“ „Vielen, vielen Dank, Herr Professor. Es war wirklich hoch informativ!“, lobte Frau Kobayashi und schüttelte dem Mann energisch die Hand. „Wenn Sie keine Fragen mehr an Professor Nakamura haben, dann steht Ihnen jetzt noch eine Stunde zur Verfügung, um das Museum auf eigene Faust zu erkunden und sich vielleicht den ein oder anderen Ausstellungsteil anzusehen, den wir ausgelassen haben. Oder Sie besuchen noch einmal Ihre Highlights aus der Führung – es ist ganz Ihnen überlassen. Wir treffen uns dann pünktlich um 16 Uhr vor dem Ausgang. Und bitte verhalten Sie sich zivilisiert!“ Die Schüler zerstreuten sich in unterschiedlichste Richtungen – die meisten in Richtung Toiletten – doch Seto blieb noch einen Moment vor dem riesigen Skelett eines Triceratops stehen. Unwillkürlich war ihm das Buch in den Sinn gekommen, das Mokuba ihm statt seines Laptops untergejubelt hatte und dessen Einband ein ebensolcher Saurier zierte. Ihm entfuhr ein unbewusstes Schnauben. Mein Gott, dieses Buch war Mokubas Ein und Alles gewesen. Sein Bruder hatte es an einem ihrer ersten Tage im Waisenhaus entdeckt und praktisch nicht mehr aus der Hand gegeben. So sehr war er darin vernarrt gewesen, dass Seto es heimlich in seiner Tasche hatte mitgehen lassen, als sie von Gozaburo abgeholt worden waren. Der überglückliche Blick seines Bruders, als er es ihm am ersten oder zweiten Abend in dem neuen, großen, fremden Haus überreicht hatte, war unbezahlbar gewesen. Überhaupt wäre dieser ganze Ausflug mit Mokuba wahrscheinlich um Welten angenehmer gewesen. Auf jeden Fall hätte er mit dem 13-Jährigen qualifiziertere Unterhaltungen führen können als mit sämtlichen seiner Altersgenossen hier. Wenn er es recht bedachte, hatte er wirklich lange nichts mehr mit Mokuba unternommen; die neue Duel Disk hatte ihn in den letzten Monaten zu sehr in Beschlag genommen. Vielleicht konnten sie das nachholen, wenn sich der Trubel rund um den Release und das Turnier gelegt hatte. Seto lächelte leicht versonnen in sich hinein. Wie gut, dass Mokuba Computer- und Konsolenverbot und keinen Hausarrest bekommen würde. Es wäre doch zu schade, wenn sie damit warten müssten, bis er 21 war. Bevor er mit seinen Freunden gemeinsam weiterzog, fiel Dukes Blick noch ein letztes Mal auf Kaiba, der versunken vor einem der Dinosaurier stand und seinen Telefon- und Nicht-Arbeits-Frust zumindest für diesen Moment vergessen zu haben schien. Woran er wohl dachte? Genau betrachtet unterschieden Dinosaurier sich ja auch gar nicht so sehr von den Drachen, in die er so vernarrt war… Nach besagter Stunde hatten die Schüler es endlich hinter sich gebracht. Die meisten standen schon angezogen vor dem Ausgang, während andere noch auf Toilette waren oder den Museumsshop unsicher machten. Seto gehörte naturgemäß der ersten Fraktion an und hoffte auf einen baldigen Aufbruch, wenngleich der zugegebenermaßen sehr gute Coffee to go aus dem Museumscafé das Warten etwas erträglicher machte. Endlich kam zumindest auch der Kindergarten herzu, der sich offenbar noch im Shop herumgetrieben hatte. „Das ist richtig stark, Leute! So einen Dino wollte ich schon immer haben!“, hörte er Wheeler begeistert ausrufen. Seto verdrehte sie Augen. Wie alt war der Köter? Sechs, sieben? Wieder hielt er sich aber mit der lauten Äußerung aufgrund des akuten Kopfschmerzrisikos zurück. „Was hast du da eigentlich gekauft, Duke?“, fragte Tea den Schwarzhaarigen interessiert. Der winkte nur ab: „Ach, nicht so wichtig, nur eine Kleinigkeit als spontanes Mitbringsel.“ „Einige der Bücher waren auch voll interessant. Ich wollte jetzt nur keins mitschleppen.“ warf Ryou ein, bevor Seto wieder aktiv weghörte. Die restlichen Schüler stießen nur wenige Minuten später ebenfalls dazu und sie verließen – endlich! – das Museum, um sich auf den langen Rückweg Richtung Herberge zu machen. Von dem Moment an, als sie die U-Bahn-Station verlassen hatten, wartete Seto nur noch ungeduldig darauf, dass Devlin endlich zu ihm stoßen würde. Diesmal hatte er sich bewusst hinter die Gruppe abgesetzt, damit sie nicht die Augen aller ihrer Mitschüler im Rücken hatten, wenn sie Devlins Thema – was auch immer es war – diskutierten. Endlich sah er, wie der Schwarzhaarige seinen Freunden etwas signalisierte und sich zurückfallen ließ. Die Hände in den Taschen seiner schwarzen Kapuzenjacke vergraben, die er angesichts der milden Temperaturen offen trug, ging er langsamer bis Seto zu ihm aufgeschlossen hatte. Sie vergrößerten den Abstand zum Rest noch ein wenig, bevor Seto es endgültig nicht mehr aushielt. „Also, raus damit, worüber wolltest du sprechen, Devlin?“ Wow, dachte der Angesprochene nur, sein kleiner Teaser hatte offenbar durchschlagende Wirkung gezeigt. Einen kurzen Moment würde er es noch auskosten. Mit einem Lächeln sagte er an Kaiba gewandt: „Erstmal danke, dass du bereit bist, es dir direkt anzuhören. Aber andererseits…es herrscht ja ein gewisser Mangel an Alternativen.“ Der Brünette gab nur unwirsch zurück: „Ja ja, komm zur Sache. Ich hab schließlich nicht den ganzen …“, Seto unterbrach sich, als ihn ein zweifelnder Seitenblick aus Dukes grünen Augen traf. Er verdrehte genervt die Augen. „Gut, streich das! Aber so langsam werde ich wirklich ungeduldig.“ Diese Ungeduld wollte Duke nun auch nicht länger ausreizen, auch um seiner Selbst willen, denn eine diffuse Aufgeregtheit hatte ihn ergriffen, seit sie aus der U-Bahn gekommen waren. Von dem, was er gleich sagen würde hing eben einfach eine Menge ab. „Okay, dann will ich dich mal nicht länger auf die Folter spannen. Wie du dir sicherlich vorstellen kannst, ist es mein ureigenstes Interesse, Dungeon Dice Monsters stetig weiterzuentwickeln. Ein erster Meilenstein nach der Übernahme von Herstellung und Vertrieb durch Industrial Illusions waren die Arenen für die holographische Projektion, die ihr entwickelt und gebaut habt. So ähnlich war das ja anfangs auch bei Duel Monsters. Was Duel Monsters dann aber noch mehr gepusht und popularisiert hat, war die Duel Disk, weil sie das technisch beste Spielerlebnis auch mobil und draußen ermöglicht. Für mein Spiel gibt es so etwas leider noch nicht. Meine Idee wäre also eine Art Duel Disk für Dungeon Dice Monsters zu entwickeln. Allerdings fehlt mir die technische Kompetenz, um selbst eine gute Konstruktion zu erarbeiten und die Umsetzung läge ja ohnehin bei dir in der Firma. Darum dachte ich, es könnte sich lohnen, schon frühzeitig mit jemandem aus deiner Entwicklungsabteilung oder eben dir in ein erstes Sparring zu gehen.“ Sehr gut, das hatte doch ganz unverfänglich und spontan geklungen und ließ in keiner Weise darauf schließen, welche Gründe ihn zu diesem Einfall gezwungen hatten. Einfach schön weiter den Ball flach halten und sich auf entspannte Art und Weise professionell geben, beruhigte Duke sich selbst. Seto nickte bedächtig. Das klang erst einmal nach einem grundsätzlich sinnvollen Vorhaben. Er selbst war in das Geschäft mit DDM nie besonders stark involviert gewesen, aber das würde ihn im Zweifel nicht abhalten. Sein Interesse war auf jeden Fall geweckt, und wenn es nur dazu diente, seine Zeit auf dieser Fahrt mit etwas ansatzweise Produktivem zu verbringen. Fachmännisch erkundigte er sich: „Ich erinnere mich, dass wir damals für Dungeon Dice Monsters wenig neu entwickeln mussten, da wir einen Großteil der Technologie einfach von den Duel Monsters-Arenen übernehmen konnten. Du hältst eine Adaption der Duel Disk für schwieriger?“ Duke nickte. „Absolut. Was seine Spielelemente angeht, ist DDM nun mal um einiges komplexer als Duel Monsters. Du hast das Würfeln, das Planen des Dungeons und erst dann kommen die Monster selbst. Alles das muss dann auch noch sinnvoll auf kleiner Fläche untergebracht und gesteuert werden können.“ „Verstehe.“ Kaiba nickte. An seiner Körpersprache war für Duke klar zu erkennen, dass er bereits begonnen hatte, nachzudenken und zu planen: Den linken Arm hatte er im Gehen angewinkelt und mit der rechten Hand strich er sich nachdenklich über das Kinn. Mit einem erwartungsvollen Lächeln sah Duke zu ihm hinüber und konnte die Aufregung nicht mehr ganz aus seiner Stimme heraushalten: „Also, was sagst du, klingt das nach einer angemessenen Herausforderung für dich?“ Devlins Tonfall und Wortwahl ließen Seto aufhorchen. Rationalität in allen Ehren, aber seine Intuition hatte ihn in solchen Dingen bisher nie im Stich gelassen. Er konnte noch nicht mit dem Finger darauf zeigen, aber er war entschlossen, dem nachzugehen. „Ja, gar keine Frage. Aber eine Sache möchte ich doch noch wissen.“ Grüne Augen blickten ihn aufmerksam an. „Warum jetzt?“ Nachdem er seine kurze Frage gestellt hatte, musterte er den Jüngeren neben sich intensiv, um dessen Reaktion genau studieren zu können. „Hm?“ Offenbar war Devlin gerade schwer von Begriff. „Warum kommst du damit ausgerechnet jetzt zu mir?“, stellte Seto seine Frage daher klarer. Mist, was war das denn jetzt? Irgendwie hatte Duke sich das einfacher vorgestellt. Was musste Kaiba auch so ein skeptischer Typ sein! Drohte er ihm auf die Schliche zu kommen? Wusste er vielleicht schon, wie es um sein Spiel stand und wollte ihn jetzt auflaufen lassen? Nein, das konnte nicht sein. Max hatte die Zahlen ja selbst erst vorgestern ausgewertet; Kaiba konnte unmöglich schon davon erfahren haben. Cool bleiben, beschwor er sich. „Hab ich doch gesagt: weil ich ohnehin vorhatte, mit dir darüber zu sprechen und dachte, dass es sich jetzt einfach anbietet. Es spart mir den Aufwand am Telefon mit deiner Sekretärin deinen halben Terminkalender durchackern zu müssen.“ Und das war noch nicht mal gelogen. Kaiba schien mit der Erklärung jedoch nicht zufrieden. „Obwohl du wusstest, dass mir nichts zur Verfügung steht, um vernünftig daran zu arbeiten?“ Mein Gott, er ließ aber auch wirklich nicht locker! Langsam fühlte sich Duke in eine Ecke gedrängt. „Wie gesagt, dein Kopf kann ja auch so arbeiten, oder?“ Verdammt, in seinem Kopf hatte sich das weniger defensiv angehört! Seto war die Anspannung im Tonfall des Schwarzhaarigen nicht entgangen. Seine Intuition hatte ihn also nicht getäuscht. Gleich hatte er Devlin soweit. Duke spürte, wie ihn Kaibas blaue Augen regelrecht durchbohrten. Sollte er ihm doch reinen Wein einschenken? Nein, eine Karte hatte er noch auf der Hand. Er seufzte und massierte sich mit der linken Hand den Nacken. „Okay, vielleicht hat auch ein wenig zu dem Entschluss beigetragen, dass …“ Wie sollte er es am besten formulieren? „Ich dachte nur, dass die Aussicht auf Arbeit … nun ja, deine aktuelle Stimmung ein wenig heben könnte.“ Er versuchte Kaibas Blick so fest wie möglich zu erwidern, auch wenn ihm klar war, dass er mit dieser schwachen Ausrede womöglich immer noch nicht vom Haken war. Seto sah seine Befürchtungen bestätigt. Kühl und mit einer Spur Verachtung blickte er auf den Kleineren herab. Beißender Sarkasmus lag in jedem seiner Worte. „Tze, wusste ich es doch: Mitleid!“ Er spuckte das Wort regelrecht aus. „Weil ich hier ohne meine Arbeit ach so alleine bin und keine Freunde habe, in deren Zimmer ich abends abhängen oder von denen ich mich in einer lustigen Brettspielrunde über den Tisch ziehen lassen kann?!“ Das war so typisch. Und er hatte gedacht, Devlin wäre etwas weniger wie seine sentimentalen Gruppenkuschelfreunde. Duke konnte es nicht fassen. Mal ganz davon abgesehen, dass Kaiba seine Ausrede offensichtlich glaubte: Wie konnte jemand bitte so empfindlich auf die Tatsache reagieren, dass man ihm etwas Gutes tun wollte?! Auch wenn das natürlich wahrlich nicht sein Hauptmotiv war. Sollte sich sein perfekter Plan wirklich als Rohrkrepierer entpuppen, bevor er überhaupt richtig angefangen hatte? Vor seinem geistigen Auge erschienen die Szenen aus seinem Traum: der Vorstand, der sich über ihn lustig machte, Pegasus, der sich enttäuscht von ihm abwandte, der triumphierende Blick seines Vaters. Sollte er nächste Woche wirklich mit leeren Händen vor dem Industrial Illusions-Vorstand stehen und sein Spiel zu Grabe tragen, weil dieser verbohrte Mistkerl Kaiba sich weigerte ihm zu helfen? Und das noch nicht einmal wegen der scheiß Wahrheit, sondern wegen seines bescheuerten Stolzes?! Mit unverhohlener Wut funkelten Dukes grüne Augen den Brünetten an. „Oh, ich bitte dich, Kaiba, komm mir bloß nicht mit der ‚Ich brauche dein Mitleid nicht‘-Nummer! Meine Anfrage ist echt, ich hab sie nur ein wenig früher als ursprünglich geplant an dich herangetragen. Die Gründe dafür können dir doch echt egal sein! Wir wissen doch beide, dass du sofort angefangen hast, darüber nachzudenken. Du kannst doch gar nicht anders.“ Der Angesprochene blickte stoisch an Duke vorbei nach vorne und erwiderte bissig: „Ich könnte mich aber auch entscheiden, das bis nach der Klassenfahrt zu unterlassen.“ Okay, Kaiba wollte also zickig sein, na, das konnte er auch! „Das schaffst du nicht!“ Der Brünette widersprach postwendend: „Werden wir ja sehen!“ Duke rollte genervt die Augen und seufzte demonstrativ. So kam er hier nicht weiter. Für den Moment musste er wohl oder übel den Rückzug antreten. Dass er Recht hatte, stand völlig außer Frage und im Grunde musste er nur abwarten, bis Kaiba das irgendwann auch selbst einsah. Nur war fraglich, wie lange das bei diesem notorisch nachtragenden Sturschädel dauern würde. Entnervt schüttelte Duke den Kopf und wandte sich zum Gehen. „Okay, dann bin ich mal wieder weg – mit meinen Freunden abhängen. Falls du dich doch entschließen solltest, das Nachdenken über dieses Projekt vorzeitig wieder einzuleiten, sag Bescheid, ich helfe gern. Guten Tag und viel Spaß bei was auch immer.“ Und damit rauschte er verärgert und beleidigt davon. Mit einem Schulterzucken versuchte Seto das Gespräch sofort wieder hinter sich zu lassen. Er brauchte doch nicht Devlins armseliges Mitleidsprojekt, um diese Klassenfahrt ohne Arbeit zu überstehen. Außerdem konnte er ohnehin nicht viel machen. Er hatte keinen Rechner, keine Notizen, kein gar nichts. Einfach in Ruhe weiter lesen – das würde er machen. Mokuba hatte doch unbedingt gewollt, dass er sich mal „entspannte“. Dann würde er eben genau das tun. Duke stieß wieder zu seinen Freunden und offenbar stand ihm ins Gesicht geschrieben, wie es gerade gelaufen war. Natürlich hatte er ihnen vorhin nicht gesagt, worum es genau ging, nur dass ihm „gerade spontan“ eingefallen sei, dass er ja noch etwas Geschäftliches mit Kaiba zu besprechen hätte und die Gelegenheit günstig sei. „War wohl nicht so gut, oder?“, fragte Tea trotzdem vorsichtig. Er schüttelte nur den Kopf. Eine kleine, aber feine Auswahl an Schimpfworten für den Brünetten lag ihm auf der Zunge. Laut aussprechen würde er sie nicht, das führte im schlimmsten Fall nur wieder zu irgendwelchen nett gemeinten, aber im Endeffekt kontraproduktiven Kurzschlussreaktionen bei Joey, die seine Chancen auf einen Sinneswandel Kaibas noch mehr torpedieren würden. Nein, er würde erstmal einfach abwarten. Wenn man Kaibas Frustrationslevel im Museum zum Maßstab nahm, würde es ja vielleicht gar nicht so lange dauern. Kapitel 6: Far too realistic. (And mildly irritating.) ------------------------------------------------------ Zurück in der Herberge ging Duke als erstes kurz mit auf das Zimmer und stellte seinen Rucksack ab, nur um dann schnurstracks wieder nach draußen zu gehen. Das Wetter war noch immer so gut, dass sie die verbliebene Zeit bis zum Abendessen auf einer der Sitzbänke vor der Herberge verbringen und die letzten Sonnenstrahlen des Tages genießen wollten. Duke war als erster wieder unten, ließ sich auf einer Bank direkt rechts von der Tür nieder und lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht und er schloss die Augen. Seine Wut auf Kaiba hatte noch nicht merklich nachgelassen, weshalb er das Zimmer auf dem schnellsten Wege hatte verlassen wollen. Wie er sich bereits gestern vorgenommen hatte, wollte er keinen Moment länger als unbedingt nötig mit Doktor Stolz und Mister Vorurteil im selben Raum verbringen, freilich jetzt aus leicht anderen Gründen. Sollte der doch sein dämliches Buch lesen und weiter vor sich hin schmollen, irgendwann würde er schon zur Einsicht kommen. Vom Eingang der Herberge her drangen Gespräche an sein Ohr und unterbrachen seine wenig freundlichen Gedanken. Die anderen Jungs kamen zu ihm und ließen sich ebenfalls auf die Bank fallen, Joey links, Tristan rechts von ihm, daneben jeweils Yugi und Ryou. Tea stieß einen Moment später ebenfalls dazu und musste sich noch regelrecht zwischen Yugi und Joey quetschen, damit sie alle auf die Bank passten. „Mann, was für ein Tag! Bin ich froh, dass das rum ist!“, stöhnte Tristan erschöpft. Ryou nickte zustimmend. „Die Dinos waren aber auch wirklich das Einzige, das einigermaßen interessant war!“ Tristan hatte in der Zwischenzeit seine Sonnenbrille heraus gekramt und schob sie sich auf die Nase. „Ich hoffe, morgen machen wir irgendwas geileres. Aber das glaube ich auch erst, wenn ich es sehe.“ Joey versuchte die gedämpfte Stimmung zu vertreiben. „Jetzt haben wir jedenfalls erstmal einen entspannten Abend ganz für uns. Darauf sollten wir anstoßen!“ Mit diesen Worten griff er zu einer Maxi-Flasche Cola, die er aus dem Zimmer mit nach unten gebracht hatte und reckte sie energisch in die Luft, als sei sie der heilige Gral der guten Laune. „Mit Cola?!“, fragte Tea zweifelnd zurück. Tristan antwortete für seinen besten Freund: „Naja, wir können uns ja schlecht schon vor dem Abendessen volllaufen lassen. Außerdem haben wir nicht so viel Zeugs dabei, das heißt, wir müssen uns gut überlegen, wann wir so richtig feiern wollen.“ Darauf wusste Tea nichts zu erwidern und nickte einfach nur, während Joey sich daran machte, die Flasche zu öffnen. Kaum hatte er den Deckel einen Millimeter gelöst, zischte es laut und bräunlicher Schaum sprudelte ihm über die Hand. „Ah, Mist!“ Schnell hielt der Blonde die Flasche zur Seite, ohne in seiner Hektik zu bemerken, dass er sie damit im Grunde genau über Duke hielt. Der konnte nicht schnell genug reagieren und nur noch zusehen, wie sich ein Schwall klebriger Flüssigkeit über ihn ergoss. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! „Pass doch auf, Blödmann!“, fuhr er Joey scharf an, sprang blitzschnell auf und versuchte die Flüssigkeit mit den Händen wegzuwischen, um ein größeres Fiasko auf seinen Klamotten zu verhindern. Auf einen Tonfall, wie Duke ihn angeschlagen hatte, reagierte Joey äußerst allergisch, sodass er sich mit leicht erhobener Stimme verteidigte: „Tschuldigung, war halt ein Reflex! Hab’ dich mal nicht so!“ Mittlerweile hatte er sich leicht nach vorne gebeugt und streckte die noch immer überlaufende Flasche weit von sich, sodass sie keine Gefahr mehr für irgendwen darstellte. Duke hatte seine vergeblichen Säuberungsbemühungen inzwischen aufgegeben und sah nurmehr mit leichtem Ekel an sich hinunter. Die gesamte Vorderseite seines T-Shirts sowie ein Teil seiner Jacke waren von koffeinhaltiger Zuckerbrause durchtränkt. Er schüttelte nur den Kopf und seufzte hörbar genervt: „Ich geh kurz nach oben, mich umziehen!“ Es klang aggressiver, als es sonst seine Art gewesen wäre, aber dafür hatte er im Moment keinen Gedanken übrig. Kurz bevor er ganz außer Hörweite war, hörte Duke nur noch wie Joey in die Runde fragte: „Was’n mit dem los?!“ Was los war?! Das war doch wohl offensichtlich! Seine Klamotten waren ruiniert! Um das Shirt war es weniger schade, das konnte er problemlos waschen, aber die Jacke! Seine Lieblingsjacke! Außerdem musste er jetzt auch noch wieder hoch ins Zimmer gehen und damit Kaiba begegnen, auf den er noch immer nicht besonders gut zu sprechen war, weil der einen zu großen Stock im Arsch hatte, um ihm mit seinem Spiel zu helfen. DAS war mit ihm los! Nachdem Devlin nach ihrer Rückkehr nahezu blitzartig wieder aus dem Zimmer verschwunden war, hatte Seto einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen. Bis zum Abendessen war noch eine gute halbe Stunde Zeit, die er seinem Plan gemäß lesend zu verbringen gedachte. Mit einer Rückkehr Devlins war – insbesondere nach ihrem Gespräch vorhin – wohl eher nicht mehr zu rechnen, er würde also mit ziemlicher Sicherheit seine Ruhe haben. Sehr gut! Er zog Mantel und Schuhe aus, machte es sich auf dem Bett bequem und blätterte das Buch an der Stelle auf, bei der er gestern stehen geblieben war. …Es ist zweierlei, ob man Neugierde unterdrückt oder ob man ihrer Herr wird, und es ist zweifelhaft, ob es Utterson seit jenem Tage mit derselben Heftigkeit nach der Gesellschaft seines überlebenden Freundes verlangte. Er dachte freundlich an ihn, doch waren seine Gedanken beunruhigt und voll Angst. Wohl ging er zu ihm, doch war er gewissermaßen erleichtert, wenn man ihn abwies.* Wie ließ sich das Würfeln lösen? Und wurden die Würfel nicht auch irgendwie … aufgeklappt? Wie projizierte man das auf die schmale Fläche einer Art von Duel Disk? … Egal, er würde darüber nachdenken, wenn er nächste Woche zurück in seinem Büro war. Wenn überhaupt. …wenn man ihn abwies. Vielleicht zog er es im Inneren vor, umgeben von der Luft und den Geräuschen der Großstadt, an der Tür mit Poole zu sprechen, als in das Haus der freiwilligen Haft geführt zu werden, um dort zu sitzen und mit dem rätselhaften Einsiedler zu sprechen.* Mussten sich die Würfel-Teile der Gegner nicht auch berühren können? Verdammt, er hatte eigentlich keine wirkliche Ahnung, wie Dungeon Dice Monsters funktionierte. Er hatte zwar damals Devlins Spiel gegen Yugi verfolgt, allerdings während der Arbeit und darum nur halb aufmerksam. Aber eigentlich wollte er ja auch gar keinen Gedanken daran verschwenden, zumindest nicht jetzt. Weiter im Text. …Was Poole zu berichten wusste, lautete jedenfalls nicht sehr erfreulich. Der Doktor hatte sich mehr denn je in sein Arbeitszimmer über dem Laboratorium zurückgezogen, ja er schlief sogar manchmal dort. Er befand sich in schlechter Stimmung, war sehr schweigsam geworden, las nicht, und es schien, als ob ihn etwas bedrückte. Und Utterson gewöhnte sich endlich so …* Mit einem Mal flog unsanft die Tür auf und Devlin trat herein, in der Hand seine Jacke. Mit hochgezogener Augenbraue sah Seto von dem Buch auf. Duke bemerkte es und fauchte ihn regelrecht an: „Oh, lass dich nur nicht bei deiner gemütlichen Lesestunde stören, Kaiba! Ich zieh mich nur kurz um und bin gleich wieder weg. Joey, dieser Idiot, hat Cola über mein Shirt und meine Jacke gekippt.“ Die Wut in Devlins Stimme – sowohl auf ihn als auch auf Wheeler – war schwerlich zu überhören. Hm, egal. Seto nahm den Inhalt stumm zur Kenntnis und widmete sich wieder dem Buch. … Und Utterson gewöhnte sich endlich so an die stets gleichlautenden Berichte, dass er mit der Zeit seltener vorsprach.* An dieser Stelle war das Kapitel zu Ende, aber anstatt umzublättern, wanderte Setos Blick über den oberen Rand des Buches hinweg zu dem Schwarzhaarigen, dessen unverhohlener Ärger ihn gleichermaßen ablenkte wie amüsierte. Unauffällig verfolgte er aus dem Augenwinkel, wie Devlin seine Jacke auf das Bett schleuderte und sich aus seiner Tasche ein neues Oberteil heraussuchte, das nicht minder energisch auf das Bett geworfen wurde. Vorsichtig, um seine Frisur nicht zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen und ohne seinen Clown-Anhänger vorher abzunehmen, zog der Schwarzhaarige das nasse und klebrige Shirt über seinen Kopf. Fast wie das Pendel eines Hypnotiseurs baumelte das Schmuckstück auf Devlins schlankem, aber trainierten Oberkörper hin und her. Seto konnte den Blick nicht abwenden; seine Augen blieben voll auf das glänzende Objekt auf der nackten, leicht gebräunten Haut fixiert: Ein Schwung nach links über Devlins flachen Bauch und die gut sichtbaren Muskeln, ein Schwung nach rechts über die leicht definierte Brust. Jedes Mal strich das Band des Anhängers über Devlins Schlüsselbeine, seine Schultern und Arme spannten sich sanft an, als er nach dem sauberen T-Shirt griff und es über seinen Kopf zog. Seto schluckte. Erst, als der Schwarzhaarige das T-Shirt heruntergezogen und den Anhänger wieder herausgezogen hatte, kehrte seine Aufmerksamkeit wieder zu den Buchstaben auf Seite 63 zurück. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Was auch immer. Endlich blätterte er die Seite um, während der noch immer aufgebrachte Devlin ohne ein weiteres Wort kehrtmachte, seine Jacke achtlos auf dem Bett zurückließ und absichtlich laut die Türe zuknallte. Beim Abendessen stellte Seto fest, dass zumindest Devlins Wut auf Wheeler wohl zwischenzeitlich wieder verflogen zu sein schien, denn alle Mitglieder des Kindergartens saßen gemeinsam an ihrem Tisch und unterhielten sich angeregt. Unterdessen erhob sich Frau Kobayashi, um zu verkünden, was morgen auf der Tagesordnung stehen würde: „Meine Damen und Herren, wenn ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte! Der morgige Tag wird ganz im Zeichen der olympischen Geschichte von Nagano stehen. Wie Sie sicherlich wissen, fanden hier im Jahre 1998 die olympischen Winterspiele statt. Wir werden uns die wichtigsten Sportstätten ansehen und uns am Ende auch selbst ein wenig sportlich betätigen. Ich hatte ja angekündigt, dass Sie Schwimmsachen benötigen werden und morgen sollten Sie sie einpacken, denn bei unserer letzten Station am Nachmittag werden wir noch ein paar Stunden verweilen und Sie haben die Gelegenheit, sich im Wasser…nun ja, auszutoben, wenn Sie so wollen. Ich hoffe, Sie freuen sich darauf! Frühstück und Abfahrt handhaben wir genau wie heute. Jetzt lassen Sie sich aber erst einmal das Abendessen schmecken!“ Damit setzte sie sich und begann ebenfalls zu essen. Am Tisch von Yugi und seinen Freunden verzog Joey noch während ihrer Ankündigung das Gesicht. Als die Lehrerin geendet hatte, platzte es regelrecht aus ihm heraus: „Also ich hoffe doch stark, dass Kobayashi-sensei nicht selbst ins Wasser geht. Ich habe keine große Lust, die Gute im Bikini zu sehen. Das wären Bilder, die mich für mein Leben traumatisieren könnten.“ Streng wies ihn Tea zurecht: „Joey, also wirklich! Wir werden alle mal älter und du würdest auch nicht wollen, dass man dir dann das Schwimmen verbietet, nur weil du vielleicht nicht mehr ganz so knackig aussiehst wie in früheren Zeiten.“ Der Blonde schüttelte den Kopf und widersprach mit einem selbstbewussten Grinsen und nach oben gereckten Daumen: „Ja, aber das ist doch genau der Unterschied, Tea! Beim guten Joey werden sich die Mädels auch im Alter noch darum reißen, ihn in Badehosen zu sehen.“ Tristan flüsterte derweil zu Yugi, Duke und Ryou gewandt: „Also manchmal frage ich mich schon, was er nimmt und ob ich auch was davon will.“ Die drei lachten. „Besser nicht, Tristan, besser nicht.“, schüttelte Duke grinsend den Kopf. „Ich freu mich jedenfalls drauf, dass wir schwimmen gehen, das hab ich schon ewig nicht mehr gemacht!“, strahlte Yugi die anderen an und schwatzend und planend beendeten sie das Abendessen. Seto war – wie sollte es anders sein – alles andere als begeistert. Toll, er würde ein paar leere Sport-Arenen und ein öffentliches Schwimmbad sehen. Großartig! Fantastisch! Und dafür war er mehrere hundert Kilometer in einem Bus mit Idioten gefahren, in einer billigen Herberge in einem miserablen Ehebett untergebracht worden und musste unfreiwillig seine Arbeit ruhen lassen. Du kommst mal raus und siehst was anderes, klangen Mokubas Worte in seinem Kopf nach. Tze, zu Hause hatte er einen eigenen Pool ganz für sich. Nicht, dass er ihn sonderlich häufig nutzte, aber wenigstens musste er dort nicht in den Bakterien anderer Leute schwimmen, die dazu noch seinen Sinn für Ästhetik verletzten. Und wenn er eine leere Arena sehen wollte, musste er nur ins Kaiba-Land, wenn gerade kein Turnier war. Er seufzte. Nun, es nützte ja nichts, er war nun einmal hier und würde es erdulden müssen. Immerhin war der erste Tag ja bereits nahezu überstanden. Nach dem Abendessen blieb Seto stur bei seinem Plan und ging wieder nach oben, um sich weiter der Lektüre zu widmen. Man musste das ganze auch mal positiv betrachten: Normalerweise hatte er wenig bis gar keine Zeit für so etwas wie Bücher, obwohl er eigentlich recht gerne las. Ausnahmen konnte er sich sonst nur für Werke erlauben, die sie für den Unterricht zu lesen hatten. Insofern war es doch auch gar nicht schlecht, mal nicht zu arbeiten. Fast schon routiniert ließ er sich wieder auf dem Bett nieder und schlug das Buch auf. Lieber Lanyon, Du bist einer meiner ältesten Freunde, und obgleich unsere Meinungen über wissenschaftliche Fragen manchmal auseinandergehen mochten, so ist mir ein Nachlassen Deiner Zuneigung – wenigstens von meiner Seite – nicht erinnerlich. Zu jeder Zeit, wenn Du zu mir gesagt hättest: ‚Jekyll, mein Leben, mein Verstand, meine Ehre hängen von Dir ab!‘ – würde ich mein Vermögen und meine linke Hand geopfert haben, um dir zu helfen. – Lanyon, mein Leben, mein Verstand und meine Ehre hängen von Deiner Barmherzigkeit ab! … ** Wahrscheinlich musste die gesamte Grundform der Duel Disk völlig neu gedacht werden. Es stimmte schon: Soweit er wusste, war der Spielaufbau von DDM wesentlich komplexer als bei Duel Monsters. Ein paar Flächen oben und ein paar Schlitze an den Seiten würden also wohl kaum ausreichen… Ach, verdammt, jetzt ging das schon wieder los! Fokus! … Lanyon, mein Leben, mein Verstand und meine Ehre hängen von Deiner Barmherzigkeit ab! Wenn Du mich heute Abend im Stich lässt, bin ich verloren. Du wirst nach dieser Einleitung vielleicht annehmen, dass ich etwas Unehrenhaftes von dir verlangen werde. Urteile selbst! Ich bitte dich für heute Abend alle anderen Verpflichtungen abzusagen – selbst wenn du an das Krankenbett eines Kaisers gerufen werden würdest –, eine Droschke zu nehmen, … ** Mhm, auf die echten Würfel würde Devlin wohl kaum verzichten wollen, also mussten sie tatsächlich irgendwo innerhalb des Gerätes … Mein Gott, heute war es mit seiner Konzentration aber wirklich nicht weit her! Gestern hatte es doch auch funktioniert! Lanyon, mein Leben, mein Verstand und meine Ehre hängen von Deiner Barmherzigkeit ab! Wenn Du mich heute Abend im Stich lässt, bin ich verloren. … ** Wenn man die echten Würfel beibehalten wollte, wie konnte man sie werfen, ohne sie zu verlieren? So viele Herausforderungen… die er aber natürlich alle erst durchdenken würde, wenn sie wieder zurück in Domino waren! Lanyon, mein Leben, mein Verstand und meine Ehre hängen von Deiner Barmherzigkeit ab! … ** Moment, zum wievielten Mal las er diesen Satz jetzt schon?! Ach, es war aussichtslos! Offenbar hatte das Buch mit der gespaltenen Persönlichkeit des Protagonisten schon auf ihn abgefärbt. Nur welcher Teil von ihm war hier der gute Dr. Jekyll und welcher der böse Mr. Hyde? Der, der sich krampfhaft auf die Geschichte zu konzentrieren versuchte, oder der der schon mehrere Konstruktionsideen für die DDM-Duel Disk erdacht und teils wieder verworfen hatte? Kurz legte er das Buch aufgeschlagen auf seinem Oberschenkel ab und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. So ungern er es zugeben wollte, Devlin hatte wohl recht. Natürlich konnte er nicht anders als über diese vermaledeite Duel Disk nachzudenken; dafür war das Projekt zu interessant und ganz nach seinem Geschmack. Und ja, selbstverständlich war es auch eine willkommene Ablenkung von der für ihn hochgradig unangenehmen Gesamtsituation. Anspruchslose, wechselnde Klassenausflüge und ein Buch, das streckenweise doch mehr Realitätsbezüge aufwies, als ihm lieb sein konnte, würden ihn wohl kaum in einem stabilen Geisteszustand durch die Woche bringen. Also gut, dann war es wohl beschlossene Sache: Er würde tatsächlich eine DDM-Duel Disk entwickeln und das Devlin bei nächster Gelegenheit mitteilen müssen. Unangenehm, aber notwendig, da er auf jeden Fall auf dessen Wissen und seine Mitwirkung angewiesen sein würde. Problem Nummer zwei war die Frage, wie er mit seinen aktuell begrenzten Möglichkeiten wirklich daran arbeiten konnte. Wenn er mit dem Finger in der Notiz-App seines nicht mehr ganz so smarten Smartphones herum zeichnete, würde jedenfalls keine Duel Disk dabei herauskommen, sondern höchstens ein blinkender Technik-Klumpen mit einem Loch für Würfel. Naja, auch dafür würde sich eine Lösung finden. Erst einmal musste er auf Devlin warten und bis dahin konnte er genauso gut noch etwas weiter lesen. Jetzt, wo der Widerstand in seinem Kopf fürs Erste aufgelöst war, schien seine Konzentration auf geradezu magische Weise wieder zurückgekehrt zu sein und er flog nur so durch die Seiten. Bereits gegen halb neun öffnete sich die Tür erneut und sanfter als zuvor. Diesmal sah Seto bewusst von dem Buch auf und beobachtete, wie Devlin zu seiner Tasche ging und sich einen schwarzen Hoodie überzog. Eigentlich hatte Seto gehofft, dass der Schwarzhaarige seinen Blick von alleine registrieren würde, als er sich dem Bett zuwandte, aber nein, Devlin nahm lediglich seine Jacke weg und ging damit ins Badezimmer. Dort wusch und wrang er sie einmal kräftig aus und hängte sie dann mit einem Bügel außen an eine der Schranktüren. „Ich hoffe, die ist morgen wieder halbwegs trocken.“, murmelte der Schwarzhaarige zu sich selbst. Seto wurde weiterhin geradezu demonstrativ ignoriert und verdrehte die Augen. Mein Gott, was war Devlin nur für eine Diva! Der Schwarzhaarige wandte sich bereits wieder zum Gehen, sodass Seto sich widerstrebend dazu herabließ, sich noch etwas deutlicher bemerkbar zu machen. Er atmete hörbar aus, legte das Buch beiseite und setzte sich etwas auf. „Devlin, warte!“ Der Angesprochene hielt in seiner Bewegung inne, die Hand noch immer auf der Türklinke, und wartete darauf, dass Seto fortfuhr. Die Worte kamen ihm nur äußerst schwer über die Lippen, sodass er kurz schlucken musste, bevor er sie aussprach: „Du … hattest recht. Ich denke über dein Projekt nach.“ Bitteschön, er hatte es ausgesprochen und seine Niederlage eingestanden. Sollte ihm noch einmal jemand vorwerfen, er sei ein schlechter Verlierer. Die Schultern des Schwarzhaarigen entspannten sich, als würde eine schwere Last von ihnen abfallen. Er wandte sich zu ihm um und schüttelte mit einem zufriedenen Grinsen den Kopf. „War doch klar!“ Verwundert bemerkte Seto, dass er keine Spur gehässigen Triumphes in den grünen Augen des Jüngeren erkennen konnte. Eher eine gewisse Wärme und ehrliche Freude. Oder bildete er sich das ein? „Ach ja!“, rief Duke plötzlich aus und ging zurück zu seinem Rucksack. „Wenn das so ist, hab ich sogar etwas für dich.“ „Für mich?“, echote Seto ungläubig. Wann hatte er das letzte Mal von jemandem etwas geschenkt bekommen, der nicht Mokuba war? Und hatten sie sich nicht erst vor ein paar Stunden noch gestritten? Das lief doch allen sozialen Konventionen zuwider. Duke konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Du schaust ja, als hätte ich gerade einen schmutzigen Witz über Weiße Drachen gemacht. Es ist nichts schlimmes, ehrlich, nur eine Kleinigkeit.“ Aus dem Rucksack holte er die Tüte aus dem Museumsshop hervor, überreichte sie Seto und erklärte: „Angesichts der Tatsache, dass du, nun ja … technisch verhindert bist, dachte ich, wenn du schon in meinem Auftrag tätig wirst, versorge ich dich wenigstens mit einer Alternative.“ Mit verschränkten Armen wartete er gespannt darauf, dass Seto die Tüte öffnete. Mit skeptischem Blick kam der Brünette der stummen Aufforderung nach und zog zwei Gegenstände heraus: ein schmales A4-Ringbuch sowie einen Druckbleistift, beides mit unzähligen kleinen neon-orangenen Dinosauriern der Gattung Triceratops verziert. Das war doch wohl ein schlechter Scherz! „Ist das dein Ernst?“, fragte Seto den Jüngeren mit unbewegtem Gesicht. Duke kicherte und erwiderte mit gespieltem Entsetzen: „Oh nein, sag nicht, du hättest doch lieber den Stegosaurus gehabt!“ Machte sich Devlin da etwa gerade über ihn lustig? Seto holte zu einem geradezu tödlichen Blick aus, der aber wirkungslos verpuffte. Devlin grinste ihn weiterhin amüsiert und noch immer kichernd an. Das konnte doch nicht wahr sein! Seto schüttelte den Kopf und noch immer etwas perplex kehrte sein Blick zu den Gegenständen in seiner Hand zurück. Er wusste wirklich nicht, was er von alldem halten sollte. Duke wollte sich wieder zu seinen Freunden aufmachen und verabschiedete sich, ohne dass das Grinsen Anstalten machte, aus seinem Gesicht zu verschwinden. „Dann wünsche ich mal frohes Erfinden!“ Als er die Tür bereits einen Spalt geöffnet hatte, zögerte er. „Ach, und Kaiba?“ Der Angesprochene hob den Blick und begegnete tiefgrünen Augen, die ihn für einen langen Moment ansahen. Aus Dukes Grinsen wurde ein sanftes, ehrliches Lächeln. „Danke!“ Dann verließ er das Zimmer und ließ den irritierten Seto allein zurück. Der schnaubte und schüttelte nur den Kopf, öffnete widerstrebend den Triceratops-Block und seufzte tief. Lächerlich. Einfach lächerlich! Aber etwas anderes hatte er nun einmal nicht und in seinem Kopf schwirrten zu viele Ideen, die endlich näher ausgearbeitet und festgehalten werden wollten. Um kurz nach 10 kam Duke wieder zurück auf das Zimmer. Wieder einmal hatten sie es nicht geschafft, den Billard-Tisch zu erobern und sich stattdessen einige andere Brettspiele vorgenommen, die Yugi wiederum allesamt gewonnen hatte. Obwohl er es mittlerweile eigentlich besser wissen sollte, war Duke doch jedes Mal wieder erstaunt und fragte sich, wie der Kleine das nur anstellte. Kaiba schien im Bad zu sein, wie das Licht verriet, das durch den Spalt unter der Tür drang. Schnell durchscannten Dukes Augen den Raum, auf der Suche nach… ha, da waren sie ja! Seine Geschenke lagen auf Kaibas Seite des Bettes und waren ganz offenkundig benutzt worden. Sehr gut! Ein zufriedenes Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Sollte er schnell einen Blick hineinwerfen? Nein, er beherrschte sich besser. Wenn Kaiba jetzt aus dem Bad käme und ihn erwischte, würde ihm das sicherlich nicht gefallen und Duke wollte die fragile positive Stimmung nicht schon wieder stören. Seine Erleichterung, als der Brünette vorhin doch zugesagt hatte, war kaum in Worte zu fassen gewesen. Nicht im Traum hätte er damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde, aber natürlich war es tausendmal besser als die Unsicherheit zuvor. Offenbar reichten schon anderthalb Tage ohne Arbeit in Verbindung mit Schlafentzug und ein bisschen passiver Aggressivität, um Seto Kaiba mürbe zu machen. Nicht schlecht! Duke suchte seine Schlafsachen zusammen und wartete darauf, dass Kaiba das Badezimmer freigab. Wenige Minuten später trat der Brünette tatsächlich in seinen Schlafklamotten aus dem Bad heraus – noch immer ein ungewohnter Anblick für Duke, auch wenn er den Älteren heute früh schon einmal kurz so gesehen hatte. Lediglich das schon vermutete kleine KC-Logo auf der linken Brust des dunkelblauen T-Shirts verriet, dass er es nicht mit einem ganz normalen 18-Jährigen zu tun hatte. Kaiba faltete seine getragene Kleidung ordentlich zusammen, legte sie in den Koffer, schlug sein Kissen und seine Decke auf und öffnete das Fenster, während Duke ebenfalls im Bad verschwand. Nur kurze Zeit danach kam er wieder hinaus, legte sich zu dem Brünetten in das viel zu weiche Bett und löschte sein Licht. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt lag er auf dem Rücken und starrte zur Decke. Wirklich müde fühlte er sich noch nicht. Fast automatisch wanderte sein Blick nach rechts, als Kaiba noch einmal kurz aufstand, um das Fenster zu schließen und wortlos auch seine Nachttischlampe auszuschalten. Wieder unter der Decke wandte der Brünette Duke halb den Rücken zu, während er auf seinem funktionseingeschränkten Telefon vermutlich den Wecker einstellte. „Wann stehst du morgen auf? Wieder so wie heute?“, durchbrach Duke die Stille. Kaiba legte das Handy wieder auf das Nachtschränkchen und zog seine Decke etwas höher. Ohne sich umzudrehen, gab er nur ein kurz angebundenes „Ja.“ zurück. „Gut, dann muss ich mir ja keinen Wecker stellen.“ Duke wollte das Gespräch noch nicht wieder abreißen lassen. Vielleicht konnte er Kaiba ja schon ein paar kleine Details entlocken? „Du hast den Block schon eingeweiht, wie ich gesehen habe…“ Kurze Stille und dann ein mürrisches, aber zustimmendes „Mhm.“ Okay, wie nicht anders zu erwarten hatte Kaiba keine gesteigerte Lust auf eine Unterhaltung. Umso erstaunter war Duke, dass seine Antwort einige Sekunden später doch noch über eine Silbe hinaus kam. „Wie du schon sagtest, etwas anderes steht mir nicht zur Verfügung.“ Duke lächelte, auch wenn Kaiba es nicht sehen konnte. „Ich musste mich vorhin echt beherrschen, nicht reinzuschauen. Aber ich wollte mir die Überraschung nicht verderben und ich vermute, du wirst mir sicherlich auch das eine oder andere dazu erklären wollen.“, gab er schließlich zu. Die Decke raschelte und nun drehte sich Kaiba doch ein Stück zu ihm. „Ganz richtig. Aber bis es soweit ist, muss ich tatsächlich noch auf dein Angebot zurückkommen, Devlin.“ Überrascht sah Duke den Brünetten durch das Halbdunkel an. „Ja klar, wie kann ich helfen?“ Kaiba wog seine folgenden Worte offenbar sorgfältig ab. „Sagen wir, die Regeln von Dungeon Dice Monsters sind mir … nicht mehr vollständig präsent.“ Ah ja, das war zu erwarten gewesen und sicherlich eines der am einfachsten zu behebenden Probleme. So erwiderte er locker: „Na, daran soll es nicht scheitern! Wir können sie gerne nochmal gemeinsam durchgehen … oder auch eine Runde spielen, wenn das helfen würde.“ Eine Partie DDM mit Kaiba – das wäre wirklich mal interessant! Dukes Augen hatten sich mittlerweile gut an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er den etwas irritierten Blick des Brünetten erkannte. „Du hast das dabei?!“ Duke zuckte mit den Schultern. „Die anderen schleppen ihre Duel Monsters-Decks doch auch überall mit hin. Ich hab ein gut ausbalanciertes Grundset mitgenommen, für den Fall, dass irgendjemand im Laufe der Woche auch mal Lust auf eine Runde Dungeon Dice Monsters hat. Seltsamerweise kommt das im Allgemeinen leider eher selten vor.“ Die leichte Bitterkeit konnte er nicht ganz aus seiner Stimme verbannen. „Aber was soll ich auch machen bei dieser Bande hoffnungsloser Duel Monsters-Freaks.“ In dem Moment als er es aussprach, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er gerade mit dem zweitbesten Duel-Monsters-Spieler nach Yugi sprach. Innerlich wollte er sich ohrfeigen. „Sorry, nichts gegen dich natürlich.“, schob er vorsichtig nach. Kaiba schnaubte kurz, ob nun belustigt oder beleidigt, wusste Duke nicht zu sagen. Gott sei Dank schien er aber wohl beschlossen zu haben, die Bemerkung einfach zu ignorieren oder er hatte sich tatsächlich mehr amüsiert, denn er kam ohne Umschweife zum eigentlichen Thema zurück: „Wenn das so ist, dann wäre ein Spiel wohl tatsächlich am besten. Für die Entwicklung eines optimalen Designs ist nichts so wesentlich wie eigene Spielerfahrung.“ Duke atmete erleichtert aus und nickte in die Dunkelheit. „Dann lass uns doch morgen Abend eine oder zwei Runden spielen. Hast du überhaupt schon mal …?“ Kaiba ließ ihn die Frage gar nicht beenden. „Nein. Ich habe natürlich deine Partie gegen Yugi gesehen, aber nur am Rande. Und mit den entsprechenden Entwicklungen bei uns hatte ich im Grunde nichts zu tun.“ Auch das hatte Duke bereits vermutet. „Dann wird es Zeit! Yugi und Joey hat es immer richtig gut gefallen, wenn wir denn mal gespielt haben. Auch das erste Spiel damals, bevor wir Freunde geworden sind, also gehe ich davon aus, dass sie es auch wirklich ernst gemeint haben. Dein Urteil interessiert mich natürlich besonders! Aber ich glaube, erstmal sollten wir wirklich schlafen.“ Es gelang ihm nicht sein Gähnen zu unterdrücken. Sie hatten ja beide ziemlichen Nachholbedarf, was das anging. „Wenn ich morgen gegen dich spielen soll, möchte ich es dir nicht leichter machen als nötig. Du sollst und wirst zu kämpfen haben, Kaiba!“ „Das bleibt abzuwarten.“, konterte der Brünette und Duke konnte das süffisante Lächeln auf seinen Lippen erahnen. Er kicherte darauf nur und schüttelte den Kopf. „Gute Nacht, Kaiba!“ Statt einer Antwort drehte der Brünette sich wortlos wieder um und wandte Duke einmal mehr den Rücken zu. Was hatte er auch erwartet? Dass Kaiba nach ein paar Sätzen, die sie weitestgehend ohne Komplikationen gewechselt hatten, auf einmal seine soziale Seite entdeckte? Nach einigen Sekunden Stille, als Duke schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, hörte er es. Leise und wie er glaubte, schon etwas schläfrig: „Nacht, Devlin.“ Wieder schlug sein Herz ein wenig schneller, genau wie letzte Nacht, als ihm Kaibas Nähe so schlagartig ins Bewusstsein gerückt war. Mit einem zufriedenen Lächeln drehte auch er sich auf die andere Seite. Rückblickend war es ein extrem aufwühlender, aber alles in allem doch sehr erfolgreicher Tag gewesen. Er hatte vermutlich in Rekordzeit die idealste aller möglichen Lösungen für sein Dilemma gefunden und in die Spur gebracht. Morgen würde er zum ersten Mal Dungeon Dice Monsters gegen Seto Kaiba spielen. Gar keine schlechte Bilanz für Tag eins von sechs. Mit freudiger Aufregung sah er dem kommenden Tag entgegen und dieses angenehme Gefühl, gepaart mit der nun doch einsetzenden Müdigkeit, trug ihn endlich in einen ruhigen Schlaf, den er nach der furchtbaren letzten Nacht dringend gebrauchen konnte. ~~~~~ * Stevenson, Robert Louis: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Frankfurt am Main/Leipzig 2014, S. 63. ** Stevenson, Robert Louis: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Frankfurt am Main/Leipzig 2014, S. 89f. Kapitel 7: Behavioral studies. (On interesting subjects.) --------------------------------------------------------- Ein erster Blick auf seine Armbanduhr, die gut sichtbar auf dem Nachttisch lag, verriet Seto, dass es sechs Uhr zwanzig war – also noch zehn Minuten bis der Wecker klingeln würde. Er ließ sich noch einmal kurz in das Kissen zurücksinken. In dieser Nacht hatte er, trotz des miserablen Bettes, im Grunde gut geschlafen und fühlte sich entsprechend etwas erholter als gestern. Offenbar war das Schlafbedürfnis seines Körpers aufgrund des eklatanten Mangels in der Nacht zuvor so groß gewesen, dass es den anderen Störfaktor problemlos hatte kompensieren können… Besagter „Störfaktor“ befand sich links neben ihm, atmete ruhig und schlief offenbar noch tief und fest. Devlin lag auf dem Rücken, sein linker Arm hing halb aus dem Bett, den rechten hatte er in einer äußerst unbequem aussehenden Haltung unter sein Kissen geschoben. Die Bettdecke bedeckte nurmehr seine Beine, wobei einer seiner Füße an der Seite hinausschaute. Sein Shirt war ein wenig nach oben gerutscht und gab den Blick frei auf ein Stück seines Bauches sowie den Bund seiner schwarzen Boxershorts. Das Handtuch auf dem Kissen, das er offenbar benutzte, um letzteres vor dem Kajal zu schützen (wusste der Teufel, warum er den auch nachts trug), war bis fast in seinen Nacken hinunter gerutscht. Sein Zopf ragte seitlich weit über das Kissen hinaus und hätte Seto nur ein paar Zentimeter weiter links gelegen, hätten ihn die schwarzen Haarspitzen wohl an der Wange kitzeln können. Eine unangenehme Vorstellung, ohne Zweifel, aber nun ja, es könnte definitiv noch schlimmer sein. Ob sein Körper ebenso gut in der Lage gewesen wäre, die vermutlich selbst schlafend noch hochgradig anstrengenden Präsenzen eines Wheeler oder Taylor auszublenden, war durchaus fraglich. Langsam schwang er die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und griff reflexhaft nach seinem Telefon, um den Wecker zu deaktivieren, den er nun nicht mehr brauchen würde. Er hatte die App schon geöffnet, da fielen ihm Devlins Worte von gestern wieder ein: Gut, dann muss ich mir ja keinen Wecker stellen. Großartig. Wenn er jetzt also den Wecker ausschaltete, würde Devlin entweder von alleine, aber vermutlich zu spät aufwachen und sich womöglich beschweren, dass er wegen ihm verschlafen habe, oder aber Seto würde ihn selbst wecken müssen, sobald er wieder aus dem Bad kam – und das stand selbstverständlich völlig außer Frage. Das tat er nur bei seinem Bruder und auch das nur noch äußerst selten. So legte er das Handy also unverrichteter Dinge wieder zurück auf den Nachttisch, auf dass die Technik Devlin wie geplant wecken möge, suchte leise seine Sachen heraus und ging schon einmal ins Badezimmer. Ein lose vertrautes, äußerst repetitives Klimper-Geräusch drang nur kurze Zeit später an Dukes Ohr und riss ihn unsanft aus dem wirklich seligen Schlummer, den er bis eben noch genossen hatte. Er war noch nicht bereit die Augen zu öffnen und wartete nur darauf, dass die nervtötende Endlos-Melodie endlich aufhören würde. Zehn Sekunden, zwanzig … doch nichts dergleichen geschah. Das Geklimper ging einfach weiter und wurde dazu auch noch immer lauter. Meine Güte, warum schaltete Kaiba den blöden Wecker nicht endlich aus, so fest konnte er doch gar nicht schlafen! Oder aber er ließ ihn mit Absicht weiter laufen. Duke hatte schon immer geahnt, dass in dem Brünetten ein Sadist steckte (anders ließen sich manche Dinge einfach nicht erklären). Vielleicht war das Kaibas Rache für seinen kleinen Spaß mit dem Dino-Block. Widerstrebend öffnete der Schwarzhaarige nun doch verschlafen die Augen und wandte seinen Kopf nach rechts. Die andere Bettseite war leer. Okay, das erklärte natürlich einiges. Kaiba war offenbar schon aufgestanden, wie auch das Rauschen der Dusche jetzt nur zu deutlich vermittelte. Für Duke eröffnete sich damit ein mittelschweres Dilemma. Einerseits raubte ihm das immer aufdringlichere Geräusch des Weckers bald noch den letzten seiner um diese Tageszeit nicht besonders zahlreichen Nerven, andererseits fragte er sich, ob er ihn wirklich ausschalten sollte, denn immerhin war es ja nicht sein eigenes, sondern Kaibas Handy, auf dem er herumdrücken würde. Zählte das Ausschalten eines Weckers auf einem fremden Telefon schon als Verletzung der Privatsphäre? Hm, selbst wenn, in einer Situation wie dieser ging es wohl als Notwehr durch. Gegen seine innere Trägheit ankämpfend drehte Duke sich schwerfällig auf den Bauch, wobei er den letzten Rest der Bettdecke auch noch abstreifte, und robbte sich quer über das Bett in Richtung von Kaibas Nachttisch – gerade so weit, dass er mit den Fingerspitzen das Telefon erreichen und mit bereits wieder halb geschlossenen Augen den großen Stopp-Button betätigen konnte. Als das Geräusch verstummte, atmete er einmal tief durch. Gottseidank, endlich Ruhe! Die nur mühsam aufgebrachte Körperspannung fiel sofort wieder von ihm ab und machte erneut der Restmüdigkeit Platz, die ihm noch immer in den Knochen steckte. Erschöpft sank er an Ort und Stelle wieder auf die Laken und ließ ohne nachzudenken seinen Kopf schwer auf Kaibas Kissen fallen. In seinem schläfrigen Dusel nahm Duke unbewusst die leichte Restwärme wahr, die noch davon ausging, dazu den dezenten Duft von Shampoo und einen winzigen Resthauch des Parfüms, das er bereits gestern als so angenehm empfunden hatte. Konnte er jetzt nicht einfach hier liegen bleiben und noch weitere fünf Stunden schlafen? Sein Defizit vom Vortag war bei weitem noch nicht wieder aufgeholt. Nur wenige Minuten später entriegelte Seto die Badezimmertür und trat mit seinen Schlafklamotten in der Hand hinaus. Überrascht zog er eine Augenbraue hoch. Mit einem solchen Ergebnis hatte er nun wirklich nicht gerechnet, als er Devlin mit dem Wecker allein gelassen hatte. Der Schwarzhaarige lag auf dem Bauch und quer über das gesamte Bett dahingestreckt. Sein Gesicht ruhte auf Setos Kissen, sein gesamter restlicher Oberkörper befand sich ebenfalls in Setos Hälfte des Bettes, während der rechte Arm des Schwarzhaarigen sowie seine Beine noch in seiner eigenen Betthälfte waren. Seine linke Hand hing schlaff über der Bettkante und nur knapp unterhalb von Setos Nachtschränkchen, auf dem das Smartphone lag. Mit Daumen und Zeigefinger massierte Seto sich die Stirn. Was fiel diesem … Menschen eigentlich ein? Nun, seine Meinung über Devlins Anwesenheit im selben Bett würde er wohl noch einmal einer Revision unterziehen müssen. Diese Klassenfahrt wurde immer mehr zu einer einzigen, permanenten Verletzung seiner persönlichen Grenzen. „Du scheinst den Kampf mit dem Wecker ja nur äußerst knapp überlebt zu haben, Devlin…“, kommentierte er die Szene kühl und mit einem strengen Unterton, um unmissverständlich klar zu machen, dass ihm missfiel, was er sah. Kaum hatte er es ausgesprochen, schreckte der Schwarzhaarige auf wie ein Reh, das sich plötzlich völlig unerwartet im Scheinwerferlicht eines Lastwagens wiederfand, rollte sich hektisch auf seine Seite des Bettes zurück, so als sei er die ganze Zeit dort gewesen und fuhr sich verlegen lächelnd mit der Hand an den Hinterkopf. „Ähm, ja, danke … oder so, irgendwie … also für den Wecker, meine ich.“ Ein leichtes Schmunzeln huschte über Setos Gesicht. Devlin aus dem Konzept zu bringen, war unerwartet amüsant, vor allem angesichts der Tatsache, dass er sonst immer die Selbstsicherheit in Person zu sein schien. Selbstverständlich entschädigte es aber keineswegs für Devlins inakzeptable Ignoranz seines persönlichen Raumes, das war klar. In Rekordgeschwindigkeit sprang Duke aus dem Bett auf, suchte seine Sachen heraus und eilte, ohne Kaiba noch einmal anzusehen, an diesem vorbei ins Badezimmer. Erst unter der Dusche kam er wieder zu Ruhe und ließ kurzzeitig den Kopf gegen die Fließen sinken, während warmes Wasser auf ihn niederprasselte. Oh Mann, wie hatte er denn bitte so fertig und (lebens-)müde sein können, auf Kaibas Seite des Bettes nochmal wegzupennen? Tze, und kurz vorher hatte er sich noch Gedanken darüber gemacht, ob das Drücken eines Buttons auf Kaibas Telefon dessen Privatsphäre zu sehr tangierte – nur um dann sein Gesicht mitten in Kaibas Kissen zu drücken. Richtig klasse, Duke! Eine peinliche Aktion, ohne Frage. Aber er war nun einmal alles andere als der perfekte Morgenmensch, vor allem, wenn er ein Schlafdefizit aufzuholen hatte. Hoffentlich würde Kaiba ihm das – ebenso wie die Sache mit dem Dino-Block – nicht zu sehr übel nehmen. Er hatte den Brünetten immer als jemanden eingeschätzt, der berufliche Dinge strikt von Privatem trennen konnte, wenn er denn wollte und es geboten schien (Warum sonst sollte er Joey immer wieder zu Turnieren einladen oder weiterhin Geschäfte mit Pegasus machen?), aber für ihn selbst machte es die Dinge im Moment nun einmal bedeutend einfacher, wenn sie auf beiden Ebenen miteinander auskamen. Die Klassenfahrt und die Bettsituation als solche strapazierten Kaibas Nervenkostüm wahrscheinlich schon genug – seines ja irgendwie auch – , da waren Aktionen wie die gerade eben sicherlich nicht förderlich. Niemals würde er sich bei Kaiba einschleimen oder sich in irgendeiner Art und Weise für ihn verbiegen, aber weitere vermeidbare Ärgernisse…nun ja, eben zu vermeiden, das war doch machbar. Denn leider blieb es ein Fakt, dass er im Moment von dem Brünetten abhängig war, auch wenn er es hasste, nicht selbst Herr seiner Lage zu sein. Nachdem Devlin so blitzschnell im Bad verschwunden war, schüttelte Seto nur noch einmal den Kopf und ging zu seinem Nachttisch, um seine Uhr und seinen Anhänger umzulegen und seine Tasche zu packen. Viel war es nicht, was er für den heutigen Tag mitnahm: eine Flasche Wasser und wie von Frau Kobayashi verlangt, seine Badehose und ein Handtuch. Zuletzt verstaute er noch Block und Stift in dem Fach, in dem normalerweise sein Laptop untergebracht war. Beim Blick auf das Cover mit den vielen orange-leuchtenden Dinosauriern kam ihm unwillkürlich Devlins dämliches Grinsen in den Sinn, das er ihm gestern am liebsten sofort wieder aus dem Gesicht gewischt hätte. Aber nun ja, wenn man von der absolut minderwertigen Qualität und Gestaltung einmal absah, war es natürlich ein sinnvolles Geschenk, das ihm überhaupt erst ermöglichte, in seiner aktuellen Lage an dem Projekt zu arbeiten. Man musste Devlin also immerhin zugestehen, dass er grundsätzlich mitgedacht hatte. Dem heutigen Ausflug würde Seto damit jedenfalls nicht ganz so hoffnungslos ausgeliefert sein wie gestern. Zumindest in den Pausen oder in der unsäglichen U-Bahn würde er arbeiten können. Zwar anders als ursprünglich einmal geplant, aber immerhin stand er nicht nur dumm in der Gegend herum oder musste sich mehr als nötig mit seinen Klassenkameraden auseinandersetzen. Vielleicht konnte er dafür doch vorerst über die vollkommen unangemessene Mitnutzung seiner Bettseite hinwegsehen. Vorerst. Beim Frühstück erhielt Seto seinen Kaffee diesmal ganz ohne eine mündliche Aufforderung. Die Küchendame hatte ihn bereits mit angstvollem Blick erspäht, als er den Raum betreten hatte und sofort hektisch mit der Produktion des schwarzen Gebräus begonnen. Ja, genauso musste das sein. Er nahm die Tasse wortlos mit einem kühlen Nicken entgegen und setzte sich an denselben Tisch, an dem er auch gestern gesessen hatte. Die Zeitung vom Vortag hatte er nicht weggeworfen, sondern sie aufgehoben und mit zum Frühstück genommen, um noch die letzten Reste des Politik-Teils zu studieren, für die die U-Bahn-Fahrten gestern nicht mehr gereicht hatten. Er nahm einen ersten, vorsichtigen Schluck aus der Tasse, schlug die Zeitung auf und für einen kurzen Moment fühlte es sich beinahe an, wie ein ganz normaler Morgen, an dem er mit einem exzellenten Kaffee und der aktuellen Zeitung mit Mokuba am Esstisch saß. Zwar war die Zeitung von gestern und der Kaffee von Exzellenz extrem weit entfernt, aber immerhin. Nur widerstrebend hatte er sich am Buffet eine Kleinigkeit zu Essen geholt, die er sich abwesend in den Mund schob, ohne den Blick von der Zeitung zu lösen. Normalerweise war ein großer schwarzer Kaffee für ihn Frühstück genug, aber da er nicht wusste, ob und wann es heute wieder etwas geben würde, war er wohl oder übel gezwungen, etwas zu sich nehmen. Schon zu oft hatte er dieses elementare Grundbedürfnis seines Körpers ignoriert, den ganzen Tag nichts gegessen und war am späten Nachmittag nach der Schule und vier Stunden voller Meetings völlig erschöpft auf seiner Couch im Büro zusammengesunken. Nein, eine solche Schwäche galt es unter den aktuellen Umständen um jeden Preis zu vermeiden. Eine gute halbe Stunde später blies Frau Kobayashi auch schon zum Aufbruch: „Meine Damen und Herren, so langsam müssen wir los! Gehen Sie noch einmal auf Ihr Zimmer, machen Sie sich frisch und holen Ihre Sachen und dann treffen wir uns pünktlich in einer Viertelstunde im Foyer!“ In der U-Bahn hatte Seto sich wie geplant erneut einen Sitzplatz ergattern können und holte, ohne lange zu zögern, das Ringbuch und den Stift aus seiner Tasche hervor, denn die Fahrzeit wollte effektiv genutzt werden. Zügig klappte er den Block auf und schlug das Cover komplett um, auf dass die Dinos möglichst schnell aus seinem und dem Blickfeld aller anderen Passagiere verschwinden würden. Da niemand neben ihm saß, winkelte er sein rechtes Bein an und legte den Knöchel auf seinem linken Knie ab, um so auf seinem Oberschenkel eine gute Auflagefläche für den Block zu bekommen. Durch jahrelange Übung hatte er die ungemein nützliche Fähigkeit erworben, in sich bewegenden Fahrzeugen jedweder Art arbeiten zu können – egal, ob vorwärts oder rückwärts und ob es sich nun um seine Limousine, ein Flugzeug oder eben jetzt die U-Bahn handelte. Mokuba hatte einmal gescherzt, er könne vermutlich sogar in einer Dampflokomotive arbeiten, während er nebenbei mit einer Hand Kohlen schaufelte. Solange es eine einigermaßen gleichmäßige Bewegung und Geräuschkulisse gab, war er in der Lage sich beinahe auf Knopfdruck zu konzentrieren. Jetzt, wo es ihm bereits etwas vertrauter war, störte ihn das laute Quietschen und Rumpeln der U-Bahn nicht mehr und im Gegensatz zu ihrer Anreise im Bus unterhielten sich seine Klassenkameraden gerade nur gedämpft, sodass ihre Gespräche nurmehr ein diffuses Hintergrundgemurmel bildeten, anstatt ihn abzulenken. So gelang es ihm diesmal seine Umwelt nahezu komplett auszublenden, während er damit begann, seine neuesten Einfälle auf dem Papier zu strukturieren. Yugi und die anderen standen einige Meter weiter rund um eine Haltestange gruppiert und unterhielten sich über die neuesten dramatischen Entwicklungen in einer Fernsehserie, die sie in letzter Zeit alle wie gebannt verfolgt hatten – nun, fast alle. Da Duke die Serie mangels Zeit nicht gesehen hatte, konnte er wieder einmal nicht mitreden und ließ seinen Blick erst aus dem Fenster und dann durch die Bahn schweifen. Ein Stück weiter vorne erspähte er Kaiba, den Rücken in Fahrtrichtung in einer ansonsten leeren Vierer-Sitzgruppe, mit dem Block und seinem Stift zugange und offenbar bereits seit Beginn der Fahrt vollkommen in seine Arbeit vertieft. Sorgte der Anblick des arbeitenden Kaiba bei ihm sonst für akuten Stress, so gab es Duke jetzt ein fast schon befriedigendes Gefühl, weil er nur zu genau wusste, woran der Brünette tüftelte und wie sehr er selbst davon profitieren würde. Solange Kaiba so dasaß, hochkonzentriert und völlig versunken in sein Schaffen, war sein Spiel ganz offenkundig in den allerbesten Händen und er hatte vermutlich keinen Grund mehr, sich Sorgen zu machen. Selten waren 850 Yen wohl so gut investiert worden, wie in diesen (mehr oder weniger) unscheinbaren Block und den Bleistift. Es war ein ungewohnter Anblick den Brünetten mal nicht auf einem Laptop herumtippen zu sehen, sondern zu beobachten, wie seine schlanken Hände ganz analog, aber vermutlich nicht minder gekonnt über das Papier glitten. Hin und wieder legte er das Stiftende gedankenverloren an die Lippen, um kurz nachzudenken. Sehr gut, konstatierte Duke, aus der Ferne waren die orangenen Flecken darauf noch nicht einmal wirklich als Dinos zu erkennen. Das hieß, am Ende war vermutlich alles halb so wild und die Rachegelüste, die er Kaiba unterstellt hatte, nur ein Produkt seiner unausgeschlafenen, morgendlichen Phantasie. Gestern schien er ja auch nicht wirklich sauer gewesen zu sein. Eher … leicht irritiert. Aber genau das hatte den Moment ja erst so herrlich gemacht. Außerdem hatte er den Block umgehend benutzt, also musste er zumindest dessen akuten Nutzen anerkannt haben. Nur wenig später wurde die letzte Haltestelle vor ihrem heutigen Ziel angesagt, und Frau Kobayashi eilte durch den Wagen, um ihre Schüler hektisch darauf hinzuweisen, dass sie gleich aussteigen mussten. Duke sah noch, wie Kaiba aus seinem Flow erwachte, als die Lehrerin nervös an ihm vorbei wuselte, er den Block langsam und mit einem letzten prüfenden Blick auf seine aktuelle Zeichnung zuklappte und ihn schnell wieder in seiner Tasche verstaute. Als der Brünette im Begriff war, von seinem Platz aufzustehen, trafen sich für einen kurzen Moment ihre Blicke. Unwillkürlich durchfuhr Duke ein kurzer Schreck, ob der unerwarteten und plötzlichen Interaktion, dann aber warf er dem Brünetten ein kleines Lächeln zu. Was war denn schon dabei? Sollte Kaiba doch ruhig wissen, dass es ihn freute, zu sehen, wie an seiner Idee gearbeitet wurde. „Halloooo?! Erde an Duke!“, holte ihn Tristans Stimme gedanklich zu seinen Freunden zurück. „Hm?“ Leicht fragend sah er seinen Freund an. „Hast du uns überhaupt noch zugehört?“, fragte Tristan mit einer Spur Entrüstung in der Stimme. Duke schüttelte den Kopf. „Nein, warum auch? Ich hab diese Serie nun mal nicht gesehen.“ Joey klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Macht ja nichts. Aber hey, voll gut, dass du dafür wenigstens Kaiba so im Blick hast! Sein komisches Dino-Buch hätte ich ansonsten gar nicht gesehen. Du nimmst deinen Spionage-Auftrag wirklich ernst, Mann, das muss man dir lassen!“ Na super, von allen Leuten in der U-Bahn hatte nun ausgerechnet Joey das Motiv gesehen und erkannt. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis er versuchen würde einen Nutzen aus diesem Wissen zu schlagen und spätestens dann würde die Kaiba-Rache-Problematik für Duke doch wieder ein Thema werden. Wie war das noch mit dem Vorsatz gewesen, weitere Ärgernisse zu vermeiden? Er ließ sich sein Missfallen allerdings nicht anmerken, sondern fragte nur mit hochgezogener Augenbraue zurück: „Spionage-Auftrag? Bin ich jetzt 007, oder was?!“ Joey grinste. „Klar, Im Geheimdienst Ihrer Majestät Joey, dem Ersten!“ Nun musste auch Duke lachen und als sich die Türen der U-Bahn öffneten, stiegen sie gemeinsam mit dem Rest der Klasse aus. Frau Kobayashi war vermutlich die einzige Person in der Gruppe, die sich an diesem Vormittag nicht eine Sekunde langweilte. Ihre Tour zu den einzelnen Sportstätten nahm ausgerechnet im Olympia-Museum ihren Anfang, das in einer der noch immer in Betrieb befindlichen olympischen Eisbahnen – dem M-Wave-Stadion – eingerichtet worden war. Natürlich war die Eisbahn selbst an einem Dienstagmorgen geschlossen, wie nicht wenige der Schüler mit Bedauern feststellten. Seto war darüber alles andere als böse. Wer wollte schon freiwillig auf einer spiegelglatten Oberfläche sinnlos im Kreis herumfahren? Gut, Mokuba liebte es, hatte ihn aber noch nie erfolgreich dazu bewegen können, es auszuprobieren. Natürlich wäre er absolut dazu in der Lage, keine Frage. Aber da er es noch nie gemacht hatte, bestand doch ein kleines Risiko, dass er zumindest ein oder zwei Mal … stolpern könnte – und diese Blöße musste er sich vor Wheeler und dem Kindergarten nun wirklich nicht geben. Dann doch lieber das Museum, auch wenn es noch öder war, als das am Tag zuvor. Sein Interesse an Sport, vor allem als Zuschauer, hielt sich ohnehin in Grenzen, aber wenn man noch nicht mal die Ausführung sehen konnte, sondern nur Überbleibsel wie Medaillen, Schlittschuhe, Bob-Schlitten und diverse Objekte in Zusammenhang mit dem Olympischen Feuer, potenzierte sich das Desinteresse noch einmal um ein Vielfaches. Erschwerend kam hinzu, dass heute Frau Kobayashi höchstselbst die Führung übernahm. Offenbar hatte sie sich vorher sehr intensiv mit den Winterspielen 1998 auseinandergesetzt, wenngleich äußerst selektiv, wie den Schülern recht schnell klar wurde. Während Vitrinen mit Langlaufskiern, Biathlon-Gewehren, Eisschnelllauf-Schuhen und Modellen des Olympischen Dorfes sehr zügig und ohne viele Erklärungen passiert wurden, blieben sie locker zwanzig Minuten lang vor einem Paar Schlittschuhe der japanischen Eiskunstläuferin Midori Ito stehen, die bei der Eröffnungszeremonie das Olympische Feuer entzündet hatte. Auch sonst nahmen Vorträge über Eiskunstlauf in allen Disziplinen den größten Raum ein. „Die wunderschönen Kostüme, die Ästhetik, die Musik! Das ist einfach ein Gesamtkunstwerk!“, schwärmte Frau Kobayashi vor einer Vitrine voller kurzer, bunter Glitzerkleidchen. Während die Lehrerin gar nicht aufhören konnte, über die Faszination des Eiskunstlaufens zu dozieren, kehrten Setos Gedanken noch einmal zurück zu jenem merkwürdigen Moment vorhin in der U-Bahn. Er war wie üblich so vertieft gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie Devlin ihn offenbar bereits länger beobachtet hatte. Und nicht nur das, als sich ihre Blicke dann zufällig getroffen hatten, hatte er nicht nur nicht weggesehen, sondern auch noch gelächelt. Was bitte sollte das? Amüsierte Devlin sich noch immer über diesen dämlichen Dino-Block? Nein, das konnte es nicht sein, seine Augen hatten nicht so schelmisch aufgeblitzt wie gestern, als Seto den Block ausgepackt hatte. Es erinnerte viel mehr an … richtig, diesen anderen Moment kurz danach. Ach, und Kaiba? … Danke! Da hatte der Schwarzhaarige ihn genauso seltsam angelächelt… Aber vielleicht war das auch alles absoluter Unsinn. Noch ein Grund, diese Klassenfahrt zu verfluchen. Unter normalen Umständen musste er sich nicht den Kopf über derartige soziale Interaktionen zerbrechen, einfach, weil er sie niemals gehabt hätte. Nervosität, Selbstgewissheit, Überlegenheit, Angst: mit diesen Emotionen wurde er in seinem Alltag häufig konfrontiert und die verstand er perfekt zu lesen und für sich zu nutzen. Aber dieses Lächeln konnte er einfach nicht richtig deuten. Und wenn er eines hasste, dann Dinge nicht zu können. Sein Blick wanderte noch einmal fast automatisch zu Devlin, der sich, während Frau Kobayashi noch immer voll auf die Eiskunstlauf-Kostüme fokussiert war, mit dem Rest des Kindergartens eine andere Vitrine zum Thema Skispringen ansah. Die Freunde und mit ihnen Devlin hielten sich die Hände vor den Mund und versuchten offenbar sich ein lautes Lachen zu verkneifen, als Wheeler die klassische Skispringer-Pose nachahmte und dabei beinahe vornüber kippte. Seto schüttelte nur den Kopf und zwang sich, seine Gedanken wieder den sicheren Gefilden seiner Arbeit und damit der DDM-Duel Disk zuzuwenden. Nur weil er seine Ideen gerade nicht aufzeichnen konnte, hieß das ja noch lange nicht, dass er nicht weiter darüber nachdenken konnte. Wie zu erwarten, war niemand wirklich traurig, als sie endlich das Museum wieder verließen und weiter zu ihrer nächsten Station, dem Olympia-Stadion, fuhren. Dort wurden sie einmal mehr herumgeführt, bekamen Details zum Bau und dem Betrieb erklärt und bekamen auf einem kleinen Fernseher die Eröffnungszeremonie der Spiele zu sehen, die dort stattgefunden hatte. Der Lerneffekt war bei Seto noch wesentlich geringer als bei seinen Mitschülern. Meine Güte, er hatte schon selbst ein Stadion gebaut … bauen lassen, korrigierte er sich selbst in Gedanken. Egal, er wusste jedenfalls, wie so etwas funktionierte und ablief – mehr als ihm lieb war, wenn er an die komplexen und umständlichen Bauvorschriften dachte. Und weil sie die ganze Zeit nur herumstanden, konnte er schon wieder nicht den Block herausholen und an den Entwürfen weiterarbeiten. Es würde schon extrem auffallen und dazu noch viel zu viel Aufmerksamkeit auf den grässlichen Dino-Block lenken, wenn ausgerechnet er sich hier als einziger „Notizen“ machte. Im Grunde schien es also bis jetzt – von der einen U-Bahn-Fahrt einmal abgesehen, der ganze gestrige Tag noch einmal zu sein. Nach der nächsten Sportstätte, dem Big Hat-Eisstadion (Mein Gott, wie viele Eishallen konnte man denn in einer einzigen Stadt bauen?!) war es endlich Zeit für die Mittagspause und Frau Kobayashi gab ihnen eine Stunde Zeit zur freien Verfügung, in der sie sich bei Bedarf auch selbst verpflegen sollten. Zum Glück stand die Arena in einer sehr belebten Gegend mit einer entsprechend großen Auswahl an Essens- und Einkaufsmöglichkeiten. Die Klasse atmete geschlossen auf und schnell zerstreuten sich die einzelnen Grüppchen in alle Richtungen, sodass Seto, ehe er sich’s versah, alleine mit Frau Kobayashi auf dem Vorplatz stand. Fragend blickte sie zu ihm herüber, was ihn dazu veranlasste sich umgehend wegzudrehen und ebenfalls zu entfernen. Oh nein, ein Mittagsdate mit der Lehrerin war nun wirklich das Allerletzte, wonach ihm der Sinn stand! Etwas ratlos blickte er sich um. Es kam nicht oft vor, dass er alleine und noch dazu zu Fuß durch eine Stadt ging. Er passierte einige Fast-Food-Restaurants, in denen er Klassenkameraden erspähen konnte, aber weder hatte er plötzlich ein Bedürfnis nach Gesellschaft noch nach fettigem Essen entwickelt, sodass er jedes Mal schnell weiterging. Aus einer kleinen Querstraße stieg ihm unverkennbar der Duft von Kaffee in die Nase, dem er sofort und beinahe schon reflexhaft folgte. Auf ein Mittagessen konnte er gut verzichten (Wie oft hatte ihn sein Bruder schon für sein Essverhalten getadelt?), aber ein koffeinhaltiges Heißgetränk war immer eine gute Wahl und für ihn allemal Nahrung genug. Das Café, dem der verführerische Duft entströmte, machte einen ruhigen und gemütlichen Eindruck und voll war es auch nicht, sodass er problemlos einen Tisch bekam. Als schließlich ein großer, dampfender Becher seines schwarzen Lebenselixiers vor ihm abgestellt wurde, entspannte er sich merklich. Aus seiner Tasche kramte er den Block hervor, öffnete ihn fast schon gewohnheitsmäßig hektisch, um die albernen Dinos nicht länger als nötig sehen zu müssen und sich endlich wieder ernsthaften Entwicklungsthemen zu widmen. Einige Grundkonzepte für die Duel Disk, für die das genaue Regelverständnis noch nicht notwendig war, hatte er bereits gestern und heute Morgen erarbeitet, an denen konnte er jetzt noch ein wenig feilen. Und nach dem Spiel gegen Devlin heute Abend würde er mit den notwendigen Regelkenntnissen alles verfeinern und konkretisieren können. Duke und die anderen hatten sich unterdessen tatsächlich auf Joeys und Tristans Drängen in einem amerikanischen Fast Food-Restaurant niedergelassen und saßen über ihren Burgern; Tea über einem großen Salat, auf dem sie entgegen den Protesten der Jungs („Mann, Tea, entspann dich doch mal, ein Burger und Pommes werden dich schon nicht umbringen!“) bestanden hatte. Mampfend fragte Tristan in die Runde: „Was machen wir eigentlich heute Abend, Leute?“ Ryou schluckte einen Bissen herunter und schlug dann vor: „Vielleicht können wir uns ja heute mal den Billard-Tisch sichern?“ Joey nickte: „Oh ja, ich mach euch sowas von fertig, Leute!“ Eine bessere Gelegenheit für Duke, seine Freunde in seine eigenen Pläne für die Abendgestaltung einzuweihen, konnte es wohl nicht geben. „Ich kann leider nicht.“, ließ er fast schon beiläufig fallen und biss dann noch einmal von seinem Burger ab. Alle Augen sahen ihn fragend an. „Aber warum denn nicht? Das war doch gerade der Vorteil dieser Klassenfahrt, dass du endlich mal die Zeit und die Gelegenheit hast, was mit uns zu machen!“, beschwerte sich Joey. Duke lächelte nur und gab sich absichtlich mysteriös, um die Spannung seiner Freunde noch ein wenig auszukosten: „Sagen wir einfach, ich habe schon Pläne.“ So lange wollten die Anderen sich allerdings nicht hinhalten lassen. „Mann, jetzt spuck’s schon aus, Duke!“, forderte Tristan und auch Yugi schloss sich an. „Ja, erzähl schon, es scheint ja nichts ganz schlechtes zu sein.“ „Hast du etwa ein Date?“, warf Tea die für sie wahrscheinlichste Erklärung ein. Duke lachte laut auf und nickte dann. „Könnte man fast so sagen. Glaubt es oder nicht, aber ich werde heute Abend gegen Kaiba eine Runde Dungeon Dice Monsters spielen!“ Die Augen der anderen weiteten sich. „Wow, das ist ja cool! Hat das was mit dem geschäftlichen Thema zu tun, das du gestern mit ihm besprochen hast?“, erkundigte sich Tea und Duke nickte nur zur Bestätigung. „Ich dachte, es wäre nicht so gut gelaufen gestern?“, hakte sie noch einmal nach. „Ja, ursprünglich schon, aber dann haben wir später nochmal gesprochen und es hat sich geklärt.“, antwortete er allgemein, aber gerade plausibel genug, dass sie hoffentlich nicht weiter nachbohren würde. Selbst wenn die Lösung für sein Problem auf einem guten Weg war, er würde einen Teufel tun und seine Freunde jetzt doch noch einweihen. Das würde nur Stress geben, weil er nicht gleich mit der Sprache herausgerückt war und sicherlich auch tägliche nervöse Nachfragen über den aktuellen Stand bedeuten. Außerdem würde vor allem Joey mit Sicherheit immer wieder Zweifel an Kaiba säen und das konnte er im Moment am allerwenigsten gebrauchen. Er hatte gar keine andere Wahl, als Kaiba zu vertrauen, und so merkwürdig sich der Gedanke anfühlte, das tat er auch – umso mehr, seit er ihn in der U-Bahn so engagiert und konzentriert hatte arbeiten sehen. Ja, er vertraute Kaiba und er hatte keine Lust auf Versuche von Joey dieses Vertrauen zu unterminieren, würde das doch bedeuten, dass er die Klassenfahrt doch wieder nicht genießen konnte und mit den Gedanken wieder permanent im Krisenmodus wäre. Begeistert schlug Joey mit der Faust auf den Tisch. „Oh Junge, starke Sache! Dürfen wir zugucken? Ich will nicht verpassen, wie du den blöden Pinkel aber mal so richtig nass machst!“ Duke lächelte und zuckte mit den Schultern. „Mhm, also wenn Kaiba damit kein Problem hat, gerne. Für mich ist es keins.“ „Nice, Mann, ich freu mich drauf!“, bekräftigte Tristan und alle nickten zustimmend. Duke konnte nicht anders als seine Freunde noch ein wenig zu piesacken. Mit einem Augenzwinkern stichelte er: „Vielleicht erhöht es ja auch eure Motivation, mal wieder eine Runde zu spielen.“ „Stimmt, wir haben wirklich ewig nicht mehr Dungeon Dice Monsters gespielt, dabei hat es damals echt viel Spaß gemacht.“, gab ihm Yugi recht. Sehr gut, dachte Duke, seine missliche Lage war doch trotz allem zu etwas gut, wenn er seine Freunde dazu animieren konnte, mal wieder DDM zu spielen. Das Gespräch wandte sich wieder anderen Themen zu, bis alle ihr Essen beendet hatten und sie pünktlich zum vereinbarten Treffpunkt zurückkehrten, um weiter zur Schwimmhalle zu fahren. Kapitel 8: Swimming in hormones. (Figuratively speaking.) --------------------------------------------------------- Nachdem sich die Klasse wieder vollzählig versammelt hatte, ging es abermals hinunter in die U-Bahn. Eine kurze Fahrt später und sie waren an der Aqua-Wing-Arena angekommen – einer Ice Hockey-Halle, die, wie Frau Kobayashi erklärte, ursprünglich für die Olympischen Spiele gebaut worden war, danach aber zu einer Schwimmhalle umgenutzt wurde. Gut so, dachte Duke, denn noch mehr Eishallen konnte diese Stadt nun wirklich nicht gebrauchen. Im Foyer erwarb die Lehrerin Tickets für die gesamte Klasse und gab letzte Instruktionen: „Meine Damen und Herren, also folgendermaßen läuft es ab: Sie können sich jetzt umziehen gehen und Ihre Sachen einschließen und haben dann ungefähr zwei Stunden Zeit zum Schwimmen. Spätestens um 16 Uhr verlassen Sie bitte alle ohne Widerrede das Wasser. Um 16:30 Uhr treffen wir uns dann draußen vor dem Eingang, um gemeinsam die Rückfahrt anzutreten. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich erwarte von Ihnen, dass sie sich zivilisiert benehmen! Das heißt: kein Wasserspritzen, kein Springen vom Beckenrand, keine unflätigen Bemerkungen. Haben wir uns verstanden?“ Einige der Schüler nickten zögerlich, aber das schien Frau Kobayashi zu genügen. Tristan wandte sich mit einem breiten Grinsen und mit vorgehaltener Hand zu seinen Freunden: „Hört, hört! Keine unflätigen Bemerkungen!“ Joey schüttelte ebenfalls lachend den Kopf, während sie langsam in Richtung der Umkleiden gingen. „Also ehrlich Leute, wenn man sie so reden hört, könnte man denken, wir wären eine Horde Fünfjähriger.“ „Damit liegt sie in deinem Fall vermutlich gar nicht so weit daneben, Wheeler.“, kam es kurz vor der Tür zu den Umkleiden staubtrocken von schräg hinter ihnen. Na wunderbar, dachte Duke, jetzt ging es los. Eigentlich war es ja fast ein Wunder, dass das der erste direkte Zusammenstoß von Joey und Kaiba auf dieser Fahrt war. Ersterer blieb stehen, atmete tief durch und drehte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zu Kaiba um. „Ich bin fast so alt wie du, Geldsack!“ Der erwiderte nur süffisant: „Achja? Hast du schon fein mit deinem Dino gespielt?“ Augenblicklich stieg Joey eine leichte Röte ins Gesicht. „Der…der war nicht für mich!“, antwortete er ausweichend. Kaibas Augenbrauen wanderten in gespielter Verwunderung nach oben. „Wirklich? Ich meine mich zu erinnern, gestern die Worte ‚So einen wollte ich immer schon haben.‘ aus deinem Mund gehört zu haben.“ Kurz schien es, als fiele Joey nichts mehr ein, dann aber blitzte es kurz in seinen braunen Augen auf und er gab mit einem herausfordernden Grinsen zurück: „Und das sagt ausgerechnet der Typ mit dem Dino-Malbuch?!“ Für einen kurzen Moment schloss Duke die Augen. Da war es also, genau wie er vorausgesehen hatte. Dukes Hände wurden ein wenig schwitzig. Hatte er sich am Ende mit dem Dino-Block selbst ein Bein gestellt? Zu viel Aufmerksamkeit auf diesem Block erhöhte das Risiko, dass er aufflog und herauskam, was wirklich dahinter steckte: Dass Kaiba für ihn arbeitete und er ihm den Block gekauft hatte. Denn ganz ehrlich, es würde doch niemand ernsthaft auf den Gedanken kommen, dass Kaiba sich diesen Block selbst ausgesucht hatte – im Museumsshop hatte es durchaus dezentere Schreibwaren gegeben. Aber das hatte er sich ganz allein selbst zuzuschreiben, denn immerhin war es seine eigene Entscheidung gewesen, diesen Block zu wählen und seine Freunde nicht in seine Lage einzuweihen. Mal davon abgesehen war die Wahrscheinlichkeit, dass die ganze Wahrheit deswegen herauskam, denkbar gering, denn Kaiba wäre wohl nicht Kaiba, wenn er bei der kleinsten Provokation sofort die ganze Geschichte enthüllen würde, wie er zu diesem Block gekommen war. In der Tat blieb der Brünette souverän und verdrehte lediglich die Augen. „Das ist kein Malbuch, Wheeler, sondern ein Block und ich arbeite darin.“, stellte er nüchtern und sachlich klar. „Wow Kaiba, so oldschool kennt man dich ja gar nicht. Wo hast du denn deinen teuren Technik-Schischi gelassen?“ Einerseits war Duke dankbar, dass Joey das Streitgespräch weg von dem Block lenkte, gleichzeitig barg auch diese Richtung Gefahren für ihn. Meine Güte, wo hatte er sich hier nur hineinmanövriert? Seit er seinen Freunden gestern Morgen von Kaibas „kleiner“ Überraschung am Ankunftstag erzählt hatte, hatte Joey vermutlich ebenfalls nur nach dem richtigen Moment gesucht, um Kaiba das Fehlen seines „Technik-Schischis“ unter die Nase zu reiben. Augenscheinlich war sein Gerede von einem „Spionageauftrag“ weniger flapsig gemeint gewesen, als Duke ursprünglich gedacht hatte. Joey hatte ganz offensichtlich keinerlei Skrupel, jegliches Fitzelchen an Information zu nutzen, das Duke ihm liefern würde, sobald es um Kaiba ging. Duke sah zwar noch keine eindeutigen Anzeichen dafür, dass Kaiba wusste, dass Joey sehr genau wusste, wie es um seine Elektronik-Situation bestellt war, konnte aber doch nicht vermeiden, dass eine leichte Nervosität sich in ihm breit machte. Hoffentlich würde es nicht noch auf ihn zurückfallen, dass er so unbedacht geplappert hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte er ja noch nicht gewusst, wie abhängig er von Kaiba sein würde. Und es war einfach zu komisch gewesen. „Oh Wheeler, statt dich um den Standort meines Laptops zu sorgen, solltest du dich lieber der viel wichtigeren Frage widmen, in welchem Becken gleich das Hundeschwimmen stattfindet.“ „Du…!“, setzte Joey schon zu einer wütenden Erwiderung an, wurde jedoch von Kaiba eiskalt ignoriert. Für den Brünetten war die kleine Auseinandersetzung an dieser Stelle zu Ende und er stolzierte, ohne Joey oder den Rest eines weiteren Blickes zu würdigen, an ihnen vorbei durch die Tür zur Herrenumkleide. „Hey, feiger Großkotz, bleib gefälligst hier, wenn ich dich beleidigen will, wir sind noch lange nicht fertig!“, rief ihm der Blonde mit erhobener Faust hinterher, bevor ihm von Tristan mit einem Kopfschütteln fest die Hand auf die Schulter gelegt wurde. „Hundeschwimmen, dass ich nicht lache! Beim nächsten Mal kann er was erleben!“, knurrte Joey noch leise vor sich hin, während nun auch die Freunde die Umkleideräume betraten. Kaiba war augenscheinlich zu den Schließfächern ganz am Ende des Raumes gegangen, jedenfalls war er nirgendwo mehr zu sehen. Die Jungs blieben in einem Gang relativ weit vorne – Hauptsache, Kaiba blieb außerhalb von Joeys Sichtfeld. Ebenso wie die anderen schnappte Duke sich ein Schließfach, kramte seine Badesachen heraus und begann sich umzuziehen. Als letztes legte er geradezu bedächtig seinen Schmuck ab, angefangen bei seinem Anhänger, über seine Armreifen, seine Armbänder und zu guter Letzt das Haarband und seinen geliebten Würfelohrring. Ein wenig kam es ihm vor, als würde er eine Rüstung ablegen; mit jedem Schmuckstück weniger an seinem Körper schwand seine optische Auffälligkeit und er fühlte sich immer angreifbarer. Wie er es hasste! Sein Zopf und der Kajalstrich blieben als einziges unangetastet. Diese zwei Dinge waren nicht verhandelbar, unter keinen Umständen, egal ob Schwimmbad oder Herbergenzimmer. Jetzt musste der extra wasserfeste Kajal eben mal zeigen, ob er sein Geld auch wirklich wert war. (Hoffentlich!) Er nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er das Schließfach zumachte und abschloss. Als alle fertig umgezogen waren, gingen sie nach einer kurzen Dusche durch eine Glastür in die eigentliche Schwimmhalle, wo auch Tea wieder zu ihnen stieß. Typisch feuchte, chlor-geschwängerte Schwimmbad-Luft wallte ihnen in der Halle entgegen, dazu die üblichen Geräusche: das Platschen von Wasser, die Rufe von Kindern, Eltern, Lehrern und das leise Rauschen der Filter-Anlagen. Prüfend ließen sie ihren Blick schweifen. Es gab genau drei Schwimmbecken: ein 25-Meter-Becken, ein Fünfzig-Meter-Becken und ein extra tiefes Becken mit Sprungturm. Tristan kratzte sich etwas ratlos am Kopf. „Leute, was für ein Bad ist das hier? Gibts hier eigentlich auch irgendetwas, was richtig Spaß macht?“ Joey stimmte ihm zu: „Ja, echt mal. Keine Reifenrutsche, keine normale Rutsche, kein Wellenbad! Ich seh’ noch nicht mal Pool-Nudeln irgendwo rumstehen.“ Tea seufzte: „Und keine Sauna, kein warmes Sole-Becken und keine Whirlpools.“ Ryou zuckte nur mit den Schultern. „Naja, was habt ihr erwartet? Es war halt mal eine Olympia-Halle und jetzt ist es ein professionelles Sportbad.“ Duke deutete mit einem selbstbewussten Grinsen auf den Sprungturm, um den sich bereits eine große Menschentraube versammelt hatte, die, so schien es, aus sämtlichen unter 30-jährigen Menschen in diesem Schwimmbad bestand. „Kommt schon, Leute, wo ist eure Kreativität hin? Also ich denke mal, damit lässt sich doch was anfangen.“ Aus mehreren Metern Höhe zu springen, schien ihm nicht nur das probateste Mittel zu sein, um die nächsten zwei Stunden Spaß zu haben, sondern auch, um die nagende innere Unruhe abzuschütteln, die von ihm Besitz ergriffen hatte, seit sie die Umkleiden verlassen hatten. Er hatte Unsicherheit schon immer am besten durch Offensivität und entwaffnende Extrovertiertheit überwunden. Er gab und kleidete sich auffällig, er flirtete hemmungslos… Was passte da besser, als auf einen hohen Turm zu steigen, sich für einen kurzen Moment allein da oben der Welt zu präsentieren, um dann im freien Fall seine Sorgen und Gedanken zu vergessen? Yugi nickte. „Duke hat recht, wenn wir schon nicht vom Beckenrand springen dürfen, dann können wir doch wenigstens die Sprungbretter unsicher machen.“ Joey grinste und rieb sich die Hände. „Au ja, und am Ende springen wir alle mindestens einmal vom Zehn-Meter-Turm!“ Yugi räusperte sich nur verlegen und kratzte sich vorsichtig lächelnd mit der Hand am Hinterkopf. „Ja, mal sehen. Vielleicht probieren wir erstmal den Rest aus.“ So taten sie es den meisten ihrer Mitschüler gleich und stellten sich an den Sprungbrettern an. Seto war nach dem Umziehen ohne große Umschweife direkt zum Fünfzig-Meter-Becken gegangen. Bis auf zwei ältere Damen mit geblümten Badekappen, die ganz vorne langsam ihre Bahnen zogen und sich dabei über Gott und die Welt unterhielten, war das Becken dankenswerterweise leer. Zum Glück gab es hier keine Rutschen und anderen Kinderkram. Einfach nur schwimmen, mehr wollte er gar nicht. Er stellte sich auf einen der mittleren Startblöcke – wenn schon, denn schon – und tauchte mit einem eleganten Hechtsprung in das kühle Nass ein. Ja, gar nicht mal schlecht, das musste er zugeben. Sein eigener Pool im Garten der Villa war zwar groß, aber so eine Fünfzig-Meter-Bahn war schon etwas anderes. Konzentriert und mit durchaus sportlichem Anspruch zog er eine Bahn nach der anderen, wechselte hin und wieder den Schwimmstil von Kraulen, über Brust zu Delfin und zurück. Nach einer knappen halben Stunde brauchte er schließlich eine erste Pause, tauchte unter den Leinen durch zum Beckenrand, zog sich hoch und blieb an Ort und Stelle sitzen, die Beine noch immer locker im Wasser hängend. Leicht gelangweilt ließ er seinen Blick durch die Halle wandern. Er erspähte Muto und den Kindergarten nicht allzu weit entfernt beim Sprungbecken. Wo auch sonst, es war das nächstbeste an kindischem Vergnügen, das in einer Sport-Schwimmhalle zu finden war. Augenscheinlich versuchten sie gerade reihum, durch besonders abwechslungsreiche und fragwürdige Sprünge vom Drei-Meter-Brett die umstehenden Mädchen zu beeindrucken. Nach einer hochspritzenden Arschbombe von Taylor und einem misslungenen Salto von Wheeler, der in einem lauten und vermutlich schmerzhaften Bauchklatscher endete, war Devlin an der Reihe. Seto war überrascht. Er hätte eigentlich erwartet, dass der alberne Kajalstrich des Schwarzhaarigen ob der Nässe verschmiert oder ganz abgegangen war, aber dem war nicht so. Im Grunde sah er aus wie immer, nur eben triefend nass und ohne das Stirnband und den seltsamen Ohrring. Lässig strich er sich in diesem Moment eine tropfende, pechschwarze Strähne aus dem Gesicht. Wie schon häufiger in den letzten Stunden blieb Setos Blick unwillkürlich bei dem Schwarzhaarigen hängen. Devlin erklomm die Leiter zum Sprungbrett, lief nach vorne, verbeugte sich mit einem selbstbewussten Grinsen und warf den jubelnden Mädchen am Beckenrand eine Kusshand zu. Seto verdrehte die Augen. Kaum zu glauben, dass so etwas funktionierte und fraglich, wofür es eher sprach: die Dummheit der Mädchen oder Devlins Schamlosigkeit. Vermutlich beides. Jetzt begann der Schwarzhaarige vorne am Brett zu wippen und sprang schließlich mit Schwung ab. In der Luft vollführte er eine annähernd als kunstvoll zu bezeichnende gedrehte Schraubenfigur und tauchte mit dem Kopf voran ins Wasser ein. Als er sich aus dem Becken stemmte – natürlich direkt vor seinen Verehrerinnen – begrüßten sie ihn applaudierend, was er sichtlich genoss. In ihren farbenfrohen Bikinis nahmen sie ihn strahlend in Empfang, sodass er am Ende wie ein veritabler Playboy zwei Mädchen links, zwei rechts im Arm hatte, sich dann zu seinen Freunden drehte und ihnen mit einem prahlerischen Grinsen auf den Lippen irgendetwas zurief, das Seto nicht genau hören konnte. Einen Moment lang amüsierte er sich über die fassungslosen Reaktionen von Wheeler und Taylor, bevor seine Aufmerksamkeit wieder wie magnetisch angezogen zu dem Schwarzhaarigen zurückkehrte. Das Ende seines Zopfes lag locker und tropfend auf seiner linken Schulter, seine smaragdgrünen Augen funkelten noch etwas mehr, als er lachte, Wasser rann seinen Oberkörper hinunter und versickerte im Stoff seiner schwarzen Badeshorts, die ihm am linken Bein ein wenig am Körper klebte. Seto schluckte. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzten kurze Bilder vor seinem geistigem Auge auf: Devlin, wie er sein Shirt auszog. Devlins nackter Oberkörper, auf dem sein Anhänger hin und her baumelte. Devlin, wie er ihn anlächelte. „Na, junger Mann, auf welche der Damen haben Sie denn ein Auge geworfen?“, riss ihn eine der älteren Frauen mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen aus seinem Tagtraum. Offenbar hatten sie sein unbedachtes Starren bemerkt, als sie aus dem Wasser gestiegen waren. Seto brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er gemeint war und seine Sprache wiederzufinden. „Wie bitte?!“, erwiderte er schließlich in einem scharfen Tonfall. Was erdreisteten sich diese Personen eigentlich? Augenscheinlich war seine Reaktion für die Seniorinnen nur ein Grund für weitere Erheiterung. „Ich wollte nur wissen …“, setzte die Fragerin kichernd noch einmal an, er ließ sie jedoch nicht aussprechen. „Das habe ich schon verstanden! Und selbst, wenn es so wäre, wüsste ich nicht, was Sie das anginge!“ Mit diesen harschen Worten sowie einem genervten Augenrollen angesichts derartiger Impertinenz ließ er sich wieder ins Wasser gleiten und erklärte damit das kurze Gespräch einseitig für beendet. Kichernd und kopfschüttelnd wandten sich die Frauen von ihm ab und in Richtung der Umkleiden. „Hach, noch einmal so jung sein …“, hörte er die Zweite noch leise seufzen. Was in aller Welt ging nur in manchen Leuten vor? Um ein Haar hätte er wirklich seine Manieren vergessen! Sicherlich wäre das nicht die beste Publicity gewesen, aber anscheinend hatten sie ihn ja nicht erkannt. Sei’s drum, glücklicherweise hatte er sich ja vollkommen im Griff. Auf welche der Damen haben Sie denn ein Auge geworfen? Kurz schüttelte Seto den Kopf und schnaubte verächtlich. Wie kamen diese alten Schachteln denn bitte auf diesen abwegigen Gedanken? Ja, er hatte eine Weile hinüber geguckt, aber doch nicht zu den Mädchen, sondern zu … Moment mal, nein! Also das war nun wirklich absolut absurd. Nur weil sie sich gerade ein Bett teilten, der Schwarzhaarige ihn mit Arbeit versorgt und ihn zwei Mal merkwürdig angelächelt hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass er Seto nicht ebenso egal war, wie alle anderen Menschen hier auch. Voll grimmiger Entschlossenheit nahm er Devlin erneut ins Visier, um sich seiner erklärten neutralen bis leicht negativen Einstellung ihm gegenüber noch einmal zu versichern. Der Schwarzhaarige stand noch immer inmitten seines kleinen Fanclubs und lachte und schäkerte ausgelassen mit den Mädchen. Aber was kümmerte es ihn schon, Devlin war ihm schließlich vollkommen gleichgültig. Jetzt legte der Schwarzhaarige seine Arme um die Taillen der beiden Mädchen direkt neben sich, sah sie abwechselnd mit einem anzüglichen Lächeln an und flüsterte jeder von ihnen irgendetwas ins Ohr, das sie sofort kichern und erröten ließ. Nicht zu fassen! Ein plötzliches und starkes Gefühl der Abscheu stieg in Setos Brust auf, das ihn dazu veranlasste den Blick schnell wieder von seinem umschwärmten Mitschüler abzuwenden. Mit einem Kopfschütteln einerseits über das Gesehene und andererseits seine eigene auffallend starke Reaktion darauf begann er endlich noch ein paar Bahnen zu ziehen. ‚Ich muss einfach hier raus!‘, dachte er dabei beinahe angewidert. Diese ganze Klassenfahrt war eine einzige Nervenprobe für ihn und vielleicht verlor er langsam wirklich seinen Verstand. Noch weitere anderthalb Stunden lang sinnlos hin und her zu schwimmen, war da sicherlich nicht hilfreich und ödete ihn auch zunehmend an. Nun gut, es hatte ja nur geheißen, dass sie spätestens um 16 Uhr das Wasser verlassen sollten und um 16:30 Uhr angezogen draußen vor dem Eingang erscheinen sollten. Niemand hatte behauptet, dass er nicht schon eher gehen und sich vielleicht noch irgendwo einen Kaffee organisieren konnte. Noch zehn Bahnen, dann war es wirklich genug. Duke hatte sich vor einigen Minuten eine kurze Pause von seinen (neu hinzugewonnenen und bestehenden) Fangirls erbeten, die sie ihm dankenswerterweise auch zugestanden hatten, um ein paar ruhige Minuten mit seinen Freunde zu haben. Im Allgemeinen war sein Plan aber ganz wunderbar aufgegangen und das Springen und die Mädchen hatten ihn sehr erfolgreich abgelenkt. Jetzt hing er entspannt mit Yugi, Ryou und Tea im Wasser am Beckenrand. Tristan und Joey hatten einen Sonderwettbewerb um die Arschbombe mit der höchsten Wasserfontäne ausgerufen und waren auf das Fünf-Meter-Brett gewechselt. Da die Sprünge der beiden auf Dauer dann doch nur mittelinteressant waren und sie dazwischen immer wieder anstehen mussten, wanderte Dukes Blick ziellos durch die Halle. Am Fünfzig-Meter-Becken sah er Kaiba, der sich gerade am Beckenrand aus dem Wasser stemmte. Von einer nahen Bank nahm er sein Handtuch, trocknete sich damit ein wenig ab und hängte es locker um seinen Hals. War Kaiba etwa wirklich die ganze Zeit nur alleine geschwommen? Also echt, wie konnte man denn bitte so einsiedlerisch und offensichtlich allergisch gegen Spaß sein? Er versuchte für einen Moment sich vorzustellen, wie Seto Kaiba eine Arschbombe vom Fünf-Meter-Brett machte, es wollte ihm aber ob der schieren Abwegigkeit der Idee nicht recht gelingen. Wobei Kaiba, so wie er aussah, auf einem Sprungbrett sicherlich eine gute Figur gemacht hätte – vielleicht war der Welt an ihm ein Turmspringer par excellence verloren gegangen, wer wusste das schon. Aber ehrlich mal, wie schaffte dieser Typ es eigentlich, so fit auszusehen, obwohl er mutmaßlich den ganzen Tag in der Schule und in seiner Firma nur am Schreibtisch saß? Trotz seiner Größe wirkte er keineswegs schlaksig, sondern machte einen durchaus trainierten Eindruck… Tristans Stimme hinter ihnen riss ihn aus seinen Gedanken. „Los, ihr Langweiler, kommt doch auch noch eine Runde springen! Nur hier rumzuhängen ist doch super öde!“ Duke schüttelte kaum merklich den Kopf, und folgte dann Tristan und den anderen wieder zurück zum Sprungturm. Nachdem er sich kurz abgetrocknet hatte, verschwand Seto wie geplant sang- und klanglos durch die Glastür zur Umkleide. Ganz in Ruhe und ohne Hektik duschte und wusch er sich, zog sich wieder an und verließ im Alleingang das Schwimmbad. Nicht weit vom Gelände des Sportparks entfernt fand er einen kleinen Coffee Shop und bestellte sich den größten erhältlichen Becher voll puren schwarzen Kaffees. Drinnen war es recht voll, während draußen bei passablen Temperaturen die Sonne schien, sodass Seto beschloss, nicht im Coffee Shop zu bleiben, sondern zurück zum Sportpark zu gehen. Dort fand er eine kleine Grünfläche mit einem Baum, unter dem er sich niederließ. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und genoss bewusst die Ruhe. Kein Geschrei, keine Wasserklatscher, keine alten Damen, die ihn mit unpassenden Fragen behelligten, nur der Wind, ein paar Vögel und im Hintergrund das leise Rauschen des Stadtverkehrs. Die Nachmittagssonne schien ihm ins Gesicht und die leichte Brise wehte ihm den Duft des Kaffees in die Nase. So ließ es sich doch eigentlich aushalten. Das Klingeln seines Telefons, die E-Mails und die Meetings fehlten ihm jetzt und hier schon weitaus weniger als noch gestern oder vorgestern. War es das, was Mokuba hatte bezwecken wollen? Ein kalter Entzug von seiner vermeintlichen Arbeitssucht? Nun, sein Bruder hatte noch viel zu lernen, allen voran, dass einem auch Freunde in den Rücken fallen konnten, ob nun bewusst oder unbewusst. Denn ganz so kalt war der Entzug ja nun doch nicht, dank Devlin und seinem kleinen Auftrag, den Mokuba garantiert nicht ins Kalkül gezogen hatte. Ach, und Kaiba?… Danke! Devlins Worte und sein sanfter Tonfall kamen ihm erneut in den Sinn. Dazu sein Lächeln und die Wärme in seinen grünen Augen…das gleiche Lächeln wie heute Vormittag in der U-Bahn. Er spürte, wie sein Herz etwas schneller gegen seinen Brustkorb schlug. Auf welche der Damen haben Sie denn ein Auge geworfen? Gott, dieser Satz! Ja, er hatte vorhin Devlin angesehen, na und?! Nur, weil er ihn auch gestern schon kurz beobachtet und ihn sein Lächeln etwas länger beschäftigt hatte, bedeutete das doch noch lange nicht, dass … … Aber was, wenn doch?, meldete sich eine leise Stimme in seinem Hinterkopf zu Wort. … Natürlich hatte er im Biologie-Unterricht aufgepasst. So, wie er auch in jedem anderen Unterrichtsfach „aufpasste“. Im Klartext hieß das, dass er arbeitete, nebenbei dem Geschwafel des Lehrers zuhörte und immer wieder zu der Erkenntnis gelangte, wie wenig relevant der vermittelte Unterrichtsstoff für sein eigenes Leben war. Leider war im Bereich Sexualkunde eine Klausur angesetzt gewesen, sodass er diesem unangenehmen Themenbereich nicht fern hatte bleiben können. Und weil er auch nur ein Mensch und damit ein biologisches Wesen war – eine Tatsache, die er in schöner Regelmäßigkeit zu vergessen schien –, war dieser Stoff natürlich auch für ihn relevant gewesen, und das nicht nur aufgrund der Klausur. Er hatte erkannt, dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch ihn unweigerlich eines Tages treffen würde. Ein leicht irrationaler Teil von ihm hatte jedoch gehofft, dass es ihm irgendwie erspart bleiben würde. Eine Hoffnung, die, wenn er ehrlich zu sich war, immer größer geworden war, je länger das scheinbar so Unvermeidliche auf sich hatte warten lassen. Sollte es allen Ernstes jetzt doch so weit gekommen sein? Vielleicht hatte sein Körper eine einmalige Chance gewittert, weil er seit mehr als 48 Stunden nicht ernsthaft gearbeitet und ungewöhnlich viel Zeit mit Altersgenossen verbracht hatte. Aber das war doch noch lange kein Grund diese lästigen Hormone ausgerechnet bei Devlin auszuschütten! Nicht, dass er sich jemals auch nur im Entferntesten für ein Mädchen interessiert hätte…nicht solange er sich erinnern konnte jedenfalls. Nun ja, er hatte sich noch nie ernsthaft für irgendjemanden interessiert – und vor allem nicht auf diese Weise. … Aber vielleicht lag die Sache auch ganz anders und ließ sich logischer erklären? Ach, und Kaiba?… Danke! So stark wie sich der Moment in seinen Kopf gebrannt hatte, hatte ihn auf jeden Fall etwas daran nachhaltig gestört oder irritiert. Aber was? Devlin hatte sich offenkundig ehrlich über seine Zusage gefreut. Eigentlich fast ein bisschen zu sehr, wenn denn sein Beweggrund wirklich nur gewesen war, ihm, Seto, gewissermaßen einen Gefallen zu tun. War es das, was sein Unterbewusstsein ihm sagen wollte: Dass doch mehr dahinter steckte? Und falls ja, war es ein kühl berechnendes, geschäftliches Mehr… Ach, und Kaiba?… Danke! …oder ein persönliches? Sein Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich. Bei Devlin war schlechterdings alles möglich. Aber warum sollte Devlin ein irgendwie geartetes, persönliches Interesse an ihm haben? Besonders nach allem, was man vorhin in der Schwimmhalle erleben durfte, meldete sich die Stimme in seinem Hinterkopf mit einer Spur von Bitterkeit erneut zu Wort. Sofort schob er sie wieder beiseite. Also geschäftliche Hintergedanken? Dafür war ihm Devlins Lächeln zu ehrlich erschienen. Ach, das hatte doch alles keinen Sinn! Er konnte nicht in Devlins Kopf schauen und aus seinem Verhalten wurde er erst recht nicht schlau. Er würde erst einmal weiter mitspielen und ihn genau beobachten, genauso wie sich selbst und die Reaktionen seines Körpers. Die einschlägigen Symptome waren ihm ja aus dem Unterricht bekannt (er hatte an einem neuen Karten-Einlese-Mechanismus gearbeitet): Der Körper nahm Pheromone einer für ihn attraktiven Person auf, Herzschlag und Atemfrequenz beschleunigten sich, das Lustempfinden steigerte sich. Adrenalin und Cortisol sorgten für eine Stressreaktion, erhöhte Impulsivität und eine Blutgefäßreizung im Bauch, die sich als Kribbeln äußern konnte. Endorphine, Serotonin und Dopamin wurden ausgeschüttet und dadurch das Belohnungszentrum aktiviert, das dafür sorgte, dass die Gedanken immer wieder um die betreffende Person kreisten. Die neutrale Beobachtung würde dann schon zeigen, worum es sich tatsächlich handelte: die Hormonausschüttung seines Körpers oder doch sein geschäftlicher Instinkt, der eine Falle witterte. Oder vielleicht auch Variante Drei: beginnender Wahnsinn durch wiederholten, längeren Kontakt mit nervtötenden Individuen. Apropos, ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch etwa 45 Minuten Zeit hatte, bis er von Neuem mit ebenjenen konfrontiert werden würde. Zeit genug also, in Ruhe den Kaffee zu genießen und noch ein wenig konzentriert an den Entwürfen zu arbeiten. Es war mittlerweile kurz vor vier und Frau Kobayashi stand mit strengem Blick am Beckenrand und versuchte durch ihre schiere Präsenz ihre Schüler aus dem Wasser zu treiben. Widerstrebend folgten auch Duke und die anderen ihrer stummen Aufforderung. Am Ende waren sie doch noch alle vom Zehn-Meter-Turm gesprungen, auch wenn man zumindest Joey und Tristan ihre Nervosität sichtlich angemerkt hatte, als sie oben gestanden und zum ersten Mal nach unten geblickt hatten. Tea hatte schließlich den Anfang gemacht („Wir sehen uns unten, ihr Feiglinge!“) und damit das Eis gebrochen. Duke war direkt nach ihr gesprungen und es war einfach ein phantastisches Gefühl gewesen, so lange im freien Fall zu sein. Alles in allem war der Nachmittag im Schwimmbad doch ein Erfolg gewesen. Zwei Stunden lang hatte er so viel Spaß gehabt, dass da gar kein Platz mehr für seine innere Aufregung und irgendwelche Grübeleien gewesen war. Vorübergehend verabschiedeten sie sich von Tea, die in die Frauen-Umkleiden ging. Die Jungs nahmen die andere Tür, durch die Kaiba bereits vor etwa einer anderthalben Stunde gegangen war, holten ihr Waschzeug und gingen unter die Duschen. Während die anderen sich noch einseiften und die Haare wuschen, hatte Duke sich nur einmal kurz den Körper gewaschen und schon nach gefühlt einer Minute das Wasser wieder abgedreht. Hastig verabschiedete er sich noch vor den anderen in Richtung Umkleide: „Ich geh mich schon mal anziehen und dusche dann in der Herberge nochmal richtig. Ich hab mein Shampoo nicht dabei und alles andere ist die Hölle für meine Haare.“, begründete er seine Eile mit einem Lächeln und deutete dabei auf seinen nassen Kopf. Dann verschwand er mit Handtuch und Duschbad im Arm in der Umkleide. Auf dem Weg zu seinem Schließfach blieb er kurz stehen, sah sich in einem der großen Spiegel an der Wand an und seufzte. Die abgebrühte Routiniertheit, mit der ihm schon seit Beginn der Klassenfahrt größere und kleinere Wahrheitsmodifikationen über die Lippen kamen – gegenüber seinen Freunden noch dazu – erstaunte ihn ein wenig. Gut, im engeren Sinne war das gerade noch nicht mal eine Lüge gewesen. Er hatte sein Shampoo tatsächlich nicht dabei. Dass er es allerdings mit voller Absicht „vergessen“ hatte, musste ja niemand wissen. Über dem Waschbecken fuhr er einmal mit den Händen durch seinen Zopf, um das überschüssige Wasser aus seinen Haaren zu drücken. „Mein Gott, Junge, mach dir doch wenigstens einen Zopf!“, forderte sein Vater ihn streng und mit erhobener Stimme auf. „Warum?!“, fuhr Duke ihn wütend an. Sein Vater, eigentlich ein äußerst stolzer Mann, schluckte und wich seinem Blick aus – Wut und Trauer rangen in seinem Gesicht um die Vorherrschaft. „Du weißt genau, warum!“ „Hm, lass mich überlegen ... nein, ich glaube, ich habe es vergessen.“, erwiderte er in gespieltem Unwissen und als bewusste Provokation. Sein Vater sollte endlich damit aufhören, das Thema immer weiter zu verdrängen und der Wahrheit ins Auge sehen. Einen Moment lang herrschte angespannte Stille, dann sprach sein Vater es tatsächlich aus: „Du siehst aus wie sie!“ Die Worte und der schmerzerfüllte, kalte Ausdruck in seinen Augen brannten sich für immer in Dukes Erinnerung ein. Schließlich gab er nach. Es war eines der letzten Male gewesen, dass er sich dem Willen seines Vaters gebeugt hatte. Seitdem hatte sich das Zopf-Thema irgendwie verselbstständigt und war ihm wohl ehrlicherweise etwas entglitten. Ihm war bewusst, dass es vollkommen irrational war, aber der Gedanke, jemand anderes könnte ihn mit offenen Haaren zu Gesicht bekommen, war ihm über die Jahre geradezu unerträglich geworden. Mit einem Kopfschütteln schüttelte er die trüben Gedanken an die Vergangenheit ab, warf noch einen kurzen bewussten Blick in den Spiegel (Wow, der Kajal hatte tatsächlich gehalten!) und ging dann zu seinem Schließfach. Er war bereits fast fertig angezogen, als die anderen zu ihm stießen. Mit gekonnten Handgriffen legte er als letzten Teil seiner gewohnten „Rüstung“ den Ohrring wieder an, packte die nasse Badehose in eine Plastiktüte, die er für diesen Zweck mitgenommen hatte, stopfte sie und das Handtuch wieder in seinen Rucksack und zog die Reißverschlüsse zu. Locker schwang er den Rucksack und seine Jacke über die Schulter. „Ich warte draußen, Leute!“ „Alles klar, bis gleich!“, antwortete Yugi mit einem Lächeln und winkte kurz. Die anderen unterbrachen ihre Tätigkeiten nicht, nickten ihm nur zu und unterhielten sich weiter, sodass Duke einigermaßen beruhigt davon ausging, dass sie sich nicht über sein Verhalten gewundert hatten. Sehr gut. Als er vor den Eingang der Halle trat, war dort noch niemand zu sehen, er schien also der erste zu sein. Die Nachmittagssonne begrüßte ihn mit warmen Strahlen, der sanfte Wind begann seine Haare zu trocknen und er atmete einmal tief durch. Sein Blick streifte durch das Außengelände des Sportparks und blieb an einem kleinen Grasstück mit einem Baum in der Mitte hängen. Hm, offenbar war er wohl doch nicht der erste hier draußen gewesen. Unter dem Baum saß Kaiba, wie schon heute Morgen konzentriert mit dem Block zugange, neben sich einen weißen Pappbecher. Ob er die gute Laune in der Schwimmhalle nicht mehr ausgehalten und sich stattdessen lieber einen Becher mit Blut … Entschuldigung, natürlich Kaffee, besorgt hatte? Diese Vampir-Metapher war aber auch einfach zu passend, dachte er und konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. Nein, eigentlich musste er sich ja freuen, dass Kaiba seine Zeit nicht mit Schwimmen, sondern mit der Arbeit an seiner Idee verbrachte. Was würde er darum geben, die ersten Skizzen schon einmal sehen zu können! Aber naja, vielleicht war es auch noch gar nicht so viel, immerhin waren Kaiba nach wie vor die Regeln nicht „präsent“. Aber das würde sich ja mit dem heutigen Abend ändern. Duke konnte es kaum erwarten und ein vorfreudiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Kapitel 9: Gotta keep it together. (It can't be that hard.) ----------------------------------------------------------- Schon als sie einmal mehr die Treppen zur U-Bahn hinabstiegen, war Seto klar, dass er bei dieser Fahrt wohl nicht zum Arbeiten kommen würde. Jetzt, zur besten Nachmittagszeit mitten in der Stadt, schoben sich die Menschen dicht an dicht in die unterirdischen Schächte und drängten in die beinahe im Minutentakt fahrenden Züge, um von A nach B zu kommen. Frau Kobayashi gab sich alle Mühe die Klasse beisammenzuhalten und atmete erleichtert auf, als sie alle ihre Schüler verlustfrei in die richtige U-Bahn gelotst hatte. Hatte Seto bereits gestern aufgrund des Geruchs und der Geräuschkulisse festgestellt, dass er den öffentlichen Nahverkehr in Zukunft weiterhin unter allen Umständen meiden würde, so wurde er in diesem Entschluss jetzt noch einmal mehr bestärkt. Zwischen ihm und den nächsten Menschen um ihn herum war nicht mehr sonderlich viel Platz und so langsam würde er sich entscheiden müssen, in welche Richtung er den Abstand im Notfall verringern würde, falls es noch voller werden sollte: Hin zu dem korpulenten Mann im Anzug mit dem zu kleinen Jackett und den immensen Schweißflecken unter den Achseln? In Richtung des stark geschminkten, mit offenem Mund Kaugummi kauenden Schulmädchens mit dem kurzen Rock und dem überbordenden Ausschnitt? Oder… er blickte sich noch einmal um und analysierte seine Optionen… Hm, Devlin stand beinahe neben ihm. Der Schwarzhaarige hatte ihm den Rücken zugewandt und unterhielt sich angeregt mit seinen Freunden. Seinen Rucksack hatte er aus Platzgründen abgesetzt und zwischen seine Beine gestellt. Im Grunde war es doch eigentlich die ideale Gelegenheit, seine vorhin aufgestellten Hypothesen einmal einer ganz neutralen, genaueren Untersuchung zu unterziehen … Damit war seine Entscheidung gefallen und Seto rückte kurzerhand unauffällig etwas näher zu Duke, auch, um dem knapp bekleideten, feucht schmatzenden Schulmädchen zu entkommen, das ihm mittlerweile bedrohlich nahe gekommen war. Devlin und ihn trennten jetzt nur noch Zentimeter – die perfekte Versuchsanordnung. Falls sein Körper tatsächlich das Problem war, sollte es jetzt nicht mehr lange dauern, bis er die ersten Reaktionen beobachten konnte… Ein leichter Chlorgeruch, der von Devlins Haaren auszugehen schien, stieg ihm in die Nase. Tze, könnte man Pheromone bewusst wahrnehmen, würden sie so ganz sicher nicht riechen. Aber nein, wies er sich in Gedanken zurecht, er sollte neutral bleiben. Je länger Seto so nahe bei dem Schwarzhaarigen stand, desto mehr überkam ihn eine diffuse Aufregung, die er nicht recht einzuordnen wusste. Fiel das schon unter „hormoninduzierte Stressreaktion“? Nun, nicht notwendigerweise, denn die Gesamtsituation in der überfüllten U-Bahn mitten im nachmittäglichen Berufsverkehr war alles andere als angenehm und schon allein mehr als ausreichend, um seinen Körper in Stress zu versetzen. Sein beschleunigter Herzschlag sowie die Tatsache, dass er leicht zu schwitzen begann, mussten also nicht das Geringste zu bedeuten haben, zumal er auch noch einen Wollpullover und einen Wollmantel trug. Mit leichter Verwunderung bemerkte er jedoch, dass sich die innere Aufregung nicht so gänzlich unangenehm anfühlte, wie sie das eigentlich hätte tun sollen, wenn sie wirklich nur durch die U-Bahn-Situation verursacht würde. Als er hörte, wie Devlin mit warmer Stimme über irgendeinen dümmlichen Kommentar von Taylor lachte, spürte Seto, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken und auf seinen Unterarmen aufstellten. Das war zugegebenermaßen bemerkenswert, so warm wie es ihm gerade eben noch gewesen war. Aber von hinreichenden Beweisen waren diese Beobachtungen noch meilenweit entfernt – Indizien, weiter nichts. In den nächsten Minuten ließ der Kindergarten noch einmal seine schönsten Momente aus dem Schwimmbad Revue passieren und Seto bedauerte es, der wenig gehaltvollen Konversation unfreiwillig folgen zu müssen. Während Devlin mit ausladenden Gesten erklärte (soweit es ihm der begrenzte Platz in der Bahn erlaubte), wie genau er seinen Schraubensprung vollbracht hatte, nahm die Bahn nach einem Halt erneut Fahrt auf. An dieser Stelle kamen die Gesetze der Physik nicht mehr nur in Devlins Erzählung, sondern auch in der Realität zum Tragen. Beinahe wie in Zeitlupe nahm Seto wahr, wie der Schwarzhaarige durch die Trägheit beim Anfahren des Zuges zu straucheln begann und nur Millisekunden später förmlich in ihn hineinfiel. Für einen kurzen Augenblick kitzelten Devlins Haare sein Gesicht, Devlins rechter Arm und rechte Schulter pressten sich in seinen Oberkörper, bevor der Schwarzhaarige sich mit der linken Hand schnell wieder von Setos Brust abstieß und Abstand zwischen sie brachte. Mit einem entschuldigenden Blick aus seinen grünen Augen lächelte er ihn vorsichtig an: „Huch … sorry, Kaiba!“ Seto brauchte einen Moment, um einen für seine Verhältnisse normalen, der Situation angemessenen, kühlen und genervten Blick zu fabrizieren, war aber zuversichtlich, dass es nicht zu sehr aufgefallen war. Als Devlin sich wieder von ihm abgewandt hatte, hielt Seto kurz unmerklich die Luft an und horchte aufmerksam in sich hinein. Sein Herz hämmerte aufgeregt gegen seinen Brustkorb und ein kribbelndes Gefühl hatte beinahe seinen gesamten Oberkörper erfasst, sodass er Devlins Berührung praktisch noch immer spüren konnte. Nun, versuchte er bewusst nüchtern zu denken, während sein Körper langsam wieder zur Ruhe kam, das veränderte die Datenlage. Aber konnte es nicht auch sein, dass das einfach an dem ungewollten Körperkontakt als solchem lag? Auf so etwas reagierte er nun einmal stark, das war nichts neues. Tja, eine Kontrollgruppe müsste man haben… Kaum zwei Minuten, nachdem er diesen Gedanken gehabt hatte, schlossen sich an einer Haltestelle schon piepsend die Türen, da versuchte im letzten Moment noch ein Mann aus der Bahn zu kommen, der offenbar zu spät bemerkt hatte, dass seine Station bereits gekommen war. In seiner Hektik schob er einige Leute recht rüde beiseite, so auch den korpulenten Mann mit den Schweißflecken, dessen Bauchfett sich dadurch in Setos Seite drückte. Der Brünette schloss kurz die Augen und unterdrückte einen Seufzer, der seiner beinahe grenzenlosen Abscheu nur zu deutlich Ausdruck verliehen hätte. Allerdings war damit immerhin das Fazit klar: Unfreiwilliger Körperkontakt mit einem Mitglied einer neutralen Kontrollgruppe führte ebenfalls zu einer starken Reaktion, jedoch immer noch wesentlich geringer als bei Devlin und ohne jeden Zweifel zu einhundert Prozent negativ. Als sie endlich die U-Bahn verließen und zu Fuß den restlichen Rückweg zur Herberge antraten, fasste Seto noch einmal im Geiste seine Ergebnisse zusammen: Erstens: Von dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn einmal abgesehen, war diese U-Bahn-Fahrt eine Erfahrung gewesen, die er unter keinen Umständen jemals wiederholen wollte. Zweitens: Beim Zusammenstoß mit Devlin und dem daraus resultierenden direkten Körperkontakt hatte sich seine Herzfrequenz schlagartig extrem erhöht und selbst jetzt, fast fünfzehn Minuten später, konnte er noch immer ein leichtes Kribbeln an den Stellen spüren, an denen Devlin ihn berührt hatte. Drittens: Der Vergleich mit einer (glücklicherweise quantitativ überschaubaren) unbeteiligten Kontrollgruppe hatte bestätigt, dass diese Reaktion mitnichten nur durch den unfreiwilligen Körperkontakt zu erklären war. Damit konnte es wohl als erwiesen gelten, dass Devlins Präsenz und Nähe in der Tat biochemische Prozesse in seinem Körper auslösten. Sein geschäftlicher Instinkt schien damit nicht das geringste zu tun zu haben, hatte der doch auf dieser Bahnfahrt keinerlei neue Anhaltspunkte bekommen. Was natürlich nicht hieß, dass da nicht doch etwas sein konnte. Es bedeutete im Gegenteil, dass er doppelt vorsichtig sein musste, um nicht womöglich in eine Falle zu laufen, weil seine Aufmerksamkeit hormonbedingt nachließ. Aber dazu würde es wohl kaum kommen. Selbstbeherrschung war praktisch sein zweiter Vorname. Es galt also, für die absehbare Dauer dieser Klassenfahrt gegenüber Devlin um jeden Preis die Kontrolle zu behalten, dann würde sich das Problem spätestens nach der Klassenfahrt sicherlich von selbst wieder erledigen. Zurück in der Herberge stand Duke zusammen mit Kaiba vor der Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer und schloss auf. Nachdem sie eingetreten waren, stellte er seinen Rucksack auf dem Bett ab, kramte die Tüte mit seiner nassen Badehose sowie seine absichtlich unvollständigen Waschsachen heraus und wandte sich in Richtung Badezimmer. „Ich bräuchte nochmal das Bad.“, informierte er den Brünetten mit einem leicht fragenden Unterton. Der zuckte nur kurz mit den Schultern und antwortete lakonisch: „Tu dir keinen Zwang an.“ Als Duke die Badezimmertür hinter sich abgeschlossen hatte, atmete er kurz durch. So sehr er seine Freunde mochte und sich auf die Woche mit ihnen gefreut hatte, so sehr genoss er doch auch hin und wieder die kurzen Momente, in denen er allein sein und in Ruhe seinen Gedanken nachhängen konnte. Auch insofern war es eigentlich gar nicht so schlecht, dass er nicht mit ihnen in einem Zimmer war. Wie schon zuvor im Schwimmbad zog er sich aus, legte seinen Schmuck ab, löste aber diesmal auch seinen Zopf und ging ohne Umschweife duschen. Endlich konnte er sich das Chlor richtig aus den Haaren waschen! Als er unter der Dusche stand, kam es Duke vor wie ein kleines Déjà-vu. Hatte er sich heute Morgen an genau dieser Stelle nicht noch vorgenommen, Kaiba nicht zu nerven, wo immer es sich vermeiden ließ? Nun, das hatte ja wirklich einwandfrei geklappt! Erst hatte er es sich im Bett auf Kaibas Kissen etwas zu bequem gemacht, dann hatte er Kaiba in der U-Bahn etwas zu offensichtlich beobachtet, dann hatte er seinen Freunden (direkt und indirekt) vor dem Schwimmbad etwas zu viel über Kaiba verraten und nun war er Kaiba wiederum in der U-Bahn auch noch körperlich viel zu nahe getreten. Paradoxerweise war letzteres unangenehm und angenehm zugleich gewesen. Das Ganze war so schnell gegangen, dass er im ersten Moment gar nicht registriert hatte, wem er in die Arme gefallen war, bis er einen vertrauten, ziemlich anziehenden, fruchtig-herben Duft gerochen hatte – so nah und intensiv wie nie zuvor. Er hatte die fast schon unerwartete Körperwärme gespürt, dazu das weiche Material von Kaibas Mantel und Pullover … und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ihn der Wunsch überkommen, einfach so zu verharren – so wie er heute Morgen einfach auf Kaibas Kissen liegen geblieben war. Spätestens als ihn ein tödlicher Blick aus eisblauen Augen getroffen hatte, war er jedoch wieder zur Besinnung gekommen und hatte sich kurz mit der Hand an Kaibas Brust abgestützt, um wieder Abstand zwischen sie zu bringen. Aus ihm völlig unerfindlichen Gründen war der erste bewusste Gedanke, der ihm dabei in den Kopf geschossen war, dass der Pullover aus Kaschmir sein musste, so weich wie er sich unter seinen Fingern anfühlte. Doch auch nachdem Duke sich mit einer notdürftigen und verlegen gestammelten Entschuldigung abgewandt hatte, hatte der Brünette weiterhin so nahe bei ihm gestanden, dass der Parfümduft und das unerwartet angenehme Gefühl von Kaibas Kleidung und Körperwärme ihn für den Rest der Fahrt nicht mehr ganz losgelassen hatten. Warum machte ihn der Brünette denn in den letzten Tagen nur so nervös? Er war doch sonst nicht so… Vermutlich war es einfach die Gesamtsituation: sie teilten sich gezwungenermaßen Zimmer, Bad und Bett und drangen damit beinahe automatisch weit in die persönliche Sphäre des jeweils anderen vor – etwas, womit sie wohl beide ein ziemliches Problem hatten; die vertrackte geschäftliche Situation auf seiner Seite kam noch erschwerend hinzu. Mehr war es am Ende wohl nicht und er würde das schon schaffen. Es war ja nur noch bis zum Ende der Klassenfahrt, danach hatte sich das alles erledigt und ihre Beziehung würde sich wieder in ihren gewohnten Bahnen bewegen: loser Kontakt in der Schule und gelegentlich kurze, berufliche Treffen. So weit, so normal, so „eigentlich-nichts-miteinander-zu-tun“. Als er wieder aus der Dusche heraustrat, war der kleine Raum erfüllt von Wasserdampf, gegen den die schwächliche Lüftung nur langsam ankam. Er nahm sich sein Handtuch und schlang es um die Hüften, bevor er zum Waschbecken ging. Der Spiegel war komplett beschlagen und er musste kurz mit seinem Unterarm darüber wischen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Wie zuvor im Umkleideraum des Schwimmbads sah er sich für einen Moment einfach nur an. Seine langen schwarzen Haare kringelten sich offen um sein Gesicht und ließen kalte Wassertropfen seine Brust und seinen Rücken hinunter laufen. Der Kajalstrich war vollständig abgewaschen. Für einen kurzen Augenblick wandelte sich das Bild im Spiegel und es war nicht mehr er selbst, der ihm entgegen sah, sondern sie blickte mit ihren liebevollen, grünen Augen und einem sanften Lächeln auf den Lippen zurück. Ein kurzer Schmerz durchzuckte ihn. Wie sehr sie ihm fehlte! In Momenten wie diesen konnte er seinen Vater ja beinahe verstehen…oder zumindest Mitleid mit ihm empfinden. Ihr Tod hatte in ihrer beider Leben eine unmöglich wieder zu füllende Lücke gerissen – trotzdem hatten sie es natürlich beide versucht. Die Richtungen, die sein Vater und er dabei eingeschlagen hatten, waren allerdings zu unterschiedlich gewesen, sodass sie in letzter Konsequenz unweigerlich getrennte Wege hatten gehen müssen. So weit, dass heute sogar ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag. Er entließ einen tiefen Seufzer und erwachte aus seiner melancholischen Starre – mein Gott, was war denn heute bloß in ihn gefahren? –, packte endlich seinen Fön aus und trocknete seine Haare. Nachdem er sich wieder angezogen und neu geschminkt hatte, holte er noch die Badehose aus der Tüte, wrang sie aus und hängte sie zum Trocknen über die Duschwand. Seto wunderte sich etwas, als er hörte, wie die Dusche angestellt wurde. Hatte Devlin das nicht im Schwimmbad gemacht, wie alle anderen auch? Hm, offensichtlich wohl nicht, denn seine Haare hatten ja vorhin auch noch nach Chlor gerochen. Aber was interessierte es ihn schon; Devlin war ihm ja eigentlich vollkommen egal (von der Hormon-Sache einmal abgesehen). Er zog seine Schuhe und den Mantel aus, holte den Block aus seiner Tasche und setzte sich auf das Bett, um bis zum Abendessen weiter an den Entwürfen zu arbeiten. Ungefähr fünfzehn Minuten später trat Devlin wieder aus dem Badezimmer. Seto warf bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es im Grunde schon Zeit war, in den Speisesaal zu gehen. So packte er den Block wieder zurück in seine Tasche, nahm aus ebenjener ebenfalls noch seine Badehose heraus und brachte sie ins Bad, wo er sie ähnlich wie Devlin über die andere Wand der Dusche hängte. Als er wieder aus dem Bad kam, wartete der Schwarzhaarige bereits an der Tür auf ihn. Mit einem vorfreudigen Funkeln in seinen grünen Augen sah er Seto an: „Steht unsere Verabredung nach dem Abendessen noch?“ Unwillkürlich machte sich Setos Herz erneut bemerkbar. Himmel, musste Devlin das so formulieren? Er riss sich jedoch zusammen und nickte nur. „Cool, ich freu mich schon!“, lächelte der Schwarzhaarige und öffnete die Tür, um Seto den Vortritt zu lassen. Während dieser versuchte, das Lächeln und Devlins Blick zu ignorieren und der stummen Aufforderung nachkam, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass das mit der Selbstbeherrschung eventuell schwerer werden könnte, als er gedacht hatte. Diesen Gedanken schob er jedoch sofort wieder beiseite. Das Abendessen selbst lief im Grunde ab wie an den beiden vorherigen Tagen. Heute war allerdings auch Joey mit der gebotenen Mahlzeit glücklich und holte sich ganze zwei Mal einen Nachschlag. Als fast alle in der Klasse ihre Teller geleert hatten, erhob sich Frau Kobayashi, wie es nun schon fast Routine war, um das Programm für den folgenden Tag anzukündigen: „Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie hatten heute Spaß auf unserer kleinen Reise durch Naganos olympische Geschichte und natürlich auch am Ende bei der sportlichen Ausarbeitung. Morgen wird es bewegungsreich weitergehen, denn wir verlassen die Stadt und fahren in die Natur! Wir werden das wunderschöne Kamikochi-Gebiet durchwandern und dabei Wälder, Berge und Flüsse in ihrer ganzen Pracht erleben. Ich hoffe, sie freuen sich schon genauso darauf wie ich! Da wir noch etwa anderthalb bis zwei Stunden mit dem Bus fahren werden, müssen wir bereits etwas früher starten. Ich erwarte Sie also um 6:30 Uhr hier beim Frühstück, sodass wir gegen 7:15 Uhr losfahren können. Ich wiederhole: 6:30 Uhr Frühstück und 7:15 Uhr Abfahrt. Und jetzt verbringen Sie noch einen schönen Abend – aber bitte wie gehabt zivilisiert und unter Einhaltung der Nachtruhe um 22 Uhr, wenn ich bitten darf!“ „Wandern?! Und dafür auch noch früher aufstehen?! Die Alte hat sie doch nicht mehr alle …“, verlieh Joey seiner erwartbar niedrigen Begeisterung über die morgigen Pläne Ausdruck. Tristan pflichtete ihm bei: „Und ich dachte schon heute im Olympia-Museum, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte!“ Tea rollte angesichts dieser kindischen Reaktionen nur mit den Augen. Manchmal kam sie sich wirklich vor wie eine Betreuerin von lauter Neunjährigen. „Jungs, jetzt regt euch doch mal nicht so auf! Wir kommen viel zu selten mal raus in die richtige Natur. Ich denke, es könnte wirklich schön werden.“ Joey schüttelte vehement den Kopf und seufzte: „Boah, Tea, bist du irgendwie mit Kobayashi-sensei verwandt oder hat sie dir irgendwas eingepflanzt?!“ Tristan fügte hinzu: „Ja, demnächst fängst du noch an, Vorträge über Eiskunstlauf zu halten…“ Entnervt winkte Tea ab. „Ach, haltet doch beide die Klappe!“ Als er sah, wie Kaiba aufstand, erhob sich Duke ebenfalls und blickte selbstbewusst in die Runde. „Leute, ihr entschuldigt mich, ich habe eine Partie Dungeon Dice Monsters zu gewinnen!“ Joeys Augen wurden groß und voller Vorfreude rieb er sich die Hände. „Ach ja, das war ja heute auch noch! Super, Mann, das wird erste Sahne!“ „Geh ruhig schon mal vor, wir kommen dann gleich in den Gemeinschaftsraum nach!“, fügte Yugi lächelnd hinzu. „Alles klar, dann sehen wir uns gleich!“, verabschiedete sich Duke mit einem letzten Zwinkern und kurzen Winken vorübergehend von seinen Freunden. Zurück im Zimmer kramte Duke unter dem strengen, abwartenden Blick von Kaiba einmal mehr in seiner Reisetasche und fand schließlich die kompakte Box mit dem Spielbrett sowie die Säckchen mit den Würfeln, die er mitgenommen hatte. Mit Blick auf die Raumsituation stellte er noch einmal laut fest, was er schon den ganzen Nachmittag geplant hatte: „Ich glaube, wir müssen im Gemeinschaftsraum spielen, der winzige Tisch hier ist wirklich zu klein, da kann man nicht vernünftig würfeln.“ Kaiba verdrehte darauf nur die Augen. „Wenn es denn sein muss.“ Eine derartig „begeisterte“ Reaktion hatte Duke erwartet, aber da musste Kaiba nun einmal durch, wenn er die Spielerfahrung bekommen wollte. Der Schwarzhaarige grinste nur ein wenig und ging voraus in Richtung des Gemeinschaftsraumes. Dort angekommen hielt Duke nach einem guten Tisch Ausschau und wurde in der rechten hinteren Ecke des Raumes fündig. „Was hältst du von dem Tisch da hinten?“, fragte er an Kaiba gewandt. Der seufzte nur genervt und erwiderte trocken: „Mein Gott, Devlin, wir sind hier nicht in einem Fünf-Sterne-Restaurant mit Meerblick! Er ist so gut wie jeder andere.“ Duke kicherte darauf nur leise und ging zu dem anvisierten Tisch. Man konnte sagen, was man wollte, aber Kaibas bissige Bemerkungen hatten ihren ganz eigenen Humor. Nachdem sie sich niedergelassen hatten, baute der Schwarzhaarige das Spielbrett auf und schüttete die Würfel aus den beiden Beuteln. Der eine hatte hauptsächlich rote und blaue Würfel enthalten, der andere gelbe und weiße, beide jeweils ergänzt um drei bis vier schwarze Würfel. Routiniert begann Duke zu erklären: „Also wie gestern schon gesagt, habe ich zwei Würfel-Sets mitgenommen. Eines enthält vornehmlich Drachen- und Krieger-Monster, das andere Magier und Untote.“ Dabei zeigte er mit der Hand erst auf die roten und blauen Würfel, dann auf die gelben und weißen. Mit einem schelmischen Blitzen in den Augen sah er zu dem Brünetten auf. „Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte zu wissen, welches du nehmen wirst.“ Kaiba zog eine Augenbraue hoch und fragte kühl zurück: „Willst du damit etwa sagen, ich wäre berechenbar, Devlin?“ Mit unverhohlener Ironie und einem breiten Grinsen gab er zurück: „Oh nein, wie käme ich denn dazu?“ Hui, das gefiel Kaiba gar nicht, so langsam sollte er zumindest etwas vorsichtiger sein. Die Augen des Brünetten verengten sich gefährlich und seine Stimme wurde kalt und schneidend. „Ich warne dich, Devlin! Wer sich zu weit aus dem Fenster lehnt, kann auch schnell herunter fallen!“ Nach einer kurzen Pause schob er zähneknirschend nach: „Und jetzt her mit den Drachen!“ Duke ließ sich sein Amüsement diesmal sicherheitshalber nicht anmerken, packte die roten und blauen Würfel wieder in das Säckchen und schob es dem Brünetten herüber. In diesem Augenblick betraten auch Yugi und die anderen den Gemeinschaftsraum und kamen zielstrebig auf den Tisch zu, an dem Kaiba und er saßen. „Habt ihr etwa schon angefangen?“, erkundigte sich Ryou. Duke schüttelte den Kopf: „Nein, wir sind gerade noch bei der Vorbereitung.“ Mit fragendem Blick wandte er sich an seinen Gegner: „Sie haben mich heute Mittag gefragt, ob sie zuschauen dürfen. Ich hab gesagt, es wäre kein Problem, vorausgesetzt, dass es für dich auch okay ist.“ Blitzschnell analysierte Seto seine Alternativen. Er spielte DDM zum ersten Mal und dann auch noch gegen den Erfinder des Spiels, es bestand also ein gewisses Risiko, dass er verlor. Wenn Wheeler das miterlebte, würde er ihm diesen Fakt genüsslich unter die Nase reiben, wann immer sich eine Gelegenheit bot – und Wheeler würde schon dafür sorgen, dass sie sich oft bot. Nicht gerade eine wünschenswerte Aussicht. Den Kindergarten nicht zuschauen zu lassen, ließ ihn schwach aussehen, denn es würde implizieren, dass er genau davor Angst hatte: vor Publikum zu verlieren. Außerdem würden sie Devlin den Spielverlauf hinterher ohnehin haarklein aus der Nase ziehen. Es gab also nur eine logische Lösung: Er würde es zulassen und nicht verlieren – so einfach war das! So zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern: „Von mir aus.“ „Klasse, mach ihn sowas von fertig, Duke!“, gab Joey schon einmal ganz klar zu Protokoll, auf wessen Seite er stand. Seto kommentierte es mit einem süffisanten, kalten Lächeln: „Du meinst, in etwa so, wie Devlin dich damals fertig gemacht hat? Ich erinnere mich, dass dir das Hundekostüm sehr gut stand, Wheeler!“ Seto wusste noch, dass er es gesehen und sich köstlich darüber amüsiert hatte. Schon damals war ihm der Gedanke gekommen, dass er Devlin würde im Auge behalten müssen. Wütend funkelte Joey Kaiba an, während Duke nur kurz die Augen verdrehte. Musste Kaiba das unbedingt wieder aufwärmen? Trotz seiner schätzungsweise einhundert Entschuldigungen war der „Kostümzwischenfall“ noch immer ein leicht wunder Punkt zwischen Joey und ihm. Natürlich hatte er das Hundekostüm damals bewusst gewählt. Schon an einem seiner ersten Tage in der Schule war er Zeuge eines Schlagabtausches zwischen Joey und Kaiba geworden, in dem Kaiba mehr als einmal den Hundevergleich gezogen hatte und Duke hatte sofort bemerkt, wie effektiv das den Blonden triggerte. Und er würde lügen, wenn er behaupten würde, dass es ihm damals keinen Spaß gemacht hätte, Kaibas konstante Erniedrigungen auf diese Art und Weise noch weiter zu treiben. Die Zeiten hatten sich allerdings geändert und heute bereute Duke sein damaliges Verhalten sehr. Und auch Joey schien das glücklicherweise zu wissen: „Ach, halt doch den Mund, Kaiba, das ist Schnee von vorgestern. Ich will jetzt einfach nur sehen, wie Duke dich sauber vierteilt.“ Der Schwarzhaarige lächelte darauf nur zufrieden und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. „Danke, Joey. Wenn ihr dann fertig seid, können wir vielleicht zurück zum Spiel kommen?“ Kaibas kalter Blick galt nun wieder ihm und mit unverkennbarer Ungeduld in der Stimme forderte er Duke auf: „Dann erkläre doch endlich die Regeln, Devlin! Und zwar gefälligst alle – von Anfang an! Ich habe keine Lust sie häppchenweise im Spiel zu erfahren, wie es dir gerade in den Kram passt. Mit Muto kannst du so etwas vielleicht machen, aber nicht mit mir!“ Und wieder hatte Kaiba einen wunden Punkt getroffen – er hatte wirklich ein extremes Talent dafür, das musste man ihm lassen. Ein kurzes, bitteres Lächeln schlich sich auf Dukes Gesicht: „Keine Angst, Kaiba, aus der Phase bin ich raus.“ Dann blitzten seine grünen Augen wieder selbstbewusst auf: „Ich werde gewinnen, und zwar nicht aufgrund unfairer Vorteile, sondern einfach, weil ich besser bin!“ Jetzt grinste auch der Brünette selbstgefällig zurück: „Sei dir da nicht zu sicher, Devlin! Du magst das Spiel erfunden haben, aber ich lerne schnell. Sehr schnell.“ Während Duke wie von Kaiba gefordert die Zugfolge, Farben und einzelnen Symbole genau erklärte, hatte letzterer das Säckchen mit seinen Würfeln ausgeschüttet und betrachtete sie ganz genau. Offenbar analysierte er anhand der Erläuterungen bereits seine Möglichkeiten. Sehr gut, dachte Duke, genau wie damals Yugi schien der Brünette schon ein gutes Gefühl dafür zu haben, worauf es ankam. Es würde auf jeden Fall eine der interessantesten Partien seit langem für Duke werden, so viel stand fest. „Normalerweise würden wir uns jetzt noch einen Dungeon Master aussuchen, aber weil das hier wie gesagt schon fertige Sets sind, gibt es leider keine Wahl. Hier ist deiner.“ Mit diesen Worten reichte er Kaiba eine Karte des „Herrn der Drachen“, auf der die Werte und besonderen Fähigkeiten beschrieben waren, die der Brünette während des Spiels würde nutzen können. „Ich denke, damit habe ich alles erklärt.“, beendete Duke seine Ausführungen, „Ist alles klar?“ Kaiba nickte nur und fragte nüchtern zurück: „Wer beginnt?“ Duke griff kurzerhand in seine rechte Hosentasche und zog einen normalen, sechsseitigen Würfel heraus, den er Kaiba hinhielt. „Höhere Zahl?“ Der Brünette nickte und Duke legte den Würfel auffordernd vor ihn auf den Tisch. Kaiba würfelte eine Drei, Duke eine Fünf. Sehr gut, er würde also selbst den ersten Zug machen. Ein angenehmes Flattern hatte sich in seiner Magengegend breit gemacht. Eine Aufregung, die er genoss und die er im Kontext seines Spiels schon länger nicht mehr verspürt hatte. Kaiba war Yugi in seinen spielerischen Fähigkeiten immerhin annähernd ebenbürtig und wie nur zu deutlich zu erkennen war, schien er hoch fokussiert zu sein und – trotz der Tatsache, dass er zum ersten Mal spielte – unbedingt gewinnen zu wollen. Nun gut, nichts anderes hatte er von dem Brünetten erwartet. So sehr wie Kaiba ihn heute zwischenzeitlich aus der Ruhe gebracht hatte, jetzt würde er das unter keinen Umständen zulassen. So zog Duke als erster zufällig drei Würfel aus seinem Säckchen und das Spiel begann. Kapitel 10: Totally under control. (With minor exceptions.) ----------------------------------------------------------- Seto war unzufrieden. Der Anfang des Spieles war für ihn, nun ja, eher holprig verlaufen, um es euphemistisch auszudrücken. Die Würfelsymbole, die er gebraucht hätte, um wirklich etwas auszurichten, wollten einfach nicht kommen, während Devlin einen optimalen Wurf nach dem anderen zu haben schien. Der Schwarzhaarige hatte sein Dungeon bereits bis zu Setos Spielfeldseite fertig gestellt, mit seinem Panzerzombie praktisch widerstandslos vorrücken und dem Brünetten den ersten seiner drei Lebenspunkte abziehen können. „Spitze, Alter, mach den reichen Pinkel nass!“, wurde er von Joey angefeuert und grinste zufrieden. Mit selbstsicherem Blick sah er Seto direkt an. „Also eigentlich hätte ich mit etwas mehr Gegenwehr deinerseits gerechnet, Kaiba. Meinst du nicht, du machst es mir ein bisschen zu einfach, wenn du meine Zombie-Armee einfach durchrennen lässt?“ Seto hatte beide Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, die Hände ineinander gefaltet und studierte scheinbar konzentriert das Spielfeld. Um keinen Preis würde er sich anmerken lassen, wie sehr ihm sein Rückstand und Devlins überhebliches Gebaren jetzt schon auf die Nerven gingen. Ihm war auch ohne die vollkommen unnötige Bemerkung durchaus bewusst, dass er ein Problem hatte und im Hintertreffen war. Ohne auf den Kommentar einzugehen, zog er seine nächsten drei Würfel, warf sie und konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel leicht nach oben zuckten, als er das Ergebnis sah. Sehr gut, endlich einmal genau, was er gebraucht hatte! „Oh, du sollst deine Gegenwehr schon noch bekommen, Devlin, keine Sorge!“ Endlich konnte nun auch Seto ein Monster rufen – noch dazu einen Drachen mit einer Sonderfertigkeit, die er durch die Fähigkeit seines Dungeon Masters direkt einmal kostenlos einsetzen durfte. Sie erlaubte es ihm, den letzten Teil von Dukes Dungeon zu zerstören und letzterem so den Weg zu seinen Lebenspunkten wieder abzuschneiden. Damit war wenigstens schon einmal die unmittelbare Gefahr gebannt. In der Tat war es der Anfang einer Wende zu seinen Gunsten. Es gelang Seto, schon im nächsten Zug einen Krieger zu beschwören, mit dem er auch noch Dukes Zombie-Angreifer zerstörte. Damit war dessen Offensive komplett in sich zusammen gefallen. Zufrieden nahm Seto zur Kenntnis, dass nun auch Devlin einmal eine kleine Würfel-Pechsträhne zu haben schien, was ihm selbst in der Folge die Chance gab, gleich mehrere Wege zum Dungeon Master des Schwarzhaarigen aufzubauen. Schnell hintereinander zog er ihm erst mit dem Drachen, dann mit dem Krieger zwei seiner drei Punkte ab und es war nur zu offensichtlich, dass Devlin das gar nicht mochte. Ja, so machte das Spiel doch gleich wesentlich mehr Spaß! Mit einem süffisanten Lächeln und verschränkten Armen lehnte Seto sich auf seinem Stuhl zurück. Duke schien sich schnell wieder gefasst zu haben und schüttelte mit einem leichten Lächeln den Kopf. „Nicht schlecht Kaiba! Ich sehe, du hast nicht zu viel versprochen, was deine Lernfähigkeiten anbelangt.“ Offenbar versuchte Devlin entspannt und locker zu wirken und die meisten der mittlerweile zahlreichen Zuschauer konnte der Schwarzhaarige sicher überzeugen, aber Seto hatte ein untrügliches Gespür dafür, dass dem ganz und gar nicht so war. Devlins Anspruch zu gewinnen war schließlich nicht geringer als sein eigener, umso mehr, weil er der Erfinder des Spiels war. Aber das machte es für Seto noch viel amüsanter, ihn in eine Ecke gedrängt und endlich die Kontrolle übernommen zu haben. So schmunzelte er nur selbstzufrieden, anstatt dem Schwarzhaarigen irgendetwas zu erwidern. Aber halt, was sollte dieses Leuchten in Devlins Augen? Hatte er etwas vor und Seto ihn doch falsch eingeschätzt? In einem beinahe entspannten Plauderton hob Duke schließlich an: „Sag mal, Kaiba, was ich mich heute schon den ganzen Tag gefragt habe: War es einfach zu viel gute Laune für dich oder warum bist du heute so viel eher aus dem Schwimmbad raus?“ … Auf welche der Damen haben Sie denn ein Auge geworfen? … Die Frage traf Seto völlig unvorbereitet. Augenblicklich versteinerten sich seine Züge. Hatte er seinen Körper bis hierhin vollständig unter Kontrolle gehabt und seine aktuelle Disposition gegenüber Devlin beinahe vergessen, reichte offenbar allein schon die Erinnerung an den verhängnisvollen Satz und alles, was danach passiert war, aus, um dieselben Reaktionen bei ihm auszulösen wie heute Nachmittag: Sein Herzschlag beschleunigte sich, ein kribbelndes Gefühl ergriff seine Eingeweide und für den Bruchteil einer Sekunde drohte er sich in Devlins grünen, schalkhaft blitzenden Augen zu verlieren. Bevor es jedoch dazu kommen oder irgendjemandem auffallen konnte, stoppte er sich. Oh nein, so weit kam es noch, dass Devlin hier mit ihm spielte, wie eine Katze mit einem Wollknäuel! Wenn Hormone irgendwo nichts zu suchen hatten, dann auf dem Spielfeld. (Seto war sich zwar auch sonst keiner Situation bewusst, wo sie wirklich etwas zu suchen gehabt hätten, aber egal.) Hier ging es nicht um irgendwelche Gefühle und irritierende Körperreaktionen, sondern um Logik, Rationalität, Kontrolle – schlicht und ergreifend ums Gewinnen. So gab er nur frostig zurück: „Bist du wirklich so naiv zu glauben, du könntest mit dieser billigen Masche von deiner prekären Lage ablenken, Devlin? Außerdem wüsste ich nicht, was dich das angeht.“ Wie um alles in der Welt war Devlin nur auf die Idee gekommen, dass er ihn mit dieser Frage aus dem Konzept bringen könnte? (Und das zumindest für eine Millisekunde durchaus erfolgreich…) Ahnte er etwas? Vielleicht seit dem Zwischenfall in der U-Bahn? Nein, unmöglich. Wahrscheinlich war es einfach nur ein taktisch gut eingesetzter Bluff aufgrund einer simplen Beobachtung gewesen, wie er ihn selbst schon hunderte Male eingesetzt hatte. Dukes amüsiertes Schmunzeln wurde zu einem zufriedenen Lächeln, als er wie beiläufig einen Blick auf seine Würfel warf. „Du hast natürlich vollkommen recht, Kaiba, das tut es ganz und gar nicht. Aber wer von uns beiden hier in einer prekären Lage ist, das sollten wir gleich nochmal diskutieren.“ Sein Wurf war tatsächlich der Auftakt zu einem konsequenten Rückeroberungsfeldzug. Durch einen Zauber seines bereits zuvor beschworenen Magiers gelang es Duke mit einem Schlag, seine bereits besiegten Untoten wieder auf das Feld zurückzuholen. Mit einem von ihnen zerstörte er Setos angreifenden Krieger, der direkt vor seinem Dungeon Master gestanden hatte, und wehrte damit erfolgreich den drohenden Todesstoß ab. Wiederum feuerten seine Freunde den Schwarzhaarigen an, aber auch Dukes Mädchenfanclub zeigte nun sehr engagiert Initiative und belebte seine alten Cheerleader-Gesänge wieder. Seto rollte daraufhin nur mit den Augen. Zweifelsohne gab es auch mehr als genug weibliche Wesen in der Klasse, die auf seiner Seite waren – er war sich der Existenz seines eigenen Fanclubs leidlich bewusst – jedoch schienen sie es besser zu wissen, als zu wagen, ihn lauthals anzufeuern, noch dazu, wenn er gerade dabei war wieder ins Hintertreffen zu geraten. Nun, ganz richtig so, alles andere hätte vermutlich zu Todesopfern geführt. Seine eigenen Würfelwürfe brachten ihm fast ausschließlich Bewegungssymbole ohne großen akuten Nutzen, die er aber recht konsequent in seinem Würfelpool aufsparte. So wie die Dinge lagen, konnten sie später vielleicht einen spielentscheidenden Unterschied machen. Währenddessen marschierte der Schwarzhaarige mit seinen Untoten stückweise weiter nach vorne. Er hatte durch die letzten Dimensionierungen nun auch wieder einen neuen Zugang zu Setos Dungeon Master aufgebaut und zog Seto denn auch mit einem starken Zombie-Monster den zweiten Punkt ab. Wunderbar, dachte der Brünette, genau wie er es geplant hatte! „Sieht so aus, als hätten wir wieder Gleichstand.“, warf Duke mit einem verwegenen Grinsen ein und strich sich schwungvoll eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. (Allseitiges Schmachten seitens der Mädchen war die unmittelbare Folge.) Ein hämisches Lächeln stahl sich auf Setos Lippen. „Tja, nur schlecht für dich, Devlin, dass ich das durchaus einkalkuliert habe. Dein Angriff erlaubt mir mit meinem Fallen-Symbol eben eine solche zu aktivieren. Damit ist deine kleine Leiche leider vorerst kaltgestellt. Sie kann sich weder bewegen, noch angreifen oder verteidigen, bis die Falle deaktiviert wird.“ Zufrieden nahm er zur Kenntnis, wie Dukes Miene sich kurzzeitig verfinsterte. Allerdings verschwand der Eindruck so schnell wieder, wie er gekommen war – kein Wunder, das Spiel war ja auch alles andere als vorbei – im Gegenteil, jetzt wurde es eigentlich erst richtig spannend. Mittlerweile bestand die Zuschauertraube um ihren Tisch nicht mehr nur aus Dukes Freunden und Fans, sondern aus der gesamten Klasse. Selbst die notorischen Billard-Tisch-Besetzer ließen sich das Match nicht mehr länger entgehen. Mit seinem nächsten Wurf gelang es Seto, einen weiteren starken Level-4 Drachen zu beschwören, den er mit Hilfe seiner aufgesparten Bewegungssymbole (Er hatte es doch geahnt!) nun umso schneller in Richtung von Dukes Dungeon Master bewegen konnte. Der Schwarzhaarige versuchte sein Möglichstes, Setos Durchmarsch aufzuhalten, jedoch hatten seine vergleichsweise schwachen Untoten dem um einiges stärkeren Drachen wenig entgegenzusetzen und bedingt durch seine offensive Spielstrategie hatte er auch keinerlei Verteidigungssymbole in der Hinterhand. Als Duke die nächsten Würfel aus seinem Beutel zog, konnte er sich jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Zwei der drei Würfel waren schwarz, konnten also Sonderfertigkeiten oder Magie auslösen. Er warf sie und das Glück schien wieder auf seiner Seite zu sein. „Tja, Kaiba, leider ist deine kleine Falle jetzt Geschichte und mein Zombie wieder einsatzbereit! Hätte ich genug Angriffssymbole, wäre das Spiel jetzt schon vorbei, aber nun ja, so verzögert sich deine Niederlage eben noch um einen Zug nach hinten.“ „Ich wäre mir da an deiner Stelle nicht so sicher, Devlin! Ich bin jemand, der seine Chancen in der Regel sehr gut zu nutzen versteht.“, informierte Seto den Schwarzhaarigen nur nüchtern, bevor er ebenfalls drei Würfel warf. In der Folge setzte er alles ein, was er an Bewegungssymbolen noch aufgespart oder gerade bekommen hatte, um mit seinem Drachen bis direkt vor Dukes Dungeon Master zu ziehen. Allerdings hatte er damit nun auch seinen Würfel-Pool aufgebraucht und keine Möglichkeit mehr den finalen Schlag durchzuführen. Der Schwarzhaarige grinste nur. „Da ist deinem Drachen wohl auf dem letzten Meter die Puste ausgegangen, was? Sieht so aus, als hätten wir beide noch die Chance auf den Sieg.“ Die Spannung im Raum war jetzt geradezu mit Händen greifbar und alle Zuschauer hielten den Atem an. Kein Getuschel, keine Anfeuerungsrufe mehr, nur noch nervöses Schweigen. Tze, dachte Seto, es war ja fast schon peinlich, wie sehr Devlin die Aufmerksamkeit und den großen Auftritt zu genießen schien, fühlte der Schwarzhaarige sich doch bemüßigt, ihm und damit auch dem Publikum die Dramatik der Situation nochmals ganz klar zu vermitteln: „Damit entscheidet der nächste Wurf. Wenn ich jetzt noch ein Angriffssymbol würfle, hast du verloren, Kaiba.“ Nun, dieses Spiel beherrschte Seto ebenfalls. Noch war er immerhin nicht geschlagen. „In der Tat. Aber wenn nicht, bist du fällig, Devlin.“ Dukes Augenbrauen zuckten kurz nach oben, so als hätte er einen Einfall. „Was meinst du, spannen wir das Publikum nicht auf die Folter und würfeln einfach gleichzeitig?“ Man musste Devlin lassen, dass er wusste, wie man die Leute bei der Stange hielt. So nickte er einfach nur und zog wie auch Devlin die vermutlich letzten drei Würfel für diese Partie aus seinem Beutel. Keiner von ihnen warf einen Blick auf die Würfel in seiner Hand – die Zeit für ausgefeilte Strategien war ohnehin vorbei. Klackernd fielen die Würfel auf das Holz der Tischplatte und es dauerte einen Moment, bis alle zum Liegen gekommen waren. Sämtliche umstehenden Menschen beugten sich quasi gleichzeitig über den Tisch, um zu sehen, wer denn nun gewonnen hatte. Dukes Würfel zeigten kein einziges Angriffssymbol, Setos zwei. Der Schwarzhaarige schüttelte nur mit einem leisen, etwas bitteren Lachen den Kopf: „Es scheint wohl mein Schicksal zu sein, von Anfängern in meinem eigenen Spiel geschlagen zu werden.“ Seto lehnte sich indes zufrieden zurück. „Es scheint ganz so.“ „Danke Kaiba, ich hab lange keine so interessante Runde mehr gespielt.“, lächelte Duke und warf einen kurzen Blick auf sein Handy. „Für eine Revanche ist es wahrscheinlich schon etwas spät, aber vielleicht ja ein andermal.“ Seto sagte nichts, sondern nickte Duke nur noch einmal zu. Dann stand er auf und wandte sich zum Gehen, während sich nach und nach auch die restliche Klasse wieder im Raum verteilte und anderen Aktivitäten widmete. „Mann, ich dachte wirklich, du würdest es ihm so richtig zeigen!“, schmollte Joey enttäuscht. „Aber um ein Haar hätte es doch auch geklappt, Joey, jetzt sei mal nicht unfair!“, erwiderte Tea und fügte an Duke gewandt hinzu: „Es war super knapp und ihr habt es echt mega spannend gemacht! Du hättest den Sieg genauso verdient gehabt, Duke.“ Der begann währenddessen lächelnd, das Spiel wieder einzuräumen und unterhielt sich weiter angeregt mit seinen Freunden. Aus seiner Sicht war das Spiel trotz seiner Niederlage ein voller Erfolg gewesen. Es hatte Kaiba hoffentlich das volle Potential von Dungeon Dice Monsters gezeigt und würde es ihm ermöglichen die geplante Duel Disk nun besser auf das Spiel abzustimmen. Trotzdem würde er Kaiba natürlich später nochmals explizit nach seiner Meinung fragen und war mehr als gespannt auf die Antwort. Auf einmal erhöhte sich der Geräuschpegel im Raum signifikant, als etwa fünfzehn weitere Jugendliche schnatternd und kichernd den Gemeinschaftsraum betraten und sich abschätzend umsahen. „Wer sind die denn?“, fragte Tristan in die Runde. „Na, sollte nicht heute noch eine andere Klasse ankommen? Das werden sie wohl sein.“, konstatierte Ryou nüchtern. Joey lachte kurz auf und sah zu Duke. „Ach ja, stimmt! Die, die daran schuld sind, dass der arme Kerl hier es ganz ohne uns aushalten und seine Nächte alleine mit dem Eisklotz verbringen muss.“ Der Schwarzhaarige verdrehte angesichts dieses Statements nur die Augen. Er wusste, er könnte noch so oft sagen, dass es mit Kaiba an sich gar nicht so schlimm war, es würde durchs linke Ohr in Joeys Kopf hinein und direkt durchs rechte Ohr wieder hinaus gehen. Die Neuankömmlinge gingen zu den verschiedenen Regalen, hoben mit verächtlichem Blick ein paar Deckel der Brettspiele an und zogen achtlos ein paar der Bücher aus dem Regal, ohne sie wieder an ihren vorherigen Platz zu stellen. Ein etwas größerer Typ mit kurzen Haaren und blondierten Spitzen – offensichtlich der Meinungsführer der neuen Klasse – nörgelte für jeden gut hörbar: „Wow, Brettspiele und Bücher…wie lahm ist das denn?! Außer dem Billard-Tisch da gibt es ja echt nichts hier! Hätte ich das gewusst, hätte ich meinen Vater dieser Absteige vorher noch eine Bowling-Bahn oder einen Pool oder sowas spendieren lassen…und bessere Betten!“ Die Mädchen und Jungs um ihm herum kicherten demonstrativ und schienen ihm einstimmig recht zu geben. Schließlich gab er das Kommando, den Billard-Tisch zu sichern, worauf sie hingingen und die bisherige Billard-Gang der Domino High unsanft und wenig höflich verdrängten. Der Protest ihrer Mitschüler ließ angesichts dieser Behandlung natürlich nicht lange auf sich warten und Duke und die anderen beobachteten es mit wachsender Sorge. Es war auf einmal ziemlich ungemütlich geworden und irgendwie spürte Duke, dass Ärger in der Luft lag. Ein paar der Mädchen aus der neuen Klasse schoben einige Tische beiseite und stellten eine Boombox auf, aus der laut wummernde Elektro-Pop-Musik zu dröhnen begann, kaum, dass sie angeschaltet und mit dem nächstbesten Smartphone verbunden worden war. Schlecht sahen die Mädchen nicht aus und normalerweise wäre Duke einer der ersten gewesen, der hingegangen wäre und sich vorgestellt hätte, aber der Tag heute war lang gewesen und eigentlich hatte er jetzt nur noch ein wenig in Ruhe mit seinen Freunden quatschen und dann ins Bett gehen wollen. Die plötzliche Umwandlung des Gemeinschaftsraums in einen Club stieß offenbar nicht nur ihm, sondern auch anderen seiner Klassenkameraden sauer auf, die jedoch von den Mädchen nur ausgelacht wurden, als sie fragten, ob die Musik vielleicht etwas leiser gedreht werden könnte. Die plötzlich angestiegene Lautstärke nicht nur durch die Musik, sondern auch durch die zunehmend lauter ausgetragenen Konflikte der unterschiedlichen Schülergruppen, rief nur kurze Zeit später die Lehrkräfte auf den Plan. Frau Kobayashi kam herbeigeeilt und ließ sich schnell von Ginta, dem Klassensprecher, auf den aktuellen Stand der Erkenntnisse bringen. Kurz nach ihr betrat ein Herr mit ergrauter Halbglatze den Raum, vielleicht im selben Alter wie Frau Kobayashi, in einem weißen Hemd unter einem bunt gemusterten Pullunder und einer dicken Brille im Gesicht. Auch er ließ sich von einigen seiner Schüler einen Lagebericht geben. Schließlich ließ er die Boombox-Besitzerin das Gerät ausschalten, ging mit einem freundlichen Lächeln auf Frau Kobayashi zu und verbeugte sich kurz. „Guten Abend! Ich nehme an, Sie sind die Lehrerin der Klasse von der, äh… Domino High? Mein Name ist Takeda und ich bin der Klassenlehrer dieser jungen Leute. Wir sind gerade eben erst angekommen.“ Auch Frau Kobayashi begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und einer kurzen Verbeugung. „Herzlich willkommen, Takeda-san, mein Name ist Kobayashi und ich bin in der Tat für diese Klasse verantwortlich.“ „Sehr schön.“ Hier wandelte sich der Gesichtsausdruck von Herrn Takeda von bemüht freundlich zu nüchtern problematisch. „Nun, meine Liebe, Sie verstehen sicherlich, dass meinen Schülern die Reise noch etwas in den Knochen steckt und sie sich darum sehr freuen würden, wenn Ihre Schüler ihnen den Vortritt hier lassen würden. Immerhin hatten Ihre Schüler den Gemeinschaftsraum ja bereits die letzten Tage ganz für sich.“ Frau Kobayashis Lächeln wurde noch zuckersüßer, aber wer sie kannte, konnte sehen, dass es unter der Oberfläche nicht mehr ganz so freundlich aussah. „Oh, an sich natürlich sehr gerne, Takeda-san. Wenn ich aber ehrlich sein darf, dann bin ich der Meinung, dass Ihre Schüler meine Schüler auch einfach hätten zivilisiert fragen können, anstatt hier einzufallen, laut zu sein und Ärger zu machen.“ Herr Takeda zog erstaunt eine Augenbraue hoch und meinte, sich verhört zu haben: „Wollen Sie etwa behaupten, meine Schüler seien unzivilisiert?“ Frau Kobayashis Lächeln war nun geradezu giftig geworden. „Nun, wenn Sie so fragen: Ja, das will ich!“ Herr Takedas Stimme begann zu beben, als er protestierte: „Also hören Sie mal, Verehrteste, das verbitte ich mir! Wir kommen von einer der besten Privatschulen des Landes!“ „Na, das erklärt ja alles.“, murmelte Frau Kobayashi schnippisch und gerade so laut, dass der Lehrer jedes Wort verstehen konnte. Dabei verdrehte sie alles andere als dezent die Augen. Ihre Schüler wunderten sich indes gewaltig, hatten sie ihre Lehrerin doch so noch nie erlebt. Die Freunde um Yugi beobachteten die Auseinandersetzung mit einer Mischung aus Interesse und Besorgnis. Tristan flüsterte ihnen hinter vorgehaltener Hand zu: „Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin mir irgendwie nicht sicher, ob ich sie anfeuern soll oder nicht…“ Frau Kobayashis Einwurf brachte nun offenbar das Fass von Herrn Takeda zum Überlaufen: „Was soll das bitte heißen?!“ „Ganz einfach:“, erwiderte die Lehrerin mit verschränkten Armen, „Verwöhnte, reiche Teenies, die glauben, dass die Welt sich nur um sie dreht und sie sich alles einfach nehmen können!“ „Also da hört doch alles auf!“ Herr Takeda schäumte nun regelrecht vor Wut. „Das muss ich mir von der Lehrerin einer drittklassigen, öffentlichen Schule nicht bieten lassen!“ Frau Kobayashis Schüler sogen scharf die Luft ein, wussten sie doch ganz genau, wie ihre Lehrerin reagierte, wenn man die Qualität der Schule in Zweifel zog. In der Tat stemmte Frau Kobayashi entgeistert die Hände in die Hüften und plusterte sich regelrecht auf, mit ihrer bunt gemusterten Bluse einem wütenden Kanarienvogel nicht unähnlich. „Drittklassig?! Unsere Schule steht im besten Ruf und ich wette mit Ihnen, dass meine Schüler in Fähigkeiten und Benehmen nicht nur mit Ihren verzogenen Privatschülern mithalten können, sondern sie sogar noch übertreffen!“ „Sie wollen also behaupten, dass Ihre Schüler besser sind als meine?“, verlangte Herr Takeda mit erhobener Stimme zu wissen. „Und ob ich das will!“, schrie auch Frau Kobayashi regelrecht zurück. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber und funkelten sich wütend an. Beide Lehrer hatten jeweils eine Traube von Schülern um sich versammelt, die sich etwas ratlos ansahen und nicht recht zu wissen schienen, ob das wirklich war, was sie gewollt hatten, als sie die Lehrer ins Bild gesetzt hatten. Yugi fragte zu seinen Freunden gewandt: „Meint ihr nicht, wir sollten mal eingreifen, bevor die beiden sich gegenseitig an die Kehle gehen?“ Die anderen nickten. Der Kleine tippte Frau Kobayashi vorsichtig von hinten an die Schulter. „Ähm, Kobayashi-sensei, entschuldigen Sie, aber das lässt sich doch bestimmt anders klären…“ Weil sie wusste, dass das Wort bei der Lehrerin immer zog, fügte Tea noch hinzu: „Zivilisierter!“ Das schien in der Tat Wirkung zu zeigen und sie wieder zur Besinnung zu bringen. Verlegen rückte Frau Kobayashi ihre Brille zurecht und räusperte sich: „Sie haben natürlich vollkommen recht, Miss Gardner, Mr. Muto. Da ist es wohl etwas mit mir durchgegangen.“ Auch Herr Takeda schien sich wieder etwas beruhigt zu haben und schlug nun einen sachlicheren Ton an: „In Ordnung, ich mache Ihnen einen Vorschlag, Kobayashi-san. Wir sind in einer Olympia-Stadt. Warum veranstalten wir nicht einfach unsere eigenen kleinen Spiele? Ein Wettbewerb – meine Schüler gegen Ihre, in, sagen wir, … fünf verschiedenen zufällig bestimmten Disziplinen.“ Frau Kobayashi dachte einen Moment über den Vorschlag nach, bevor sie erwiderte: „Hm, gar keine schlechte Idee … Gerade heute haben wir uns mit den Olympischen Spielen beschäftigt. Also gut, wann?“ „Übermorgen?“ Wieder überlegte die Lehrerin kurz. „Nun, dann muss zwar unser Ausflug zu den Schlachtfeldern von Kawanakajima wegfallen, aber das bin ich bereit in Kauf zu nehmen, wenn ich es Ihnen dafür so richtig zeigen kann!“ Unbewusst schlug sie dabei ihre rechte Faust in ihre linke Hand. „Also meine Schüler, vielmehr.“, korrigierte sie sich und faltete schnell die Hände. Auch Herr Takeda nickte zufrieden. „Dann ist es also beschlossen.“ Die Lehrer hatten keinen Blick dafür, wie die Gesichter der Schüler auf beiden Seiten merklich länger geworden waren. Auf so etwas hatte wirklich niemand von ihnen Lust und nicht wenige hätten wohl gerne die Zeit zurück gedreht, um das verhängnisvolle Aufeinandertreffen ihrer Lehrkräfte zu verhindern – notfalls auch durch besseres Benehmen. Herr Takeda allerdings war schon vollkommen im Planungsmodus angekommen. „Ich schlage vor, dass die Schüler Disziplinen beitragen können. Am besten sammeln wir alle Vorschläge unserer Schüler jeweils in einer Liste, die wir beide – Sie und ich – übermorgen beim Frühstück konsolidieren. Dann schreiben wir alle validen Optionen auf kleine Zettel, werfen sie in ein Gefäß und ziehen daraus zufällig die zu absolvierenden Disziplinen.“ Frau Kobayashi nickte bedächtig. „Ja, ich denke, mit diesem Verfahren bin ich einverstanden. Erlaubt sein sollten meiner Ansicht nach:“, sie zählte die einzelnen Punkte an ihren Fingern ab, „Sportarten, Wissensdisziplinen, Spiele sowie künstlerische Aktivitäten. Wir wollen ja die Schüler umfassend gegeneinander antreten lassen. Hauptsache ist, es kann hier vor Ort ausgetragen werden. Sind Sie damit einverstanden?“ Mit diesen Worten streckte sie die Hand aus, um die Abmachung mit einem formellen Handschlag zu besiegeln. Herr Takeda schlug ein. „Ja!“ Wer genau hinsah, konnte sehen, dass beide so fest zudrückten, dass ihre Fingerknöchel beinahe weiß hervortraten. „Schön!“, lächelte Frau Kobayashi offensichtlich künstlich und schüttelte die Hand des Lehrers noch einmal kräftig. Auch Herr Takeda gab nur scheinbar freundlich zurück: „Schön!“ Als hätten sie sich verbrannt, ließen sie ihre Hände danach sofort los. Damit schien der Streit zumindest oberflächlich beendet, wenngleich die Spannung zwischen den beiden Lehrern noch immer in der Luft hing. Außerdem, so kamen die Schüler beiderseits nicht umhin zu bemerken, war damit das eigentliche Problem nicht wirklich gelöst worden. Einmal mehr wandte sich Yugi darum an die Klassenlehrerin: „Ähm, Kobayashi-sensei, und was machen wir jetzt mit dem Gemeinschaftsraum?“ Die winkte nur unwirsch ab und gab noch immer leicht aufgebracht zurück: „Ach, arrangieren Sie sich, aber fraternisieren Sie nicht zu sehr mit dem Gegner! Sie haben es ja gehört: Übermorgen gilt es, die Ehre unserer Schule zu verteidigen!“ Zögerlich antwortete Yugi nur: „Ähm…ja.“, und wandte sich dann mit einem Schulterzucken wieder seinen Freunden zu. Beide Lehrer stürmten beleidigt in entgegengesetzte Richtungen aus dem Gemeinschaftsraum, während die Schüler es in der Tat schafften, sich nicht zu sehr in die Quere zu kommen, während sie damit beschäftigt waren, schon einmal Disziplinen für den spontan einberufenen Wettbewerb zu sammeln. Die Freunde um Yugi warfen natürlich ihre Paradedisziplinen in den Ring: Duel Monsters, Dunegon Dice Monsters, Billard (denn nicht nur die Billard-Tisch-Gang, sondern auch Joey hielt sich nach wie vor für unübertroffen in dem Spiel), sowie gefühlt jede Sportart, die irgendjemand in der Klasse in seiner Freizeit häufiger ausübte oder im Sportunterricht besonders gut beherrschte. Schneller als erwartet rückte die Nachtruhe-Zeit heran, was die Lehrer dazu veranlasste, noch einmal in den Gemeinschaftsraum zu kommen und ihre Schüler ordnungsgemäß auf die Zimmer zu scheuchen, wobei beide peinlich genau darauf achteten, dass sämtliche Benimmregeln eingehalten wurden und sich ansonsten bestmöglich zu ignorieren. Als Duke zurück auf das Zimmer kam, saß Seto wieder mit dem Block auf dem Bett und überarbeitete seine bisherigen Pläne für die DDM-Duel Disk. Einmal selbst zu spielen war tatsächlich Gold wert gewesen und half ihm sehr dabei, die Entwürfe sinnvoll zu erweitern. Während Duke aus seiner Tasche sein Schlafshirt sowie seine Kleidung für morgen heraussuchte, warf er beiläufig und mit einem leisen Kichern in den Raum: „Mann, Kaiba, du hast ja keine Ahnung, was du im Gemeinschaftsraum verpasst hast, als du nach dem Spiel wieder nach oben bist.“ Guter Gott, wollte Devlin jetzt etwa Konversation betreiben oder Klatsch austauschen?! Mit ernstem Blick sah er von dem Block auf und den Schwarzhaarigen an. „Devlin, tu mir den Gefallen und geh nochmal ganz tief in dich: Bist du dir wirklich vollkommen sicher, dass es in irgendeiner Form relevant für mich ist, zu wissen, was da unten vorgefallen ist? Denn falls nicht, interessiert es mich wahrscheinlich tatsächlich nicht im Geringsten und du kannst dir deinen Atem sparen.“ Duke schnaubte nur belustigt, schüttelte den Kopf und machte sich auf ins Badezimmer. „Okay, vergiss, dass ich was gesagt habe.“ Seto nickte nur und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Block zu. Der Brünette saß noch im Bett, als Duke in seinem Schlafoutfit und mit seinen getragenen Klamotten in der Hand wieder aus dem Badezimmer kam, hatte allerdings die Arbeit für heute beendet und seine Nachttischlampe bereits ausgeschaltet. Als letzte Amtshandlung stellte er noch den Wecker eine halbe Stunde vor, da Frau Kobayashi für die morgige Wanderung ja eine frühere Aufbruchszeit angesetzt hatte. Der Schwarzhaarige beugte sich noch einmal über seine Tasche, räumte seine Sachen weg und schlüpfte anschließend ebenfalls unter seine Decke. Offenbar schien er nur auf einen ruhigen Moment wie diesen gewartet zu haben und sah erwartungsvoll zu Seto auf. „Und?“ Der verstand nicht ganz, worauf sein Gegenüber hinaus wollte. Dazu kam, dass der unverwandte Blick und die Nähe des Schwarzhaarigen schon wieder dazu führten, dass sein Körper akute Zeichen von Nervosität zeigte, wie Seto genervt feststellen musste – vermutlich ein Grund, warum seine Antwort im Ton etwas kühler ausfiel, als sie das vielleicht sonst getan hätte. „Und was? Wenn du in vollständigen Sätzen mit mir sprechen würdest, Devlin, könnte ich dir deine Frage vielleicht sogar beantworten!“ Duke seufzte darauf nur, rollte kurz mit den Augen und setzte sich ebenfalls noch einmal auf. „Für ein Genie bist du aber gerade nicht der Schnellste, Kaiba! Okay, ich versuche es mal anders, vielleicht bist du dann aus Gewohnheit ein wenig gesprächiger.“ Duke ballte seine rechte Hand zusammen und tat damit so, als würde er sich ein Mikrofon vor den Mund halten. „Mr. Kaiba, Sie haben vorhin Ihre erste Runde Dungeon Dice Monsters gespielt und triumphal gewonnen, wenn ich das so sagen darf. Wie lautet Ihr Urteil?“ Mit dieser Frage hielt er Seto das „Mikrofon“ vors Gesicht. Der Brünette schüttelte nur den Kopf. „Ich bitte dich, Devlin, mach dich nicht lächerlich!“ So etwas war kindisch und völlig unter seinem Niveau. Doch der Jüngere sah ihn noch immer auffordernd an und nun war es an Seto die Augen zu verdrehen. „Lass den Unsinn, Devlin!“, forderte er den Schwarzhaarigen noch einmal mahnend auf. Der blieb aber weiterhin beharrlich und seine grünen Augen blitzten Seto herausfordernd an. Mit einem Grinsen bohrte er weiter, sein Luft-Mikrofon noch immer auf Seto gerichtet. „Oh nein, glauben Sie nicht, dass Sie mir so leicht davon kommen, Mr. Kaiba! Wie fanden Sie das Spiel denn nun?“ Seto erwiderte seinen Blick abgeklärt und schnaubte einmal kurz. „Mir war gar nicht bewusst, wie penetrant du sein kannst!“ Der Jüngere lächelte darauf ein wenig anzüglich zurück. „Nur eine meiner vielen Qualitäten, Kaiba. Also?“ Seto seufzte und ergab sich schließlich. Devlin würde ja doch keine Ruhe geben, bis er nicht geantwortet hatte. „Es war gut. Eine gelungene Verbindung aus Glücks-, Strategie- und Taktik-Elementen. Sehr abwechslungsreich.“ Der Schwarzhaarige lächelte zufrieden, schien aber offensichtlich noch nicht ganz fertig zu sein. Er zog seine Mikrofon-Hand wieder zu sich und machte sich bereit für eine weitere Frage. Erneut stahl sich ein selbstsicheres und schelmisches Grinsen auf seine Lippen. „Jetzt, wo Sie einmal Dungeon Dice Monsters ausprobiert haben, Mr. Kaiba, und offenkundig auf den Geschmack gekommen sind, wollen Sie überhaupt jemals wieder Duel Monsters spielen?“ Diesmal konnte Seto ein Schmunzeln nicht unterdrücken. War Devlin wirklich so von sich überzeugt oder einfach nur unverschämt? Er schüttelte leicht den Kopf. „Das ist doch etwas völlig anderes!“ Das Grinsen des Schwarzhaarigen wurde nur noch breiter und er nickte. „Als Erfinder des Spiels sage ich: Danke, Kaiba! Damit bist du einer von leider viel zu wenigen Menschen, die richtigerweise erkannt haben, dass DDM eben nicht nur ein Duel Monsters mit Würfeln ist. Als Reporter sage ich: Weichen Sie nicht aus, Mr. Kaiba, beantworten Sie die Frage! Alle meine Pressekollegen sind ebenso neugierig wie ich.“ Seto musterte den jüngeren einige Sekunden lang intensiv (Jetzt war auch noch dieses kribbelnde Gefühl wieder da, verdammt!), bevor er antwortete: „Ich denke, so viel kann ich sagen: Ich werde wohl in nächster Zeit aus beruflichen Gründen häufiger Dungeon Dice Monsters spielen als Duel Monsters.“ Duke konnte nicht mehr anders als laut zu lachen. „Okay, damit bin ich für den Moment mehr als zufrieden. Und meine äußerst zahlreichen Pressekollegen auch.“ Seto konnte seinen Blick nicht von seinem Gegenüber lösen. Bereits zum wiederholten Male heute musste er erkennen, dass Devlins Lachen etwas in ihm auslöste, und zumindest in diesem akuten Moment konnte er es beim besten Willen nicht als negativ empfinden, so sehr der logisch-rationale Teil in ihm auch danach verlangen mochte. Nein, es hatte sich definitiv gelohnt, über seinen Schatten zu springen und auf dieses kindische, kleine Spiel einzugehen… Schließlich fand Duke ein wenig zur Ernsthaftigkeit zurück und sah Seto geradeheraus an. „Ohne Mist, Kaiba, es hat mir echt Spaß gemacht und es war mir eine Ehre gegen dich verlieren zu dürfen.“ Der Brünette nickte nur stumm; die grünen Augen seines Gegenübers hatten ihn schon wieder kurzzeitig vollkommen in ihren Bann gezogen. Er wollte etwas erwidern, aber es fiel ihm schwer. Irgendwie war das so eine typische Muto-Wir -haben-uns-alle-lieb-Aussage gewesen und er war beinahe ein bisschen enttäuscht darüber. Er hätte Devlin eigentlich immer für von sich überzeugter gehalten. Als hätte er es geahnt, setzte Duke nur wenige Sekunden später hinzu: „Außerdem war es ja mehr Glück, dass du gewonnen hast, Kaiba. Beim nächsten Mal ramme ich dich unangespitzt in den Boden.“ Ja, so in etwa hatte Seto sich das vorgestellt. Schmunzelnd konterte er: „Rede dir das nur ein, Devlin!“ „Es ist einfach eine Tatsache! Immerhin bin ich der Erfinder des Spiels und als solcher habe ich einen Ruf zu verteidigen.“, widersprach der Schwarzhaarige selbstbewusst. „Gute Nacht, Devlin!“, gab Seto mit einem kaum verhohlenen, amüsierten Unterton zurück, legte sich endlich hin und drehte sich mit einem letzten Kopfschütteln auf die rechte Seite, weg von dem Schwarzhaarigen. Niemand konnte behaupten, dass er kein Freund eines gepflegten Schlagabtausches war, aber so langsam war es doch spät geworden. Duke war beinahe ein wenig enttäuscht, doch auch er musste sich eingestehen, dass er mittlerweile ziemlich müde war. So schaltete er das Licht nun auf seiner Seite ebenfalls aus und ließ sich auf das Handtuch-bedeckte Kissen sinken. Für einen Moment beherrschte Stille den Raum, dann hörte er ein kurzes Husten seines Bettnachbarn. … Moment, täuschte er sich oder hatte er da wirklich gerade das Wort „Loser“ gehört? Seto wusste selbst nicht ganz, warum er sich dazu hatte hinreißen lassen. Hatte er sich nicht heute Nachmittag noch vorgenommen sich gegenüber Devlin um jeden Preis zusammenzunehmen? Vielleicht lag es an seiner Müdigkeit, in Verbindung mit dem kindischen, gespielten Interview und dem kleinen Schlagabtausch, dass ihm seine gewohnte Ernsthaftigkeit und Reife ein wenig abhanden gekommen waren. Als er das warme Lachen des Schwarzhaarigen neben sich vernahm, hinterfragte er es jedoch für den Moment nicht weiter. „Gute Nacht, Kaiba!“, hörte er Duke sanft und noch immer mit einem leichten Kichern in der Stimme durch die Dunkelheit erwidern. Ein kleines Lächeln stahl sich unwillkürlich auf Setos Lippen und zufrieden schloss er die Augen. Kapitel 11: Curious endeavours. (All out.) ------------------------------------------ Es war noch dunkel, als Duke das erste Mal wach wurde. Kurz aktivierte er sein Handy, um festzustellen, dass es gerade einmal drei Uhr morgens war. Mit einem leisen Seufzen ließ er sich zurück auf das Kissen fallen. In ungefähr drei Stunden würde Kaibas Wecker klingeln, also eigentlich genügend Zeit, um sich noch einmal herumzudrehen und weiter zu schlafen. Um ihn herum war es vollkommen still. … Bis auf die ganz leisen und gleichmäßigen Atemgeräusche rechts neben ihm. Sofort flammte die Neugier von vorletzter Nacht wieder in ihm auf. Das war seine Chance und er würde sie sich nicht entgehen lassen! Ganz langsam und vorsichtig drehte Duke sich auf die rechte Seite. Kaiba lag nicht mehr am äußersten Rand des Bettes (der absolute Maximalabstand hatte sich schon nach der ersten Nacht mehr oder weniger erledigt), sondern in fast schon unmittelbarer Nähe, vielleicht fünfzig Zentimeter von ihm entfernt und – er konnte sein Glück kaum fassen – tatsächlich mit dem Gesicht zu ihm gewandt. Ohne es zu merken unterdrückte Duke seinen eigenen Atem und lag da wie versteinert in der unbewussten Angst, jede noch so kleine Bewegung könnte den Brünetten wecken oder ihn veranlassen sich wegzudrehen. Seine Augen versuchten derweil im schwachen Licht des Mondes, das durch die Vorhänge drang, so viele Details zu erhaschen wie es nur ging: Kaibas Haare fielen ihm unordentlich ins Gesicht, das keine Spur seines über die Jahre so gut kultivierten, kalten und unnahbaren Ausdrucks erkennen ließ. Im Gegenteil, seine Augen waren sanft geschlossen und seine Züge vollkommen entspannt, beinahe friedlich. Zusammen mit dem gleichmäßigen Heben und Senken seiner Brust, das Duke in der Finsternis erahnen konnte, ging von der ganzen Szene eine unfassbar beruhigende Wirkung aus. Es war äußerst ungewohnt, den Brünetten so zu sehen, besonders auf jeden Fall und … schön, irgendwie. Eigentlich war es fast schon unglaublich: Dieser Anblick wurde ganz allein ihm zuteil! Duke biss sich sanft auf die Unterlippe, schüttelte leicht den Kopf und lächelte schließlich in sich hinein. Das hier war vermutlich ein einmaliger Moment und er wollte, nein, musste das einfach so lange wie möglich in sich aufnehmen. Nicht eine Sekunde wandte er seinen Blick von dem Schlafenden ab und für ein paar Minuten gelang es ihm tatsächlich, die Augen offen zu halten. Dann jedoch konnte er sich der Müdigkeit nicht länger erwehren und schlief mit einem warmen, wohligen Gefühl in der Brust wieder ein. Erst das Klimpergeräusch des Handyweckers ließ Duke das nächste Mal erwachen. Noch leicht verschlafen gähnte er und streckte sich kurz, blieb aber noch einen Moment auf dem Rücken liegen. Im Unterschied zu ihm schien Kaiba sofort komplett wach zu sein, streifte die Decke ab, setzte sich auf und stoppte den Wecker auf seinem Smartphone. Duke folgte aus dem Augenwinkel unauffällig jeder Bewegung des Brünetten, der mit dem Handy in der Hand und dem Rücken zu ihm gewandt auf der Bettkante sitzen blieb. Wie normal und menschlich Kaiba doch wirkte, wenn er so dasaß, in seinem T-Shirt und mit strubbeligen Haaren… Sicherlich konnte man sich ganz gut mit ihm verstehen, wenn er so wie gestern Abend mal etwas lockerer war. Vielleicht würden sich im Laufe der nächsten Tage ja noch mehr solcher Momente ergeben. Die Voraussetzungen waren jedenfalls da und Duke müsste lügen, wenn er behaupten würde, nicht neugierig zu sein. Kaiba war ein interessanter Mensch, das konnte niemand ernsthaft bestreiten und Duke hatte – vor allem, aber nicht erst – seit gestern definitiv Lust darauf bekommen, ihn besser kennen zu lernen. Mit einem Mal drehte sich der Brünette zu ihm um und sah ihn durchdringend an. Unwillkürlich fühlte er sich ertappt. Immer, wenn ihn diese blauen Augen so direkt und unmittelbar ansahen, erschien es Duke, als könne Kaiba Gedanken lesen oder zumindest instinktiv spüren, wenn über ihn nachgedacht wurde. Der Brünette seufzte einmal gedehnt und fragte sichtlich widerstrebend: „Devlin, so sehr ich die Tatsache verfluche, das fragen zu müssen, aber könntest du nachsehen, wie heute das Wetter werden soll?“ Der Angesprochene versuchte nach Kräften ein Grinsen zu unterdrücken und griff zu seinem eigenen Telefon. „Klar doch, Moment… Also: sonnig, ein bisschen Wind und maximal 18 Grad. Aber da wir ja noch ein Stück weiter in die Berge fahren, wahrscheinlich etwas kälter.“ Anstatt sich zu bedanken, nickte der Brünette nur, stand auf und suchte aus seinem Koffer die passende Kleidung heraus, bevor er sich wortlos in Richtung Badezimmer aufmachte. Versonnen sah Duke ihm nach, bis er die Tür hinter sich abgeschlossen hatte. Mit einem leisen Seufzen ließ sich der Schwarzhaarige noch einmal auf sein Kissen zurücksinken und starrte an die Decke. Wenn er so darüber nachdachte, hatte sich seine Wahrnehmung von Seto Kaiba in den letzten Tagen schon ziemlich verändert. Zum Teil war das durchaus logisch nachvollziehbar, wie beispielsweise die Tatsache, dass er sich auf einmal sehr für das Arbeitsverhalten des Brünetten interessierte, jetzt, wo er selbst davon profitierte; andere Aspekte erschienen ihm aber nach wie vor rätselhaft: seine unleugbare Schwäche für Kaibas Parfüm zum Beispiel, oder seine ungewöhnliche Nervosität, wenn er dem Brünetten näher kam. In der ersten Nacht mit ihm in diesem Bett aus der Hölle war das ja noch verständlich gewesen, aber dass der kurze Zusammenstoß in der U-Bahn gestern bei ihm noch so lange nachgewirkt hatte oder ihn der Anblick des schlafenden Kaiba letzte Nacht regelrecht … verzückt hatte (man musste es wohl ehrlicherweise so ausdrücken), ließ doch noch einige Fragen offen. Er würde das weiter im Auge behalten müssen… Schließlich setzte Duke den Grübeleien ein Ende, atmete noch einmal tief durch und erhob sich ebenfalls. Er war gerade dabei, Klamotten aus seiner Tasche herauszusuchen, als er hörte, wie die Badtür wieder entriegelt wurde und sah kurz auf, als Kaiba heraustrat. Offensichtlich hatte der Brünette seine Kleidung heute zumindest graduell dem Anlass angepasst und auf Hemd, Manschettenknöpfe und den edlen Kaschmirpullover verzichtet. Stattdessen hatte er eines seiner schlichten schwarzen Rollkragen-Shirts angezogen, wie er sie sonst auch unter seinem obligatorischen weißen Mantel zu tragen pflegte. Die schmal geschnittene, graue Jeans hatte er beibehalten; vermutlich hatte er effizient gepackt und gar keine andere Hose dabei (wie man es eben machte, wenn man Geschäftsreisen mit wenig Gepäck gewohnt war, wie Duke nur zu gut aus eigener Erfahrung wusste). Nachdem der Brünette seine Schlafsachen ordentlich zusammen- und auf seinen geöffneten Koffer gelegt hatte, setzte er sich noch einmal auf die Bettkante, um seine knöchelhohen, braunen Lederschuhe anzuziehen. Für einen Moment fragte Duke sich, ob das wirklich geeignete Schuhe für einen Wanderausflug waren, aber andererseits würden sie heute vermutlich auch nicht gerade bergsteigen und so, wie sie aussahen, waren die teuren, mutmaßlich handgefertigten, italienischen Herrenschuhe mit Sicherheit so bequem, dass man es problemlos einen ganzen Tag in ihnen aushalten konnte. Bevor Duke ebenfalls im Bad verschwand, um sich anzuziehen und fertig zu machen, kam er nicht umhin noch einmal zu bemerken, wie krass der Unterschied zwischen dem vollkommen entspannten Gesichtsausdruck des schlafenden Kaiba letzte Nacht und der kontrollierten, kühlen Maske war, die er im wachen Zustand zur Schau trug. Ob man Kaiba auch so mal dazu bringen konnte, sie fallen zu lassen – und sei es auch nur für einen kurzen Moment? Mit dem Dino-Block hatte er es ja schon einmal ansatzweise geschafft, ebenso wie gestern Abend mit seinem kleinen „Interview“. Hm, ihm blieben ja noch ein paar Tage, um es zu versuchen … und einer guten Herausforderung war er nur selten abgeneigt… Wie am Tag zuvor saß Kaiba bereits mit seinem Kaffee an einem Tisch im Speisesaal, als Duke zum Frühstück herunterkam. Von der lächelnden Küchenfrau bekam er am Tresen einen dampfenden Becher Kaffee in die Hand gedrückt (bei Kaiba hatte sie sicher nicht so geschaut), versorgte sich am Buffet mit etwas zu Essen und setzte sich schließlich zu seinen Freunden an den Tisch, wo erst einmal die üblichen Fragen zu den letzten Aktivitäten gestern Abend sowie der Qualität der Nachtruhe ausgetauscht wurden. Nachdem sie diese Themen weitestgehend abgeschlossen hatten, schob sich Joey einen großen Bissen in den Mund und blickte fragend zu Duke. „Fag mal, Duke, wie ifft eff denn…“ Tea entließ ein entrüstetes Schnauben und unterbrach ihn mit strenger Stimme: „Joey, meine Güte, könntest du bitte erst kauen und dann sprechen?! Ich hab keine Lust, dass die Hälfte deines vorgekauten Essens auf meiner Bluse landet! Manchmal glaube ich wirklich, selbst die elementarsten Grundregeln der Erziehung sind bei euch zum linken Ohr rein und zum rechten gleich wieder rausgekommen!“ „Hey, kein Grund zu Verallgemeinern!“, protestierte Tristan neben ihr entrüstet. Der Blonde wiederum verdrehte nur die Augen, gehorchte aber widerwillig und schluckte sein Essen hinunter („Jetzt zufrieden, Miss Knigge?“), bevor er seine Frage an Duke wiederholte: „Also nochmal, das wollte ich schon die ganze Zeit wissen: Wie ist denn nun eigentlich mit dem Eisklotz im gleichen Zimmer zu schlafen?“ Duke sah Joey leicht verdutzt an. Worauf wollte er denn damit nun wieder hinaus? Von dem Ehebett wussten seine Freunde nichts, das konnte es also immerhin schon mal nicht sein. Schließlich zuckte der Schwarzhaarige nur mit den Schultern und antwortete ganz nüchtern: „Wie soll es schon sein? Er schläft, ich schlafe. Punkt.“ Joey verdrehte die Augen. „Ja, aber macht er merkwürdige Sachen? Schnarcht er? Redet er im Schlaf oder sowas?“ „Nein.“ Aha, daher wehte also der Wind. Genau wie er es schon in den letzten Tagen vermutet hatte: Der „Spionage-Auftrag“ war für Joey natürlich wesentlich mehr als der bloße Running Gag, als der er ihn versucht hatte zu tarnen. „Okay. Schade.“, schmollte Joey, „Aber du versprichst mir, dass du mir sagst, wenn was spannendes passiert?“ Duke seufzte ergeben. „Wenn Dinge geschehen sollten, von denen ich meine, dass sie für deine Zwecke geeignet sind, dann werde ich es dir schon sagen.“ Der Blonde nickte zufrieden und schien für den Moment wieder glücklich zu sein. Sehr schön, dachte Duke, das war salomonisch genug gewesen, um Joey nicht zu enttäuschen, beließ aber die Abwägung darüber, welche Informationen über Kaiba „geeignet“ waren, immer noch bei ihm selbst. Trotzdem hoffte er inständig, dass es nicht zu weiteren Situationen kommen würde, die ihn vor diese Entscheidung stellen würden, denn wie er bereits gestern ansatzweise gemerkt hatte, brachten sie ein enormes Potential mit sich, es sich mit sämtlichen beteiligten Parteien zu verscherzen. (Und zumindest mit einer der beiden Parteien konnte er sich das im Moment absolut nicht leisten.) Etwa eine halbe Stunde später hatten sich alle Schüler vor der Herberge eingefunden und warteten darauf, in den Bus steigen zu dürfen, der sie zum Startpunkt der Wanderung bringen würde. Als das Fahrzeug auf dem Vorplatz zum Stillstand gekommen war, öffneten sich die Türen und nach und nach schoben sich die Schüler hinein. Duke folgte seinen Freunden, die sich wie schon auf der Hinfahrt zielstrebig auf die Rückbank zubewegten. Diesmal blieb dort jedoch kein Platz für ihn frei, sodass er sich gemeinsam mit Tea eine Reihe weiter vorne niederließ und – Gentleman, der er war – natürlich der Dame den Fensterplatz überließ. Gemeinsam mit Tea unterhielt er sich nach hinten gewandt mit den anderen, während der Bus langsam anfuhr und vom Vorplatz der Herberge rollte. Der Busfahrer machte eine kurze Ansage, die er vermutlich als einziger für furchtbar witzig und einfallsreich hielt und die in der Hauptsache die Aufforderung zum Inhalt hatte, dass alle sich anschnallen sollten, und die Fahrzeit etwas mehr als eine anderthalbe Stunde betragen würde. Als ihr Gespräch nach etwa zwanzig Minuten Fahrt zum ersten Mal verebbt war, ließ Duke seinen Blick gelangweilt durch den Bus schweifen. Dabei kam er nicht umhin festzustellen, dass sein Gangplatz auch gewisse Vorzüge hatte, denn in der Reihe direkt vor ihnen hatte sich Kaiba auf dem Fensterplatz niedergelassen; auf dem Sitz neben ihm ruhten lediglich seine Tasche und sein Mantel. Durch den Spalt zwischen den Sitzen erhaschte Duke, wie der Brünette seine Tasche öffnete und mit gezieltem Griff den Block und den Stift herauszog. Sofort fokussierte sich Dukes ganze Aufmerksamkeit nur noch auf das Geschehen vor ihm. Das war ja noch besser als gestern in der U-Bahn! Mit etwas Glück würde er gleich endlich einen ersten Blick auf die Duel-Disk-Pläne werfen können! Konzentriert folgte er jeder Handbewegung des Brünetten, um ja nichts zu verpassen: Kaiba drückte mit dem Daumen zwei Mal auf den Kopf des Druckbleistiftes, um die Mine freizugeben, öffnete dann den Block und blättere einige Seiten um; zu Dukes Leidwesen jedoch so schnell, dass er nichts als ein paar wirre Bleistiftstriche hatte erkennen können. Schließlich schien Kaiba die nächste leere Seite gefunden zu haben. Er warf noch einmal einen prüfenden Blick auf das gegenüberliegende Blatt, wo sich offenbar bereits eine beschriftete Zeichnung befand. So wie der Brünette den Block hielt, konnte Duke sie allerdings von seinem Platz aus nicht wirklich erkennen. Wenn er nur etwas weiter nach rechts … So dezent wie möglich versuchte er seinen Kopf zu recken, um einen besseren Winkel zu bekommen. Ach Mist, das reichte nicht! Bemüht unauffällig rückte er etwas näher zu Tea, aber immer noch konnte er nur das untere Viertel der bereits gefüllten Seite in dem Dino-Block sehen. Neugier und Vorsicht stritten in ihm um die Vorherrschaft und schließlich gewann erstere die Oberhand. Stück für Stück lehnte Duke sich immer weiter nach rechts, sodass sein Kopf am Ende beinahe auf Teas Schulter lag. Da! Jetzt konnte er mehr sehen! Das war ganz klar eine … „Duke, was um alles in der Welt soll das werden, wenn es fertig ist?!“, riss ihn Teas verwunderte Stimme ruckartig aus dem kurzen Rausch seines Erfolges. Verdammt, natürlich hatte Kaiba das auch gehört! Blitzschnell schloss der Brünette den Block ein Stück und hielt ihn enger vor sich, fuhr herum und sah mit tödlichem Blick zwischen den Sitzen hindurch zu ihm nach hinten. Mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen zuckte der gewissermaßen auf frischer Tat Ertappte nur mit den Schultern. Was sollte er denn machen, er konnte nun einmal nicht anders! Immerhin war es praktisch sein bisheriges Lebenswerk (Nein, das war ganz und gar nicht übertrieben!), mit dem sich Kaiba da so intensiv beschäftigte. Was war er auch für ein absoluter Dilettant! 007 hätte sich gewiss nicht so dämlich angestellt und sich von seiner Neugier überwältigen lassen. Entgegen seiner Vorsätze schaffte er es in den letzten Tagen aber auch wirklich immer wieder, mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit dem Menschen auf die Nerven zu fallen, von dem im Moment der größte Teil seiner geschäftlichen Zukunft als Spieleentwickler abhing. Am liebsten hätte Duke einmal schwer geseufzt, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. Als Reaktion auf seine entschuldigende Geste rollte Kaiba nur genervt mit den Augen, sah Duke schräg durch die Sitze hindurch noch einmal durchdringend an und schüttelte verständnislos tadelnd den Kopf. Aber halt! War es Einbildung oder hatten Kaibas Augen dabei tatsächlich kurz amüsiert aufgeblitzt? Hm, es war zwar mehr ein Gefühl, aber Duke war sich mit einem Mal ziemlich sicher, dass der Brünette ihm nicht wirklich böse war. So lächelte er noch einmal leicht verschmitzt zurück, bevor Kaiba sich wieder umdrehte und in einer veränderten Haltung, die ihm mehr Privatsphäre verhieß, weiter zeichnete. Nicht, dass Duke jetzt noch ernsthaft versucht hätte, weiter zu spionieren – zumal er Joeys sensationshungrigen Blick regelrecht in seinem Rücken spüren konnte, was ihn zusätzlich alarmierte. Nach knapp zwei Stunden Fahrt kam der Bus endlich auf einem gut ausgebauten Parkplatz zum Stehen. Als alle ausgestiegen waren und sich im Halbkreis um sie versammelt hatten, begann Frau Kobayashi mit einer kleinen Einführung: „Meine Damen und Herren, wir durchwandern heute das berühmte Kamikochi-Gebiet. Die meiste Zeit werden wir am Fluss entlanglaufen, dabei mehrere wunderschöne, alte Brücken überqueren und großartige Ausblicke auf die Berge und die einzigartige Natur erleben. Um die Mittagszeit kehren wir in einer Gaststätte ein und wandern dann am Nachmittag wieder hier her zurück. Ich hoffe, Sie genießen die gute Luft und die Stille als willkommene Abwechslung zu der urbanen Hektik, der Sie normalerweise ausgesetzt sind. Und wie immer gilt: bleiben Sie zivilisiert und verhalten Sie sich ruhig! Es gibt hier eine Menge seltener Tiere und die wollen wir doch nicht stören, oder? Also dann, auf geht’s!“ Voller Energie schritt sie voran und die Schüler folgten ihr gemächlich, einige mehr, einige weniger motiviert. Joey gehörte definitiv der letzteren Gruppe an. „Hat sie vor dem Trip den Reiseführer aufgegessen oder warum klingt sie die ganze Zeit wie ein wandelndes Werbeprospekt?!“ Yugi unternahm einen zaghaften Versuch seinen Freund aufzumuntern: „Joey, jetzt hab’ dich doch mal nicht so. Es wird bestimmt schön!“ Tea zeigte nach vorn und fügte hinzu: „Ja, sieh mal, da hinten kommt ein echt toller See!“ Joey schien diese Aussicht nicht in gleichem Maße zu begeistern. „Der See wäre an sich ja ganz wunderbar, aber ihr habt eine ganz entscheidende Tatsache vergessen, Leute: Es ist Mitte Oktober und hier oben ist es arschkalt und windig, sodass man leider nicht schwimmen kann. Und selbst wenn 32 Grad im Schatten wären, würde Frau Lonely Planet da vorne sicherlich trotzdem einfach nur drumrum laufen, anstatt uns da reinhüpfen zu lassen. Wir könnten ja womöglich Spaß haben!“ Tristan versuchte gar nicht erst weiter, seinen Freund zu überzeugen und riet auch den anderen: „Leute, vergesst es, es hat doch keinen Zweck! Joey wird sich so oder so den ganzen Tag beschweren und wenn wir nicht bald aufhören dagegen anzureden, wird es nur noch schlimmer.“ Der Blonde konterte das wortlos mit herausgestreckter Zunge und Mittelfinger, was Duke nur grinsend kommentierte: „Aber Joey, was sind das denn für Manieren? Du hast doch Kobayashi-sensei gehört: Bleib bitte zivilisiert!“ Auch die anderen lachten, während der Blonde ihn oder vielmehr die Lehrerin zur Erwiderung nachäffte: „Bitte bleiben Sie zivilisiert! Ja, Zivilisation hätte ich jetzt wirklich gern! Eine Spielhalle, ein Kino oder Netflix oder so…“ Seine Freunde seufzten nur und schüttelten die Köpfe, doch Joey ließ nicht locker: „Ach, kommt schon, Leute! Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass euch das hier Spaß macht?!“ Die Diskussion setzte sich noch eine Weile so fort und driftete schließlich weiter zu anderen Themen, während sie am Seeufer entlangliefen, danach eine alte Holzbrücke überquerten und auf einen Naturwanderpfad abbogen. Extra dafür gebaute Holzstege führten sie durch dichten Wald, bis die Bäume schließlich zum ersten Mal einer Lichtung und einem weiten Ausblick auf die umliegenden, schneebedeckten Berge Platz machten. Frau Kobayashi nahm das zum Anlass für einen kurzen Halt, erläuterte, dass es sich um das Hotake-Gebirge handelte und warf mit ein paar Namen einzelner Berge und deren Höhenangaben um sich. Als sie sich nach dem Stopp wieder in Bewegung gesetzt hatten, wurde Duke auf einmal praktisch hinterrücks von Tea am Jackenärmel gegriffen und ein Stück zur Seite gezogen. Irritiert blickte er sie an, während sie sich etwas mehr zu ihm hinüber beugte und in einem verschwörerischen Flüsterton erkundigte: „Sag mal, was war das eigentlich vorhin im Bus für eine Aktion mit Kaiba? Warum wolltest du so dringend sehen, an was er da arbeitet?“ Duke war sofort alarmiert und wollte schon zu einer Antwort ansetzen, aber Tea sprach weiter: „Wenn das wegen Joeys bescheuerter Spionage-Masche war, dann muss ich dich doch hoffentlich nicht darauf hinweisen, dass solche Aktionen von ihm selten zu einem guten Ende führen, oder?“ In seiner Erleichterung über ihre Theorie lachte Duke kurz auf. „Keine Angst, Tea, das ist mir schon bewusst. Es… war auch nicht wirklich ernst gemeint, ich … wollte nur, dass Joey sieht, dass ich mich wirklich anstrenge“, er machte kleine Gänsefüßchen in die Luft, „und dass ich ganz auf seiner Seite bin.“ Tea nickte und atmete auf: „Na, dann ist ja gut. Ich dachte schon kurz…“ „Nein, nein, mach dir mal keine Gedanken!“, beruhigte er sie, „Ich hab alles im Griff! Wir müssen einfach nur vermeiden, dass Joey irgendwie enttäuscht wird, weil ich ihm nichts spannendes berichten kann, und er womöglich noch auf die Idee kommt, zu drastischeren Mitteln zu greifen.“ „Absolut. Aber irgendwie sehe ich es trotzdem kommen, dass am Ende wieder alles aus dem Ruder läuft. Es ist immer noch Joey.“ Duke schüttelte den Kopf und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter: „Das werden wir schon zu verhindern wissen.“ „Ja, wahrscheinlich hast du recht.“, seufzte Tea und lächelte noch einmal zaghaft, bevor sie sich unauffällig an ein paar Mitschülern vorbei zurück zu den anderen schoben. Puh, das war ja gerade nochmal gut gegangen! Man konnte sagen, was man wollte, aber in den letzten paar Tagen war er ein regelrechter Profi im Sich-aus-der-Affäre-Ziehen geworden. Nichtsdestotrotz führte kein Weg daran vorbei, dass er vorsichtiger in seinen Interaktionen mit Kaiba sein musste – und sich langsam anstrengen musste, den Überblick über all die Halbwahrheiten zu behalten, die er seinen Freunden auf dieser Klassenfahrt schon aufgetischt hatte. Seto war anfangs durchaus skeptisch gewesen. Als der Bus zum Stehen gekommen war und er den Block schließen und wegpacken hatte müssen, war er nicht umhin gekommen zu denken, dass das der Beginn eines weiteren verlorenen Vormittags war. Es würde noch mindestens bis zum Mittagessen dauern, bis er wieder arbeiten konnte und einmal mehr spürte er dieses ungewohnte und unangenehme Gefühl in sich aufsteigen: Unsicherheit. Auf seine Arbeit zu verzichten – gezwungenermaßen oder nicht – war nach wie vor weitgehend unbekanntes Terrain für ihn und ehrlicherweise musste er zugeben, dass er in diesen Situationen nicht recht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Besonders, wenn er sich, wie jetzt auf dieser Wanderung, noch nicht einmal anderweitig beschäftigen oder durch pausenloses, uninteressantes Geschwafel von Frau Kobayashi ablenken lassen konnte. Wie mittlerweile fast schon üblich lief Seto allein und mit gebührendem Abstand ganz am Ende der Kolonne, wo die Gespräche seiner Mitschüler nurmehr entferntes Gemurmel waren und ihn nicht weiter stören konnten. Wenn man einmal von der alles in allem minderwertigen Gesellschaft und der gesammelten Irrelevanz ihrer meist viel zu lauten Unterhaltungen absah, dann war es hier wider Erwarten durchaus auszuhalten. Die Herbstfarben in den Bäumen, die Spiegelung des Sonnenlichts auf dem See, das Rauschen des Flusses und das des Windes in den Blättern, das Zwitschern der Vögel… Solche Eindrücke hatte er schon sehr lange nicht mehr in dieser Klarheit wahrgenommen und sie lösten ein merkwürdig vertrautes Gefühl in ihm aus, das er sich nicht recht erklären konnte. Er atmete einmal tief durch. Vielleicht war es ja das gewesen, was Mokuba gemeint hatte mit dem „Herauskommen“ und „etwas anderes Sehen“. Denn eines war nicht von der Hand zu weisen: Mit seiner sonstigen Lebensrealität (in der „urbanen Hektik“, wie Frau Kobayashi es ausgedrückt hatte), hatte das hier im Grunde überhaupt nichts mehr gemein. Wann genau war er eigentlich zum letzten Mal draußen gewesen? Und das nicht nur in einer seiner experimentellen, virtuellen Welten, sondern wirklich in der freien Natur, ohne Hochhäuser, Autos und Straßenlärm um sich? Hm, er wusste es nicht zu sagen. Wenn er es genau betrachtete, dann verbrachte er selbst auf seinen Geschäftsreisen seine Zeit immer nur in Hotels, wechselnden Büros und Konferenzräumen, die, wenn man mal ehrlich war, im Grunde allesamt überall gleich aussahen – ob in Domino, New York, London oder sonst irgendwo. Seto mochte es nur ungern zugeben, aber die Abwechslung war tatsächlich ganz angenehm. „Was ist das denn für ein abgebrochener Pfadfinder?“, durchbrach Wheelers nervtötende Stimme seine ungewohnt versöhnlichen Gedanken. Frau Kobayashi hatte vor einem Denkmal mit Erklärungstafel Halt gemacht, das am Weg in die Felsen eingelassen worden war. „Das, Mr. Wheeler, ist Walter Weston, ein Pionier des modernen Bergsteigens hier in Japan. Ohne ihn hätte wahrscheinlich bis heute noch kaum jemand die Gipfel dieser wundervollen Berge bestiegen!“, erläuterte die Lehrerin mit säuerlichem Unterton, ob Joeys so unverhohlen zur Schau gestellten Desinteresses. Der verdrehte nur die Augen und zu seinen Freunden gewandt kommentierte er leise: „Also der ist an allem schuld, ja?“ „Joey!“, ermahnte ihn Tea, während Yugi, Duke und Ryou über die Bemerkung und Joeys unreifen Protest nur lächelnd den Kopf schüttelten. Seto ließ diese Gelegenheit für einen hämischen Kommentar ungenutzt verstreichen, fehlte ihm doch im Moment jeglicher Sinn für solche Kindereien. Das seltsame Gefühl von Vertrautheit manifestierte sich auf dem weiteren Weg immer stärker und nahm fast seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Irgendetwas an dieser ganzen Sache hier kam ihm bekannt vor und schien etwas in ihm zu rühren, aber er konnte einfach nicht mit dem Finger darauf zeigen, was das war. Ganz entgegen seiner sonst so rationalen Grundeinstellung spürte er jedoch mehr, als er wusste, dass es … nicht gut war. Die Ursache dieses intuitiven Gefühls wiederum war ihm ebenfalls vollkommen schleierhaft. Auf jeden Fall, so konstatierte er, ließ sich langsam ein psychologisches Muster erkennen, das ihm nicht im Geringsten zusagte: Kaum konnte er auf dieser Fahrt nicht arbeiten, regten sich merkwürdige Gedanken und Gefühle in ihm, von denen er eigentlich gehofft hatte, sie niemals haben zu müssen. Erst die ganze Sache mit Devlin gestern; jetzt das hier. Beim Gedanken an den Schwarzhaarigen wanderte Setos Blick unwillkürlich durch die Reihen der anderen Schüler nach vorne. Gerade waren sie an einer großen Hängebrücke angekommen, die Frau Kobayashi noch nicht toterklärt hatte. Devlin lief mit dem Rest des Kindergartens ein ganzes Stück weiter vorne und blieb etwa in der Mitte der Brücke kurz stehen. Er beugte sich über das Geländer auf der rechten Seite und blickte sanft lächelnd auf den rauschenden Fluss hinunter. Einen Moment später hob er den Kopf, schloss die Augen und ließ sich genussvoll die Sonne ins Gesicht scheinen, während der Wind seine schwarz glänzenden Haare sanft um sein Gesicht wirbelte. Erst nach einigen Sekunden wurde Seto gewahr, dass er Devlin schon wieder anstarrte wie der letzte Idiot und schnell riss er sich wieder zusammen. Himmel, das war ja unmöglich! Da alle vor ihm gegangen waren, hatte hoffentlich niemand seinen kurzen Ausfall bemerkt. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er sich endlich wieder irgendwo hinsetzen und arbeiten konnte! Kapitel 12: Caught off guard. (In more than one way.) ----------------------------------------------------- Als alle ihre Schüler auf der anderen Seite der Brücke angekommen waren, hielt Frau Kobayashi natürlich doch noch einmal an, um zu erklären, dass es sich um die berühmte Kappa-Bashi-Hängebrücke gehandelt hatte, und gab einen für den Geschmack der Schüler viel zu umfangreichen Abriss der Geschichte des Bauwerks. Da es bereits Mittagszeit war, lotste sie die Schüler im Anschluss in eines der Restaurants auf dieser Seite der Brücke, wo für sie einige Tische reserviert sowie ein einheitliches Mittagessen für alle bestellt worden waren. In dem Gasthaus wartete Seto einen Moment ab, wie sich seine Mitschüler verteilten und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass ein Tisch übrig geblieben war, an dem er sich alleine niederließ. Gottseidank, endlich ein konstanter Aufenthaltsort und eine feste Unterlage! Sofort holte er den Block aus seiner Tasche, schlug ihn auf und korrigierte, beschriftete und erweiterte die neue Zeichnung, die er im Bus begonnen hatte. Die wenige Zeit hier wollte bestmöglich genutzt werden, musste er danach doch noch einmal bis zur Rückfahrt mehrere Stunden ohne sinnvolle Beschäftigung aushalten. An diesem Punkt gelangte er zu der leicht bitteren Selbsterkenntnis, dass diese unzulängliche und der eigentlichen Qualität des Projekts vollkommen unangemessene Art von Arbeit der letzte Strohhalm war, an dem er sich momentan geradezu verzweifelt festzuhalten versuchte. Aber egal, das wusste ja niemand außer ihm selbst. Hauptsache, er musste sich für ein paar Minuten nicht mehr mit seltsamen, plötzlich aufwallenden Gefühlen und den hormonellen Verirrungen seines Körpers herumschlagen, sondern konnte seine Aufmerksamkeit in eine produktivere Richtung lenken. Wie üblich versank der Brünette sehr schnell in einer tiefen Konzentration, sodass sich der Kellner mehrmals räuspern musste, um sich bemerkbar zu machen und das Mittagessen vor Seto abzustellen. Als der dampfende Teller mit Nudeln vor ihm stand, entfuhr dem Brünetten lediglich ein gereiztes Schnauben. Musste das denn jetzt sein? Er war gerade mitten in einer sehr zentralen Überlegung zum Handling der DDM-Würfel gewesen. Das konnte und wollte er eigentlich nicht unterbrechen, wusste aber gleichwohl, dass die Essenszeit begrenzt und sein Körper nun einmal auch auf dieses notwendige Übel angewiesen war (wie er ihm auch deutlich zu verstehen gab); zumal er heute bereits beim Frühstück in alte Gewohnheiten zurückgefallen war und nur seinen Kaffee getrunken hatte. Was also tun? Seto entschied sich nach kurzer Überlegung für den pragmatischen Mittelweg: Er schob den Teller etwas weiter nach links, sodass direkt vor ihm wieder Platz für den Block war, führte sich hin und wieder abwesend mit der linken Hand ein paar Nudeln zum Mund – vorsichtig und sehr darauf bedacht, nicht auf das Papier zu kleckern –, während seine rechte Hand mit dem Stift bewaffnet blieb und weiter an den Zeichnungen arbeitete. Es war vielleicht nicht unbedingt die schönste und manierlichste Art zu essen und normalerweise hätte er ein solches Verhalten nicht bei sich und erst recht nicht bei seinem kleinen Bruder geduldet, aber abgesehen von ihm und seinen Klassenkameraden war das Restaurant um diese Zeit unter der Woche glücklicherweise leer, sodass es im Grunde niemand wichtiges sah. Und hatte er schon erwähnt, dass er verzweifelt war? Nach einer knappen halben Stunde räumten die Kellner allseits leere oder fast leere Teller wieder ab; einzig der von Seto war noch halb voll, was ihm aber herzlich egal war. „Oh Mann, wie kann dieser verwöhnte Geldsack die Hälfte zurückgehen lassen? Ich wäre dankbar, wenn ich das noch hätte haben können. Ich bin noch nicht mal ansatzweise satt!“, jammerte Joey am anderen Tisch. „Du hättest ja hingehen und fragen können.“, erwiderte Ryou nüchtern. Joey widersprach: „Um mir dann irgendeine dämliche Bemerkung über ‚Hundefutter‘ oder so was anzuhören? Nein danke, das kann ich mir sparen! …Was macht er da eigentlich die ganze Zeit?“ Tristan sah auch noch einmal kurz hinüber zu Kaiba und zuckte nur mit den Schultern. „Naja, hat er doch gestern gesagt: Er arbeitet.“ Joey verzog darauf nur das Gesicht. „Ja, aber woran? Und warum in so einem komischen Block? Weil er keinen Laptop hat, schon klar, aber warum so ein Block? Im Museumsshop gab es doch auch andere viel…kaiba-igere Sachen. Hat eigentlich irgendjemand gesehen, wann er da rein ist und den gekauft haben soll?“ Alle schüttelten den Kopf. Dann weiteten sich Joeys Augen und er blickte zu Duke. „Weißt du was darüber? Du bist doch die ganze Zeit mit ihm im Zimmer…und du hast vorhin im Bus ganz klar versucht zu schauen, was er da austüftelt…by the way:“, er schnippte einmal und zeigte dann grinsend mit dem Finger auf Duke, „Ich weiß das wirklich zu schätzen, Mann!“ Der Angesprochene lächelte verlegen, ob der zweifelhaften Wertschätzung und der beängstigenden Treffsicherheit, mit der Joey genau die Gedanken laut ausgesprochen hatte, die er gestern während des Streits mit Kaiba vor dem Schwimmbad befürchtet hatte. Zum Glück schien der Blonde aber nicht im entferntesten zu ahnen, was wirklich dahinter steckte, oder Duke damit in irgendeinen tieferen Zusammenhang zu bringen. So gab auch der Schwarzhaarige sich erst einmal ahnungslos: „Sorry, ich hab leider auch keinen blassen Schimmer. Es ist ja nun nicht so, als wäre Kaiba auf einmal total freimütig und offen, sobald wir alleine im Zimmer sind. Und vorhin im Bus ist Tea dazwischen gegrätscht, gerade als ich was hätte sehen können.“ Sofort wandte der Blonde seinen Blick vorwurfsvoll zu Tea, die wiederum Duke ansah, als wolle sie sagen: ‚Ernsthaft, jetzt bin ich schuld?‘ Fast schon flehentlich erwiderte Duke ihren Blick und hoffte inständig, dass sie mitspielen möge. Schließlich verdrehte sie genervt die Augen. „Oh, es tut mir ja so leid, dass ich eure bescheuerte kleine Schnüffelaktion torpediert habe! Ich werde in Zukunft versuchen, euch nicht mehr bei euren Spionagemissionen in die Quere zu kommen!“, fauchte sie mit unverhohlenem Sarkasmus in der Stimme in Richtung Joey. In der Zwischenzeit hatte Frau Kobayashi das Zeichen zum Aufbruch gegeben, sodass auch Duke und die anderen sich erhoben, ihre Rucksäcke und Taschen aufsetzten und sich daran machten, das Restaurant zu verlassen. Als die anderen Jungs sich bereits abgewandt hatten, um hinauszugehen, sah Duke Tea noch einmal tief in die Augen und formte mit den Lippen das Wort ‚Danke!‘ Sie schüttelte nur den Kopf und seufzte einmal tief. Dann jedoch legte sich ein verständnisvolles Lächeln auf ihre Lippen, sie hakte sich kurzerhand bei ihm ein und gemeinsam traten sie hinaus ins Freie. Nach dem Mittagessen überquerten sie die Brücke erneut, um auf den Wanderweg zurückzukehren. Immer wieder führte der Flusslauf sie durch Wälder, wo er über Steine in kleinen Wasserfällen nach unten plätscherte, manchmal aus ihrem Blickfeld verschwand, nur, um dann umso beeindruckender und schöner wieder in Erscheinung zu treten. Vögel huschten aufgeregt durch die Blätter in den Baumwipfeln und hin und wieder knackte es im Unterholz. Das Gefühl der dunklen, unbewussten Erinnerung, das die Wanderung und die Landschaft in Seto auslösten und das ihn schon am Vormittag nicht hatte loslassen wollen, kehrte sofort mit Macht zurück, kaum, dass sie den kleinen Flecken Zivilisation hinter sich gelassen hatten. Nicht, dass er schon einmal hier gewesen wäre, das ganz sicher nicht… nein, es war mehr die Aktivität, die Art der Umgebung, diese ganze furchtbar friedliche Natur-Atmosphäre. Er hatte so etwas schon einmal gemacht, da war er sich sicher. Aber wann sollte das bitte gewesen sein? In den letzten drei oder vier Jahren definitiv nicht. Irgendwann davor mit Gozaburo? Ha, nein, wie absurd! Seto konnte ein minimales Schmunzeln nicht unterdrücken bei der Vorstellung, wie der alte Mann in kurzen Cargo-Hosen und Wanderschuhen, mit Rucksack und Wanderstock durch die Pampa stiefelte. Wäre das tatsächlich so passiert, er hätte es wohl kaum vergessen können! Mal ganz davon abgesehen, dass Gozaburo von Urlaub und Freizeit genauso wenig gehalten hatte, wie er selbst jetzt. Ein Ausflug während ihrer Waisenhaus-Zeit? Hm, vielleicht… Wahrscheinlich sogar… Eigentlich konnte es gar nichts anderes sein. Doch, ja, das musste es sein! Seto atmete einmal gedehnt aus. Sehr schön, damit war das also endlich geklärt und sein Geist konnte sich wieder produktiveren Themen widmen. Das beklommene Gefühl in seiner Brust würde dann sicherlich auch gleich verschwinden. Ganz sicher… Duke und die anderen liefen ein ganzes Stück weiter vorne und ersterer war sich ziemlich sicher, dass mittlerweile jeder von ihnen – Yugi eingeschlossen – an einem geheimen Plan arbeitete, wie man Joey entweder umbringen oder zumindest effektiv mundtot machen konnte. Der schien seinen Mecker-Modus heute nicht mehr verlassen zu wollen und beklagte gerade noch einmal lautstark die Portionsgröße in dem Restaurant und die Tatsache, dass er noch immer hungrig war. (Ein gefährlicher Teufelskreis, verstärkte doch der Hunger seine negative Einstellung, was wiederum zu mehr Beschwerden über das Essen und den Hunger führte.) Im Gegensatz zu ihm hatte Duke rein gar nichts daran auszusetzen gehabt, dass Kaiba sein Essen im wahrsten Wortsinne links liegen gelassen hatte. Der Brünette schien wirklich eine solide Motivation für sein Projekt entwickelt zu haben (noch einmal mehr seit ihrem Spiel gestern) und wirklich in dem Schaffensprozess aufzugehen. Sicher, der akute Mangel an Alternativen mochte seinen Teil dazu beitragen, aber trotzdem. Die Szene im Restaurant hatte ihn nur zu gut daran erinnert, wie er selbst vor einigen Jahren ebenso am Küchentisch gesessen und die ersten Ideen für Dungeon Dice Monsters zu Papier gebracht hatte. Damals war Nahrungsaufnahme auch für ihn ein eher nachrangiges Thema gewesen – zumindest zeitweise. Unweigerlich kam ein wenig Wehmut in ihm auf, angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet das Spiel nun auf der Kippe stand, dem er sich damals wie heute so leidenschaftlich verschrieben und in das er so viel Zeit und Herzblut investiert hatte. Schnell schob er die Angst wieder beiseite, denn Kaiba sorgte ja gerade genau dafür, dass es nicht soweit kommen würde. Aber mal generell: Wann hatte ihn eigentlich zuletzt etwas ähnlich in den Bann gezogen oder ihm ähnlich viel Spaß gemacht wie die Arbeit an DDM? Spätestens seit er nach Japan gekommen war und den Laden eröffnet hatte, verbrachte er gezwungenermaßen wesentlich mehr Zeit mit den unzähligen Routineaufgaben, die mit der Tätigkeit als selbstständiger Geschäftsinhaber einhergingen. Sicher, auch die Arbeit im Laden war toll, er mochte die direkte Interaktion mit den Kunden und schätzte seine Mitarbeiter, aber am Ende erfüllte es ihn doch weit weniger … oder zumindest auf sehr andere Weise, als die kreative Arbeit als Spieledesigner. Unmerklich schüttelte er den Kopf und seufzte einmal leise, um die Grübeleien wieder loszulassen, die ihn so plötzlich überkommen hatten. Es stand gerade schon genug auf dem Spiel, da musste er nicht auch noch sein sonstiges Leben in Frage stellen. Nach einer weiteren guten Stunde erreichten sie ein großes Steintor, das, wie Frau Kobayashi ausführlichst erklärte, zum Hotaka-Schrein gehörte, dessen weiträumiges Gelände sich dahinter ausbreitete. Sie durchschritten das Tor und kamen kurz darauf vor einem ausgedehnten, relativ flachen See zum Stehen. „Meine Damen und Herren, was Sie hier sehen, ist der sogenannte Spiegel- oder Gottheiten-Teich. Er gilt als ebenso magisch wie heilig und steht in engem Zusammenhang mit den Mythen über den Ursprung des Schreins …“ Unerschütterlich fuhr Frau Kobayashi in ihren langatmigen Erklärungen fort, doch wie der Rest seiner Klassenkameraden schon vor langer Zeit hatte es mittlerweile auch Seto aufgegeben, ihr weiterhin zu folgen. Geistesabwesend ließ er seinen Blick über die wahrlich prächtige Szenerie schweifen: Die tief stehende Herbstsonne schien durch die Bäume und Büsche und tauchte alles in noch intensivere Farben. Der Wind löste leichte Wellen auf dem See aus, die im Licht funkelten und die klaren Spiegelungen der Natur im Wasser verzerrten. Der Holzsteg, der in den See führte, lud dazu ein, betreten zu werden und die Ruderboote, die daran festgemacht waren, schaukelten durch die Bewegung des Wassers sanft hin und her. „Seto, langsam! Pass auf, dass du nicht ins Wasser fällst! Du kannst zwar schon ein bisschen schwimmen, aber so gut nun auch wieder nicht!“ Sein Vater hielt ihn fest an der Hand, während er vorsichtig und mit dem größten Schritt, den ein Vierjähriger zustande bringen konnte, die kleine Lücke zwischen Steg und Boot überwand. Seine Mutter saß schon auf einer der Sitzbänke und streckte die Arme nach ihm aus, um ihn sicher in Empfang zu nehmen. „Und hopp! Sehr gut, mein Schatz!“ Das Boot schwankte ein wenig und wie kleine Jungs nun einmal sind, verlagerte er noch im Stehen mehrmals sein Gewicht vom linken auf das rechte Bein, um die Bewegung zu verstärken. Die langen schwarzen Haare seiner Mutter glänzten in der strahlenden Sonne, als sie mit einem Lächeln den Kopf schüttelte, ihn an den Händen nahm und kraftvoll zu sich auf den Schoß zog. „Hey, nicht so schaukeln, du kleiner Wildfang! Ich habe keine Lust, wegen dir noch im Wasser zu landen!“, wies sie ihn zärtlich, aber bestimmt zurecht. Sie umschlang ihn fest mit ihren Armen, um ihn von weiteren Abenteuern abzuhalten, während sein Vater nun ebenfalls das Boot bestieg. Er setzte sich ihnen gegenüber, griff sich ein Paddel und stieß sie damit vom Steg ab. Langsam glitten sie über den See, dessen Wasser in der warmen Sonne geradezu magisch glitzerte. Die grauen Augen seines Vaters verweilten für einen Moment bei seiner Frau und seinem jungen Sohn. Voll offensichtlichem Stolz betrachtete er seine kleine Familie und ein warmes Lächeln eroberte sein Gesicht. Für einen Moment stand Seto da wie gelähmt, so plötzlich hatte ihn praktisch aus dem Nichts die Erinnerung an seine Eltern übermannt. Die Realität um sich und Frau Kobayashis Worte nahm er nurmehr peripher und undeutlich wahr. „So, meine Damen und Herren, es gibt hier ja noch ein bisschen mehr zu sehen, also erkunden Sie doch noch ein wenig das Gelände und in einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier und gehen weiter.“ Während der Rest der Klasse sich sofort in alle Richtungen auf dem Tempelgelände zerstreute, blieb Seto wie angewurzelt am Seeufer stehen. Seine Knie waren weich, seine Hände schwitzig, sein Atem ging ungewöhnlich schnell und sein Herz hämmerte von innen gegen seinen Brustkorb. Er sah sich um, entdeckte ein paar Meter weiter rechts eine Bank und ließ sich darauf niedersacken, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Völlig abwesend starrte er einfach weiter auf das Wasser hinaus und hing seinen aufgewühlten Gedanken nach. Richtig, sie waren im Urlaub gewesen. Ein halbes Jahr vor Mokubas Geburt, bei der seine Mutter aus dem Leben gerissen worden war. Nur drei Jahre nach ihr war dann auch sein Vater bei einem Autounfall verstorben. Mit unerwarteter Härte traf ihn die Erkenntnis, dass er gerade eben zum ersten Mal seit Jahren wieder an sie gedacht hatte … so als hätten seine eigenen Eltern bis gerade eben in seinem Leben nicht existiert. Sicher, ihm war nie viel Zeit für das Schwelgen in Erinnerungen oder gar für so etwas wie Trauer geblieben; das Leben war gnadenlos schnell weitergegangen. Kurz nach der Nachricht vom Tod ihres Vaters hatten ihm zwei Beamte, vermutlich vom Jugendamt, mitgeteilt, dass leider keiner ihrer Verwandten sie aufnehmen und man sie darum in ein Waisenhaus bringen würde. In diesem Moment hatte er sich geschworen, Mokuba zu beschützen, für ihn stark zu sein und zu bleiben, egal, was passieren würde. So hatte er sich in den Jahren im Waisenhaus kaum einen Gedanken an seinen Vater und seine Mutter erlaubt, aus Angst, der Schmerz könnte ihn womöglich überwältigen. Er hatte sich gezwungen, immer nur nach vorne und in die Zukunft zu blicken, niemals zurück. Was vorbei war, war vorbei und im Gegensatz zu seiner – ihrer – Zukunft würde er daran nichts mehr ändern können. Die Adoption durch Gozaburo Kaiba und alles, was ihr nachfolgte, hatten dann ihr übriges dazu getan, dass er sein früheres Leben nahezu vollständig hinter sich gelassen hatte … abgelegt, wie seinen alten Nachnamen. Auf nimmer Wiedersehen. Die Erinnerung an dieses Leben fühlte sich unwirklich an, fast wie die eines Fremden. Als lägen diese unbeschwerten Tage in unendlich weiter Vergangenheit. Hatten sie überhaupt noch irgendetwas mit der Person, dem Seto, zu tun, der er jetzt war? Nein, wahrscheinlich nicht mehr, dachte er und stieß ein zynisches Schnauben aus. Unwillkürlich fühlte er dabei einen Stich im Herzen. Duke und die anderen schauten sich in den dreißig Minuten, die ihnen Frau Kobayashi zugestanden hatte, in den verschiedensten Ecken des Tempelgeländes um. Bevor sie schließlich zum Treffpunkt am See zurückkehrten, besorgten sich Joey und Tristan in der nahen Kiosk-Hütte noch einen kleinen Nachmittagssnack, damit wenigstens Joeys Gejammer über seinen anhaltenden Hunger endlich ein Ende hatte. Während sich auch der Rest der Klasse langsam wieder einfand, wanderte Dukes Blick aus dem Augenwinkel zu Kaiba, der scheinbar die ganze Zeit über auf einer Bank am See wenige Meter von ihnen entfernt sitzen geblieben war. Wer konnte es ihm verübeln, es war wirklich wunderschön, das ließ sich nicht leugnen. Trotzdem hatte er eigentlich erwartet, Kaiba mit Block und Stift in der Hand vorzufinden, hatte der Ältere doch bisher auch sonst jede einigermaßen ruhige Minute genutzt, um sich in diese alternative Form von Arbeit zu vergraben – was natürlich ganz in Dukes Interesse war. Naja, offenbar brauchte auch Kaiba mal eine Pause. Mit diesem Gedanken wandte er sich wieder den anderen zu. Frau Kobayashi war bereits am Durchzählen, kam zum Ergebnis, dass alle da waren (Kaiba auf der nahen Bank hatte sie mitgezählt) und gab den Startschuss für die letzte Etappe der Wanderung. Sie liefen weiter auf dem Weg am Fluss entlang, bis sie nach einigen Minuten eine große Hängebrücke aus Holz erreichten, die von den Schülern größtenteils mit der Teenagern eigenen Ignoranz für Dinge, die wesentlich älter waren als sie, überquert wurde. Auf der anderen Seite des imposanten Bauwerks angekommen, blieb Frau Kobayashi stehen und setzte zu einer erneuten Reiseführer-Erklärung an, die von Joey nur mit einem tiefen Gähnen quittiert wurde. „Soeben haben wir die beeindruckende Myojin-hashi-Holzbrücke überquert. Sie wurde im Jahre …“ Mitten im Satz stockte sie und blickte irritiert in die Runde ihrer Schüler. „Wo ist Mr. Kaiba?“ Auch die Jugendlichen blickten sich nun fragend um und tatsächlich war Kaiba nirgends zu entdecken. Da er schon den ganzen Tag immer allein und in einiger Entfernung ganz hinten gelaufen war, hatte niemand wirklich darauf geachtet, wie lange er noch da gewesen war. Allgemeines Gemurmel hob an und erste Vermutungen wurden ausgetauscht. „Vielleicht ist er einfach nur mal kurz ins Gebüsch gegangen?“, schlug Tristan vor. Tea schüttelte energisch den Kopf. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben vor gerade einmal fünfzehn Minuten einen Ort mit funktionstüchtigen sanitären Anlagen verlassen.“ Joey hatte eine andere Theorie: „Vielleicht hat er sich seinen Helikopter bestellt und ist zurück in die Zivilisation geflogen, weil er es hier vor Langeweile nicht mehr ausgehalten hat. Das hätte ich jedenfalls an seiner Stelle gemacht.“ Ryou widersprach in bemüht sachlichem Tonfall: „Nicht jeder hat so viel gegen etwas Bewegung in der Natur einzuwenden wie du, Joey. Und glaubst du nicht, einen Helikopter hätten wir hier vielleicht bemerkt?“ Widerwillig gab Joey sich geschlagen: „Okay, ich gebe zu meine Theorie hat noch ein paar Lücken. Aber seien wir mal ehrlich, Leute, ein großer Verlust ist es jetzt nicht.“ Yugi sah ihn tadelnd an. „Joey!“ Der verdrehte nur die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist doch wahr…“ Frau Kobayashi verstand die Welt nicht mehr. Seit über zwanzig Jahren fuhr sie nun schon auf Klassenfahrten, aber dass ein Schüler verloren ging, das war ihr im Gegensatz zu anderen misslichen Dingen bisher glücklicherweise erspart geblieben. Nach einer kurzen Bedenkzeit war sie zu einer ersten Lösung gekommen, was nun zu tun sei, und mit sorgenvollem Blick trat sie auf die Gruppe um Yugi zu: „Mr. Devlin, als Mr. Kaibas Zimmergenosse würden Sie vielleicht einmal bis zum Schrein zurückgehen und schauen, ob Sie ihn finden und dann so schnell wie möglich – im Idealfall natürlich mit ihm – wieder herkommen? Wir werden so lange hier warten. Falls etwas sein sollte, haben Sie ja sicherlich ein Mobiltelefon dabei und können einen ihrer Freunde hier anrufen.“ Duke war kurz etwas verdutzt, aber nickte schließlich. „Ja, selbstverständlich. Ich werde mich beeilen. Bis gleich, Leute!“ Frau Kobayashi entließ einen tiefen Seufzer. „Vielen Dank, Mr. Devlin, und viel Erfolg!“ Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn Mr. Devlin alleine zurückkehrte. Schließlich war Mr. Kaiba alles andere als ein normaler Schüler, auch wenn sie in aller Regel versuchte, ihn wie einen solchen zu behandeln. Vorerst schüttelte sie die negativen Gedanken jedoch ab und mahnte sich zu Ruhe und Zuversicht. Auf dem ganzen Weg zurück zum Schrein sah Duke sich sehr genau in der Umgebung um, auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass der junge Firmenchef nicht irgendwo auf dem Weg abhanden gekommen war. Seine Vermutung bestätigte sich, als er wieder durch das Tempeltor schritt und Kaiba aus der Ferne noch immer in nahezu unveränderter Haltung auf der gleichen Bank sitzen sah. Klar, Kaiba war abweisend und einsiedlerisch, aber ein solches Verhalten war selbst für seine Verhältnisse extrem. Gearbeitet hatte er vorhin auch nicht – was also war mit ihm los? Ein mulmiges Gefühl machte sich in Dukes Magengegend breit. Was für ein Kaiba würde ihn gleich auf dieser Bank erwarten? Er hatte absolut keinen Schimmer. Als er sich kurz umsah – wonach genau, wusste er nicht recht – fiel sein Blick noch einmal auf den kleinen Kiosk, an dem sie vorhin gewesen waren. Hm, ja, das war natürlich eine Idee… Vorzubeugen konnte nicht schaden, schon aus Selbstschutz. So wandte er sich noch einmal um, erwarb kurzerhand an der Hütte zwei große Coffee to go, nahm noch einen tiefen Atemzug und ging schließlich festen Schrittes auf die Bank zu. Selbst als Duke schon fast neben ihm stand, starrte Kaiba weiter Löcher in die Luft und schien ihn überhaupt nicht zu bemerken. Wortlos ließ Duke sich schließlich links neben dem Brünetten auf der Bank nieder und hielt ihm den heißen Kaffeebecher praktisch vor die Nase. Na bitte! Endlich erwachte Kaiba aus seiner Trance und sah überrascht und irritiert erst auf den Kaffee, dann zu der Person, die ihn in der Hand hielt. Bevor der Ältere den Blick schnell wieder abwandte, konnte Duke für den Bruchteil einer Sekunde in seinen blauen Augen einen Ausdruck wahrnehmen, den er so bei Kaiba noch nie gesehen hatte: schmerzvoll und ein wenig scheu, wie ein verletztes Tier. Dukes Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich und Sorge schien in seinen grünen Augen auf. Was war denn nur los? Das hier war Seto Kaiba, verdammt noch mal! Es musste wirklich etwas ganz gewaltig nicht stimmen, wenn er so wenig darauf bedacht war, seine Mauern hoch zu halten. Obwohl Duke im Grunde bereits wusste, welche Antwort er auf seine nächste Frage bekommen würde, stellte er sie dennoch vorsichtig und zögernd. „Alles… in Ordnung, Kaiba?“ Sofort verschwand der seltsame Schleier aus dessen Blick und der Brünette fing sich scheinbar wieder. Er räusperte sich kurz, bevor er betont nüchtern antwortete: „Ja, selbstverständlich.“ Nur zu gerne hätte Duke weiter nachgebohrt („Wenn alles so in Ordnung ist, warum sitzt du dann immer noch apathisch auf einer Bank, nachdem wir alle schon längst weitergegangen sind?“), aber das würde ihm rein gar nichts einbringen, außer Widerstand von Kaiba und das war das letzte, was er momentan wollte oder gebrauchen konnte. Etwas wirklich ernstes, wahrscheinlich persönliches musste den Älteren beschäftigt haben, da war Dukes Penetranz, über die sie gestern noch gemeinsam (im allerweitesten Sinne) gescherzt hatten, einfach fehl am Platz. Schließlich straffte sich Kaiba und nahm mit einem stummen Nicken den Kaffeebecher entgegen. Dabei sah er Duke noch einmal direkt in die Augen, der meinte für einen Sekundenbruchteil so etwas wie Dankbarkeit wahrnehmen zu können. Dann erhob sich der Brünette mit gewohnt kühlem Gesichtsausdruck und wandte sich zum Gehen. Duke seufzte nur, tat es ihm dann gleich und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zu den Anderen. Schweigend gingen sie nebeneinander her und nippten dabei immer wieder an ihren Kaffeebechern; beide in ihre eigenen Gedanken versunken. Es gab ja auch gar nichts zu bereden. Die Chance, dass Kaiba ihm auch nur irgendetwas erzählte war noch wesentlich kleiner als Null und die Situation für ihn wohl auch so schon unangenehm genug. Wenn er so darüber nachdachte, kam Duke nicht umhin die Ironie des Ganzen zu bemerken: Hatte er sich nicht heute Morgen noch gewünscht, Kaiba möge seine Maske fallen lassen? Ja, schon, beantwortete er seine eigene rhetorische Frage, aber doch nicht so! Er wusste nur zu gut, dass es müßig war, Theorien darüber zu spinnen, was den sonst so beherrschten Kaiba derart aus der Bahn geworfen hatte. Er würde es ohnehin nicht erraten können. Und noch einmal zu nachzufragen schied völlig aus, er hatte ja vorhin am See bereits bestätigt bekommen, dass „alles in Ordnung“ war. Nun, er selbst würde keine weiteren Fragen stellen, aber andere würden es gewiss tun, allen voran Frau Kobayashi. Ganz sicher würde auch sie nicht mehr aus dem Firmenchef herausbekommen, aber dennoch… Nun, es war ja auch eigentlich nicht sein Problem. Trotz dieser Selbstversicherung ließ Duke die Sache nicht mehr ganz los. Ein paar Minuten vor der Brücke beschloss er schließlich, auf seine Bedenken zu pfeifen: Wer nichts wagte, gewann auch nichts. Und mehr als nicht antworten konnte Kaiba ja nicht. So sah Duke vorsichtig von der Seite zu dem Brünetten hinüber und brach die einträchtige Stille: „Was wirst du eigentlich gleich sagen, wenn Kobayashi-sensei fragt, was los war?“ Unbewusst biss er sich auf die Unterlippe, während er gespannt darauf wartete, was Kaiba erwidern würde – oder ob überhaupt. Der Angesprochene schien kurz ernsthaft darüber nachzudenken, so als sei ihm tatsächlich erst jetzt bewusst geworden, dass er gleich mit der zugegeben erwartbaren Frage konfrontiert werden würde, warum er beim Schrein geblieben war. Schließlich ließ er sich zu einer Antwort herab: „Lass dich überraschen!“ Toll, etwas Konkreteres wäre ja auch zu einfach gewesen. Oder aber Kaiba wusste es wirklich selbst noch nicht. Duke musterte sein Gegenüber aus dem Augenwinkel. Obwohl er nach außen den Anschein der Normalität und völligen Gleichgültigkeit zu erwecken versuchte, war die Schwermut, die Kaiba umgab, doch noch immer mit den Händen zu greifen. Aus irgendeinem Grund verspürte Duke das dringende Bedürfnis etwas dagegen zu unternehmen und tatsächlich fiel ihm etwas ein, das eigentlich immer zog. „Joey hat schon gemeint, du hättest dir einen Helikopter kommen lassen und wärst nach Hause geflogen.“, ließ er den Brünetten mit dem Anflug eines zaghaften Grinsens wissen. „Ha, unfassbar!“, stieß Kaiba darauf spöttisch aus und schüttelte den Kopf. Allerdings hatten seine Mundwinkel dabei leicht nach oben gezuckt, was Duke schon wesentlich besser gefiel. Immerhin ein kleiner Fortschritt. Sein eigener Kaffee war mittlerweile leer und auch Kaiba nahm jetzt vorsichtig den Deckel seines Kaffeebechers ab, um den letzten Schluck auszutrinken. Hier, mitten in der Natur gab es natürlich keine Gelegenheit zur ordnungsgemäßen Entsorgung, sodass Duke auffordernd hinüber sah und Kaiba seinen leeren Becher hinhielt. „Gib mir deinen auch, ich schmeiße die später irgendwo in einen Mülleimer.“ Der Brünette nickte kurz, streckte die Hand aus und schob seinen leeren Pappbecher in den von Duke. Unvermittelt trafen sich dabei ihre Blicke und Kaibas Hand streifte leicht Dukes eigene. Die Welt schien mit einem Mal wie eingefroren. Dukes Herzschlag beschleunigte sich, seine Nackenhaare stellten sich auf und ein Kribbeln breitete sich von seiner linken Hand, wo er die Berührung von Kaibas schlanken Fingern gespürt hatte, auf seinen ganzen Arm aus. So schnell, wie er gekommen war, war der Moment allerdings wieder vorüber und eilig wandten sie sich voneinander ab. Eine Sekunde lang starrte Duke noch versonnen auf die Kaffeebecher in seiner Hand, bevor er wieder zu sich kam und seinen Rucksack über die rechte Schulter nach vorne schwang, um die Becher fürs Erste wegzupacken. Er nahm es als überaus willkommene Gelegenheit, um sich kurz von Kaiba wegzudrehen, sich wieder zur Ruhe zu bringen und einmal leise tief auszuatmen. Noch immer schlug sein Herz schneller und das Kribbeln wollte nicht aufhören. Ein merkwürdiges Gefühl, aber alles andere als unangenehm – wie gestern, als er in der U-Bahn in Kaiba hineingefallen war… Duke blieb nicht viel mehr Zeit seine Überlegungen fortzusetzen, erreichten sie doch schon wenige Minuten später die Brücke, wo Frau Kobayashi mit dem Rest der Klasse auf sie gewartet hatte. „Mr. Kaiba, Gott sei Dank, da sind Sie ja! Wo waren Sie denn nur?“, rief Frau Kobayashi aufgeregt und stürmte regelrecht auf die beiden zu. Da war sie also, die Frage aller Fragen. ‚Na dann, überrasch‘ mich, Kaiba!‘, dachte Duke und erwartete gespannt die Antwort. Seelenruhig und vollkommen sachlich erklärte der Angesprochene: „Noch am See hat mich ein wichtiges Telefonat erreicht, das mich sehr in Anspruch genommen hat, sodass ich bedauerlicherweise verpasst habe, dass wir weitergegangen sind.“ Frau Kobayashi nickte langsam und schien mit seiner Aussage zufrieden, da schaltete sich Joey ein und funkelte den Brünetten herausfordernd an: „Achja?! Soweit ich weiß, kannst du gar nicht telefonieren, weil dein kleiner Bruder dein Handy gefilzt hat!“ Kaiba sog scharf die Luft ein und sein Blick wurde augenblicklich eiskalt und mörderisch. Für einen Sekundenbruchteil wanderten seine Augen zu Duke. Die Vorstellung, kurz in der Zeit zurück zu reisen und Joey noch vor seinem Einwurf weg von der Bildfläche in das nächste Gebüsch zu schubsen, wurde für den Schwarzhaarigen plötzlich sehr attraktiv. Kaiba ging unterdessen direkt zum Gegenangriff über: „Wheeler, ahnungslose Köter sollten besser nicht zu laut kläffen. Was zählt, ist, dass ich jetzt wieder hier bin und nicht etwa lautlos und ohne Zeugen mit meinem Zauber-Helikopter davongeflogen bin. Obwohl ich gerade durchaus den Wunsch danach verspüren würde.“ Ein spöttisches Grinsen umspielte Kaibas Lippen – Treffer, versenkt! Joey wiederum sah nun ebenfalls entgeistert zu Duke: „Du hast ihm erzählt, dass ich das gesagt habe?!“ Der Schwarzhaarige senkte nur den Blick und massierte sich mit der Hand die Stirn. Super, wirklich einwandfrei! Jetzt hatte er tatsächlich an zwei Fronten Probleme. Bevor die Situation noch weiter außer Kontrolle geraten konnte, griff Frau Kobayashi energisch und mit erhobener Stimme ein: „Meine Herren, beruhigen Sie sich, wir wollten doch zivilisiert bleiben! Ich gebe Mr. Kaiba recht, die Hauptsache ist, dass er wieder da ist. Damit erkläre ich das Thema für beendet und wir können endlich mit der Wanderung fortfahren!“ Damit machte sie sich bereit zum Aufbruch. Joey holte Luft und öffnete schon den Mund für eine Erwiderung, wurde aber sofort mit erhobener Hand von der Lehrerin abgewürgt: „Beendet, Mr. Wheeler!“ Mit einem missmutigen Seufzen gab der Blonde für den Moment auf. Kapitel 13: Move on. (Nothing to see here.) ------------------------------------------- Auf dem restlichen Weg zurück zum Bus lief Seto wieder hinter allen anderen, allerdings mit weniger Abstand als zuvor, da Frau Kobayashi sich immer wieder ängstlich umdrehte, um zu prüfen, ob er noch da war. Meine Güte, er war doch kein kleines Kind mehr! Ja, er hatte vorhin etwas neben sich gestanden und verpasst, dass alle weitergegangen waren, und es war so ärgerlich wie peinlich, dass so viel Wirbel um seinen Lapsus entstanden war, aber es musste doch wohl eigentlich jedem mit einem Funken Verstand im Kopf klar sein, dass ihm das so schnell nicht noch einmal passieren würde! Mit jedem Schritt und jedem Schluck Kaffee waren die Erinnerungen immer weiter in den Hintergrund getreten und spätestens bei ihrer Ankunft an der Brücke war er wieder komplett er selbst gewesen. Trotzdem war diese Klassenfahrt zweifellos von vorne bis hinten eine einzige Katastrophe! Jeden Tag schien er ein wenig mehr aufzuhören zu funktionieren, wie ein elektrisches Gerät mit einem Wackelkontakt, der immer schlimmer wurde: Kontrolle an, Kontrolle aus. Ihm blieb nur zu hoffen, dass die ‚Kontrolle aus’-Momente nicht noch weiter zunehmen würden, denn mehr Erlebnisse wie das am See mit seiner Plötzlichkeit und schieren Wucht konnte er nun wirklich nicht gebrauchen. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich eine unsichtbare Schleuse geöffnet, und eine Flut von lange verschütteten Bildern, Szenen und Erlebnissen war mit einem Mal in seinen Geist geströmt und hatte ihn beinahe wortwörtlich von den Füßen gerissen: Er, ganz allein im Spielzimmer des Wartebereichs im Krankenhaus, während – wie er später erfuhr – seine Mutter und die Ärzte um Mokubas und ihr Leben kämpften … der starre Blick seines Vaters, als man bei der Beerdigung ihren Sarg in den Boden herabließ, der starke Griff der großen, kalten Hand um seine kleine … ein Knall von unten, gefolgt von einem lauten Fluchen – sein Vater, wie er zusammengesunken auf dem Küchenfußboden saß und weinte, um ihn herum eine stetig wachsende Pfütze Milch aus einem heruntergefallenen Babyfläschchen … Wäre Devlin nicht aufgekreuzt, er wäre sicherlich noch um einiges länger dort sitzen geblieben. Dankenswerterweise hatte sein Zimmergenosse von jeglichen Kommentaren und penetranten Nachfragen abgesehen, hatte sogar versucht, ihn mit dem Kaffee und der kleinen Geschichte über Wheeler ganz diskret und unaufdringlich aufzumuntern. Seine Haut kribbelte leicht, dort wo sich ihre Finger vorhin berührt hatten, und ein luftiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte er beides jedoch sofort wieder, denn alles das spielte keine Rolle mehr und hatte rein gar nichts zu bedeuten. Warum? Punkt Eins: Wenn man mal ehrlich war, dann könnte selbst ein absoluter Vollidiot nach zehn Minuten mit Seto zu dem Ergebnis kommen, dass er Kaffee mochte und Wheeler nicht. Das waren hinlänglich bekannte Fakten und sich daran zu erinnern, nun wirklich keine große Leistung. Punkt Zwei waren die Geschehnisse bei ihrer Rückkehr und die Schlüsse, die man daraus unweigerlich ziehen musste: Wheeler wusste demzufolge sehr genau und vermutlich nicht erst seit heute, dass er nicht arbeiten konnte, weil Mokuba auf eine erschreckend gut geplante und äußerst heimtückische Art seine Arbeitsmittel konfisziert hatte. (Oh, was freute er sich schon auf dessen Gesicht, wenn er im Gegenzug zu Hause endlich die Spielekonsolen konfiszieren konnte! Auch wenn ihm die Intriganz des 13-Jährigen mittlerweile fast schon wieder ein wenig Bewunderung abrang…aber schließlich hatte er ja auch vom Besten gelernt.) Es gab nur eine Person, von der der Köter dieses Hintergrundwissen haben konnte, und das war Devlin. Seto entfuhr ein abfälliges Schnauben. Im Grunde war es doch klar gewesen, dass er reden würde. Devlin gehörte schließlich immer noch zum Kindergarten und wenn sie nicht gerade damit beschäftigt waren, die Welt zu retten, machten die nun einmal nichts lieber, als ihre Nasen in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. Warum war Seto auch nur für eine Sekunde dem Irrtum aufgesessen, Devlin könnte irgendwie anders sein? Vermutlich begannen die Hormone wirklich langsam, sein Urteilsvermögen zu beeinträchtigen. Aber viel wichtiger noch: Wenn Devlin schon diese Information so bereitwillig gestreut hatte, was erzählte er dann womöglich noch alles? Würde er seinen kleinen Idioten-Freunden auch von der Sache am See berichten? Zwar hatte Devlin nicht den Hauch einer Ahnung, was genau ihn so aus der Bahn geworfen hatte, aber er war da gewesen, hatte gesehen, wie er dasaß: zusammengesunken, schwach, verwundbar – und schon allein dadurch wusste er viel zu viel. Bei der Vorstellung, dass sich Wheeler sein dreckiges Hundemaul darüber zerreißen könnte, wurde ihm übel. Diese ganze Sache mit Devlin wurde immer gefährlicher – umso mehr, weil sie sich ein Zimmer teilten. Dass er sich Devlin gegenüber so hinreißen und gehen ließ, wie heute oder gestern Abend durfte nicht noch einmal passieren, Hormone hin oder her! So weit es ihr kleines Projekt erforderte, würde er weiterhin mit Devlin kollaborieren – auf das einzige zu verzichten, das ihn davon abhielt hier wahnsinnig zu werden, war zum jetzigen Zeitpunkt eine denkbar schlechte Idee – , darüber hinaus jedoch würde er ihn ignorieren und sich soweit wie möglich von ihm fernhalten! Zur selben Zeit weiter vorne in der Schülerkolonne gestikulierte Joey wild in der Luft, während er Duke wie erwartet mit Vorwürfen überzog: „Ich kann nicht glauben, dass du Kaiba das mit dem Helikopter erzählt hast, Mann! Wie konntest du mir so in den Rücken fallen?! Habt ihr euch schön gemeinsam auf meine Kosten lustig gemacht?!“ Duke war sich nicht ganz sicher, was er dazu sagen sollte. Ja, de facto hatte sich Kaiba auf Joeys Kosten amüsiert (wenn man das kurze Zucken seiner Mundwinkel denn so bezeichnen wollte) und es war auch noch Dukes volle Intention gewesen. Würde er das dem Blonden gegenüber allerdings zugeben, kam die Sache mit dem Hundekostüm vermutlich schneller wieder auf den Tisch, als ihm lieb sein konnte. Das war also keine gute Idee. So antwortete er nur ausweichend: „Nein, Joey, natürlich nicht! Ich …“ Doch der Blonde ließ ihn gar nicht ausreden: „Und was ist eigentlich wirklich passiert? Egal was Kaiba sagt, das mit dem Telefonat war doch absoluter Bullshit! Du hast uns ja selbst gesagt, dass du sicher weißt, dass er nicht telefonieren kann! Sag schon, Alter, das bist du mir schuldig nach der Aktion! Du bist doch mein Spion! 007, du weißt schon!“ Duke spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften und eine plötzliche Wut in ihm aufstieg, die er sich in ihrer Vehemenz nicht vollständig erklären konnte. Heftig schüttelte er den Kopf und sah Joey verständnislos und kalt an. „Einen Scheiß bin ich dir schuldig! Das geht dich nichts an! Und dein dämlicher Spion bin ich im Übrigen auch nicht!“ Auch Tristan schaltete sich jetzt ein: „Aber hat Kaiba denn nun telefoniert oder nicht, als du wieder am Schrein ankamst?“ Der Schwarzhaarige atmete einmal tief durch, schaffte es aber nicht seine Stimme komplett im Zaum zu halten: „Sagt mal, hört ihr mir eigentlich zu?! Spreche ich eine andere Sprache oder was an dem Satz ‚Es geht euch nichts an!‘ versteht ihr nicht?!“ Joeys Augen funkelten Duke jetzt ebenfalls aggressiv an und er fragte in einem absichtsvoll provokanten Ton der Entrüstung: „Aha, jetzt stehst du also auf seiner Seite, ja?! Du weißt doch ganz genau, was er mir schon alles …“ Duke fiel ihm harsch ins Wort: „Ich stehe auf gar keiner Seite, Joey! Lass mich dich mal kurz auf den Boden der Tatsachen zurückholen: Niemand hier“, er zeigte mit der Hand auf den Kreis der Freunde, „ist dir in irgendeiner Form Rechenschaft schuldig! Ist es denn so schwer zu verstehen, dass es Menschen gibt, die nicht wollen, dass Leute, die sie weder gut kennen noch mögen, Dinge über sie wissen?“ An diesem Punkt spürte Duke instinktiv, dass es vielleicht besser wäre, jetzt die Klappe zu halten, aber die Worte sprudelten ganz von allein weiter aus ihm heraus, ohne dass er sich noch hätte stoppen können: „Und manchmal – das mag für dich vielleicht besonders überraschend kommen – trifft das sogar auf Freunde zu! Nicht jeder möchte alle seine Geheimnisse und Probleme teilen, nicht freiwillig und erst recht nicht unfreiwillig durch jemand anderen!“ Joey öffnete seinen Mund, als wolle er etwas erwidern, schloss ihn aber sogleich wieder. Auch die anderen blickten Duke aus großen Augen an, ein wenig ratlos und erschrocken ob der überraschenden Heftigkeit seines Ausbruchs. Yugi fand jedoch schnell seine Sprache wieder und setzte der Diskussion ungewohnt streng ein Ende: „Joey, lass es jetzt bitte gut sein! Duke hat recht, es geht uns wirklich nichts an!“ In Momenten wie diesen konnte man wirklich das Gefühl bekommen, dass der Pharao auf ihn abgefärbt hatte. Mit einem letzten Augenrollen gab der Blonde schließlich vorerst nach. Duke wurde von Yugi nur mit einem besorgten Ausdruck gemustert, aber der Kleine sagte nichts weiter zu ihm. Wahrscheinlich spürte er, dass er erstmal wieder durchatmen und zur Ruhe kommen musste. Auf dem gesamten restlichen Weg zum Bus wollte kein lockeres Gespräch mehr zwischen ihnen aufkommen, stattdessen herrschte ein unangenehmes, in Teilen sogar ein wenig eisiges Schweigen. Duke kam nicht umhin zu bemerken, dass Tea hin und wieder mit sorgenvollem Blick zu ihm hinübersah. Verständlich, hatte er doch gerade das genaue Gegenteil von dem getan, was er ihr heute Vormittag noch zu tun versichert hatte: Joey ruhig zu halten und ihm zu vermitteln, dass er auch irgendwie gegen Kaiba war. Aber Joeys Nachfragen hatten ihn in eine Ecke gedrängt, aus der er das Gefühl hatte, sich mit allen Mitteln befreien zu müssen – auch wenn er dabei unbeabsichtigt viel über sich selbst preisgegeben hatte. Nicht noch einmal würde er unbedacht etwas ausplappern, von dem Kaiba offensichtlich nicht wollte, dass es andere wussten. Wie er bereits zur Genüge festgestellt hatte, konnte er es sich momentan schlicht nicht leisten, es sich mit dem Firmenchef zu verderben. Aber noch viel entscheidender war die Tatsache, dass es Kaiba vorhin wirklich nicht gut gegangen war – egal, aus welchem Grund – und Duke brachte es einfach nicht über sich, diese Tatsache in irgendeiner Form mit seinen Freunden zu erörtern und zu sehen, wie Joey sich am Ende vielleicht noch darüber freute. Das hier war definitiv ein anderes Kaliber gewesen als ‚Kaiba kann nicht arbeiten‘ oder ‚Kaiba bekommt keinen Kaffee‘. Wohlwissend, dass Joey ihn mit Argusaugen beobachtete, unterdrückte Duke den Impuls, sich umzudrehen, um nach Kaiba zu sehen, wenngleich ihn im Moment mehr als alles andere interessierte, wie es dem Brünetten ging (der Ausdruck seiner Augen vorhin auf der Bank verfolgte ihn noch immer) und ob – oder vielmehr wie – sauer er auf ihn war. Joey sprach das erste Mal wieder beim Erklimmen der Bus-Stufen und natürlich handelte es sich um eine Beschwerde: „Boah, Leute, im Ernst, ich werde nie wieder laufen können!“ Er blieb für einen Moment im Gang stehen, als sich Kaiba zügigen Schrittes und mit den Worten: „Dann geh doch wenigstens aus dem Weg, winselnder Köter!“ von hinten an ihm vorbei drängelte, um einen leeren Zweiersitz zu finden. Im ersten Moment war Joey einfach nur perplex, bevor er mit gereckter Faust lauthals nachsetzte: „Wir sprechen uns noch, Kaiba!“ Auf Teas sanften Druck ging er schließlich weiter durch den Gang nach ganz hinten zur Rückbank. Bei der Platzverteilung fiel Duke auf, dass seine Freunde ein merkwürdiges Verhalten an den Tag legten. Sie blieben vor ihm im Gang stehen, flüsterten hin und her und brauchten eine Minute, um sich richtig zu sortieren. Duke verdrehte die Augen. Mein Gott, was war denn bitte so schwer daran, sich einfach irgendwo hinzusetzen? Als die anderen endlich ihre Plätze eingenommen hatten, war ihm sofort klar, was hier gespielt wurde. Der einzige Platz, der noch frei war, war der auf der Rückbank in der Mitte neben Joey. Wow, was für ein Zufall! Er entließ einen kurzen Seufzer und mit einem Kopfschütteln ließ er sich widerstrebend auf den freien Platz fallen; nach weiteren Diskussionen stand ihm jetzt einfach nicht der Sinn. Joey links neben ihm war offensichtlich ähnlich begeistert wie er, denn, kaum dass Duke ebenfalls saß, drehte er sich von ihm weg, sodass seine Schultern und verschränkten Arme unterschwellig eine Art Mauer zwischen ihnen bildeten. Nun, damit hatte Duke im Moment überhaupt kein Problem und so tat er es dem Blonden gleich, verschränkte die Arme, drehte sich etwas zur anderen Seite und starrte mit zusammengepressten Lippen an Tristan vorbei aus dem rechten Fenster. Vollkommen unbewegt und verkrampft blieben die beiden so sitzen, während die anderen über sie hinweg in eine entspannte Unterhaltung vertieft waren, an der weder er noch Joey teil hatten. Nach weiteren zwanzig Minuten Fahrzeit bemerkte Duke, dass sein Nacken langsam wirklich anfing zu schmerzen und er musste einsehen, dass es wohl an der Zeit war, seinen Kopf zu bewegen, wenn er nicht für den Rest seines Lebens gezwungen sein wollte, nur noch nach rechts schauen zu können. So wandte er den Kopf ein Stück und blickte von nun an stoisch nach vorne durch den Gang des Busses. Dabei nahm er aus dem Augenwinkel wahr, wie auch Joey sich gerade den Nacken massierte und kurz seinen Kopf kreiste, wobei es einmal laut knackte. Joey verzog kurz das Gesicht und Duke konnte an dieser Stelle nicht verhindern, dass seine Mundwinkel für einen Sekundenbruchteil nach oben schnellten und ihm ein kaum hörbares, belustigtes Schnauben entwich. Er versuchte sich wieder zusammenzunehmen und sah noch einmal aus dem Augenwinkel zu Joey, ob der etwas bemerkt hatte. Hatte er wohl, aber auch seine Lippen umspielte ein leichtes Grinsen. So seufzte Duke schließlich und sah Joey geradeheraus an. „Sag mal, was machen wir hier eigentlich, Mann?“ Auch Joey atmete einmal erleichtert aus. „Keine Ahnung! Bitchy sein?“ Duke nickte nur und sein Lächeln wurde breiter, bevor er für einen Moment wieder ernst wurde: „Hör mal, Joey, es tut mir leid, ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich vorhin so wütend geworden bin …“ „Nein, mir tut es leid! Ich gebe zu, ich hab mich vielleicht ein bisschen zu sehr in die ganze Kaiba-Sache reingesteigert und naja, irgendwie … überzogen reagiert.“ Duke lachte. „Etwas mehr als nur ein bisschen.“ Joey verdrehte nur die Augen, lächelte aber nach wie vor. So fragte der Schwarzhaarige noch einmal abschließend: „Also, alles wieder gut?“ Joey nickte. „Alles wieder gut!“ Auffordernd hielt der Blonde ihm die rechte Hand hin, Duke schlug ein und sie zogen sich kurz zueinander und klopften sich auf den Rücken, wobei Duke über Joeys Schulter hinweg den zufriedenen Blick von Yugi sehen konnte. Als hätte sich eine Regenfront verzogen, war die Stimmung zwischen den Freunden sofort merklich gelöst und sie begannen alle gemeinsam Pläne zu schmieden, was sie heute nach dem Abendessen machen würden. Duke war dankbar, dass er sich so schnell wieder mit Joey vertragen hatte, aber so lief das bei ihnen nun mal: Ja, hin und wieder geriet man mal aneinander, aber sie konnten nie lange aufeinander böse sein. Spannender war jetzt nur die Frage, wie es mit Kaiba weitergehen sollte. Den Rest des Nachmittages und Abends verbrachte Duke mit seinen Freunden – diesmal endlich beim Billard und in der Tat war Joey gar nicht so übel – wobei die unterschwellige Nervosität, die er verspürte, immer stärker wurde, je näher die Nachtruhe und damit der Zeitpunkt rückte, an dem er wieder mit Kaiba allein sein würde. Um kurz nach 22 Uhr war es endlich so weit und der Schwarzhaarige kehrte in ihr gemeinsames Zimmer zurück. Kaiba kam gerade aus dem Bad und hatte ihn zweifellos gesehen, aber ignorierte ihn während seiner weiteren Verrichtungen auffällig konsequent. So musste es sich also anfühlen, wenn man ein Geist war… Verdammt, das sprach dafür, dass Kaiba tatsächlich sauer auf ihn war! Nun ja, das würde sich schon gleich lösen, aber erst einmal würde auch er sich bettfertig machen. Etwa fünfzehn Minuten später lag Duke auf dem Rücken im Bett und sah an die Decke. Das Licht war bereits ausgeschaltet, sodass er nicht mehr viel von der ohnehin nicht sonderlich interessanten Tapete erkennen konnte. Kaiba neben ihm hatte indes den Maximalabstand wieder ins Leben gerufen und lag wie üblich schweigend und von ihm abgewandt auf der anderen Seite. Eigentlich war es ja gar nichts schlimmes gewesen, was Duke ausgeplaudert hatte. Jeder – seine Freunde eingeschlossen – hatte doch sehen können, dass Kaiba nicht wie sonst arbeitete. So hatte es sich ja überhaupt erst ergeben, dass er ihnen enthüllt hatte, was wirklich dahinter steckte. Und es war noch vor seinem und Kaibas gemeinsamen Projekt gewesen, mithin also zu einem Zeitpunkt, als es ihm noch relativ egal hatte sein können, was der Brünette von ihm hielt. Im Grunde gab es also eigentlich gar nichts, wofür er sich hätte entschuldigen müssen. Trotzdem spürte Duke das nagende Gefühl des schlechten Gewissens in seiner Brust. Nun, er musste sich ja nicht gleich bei Kaiba entschuldigen, aber vielleicht konnte er ihm wenigstens erklären, welche Umstände dazu geführt hatten, dass Joey von Mokubas Sabotageakt erfahren hatte. Wie schon heute Nachmittag konnte ihm eigentlich nichts Schlimmeres passieren, als dass Kaiba nicht antwortete. Im Grunde hatte er also nichts zu verlieren, wenn er sich nicht absolut dämlich anstellte. Zögernd (denn es waren rückblickend doch recht viele ‚Eigentlichs‘ gewesen, die er da gedacht hatte) und ohne den Blick von der Zimmerdecke abzuwenden, sprach er in die Stille hinein: „Hör mal, Kaiba, es … es war mehr ein Versehen, dass die anderen von deiner … Situation erfahren haben. Vorgestern kamen wir auf die neue Duel Disk zu sprechen und da haben sie sich halt gewundert, dass du überhaupt hier bist, und nicht arbeitest oder permanent am Telefon hängst. Da ist mir das halt so rausgerutscht. Mir ist schon klar, dass es dir nicht gefällt, wenn so etwas breitgetreten wird. Würde mir ja nicht anders gehen.“ Er versuchte absolut still zu liegen und lauschte voller Aufregung in die Dunkelheit auf irgendeine Reaktion. Eine subtile Bewegung oder ein Atmen vielleicht … Fast fürchtete er, er könnte es verpassen, denn sein Herz pochte so stark gegen seine Brust, dass er meinte, es in seinen Ohren hören zu können. Seto musste sich zurückhalten, kein abfälliges Geräusch von sich zu geben. Dachte Devlin wirklich, eine solch halbherzige Entschuldigung würde bei ihm funktionieren? Was erhoffte er sich bitte davon? Oh nein, sein Vorsatz Devlin betreffend würde nicht so leicht ins Wanken geraten! Kollaborieren, Ignorieren, Distanzieren. Genau so und nicht anders. So lange er das beherzigte, würde er trotz der Hormone weiter funktionieren. „Bist du fertig?“, gab er kalt zurück, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen oder sich umzudrehen. Kein Wackelkontakt. Kontrolle an. „Ja, keine Sorge!“, fauchte Duke zurück und verdrehte die Augen, auch wenn es beleidigter klang, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Da entschuldigte er sich schon für etwas, für das er sich eigentlich keinen Vorwurf zu machen brauchte und dann bekam er noch nicht einmal den Ansatz einer wohlwollenden Reaktion dafür. Aber was konnte man auch sonst von diesem verkorksten Sturschädel erwarten (besonders nach allem, was er in den letzten Tagen bereits erlebt hatte)? Ohne Rücksicht auf seinen Bettnachbarn drehte er sich extra schwungvoll auf die linke Seite, sodass die Höllen-Matratze einmal besonders stark ins Schwanken geriet. Nicht einmal Seto entging der Ärger und die Enttäuschung in Dukes wenigen Worten und ein ungewohntes Gefühl durchzuckte ihn. Fühlte er sich gerade allen Ernstes irgendwie … schuldig? Oh nein, auf gar keinen Fall! Er konnte und würde sich doch nicht durch solch einen lächerlichen Akt passiver Aggressivität aus der Ruhe bringen lassen! Dann war Devlin eben sauer auf ihn. War es sein Problem? Nein, ganz im Gegenteil! Er war doch hier nicht die Plaudertasche! Wie lange hatte der Kindergarten sich wohl heute schon die Münder über ihn zerrissen und Theorien gesponnen, was mit ihm nicht gestimmt hatte?! Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln schloss Seto die Augen, um diesen Alptraum von einem Tag endlich hinter sich zu lassen. Auf der anderen Bettseite raschelte die Decke und die Matratze bewegte sich leicht. Noch einmal öffnete er kurz die Augen und sah, wie ein bläulicher Lichtschein das Zimmer erfüllte. Dann wieder Bewegung und das leise ‚Klonk‘ eines Smartphones, das auf einen Nachttisch zurückgelegt wurde. Aha, übernahm Devlin also mal Eigenverantwortung und hatte sich selbst einen Wecker gestellt! Gut so! Unwillkürlich kam Seto das Bild in den Sinn, wie Devlin gestern mangels eigenem Wecker auf seinem Kissen gedöst hatte. Das leicht verlegene Lächeln beim Aufwachen war fast dasselbe gewesen wie heute Morgen im Bus, als Devlin versucht hatte, einen verstohlenen Blick auf die Entwürfe zu erhaschen. Wie diese unfassbar grünen Augen ihn heute am See angesehen hatten: besorgt, verständnisvoll und irgendwie … warm. Wie sein Herz und seine Gedanken kurz stehen geblieben waren, als sich ihre Hände berührt hatten … Als Seto endlich bewusst wurde, dass er gerade dabei war, sehenden Auges in den Abgrund zu steuern, war es bereits zu spät. Wackelkontakt. Kontrolle aus. Ein gedehntes Ausatmen riss Duke aus seinen Gedanken. Die Matratze bewegte sich leicht und Kaiba drehte sich nun doch ein wenig zu ihm. „Willst du sie sehen?“ Duke konnte ihm nicht recht folgen. „Was?“ Jetzt war es an Kaiba die Augen zu rollen und genervt zu seufzen. „Die Entwürfe natürlich!“ Der Knoten in Dukes Eingeweiden verschwand augenblicklich. Schnell schaltete er seine Nachttischlampe an und sah seinen temporären Mitbewohner ungläubig an. „Dein Ernst?! Na, klar doch! Ich hab mich schon gefragt, wie lange du mich noch auf die Folter spannen willst!“ Er hatte heute mit nichts mehr gerechnet, aber ganz besonders nicht damit. Mit einem leicht erschöpften Schmunzeln schaltete der Brünette das Licht auf seiner Seite ebenfalls an. Anschließend setzte er sich auf, streckte sich halb aus dem Bett, um an seine Tasche zu kommen und holte das Notizbuch hervor, welches er ordentlich dort verstaut hatte, als er für heute mit der Arbeit aufgehört hatte. Er blieb aufrecht sitzen, das rechte Bein locker aus dem Bett hängend, das linke angewinkelt, und öffnete das Buch. Als er die Dinos auf dem Cover sah, konnte Duke sich schon wieder ein Grinsen nicht verkneifen, dann aber richtete er seine volle Aufmerksamkeit auf die Seiten, die Kaiba durchblätterte, um den richtigen Einstieg zu finden. Für einen kurzen Moment konnte er beim Blick auf die schlanken Finger des Brünetten erneut das Kribbeln in seiner linken Hand spüren, ignorierte es jedoch, denn in diesem Moment war für ihn wesentlich interessanter, was diese Finger in dem Dino-Block zustande gebracht hatten. Duke drehte sich auf den Bauch, rutschte ein Stück näher zu Kaiba, stützte den Kopf auf die Hände und erwartete hochgespannt, was er gleich zu sehen bekommen würde. Als die richtige Seite gefunden war, wandte sich der Brünette noch ein Stück mehr zu ihm und legte das Buch aufgeschlagen zwischen sie auf das Bett. Er atmete noch einmal durch und begann: „Also, meine erste Grundidee sah so aus: Hier hast du die Spielfläche, dort kommen am Anfang die Würfel hinein und werden eingelesen, sodass sie im System verfügbar sind und abgerufen werden können. Nach unserem Spiel“, er blätterte ein paar Seiten weiter, „war mir dann klar, dass das anders gelöst werden muss. Und zwar so, dass die Spielfläche auf diese Weise aufgeteilt ist. …“ Eine Weile fuhr Seto fort, blätterte zwischen verschiedenen Entwürfen hin und her, zeigte immer wieder auf Teile seiner Zeichnungen und erläuterte die grundlegenden technischen Funktionsweisen sowie seine ersten Design-Entscheidungen. Ihm fiel auf, dass von Skizze zu Skizze das Leuchten in Devlins grünen Augen intensiver und das unbewusste Lächeln, das dessen Lippen umspielte, immer größer wurde. Nicht eine Sekunde wandte der Schwarzhaarige den Blick von den Zeichnungen ab und hörte ihm mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Immer wieder nickte er kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte, manchmal stellte er kurze Rückfragen, die zeigten, dass er ihm genau folgte und mitdachte. Sicher, auch Pegasus war damals durchaus begeistert gewesen, als er ihm zum ersten Mal an einem Prototypen die holographische Projektion für Duel Monsters demonstriert hatte, aber es war eine erwachsene, verhaltenere Begeisterung gewesen. Devlins Freude und Aufregung angesichts der bloßen Entwurfszeichnungen waren geradezu mit Händen greifbar und das hohe Maß an Befriedigung, das Seto dabei empfand, hatte er in dieser Form nicht erwartet. Schließlich war er am Ende angekommen und während es ihm im Normalfall völlig ausreichte, sein eigener strengster Kritiker zu sein, ertappte er sich jetzt dabei, regelrecht darauf zu brennen, die Meinung und Gedanken des Schwarzhaarigen zu hören. Natürlich kam das vor allem durch die Hormone, deren Wirkung er gerade mit jeder Faser seines Körpers spüren konnte. Aber auch aus rationalen Gesichtspunkten war es eine gute und wertvolle Abwechslung, bereits in einer so frühen Phase direktes Feedback zu erhalten; vor allem, weil er in dem Spiel, um das es ging, bei weitem noch nicht so bewandert war wie in Duel Monsters. „Also, was denkst du bis hierhin?“, erkundigte er sich betont geschäftsmäßig. Duke schüttelte langsam den Kopf, das Lächeln auf seinem Gesicht wollte nicht verschwinden und er stieß ein kurzes ungläubiges Schnauben aus. Die Zeichnungen waren beeindruckend detailliert und professionell, noch mehr, wenn man bedachte, dass sie mit einem billigen Dino-Bleistift auf Karo-Papier angefertigt worden waren. Wenn das fertige Produkt auch nur halb so genial war, wie er es jetzt hier auf dem Papier sehen konnte, dann würde sein Spiel nach dem Erscheinen ganz sicher nie wieder Verkaufsprobleme haben! Das würde, nein, musste auch der Industrial Illusions-Vorstand so sehen. Duke hob den Blick, sah Seto direkt in die Augen und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Kaiba! Das … ist einfach fantastisch!“ Unwillkürlich überlief Seto bei dem Anblick und dem Tonfall des Schwarzhaarigen ein Schauer, er ließ es sich jedoch nicht anmerken. So schmunzelte er nur kurz zufrieden und nickte. „Gut. Gibt es irgendetwas, das du anders machen würdest, irgendetwas über das wir noch einmal nachdenken sollten?“ Moment, hatte Kaiba wirklich gerade ‚Wir‘ gesagt? Unwillkürlich beschleunigte sich Dukes Herzschlag und das kribbelnde Gefühl machte sich auch in seiner Magengegend breit. Erst als der Brünette nach einigen Sekunden fragend die Augenbrauen hochzog, bemerkte er, dass er die Frage noch gar nicht beantwortet hatte. „Ähm…das Handling der Würfel wird natürlich immer ein Thema sein – es ist nun einmal der absolut elementarste Bestandteil des Spiels und muss darum perfekt funktionieren. Ich denke, das muss ich mir einfach noch ein bisschen genauer durch den Kopf gehen lassen, bis ich dazu ein abschließendes Urteil geben kann.“ Kaiba nickte darauf nur. Nachdem Duke sich nun ebenfalls aufgesetzt hatte, sah er dem Brünetten von Neuem fest in die Augen. „Aber mal ganz unabhängig von diesen Details: Ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass dieses Baby hier“, er klopfte mit der Hand auf den Block, „so viele neue Leute dazu animieren wird, DDM auszuprobieren. Und Leute, die es jetzt schon gerne spielen, werden es damit noch mehr lieben.“ Kurz löste er den Blick und ließ eine kurze Pause, um die richtigen Worte zu finden, dann fanden seine grünen Augen wieder die blauen seines Gegenübers. „Weißt du, ich habe so viel Zeit und Herzblut in dieses Spiel gesteckt – es ist fast schon ein Teil von mir. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie viel das hier für mich bedeutet.“ Nicht nur, aber auch, weil es sein Spiel in erster Linie am Leben halten würde, setzte er in Gedanken hinzu. Aber das würde er weiterhin schön für sich behalten. Seto sah schon seit gefühlten Minuten nicht mehr die Zeichnungen an, sondern nur noch den Schwarzhaarigen. Das leidenschaftliche Aufblitzen der grünen Augen, während Duke gesprochen hatte, sowie die unglaubliche Wärme, die sie dabei ausstrahlten, hatten ihn vollkommen in ihren Bann gezogen. Erschwerend kam hinzu, dass, seit Duke sich ebenfalls hingesetzt hatte, sein linkes Knie nur etwa zwei Zentimeter von Setos Bein entfernt war und er das Gefühl hatte, die Körperwärme des Anderen förmlich unmittelbar fühlen zu können. Sein ganzer Körper war von einer nervösen Ruhelosigkeit erfüllt, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte und es war schon fast verwunderlich, dass er überhaupt in der Lage war, so ruhig da zu sitzen. Innerlich schüttelte er über sich selbst den Kopf. Das hier war kein Wackelkontakt mehr, das war ein Totalausfall. Dukes Stimme riss ihn glücklicherweise nur eine Sekunde später aus seinen Gedanken: „Machst du … sowas eigentlich noch oft? Also, sowas selber entwickeln.“ Seto blieb der ernste Ausdruck in den grünen Augen seines Gegenübers nicht verborgen. Offenkundig schien ihm die Frage wichtig zu sein. „Warum interessiert dich das?“, fragte Seto darum noch einmal nach. Duke entließ einen tiefen Seufzer und rieb sich mit der Hand die Stirn. „Selbst ein Blinder hätte sehen können, mit welcher Hingabe du dich in den letzten Tagen in das hier eingegraben hast und dass es … dir im Rahmen der technisch eingeschränkten Möglichkeiten wirklich Freude macht.“ Hier lächelte er kurz, bevor er wieder ernst wurde. „Mir ist aufgefallen, dass ich in letzter Zeit immer weniger dazu komme, die Dinge zu tun, die mir an meiner Arbeit wirklich Spaß machen. Und … da hab ich mich eben gefragt, ob das bei dir auch so ist und wie du damit umgehst.“ Das Thema hatte ihn schon heute Nachmittag beschäftigt und nachdem er Kaiba gerade so offensichtlich in seinem Element erlebt hatte, war ihm klar geworden, dass der Brünette sicherlich vor ähnlichen Problemen stehen musste. Klar, er hätte auch Max mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung fragen können, aber das wäre irgendwie nicht dasselbe gewesen. Und die Chancen auf eine ernsthafte Antwort seitens Kaiba standen wohl selten so günstig wie jetzt, das spürte Duke intuitiv. Seto nickte bedächtig. Es war wirklich erstaunlich! Da kannte er Devlin nun schon mehrere Jahre, aber ihm war – vermutlich wegen dessen Zugehörigkeit zu Mutos kleinem Weltrettungskomittee – nie in dieser Deutlichkeit bewusst geworden, dass sie sich gar nicht so unähnlich waren. Devlin stand definitiv vor ähnlichen Herausforderungen wie er, wenn auch in kleinerem Maßstab: Der Spagat zwischen Schule und anspruchsvoller Berufstätigkeit, eine immense Verantwortung für andere, aber auch für sich selbst (denn soweit Seto wusste, lebte Devlin allein und ohne Familie, auch wenn er die genauen Hintergründe nicht kannte). Wie er selbst brannte Devlin für seine Projekte – wie man in den letzten Tagen und Minuten nur zu deutlich gesehen hatte – und brachte gewiss an anderer Stelle Opfer dafür. Wenn er es genau bedachte, war Devlin vermutlich der einzige gleichaltrige Mensch in seinem Umfeld, mit dem er sich annähernd auf Augenhöhe austauschen konnte; seine Frage hatte das nur zu deutlich gemacht. Der rationale Teil von ihm unternahm noch einmal einen Versuch, ihn an seinen Vorsatz vom Nachmittag zu erinnern, sich Devlin gegenüber nicht noch einmal so gehen zu lassen. Aber mal ehrlich, war es dafür nicht sowieso schon viel zu spät? Und in Anbetracht der Frage war es doch fast schon so etwas wie ein … professioneller Austausch, oder? Nachdem er und seine Hormone seine Vorsätze derart in den Wind geschossen hatten, antwortete Seto denn auch fast automatisch und verhältnismäßig offen. „Leider nicht so viel, wie ich gerne würde, das ist wahr. Und mittlerweile decken wir so viele verschiedene Anwendungsgebiete mit der Holographie-Technik ab, dass ich auch gar nicht überall beteiligt sein kann, selbst, wenn ich wollte.“ Duke nickte aufmerksam und Seto fuhr fort: „Ich glaube, dass es vor allem darauf ankommt, sich konsequent Räume für die Tätigkeiten zu erhalten, die einen … wieder motivieren. Das tue ich sehr fokussiert und mit klaren Prioritäten – anders würde es auch gar nicht mehr gehen. Die Duel Monsters-Sparte ist dabei Priorität zwei. Dort möchte ich zumindest etwas stärker selbst involviert bleiben, lasse mich recht intensiv auf dem Laufenden halten, gebe Vorschläge und teste Prototypen. Priorität eins hat immer die Weiterentwicklung der Grundlagentechnologie, die ist mir … ein persönliches Anliegen.“ „Verständlicherweise.“, warf Duke ein und ließ ihn weitersprechen. „Die Zeit dafür plane ich explizit in meinen Kalender ein und gebe sie auch nicht ohne Weiteres für jeden x-beliebigen Termin her.“ Ein kleines Schmunzeln schlich sich auf Setos Gesicht. „Ich glaube, die wenigsten meiner Angestellten bekommen es so oft und lange mit mir persönlich zu tun, wie die in der Entwicklungsabteilung, die sich damit befassen. Nicht ohne Grund arbeiten dort nur Leute, die ich auch … persönlich schätze.“ Eine kurze Pause entstand, in der er überlegte, ob er wirklich noch mehr sagen sollte. Er sah Duke noch einmal tief in die Augen und setzte letztendlich etwas leiser hinzu: „Jeder noch so kleine Durchbruch dort entschädigt mich für so viele belanglose Besprechungen und nervigen Papierkram.“ Bei diesen Worten bemerkte Duke ein Leuchten in Kaibas sonst so kühlen blauen Augen. Der Schwarzhaarige lächelte sanft und sah sein Gegenüber lange an. „Danke für die ehrliche Antwort. Das hat mir tatsächlich geholfen.“ Es tat gut zu wissen, dass er nicht der Einzige war, den solche Fragen beschäftigten. Mit seinen Freunden konnte er so etwas nicht wirklich gut besprechen. Natürlich würden sie ihm zuhören und ihm gut zureden, aber es wirklich verstehen und ihm einen qualifizierten Rat geben konnten sie schlicht nicht. „Mir geht es im Übrigen genau so. Wenn ich eine coole Idee für die Weiterentwicklung von DDM oder für ein anderes neues Spiel habe, dann ist alles, was an meiner sonstigen Arbeit nervt, wie weggeblasen. Der Stress im Laden, die Buchführung, der Steuerkram, und was weiß ich nicht noch alles.“ „Langweilige Meetings mit Pegasus?“, fragte der Brünette mit einem Schmunzeln. Duke lachte kurz auf und nickte: „Ja, manchmal auch die.“, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Wobei ich Max in Schutz nehmen muss, ich habe auch viele sehr spannende Treffen mit ihm. Allgemein habe ich einfach unglaublich viel von ihm gelernt. Ohne ihn wäre ich definitiv nicht da, wo ich jetzt bin.“ Auch wenn der Schwarzhaarige ihm nicht direkt das Gefühl gegeben hatte, so kam es Seto doch ein wenig so vor, als habe er da gerade unbewusst etwas falsches gesagt. „Sicher, das wollte ich auch nicht in Abrede stellen.“, erwiderte er daher neutral, aber mit einem kaum merklichen versöhnlichen Unterton. Devlin schien loyaler zu sein, als er ihm hatte zugestehen wollen, zumindest Pegasus gegenüber. Vielleicht hatte er ihn doch falsch eingeschätzt und er hatte seinen Freunden gar nichts von der Sache am See erzählt? Sollte er ihn fragen? Auf eine ehrliche Antwort konnte er wohl hoffen, nachdem Devlin sich vorhin schon für das Ausplaudern von etwas weit harmloserem entschuldigt hatte… Nein, lieber nicht, das würde schon wieder viel zu tief blicken lassen. Für einen kurzen Moment hing ein betretenes Schweigen im Raum, dann atmete Seto gedehnt aus und stellte nüchtern fest: „Wir sollten schlafen.“ Duke warf einen Blick auf sein Telefon – es war bereits nach zwölf. „Du hast recht, das sollten wir wohl.“, stimmte er zu und schob mit einem schelmischen Grinsen nach: „Sonst muss ich mir morgen früh ernsthafte Sorgen um die Küchenfrau machen.“ Kaiba hatte unterdessen den Block zugeklappt und zufrieden registrierte Duke dessen amüsiertes Schmunzeln, während er das Arbeitsmittel in die Tasche zurücksteckte. Der Schwarzhaarige löschte sein Licht und deckte sich zu; Kaiba auf der anderen Seite tat es ihm gleich und drehte ihm wie üblich den Rücken zu – jetzt auch wieder ohne Maximalabstand. Für ein paar Minuten war es einfach nur still. Dann hörte er Kaibas Decke noch einmal rascheln und seine Stimme klang gedämpft und vorsichtig durch die Dunkelheit. „Haben … sie dich eigentlich gefragt, was heute wirklich los war?“ Für einige Sekunden hing die Frage bleischwer zwischen ihnen, bis Duke verstand. Unwillkürlich beschleunigte sich sein Herzschlag. Darum war es Kaiba also die ganze Zeit gegangen. Er musste kurz schlucken und seine Stimme war ein wenig belegt, als er schließlich flüsternd antwortete: „Ja. Aber ich hab nichts gesagt.“ Kapitel 14: Sitting on the sidelines. (Is way more interesting.) ---------------------------------------------------------------- Ein vertrautes Klimpergeräusch und ein schrilles Bimmeln ertönten um sechs Uhr dreißig zur gleichen Zeit aus zwei im Takt vibrierenden Smartphones. Reflexhaft schnell griff Seto zu seinem Handy und stoppte den Wecker; aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie sein schwarzhaariger Zimmergenosse auf der anderen Bettseite es ihm gleichtat, wenn auch etwas träger. Anstatt wie sonst sofort aufzustehen, ließ Seto sich noch einmal für einen kurzen Moment auf das Kissen zurücksinken. „Morgen!“, sprach ihn der Schwarzhaarige vorsichtig von der Seite an. „Darf ich heute zur Abwechslung mal zuerst ins Bad?“ Leidenschaftslos erwiderte Seto den bittenden Blick aus den grünen Augen und seufzte. „Von mir aus.“ „Danke!“ Mit einem zufriedenen Lächeln stand Duke auf, schnappte sich seine Sachen und verschwand im Badezimmer, während Seto allein im Bett zurückblieb. Mit beiden Händen rieb sich der Brünette über das Gesicht und atmete einmal gedehnt aus. Was zur Hölle machte er hier bloß? Eigentlich war er schon seit etwa zehn Minuten wach gewesen, aber anstatt wie sonst umgehend aufzustehen (Devlin hatte diesmal ja sogar seinen eigenen Wecker gehabt), war er einfach liegen geblieben. Und warum? Weil Devlin neben ihm im Schlaf ein Geräusch von sich gegeben und damit seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, mit dem Ergebnis, dass Seto die komplette Zeit bis zum Weckerklingeln damit verbracht ihn anzusehen … sonst nichts. Knapp zehn Minuten seiner kostbaren Lebenszeit hatte er damit verschwendet, einem anderen Menschen beim Schlafen zuzusehen! In seinem aktuellen Zustand hätte es allerdings zugegebenermaßen auch höchster Kraftanstrengung bedurft, um sich von dem Anblick zu lösen. Der Schwarzhaarige hatte auf dem Rücken gelegen, das Gesicht vollkommen entspannt und leicht in Setos Richtung gedreht, die Decke auf Bauchhöhe, locker festgehalten durch seine rechte Hand, die linke lag locker neben seinem Körper. Sein hellgraues Schlaf-T-Shirt hatte die Bräune seiner Haut noch etwas intensiver hervorgehoben und sanft die Muskulatur seines Oberkörpers umspielt. Eine dünne schwarze Haarsträhne war gerade so in sein Gesicht gefallen, dass er sie beinahe im Mund gehabt hätte und Seto hatte den starken Impuls unterdrücken müssen, sie ihm vorsichtig aus dem Gesicht zu streichen, wie er es bei seinem Bruder und dessen langen, schwarzen Haaren so häufig tat. Dann hatten zum Glück die beiden Wecker geklingelt und seine Selbstkontrolle notdürftig wiederhergestellt. Er entließ einen tiefen Seufzer und starrte an die Decke. Wie sollte das noch weitergehen?! Devlin war immerhin (neben ihm selbst) der größte Mädchenschwarm der Schule, wobei im Unterschied zu ihm der Schwarzhaarige auch noch alles andere als abgeneigt war, die Früchte dieses Rufs davonzutragen. (Das unscheinbare, stechende Gefühl das bei diesem Gedanken fast automatisch in seiner Brust aufstieg, schob er sofort wieder beiseite.) Für ihn persönlich bedeutete es im Grunde keinen Unterschied, ob er nun eine hormonelle Schwäche für einen Mann oder eine Frau entwickelte; es handelte sich schlicht um ein generelles Ärgernis. Eine Vorliebe für das männliche Geschlecht erklärte aber immerhin, warum er noch nie ein irgendwie geartetes, tieferes Interesse für Mädchen oder deren körperliche Attribute verspürt hatte und warum ihn ihre Verehrung und ihre Annäherungsversuche in der Schule so vollkommen kalt ließen. Aber dass es für ihn selbst keine Rolle spielte, bedeutete freilich noch lange nicht, dass das für andere auch galt. Er war sich völlig im Klaren darüber, dass ihn diese Art von Vorliebe, wenn sie herauskam, vor größere … Herausforderungen stellen würde. Da er jedoch nicht vorhatte, sie exzessiv und erst recht nicht öffentlich auszuleben – Herrgott, für den Moment sah sein Plan vor, sie überhaupt nicht auszuleben! – blieb ihm einfach nur zu hoffen, dass er diese temporäre Verirrung nach der Rückkehr in die Normalität so schnell wie möglich wieder vergessen und hinter sich lassen konnte. Und bis dahin … ja, bis dahin was? Ein Wort: Schadensbegrenzung. Er musste eventuelle Ausfälle so unauffällig und kurz wie möglich halten. Verhindern ließen sie sich ja anscheinend ohnehin nicht. Verfluchte Biologie! Als er hörte, wie der Schlüssel im Schloss der Badtür herumgedreht wurde, erwachte Seto schlagartig aus seinen Grübeleien und setzte sich schnell im Bett auf. Devlin trat mit seinen Schlafklamotten in der Hand hinaus, gekleidet in seine üblichen engen schwarzen Jeans und ein rotes T-Shirt passend zu seinem Haarband. Als Seto sich seinerseits über seinen Koffer beugte, um passende Kleidung für den Tag herauszusuchen, fiel ihm auf, dass er eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte, was für heute auf dem Programm stand. Frau Kobayashi schien nichts gesagt zu haben, sonst wüsste er es doch… Leicht genervt ob seiner Wissenslücke wandte er sich widerstrebend an Duke, der sich gerade seinen Anhänger um den Hals hängte: „Hat Kobayashi-sensei angekündigt, was heute gemacht wird?“ Der Schwarzhaarige lachte kurz auf: „Ich wollte es dir ja vorgestern Abend erzählen, aber du hast mir überaus glaubhaft versichert, dass es dich nicht interessiert.“ Seto rollte nur mit den Augen und sah Duke kalt an. „Jetzt interessiert es mich. Also rede!“ Mit einem amüsierten Schmunzeln kam Duke der wenig freundlich geäußerten Aufforderung nach: „So genau weiß ich es auch noch nicht. Keiner von uns. Noch nicht mal Kobayashi-sensei selbst. Sie hat sich mit dem Lehrer dieser Privatschulklasse angelegt, die vorgestern angereist ist. Long story short: Jetzt müssen wir in einer Art improvisierten Olympiade gegen die antreten. Die Disziplinen werden noch bestimmt.“ Duke hatte offenbar den Ausdruck auf Setos Gesicht richtig gelesen, als er mit einem breiten Grinsen fortfuhr: „Mich musst du nicht so angucken, Kaiba, manchmal denke ich auch, dass ich ein Irrenhaus und keine Schule besuche!“ Das entlockte Seto unfreiwillig ein kurzes Schmunzeln und schnell beugte er sich wieder über seinen Koffer. Nun, mit einem weißen Hemd konnte er wohl erst einmal nichts verkehrt machen, er konnte sich ja immer noch umziehen, wenn die aktuell noch unklaren Umstände später andere Kleidung erforderlich machten. Als er alles beisammen hatte, machte er sich schließlich ebenfalls auf ins Badezimmer. Im Frühstücksraum war es um einiges enger geworden, seit vorgestern die andere Klasse angekommen war. Trotz allem hatte Seto noch immer einen Tisch für sich alleine und war dankbar dafür. Bewusst genoss er jeden einzelnen Schluck des mittelmäßigen Kaffees, um sich innerlich für den Tag zu wappnen. Nach den vorangegangenen Tagen zu schließen, konnte es eigentlich nicht besser, sondern nur noch intellektuell grausamer, chaotischer und sinnloser werden; die Liste negativer Adjektive ließ sich im Grunde beliebig fortsetzen. Während die Schüler aßen, marschierte Frau Kobayashi mit einem Klemmbrett in der Hand an den Tisch von Herrn Takeda, dem Klassenlehrer der Privatschulklasse, ließ es extra stark auf die Tischplatte knallen und stützte sich raumgreifend und dominant mit beiden Händen vor dem Mann auf dem Tisch ab. Der Lehrer erwiderte ihren herausfordernden Blick fest und entschlossen, erhob sich kurz und bot ihr den Platz gegenüber an. Gemeinsam und notdürftig freundlich beugten sie sich über ihre Listen mit potentiellen Disziplinen für den Wettbewerb und gingen sie Eintrag für Eintrag durch. Hier und da kam eine kurze Diskussion auf, die aber ganz in Frau Kobayashsis Sinne zivilisiert blieb. Immer wieder rissen sie kleine Zettel, beschrieben und falteten sie und warfen sie schlussendlich in das große Glas, das Herr Takeda zum Zwecke der Auslosung bereits besorgt hatte. Schließlich waren sie damit fertig und standen auf. Frau Kobayashi klatschte mehrmals laut und kraftvoll in die Hände, um die Schüler zum Schweigen zu bringen und begann: „Meine Damen und Herren, bevor Sie das Frühstück beenden, wollen wir die Gelegenheit nutzen, noch einmal zu erklären, was heute passieren wird. Takeda-san und meine Wenigkeit haben uns vorgestern Abend … geeinigt, heute einen kleinen, nicht nur sportlichen Wettbewerb zwischen unseren beiden Klassen abzuhalten, wenn wir schon einmal gemeinsam hier sind. Denn nur eine Klasse kann besser sein als die andere und es ist natürlich vollkommen klar, welche das sein wird!“ Hier räusperte sich Herr Takeda auffallend laut und Frau Kobayashi schob wie so oft ihre Brille nach oben, um sich wieder zu fokussieren. „Nun, wie dem auch sei, der Wettbewerb wird aus fünf Disziplinen bestehen, die wir heute hoffentlich alle schaffen werden, sodass es am Ende des Tages einen eindeutigen Sieger geben sollte. Sie hatten alle die Möglichkeit, Disziplinen beizutragen, und diese haben wir neben eigenen Ideen ebenfalls berücksichtigt. Alle relevanten Vorschläge haben wir gerade eben zusammengetragen und auf Lose geschrieben, die sich jetzt in diesem Glas befinden, woraus wir die Disziplinen zufällig ziehen werden.“ Sie hielt das Glas demonstrativ in die Höhe und Herr Takeda übernahm das Wort. „Die spezifischen Regeln für jede Disziplin vereinbaren wir nach dem Ziehen. In dieser Zeit werden Sie jeweils die Gelegenheit haben sich vorzubereiten und gegebenenfalls umzuziehen. Nun denn, ich denke, damit ist das wichtigste geklärt und wir können die ersten beiden Disziplinen ermitteln. Ich lasse Ihnen den Vortritt, Teuerste!“ Sein verächtlicher Blick strafte seine versöhnlichen Worte Lügen. Frau Kobayashi erwiderte die „Freundlichkeit“ nur mit einem zuckersüßen, eindeutig falschen Lächeln und griff in das Glas, wo sie die Zettel noch einmal wild durchmischte, bevor sie nacheinander zwei Stück herauszog. „Erinnert das Ganze noch jemanden an Harry Potter Teil Vier? Ich jedenfalls bekomme hier ziemliche Feuerkelch-Vibes!“, kommentierte Joey, bevor Tea ihn mit einem leicht aggressiven „Schhh!“ zum Schweigen brachte. Selbst Seto erwartete, wenn auch nicht sonderlich gespannt, das Ergebnis, das gleich verkündet werden würde, wenn Frau Kobayashi die beiden Zettel aufgefaltet hatte. „Die ersten beiden Disziplinen des Tages werden sein…“, sie ließ eine künstliche Pause, um die Spannung noch ein wenig in die Höhe zu treiben, „Tischtennis und … Orientierungslauf!“ Hatten sich bei der Verkündung der ersten Disziplin noch viele Gesichter im Speisesaal aufgehellt, wandelten sich die Blicke bei Nummer Zwei in allseitige Ratlosigkeit und Kopfschütteln. Ohne darauf einzugehen, ergriff wieder Herr Takeda das Wort: „Nun denn, wie angekündigt werden Kobayashi-san und ich jetzt die Regeln und einen Zeitplan ausarbeiten. Es ist jetzt, Moment…“, er sah auf seine Armbanduhr, „kurz vor acht. Ich würde also sagen, wir treffen uns um zehn vor halb neun alle gemeinsam draußen an den Tischtennisplatten. Bis gleich, meine Damen und Herren, nutzen Sie die Zeit, sich entsprechend vorzubereiten und überlegen Sie sich vielleicht schon einmal, wer am besten spielen sollte!“ Während Duke unten blieb, sich weiter mit seinen Freunden unterhielt und sie sich alle noch in Ruhe einen Orangensaft gönnten (keiner von ihnen hielt es für nötig, sich für Tischtennis umzukleiden), ging Seto noch einmal hoch. Ebenfalls nicht, um sich umzuziehen (dass er bei diesem lächerlichen Spiel keinesfalls mitspielen würde, stand vollkommen außer Frage – nur über seine Leiche), sondern, um seine Tasche mit dem Block zu holen. Er schätzte, dass diese Runde mindestens eine Stunde dauern würde und in einer Stunde konnte er einiges erreichen, wenn er konzentriert arbeitete. Dennoch musste er sich um 08:20 Uhr, so wie alle anderen Schüler auch, gezwungenermaßen erst einmal mit um die Tischtennisplatten versammeln, hielt aber wie gewohnt einen guten Meter Abstand vom Rest. Die Morgensonne stieg gerade über die Bäume, während gute vierzig Schüler mehr oder weniger interessiert lauschten, wie die Lehrer die Regeln und das Spielsystem erläuterten. „Also“, begann Herr Takeda, „wir haben uns auf folgenden Modus verständigt, der hoffentlich Ihre Fähigkeiten umfassend auf die Probe stellen wird: Es gibt drei Tischtennisplatten. Auf jeder Platte werden zwei Runden gespielt. In der ersten Runde Einzel, in der zweiten Runde Doppel, sodass also aus jeder Klasse insgesamt neun Personen spielen werden. Jede Klasse kann dabei selbst bestimmen, wer das sein wird, es darf aber jeder nur ein Mal teilnehmen, also entweder beim Einzel oder beim Doppel. Ansonsten gelten die normalen Tischtennis-Regeln, die Ihnen vertraut sein dürften. Welches Team am Ende mehr Spiele gewonnen hat, gewinnt auch diese Disziplin. Falls es am Ende zu einem Unentschieden kommen sollte, bestimmen wir den Sieger in einer finalen Runde mit allen Spielern im Rundlauf-Modus…auch bekannt als Chinesisch.“ Bei dieser Ankündigung klatschten einige Schüler auf beiden Seiten aufgeregt in die Hände. Frau Kobayashi fuhr fort: „Nun denn, Sie haben jetzt fünf Minuten Zeit, um sich zu einigen, wer jeweils antreten wird. Los gehts!“ Vorsorglich entfernte Seto sich noch ein Stück mehr von den anderen, nicht, dass doch noch jemand so lebensmüde sein würde, ihn zu fragen, ob er spielte. Vom Kindergarten nahmen, wie er trotzdem mitbekam, immerhin vier Leute teil: Bakura und Gardner jeweils im Einzel, Taylor und Muto beim Doppel. Wenn er richtig gehört hatte, war die Argumentation des Letzteren aber weniger sein besonderes Können mit Schläger und Plastikball, sondern eher die Tatsache, dass er nicht wusste, was noch kam und lieber hier mitmachte, um „es weg zu haben“. Denn, wie Seto nur zu gut wusste: Wenn eines nicht zu Mutos Stärken zählte, dann war es „richtiger“ Sport, allen voran Ballsport. Als die Spiele begannen und er somit endlich final aus dem Schneider war, setzte sich Seto weit abseits aller anderen gebannt zuschauenden Schüler beider Seiten ins Gras, holte schon fast gewohnheitsmäßig den Block aus seiner Tasche und begann zu arbeiten. Nach etwa zehn Minuten bemerkte er, wie sich jemand von hinten näherte. Er drehte sich kurz um und erkannte Duke, der in seinem Rücken stehen blieb, die Hände locker in den Hosentaschen vergraben, und ihm einen Moment lang interessiert über die Schulter sah. Offenbar interpretierte er Setos ausbleibenden Protest als implizite Erlaubnis und ließ sich mit einem warmen Lächeln auf den Lippen kurzerhand im Schneidersitz neben ihm ins Gras sinken. Setos Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich. Ach, verdammt! Wie sollte man denn so seine Selbstbeherrschung aufrecht erhalten? Was musste dieser Typ auch so ein … Gesicht haben! „Was verbesserst du jetzt noch?“, erkundigte sich Duke, beugte sich noch etwas weiter zu ihm und studierte die aufgeschlagene Zeichnung genauer. Die hauchzarte Berührung ihrer Oberarme nahm Seto geradezu überdeutlich wahr und unternahm nicht einmal den Versuch den unfreiwilligen Körperkontakt zu beenden. Wenn das nicht zeigte, dass er im Grunde krank war, was dann? Ausgehend von seinem Arm begann es von Neuem in seinem ganzen Körper zu kribbeln und wieder fiel es ihm schwer zu entscheiden, ob er das nun angenehm oder unangenehm finden sollte. Derart abgelenkt musste er sich kurz räuspern, bevor er in hoffentlich gewohnt sachlicher Manier antwortete: „Das Würfeln. Du warst gestern noch nicht überzeugt, also probiere ich noch ein paar Alternativen aus.“ „Alles klar. Sag Bescheid, wenn eine davon spruchreif ist.“ „Werde ich.“ Seto atmete einmal leise gedehnt aus. Er wollte das Gespräch noch nicht wieder abreißen lassen und nickte in Richtung der Tischtennisplatten. „Du spielst nicht?“ Duke lachte einmal bitter auf und schüttelte den Kopf. „Tischtennis war noch nie eine meiner Stärken. In den Kreisen, in denen ich aufgewachsen bin, hatten die Familien eher selten einen Grill und eine Tischtennisplatte herumstehen. Macht sich so schlecht im gepflegten, englischen Landschaftsgarten hinter einer Villa.“ Seto hörte interessiert zu und versuchte, das Informationshäppchen, das er gerade erhalten hatte, einzuordnen. Stimmt, Devlin musste ebenfalls in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sein. Soweit er wusste, gehörte seinem Vater ein größeres Unternehmen in Amerika. Wenn er sich recht entsann, war er dem Mann sogar schon einmal in seinen ersten Monaten bei Gozaburo auf einer jener unsäglichen Dinnerparties begegnet, bei denen er herumgezeigt worden war, wie dessen neuestes, possierliches und ach-so-kluges Haustier. Anstatt einer verbalen Antwort erwiderte er Dukes Blick nur wissend. „Glücklicherweise bin ich schon seit einigen Jahren komplett aus dieser Welt raus, aber um meine Tischtennis-Skills aufzubessern, hat mir bisher leider die Zeit gefehlt.“ Jetzt lachte Devlin immerhin wieder, was Seto wesentlich besser gefiel – diese leichte Bitterkeit von eben passte einfach nicht zu ihm. „Du finanzierst dich komplett selbst?“, fragte Seto fast automatisch weiter, bevor ihm einfiel, dass er Devlin mit der Frage eventuell zu nahe trat. Aber, beruhigte er sich, der Schwarzhaarige musste ja nicht antworten, wenn er nicht wollte. „Mhm.“, bestätigte Duke, „Hauptsächlich mit den Einnahmen aus dem Laden, aber ich beziehe auch ein kleines Gehalt von Industrial Illusions für die Weiterentwicklung von DDM … und dazu natürlich noch die Gewinnbeteiligung an den Einnahmen.“ Er ließ eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Reich werde ich damit zum jetzigen Zeitpunkt aber auch nicht. Das meiste von dem, was ich verdiene, investiere ich direkt wieder in den Laden.“ Dann hoben sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen und ein freches Funkeln schlich sich in seine grünen Augen. „Gerade zum Beispiel spare ich für eine neue Duell-Arena eines namhaften Herstellers und, falls du es noch nicht wusstest, die sind nicht gerade billig!“ Das brachte nun auch Seto zum Schmunzeln. „Hast du etwas an meiner Preispolitik auszusetzen? Die beste Qualität kostet nun mal.“ „Weiß ich doch!“, gab Duke kichernd zurück. „Außerdem habe ich immer noch die leise Hoffnung, dass ich mich irgendwann mal durch irgendetwas für einen Rabatt qualifiziere…“ Setos Augenbrauen wanderten nach oben und er sah Duke nüchtern an. „Nun, mit mir zu reden wäre zum Beispiel ein Anfang. Und weitaus aussichtsreicher als bloßes Hoffen.“ „Ach, das wäre doch viel zu naheliegend!“, lachte der Schwarzhaarige mit einem Kopfschütteln, lehnte sich entspannt zurück und blickte für einen Moment versonnen in die Ferne über die Baumkronen hinweg. Seto jedoch sah ihn von der Seite unverwandt an, bis die grünen Augen endlich seinen Blick erwiderten. „Im Ernst, Devlin: Liefere mir gute Argumente und ich bin der Letzte, der ablehnt!“ Duke schaute kurz ein wenig ungläubig, bevor er zögernd nickte: „Okay, ich mache mir mal Gedanken und komme wieder auf dich zu.“ „Tu das!“ Duke antwortete nichts weiter, sondern blieb einfach still neben ihm sitzen. Wie gestern auf dem Weg zurück zur Brücke war das Schweigen jedoch alles andere als unangenehm, wie Seto zu seinem Erstaunen feststellte. Wie sie so beieinander saßen – er weiter zeichnend, Devlin wechselnd ihm und aus der Ferne den Tischtennisspielern zusehend – erschien ihm so selbstverständlich und … einfach. Ganz so, als müsste es so sein. Wäre es nach ihm gegangen, hätte es noch eine ganze Weile einfach so weitergehen können. Für Setos Geschmack viel zu schnell hörte man jedoch schon bald laute Freudenschreie aus Richtung der Tischtennisplatten, die zweifelsfrei vermittelten, dass die Privatschüler gewonnen und sie verloren hatten. Sie sahen, wie die Doppel-Spieler Tristan und Yugi leicht geknickt zu den anderen zurückkehrten und Duke nahm es zum Anlass, sich wieder zu erheben. Seto kam nicht umhin, das leichte Bedauern zu bemerken, dass er darüber empfand. „Na dann, bis später, Kaiba! Und danke für dein Angebot! Ich komme definitiv darauf zurück!“ Noch einmal warf Duke ihm eines seiner entwaffnenden Lächeln zu, winkte kurz und drehte sich schließlich um, um zurück zu den anderen zu gehen. Einen kurzen Moment blieb Seto noch sitzen und atmete ein paar mal tief durch, um seinen noch immer leicht erhöhten Puls zu beruhigen. Dann packte er Block und Stift wieder in seine Tasche, stand ebenfalls auf und ging wieder zur Klasse, um zu hören, wie es weitergehen sollte. Herr Takeda sah gerade, umringt von seinen Schülern, mit einem zufriedenen Lächeln auf Frau Kobayashi hinab: „Nun, meine Teuerste, ich würde sagen, ein klarer Sieg für die bessere Klasse, aber vielleicht haben Sie ja in einer anderen Disziplin mehr Chancen.“ Frau Kobayashi kochte innerlich vor Wut, sagte aber nichts, vermutlich aus der Befürchtung heraus, dass nichts von dem, was sie gerne äußern würde, als ‚zivilisiert‘ durchgehen würde. Herr Takeda hingegen sah mit gerunzelter Stirn geschäftsmäßig auf seine Uhr. „Nun, für den Orientierungslauf ist eigentlich alles bereits vorbereitet. Ich muss nur noch ein paar mehr Kopien der Karte anfertigen. Ich würde also sagen, Sie alle haben jetzt eine Viertelstunde Zeit, um kurz Pause zu machen und sich Sportsachen anzuziehen, denn die werden Sie jetzt brauchen – und zwar alle, denn die gute Nachricht ist: Beim Orientierungslauf werden Sie alle mitmachen!“ Über das unmotivierte Stöhnen der Schüler ging er achtlos hinweg. „Wir treffen uns also pünktlich um 09:45 Uhr dort vorne am Waldrand. Bis gleich!“ Mit einem kurzen Augenrollen wandte sich Seto zur Herberge, um nach oben ins Zimmer zu gehen und sich umzuziehen. Frau Kobayashi hatte sie vor der Fahrt angewiesen, vorsorglich Sportsachen einzupacken, falls eine Planänderung sportliche Aktivitäten erforderlich machen sollte – wie es ja nun auch gekommen war. Gerade hatte er die Tasche neben dem Bett abgestellt, da betrat auch Duke kopfschüttelnd den Raum. „Tze und ich hatte gehofft, wir würden die Sportsachen nicht brauchen! Naja, ich würde mich nochmal kurz frisch machen und mich gleich im Bad umziehen, wenn das okay für dich ist.“, fragte er und deutete auf die Badtür. Seto zuckte nur mit den Schultern. „So lange ich gleich auch nochmal ganz kurz rein kann…“ „Na klar!“ Mit diesen Worten verschwand der Schwarzhaarige mit seinen Sportklamotten im Badezimmer. Seto nutzte die Zeit, und zog sich direkt im Zimmer um: Sein Hemd ersetzte er durch ein blaues atmungsaktives Shirt und seine graue Jeans durch eine lange, schwarze, etwas enger anliegende Laufhose. An diesem kindischen Wettbewerb hatte er zwar keinerlei Interesse, aber gegen ein wenig körperliche Ausarbeitung, vor allem in Laufform, hatte er nicht viel einzuwenden. In letzter Zeit hatte er es durch den ganzen Stress vor dem Release der neuen Duel Disk-Generation nicht mehr geschafft, seine Jogging-Routine aufrecht zu erhalten. Als letztes zog er sich seine Laufschuhe an und war damit im Grunde fast bereit, als nur wenige Sekunden später Duke wieder aus dem Badezimmer kam, seinerseits gekleidet in ein dunkelgrünes Sportshirt, das ausnehmend gut zur Farbe seiner Augen passte (ein Gedanke, für den sich Seto am liebsten geohrfeigt hätte, als er ihm bewusst wurde), eine schwarze, kurze Hose sowie ebenfalls Sportschuhe. Schnell zwang Seto sich wieder zur Konzentration und verschwand wie angekündigt noch einmal kurz im Badezimmer. Als er wieder hinauskam, schnappten sie sich beide noch ihre Wasserflaschen, traten aus dem Zimmer und Duke schloss hinter ihnen ab. „Kannst du den Schlüssel nehmen, Kaiba? Meine Hose hat leider keine verschließbaren Taschen und es wäre doch ziemlich schlecht, wenn der verloren ginge.“ „Klar.“ Als Duke ihm die Schlüssel in die Hand legte, strichen die Fingerspitzen des Schwarzhaarigen für den Bruchteil einer Sekunde über Setos Handfläche. Ihn überlief unwillkürlich ein Schauer, denn, wenn er es nicht besser wüsste, hätte er schwören können, die Berührung sei beabsichtigt gewesen. In dieser Sekunde traten weiter vorne auf dem Gang Dukes Freunde ebenfalls umgezogen aus ihren Zimmern, sodass der Schwarzhaarige noch einmal die Hand zum Gruß hob und sich kurz angebunden verabschiedete: „Danke, Kaiba, und bis gleich!“ Mit diesen Worten lief er schnellen Schrittes zum Rest des Kindergartens. „Ja, bis … gleich!“, stieß Seto mit leichter Verspätung und noch immer einigermaßen irritiert aus, doch der Schwarzhaarige hatte seine Antwort vermutlich schon gar nicht mehr gehört. Gedankenverloren sah Seto ihm nach, wie er von Yugi und den anderen lächelnd begrüßt und sofort in ihre angeregte Unterhaltung einbezogen wurde. Als sei er aus einer temporären Versteinerung erwacht, setzte Seto sich nun ebenfalls in Bewegung und folgte wie mechanisch seinen anderen Mitschülern wieder hinaus auf das Freigelände. Konnte es wirklich sein, dass Devlin ihn mit Absicht berührt hatte – eben gerade und vielleicht auch schon vorhin beim Ansehen der Zeichnung? Falls ja, könnte das bedeuten, dass Devlin vielleicht auch … Sein Herzschlag beschleunigte sich einmal mehr und ein Flattern erfüllte seine Magengegend. Nein, absolut unmöglich! Devlin hatte keinerlei Grund dazu. Einerseits war da immer noch Setos nach wie vor unterkühltes und problematisches Verhältnis zum Rest des Kindergartens, das wohl immer zwischen ihnen stehen würde, und zweitens und viel entscheidender natürlich die schlichte Tatsache, dass kaum jemand so eindeutig und zweifelsfrei auf Mädchen stand wie Devlin. Allerdings lächelte Devlin ihn immer wieder auf diese ganz bestimmte Art und Weise an, kam ihm näher und zuckte nicht zurück, wenn er ihn mal versehentlich(?!) berührte … Nein, nein, nein! Rational war es vollkommen ausgeschlossen, dass Devlin seine Gefühle (Nein!) … seine temporäre hormonelle Dysbalance (Viel besser!) jemals erwiderte. Was aber natürlich nicht bedeutete, dass er sich nicht vielleicht einmal ausnahmsweise für einen kurzen Moment der irrationalen Hoffnung hingeben könnte. Vielleicht musste er auf dieser Klassenfahrt tatsächlich einmal zeitweise vor seinem eigenen Körper kapitulieren und sich einfach darauf einlassen. Vielleicht konnte er dann aus der Erfahrung lernen und weitere derartige Situationen (Gott bewahre!) erfolgreicher abwenden… Am Waldrand angekommen, ließ er seinen neuerlichen Jekyll und Hyde-Moment endlich hinter sich und erwartete mit allen anderen Schülern die Erklärung der nun bevorstehenden zweiten Disziplin dieses kindischen, kleinen Wettbewerbs. Da es sich hier um eine Disziplin handelte, die von Herrn Takeda beigesteuert worden war, war es nur logisch, dass nun auch er Ablauf und Inhalt erläuterte: „Also meine Damen und Herren, beim Orientierungslauf geht es darum, möglichst schnell eine durch bestimmte Kontrollpunkte im Gelände festgelegte Strecke abseits der normalen Wege abzulaufen. Zur namensgebenden Orientierung stehen Ihnen dabei nur Karte und Kompass zur Verfügung. Die Strecke habe ich bereits gestern vorbereitet, denn das hätte ich mit meinen Schülern auch ohne diesen amüsanten Wettbewerb heute oder morgen gemacht. Die Strecke besteht aus zehn Kontrollpunkten, die Sie der Reihenfolge nach ablaufen müssen. An jeder Station habe ich einen Stempel befestigt, mit dem Sie auf der Karte markieren können, dass Sie den Punkt erreicht haben. Von der Karte habe ich ein paar mehr Abzüge angefertigt, allerdings verfügen wir nicht über genügend Kompasse, weshalb Sie das Ganze in Zweierteams bewältigen werden. Die Zusammenstellungen werden wir gleich im jeweiligen Klassenverband auslosen. Da Sie natürlich nicht einfach Ihren Mitschülern nachlaufen sollen, werden die Teams mit entsprechendem Zeitversatz starten. Welche Klasse zuerst mit der in Summe niedrigsten Zeit und allerhöchstens zehn fehlenden Stempeln wieder da ist, hat diese Disziplin gewonnen. Da Sie allesamt junge und fitte Menschen sind, sollten Sie den Parcour eigentlich in etwa anderthalb Stunden bewältigen können.“ Er blickte aufmerksam durch die Menge der Schüler. „Gibt es bis hierhin Fragen?“ Hier und da wurden Köpfe geschüttelt. „Gut, dann sammeln Sie sich jetzt in Ihrem jeweiligen Klassenverband und losen Sie die Teams aus! Wir sind eine gerade Anzahl von Schülern, sodass es problemlos aufgehen sollte.“ Frau Kobayashi hatte genau wie ihr männliches Pendant ein kleineres Glas vorbereitet, das Zettel mit den Namen ihrer sämtlichen Schüler enthielt. „Also meine Damen und Herren, ich werde jetzt der Einfachheit halber immer zwei Zettel ziehen, und Sie werden das Ergebnis ohne Diskussion akzeptieren, haben wir uns verstanden?“ Allseits lustloses Nicken. Seto hoffte drauf, dass Fortuna wie schon bei der Zimmerbelegung auf seiner Seite sein und nicht der Worst, sondern der Best Case eintreten würde. In letzterem bekam er Devlin zugeteilt, den gefühlt einzigen wirklich kompetenten Menschen auf dieser Klassenfahrt, mit dem dieser kleine Querfeldeinlauf zumindest den Hauch einer Chance hatte, eine einigermaßen erträgliche Angelegenheit zu werden. Doch selbst wenn es nicht so kam, war eigentlich alles besser als der Worst Case, der natürlich nur eines sein konnte … „Seto Kaiba und … Joey Wheeler.“ Genau das. Kapitel 15: My own worst enemy. (Is usually me.) ------------------------------------------------ Nachdem in beiden Klassen alle Paare für den Orientierungslauf ermittelt waren, wurden die Karten und Kompasse ausgegeben. Als endlich auch Setos und Joeys Namen aufgerufen wurden, trat ersterer mit versteinerter Miene zu Frau Kobayashi und nahm beides entgegen. Soweit kam es noch, dass Wheeler die beiden Instrumente in die Hand bekam, die dafür sorgen würden, dass sie am Ende wieder hierher zurückfanden! Zweifellos wäre er ohne den Köter wesentlich besser dran – jetzt, wie auch im Allgemeinen – aber er würde einen Teufel tun und ein Fass aufmachen. Das zog die Dinge nur unnötig in die Länge. Wie auch sonst bei dieser Klassenfahrt würde er jetzt ebenfalls einfach nur versuchen, das ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Gewinnen war angesichts der Beteiligung Wheelers sowieso vollkommen ausgeschlossen. Verlockender war da schon eher die Vorstellung sich der blonden Pest im Wald ein für alle mal zu entledigen, aber leider würden wohl einige Leute (allen voran der Kindergarten und Frau Kobayashi) anfangen, unangenehme Fragen zu stellen, wenn er alleine aus dem Wald zurückkehrte. Ganz anders als die anderen Teams, die aufgeregt schnatternd beieinander standen und sich über ihr Vorgehen und ihre Arbeitsteilung beratschlagten, warteten Seto und Joey voneinander abgewandt, mit verschränkten Armen und ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln auf ihren Start, wobei die fünf Meter Abstand, die sie dabei hielten, beinahe vergessen ließen, dass sie ein Team bildeten. Schließlich wurden sie an die Startlinie gerufen. Für den Weg zur ersten Station würden sie Kompass und Karte noch nicht benötigen; diesen Teil hatte Herr Takeda so geplant, dass sie eigentlich nur geradeaus dem Waldweg folgen mussten. Erst ab dem ersten Wegpunkt begann das „richtige“ Orientieren und sie würden die vorgesehenen Wege verlassen. So hielt Seto den Kompass vorerst geschlossen und in seiner Hand, die Karte hatte er säuberlich gefaltet und in seiner Hosentasche verstaut. An der Startlinie angekommen, blickten sie weiterhin einfach nur stoisch aneinander vorbei nach vorne, mit den Gedanken schon beim Ziel, an dem sich ihre Wege endlich wieder trennen würden. Trotz der sehr eindeutigen nonverbalen Kommunikation hielt es Seto für angebracht noch einmal ganz klar seine Erwartungshaltung zu vermitteln. Seine Warnung brachte er gerade so laut vor, dass nur Joey sie hören konnte: „Komm mir in die Quere, Wheeler, und ich binde dich im Wald an einen Baum an, wie einen geschenkten Hund nach Weihnachten!“ Das konnte der Angesprochene nicht ignorieren: „Ach ja? Mal sehen, ob du noch so überheblich daher redest, wenn du erstmal mit der echten Wildnis konfrontiert wirst, Geldsack! Das ist nämlich was anderes, als das zurechtgestutzte Heckenzeugs hinter deiner Villa!“ Zu mehr als einem kurzen Schnauben und Kopfschütteln als Reaktion kam Seto nicht mehr, denn in diesem Augenblick ertönte der schrille Pfiff aus Herrn Takedas Trillerpfeife und ihre Zeit lief. Schon nach wenigen Metern konnte Seto die schattige Kühle des Waldes um sich spüren, während seine Füße mit jedem Schritt knirschend auf weichen Waldboden trafen. Die letzten aufsteigenden Dampfschwaden der Morgenfeuchte ließen die Strahlen der Sonne sichtbar werden, die durch die Äste und Blätter der Bäume brach und alles in einem goldenen Herbstglanz erstrahlen ließ. Jeder seiner immer schneller werden Atemzüge ließ frische, erdige Luft in seine Lungen strömen. Wenn Wheeler und dieser Orientierungsquatsch nicht wären, hätte man das ganze beinahe genießen können… Nach etwa fünf Minuten war bereits die erste Station erreicht: ein Wegweiser, an dem in der Tat an einer Schnur ein Stempel befestigt war. Seto holte die Karte heraus und markierte den ersten Punkt als erledigt, während Joey mit den Händen in die Hüften gestemmt die Gelegenheit nutzte, durchzuatmen. Mit ausnehmender Befriedigung hatte Seto bemerkt, wie der Blonde geradezu verzweifelt immer wieder versucht hatte, ihn zu überholen, was ihm jedoch nicht gelungen war. Für einige Minuten hatte er es immerhin geschafft, auf gleicher Höhe zu bleiben, dann war er jedoch wieder zurückgefallen. Fachmännisch klappte Seto den Kompass auf, legte ihn auf die Karte und hatte nur wenige Sekunden später die Richtung identifiziert, in der die zweite Station liegen musste. Natürlich war es noch viel zu früh für irgendwelche Vorhersagen, aber wenn sie in diesem Tempo weiter vorankamen, war ein Sieg vielleicht doch nicht so abwegig, wie er zuerst gedacht hatte… Mit diesem Gedanken steckte er die Karte wieder ein, behielt den Kompass in der Hand, um gelegentlich die Richtung zu kontrollieren und rannte wieder los. So ging es während der nächsten zwei Etappen weiter und Seto war mehr als dankbar, dass Wheeler offensichtlich genau in der richtigen Form – oder Nicht-Form – war, um auf dem Weg einigermaßen mit ihm mithalten zu können, die kurzen Unterbrechungen an den Stationen jedoch zu dringend benötigte, um wieder zu Atem zu kommen, sodass er weder Zeit noch Energie hatte, dämliche Wheeler-Kommentare abzusondern. Auf dem Weg zur vierten Station war es dann aber nicht mehr zu übersehen, dass Joey stark nachließ. Er fiel immer weiter zurück, war sichtlich außer Atem, und schließlich überwand er sich sogar, in quengeligem Tonfall zu rufen: „Hey, Mr. Hobby-Langstreckenläufer, können wir vielleicht mal etwas langsamer machen?!“ Seto ignorierte den Einwurf demonstrativ und lief im selben Tempo weiter. Einerseits gefielen ihm der Ton und die Ironie in der Ansprache nicht und andererseits war Wheelers Gehirn ja vielleicht mittlerweile so unterversorgt mit Sauerstoff, dass er ihn Glauben machen konnte, er habe ihn nicht gehört. „Hey, ich weiß, dass du mich gehört hast, Geldsack!“, ertönte es noch einmal etwas lauter und ärgerlicher von noch weiter hinten. Schade, es wäre ja auch zu schön gewesen. Trotzdem behielt Seto seine Geschwindigkeit bei – mal sehen, wann Wheeler aufgeben würde. „Hey!“, versuchte es der Blonde noch einmal fordernder und nach einer kurzen Pause geradezu flehentlich: „Bitte!“ Daraufhin erbarmte sich Seto endlich und verlangsamte sein Tempo, sodass Joey aufschließen konnte. „Danke!“ Es war nicht mehr als ein gereiztes Grummeln in die entgegengesetzte Richtung gewesen, aber Seto hatte es natürlich trotzdem gehört. Kurz darauf erreichten sie Station Vier, einen umgestürzten und abgestorbenen Baum, an dessen massiven, in die Luft ragenden Wurzeln der entsprechende Stempel festgemacht war. Während Seto ihn öffnete und routiniert an die entsprechende Stelle auf der Karte drückte, konnte er es nicht lassen, den Blonden ein wenig zu triezen, der sich mit halber Schnappatmung an dem Baumstamm abstützte. Wo bliebe denn der Spaß, wenn er seine offensichtliche Überlegenheit nicht auskosten konnte? „Was ist los, Köter? Ich bin davon ausgegangen, dass du das hier genauso schnell hinter dich bringen möchtest wie ich! Oder hat dich das viele Hundefutter, das du ständig in dich reinschaufelst, einfach nur sehr behäbig gemacht?“ Zufrieden nahm Seto zur Kenntnis, wie sich die Röte der sportlichen Anstrengung in Joeys Gesicht augenblicklich noch intensivierte. Mit aggressiv verschränkten Armen lehnte der Blonde sich mit dem unteren Rücken an den Baum und funkelte Seto voll unmissverständlicher Abneigung an: „Oh, glaub ja nicht, dass ich freiwillig länger als nötig mit dir in diesem Wald bleiben möchte, Eisklotz! Ich will hier so schnell wie möglich raus, nur eben nicht um den Preis, dass ich kollaboriere!“ Seto verdrehte die Augen. „Kollabiere.“ „Ach, was auch immer! Ich möchte diesen Wald jedenfalls gerne bei Bewusstsein und lebend verlassen.“ Setos Augenbrauen wanderten nach oben. „Bedauerlich, ich wäre dir andernfalls gerne behilflich gewesen.“, murmelte er beiläufig, während er bereits damit beschäftigt war, den Kompass wieder einzunorden und die neue Richtung zu bestimmen. Der Blonde hatte offenbar langsam wieder zu Atem gefunden, stieß sich von dem Baumstamm ab und trat zu Seto. „Sag mal, Kaiba, warum hast du eigentlich die ganze Zeit die Karte und den Kompass?“ Der Brünette seufzte. Hatte dieser Idiot ihm beim Start nicht zugehört? Er hatte sich doch nun wirklich ganz klar ausgedrückt! Komm mir nicht in die Quere! – was gab es daran nicht zu verstehen? „Ganz einfach, Wheeler, weil nur das garantiert, dass wir am Ende auch wieder ankommen! Warum bist du nicht einfach froh, dass du nichts tun musst? Das müsste dir angesichts deines generellen Kompetenzniveaus doch eigentlich sehr entgegen kommen.“ „Hey, ich könnte das auch, dass du es nur weißt!“, protestierte der Blonde vehement, „So schwer ist das doch nicht! Kompass und Karte in die gleiche Richtung und los gehts, das hab ich schon tausendmal bei Survival-Shows im Fernsehen gesehen – ich bin quasi Experte für das Überleben in der Wildnis! Und ich hab keine Lust drauf, dass am Ende jemand denkt, dass ich das ohne dich oder irgendjemand anderen nicht geschafft hätte!“ Seto konnte nicht vermeiden, dass seine Mundwinkel minimal nach oben zuckten. Wie süß, der Köter hatte also auch seinen Stolz und wollte sich nicht einfach komplett untätig von ihm bis ins Ziel bringen lassen! Hm, ein bisschen verlockend war es ja schon … Sorgfältig wog Seto seine Interessen ab: schnell ankommen oder dem Köter beweisen, dass er recht hatte und ihm seine Unfähigkeit vor Augen führen … ankommen, recht haben, ankommen, recht haben … Nun, einen Sieg hatte er ohnehin nicht eingeplant und dieser dämliche Wettstreit mit der anderen Schule konnte ihm nicht egaler sein … „In Ordnung, Wheeler, ich gebe dir genau eine Chance.“ Noch ein letztes Mal fragte eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf, ob das wirklich eine gute Idee war, er überging sie jedoch und überreichte Joey Karte und Kompass. Der griff bereits danach, doch Seto ließ noch nicht los und zwang den Blonden so, ihn noch einmal direkt anzusehen. „Sollten wir die nächste Station problemlos und zügig erreichen, wechseln wir uns für den Rest der Strecke ab. Falls wir signifikant länger brauchen, bekomme ich beides ohne Widerrede zurück und behalte die Führung. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Mit einem gedehnten Ausatmen stimmte der Blonde zu und zog noch einmal etwas stärker an der Karte: „Pfff, na schön! Für den Augenblick spiele ich nach deinen Regeln, Kaiba. Aber wehe, du kommst mir später krumm!“ Mit einem süffisanten Lächeln schüttelte Seto den Kopf und gab die beiden Gegenstände frei. „Dann gib mir keinen Grund, Köter!“ Ähnlich wie er zuvor legte Joey den Kompass auf die Karte, drehte sich mehrmals leicht nach links und rechts und beobachtete dabei angestrengt die Bewegung der Kompassnadel. Aus dem Augenwinkel versuchte Seto zu erkennen, wie genau Joey die Richtung bestimmte (ein bisschen Selbsterhaltungstrieb hatte er ja doch noch), aber der Blonde wandte ihm immer wieder demonstrativ den Rücken zu, sobald er Setos Blick auf sich ruhen spürte. Schließlich setzte er sich in Bewegung und Seto folgte ihm mit ein paar Metern Abstand auf gleicher Höhe. Immer wieder warf Joey einen kontrollierenden Blick auf den Kompass, während sie im lockeren Joggingschritt, aber mit der entsprechend erhöhten Aufmerksamkeit, durch raschelndes Laub und Unterholz quer durch den Wald liefen. Nachdem es ihn am Anfang ein wenig Überwindung gekostet hatte, die Verantwortung – und sei es auch noch so kurz und aus noch so verführerischen Gründen – in Wheelers Hände zu legen, kam Seto in den nächsten Minuten an einen Punkt, an dem er es beinahe genoss, einmal nicht das Heft in der Hand haben zu müssen. Der leichte Wind rauschte durch die Kronen der Bäume, das Knirschen und Rascheln seiner Füße auf dem weichen und belaubten Waldboden bildeten einen gleichförmigen Rhythmus mit seinem Atem und das Ausweichen vor den tief hängenden oder auf dem Boden liegenden Ästen und hochragenden Wurzeln forderte seine Aufmerksamkeit in genau dem richtigen Maße. Linker Fuß, rechter Fuß, Einatmen. Linker Fuß, rechter Fuß, Ausatmen. In diesem beinahe schon meditativ-sportlichen Flow flogen die Minuten nur so dahin, bis er aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie sich Joey immer hektischer umsah. Stimmt, sie waren schon ziemlich lange unterwegs… Ein Blick auf seine Armbanduhr bestätigte Seto sein Bauchgefühl: Es waren bereits fast zwanzig Minuten vergangen. Für die bisherigen Stationen hatten sie jeweils lediglich zwischen fünf und zehn Minuten benötigt. Schließlich durchbrach der Blonde die immer unangenehmer werdende Stille mit einem Räuspern: „Ähm, also, versteh das jetzt nicht falsch, Kaiba, ich hab natürlich alles im Griff … aber … die nächste Station hätte schon lange kommen müssen, oder?“ Seto seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Natürlich, genauso hatte er es kommen sehen. Mit einem spöttischen Lächeln antwortete er nur: „Möglich, aber was weiß ich schon, du bist doch hier der Überlebensexperte!“ Joeys Stimme überschlug sich beinahe ein wenig, als er antwortete: „Ja, ganz genau, der bin ich! Und in dieser Funktion sage ich, wir sollten kurz stoppen und uns … vergewissern, dass wir noch auf dem richtigen Weg sind! Das … macht man nämlich von Zeit zu Zeit so, als Profi.“ Er hielt an und auch Seto blieb stehen und stemmte abwartend die Hände in die Hüften, während sich sein Puls wieder nach unten regulierte. Durchdringend musterte er Joey, der verzweifelt die Karte heraus gekramt hatte und sie ratlos in sämtliche Richtungen drehte und wendete. „Gib es doch zu, Wheeler, du hast keine Ahnung mehr, wo wir sind und in welche Richtung wir laufen!“ Der Blonde ließ mit einem Seufzen die Karte sinken. „Okay, okay, vielleicht hab ich vorhin eine Kleinigkeit falsch gemacht, aber gib mir nur eine Sekunde und ich finde heraus was, und wir sind in Nullkommanix am nächsten Wegpunkt!“ Seto hatte Mühe, ein hämisches Grinsen zu unterdrücken und lehnte sich entspannt und mit verschränkten Armen an den nächsten Baum, während er darauf wartete, dass Wheeler endlich seine Planlosigkeit anerkannte und zugab. Diesen Triumph würde er kurz auskosten, dann Karte und Kompass wieder an sich nehmen und sie im Anschluss ohne Probleme wieder auf den richtigen Weg zurückführen. Mit etwas Glück wären sie vielleicht noch nicht mal die Letzten. Allerdings schien Joey sich noch immer nicht geschlagen geben zu wollen. Dieser hartnäckige Dummkopf! Zwar hob er den Blick von der Karte und klappte den Kompass zu, allerdings nur, um sich dem Boden zuzuwenden und in größeren Kreisen um die Stelle, an der sie standen, herumzulaufen. Eine Minute lang verfolgte Seto das Schauspiel mit der Neugier eines Tierforschers, der eine neue Spezies erstmals beim Balztanz beobachtet, bevor er schließlich die Frage nicht mehr länger zurückhalten konnte: „Was in drei Teufels Namen tust du da, Wheeler?!“ „Ich schaue, ob ich Fußspuren finden kann!“, antwortete der Blonde, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Seto runzelte die Stirn und konnte noch nicht einmal mehr wirklich fassungslos sein. „Lass mich raten, das hast du auch aus dem Fernsehen?!“ „Zufällig ja!“, bestätigte Joey passiv-aggressiv, während er mit einer Mischung aus Konzentration und Verzweiflung weitersuchte. „Wheeler, ich weiß, es fällt dir schwer, aber denk doch nur mal für eine Sekunde nach! Wie sollen hier Fußspuren sein, wenn wir vermutlich meilenweit vom vorgesehenen Weg abgekommen sind?“ Jetzt sah Joey zum ersten Mal auf, blickte Seto entrüstet an und fuhr ihn voll triefendem Sarkasmus an: „Entschuldigung, dass ich im Gegensatz zu anderen Personen hier versuche, hilfreich zu sein!“ Seto konnte nicht anders und lachte kurz auf: „Ich bitte dich, Wheeler! Du könntest noch nicht mal hilfreich sein, wenn du …“ „Hier, hier ist was!“ Joey zeigte erst auf den Boden, dann in eine Richtung, in der genau wie in allen anderen ebenfalls nur Bäume über Bäume zu sehen waren. „Da lang!“, kommandierte der Blonde aufgeregt und rannte ein kleines Stück, während Seto seufzte und ihm langsam und gemessenen Schrittes folgte. Schließlich blieb Joey stehen und blickte enttäuscht auf. „Hm, hier hört die Spur auf. Muss wohl von irgendeinem Tier gewesen sein.“ Seto verschränkte einmal mehr die Arme vor der Brust und schüttelte nur mit einem Ausdruck der absoluten Geringschätzung den Kopf. „Sind Hunde nicht normalerweise gut im Fährtenlesen? Wie viele Jahre nenne ich dich nun schon liebevoll so und auf einmal stellt sich heraus, dass du noch nicht mal zu einem anständigen Köter taugst!“ Mit einem Mal entwickelten sich die Dinge schneller, als Seto erwartet hatte. Blitzartig und wie aus dem Nichts wurde er von Joey am Kragen gepackt und schmerzhaft stark gegen den nächsten Baum gedrückt, sodass ihm die Wucht des Aufpralls für eine Sekunde die Luft aus den Lungen presste. Der Blonde hatte ihn tatsächlich überrumpelt und hielt ihn mit der rechten Hand fest im Griff. Joeys Gesicht näherte sich dem Seinen bis auf wenige Zentimeter und mit drohend gesenkter Stimme und zusammengepressten Zähnen stieß er aus: „Hör mal, Kaiba, mir reichts! Ich höre mir diese Hunde-Geschichte nicht mehr länger an! Anstatt mich permanent zu beleidigen, könntest du ja auch mal …“ Setos Augen verengten sich zu Schlitzen und sein Blick wurde absolut tödlich. Harsch schnitt er dem Blonden mit einem eiskalten Zischen das Wort ab: „Mach sowas noch einmal, Köter, und du wirst diesen Wald nicht mehr lebend verlassen! Und jetzt nimm gefälligst deine dreckigen Pfoten von mir!“ „Ach ja?! Sonst was?“ Joey lächelte verwegen und festigte seine Umklammerung noch einmal. „Weißt du, Großkotz, ich hab zwar keine Ahnung, wer diesen Wald am Ende tatsächlich verlassen wird, aber mir scheint, derjenige, der Karte und Kompass hat, hat die besseren Chancen!“ Mit einem triumphierenden Grinsen reckte er die besagten Gegenstände mit der linken Hand in die Höhe und möglichst weit von Seto weg. Verdammt! Warum nur machte ihm sein eigener vermaledeiter Hochmut immer wieder einen Strich durch die Rechnung?! Ein wirklich rationaler und klar denkender Mensch wäre niemals auch nur auf den Gedanken gekommen, einem Chaoten wie Wheeler den Kompass und die Karte anzuvertrauen! Mit einem, wie er dachte, überraschenden Impuls versuchte Seto nach den Navigationsinstrumenten zu schnappen, doch Joey hatte es rechtzeitig bemerkt und hielt beides schnell noch ein paar Zentimeter höher und verstärkte den Griff, mit dem er Seto zwischen sich und dem Baumstamm eingeklemmt hielt. In diesem Augenblick vergaßen sie beide sich und ihre Kinderstube nahezu vollkommen. Kein Wunder, gab es doch hier niemanden, der sie im letzten Moment noch zurückhalten konnte. Hämisch lachend rief Joey aus: „Tja, dann sieh mal zu, wo du bleibst, reicher Pinkel!“, ließ ihn urplötzlich los und rannte in eine unbestimmte Richtung davon. Mit einem kurzen Japsen löste sich Seto von dem Baum, stützte die Hände auf die Knie und nahm zwei kurze Atemzüge, bevor er „Na warte!“ murmelte und ohne groß nachzudenken zu Joeys Verfolgung ansetzte. Voller Adrenalin und mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit rannte er über Stock und Steine, übersprang Äste und balancierte den unebenen Waldboden aus. Keine Spur mehr von Flow und Rhythmus – in nur wenigen Minuten hatte sich die Situation zu einer Art Kampf ums nackte Überleben entwickelt. Als der Blonde sich nur für eine Millisekunde umdrehte, um zu sehen, wie weit Seto noch von ihm entfernt war, übersah er eine aufragende Wurzel, stolperte und schlug der Länge nach hin, schaffte es dabei aber, Karte und Kompass sicher in seiner Hand zu behalten. Seto lief nur knapp an ihm vorbei und sah seine Gelegenheit gekommen. Gerade als er sich ein Stück nach unten beugte und seine Finger ausstreckte, um nach den Gegenständen zu greifen, drehte Joey sich auf den Rücken, grätschte ihm zwischen die Beine und riss ihn damit ebenfalls von den Füßen. Schmerzhaft traf Seto mit der Hüfte auf dem Boden auf, glücklicherweise etwas gedämpft von der dicken Blätterschicht. Aber die Schmerzen spielten im Moment keine Rolle und waren schon eine Sekunde später fast vergessen. Verbissen robbte Seto sich durch das feuchte Herbstlaub und stürzte sich auf Joey. Blitzschnell war er über ihm und verpasste ihm einen kurzen, aber starken Stoß mit dem linken Ellenbogen in die rechte Seite, wodurch sich der Blonde kurz zusammenkrümmte, sodass Seto seine Arme mit den Knien fixieren und endlich nach der Karte greifen konnte. Joey dachte jedoch gar nicht daran loszulassen. Es schien, als wolle er mit jeder Faser seines Körpers dafür kämpfen, die Oberhand zu behalten. Haselnussbraune und ozeanblaue Augen funkelten sich voll unverhohlener Wut und nahezu grenzenlosem Hass an, ihre Hände hielten beide an der Karte fest und zogen daran, kein Griff lockerte sich und es kam, wie es kommen musste. Die Karte hielt den Zugkräften nicht mehr länger Stand, riss entzwei und Joeys verkrampfter Griff löste sich vor Überraschung. Eine kräftige, herbstliche Windböe fuhr genau in diesem Moment durch den Wald und wehte ihnen nicht nur noch mehr Laub und Dreck in Haare und Gesichter, sondern erfasste auch den Papierfetzen und trug ihn davon. Der Blonde erschrak, löste sich aus Setos ebenfalls unwillkürlich gelockerter Fesselung, sprang auf und rannte hinterher. Das Papier wurde immer weiter in die Luft davon getragen und Joey sprang noch verzweifelt in die Höhe, um heranzukommen, aber es war zwecklos. Das Stück Karte flog immer weiter und war nur wenig später aus ihrer beider Sichtfeld verschwunden. Joey resignierte, stützte die Hände auf die Knie und blickte schwer atmend zu Boden. Er hatte unzählige Reste von Blättern und kleine Stöckchen im Haar und sein weißes T-Shirt hätte wohl gut als Vorher-Beispiel in einer Waschmittelwerbung dienen können. Auch Seto erhob sich und klopfte sich eher notdürftig den Schmutz von seiner Kleidung. Kurz zuckte er zusammen, als sich die Schmerzen in seiner Hüfte und seinem Rücken wieder meldeten, aber er versuchte sie für den Moment auszublenden. Mit der rechten Hand wuschelte er sich durch die Haare, um seinerseits ebenfalls gefühlt den halben Wald herauszuschütteln, in der linken hielt er noch immer den Rest der Karte. Nachdem er seine Haare wieder halbwegs in Form gebracht hatte, warf er einen Blick darauf und hoffte inständig, dass es sich um den oberen Teil mit den letzten Stationen handelte. Nun, Muto hätte es wohl eine Strafe des Schicksals genannt, aber von diesem Quatsch hielt er ja bekanntlich nichts – es war einfach nur Pech. Der Riss ging sauber durch Station sieben, die höheren Zahlen fehlten. Seto hatte keine Kraft mehr, wirklich wütend zu sein. Weder auf sich, noch auf Wheeler. Er war nicht eben stolz auf diesen neuerlichen und so anders gearteten Kontrollverlust, doch endlich, nach all diesen Jahren, hatte sich ihr Hass aufeinander, wenn auch nur kurz, entladen können. Und irgendwie fühlte es sich auch … gut an, gelöst, als hätte sich endlich etwas Bahn gebrochen, das schon lange einmal rausgemusst hatte. Außerdem hatte es niemand gesehen und wenn er ihn so ansah, dann schien es, als wäre auch Wheeler im Moment nicht unbedingt stolz auf sein Verhalten, in Anbetracht der Tatsache, in welche Lage es sie manövriert hatte. Der saß mittlerweile erschöpft und keuchend an einem Baum, hielt sich noch immer seine schmerzende rechte Seite und sah ihn etwas zerknirscht an: „Und jetzt?“ Seto seufzte, studierte noch einmal den Kartenschnipsel und versuchte sich das verlorene Stück so genau wie möglich vorzustellen. Konzentriert überlegte er und fuhr mit dem Finger die imaginären Linien zwischen den einzelnen Punkten auf der Karte nach: „Mhm, wir waren hier und hätten nach Nordosten gemusst, dort hinten irgendwo habe ich vorhin aber die Bachbiegung gesehen, was mich vermuten lässt, dass wir stattdessen recht weit südöstlich in diese Richtung gelaufen sind und uns jetzt ungefähr hier befinden. Dann müssten wir also grob nach Nordwesten, um zur Neun oder Zehn zu kommen, wenn ich die Positionen noch halbwegs richtig vor Augen habe. Und von dort aus sollte der Weg in Richtung Herberge relativ eindeutig sein.“ Joey nickte nur stumm, während Seto zu ihm trat und fordernd die Hand aufhielt. Verwundert blickte der Blonde erst die Hand an und dann fragend auf zu ihm. Seto verdrehte die Augen. „Mein Gott, Wheeler, wie schwer von Begriff kann man eigentlich sein?! Gib mir gefälligst den verdammten Kompass!“ „Oh, ja klar!“ Ächzend stand Joey auf und griff in seine Hosentasche. Er wühlte und wühlte und mit zunehmender Sorge bemerkte Seto die auffällig lange Dauer des Suchprozesses. Mit einem klaren Anflug von Panik wechselte der Blonde hektisch zu der anderen Tasche. „Gib mir nur noch einen Moment, er muss doch hier irgendwo …“ Seto schloss die Augen und massierte sich die Stirn. Obwohl ganz offensichtlich war, dass er nirgendwo mehr weitere Taschen hatte, klopfte Joey sich suchend am ganzen Körper ab. „Köter!“ Setos Stimme hob sich bedrohlich. „Bitte sag mir, dass du den Kompass irgendwo hast! In der Vogelbehausung, die du Frisur nennst, deinen Schuhen oder von mir aus auch in deiner Unterhose!“ (Falls eine der letzten beiden Optionen zutraf, würde Wheeler das Objekt allerdings schön selbst in der Hand behalten.) Schließlich gab Joey die Suche auf und rieb sich verlegen den Nacken. „Ähm…ja. Ich muss ihn wohl vorhin bei unserer kleinen…Auseinandersetzung verloren haben…“ Seto presste die Lippen zusammen und sah zur Seite, bevor er halb zu sich selbst, halb zu seinem blonden Begleiter fluchte:„Verdammt noch eins, Wheeler, du bist wirklich die Inkompetenz auf zwei Beinen!“ In Joeys Augen trat erneut der schwache Anflug eines Funkelns. „Und du … du bist die … fehlende Sozialkompetenz auf zwei Beinen!“ „Wirklich sehr schlagfertig!“, kommentierte Seto beiläufig, während er sich umwandte, um zurück zu der Stelle zu gehen, wo sie vorhin gestritten hatten. Als er bemerkte, dass Joey nicht nachkam, drehte er sich noch einmal um. „Na los, beweg gefälligst deinen Hintern und lass uns nachschauen, ob wir das Teil noch irgendwo finden.“ Ohne eine weitere „schlagfertige“ Antwort folgte Joey ihm und gemeinsam suchten sie den aufgewühlten Waldboden nach dem Kompass ab. „Warum werden diese Dinger auch noch in Tarnfarben bemalt?! Wer denkt sich sowas aus?“, brachte Joey seinen Unmut über ihren ausbleibenden Erfolg zum Ausdruck. „Zumindest in diesem Punkt gebe ich dir ausnahmsweise Recht, Wheeler.“ Auch zehn Minuten später hatten sie den Kompass noch nicht gefunden. Ratlos sah Joey Seto an. „Und was machen wir jetzt?“ Da blitzten Setos Augen kurz auf. Er öffnete den Reißverschluss der dezent versteckten Tasche im Bund seiner Sporthose und zog sein Telefon hervor. Erwartungsvoll drückte er auf den Knopf an der Seite, um das Display zu aktivieren. „Und?“, erkundigte sich Joey mit fragendem Blick. Der Bildschirm blieb schwarz. „Mein … Akku ist leer.“ Verwunderung stand überdeutlich in Setos Gesicht geschrieben. Soweit er sich zurückerinnern konnte, war das in seinem ganzen Leben noch nie vorgekommen. Andererseits war es aber auch logisch, er hatte in den letzten Tagen ja mit dem Gerät nicht besonders viel machen können außer sich wecken zu lassen, weshalb er dem niedrigen Akkustand keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Joey lachte. Erst bitter, dann jedoch wurde sein Lachen merklich ehrlicher und ausgelassener, bevor er sich wieder etwas beruhigte. Mit einem breiten Grinsen zeigte er auf das Telefon in Setos Hand. „Richte Mokuba bei nächster Gelegenheit Grüße von mir aus, und sag ihm, der alte Joey ist mächtig stolz auf ihn!“ Ein absolut tödlicher Blick aus blauen Augen brachte ihn sofort wieder zum Schweigen, aber man konnte sehen, dass der Blonde noch immer still in sich hinein kicherte. Dann zog auch er sein Handy aus der Hosentasche. Großartig, das hatte dieser unfähige Vollidiot natürlich nicht verloren! „Ich sehe, worauf du hinauswillst, Kaiba! Ich sage nur: Kompass-App! Aber braucht man dafür nicht Empfang? Ich hab nämlich hier keinen…“ Seto schüttelte den Kopf. „Nein, das funktioniert rein über Satellit und die Sensoren im Smartphone.“, klärte er Joey auf. Der nickte und tippte ein paar Mal auf seinem Telefon herum bis sich seine Miene schließlich aufhellte. „Moment … ah ja, das sieht gut aus! Ladies und Gentlemen, wir haben wieder eine Richtung! Also, wo hast du nochmal gesagt müssen wir hin?“ „Nordwesten.“ „Alles klar, los gehts!“ Da aufgrund ihrer leichten Blessuren keiner von ihnen mehr schnell rennen konnte oder wollte, war das Tempo, das sie nun anschlugen, ein eher gemächliches. Unauffällig warf Seto noch einmal einen Seitenblick auf das Telefon in Joeys Hand, um sicherzustellen, dass der Blonde auch wirklich die richtige Richtung angepeilt hatte, konnte das aber glücklicherweise bestätigen. Für die nächsten zehn Minuten sprach keiner von ihnen ein Wort; die Geschehnisse der letzten halben Stunde mussten beide erst einmal setzen lassen. Seto wollte sich gar nicht ausmalen, was sie bei ihrer Rückkehr erwarten würde. Nicht nur war er schon wieder ‚verloren gegangen’, was Frau Kobayashis Paranoia seine Anwesenheit betreffend wohl noch einmal mehr befeuern würde, nein, sie sahen beide auch noch ziemlich ramponiert aus und würden aller Wahrscheinlichkeit nach hauptverantwortlich dafür gemacht werden, dass ihre Klasse auch diese Disziplin verlieren würde: Nicht nur wegen ihrer mittlerweile absolut unterirdischen Zeit, sondern auch dadurch, dass sie alleine bereits fünfzig Prozent des erlaubten Limits an fehlenden Stempeln für ihre Klasse einbrachten. Nun, er würde damit klarkommen, war das doch im Vergleich nichts gegen so manche Dinge, für die er in der Presse und im Internet bereits verantwortlich gemacht worden war. Trotzdem war es natürlich unangenehm, dass alle Anwesenden nur noch auf sie warten würden. Das war nicht die Art von großem Auftritt, die ihm für gewöhnlich zusagte. Unwillkürlich begann sein Herz wieder schneller zu schlagen, als ihm bewusst wurde, dass neben Frau Kobayashi und dem restlichen Kindergarten auch Duke sie gewiss erwarten würde. Erneut sah er den intensiven, ehrlich besorgten Ausdruck der grünen Augen vor sich, mit dem ihn der Schwarzhaarige gestern am See gemustert hatte. Ob er sich auch jetzt um ihn … ? Nein, warum sollte er auch?! Und falls er sich um irgendwen Sorgen machte, dann doch wohl eher um seinen tölpeligen Kindergartenfreund Joey. Besagter Kindergartenfreund blieb auf einmal unerwartet stehen und blickte sich um. Mit der Hand griff er nach einem baumelnden Objekt aus kleinen Ästchen, das in einem der Bäume hing und betrachtete es mit großen Augen. Offensichtlich löste es eine starke Aufregung in dem Blonden aus, die Seto nicht ganz verstand. Er betrachtete es eher ein beruhigendes Zeichen, dass anscheinend vor nicht allzu langer Zeit jemand hier gewesen war – vermutlich Wanderer mit irgendeinem merkwürdigen spirituellen Hintergrund. „Oh mein Gott!“, rief Joey aus, „Sag mir bitte, dass wir es aus diesem Wald rausschaffen und nicht die Nacht hier verbringen müssen! Und wenn du irgendwo eine baufällige Ruine sehen solltest, dann rennen wir bitte ganz weit weg davon, okay?“ Seto verstand nur Bahnhof und sah Joey verständnislos an. „Wovon um alles in der Welt redest du da, Köter?“ „Hallo?!“ Aufgeregt wedelte Joey mit den Händen in der Luft. „Blair Witch Project?! Der Horrorfilm?“ Offenbar fühlte er sich bemüßigt, Setos Wissenslücke zu schließen und hob zu einer ausführlicheren Erklärung an: „Also da sind diese jungen Dokumentarfilmer, die über diese Hexe berichten wollen und die verlaufen sich in dem Wald, wo die Hexe angeblich sein soll und dann finden sie immer wieder solche Zeichen in den Bäumen und wenn es dunkel wird, dann …“ Seto fiel ihm harsch ins Wort: „Wheeler, hör auf, ich kenne den Film nicht und er interessiert mich auch nicht!“ Er schüttelte den Kopf und lief weiter. „Außerdem bin ich schon seit mehreren Stunden mit dir allein im Wald, ich bin also praktisch in meinem persönlichen Horrorfilm!“ Das klang weniger streng, als er beabsichtigt hatte, aber es war ihm in diesem Moment auch egal. Mit einem kleinen Schmunzeln seufzte Joey nur und folgte ihm. Weitere zehn Minuten später deutete der Blonde in die Ferne: „Da, sieh mal! Das sieht nach einer Station aus, oder?“ Auch Seto kniff die Augen zusammen und nickte: „Ja, könnte sein.“ Wie ein Verdurstender in der Wüste, der eine Oase entdeckt hat, rannte Joey unter Schmerzen und Flüchen zu der Stelle und hielt schließlich freudig grinsend einen Stempel in die Höhe. Wie Seto zu seiner Befriedigung feststellte, als er ebenfalls ankam, handelte es sich ganz plangemäß um Station Zehn. Das bedeutete, sie mussten jetzt nur noch mehr oder weniger geradeaus nach Osten laufen, um wieder zum Gelände der Herberge zurück zu gelangen. Genau das taten sie dann auch und schon bald lichteten sich die Bäume merklich. In wenigen Minuten würden sie es endlich geschafft haben. ‚Und das mit nur etwas mehr als einer Stunde Verspätung!‘, dachte Seto ironisch beim Blick auf seine Uhr, bevor ihn eine weitere unerwartete Frage von der Seite aus dem Konzept brachte. „Sag mal, stehst du eigentlich auf Dinos?“ „Bitte was?!“ Er sah den Blonden an, als habe dieser jetzt endgültig den Verstand verloren. Der wiederholte das Gesagte noch einmal: „Ist doch eigentlich eine ganz simple Frage: Magst du Dinos?“ Seto schüttelte den Kopf. „Ich habe zwar keinen Schimmer, wie dein kleines Hundehirn jetzt auf diese Frage kommt, aber wenn du dann Ruhe gibst: Nein, nicht besonders.“ „Aber warum hast du dann…?“ Der Brünette unterbrach ihn: „ Können wir – und damit meine ich vorrangig dich – jetzt bitte einfach noch für ein paar Minuten still sein?!“ „Du meinst, bevor gleich die Hölle losbricht und alle fragen, was mit uns passiert ist?“ „Mhm.“ „Na schön. Aber nur, wenn ich den anderen nachher erzählen darf, dass ich es dir so richtig gegeben habe im Wald!“ Es mochte an Setos aktueller Prädisposition liegen, dass er die Doppeldeutigkeit der Aussage so klar vor sich sah, dass er nicht recht wusste, ob er über Wheelers Unbedarftheit (innerlich) lachen oder weinen sollte. Letzten Endes gab er Joey nur den nüchternen und sachlichen Rat: „An deiner Stelle würde ich mir meine Wortwahl genau überlegen, Köter, oder die Leute könnten sich geneigt sehen, Schlüsse zu ziehen, die du nicht beabsichtigst…“ (Ebenso wenig wie er selbst, natürlich.) „Hä?“ Der Brünette schüttelte nur den Kopf und seufzte. „Halt einfach deine Klappe und denk nochmal darüber nach!“ Kapitel 16: Don’t call it obsession. (Because it’s not.) -------------------------------------------------------- Bei der Auslosung der Paare für den Orientierungslauf stand Duke wie üblich bei seinen Freunden und erwartete gespannt die Verkündung seines Partners oder seiner Partnerin. Kaiba wäre doch eigentlich nicht schlecht – dann könnten sie beim Laufen noch ein wenig über das Würfel-Konzept der DDM-Duel Disk fachsimpeln und vielleicht sogar seinen Rabatt für die neue Duell-Arena aushandeln … „Seto Kaiba und … Joey Wheeler.“ Hm, okay, das hatte sich jetzt offensichtlich erledigt. „Echt jetzt?! Oh Mann, ich kotze gleich!“, beschwerte sich Joey lauthals, aber es nützte ihm nichts. Keine Diskussion, das war Frau Kobayashis Ansage gewesen, wie der Blonde nochmals von Ryou erinnert wurde. Genervt verschränkte er die Arme vor der Brust und grummelte mit ein paar leise gemurmelten wüsten Verwünschungen auf den Lippen vor sich hin. Duke hingegen schmunzelte nur und schüttelte amüsiert den Kopf. Kaiba und Joey also. Na, wenn das mal gut ging! Noch immer griff Frau Kobayashi fleißig in das Glas, zog und faltete einen Zettel nach dem anderen auf, bis endlich auch sein Name fiel. „Duke Devlin und … Mariko Yuki.“ Bei der Nennung des zweiten Namens atmete Tea scharf ein, sah zur Seite und zog die Augenbrauen nach oben. Duke bemerkte es und sofort war sein Interesse geweckt. „Was ist los?“ Unsicher, wie sie es am besten sagen sollte, wiegte sie ihren Kopf hin und her: „Oh, es ist nur so, dass … ich bin ja mit Mariko auf dem Zimmer und naja, sie ist eines deiner … extremeren Fangirls. Sie hat mir schon am ersten Abend die Ohren abgekaut, wie verknallt sie in dich ist und versucht, mich über dich auszufragen: Wie du so bist und ob du sie schon mal erwähnt hättest …“ Duke zuckte nur mit den Schultern und winkte ab. „Ach, keine Angst, damit komme ich schon klar!“ Er ließ eine kurze Pause, dann fügte er lachend hinzu: „Es gibt Schlimmeres, als sich anderthalb Stunden lang anhören zu dürfen, wie großartig man ist.“ „Na, dann hoffe ich für dich, dass es so wird!“, gab Tea zweifelnd zurück und klopfte ihm kurz mitleidig auf die Schulter, bevor sie und ihr Teampartner Ryou aufgerufen wurden, um Karte und Kompass abzuholen. Nach und nach starteten die ersten Paare mit Zeitversatz und von zwei verschiedenen Ausgangspunkten auf ihren Weg in den Wald und nachdem Duke ebenfalls die Navigationshilfsmittel in Empfang genommen hatte, ging er mit einem freundlichen Lächeln auf die zierliche Mariko zu – ein verhältnismäßig hübsches Mädchen mit Brille und langen, dunkelbraunen Haaren, die sie für den Lauf zu einem praktischen, kleinen Dutt gebunden trug. An ihren immer größer werdenden Augen war abzulesen, dass sie kaum glauben konnte, dass ihr das gerade wirklich passierte. Spätestens als Duke sie erreicht hatte und sie mit einem sanften Lächeln und einem lockeren „Hi!“ begrüßte, war sie praktisch zu einer Salzsäule erstarrt und statt einer Antwort erhielt er nur ein gebrochenes Fiepen. Okay, Teas Warnung war wohl berechtigter gewesen, als er ursprünglich gedacht hatte. Trotz seiner mehrmaligen Versuche, ihr zu vermitteln, dass sie sich ruhig entspannen könne, löste sich das Mädchen erst aus seiner Paralyse, als sie zur Startlinie gerufen wurden. Auf dem kurzen Weg dorthin blieb sie weiterhin stumm und sah nur mit hochrotem Kopf zu Boden. Da sie momentan nicht wirklich handlungsfähig erschien, beschloss Duke, Karte und Kompass erst einmal bei sich zu behalten. Wenn das die nächsten anderthalb Stunden lang so weiterging, dann gute Nacht! Wenigstens blieb sie bei Herrn Takedas Pfiff nicht stehen, sondern rannte mit ihm los. Mariko schien jedoch durchaus sportlich zu sein, hielt sie doch auf dem Waldweg, der den ersten Teil der Strecke bildete, gut mit ihm mit, ohne dass er sein Lauftempo signifikant drosseln musste. Augenscheinlich lösten die Bewegung und die kühle Waldluft auch ihre Verkrampfung ein wenig, sodass sie an der ersten Station, dem Wegweiser, bereits in der Lage war, ihn kurz anzusehen und dabei scheu zu lächeln. Duke quittierte diesen ersten kleinen Fortschritt sogleich ermutigend mit einem freundlichen Nicken, bevor er die weitere Richtung bestimmte. Am zweiten Kontrollpunkt war er gerade dabei den Kompass einzunorden und auf der Karte zu platzieren, als … „Tea hat dich bestimmt schon vor mir gewarnt, oder?“ Beinahe ließ er vor Schreck den Kompass fallen – schließlich waren das die ersten richtigen Worte, die er seit knapp dreißig Minuten aus Marikos Mund hörte –, konnte es aber gerade noch verhindern. Leise und verschüchtert hatte die Frage geklungen, und auch ein wenig traurig; jetzt durfte er nichts falsches sagen. Nach einer sekundenlangen Pause, in der er nach einer guten und hoffentlich nicht verletzenden Antwort suchte, sah er von der Karte auf und drehte sich mit einem sanften Lächeln zu ihr um. Kaum sah er sie direkt an, stieg erneut Röte auf ihre Wangen und sie blickte wieder verschämt auf ihre Schuhe.„Gewarnt ist vielleicht das falsche Wort. Aber sagen wir, ich habe mich über deine Reaktion nicht mehr so sehr gewundert.“ Betretenes Schweigen war die unmittelbare Folge, sodass Duke beschloss, ihr Zeit zu geben und erst einmal einfach gemeinsam weiterzulaufen. Ein auffälliger Busch mit grellroten Beeren bildete den dritten Wegpunkt. Dort angekommen schien sich Mariko wieder weit genug gesammelt zu haben, um von neuem ein schüchternes Gespräch mit ihm zu suchen. Sie war ihm zwar zugewandt, aber ihn direkt anzusehen brachte sie offenbar noch immer nicht über sich: „Tut … mir voll leid, dass ich so komisch bin, aber es ist … nun mal so, dass ich …“, fahrig knetete sie ihre Hände in den Saum ihres T-Shirts, „Naja, ich werde immer so nervös, wenn du in der Nähe bist.“ Wieder bekam sie einen hochroten Kopf; es war wirklich erstaunlich. Duke seufzte nur und versuchte sie zu beruhigen: „Mach dir keine Gedanken, das ist doch ganz normal, wenn man …“ „ …verliebt ist?“, beendete sie seinen Satz schnell und blickte ihn auf einmal doch hoffnungsvoll von unten herab an. „Genau…“, nickte er zögernd, konzentrierte sich umgehend wieder auf Karte und Kompass und fächelte sich durch wiederholtes Zupfen an seinem T-Shirt ein wenig Luft zu. Lag es nur am Laufen oder warum schwitzte er auf einmal so? Eigentlich hatte er die Situation doch weniger unangenehm machen wollen. „Danke, dass du das verstehst!“, lächelte sie ihn an, trat zum ersten Mal etwas näher zu ihm und sah ebenfalls auf die Karte. Ein wenig mehr Mut schien sie jedenfalls gefasst zu haben, trotzdem wurde Duke das Gefühl nicht los, dass sich das Geschehen unbeabsichtigt in eine ziemlich falsche Richtung entwickelt hatte. „Wo müssen wir als nächstes hin?“, fragte sie interessiert weiter. „Ähm, grob nach Nordwesten.“, erwiderte Duke nach einem erneuten prüfenden Blick auf die Karte. „Na dann, los!“, forderte sie ihn mit einem selbstbewussteren Lächeln auf und rannte direkt in die Richtung los, die der Kompass in seiner Hand vorgab. Anscheinend hatte ihr der kurze Austausch neuen Elan gegeben und aufgestaute Energien gelöst – anders ließ sich die beginnende Verwandlung, deren Zeuge er hier wurde, wohl nicht erklären. Voller Verwunderung schüttelte Duke noch einmal den Kopf und folgte ihr schließlich. Nur wenige Minuten später erreichten sie den umgestürzten Baum, an dessen toten Wurzeln sich der vierte Stempel befand. Mariko stand schon bereit, zog die Kappe ab und bedeutete ihm, mit der Karte zu ihr zu kommen. Noch bevor sie den Stempel auf die entsprechende Stelle der Karte drückte, legte sie schnell unterstützend ihre linke Hand darunter, damit das Papier durch den Druck nicht wegknickte – vollkommen ungeachtet der Tatsache, dass Duke bereits dasselbe tat. Die unvermeidliche Berührung ihrer Hände und Unterarme schien dem Mädchen jedoch nicht das Geringste auszumachen, ganz im Gegenteil. Sie zuckte nicht weg, sie entschuldigte sich nicht, lediglich ein leichtes Rosa zierte ihre Wangen; und das, wo sie ihn vorhin noch nicht einmal direkt hatte ansehen, geschweige denn ansprechen können. Was war denn in den letzten fünfzehn Minuten bloß passiert? Für einen kurzen Moment genoss sie offenbar einfach nur den Kontakt, bevor sie endlich den Stempel machte und die Kappe wieder schloss. Ihr verträumter Blick wanderte weiter nach oben zu den herbstlich gelichteten Baumkronen und ihr entfuhr ein tiefer Seufzer. „Du erinnerst dich bestimmt nicht daran, aber vor ein paar Monaten hast du mir mal einen Flyer für irgendein Event in deinem Laden in die Hand gedrückt und hast dabei auch kurz meinen Arm gestreichelt.“ Jetzt kehrte auch die Röte auf ihre Wangen zurück und sie sah Duke verlegen an, bevor sie leise murmelnd ergänzte: „Das hab ich noch Stunden später gespürt!“ Dem Schwarzhaarigen blieb nichts anderes übrig als zu lächeln und zu nicken; so langsam kam er sich vor wie ein verzweifelter Wackeldackel in der Heckscheibe eines Autos. Diesen spezifischen Moment mit ihr mochte er nicht in ähnlich bleibender Erinnerung behalten haben, aber das allgemeine Vorgehen war ihm noch sehr vertraut, hatte es ihm doch lange Zeit wirklich gute Dienste geleistet. Nicht nur war es bei den Mädchen extrem gut angekommen, nein, es war auch noch höchst effektiv gewesen, denn in der Folge hatten besagte Mädchen tatsächlich in großer Zahl die beworbenen Veranstaltungen frequentiert. Unterm Strich war es ein großartiger, weil gleichzeitig günstiger Marketing-Coup gewesen: Wegen ihm (und dem „Sanfte Berührung am Arm“-Trick) kamen die Mädchen, die Mädchen zogen Jungs im kompatiblen Alter an (= die ideale Zielgruppe), die Jungs spielten, um die Mädchen zu beeindrucken (und natürlich umgekehrt) und am Ende kauften alle. Eigentlich ein perfektes System. Dann jedoch hatte Tea ihn einmal dabei beobachtet, wie er die Masche bei mehren Schulkameradinnen in Folge angewandt hatte und im Anschluss hatte er sich einen langen Vortrag über die Verwerflichkeit eines solch offensiven Spiels mit weiblichen Gefühlen anhören dürfen. Ihre Argumentation war in der Tat sehr schlüssig gewesen, was ihn letztendlich überzeugt hatte, so etwas zukünftig weitgehend zu unterlassen – zumindest für diesen speziellen Zweck. Und war Mariko nicht das perfekte Beispiel dafür, dass sie wie so oft Recht behalten hatte? Schnell wandte Duke sich wieder der Karte zu, in der Hoffnung, den mittlerweile sehr direkten Äußerungen von Mariko sowie seinem sich regenden schlechten Gewissen kurz zu entfliehen. Vergeblich, denn sie war noch nicht fertig: „Ich weiß noch, dass ich so hin und weg war! Es war noch tausendmal besser, als mein vorheriger Lieblingsmoment, als du mich mal auf dem Schulhof angelächelt hast.“ Hatte er das? Hm, gut möglich, er hatte wahrscheinlich fast jedes Mädchen der Klasse, wenn nicht gar der ganzen Stufe irgendwann einmal angelächelt. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte kurz verschmitzt, bevor weitere Bekenntnisse geradezu aus ihr heraus sprudelten. „Oh mein Gott, ich hatte schon Angst mein Kopf würde explodieren, so rot bin ich geworden! Seitdem muss ich ständig an dich denken! Hach, es tut wirklich gut, sich das endlich mal von der Seele zu reden! Das verstehst du doch, oder?“ Nicken! Einfach nur nicken! Und jetzt ablenken! „Lass uns mal zur nächsten Station weiter laufen, wir wollen doch nicht die letzten sein.“, bot er mit einem gezwungenen Lächeln an und wünschte sich beinahe die Salzsäule von vorhin zurück. „Ja, da hast du recht. “, stimmte sie zu und Duke atmete unmerklich auf. Für die nächsten fünf bis zehn Minuten würde mit Glück erst einmal wieder weitestgehende Stille herrschen. Wenn sie wieder zurück waren, musste er sich wirklich bei Tea entschuldigen: Erstens dafür, dass er ihre Warnung so leichtfertig abgetan hatte und zweitens, weil er erst jetzt wirklich verstanden hatte, was sie damals in ihrem Vortrag gemeint hatte. Station Fünf wurde von einem etwas größeren Felsen am Bach gebildet und ein paar Minuten lang suchten sie vergeblich den zugehörigen Stempel, bis ihn Mariko in einer Vertiefung im Stein entdeckte. Mit einem verzückten Lächeln fischte sie Duke die Karte aus der Hand, legte sie auf den Stein, drückte den Stempel an die richtige Stelle und kam dabei wie von selbst wieder ins Schwärmen: „Weißt du, es ist so toll, dich mal so richtig kennen zu lernen und ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen! Normalerweise schaue ich dich ja immer nur aus der Ferne an. Hach, wenn du morgens ins Klassenzimmer kommst, macht mein Herz immer einen richtigen kleinen Hüpfer!“ Verdammt, kam denn jetzt an jeder Station ein neues Geständnis?! Für einen Themenwechsel wäre er jetzt wirklich, wirklich dankbar, aber wenn er den Gesichtsausdruck des Mädchens richtig interpretierte, dann glaubte er nicht daran, dass sich dieser Wunsch zeitnah erfüllen würde. Mit einem anhimmelnden Blick gab sie Duke die Karte zurück, stellte sich ganz eng neben ihn und legte ihm wie selbstverständlich die Hand auf den Unterarm, während er den Kompass drehte. Es war sicher nicht die erste Berührung eines Mädchens, die ihm einen Schauer über den Rücken jagte, aber sicherlich eines der wenigen Male, dass es kein wohliger Schauer war. So schnell wie er konnte, bestimmte er die Richtung, entzog sich dem Kontakt und lief weiter. Spätestens an Station Sechs wurde klar, dass mittlerweile potentiell alles dazu geeignet schien, Mariko auf ihre Gefühle zu sprechen zu bringen. Wieder stand sie ganz nah hinter ihm, während er den Stempel, der am Ast eines Baumes hing, auf die Karte presste. In diesem Moment fegte ihnen ein herbstlicher Windstoß entgegen und Duke musste die Karte ein wenig fester greifen, damit sie aufgeklappt blieb. „Dein Deo riecht wirklich toll!“ Mit wachsender Verzweiflung warf er kurz den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel. Dieser Lauf steckte wirklich voller Premieren: Auch dieses Kompliment hatte er so noch nicht bekommen. Während Duke zunehmend panisch ihr nächstes Ziel anpeilte, lief Mariko an Ort und Stelle hin und her und plapperte munter weiter: „Der Duft hat mir schon voll lange den Kopf verdreht. Ich habe mich sogar mal einen ganzen Nachmittag durch die Herren-Abteilung in der Drogerie gearbeitet, um herauszufinden, welches es ist.“ Duke hielt abrupt in seiner Bewegung inne und drehte sich zu ihr um. Seine Reaktion auf diese Offenbarung war wohl ganz klar auf seinem Gesicht abzulesen, denn kaum hatte Mariko den Satz beendet, schlug sie sich erschrocken beide Hände vor den Mund. Schließlich fragte sie leise und eindeutig peinlich berührt: „Das war jetzt wohl ein bisschen zu viel Offenheit, oder?“ Duke seufzte ein Mal tief, bevor er die Karte sinken ließ, sich halb auf einen abgebrochenen Baumstumpf setzte und sie geradewegs ansah. „Hör mal, Mariko, ich fühle mich echt geschmeichelt, dass du offenbar … so viel für mich empfindest, aber ich muss dir ganz klar sagen, dass … es mir nicht so geht.“ Enttäuscht blickte sie zu Boden, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und raschelte mit ihrem rechten Fuß ein wenig durch die Blätter. „Das dachte ich mir schon. Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Ein Junge wie du würde doch niemals auf ein Mädchen wie mich stehen.“, antwortete sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. Darauf schüttelte Duke nur den Kopf, erhob sich und trat auf sie zu. Kraftvoll legte er ihr beide Hände auf die Schultern und zwang sie so ihm in die Augen zu schauen: „Das ist doch Quatsch! Du bist hübsch, intelligent und äußerst … leidenschaftlich. Es gibt mit Sicherheit mehr als genug Jungs da draußen, die dich toll finden werden. Und der, der dich bekommt, kann sich glücklich schätzen.“ Und das sagte er nicht nur so dahin, er meinte es auch. Ganz ohne Zweifel war Mariko ein netter und sympathischer Mensch; für ihre starken Gefühle ihm gegenüber konnte sie ja nichts. Lieber hätte er sich noch stundenlang ihre Liebesgeständnisse angehört, als sie die restliche Zeit stumm, mutlos und traurig neben sich herlaufen zu sehen. Noch einmal sah er Mariko eindringlich an, um zu überprüfen, ob seine Worte zumindest ein wenig geholfen hatten, ihre Enttäuschung zu lindern. Sie seufzte noch einmal tief und schließlich hoben sich ihre Mundwinkel zu einem zaghaften Lächeln. Mit dem Handballen wischte sich noch einmal über die feuchten Augen und griff dann entschlossen nach dem Kompass. „Dann lass uns endlich weiterlaufen! Ich habe das Gefühl, wir könnten noch eine echt gute Zeit hinlegen!“ „Das denke ich auch.“, gab er sanft und mit einem ehrlichen Lächeln zurück und nickte in Richtung des nächsten Wegpunktes. „Also, auf geht’s!“ Tatsächlich kamen Duke und Mariko um etwa 11:30 Uhr mit einer sehr guten Zeit und allen Stempeln auf der Karte im Ziel an und vergrößerten damit leicht den Vorsprung, den die Domino High vor den Privatschülern hatte. Nach und nach trudelten weitere Teams ein, die ausgefüllten Karten wurden eingesammelt und die fehlenden Stempel ausgezählt. Es war ein hartes Kopf-an-Kopf-Rennen: Mal lag der Vorsprung bei ihnen, mal bei der Privatschule und das Limit an Stempeln hatte noch keine der beiden Parteien gerissen. Duke und Mariko kehrten zwischenzeitlich zu ihren jeweiligen Freunden zurück, jedoch nicht ohne sich vorher freundschaftlich (und zumindest von Marikos Seite noch immer ein wenig wehmütig) zu verabschieden: Duke nahm ihre linke Hand in seine Hände und bedankte sich noch einmal für die Ehre ihrer Zuneigung, auch wenn er sie nicht so erwidern konnte, wie sie sich das wünschte. Mit einem traurigen Lächeln sah ihn Mariko noch einmal lange an, dann bedankte auch sie sich bei ihm für sein Verständnis und seine ermutigenden Worte. Sie hielt sich wacker, befand Duke, auch wenn sie wahrscheinlich noch ein Weilchen damit beschäftigt sein würde, die Erlebnisse dieses emotional turbulenten Vormittags zu verarbeiten. Als er sah, dass auch Tea und Ryou bereits zurück waren, machte er seinen Vorsatz wahr, sich bei Tea zu entschuldigen, die es äußerst zufrieden zur Kenntnis nahm. Duke wusste, dass kaum etwas sie so glücklich machte, wie wenn einer ihrer neunmalklugen Jungs einsehen musste, dass sie die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Wenigstens hatte sein Missgeschick so auch etwas Gutes, wenn es ihren Tag ein kleines bisschen versüßte. Nach weiteren fünfzehn Minuten kam noch ein Zweierteam der Privatschule aus dem Wald gestolpert und wurde jubelnd von seinen Mitschülern in Empfang genommen. Ein zufriedener Ausdruck legte sich auf Herrn Takedas Gesicht, was nur bedeuten konnte, dass alle seine Schüler wieder angekommen waren – was man von Frau Kobayashis Schützlingen nicht behaupten konnte. Unruhig lief die Lehrerin vor den Bänken, um die herum sich ihre Klasse gruppiert hatte, hin und her. „Hach, so ein Mist! Uns fehlen noch …“ Sie sah sich im Kreis ihrer Schüler um, schüttelte schließlich den Kopf und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn. „Mr. Kaiba und Mr. Wheeler. Natürlich, wie sollte es auch anders sein!“ Der Unmut in ihrer Stimme war kaum zu überhören. Tristan sprach schließlich aus, was im Grunde wohl alle dachten: „Wir haben sowas von verloren, Leute!“ Einstimmiges Nicken und genervtes Stöhnen im Kreis der Schüler waren die Folge. Frau Kobayashis Verärgerung mischte sich mit einer diffusen Angst, war es doch noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden her, dass Mr. Kaiba schon einmal verschwunden war. Auch Yugi blickte sorgenvoll in Richtung Waldrand und seufzte: „Ich hoffe nur, dass niemandem etwas passiert ist!“ „Ach was!“, wiegelte Tristan ab, „Die haben sich bestimmt einfach nur wieder gestritten. Solange Kaiba Joey nicht irgendwo zurückgelassen, an einem Baum aufgeknüpft oder sonst irgendwie umgebracht und verscharrt hat, ist doch alles okay.“ Der Spruch brachte die meisten der Umstehenden zum Lachen und die Stimmung schien vorerst wieder merklich gelockert. Auch auf Dukes Lippen stahl sich unweigerlich ein kurzes Schmunzeln, gleichzeitig jedoch zog sich etwas in seinem Innern zusammen. Hoffentlich lag Tristan richtig und es war wirklich nur das: Ein kleinerer oder größerer Zoff, wie er zwischen Joey und Kaiba zum Alltag gehörte. Unwillkürlich musste er an gestern denken: daran, wie er Kaiba so völlig in sich versunken, ja beinahe verloren auf der Bank am See vorgefunden hatte, an den schmerzerfüllten Blick seiner blauen Augen, dazu Joeys Hunger auf jeden potentiell wunden Punkt des Brünetten und sei er auch noch so unscheinbar. Aber nein, wenn jemand sich zu wehren wusste, dann ja wohl Kaiba und mit Joey war er bisher – intellektuell überlegen, wie er war (Sorry, Joey!) – noch immer fertig geworden. Und letzterer war praktisch die lebende Verkörperung des Spruchs ‚Unkraut vergeht nicht’, weshalb man sich um ihn eigentlich noch weniger Gedanken machen musste. Ach, am Ende würden sich die beiden schon zusammenraufen und es schaffen, da war er sich sicher. Ob das allerdings noch im vorgegebenen Zeitrahmen erfolgte, das stand auf einem anderen Blatt. Die Minuten flogen dahin, ohne dass sich am Waldrand etwas rührte, und schon bald war eine halbe Stunde vergangen. Während manche noch immer gespannt, manche zunehmend genervt auf den Weg starrten, auf dem Joey und Kaiba hoffentlich jede Sekunde aus dem Wald herauskommen würden, lagen oder saßen auch die Schüler der anderen Klasse gelangweilt im Gras; ein paar hatten sich einen Fußball organisiert, den sie unmotiviert hin und her kickten. Frau Kobayashi stand noch immer nahe bei ihren Schülern und sah im Minutentakt nervös auf ihre Uhr, da trat Herr Takeda mit einigen seiner Schüler im Schlepptau auf sie zu und verschränkte dominant die Arme vor seiner schmalen Brust. „Nun, meine Liebe, es sieht wohl ganz so aus, als hätten Sie und Ihre Schüler schon wieder verloren!“ „Was Sie nicht sagen!“, gab Frau Kobayashi grimmig zurück. Ihr war nur zu deutlich anzusehen, dass sie dem Lehrer sein überhebliches Grinsen am liebsten ganz unzivilisiert aus dem Gesicht gewischt hätte. Herr Takeda schnaubte kurz amüsiert und plauderte leichthin weiter: „Aber ich kann es schon verstehen: Orientierungslauf ist eine komplexe Angelegenheit und nicht allen Jugendlichen gelingt es heutzutage mehr, sich ganz ohne Zuhilfenahme eines Mobiltelefons in der Natur zurechtzufinden – umso mehr, wenn sie es nicht durch die strikten Regularien einer erstklassigen Lehranstalt wie der unseren gewohnt sind. Aber vielleicht entsprechen ja die nächsten Disziplinen eher dem Fähigkeiten-Niveau ihrer Schüler!“ Während er sprach, ballte sich Frau Kobayashis linke Hand voll unterdrückter Aggression zu einer Faust zusammen. Als er geendet hatte, hob sie drohend den Zeigefinger und funkelte ihn wütend an. „Wagen Sie es ja nicht, zu behaupten, meine Schüler hätten geringere Fähigkeiten! Sie haben ja keine Ahnung! Warten Sie es nur ab, wir zeigen Ihnen schon noch, wo es lang geht, mein Guter!“ „Wenn Sie das sagen!“, lachte Herr Takeda nur spöttisch, löste sich aus der Gruppe und kehrte zurück zum Rest seiner Klasse. Auch Frau Kobayashi entließ ein verärgertes Schnauben und entfernte sich ein paar Meter in die entgegengesetzte Richtung, um ihre Rage ein wenig abkühlen zu lassen. Zurück blieben die Schüler, die sich gegenüber standen und sich mit abschätzigen Blicken musterten. „Na, wollt ihr nicht langsam mal einen Suchtrupp losschicken oder habt ihr Angst, dass der sich auch noch verläuft?“, ergriff der Junge mit den blondierten Haarspitzen das Wort, der vorgestern das Kommando gegeben hatte, den Gemeinschaftsraum zu besetzen. Das Schultrikot, das er trug, wies ihn, passend zu seiner Größe und Statur, als Rugby-Spieler aus. Kenta Matsuda – so lautete der Name auf dem Trikot – hatte ein breites und kantiges Gesicht mit einem stechenden Blick und einem gehässigen Grinsen auf den Lippen; die Hände hatte er locker in den Taschen seiner Jogginghose vergraben. Wie eine Mauer bauten sich Tristan, Duke und Tea sowie einige andere Mitschüler, die bereits das Gespräch der Lehrer mitverfolgt hatten, vor ihm und seinen Freunden auf. „Hast du noch mehr so smarte Hinweise, Blondi?!“, fragte Tristan schon leicht aufgebracht zurück. Zwar überragte er sein stämmiges Gegenüber um ein paar Zentimeter, war gegen ihn jedoch vergleichsweise schmächtig. „Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung, ich wollte euch doch nicht aufregen!“ Kentas Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. „Ganz ehrlich, ihr habt mein volles Mitgefühl! Es muss ziemlich traurig und frustrierend sein, wegen nur zwei unfähigen Leuten so haushoch zu verlieren!“ Beinahe hätte Duke gelacht. Hätte „Blondi“, wie Tristan ihn nannte, gewusst, wer noch fehlte, sein gespieltes Mitleid wäre ihm im Hals stecken geblieben. Ja, wenn man Joey Wheeler und Seto Kaiba zusammenwürfelte, mochte nicht gerade das bestmögliche Ergebnis dabei herauskommen, aber davon mal abgesehen war Kaiba wohl einer der fähigsten und versiertesten Menschen überhaupt und das in extrem vielen Bereichen. Und auch Joey besaß durchaus seine (wenngleich ganz anders gelagerten) Qualitäten. Mit etwas Glück konnten sie das in den weiteren Disziplinen noch unter Beweis stellen…und dann war es ja vielleicht sogar ganz nützlich, wenn die anderen sie unterschätzten. „Jetzt pass mal auf, du …!“, setzte Tristan schon mit geballten Fäusten zu einer Erwiderung an, aber Duke legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter und wandte sich seinerseits in seiner gewohnten Nonchalance an Kenta. „Tris, lass doch … ähm …“, er beugte sich ein wenig vor, um mit leicht übertrieben zusammengekniffenen Augen den gestickten Namen auf der Brust des Trikots zu lesen, „ …Kenta und seine Freunde glauben, was sie wollen! Wir haben noch drei Disziplinen vor uns, wir haben also noch genügend Zeit, unsere angebliche ‚Unfähigkeit‘ unter Beweis zu stellen.“ Seine grünen Augen blitzten selbstbewusst auf und ganz nebenbei sah er den Mädchen der Gruppe um Kenta – allesamt ausnehmend hübsch, schlank und langbeinig, davon eine blond, eine brünett, eine mit dunklem Haar – jeweils einmal kurz in die Augen. Diskret, verstand sich. Tristan blieb weiterhin sichtlich angespannt, nickte aber in geradezu offensiver Zustimmung. „Genau, in den nächsten Runden versohlen wir euch nämlich ordentlich den Hintern und dann werden wir ja mal sehen, wer hier zuletzt lacht!“ Kenta amüsierte sich darüber offensichtlich prächtig. „Oh, mir schlottern schon die Knie! Kommt Leute, so viele Versager auf einem Haufen ertrage ich nicht so lange!“ Damit gab er seinen Freunden das Zeichen ihm zu folgen und zurück zum Rest zu gehen. Gehorsam wandten sie sich um und entfernten sich, allerdings nicht ohne, dass sich die Mädchen noch einmal heimlich zu ihnen umdrehten. Mit seinem charmantesten Lächeln auf den Lippen zwinkerte Duke ihnen zu und sie lächelten leicht errötend und verzückt zurück; die Blonde winkte ihm sogar unauffällig zu. Sollte Tea sagen, was sie wollte, seine Ausstrahlung war doch immer wieder nützlich! Immerhin hatte er auf diese Weise schon einmal einen Teil – mehrheitlich den weiblichen – von Kentas Freunden ein Stück mehr auf ihre Seite gezogen. Und sicherlich würde ein solches harmloses Flirten noch nicht unter ihre Definition von echter Manipulation fallen, oder? „Arschloch! Dem werden wir es zeigen!“, grummelte Tristan, der Dukes nonverbale Interaktionen offenbar nicht wirklich bemerkt hatte. Unterdessen ging das Warten weiter und die Freunde um Yugi wurden langsam sichtlich nervös. Auch Frau Kobayashi hatte mittlerweile eine Grenze gesteckt: Wenn Kaiba und Joey in zehn Minuten nicht auftauchten, würden erste Such- und Kontaktaufnahme-Maßnahmen ergriffen werden. Fünf Minuten vor Ablauf dieser Frist war endlich zwischen den lichten Bäumen eine Bewegung auszumachen und Tea deutete aufgeregt in Richtung Waldrand. „Da drüben, da sind sie!“ Alle Blicke folgten ihr und in der Tat kamen zwei Gestalten langsam aus dem Dickicht gestiefelt. Duke erkannte schon von Weitem Kaibas blaues Laufshirt und nahezu sofort war es, als fiele ein unsichtbares Gewicht von ihm ab. Je näher die beiden kamen, desto mehr fiel auf, dass Kaiba und Joey ziemlich mitgenommen und erschöpft aussahen und ihre Sportkleidung so verdreckt war, als hätten sie sich einmal komplett über den Waldboden gewälzt. Was gar nicht so unwahrscheinlich war, dachte Duke noch kurz, bevor er ihnen gemeinsam mit Yugi, Tea, Tristan und Ryou entgegenlief. Frau Kobayashi folgte den Freunden nicht minder aufgeregt, aber aus körperlichen Gründen in gesetzterem Tempo. Auch die andere Klasse hatte die Nachzügler bemerkt, was sie von Weitem lautstark durch Pfiffe, Johlen und Ausbuhen signalisierten. „Schnauze da drüben!“, rief Tristan ihnen wütend entgegen und wieder beschwichtigte ihn Duke mit einem Kopfschütteln. „Lass die Idioten! Denen zeigen wir es nachher schon noch.“ Mit einem Augenrollen und mit einem winzigen Rest Widerstreben wandte auch Tristan sich nun seinem ramponierten besten Kumpel zu. „Hallo Leute!“, begrüßte Joey mit einem matten Lächeln seine Freunde. „Da seid ihr ja endlich, wir haben uns echt Sorgen gemacht!“, rief Tea aufgeregt und legte ihren linken Arm um ihn. „Ach was, ihr kennt mich doch, mich haut so schnell nichts aus den Socken! … Auch der da nicht!“, ergänzte er mit einem Nicken in Richtung Kaiba und wies auf den Papierfetzen in dessen Hand. „Ich nehme mal stark an, unsere halbe Karte will keiner mehr sehen? Und den Kompass haben wir leider auch nicht mehr.“ Tristan winkte ab und legte dem Blonden ebenfalls von der anderen Seite den Arm auf die Schultern. „Ach, vergiss es, die Nummer ist für uns eh gelaufen. Aber was ist denn eigentlich passiert?“ In diesem Moment stieß auch Frau Kobayashi ein wenig kurzatmig dazu und schob Yugi und Ryou brüsk beiseite. „Das wüsste ich zugegebenermaßen auch gerne!“ Joey warf einen kurzen Seitenblick zu Kaiba, der sich schließlich kurz räusperte und wie schon gestern eine sachliche, aber ausreichend unspezifische Antwort parat hatte: „Eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände, angefangen mit der Teamzusammenstellung.“ Bestätigendes Nicken von Joey. Es war ganz offensichtlich, dass Frau Kobayashi mit dieser Erklärung nicht zufrieden war. „Soso. Und würden Sie mir freundlicherweise auch noch erklären, wie es dazu gekommen ist?“, bohrte die Lehrerin weiter und wies mit der Hand auf die verdreckte Kleidung und die leichten Kratzer und Blessuren, die sie erkennen konnte. „Ein … Führungskonflikt?!“ Joey versicherte sich mit einem erneuten Blick in Richtung Kaiba, ob auch der mit dieser Antwort einverstanden war. Da kein Widerspruch oder eine Korrektur kam, schien das wohl der Fall zu sein. Frau Kobayashi seufzte tief und schüttelte den Kopf. Ihr war natürlich aus täglicher Erfahrung klar, was das zu bedeuten hatte. „Ach, Mr. Wheeler, es ist doch wirklich immer dasselbe mit Ihnen!“ „Hey! Der Gelds…“ Er unterbrach sich nach einem warnenden Blick von Tea. „Der hier war auch dabei!“ Mit dem Daumen zeigte er auf den Brünetten. Frau Kobayashi folgte seinem Blick und seiner Geste, ließ sich aber davon nicht ablenken. „Keine Angst, zu Mr. Kaiba komme ich auch noch!“ Dessen Augenbrauen wanderten angesichts dieser Ankündigung unwillkürlich nach oben und Duke konnte sich ausmalen, dass ihm die Aussicht gar nicht schmeckte, vor der ganzen Klasse belehrt zu werden wie ein unartiger Drittklässler. „Sind Sie nicht ein einziges Mal in der Lage, Mr. Wheeler, sich zusammenzureißen und mit Mr. Kaiba zu einigen? Manchmal würde es Ihnen wirklich gut tun, anzuerkennen, wenn jemand anderes in einer Sache besser ist als Sie – auch wenn Sie anderweitige Vorbehalte gegenüber der Person haben! Werden Sie endlich erwachsen, Mr. Wheeler!“ Joey holte schon Luft, um etwas zu erwidern, doch Yugi zupfte ihn an seinem Shirt und bedeutete ihm mit einem Kopfschütteln, jetzt besser zu schweigen. Frau Kobayashi richtete indes ihre Tirade wie angekündigt auf das nächste Ziel: „Und nun zu Ihnen, Mr. Kaiba! Von Ihnen hätte ich wirklich mehr erwartet! Von allen Schülern dieser Klasse sollten Sie doch nun wirklich am allermeisten über irgendwelchen kindischen Querelen stehen können!“ Nicht nur Duke bemerkte die unverkennbare Ironie dieser Aussage, kam sie doch ausgerechnet von der Person, deren eigene ‚kindische Querele‘ die ganze Aktion hier überhaupt erst verursacht hatte. „Sie sind gestern schon glimpflich davon gekommen, Mr. Kaiba, aber seien Sie versichert, dass ich spätestens ab jetzt auch auf Sie ein sehr strenges Auge haben werde!“ Jetzt sah sie zwischen ihren beiden sie jeweils um mindestens zwanzig Zentimeter überragenden ‚Delinquenten‘ hin und her. „Wenn Sie beide nicht gewesen wären, hätten wir gegen diese Privatschulschnösel gewonnen! Ich hoffe das ist Ihnen bewusst und Sie werden sich in den kommenden Disziplinen besonders anstrengen, um das wieder gut zu machen!“ Kaiba sah daraufhin nur mit einem Augenrollen zur Seite und schon wieder konnte Duke ein unwillkürliches Zucken seiner Mundwinkel nicht unterdrücken. Während seine Freunde sich noch enger um Joey scharten und dessen kleine Verletzungen begutachteten, hielt sich Duke etwas mehr im Hintergrund. Aus dem Augenwinkel sah er noch einmal zu dem ein wenig abseits stehenden Kaiba hinüber und versuchte herauszufinden, ob mit ihm wirklich alles in Ordnung oder doch eher „alles in Ordnung“ war. Just in diesem Moment wandte der Brünette den Kopf in seine Richtung und als ihre Blicke sich trafen, trat auf Dukes Lippen wie von allein ein sanftes Lächeln. Für einen Sekundenbruchteil schien Kaiba irritiert, dann aber, so hätte Duke schwören können, bewegten sich auch seine Mundwinkel minimal nach oben, und augenblicklich erfüllte eine fast schon überschwängliche Leichtigkeit den Schwarzhaarigen. In der Zwischenzeit war auch Herr Takeda mit seiner Klasse herangetreten und verkündete mit demonstrativer Überheblichkeit: „Sehr schön, jetzt wo endlich auch Ihre Schüler vollzählig wieder da sind, können wir ja zum Mittagessen gehen. Wir haben, denke ich, alle schon seit geraumer Zeit großen Hunger.“ Frau Kobayashi fiel es sichtlich schwer, sich einen bissigen Kommentar zu verkneifen, doch inhaltlich musste sie Herrn Takeda zweifellos zustimmen und so gab auch sie das Kommando zum Hineingehen. Die letzten Schüler, die noch auf einer der Bänke oder im Gras saßen, erhoben sich ebenfalls und alle gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Herberge. Ursprünglich war das Mittagessen für zwölf Uhr anberaumt gewesen, doch durch Kaibas und Joeys Verspätung hatte es sich um eine knappe Stunde nach hinten verschoben. Während alle zielstrebig in den Speisesaal strömten, beobachtete Duke aus dem Augenwinkel, wie Kaiba kurz ein paar Worte mit Frau Kobayashi wechselte und im Gegensatz zum Rest nicht mit in den Speisesaal ging, sondern die Treppen zu ihrem Zimmer erklomm. Duke schmunzelte. So weit war es also schon gekommen, dass Seto Kaiba sich bei der Lehrerin abmelden musste, um – wie er vermutete – duschen und sich umziehen gehen zu können. Aber da Frau Kobayashi wohl eine Suchexpedition losgeschickt hätte, wenn er plötzlich einfach so nicht beim Mittagessen gewesen wäre, war diese Variante wohl zu bevorzugen. Noch mehr Aufregung um seine Person wollte Kaiba heute vermutlich tunlichst vermeiden. Während sie gemeinsam am Tisch saßen und das Essen einnahmen, erzählte Joey wunschgemäß noch einmal ganz ausführlich von den Erlebnissen im Wald. „Und ob ihr’s glaubt oder nicht, der kennt Blair Witch Project nicht! Hallo?! Blair Witch Project! Das ist doch nun wirklich ein Klassiker! Und ich hätte wetten können, wenn Kaiba eine Art von Filmen mag, dann Horrorfilme!“ Duke grinste nur in sich hinein. Joeys Geschichten und Beschwerden hätten noch stundenlang so weitergehen können, solange sie Kaiba einschlossen. Wie anstrengend mussten die vergangenen Stunden für ihn gewesen sein! Vor allem in den letzten zwei Tagen hatte Duke das – vielleicht trügerische – Gefühl bekommen, Kaiba durch ihre längeren und kürzeren, aber immer irgendwie … intensiven Unterhaltungen und Interaktionen sehr viel besser kennen gelernt zu haben. Bei genauerer Betrachtung waren ihre Leben stellenweise gar nicht so unterschiedlich, hatten mehr Schnittpunkte, als er sich bisher bewusst gemacht hatte, und in manchen Dingen tickten sie wahrscheinlich sogar ganz ähnlich. Im Laufe von Joeys Bericht konnte er immer wieder nachfühlen, wie es dem Brünetten gegangen sein musste und sich dessen Reaktionen auch ohne Joeys schlechte Imitationen nur zu gut ausmalen – hatte er selbst den Blonden doch am Anfang mit der gleichen Haltung nahezu absoluter Geringschätzung betrachtet, wie Kaiba es noch immer tat. Das hatte sich dann ja glücklicherweise recht schnell geändert und mittlerweile mochte und schätzte er Joey nun schon seit vielen Jahren als absolut verlässlichen und treuen Freund, aber manchmal … ja, manchmal war Joey eben einfach nervig und anstrengend. Ganz besonders, wenn er hungrig war oder planlos … oder sich wie wild in eine entweder völlig harmlose oder beinahe aussichtslose Sache verbissen hatte. „Und wisst ihr, was wirklich seltsam ist?“ Alle schüttelten den Kopf. „Kurz bevor wir wieder angekommen sind, hab ich ihn noch ganz nebenbei gefragt, ob er Dinos mag. Ihr wisst schon, wegen diesem komischen Block und so.“ Unwillkürlich hörte Duke bei der Erwähnung des Blocks noch aufmerksamer zu. Prüfend sah er sich in ihrer Runde um und registrierte zu seiner Erleichterung allseits hochgezogene Augenbrauen, leises Seufzen und dezentes Augenrollen, doch Joey ließ sich davon nicht beirren. „Und er hat nur so sinngemäß gesagt – also stellt euch jetzt Kaiba vor –“, wieder versuchte er dessen Haltung und Ausdrucksweise nachzuahmen, „Blablabla, Hundebeleidigung, blabla. Nein, nicht besonders! Das ist doch weird! Warum hat er sich dann einen Block – und wohlgemerkt den passenden Stift dazu! – mit scheiß Dinos drauf gekauft, den er jeden Tag stundenlang anschauen muss?“ „Joey, lass es doch einfach mal gut sein mit diesem blöden Block! Vielleicht hat er sich einfach keine großen Gedanken darüber gemacht und sich das nächstbeste gegriffen, was da rumlag.“, warf Tea ein, um dem leidigen Thema endlich ein Ende zu setzen. Joey schüttelte sehr bestimmt den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Nie und nimmer würde Kaiba einfach das ‚nächstbeste‘ nehmen! Da ist er nicht der Typ für.“ Duke kam nicht umhin, Joey in Gedanken für diese überaus treffende Einschätzung Respekt zu zollen. Noch so eine Eigenschaft, die er und Kaiba teilten. Tatsächlich war dieser Block auch für ihn, den eigentlichen Käufer des ‚Corpus Delicti’, alles andere als das Nächstbeste gewesen; er hatte ihn im Gegenteil ganz speziell für den Moment der Übergabe und Kaibas entgeistertes Gesicht beim Auspacken ausgesucht. Immer noch stellte er sich allerdings die Frage, ob diese wenigen – zugegeben fabelhaften – Sekunden den fortdauernden Stress und die Aufregung wirklich wert gewesen waren, die er mit der Auswahl dieses so auffälligen Schreibwarenmodells losgetreten hatte. „Okay Mann, lass mich mal ganz ehrlich sein: Es interessiert hier einfach niemanden außer dich!“, konfrontierte Tristan den Blonden mit der schlichten Wahrheit. Ein leicht beleidigter Ausdruck schlich sich auf Joeys Gesicht und er verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. „Tze, wenn das so ist, dann finde ich eben alleine raus, was dahinter steckt!“ „Oder du lässt es einfach bleiben!“, schlug Tea noch einmal mit Nachdruck vor, aber für diese Art von Einwurf war Joey offenkundig taub. Ihr Gespräch wandte sich in der Folge wieder anderen Themen zu, wofür Duke mehr als dankbar war. Unbemerkt von den meisten anderen Anwesenden betrat nur zwei Minuten später Kaiba den Speisesaal; wie Duke richtig vermutet hatte, frisch geduscht und ordentlich in sein weißes Hemd und seine hellgraue Jeans gekleidet. ‚Na endlich!‘, schoss es ihm durch den Kopf, aber der Gedanke war zu schnell wieder verschwunden, als dass er sich näher mit ihm hätte befassen können. Stattdessen ergriff ihn augenblicklich eine freudige, fast hibbelige Unruhe. Sein Blick folgte unauffällig dem Brünetten, der sich an der Durchreiche einen Teller des Reisgerichts abholte, das heute auf dem Speiseplan stand, und sich gewohnheitsmäßig allein an einem der noch freien Tische niederließ. Nur zu gern hätte Duke sich zu ihm gesetzt und sich seine Sicht der Erlebnisse im Wald angehört, soweit Kaiba das überhaupt mit ihm teilen wollte, aber im Hinblick auf Joey war das im Moment wohl nicht die beste Idee. Doch vielleicht könnte er heute Abend sein Glück versuchen, wenn sie wieder allein waren und im Bett lagen… „Ich möchte wirklich wissen, woran du gerade denkst!“, riss Teas Stimme Duke aus seinen Gedanken. Beinahe hätte er sich vor Schreck verschluckt. „Ich? Warum?“, fragte er irritiert und mit aufgeregt klopfendem Herzen zurück, als habe sie ihn bei etwas Verbotenem erwischt. „Na, du warst gerade so weggetreten und hast ganz selig in dich rein gegrinst.“ Sie musterte ihn noch einmal eingehender und ein spitzbübisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Aber, wenn ich es mir recht überlege, ziehe ich die Frage doch zurück. Jeder Blick in einen eurer Köpfe würde mich wahrscheinlich fürs Leben traumatisieren.“ Duke atmete unmerklich auf, als sich just in diesem Moment die beiden Lehrer mit einem lauten Knarzen ihrer Stühle erhoben und damit automatisch die Aufmerksamkeit und das Interesse weg vom Inhalt seiner Gedanken lenkten. Wieder einmal ergriff Herr Takeda das Wort: „Meine Damen und Herren, jetzt, wo Sie das Essen beendet haben, fahren wir fort mit der Auslosung der nächsten beiden Disziplinen unseres schönen Wettbewerbs!“ Frau Kobayashi blickte bei dem Wort ‚schön‘ ein wenig frustriert zur Seite, ließ ihn aber fortfahren. „Da Kobayshi-san heute morgen den Anfang gemacht hat, ist es nun an mir, die“, er kicherte ein wenig altväterlich, „Glücksfee zu spielen.“ Damit nahm er das Glas mit den potentiellen Disziplinen zur Hand, durchmischte noch einmal die Zettel und zog schließlich zwei Stück heraus. Nicht nur Frau Kobayashi sah nun interessiert auf seine Hände, die das Papier entfalteten, selbst die unmotiviertesten Schüler konnten sich der Spannung nicht ganz erwehren. „Bei den nächsten beiden Disziplinen handelt es sich um … Kopfrechnen…“, die Reaktion war größtenteils genervtes Stöhnen, „und … Basketball.“ „Yes!“, riefen Tristan und Joey nahezu gleichzeitig aus, gaben sich ein High Five und sahen mit freudiger Aufregung zu Duke, der bei dieser Ankündigung ebenfalls begeistert die Hand zu Faust geballt hatte. „Dann können wir diesem blöden Kenta endlich zeigen, wo der Hammer hängt!“, ereiferte sich Tristan sogleich. Joey sah ihn fragend an. „Wem?“ „Dem da.“ Tristan zeigte dezent auf Kenta, der einige Tische entfernt saß und mit seinen Freunden lachte. „Ach, der Blödmann aus dem Gemeinschaftsraum!“ „Genau der. Als wir auf euch gewartet haben, hat der noch ein bisschen den dicken Macker markiert und sich über uns – und vor allem über euch! – lustig gemacht.“ Sofort war auch Joey Feuer und Flamme. „Tze, na, dem werden wir sein vorlautes Maul schon stopfen!“ Aus Ryou sprach wieder einmal die Stimme der Vernunft und er verpasste damit der Euphorie einen kleinen Dämpfer: „Tja, dazu wird es aber nicht mehr kommen, wenn wir vorher beim Kopfrechnen verlieren. Dann hätten die anderen drei von fünf Siegen und damit den Wettbewerb schon gewonnen.“ Augenblicklich wurden die Mienen der Jungs wieder etwas länger. „Also dazu kann ich nicht besonders viel beitragen.“, räumte Tristan missmutig ein und auch Joeys Gesicht fiel merklich in sich zusammen. „Das wird schon, Leute, macht euch mal keine Sorgen!“, lächelte Yugi und wieder einmal fragten sich fast alle am Tisch, woher er nur immer diese Sicherheit und Zuversicht nahm. Aber da er meistens recht behielt, konnten sie auch jetzt nicht anders, als ihm zu glauben. Kapitel 17: Take a shot. (And better get it right.) --------------------------------------------------- Nach einer kurzen Diskussion über die Regeln schienen sich Herr Takeda und Frau Kobayashi endlich einig geworden zu sein und ersterer klatschte wie üblich laut in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Schüler zu bekommen. „Meine Damen und Herren, wir starten gleich mit der Disziplin Kopfrechnen. Größere Vorbereitung wird es, wie Sie sich denken können, nicht benötigen, aber wenn Sie vielleicht diese Tische und Stühle dort drüben“, er zeigte hinter sich auf die von der Tür aus linke Seite des Raumes, „ein wenig zur Seite rücken könnten, wäre das ganz wunderbar!“ Sofort nachdem der Lehrer geendet hatte, stand Joey auf und winkte Duke und den anderen mit einem lockeren Grinsen. „Leute, ich glaub, ich geh auch mal schnell duschen. Beim Kopfrechnen bin ich eh keine große Hilfe.“ „Mach das, du hast es auf jeden Fall nötig.“, gab Tea zurück und klopfte ihm mit der Hand noch ein paar Blattreste vom Hosenbein. Ryou drückte dem Blonden währenddessen den Schlüssel für ihr Zimmer in die Hand und schnellen Schrittes verließ Joey den Speisesaal. Er war kaum weg, da trat Frau Kobayashi zu ihnen. „Ich nehme an, Mr. Wheeler nutzt die Pause, um sich wieder ein wenig zu säubern?“ Sie nickten. „Gut, dann sieht er wenigstens wieder etwas präsentabler aus. Könnten Sie dann vielleicht mit den Tischen und Stühlen helfen?“ Aus dem Augenwinkel warf sie einen abschätzigen Blick hinüber zu ihrem männlichen Pendant. „Takeda-san scheint nicht bedacht zu haben, dass sie sich leider nicht von alleine bewegen, wenn man bei einem solchen Arbeitsauftrag niemanden konkret adressiert.“ Tristan erhob sich mit einem leisen, etwas genervten Seufzen und Duke schloss sich ihm sogleich an. Sie bedeuteten den anderen sitzen zu bleiben, denn es waren nicht viele Tische und offenkundig schien Herr Takeda den Fehler, den ihm Frau Kobayashi attestiert hatte, inzwischen auch selbst bemerkt zu haben. Er hatte sich an Kenta und einen seiner Freunde gewandt – einen etwas kleineren, aber ebenso stämmig-muskulösen Zeitgenossen im Rugby-Trikot –, die sich bereits anschickten, die ersten Tische beiseite zu räumen. Kaum waren Duke und Tristan in Hörweite gekommen und hatten sich ein paar Stühle gegriffen, ließ es sich Kenta nicht nehmen, gerade laut genug die bevorstehende Disziplin zu kommentieren: „Hey Taki, bist du auch schon so gespannt darauf zu sehen, wer die besseren Streber hat?“ Taki, sein Rugby-Teamkollege, gab nur ein zustimmendes „Mhm.“ zur Antwort und Kenta fuhr hämisch grinsend fort: „Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass das auch wir sein werden, wenn man sich ansieht, was die Versager-Truppe bis jetzt so geleistet hat.“ Duke schüttelte nur mit dem Kopf, ignorierte die Bemerkung und griff sich die nächsten zwei Stühle, doch Tristan sprang sofort auf die Provokation an: „Vergiss es, Muskelhirn, dieses Mal gewinnen wir! Und dann machen wir euch beim Basketball aber mal so richtig nass!“ Die beiden Rugby-Spieler lachten laut auf und Kenta ätzte weiter: „Ha, also das würde ich wirklich zu gerne sehen! Eigentlich müsste ich euch den Sieg beim Zahlendrehen ja jetzt fast schon wünschen.“ Tristans Finger krallten sich fester um den Stuhl in seinen Händen und Duke wurde das Gefühl nicht los, dass er Kenta das Sitzmöbel unter anderen Umständen am liebsten direkt über den Kopf gezogen hätte. „Tu das nur! Und dann wirst du ja sehen, was du davon hast!“, gab er stattdessen nur herausfordernd zurück und brachte den Stuhl zu den anderen an die Seite. Nach diesem neuerlichen Schlagabtausch kam es vorerst zu keinen weiteren Komplikationen und nur kurze Zeit später hatten Duke, Tristan, Kenta und Taki den geforderten Bereich des Speisesaals freigeräumt, der wohl als eine Art Bühne für die noch zu bestimmenden Kontrahenten dienen sollte. Ebendas sollte nun geschehen und wie Herr Takeda auf der anderen Seite des Raumes scharte auch Frau Kobayashi ihre Schüler um sich – möglichst weit von ihm entfernt, verstand sich. „Also, Herrschaften, folgendermaßen sieht es aus: Aufgrund der ungeplanten Verzögerung bei der letzten Disziplin“, in Ermangelung von Joey konnte sie ihren vorwurfsvollen Blick nur Kaiba angedeihen lassen, „müssen wir diese hier recht schnell abhandeln. Das bedeutet konkret, dass wir nur zwei Schüler gegeneinander antreten lassen können. Wir sollten also die Person aufstellen, die am besten für diese Disziplin geeignet ist. Spontan fallen mir hier zwei von Ihnen …“ „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Kobayashi-sensei!“ Ginta, der Klassensprecher, hatte ihr energisch vorgegriffen und Duke musste unweigerlich schmunzeln. Fehlte nur noch, dass er die Hand für einen militärischen Gruß an den Kopf hob und geräuschvoll die Hacken zusammenschlug. Aber auch, wenn er oft als Streber und Schoßhündchen von Frau Kobayashi belächelt wurde: In Mathe war Ginta zweifellos der Beste – Kaiba wie üblich vielleicht einmal ausgenommen. Wobei auch Duke sich zugute halten konnte, im Kopfrechnen nicht der Langsamste zu sein, zumindest soweit es sich um ladenübliche Beträge und die entsprechenden Rechenoperationen handelte. Im ersten Moment schien die Lehrerin ein wenig überrumpelt, dann nickte sie jedoch. „Na schön, wenn Sie sich schon freiwillig melden, möchte ich Ihren Elan natürlich nicht bremsen. Und tatsächlich sind Sie eine der zwei Personen gewesen, die ich dafür ins Auge gefasst hätte. Mr. Kaiba“, – wieder fixierte sie durch ihre Brille streng den Brünetten –, „hätte zwar etwas mehr wieder gut zu machen gehabt, aber was soll’s. Es gibt ja noch zwei Disziplinen, sofern wir jetzt gewinnen.“ Der so unangenehm explizit Angesprochene war bereits sichtlich genervt, aber Frau Kobayashi beachtete es gar nicht, denn sie hatte ihre Aufmerksamkeit schon wieder auf Ginta als ihren „Champion“ für diese Disziplin gerichtet. „Sie müssen und werden gewinnen, haben wir uns verstanden?“ Für Dukes Ohren klang es beinahe schon wie eine Drohung. „Noch haben wir die Chance, diesen eingebildeten Privatschulschnöseln zu zeigen, was eine angeblich so drittklassige öffentliche Schule zu leisten im Stande ist!“ Ginta beeilte sich nervös zu nicken. „S-selbstverständlich, Kobayashi-sensei!“ Unweigerlich fragte sich Duke, ob er seine Entscheidung schon jetzt bereute. Die Lehrerin nahm unterdessen ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber von einem nahe gelegenen Tisch und erklärte weiter: „Natürlich ist der Rest von Ihnen nicht komplett außen vor. Ginta, Sie und Ihr Gegner…“ Sie spähte hinüber zur anderen Klasse, wo augenscheinlich ein zierliches, unscheinbares Mädchen mit ockerfarbenem Wollpullover und einem gepflegten Faltenrock auserkoren worden war, und korrigierte sich: „… Ihre Gegnerin werden gleich aus dem Raum gehen. Währenddessen werden Sie“, sie wies mit der Hand auf die restliche Gruppe, „sich zwanzig Rechenaufgaben ausdenken – jeweils fünf für jede Grundrechenart – und auf diesem Zettel hier notieren, den wir bereits entsprechend vorbereitet haben. Ohne Lösung, versteht sich, die werden Takeda-san und ich unmittelbar vor Beginn einmal gesammelt bestimmen. Es kann also jeder eine Aufgabe notieren, zumindest fast. Die andere Klasse macht dasselbe, dann bringen wir Ginta und seine Kontrahentin wieder hinein, die insgesamt vierzig Aufgaben werden nacheinander vorgelesen und wer von den beiden jeweils schneller die richtige Lösung sagt, bekommt einen Punkt. Sollten wir am Ende Gleichstand haben, wird es eine Entscheidungsaufgabe geben. Ich denke, das ist so einfach wie logisch.“ Sie wog das Klemmbrett in ihren Händen hin und her, während sie überlegte, ob sie noch etwas vergessen hatte. „Ach ja! Natürlich haben Takeda-san und ich uns auf gewisse … Standards geeinigt, damit es nicht zu schwer oder zu leicht wird. Bitte wählen Sie möglichst zufällige Zahlen, bei Addition und Substraktion drei- oder vierstellig, bei Multiplikation und Division jeweils zwei- bis dreistellig. Haben Sie das soweit verstanden?“ Einstimmiges Nicken beantwortete Frau Kobayashis Frage. Nachdem bereits ungefähr die Hälfte der Klasse eine Rechenaufgabe aufgeschrieben hatte, gelangte der Zettel schließlich auch zu Seto. Er betrachtete die vielen durch Plus-, Minus-, Mal- und Durch-Zeichen getrennten blauen Zahlen auf dem Papier und schüttelte den Kopf. Gott, dieser ganze Tag war so … unbeschreiblich sinnlos. Mich musst du nicht so angucken, Kaiba, manchmal denke ich auch, dass ich ein Irrenhaus und keine Schule besuche! Ein dezentes Lächeln huschte über sein Gesicht. Wenigstens ging es nicht nur ihm so. Widerwillig notierte auch er eine Aufgabe – Division, nichts einfaches natürlich. Er befestigte den Kuli wieder am Klemmbrett und stand mit einem leisen Seufzen auf, um die Liste an den nächsten Tisch weiterzureichen. Da er wie üblich etwas weiter abseits von seinen Mitschülern saß, musste er dazu an einigen unbesetzten Tischen und auch an der Durchreiche zur mittlerweile augenscheinlich leeren Küche vorbei. Beiläufig fiel sein Blick hinein und sofort weiteten sich seine Augen, zur Abwechslung einmal in freudiger Überraschung: Eine Glaskanne voll mit Kaffee wurde dort in der angeschalteten Maschine warm gehalten. Vermutlich die Nachmittagsration für das Personal, aber das war ja im Grunde auch vollkommen gleich. Dort stand ein kleines Stück Normalität, unbeaufsichtigt, praktisch herrenlos! Prüfend ließ Seto seinen Blick durch den Speisesaal schweifen. Die Schwingtür zur Küche mit der unmissverständlichen Aufschrift ‚Zutritt nur für Personal!‘ lag günstig. Alle Anwesenden waren entweder in Gespräche vertieft, beschäftigten sich mit ihren Telefonen oder beides zugleich. Frau Kobayashi und Herr Takeda hatten Ginta und das nicht minder bemitleidenswerte Mädchen aus der anderen Klasse hinaus begleitet und waren noch nicht wieder zurück. Wenn er sich geschickt anstellte, dann würde es doch niemand bemerken, wenn er auf dem Weg zurück zu seinem Tisch einen kurzen Umweg einlegte… Und falls er doch erwischt würde? Ach Herrgott, was hatten die vergangenen Tage in dieser Ausflugshölle nur aus ihm gemacht?! Er war Seto Kaiba! Sollte doch erstmal jemand wagen, ihn wegen einer lächerlichen Tasse Kaffee zu bestrafen! Und außerdem würde er sich nicht erwischen lassen. Ganz einfach. Nachdem auf diese Weise alle Zweifel ausgeräumt waren und er die Liste bei den nächsten Mitschülern abgegeben hatte, machte sich Seto kurzentschlossen an die Realisierung seines Plans. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlenderte er gemessenen Schrittes zu seinem Platz zurück. Auf Höhe der Küchentür sah er sich noch einmal unauffällig um, ob ihn irgendjemand beobachtete. Die Luft schien noch immer rein zu sein, trotzdem blieb er weiterhin aufmerksam, sodass er die Aktion notfalls noch im letzten Moment abbrechen konnte. Langsam und vorsichtig bewegte er sich auf die Tür zu. Als er sie tatsächlich unbehelligt erreicht hatte, lehnte er sich an sie, sodass sie ein kleines Stück nach innen aufschwang, schlüpfte flink durch den Spalt hindurch und hielt die Tür von innen fest, um sie sanft schließen zu lassen. Auf der anderen Seite angekommen, lehnte er sich kurz mit dem Rücken an die Wand und nahm einen tiefen Atemzug. Der erste Teil war schon einmal geschafft. Zügigen Schrittes, aber trotzdem so leise wie möglich, ging er zur Kaffeemaschine und hielt Ausschau nach einem passenden Behältnis. In einem Regal links über sich wurde er fündig, zog beinahe geräuschlos einen Kaffeebecher heraus und füllte ihn mit seinem braunen Lebenselixier, dessen Duft ihm bereits verführerisch in die Nase stieg. Das klappte doch wie am Schnürchen. Nun galt es nur noch, die Küche so lautlos und unauffällig wieder zu verlassen, wie er gekommen war. Seto wandte sich wieder Richtung Tür, als sein aufmerksamer Blick Duke streifte, der geradewegs in seiner Sichtlinie an einem Tisch saß und sich mit dem Rest des Kindergartens über die Liste mit den Rechenaufgaben beugte. Alles … in Ordnung, Kaiba? Das vertraute Aroma des Kaffees, das ihn langsam zurück in die Realität holte. Grüne Augen, die ihn besorgt musterten. Das alltägliche Gefühl eines leeren Pappbechers in seiner Hand und nur kurz danach das vollkommen neue und unerwartete der fremden Hand unter seinen Fingerspitzen. Die Erinnerung versetzte Seto erneut in flatterige Rastlosigkeit und brachte sein Inneres in unfreiwillige Aufruhr. Unterdessen öffnete sich knarzend die Tür zum Speisesaal und Frau Kobayashi und Herr Takeda traten vertieft in eine intensive Diskussion wieder ein. Das Gemurmel und die Geräusche draußen stiegen merklich an und Seto schüttelte kurz den Kopf, um wieder in der Gegenwart anzukommen. Gar kein guter Zeitpunkt für einen Wackelkontakt, er musste sich beeilen! Sofort schaltete sein System auf Autopilot. Hektisch, aber dabei in höchster Konzentration, stellte er die volle Tasse noch einmal auf der Arbeitsfläche ab, griff erneut in das Regal, füllte einen zweiten Becher mit Kaffee und stellte die nun halbleere Kanne zurück in die Maschine. Schon meinte er draußen zu hören, wie Herr Takeda sich räusperte. Nichts wie weg hier! Mit beiden Kaffeebechern in den Händen und ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, schlich er sich wieder aus der Küche und dämpfte das kraftvolle Zuschwingen der Tür gekonnt mit dem rechten Fuß. Niemand schien von ihm Notiz zu nehmen, als er wieder in den Speisesaal trat und innerlich atmete er auf. Das war gerade noch einmal gut gegangen! Ganz so, als wäre nichts geschehen, spazierte er zu dem Tisch, an dem Duke saß, stellte wortlos und ohne den Schwarzhaarigen auch nur anzusehen eine der gefüllten Tassen vor ihm ab und machte sich umgehend wieder auf den Weg zu seinem Platz. Niemandem am Tisch war die Aktion entgangen und die Freunde sahen dem Firmenchef voller Verwunderung nach. „Was war das denn bitte?!“, sprach Tea aus, was alle dachten und blickte neugierig zu Duke. Der wiederum starrte noch immer mit leicht gerunzelter Stirn auf den dampfenden Becher Kaffee vor sich, als sei dieser gerade aus dem Nichts vor ihm erschienen. Dann stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. „Hm, sagen wir … eine Revanche.“ Die anderen schienen aus Dukes Antwort nicht recht schlau zu werden, aber das war durchaus beabsichtigt. Was gestern Nachmittag passiert war, ging nach wie vor nur ihn und Kaiba etwas an. In diesem Moment postierten sich Herr Takeda und Frau Kobayashi auf der freigeräumten Fläche, um den Startschuss für das Kopfrechnen zu geben. Obwohl ihre Neugier alles andere als befriedigt war, wandten seine Freunde ihre Aufmerksamkeit augenblicklich wieder dem Geschehen vorne zu und Duke entspannte sich merklich, als er nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Sofort durchstreifte sein Blick den Raum auf der Suche nach dem großzügigen Spender der koffeinhaltigen Überraschung und fand ihn schließlich schräg hinter sich zurückgelehnt auf einem Stuhl sitzend, das rechte Bein locker auf seinem Knie abgelegt. Gerade hob Kaiba seinen eigenen Kaffeebecher zum Mund und pustete einmal sachte, bevor er den ersten Schluck nahm. Kaum hatte er Dukes fragenden Blick bemerkt, blitzten seine blauen Augen für einen Sekundenbruchteil auf und er prostete Duke diskret zu. Schnell hob er die Tasse wieder an seine Lippen, doch das minimale, zufriedene Zucken seiner Mundwinkel hatte er nicht mehr ganz verbergen können. Das entlockte Duke unweigerlich ein Grinsen und auch er griff zu seinem Kaffeebecher und prostete mit einem dankenden Nicken zurück. Umgehend wandte er den Blick wieder nach vorne zur „Bühne“, wo sich bereits Ginta und das Mädchen mit dem ockerfarbenen Pulli bereitmachten – nicht, dass seine viel zu informationshungrigen Freunde noch etwas bemerkten. Mit einem warmen, beinahe überschwänglichen Gefühl in der Brust, das von dem Kaffee kommen mochte oder auch nicht, nahm Duke einen ersten, vorsichtigen Schluck und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. War Kaiba gerade wirklich allen Ernstes so mir nichts, dir nichts in die Küche spaziert und hatte Kaffee geklaut? Ihm entfuhr ein belustigtes Schnauben. Und er hatte schon gedacht, er sei ein Junkie. Der Kaffee schmeckte jedenfalls richtig gut, wesentlich besser als noch heute morgen. Ob sie in der Küche irgendetwas anders gemacht hatten? Als die zweite Rechenaufgabe verlesen wurde, öffnete sich leise die Tür und Joey schlich sich so unauffällig wie möglich zu ihnen an den Tisch. „So, Leute, da bin ich wieder! Frisch, sauber und porentief rein! Was hab ich verpasst?“, flüsterte er, während er sich einen Stuhl heranzog und sich hinsetzte. Ryou beugte sich ein wenig zu ihm und gab ebenso leise zurück: „Nicht viel. Es wurde erst eine Aufgabe gestellt und die hat das Privatschulmädchen beantwortet.“ Joey verzog das Gesicht. „Na, das geht ja gleich wieder gut los! Ginta soll sich mal ein bisschen anstrengen!“ Das tat Ginta dann offensichtlich auch, denn die ganze Zeit über blieb es fast ausgeglichen zwischen den beiden Kontrahenten. Für Duke völlig unerwartet entfaltete das Spektakel eine ganz eigene Dynamik. Es war merkwürdig zu sehen, wie ausgerechnet Tristan und Joey den sonst von ihnen eher belächelten Klassensprecher anfeuerten und lautstark jubelten und pfiffen, wenn er eine Aufgabe korrekt löste. Der schien daraus aber immerhin eine enorme Motivation zu ziehen und je mehr Bestärkung er von seinen Mitschülern erfuhr – besonders von denen, die ihn sonst eher geringschätzten oder ignorierten – desto angestrengter versuchte er Satsumi, dem Mädchen aus der anderen Klasse, zuvorzukommen. Auch sie wurde natürlich lauthals von ihren Mitschülern angefeuert, ihr andauerndes, verstohlenes Schielen nach links verriet jedoch, dass sie sich augenscheinlich mehr an Ginta abarbeitete. Dessen frustriertes Gesicht, wenn sie ihm zuvorkam, schien sie jedes Mal ausnehmend zu genießen. Um Duke herum war es von Aufgabe zu Aufgabe immer enger geworden, waren doch immer mehr Schüler beider Klassen stetig weiter nach vorne gerückt und hatten sich offensichtlich von der aufgeheizten Stimmung anstecken lassen. Mittlerweile stand es 18 zu 17 für die Privatschüler. „Komm schon, Ginta, du hast das drauf!“, brüllte Joey dem eher schmächtigen Klassensprecher regelrecht entgegen. „Ja, zeig’s ihr, Mann! Nur noch fünf Aufgaben!“, schob Tristan hinterher. Der Klassensprecher nickte entschlossen und hob seine zur Faust geballte Hand in einer kämpferischen Geste. „Ich werde euch nicht enttäuschen, Leute! Und Sie auch nicht, Kobayashi-sensei!“ Er atmete noch einmal tief durch und schloss fest die Augen, während Herr Takeda die nächste Aufgabe verlas. „5632 minus 1969.“ Sämtliche von Dukes Klassenkameraden rund um ihn herum sogen scharf die Luft ein, öffnete doch Satsumi bereits den Mund, um zu lösen. Da schoss Ginta es heraus: „3663.“ Frenetischer Applaus der Domino-Schüler. Als Punktefee war das blonde Mädchen auserkoren worden, das mit Kenta befreundet war und das Duke draußen zugewunken hatte. Auf der Tafel, auf der ansonsten das Snackangebot stand, machte sie einen weiteren Strich für die Domino-High: 18 zu 18. Sofort herrschte wieder gespannte Stille, als Herr Takeda mit der nächsten Aufgabe fortfuhr. Ginta hielt seine Augen weiter geschlossen und blieb hochfokussiert. „854 mal 76.“ Erneut hielten alle den Atem an. „64904.“ Wieder Ginta. Jubelschreie erfüllten den Raum. Tristan, Joey und einige andere Domino-Schüler sprangen von ihren Stühlen auf und klatschten wie wild in die Hände. Noch ein Strich auf ihrer Seite. 18 zu 19. Vorsprung. Herr Takeda schien seine bemühte Neutralität jetzt doch nicht länger aufrecht erhalten zu können und schoss die letzten Aufgaben heraus wie ein Maschinengewehr, vielleicht in der verzweifelten Hoffnung, Ginta durch die Geschwindigkeit aus dem Konzept bringen zu können. „288 durch 44.“ Eine Sekunde Stille, dann: „6,54.“ 18 zu 20. „Oh Mann, Leute, Ginta ist richtig on fire!“, stieß Joey mit krampfhaft gedrückten Daumen etwas leiser aus, um nicht doch noch auf den letzten Metern die Konzentration ihres Hoffnungsträgers zu stören. „4821 plus 7198.“ „12019.“ Satsumi auf der anderen Seite war schon wieder kaum dazu gekommen, Luft zu holen. Duke hatte im Geiste nicht die Aufgabe, sondern den aktuellen Punktestand mitgerechnet, denn das blonde Mädchen war eindeutig ein wenig zu langsam an der Tafel. 18 zu 21. Noch bevor die letzte Aufgabe gestellt wurde, schüttelte Satsumi leicht den Kopf und auch Duke kam zu dem Ergebnis, dass ihre Chance auf einen Ausgleich oder gar Sieg damit hinüber war. „475 mal 163.“ „77425.“ Auch die letzte Aufgabe löste Ginta noch souverän und öffnete, als keine weitere kam, endlich wieder die Augen, nur um zum vermutlich allerersten Mal zu erleben, wie wahre Jubelstürme über ihn hereinbrachen und seine Mitschüler sich begeistert um ihn scharten. Duke, Tea und Ryou blieben erst einmal sitzen, um den Armen nicht noch mehr zu überfordern, doch Tristan und Joey stürmten sofort mit zu ihm. Tristan klopfte ihm mit den Worten „Mann, das war richtig stark!“ etwas zu stark auf die Schulter, während Joey ihm die Hand zu einem High Five hinhielt: „Du bist echt der Held des Tages, Alter!“ Zaghaft, aber selig lächelnd schlug Ginta ein. Duke war sich sicher, dass dieses Grinsen wohl heute so schnell nicht wieder aus seinem Gesicht verschwinden würde – noch mehr, als endlich auch Frau Kobayashi zu Ginta trat und ihm voll des Lobes die Hand schüttelte, bevor sie mit einem mehr als zufriedenen Gesichtsausdruck die Stimme erhob, um die Aufmerksamkeit aller Schüler zu bekommen. Sichtlich zähneknirschend gesellte sich auch Herr Takeda zu ihr. „Meine Herrschaften, nachdem wir nun ohne Zweifel bewiesen haben, dass die mathematische Ausbildung auch auf einer angeblich ‚drittklassigen' Schule offenbar gar nicht so schlecht ist,“ – sie genoss ihren überheblichen Seitenblick auf Herrn Takeda sichtlich – „treffen wir uns in einer Viertelstunde, also um 14:45 Uhr, draußen am Basketball-Feld. Nutzen Sie also die Zeit, sich noch einmal frisch zu machen! Bis gleich!“ Mit einem letzten selbstzufriedenen Blick in Richtung des Privatschullehrers machte sie auf dem Absatz kehrt und ging beinahe im Stechschritt auf Kaiba zu. Noch im Gehen winkte sie auch Joey heran, der seine Freunde mit banger Miene ansah und mit dem Finger seinen T-Shirt-Kragen in die Länge zog. „Geht schon mal vor Leute, ich hoffe, wir sehen uns gleich lebend am Basketballfeld! Betet für mich!“ Duke und die anderen konnten sich ein Grinsen nicht ganz verkneifen, taten aber wie geheißen und machten sich schon einmal auf den Weg nach draußen. Kurz vor der Tür drehte Duke sich noch einmal um, nur um zu sehen, wie Frau Kobayashi Kaiba und Joey offenbar einen erneuten Privatvortrag hielt. Die versteinerte Miene des ersteren sprach Bände über dessen Haltung zu dem Gesagten und Duke entfuhr ein leises Seufzen, bevor er sich wieder dem Gespräch mit seinen Freunden zuwandte. Draußen am Basketballfeld hörte Duke Tristan, der bereits konkrete Taktiken für ihr Spiel ausarbeitete, nur mit einem halben Ohr zu. Stattdessen hatte er die Tür der Herberge genau im Blick und hielt unwillkürlich die Luft an, als sie sich endlich öffnete. Doch es war nur Frau Kobayashi, die hinauskam – allein. Die Lehrerin ging direkt zu Herrn Takeda, augenscheinlich, um noch einmal letzte Fragen mit ihm zu klären. Tristan dozierte indes noch immer über den optimalen Angriff und schien sich an Dukes abwesendem Nicken und dem Halb- bis Desinteresse seiner restlichen Freunde kaum zu stören. Nur fünf Minuten später ging die Tür ein zweites Mal auf und kurz nacheinander kamen erst Joey und dann Kaiba hinaus; jeweils in ihren verdreckten Sporthosen von vorhin, aber immerhin sauberen, normalen T-Shirts. Dukes Aufmerksamkeit blieb noch für einen Moment bei Kaiba, der sich mit verschränkten Armen demonstrativ abgewandt vom Rest seiner Mitschüler an eine Bank lehnte, bis schließlich Joey zu ihnen stieß. Sogleich stellte Yugi die Frage, die auch Duke auf der Zunge brannte: „Was wollte Frau Kobayashi denn noch von euch?“ Der Blonde lachte kurz auf und winkte ab. „Ach, die alte Hexe hat uns beide zum Spielen verdonnert, damit wir den Reinfall beim Orientierungslauf wieder gut machen. Ich wollte ja ohnehin mitspielen, aber der reiche Pinkel war natürlich nicht so begeistert.“ Ja, ungefähr so etwas hatte Duke sich gedacht, obwohl er annahm, dass der Brünette im Basketball nicht weniger fähig war als in den meisten anderen Sportarten auch, zumindest ausgehend von dem, was er bei Kaibas sporadischer Anwesenheit im Sportunterricht bisher erlebt hatte. Für diese Disziplin hatte Herr Takeda einmal mehr seine Trillerpfeife ausgerüstet und blies jetzt einmal kräftig hinein. Sofort richteten sich alle Augen auf ihn und letzte Gespräche wurden tuschelnd zu Ende geführt. „Also, meine Damen und Herren, wir werden gleich ein leicht verkürztes Basketball-Spiel mit vier Vierteln à sieben Minuten spielen. Zwischen den Vierteln wird es jeweils fünf Minuten Pause geben. Da wir hier ein normales Feld zur Verfügung haben, spielen wir ansonsten mit den normalen Basketball-Regeln, das heißt mit fünf Spielern pro Mannschaft – Geschlechter egal –, die natürlich auch ausgewechselt werden dürfen. Ansonsten gehe ich davon aus, dass Ihnen die Regeln vertraut sind. Bei meinen Schülern weiß ich es und Kobayashi-san hat mir ebenfalls versichert, dass Sie Basketball im Sportunterricht bereits hatten. Nun, dann gebe ich Ihnen jetzt fünf Minuten, um Ihre Startaufstellung zu bestimmen.“ Kaum hatte er geendet, wandte sich Frau Kobayashi an ihre Schüler. „Also, Herrschaften, jetzt gilt es!“ Sie schlug mit der Faust in ihre Handfläche. „Wir müssen auch diese Disziplin noch gewinnen, um im Rennen um den Gesamtsieg zu bleiben. Ich erwarte von Ihnen den Einsatz aller Ihrer Kräfte! Mr. Wheeler und Mr. Kaiba haben sich ja bereits … freiwillig gemeldet.“ Sie warf beiden noch einmal einen strengen Seitenblick zu, bevor sie sich fragend in der Runde umsah. „Wer möchte außer den beiden sonst noch antreten?“ Duke war nicht entgangen, wie Kaiba beim Wort ‚freiwillig‘ entnervt zur Seite gesehen und mit den Augen gerollt hatte. Ein dezentes Grinsen huschte über Dukes Lippen, bevor er einen leichten Stoß in die Seite spürte. Tristan hatte seine Hand bereits gehoben und dessen stumme Aufforderung an ihn war unmissverständlich. Sofort meldete er sich ebenfalls und warf seinem Kumpel einen entschuldigenden Blick zu. Als letzte Spielerin meldete sich Kazuha, ein großes, sportliches Mädchen mit kurzen Hosen, einem gelben Trikot und langem Pferdeschwanz, die im Basketballverein war und, da war sich Duke sicher, eine wertvolle Unterstützung sein würde. Somit stand die Startaufstellung fest und wurde von Frau Kobayashi zufrieden abgenickt. Duke warf einen Seitenblick hinüber zur anderen Klasse, wo erwartungsgemäß Kenta und Taki aufgestellt worden waren, sowie noch drei weitere große, teils kräftige Jungs. Auch Tristan hatte es gesehen und unbedingter Siegeswillen loderte in seinen Augen auf. Sofort versuchte er – selbsternannter Basketball-Experte, der er war – die Führung zu übernehmen und ging nacheinander die Mitglieder seines Teams durch. „Also Leute, ohne die richtige Taktik werden wir gegen diese Schränke da drüben nicht ankommen. Vielleicht erstmal zur Aufstellung: Duke, zweiter von links, Joey rechts, wie immer?“ Duke nickte ergeben, ebenso Joey. „Kaiba, du …“ Tristan stockte. Der Blick des Brünetten vermittelte äußerst unzweideutig die Botschaft Versuchst du gerade ernsthaft mir vorzuschreiben, was ich zu tun habe?!, sodass Tristan nur ein Mal schluckte und sich stattdessen dem Mädchen zuwandte. „Und Kazuha, du …“ „Halt die Klappe,Taylor, du hast doch keine Ahnung!“, schnitt sie ihm harsch das Wort ab und schüttelte den Kopf. Der musste einsehen, dass seine Bemühungen bei zwei Fünfteln seines Teams weder auf frucht- noch auf dankbaren Boden fielen und gab mit einem letzten Seufzen auf. „Naja, bestimmt bekommen wir das auch so hin!“ In der Tat schien sich Tristans Hoffnung zu bestätigen, denn Duke war mit dem anfänglichen Verlauf des ersten Viertels eigentlich recht zufrieden – auch wenn es natürlich erstmal primär darum ging, ihre Spielweise zu finden und den Gegner abzutasten. Auf jeden Fall hatte er schon schlechtere Basketball-Spiele erlebt. Mit Tristan und Joey hatte er im Basketball bereits Erfahrung und auch Kazuha beteiligte sich äußerst engagiert und glich so manche Unzulänglichkeit ihrer männlichen und weniger versierten Team-Kollegen aus. Nur Kaiba hielt sich auffallend zurück. Wenn er den Ball bekam, spielte er ihn zwar zielgenau immer auf freie Mitspieler wieder ab, zeigte ansonsten aber – vermutlich seiner Gesamtmotivation entsprechend – recht wenig Initiative. In diesen ersten Minuten landeten sie immerhin drei Treffer, während die Privatschüler erst einen einzigen verbuchen konnten. Nach ihrem vierten Korb jedoch bemerkte Duke aus dem Augenwinkel, wie Kenta und seine Mitspieler kurz miteinander flüsterten und gestikulierten. Fragend sah er zu Joey und Tristan und nickte mit dem Kopf in Richtung ihrer Gegner. Hatten sie es auch gesehen? Sie nickten, zuckten dann aber mit den Schultern, hatten also ebenso wenig wie er selbst eine Ahnung, was es damit auf sich haben konnte. Die nächsten Spielminuten gaben jedoch ziemlich schnell eine Antwort auf die unausgesprochene Frage, denn auf einmal drehten vor allem Kenta und Taki, aber auch die anderen Spieler der Privatschulmannschaft ihre Verteidigungsanstrengungen sprunghaft auf. Nicht nur einmal wurde Duke jetzt unsanft zur Seite gestoßen oder beim Ballkontakt leicht gerempelt, genauso wie seine Mitspieler. Tristan und Joey waren nach einer Weile sichtlich genervt, und als Kenta Tristan bei seinem nächsten Lauf auf den Korb wieder einmal etwas härter erwischte, platzte letzterem der Kragen. „Hey, Eiweiß-Shake, das hier ist Basketball und nicht Rugby!“, rief er Kenta mit gereckter Faust entgegen, der jedoch grinste nur hämisch und passte den eroberten Ball weiter zu Taki. In der Pause standen Duke, Joey und Tristan mit ihren Freunden zusammen und regten sich gemeinsam lautstark über die Spielweise der Gegner auf. Kazuha hielt sich ebenfalls nicht weit entfernt und nickte an der einen oder anderen Stelle zustimmend. Frau Kobayashi hatte aufmerksam zugehört und versprach kurz vor Ende der Pause, sich ab jetzt auch während des Spiels bei Herrn Takeda zu postieren und die korrekte Ausführung seiner Schiedsrichtertätigkeit zu überwachen, auf dass Verstöße dieser Art wenigstens zuverlässig geahndet würden, wenn sie schon nicht unmittelbar etwas dagegen unternehmen konnte. Die härtere Gangart ihrer Gegner setzte sich wie erwartet auch im zweiten Viertel fort und jeder Korb, den sie erzielen konnten, war entweder sehr harte Arbeit oder kam von Kazuha. Duke vermutete, dass sich die bulligen Jungs des Privatschul-Teams bei ihr nicht trauten, so hart zu foulen. Obwohl Kazuha, wie er vermutete, sicher problemlos damit hätte umgehen können. Sie hatten zunehmend Mühe ihre eigene Hälfte zu verteidigen und kamen auf der gegnerischen Seite immer seltener durch. Aufgrund ihres guten Spiels im ersten Viertel stand es zum Glück trotzdem noch annähernd ausgeglichen. Endlich begann zum ersten Mal seit mindestens drei Minuten wieder ein Angriff vielversprechend. Tristan war am Ball, hatte aber zum Glück rechtzeitig vorausgesehen, dass er gleich von zwei Gegnern geblockt werden würde und zu Kazuha abgespielt. Mit einem geschickten Täuschungsmanöver überwand sie Kenta, stand dann aber einem der anderen Privatschüler frontal gegenüber. Schnell spielte sie ab zu Kaiba, der sofort erkannte, dass Joey frei und nahe am Korb stand. Joey sprang nach oben und fing den Ball, doch kurz bevor er seine Hände wieder löste, um ihn zu versenken, wurde er von Taki hart in die Rippen gestoßen. Der Ball fiel zu Boden und sprang weg, während Joey zum Glück auf den Beinen landete, sich aber krümmte und die Seite hielt. Ein Pfiff ertönte und Duke erhaschte noch aus dem Augenwinkel, wie Frau Kobayashi wild gestikulierend auf ihren männlichen Kollegen einredete. Er und Tristan nutzten die entstandene Pause und rannten hinüber zu Joey. „Alles okay, Mann?“, fragte Tristan besorgt. „Ja, geht schon.“, presste der Angesprochene noch immer schwer atmend zwischen den Zähnen hervor, während Herr Takeda verkündete, dass es einen Freiwurf geben würde. Mit einem kämpferischen Funkeln in seinen braunen Augen richtete Joey sich auf und Kenta warf ihm absichtlich mit besonderem Nachdruck den Ball zu. Ohne auch nur eine Miene zu verziehen fing der Blonde ihn auf und ging zur Freiwurflinie; auch der Rest folgte ihm und positionierte sich. Als Kaiba an Joey vorbei zur linken Seitenlinie der Korbzone ging, kam Duke nicht umhin, zu hören, was der Blonde ihm zuwisperte: „Sehr schön, Großkotz, wegen dir und deiner dämlichen Aktion heute Vormittag war ich eh schon angeknackst. Wenn ich deswegen jetzt nicht mehr so gut spielen kann, dann …“ „Ich bitte dich, Köter, das hast du dir ganz allein selbst zuzuschreiben!“, zischte der Angesprochene nur unterkühlt und mit ebenso gesenkter Stimme zurück. „Und jetzt hör auf zu winseln und mach gefälligst noch ein paar Körbe, damit Kobayashi-sensei Ruhe gibt!“ Zähneknirschend stellte Joey sich wie geheißen an der Freiwurf-Linie auf, prellte zwei Mal den Ball, zielte … … und verfehlte. Es gelang ihm allerdings, den Ball wieder zu fangen und er passte ihn, noch bevor das Spiel wieder an Tempo gewann, geradewegs zu Kaiba. „Hier, mach doch selber ein paar Körbe, Geldsack! Bis jetzt hast du dich ja nicht gerade durch Leistung hervorgetan!“ Dukes Stirn zog sich unwillkürlich in Falten und Tristan erwiderte seinen Blick nicht minder besorgt. Hoffentlich artete das jetzt nicht zur „Joey und Kaiba-Show 2.0“ aus, das konnten sie in der aktuellen Lage wirklich nicht gebrauchen. Kazuha, die von den Fähigkeiten ihrer Team-Kollegen ohnehin nicht restlos überzeugt war, schüttelte ebenfalls den Kopf und verdrehte die Augen. „Na klar, jetzt gebt auch noch dem Büro-Heini den Ball, es läuft ja noch nicht schlecht genug!“ „Wenn du meinst, Wheeler.“, gab der Brünette indes nur trocken zurück und blieb erst einmal abwartend mit dem Ball in der Hand stehen, bevor er sich gemächlich dribbelnd auf die Dreimeter-Linie um den gegnerischen Korb zubewegte. Kenta und seine Leute standen bereits auf ihren Verteidigungspositionen bereit und das füllige Gesicht des Ersteren verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. „Tja, also so wirst du garantiert nicht an den Korb kommen, Bohnenstange!“ Kaiba entfuhr ein amüsiertes Schnauben. „Wer sagt, dass ich das muss?!“ Mit diesen Worten holte er, ohne sich noch einmal vom Fleck zu bewegen, zum Wurf aus und zielte über alle Köpfe hinweg auf den gegnerischen Korb. In der Luft beschrieb der Ball eine nahezu ideale Kurve und flog, ohne das Metall auch nur zu berühren, mit einem befriedigenden Zisch-Geräusch perfekt durch den Ring und das Netz. Fast allen Personen auf und abseits des Feldes blieb für einen Augenblick der Mund offen stehen – im ganzen Spiel hatte bisher niemand erfolgreich einen Drei-Punkte-Wurf versenkt –, dann wandte Kaiba sich vollkommen emotionslos wieder an Joey: „Zufrieden, Köter?!“ Dessen Kinnlade hatte noch immer nicht wieder den Weg zurück nach oben gefunden und er nickte nur langsam. Auf Dukes Lippen hingegen schlich sich unwillkürlich ein zufriedenes Schmunzeln. Genau wie er vorhin gedacht hatte: Wer Seto Kaiba unterschätzte, der musste eben damit rechnen, eines besseren belehrt zu werden. Im Anschluss ging das Spiel normal weiter, jedoch beobachtete Duke in den verbleibenden zwei Minuten des Viertels mit Sorge, wie Joey sich immer wieder seine rechte Seite hielt und leicht das Gesicht verzog, wenngleich er nach Kräften versuchte, es zu verbergen. Frau Kobayashi schien es ebenso bemerkt zu haben und sofort nach dem Abpfiff stürmte sie auf den Blonden zu, der gemeinsam mit Duke und den anderen schwitzend und außer Atem vom Spielfeld kam. „Mr. Wheeler, vielen Dank für Ihr starkes Engagement, aber Sie bleiben ab jetzt draußen! Offensichtlich sind Sie leicht verletzt!“ „Aber Kobayashi-sensei …“, versuchte er noch zu protestieren, doch sie ließ es nicht zu. „Nichts da, keine Widerrede, Mr. Wheeler!“ Mit einem letzten hasserfüllten Blick in Richtung Kaiba und einem frustrierten Seufzen ließ er sich schwerfällig auf der Wiese nieder. Enttäuscht sah er zu Duke und Tristan auf: „Sorry, Leute, ich wollte euch echt nicht hängen lassen!“ Noch bevor Tea, Ryou und Yugi, die inzwischen zu ihnen gestoßen waren, fragen konnten, was los war, beugte sich Tristan zu Joey hinunter und klopfte ihm beruhigend die Schulter: „Mach dir mal keinen Kopf, Alter, wir schaffen das schon!“ In Ermangelung anderer williger Kandidaten musste Tristan Ryou regelrecht beknien, für den unfreiwillig kaltgestellten Joey einzuspringen. Das nahm mehr Zeit in Anspruch als gedacht, sodass er nicht mehr dazu kam, seinen Taktikvortrag für die zweite Spielhälfte zu beenden, bevor es weiterging. Schon in den ersten dreißig Sekunden dieses dritten Viertels fiel Duke auf, dass sich etwas an ihrer Dynamik grundlegend verändert hatte. An Ryou lag es eher nicht, denn der war, wie erwartet, eher stiller Mitläufer und versuchte den Ball, wenn er ihn bekam, so schnell wie möglich wieder an seine Teamkameraden loszuwerden. Nein, es war Kaiba, der auf einmal wesentlich aktiver am Spielgeschehen teilnahm. Er erzielte sogar den ersten Korb des Viertels, während Kenta, Taki und die anderen Privatschüler noch damit beschäftigt waren, ihre rabiate Verteidigungsstrategie auf die veränderte Lage hin anzupassen – Kaibas Kunststück von vorhin schien sie nachhaltig beeindruckt zu haben, sodass sie sich jetzt mehr auf ihn konzentrierten. Das allerdings eröffnete im Gegenzug Tristan, Duke und Kazuha mehr Chancen für gute Angriffe. Praktisch alles stimmte auf einmal: Ihre Abspiele, ihre Täuschungsmanöver, ihre Geschwindigkeit, ihre Zielgenauigkeit. Jede noch so kleine Lücke in der gegnerischen Verteidigung wurde zuverlässig ausgenutzt. Die dafür zwingend notwendige Abstimmung untereinander lief absolut reibungslos. Dass er sich mit Tristan auch ohne Worte verstand, war klar und überraschte Duke nicht im Geringsten, aber dass das eines Tages auch für Kaiba gelten könnte, damit hätte Duke nicht gerechnet, wenn es auch mit ihm völlig anders lief als mit Tristan oder Joey. Wann immer Kaibas blaue Augen in der Hitze des Gefechts den seinen auch nur für eine Millisekunde begegneten, durchzuckte Duke ein kurzer Adrenalinstoß. Trotzdem (oder gerade deshalb) schien ihre nonverbale Kommunikation überaus effektiv zu sein, denn Duke verwandelte nahezu jeden Ball, den ihm Kaiba zupasste – und umgekehrt. Etwas an der Vorstellung, dass Kaiba und er gerade eine Art besondere … Verbindung hatten, elektrisierte ihn und Duke hätte kaum sagen können, ob es absolute Konzentration oder Rausch war, in was er da eingetaucht war. Allein in den nächsten zwei Minuten verwandelte er zwei weitere Körbe, von denen mindestens einer erneut auf Kaibas einwandfreie Vorarbeit zurückzuführen war. Der wiederum nutzte eine günstige Gelegenheit für einen weiteren Dreipunktwurf (offenbar seine Spezialität und Geheimwaffe) und landete kurz darauf noch einen schnellen Korbleger, den ihm wiederum Duke perfekt vorgelegt hatte. Es war wie Magie. Mit äußerster Befriedigung bemerkte Duke, dass das Frustrationslevel von Kenta und seinen Freunden merklich anstieg. Weniger gut gefielen ihm jedoch die Handzeichen, die sie sich gaben und die vermuten ließen, dass sie gleich noch einmal einen Gang hochschalten würden. Vorerst hielt die Magie aber noch ungebrochen an. Kazuha gelang es durch ein geschicktes Manöver, den schwerfälligen Kenta auszutricksen und ihm den Ball abzuluchsen. Wie ein Blitz dribbelte sie direkt weiter in die gegnerische Hälfte. Duke, Tristan, Kaiba und sogar Ryou folgten ihr auf dem Fuße, wobei Kaiba am schnellsten in der Nähe des Korbes angekommen war. Sie spielte zu ihm ab, er fing, sprang hoch und Duke sah den Ball schon durch den Korb gehen und ihren Punktestand damit um zwei weitere Punkte steigen. Doch in der Realität kam es anders. Kenta hatte den Brünetten in letzter Sekunde erreicht und noch in der Luft wurde Kaiba zu seiner eigenen Überraschung regelrecht weggetackelt. Nur notdürftig konnte er seinen Fall mit den Händen abfangen und kam äußerst unsanft halb auf dem Rücken, halb auf der Seite auf dem harten, rauen Boden auf. Für einen Sekundenbruchteil kniffen sich seine Augen zusammen und sein Gesicht verzerrte sich. Ohne lange nachzudenken rannte Duke zu ihm. „Alles okay, Kaiba?“ Der nickte nur, atmete einmal gepresst aus und setzte sich langsam auf. Sofort streckte Duke mit einem vorsichtigen Lächeln seine Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Kaibas Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen, doch nach einem sekundenlangen Zögern begegnete er Dukes aufforderndem Blick und ergriff seinen Unterarm. Als würde von Kaibas Fingern eine elektrische Spannung ausgehen, breitete sich augenblicklich ein geladenes Kribbeln über Dukes gesamten Arm bis in seine Brust und seinen Magen aus. Dem natürlichen Reflex folgend und wie um den Stromkreis zu schließen, schloss er seine Hand ebenfalls um den Unterarm des Brünetten. Hitze stieg in ihm auf, sein Herz begann zu rasen. Und da … war das wirklich Kaibas Puls, den er da genau auf seinem eigenen fühlte? Ja, ganz deutlich, unruhig und schnell wie sein eigener. Da war sie, ihre Verbindung, ganz unmittelbar und physisch. Warm und kraftvoll. Dukes Kopf war vollkommen leergefegt. Es gab nur noch die blauen Augen, die ihn unablässig ansahen, die schlanken Finger, die seinen Arm fest und sicher umfasst hielten und den starken Puls, der gemeinsam mit seinem eigenen zu einem einzigen zu verschmelzen schien. Ohne, dass er im Nachhinein noch hätte sagen können, wie es dazu gekommen war und ob er wirklich etwas damit zu tun gehabt hatte, stand Kaiba schon einen Moment später wieder auf seinen Füßen. Zwei für Duke unendlich lange Sekunden blieben ihre Hände und Blicke noch verschränkt, dann lösten sie sich voneinander. Das Basketball-Feld, die anderen Spieler, die Zuschauer. Stück für Stück tauchte die Umwelt wieder aus dem obskuren Nichts auf, in das sie kurzzeitig verschwunden war. Sein Blick wanderte noch einmal kurz zu Kaiba, der sich bereits abgewandt hatte und zur Freiwurflinie ging, da Herr Takeda das Foul wie erwartet gepfiffen hatte. (Nicht, dass Duke sich daran erinnern konnte.) Wie mechanisch folgte er den anderen Menschen auf dem Spielfeld und postierte sich mit ihnen entlang der Linien auf dem Boden vor dem Korb. Obwohl er in den letzten Minuten nicht gerannt war, ging sein Atem noch immer schwer und sein Herzschlag fand nur langsam in seine gewohnten Gefilde zurück. Was zur Hölle war das gerade gewesen? Nur am Rande nahm er wahr, wie Kaiba den Freiwurf versenkte. In der Folge war Duke weder ganz beim Spiel noch ganz bei sich, sondern in einem nebeligen Graubereich irgendwo dazwischen. So wie er und seine Mitspieler auf dem Feld rasten die Gedanken in seinen Kopf hin und her, doch er kam nicht dazu sie festzuhalten; sie blieben wirr, unverständlich und flüchtig. Seine Konzentration auf das Spiel war praktisch nicht mehr vorhanden, er war fahrig, verlor immer wieder den Ball oder ließ ihn sich durch kleine Unaufmerksamkeiten von den Privatschülern abnehmen und mit jedem Mal wuchs sein Ärger. Was war denn auf einmal nur los? Was stimmte nicht mit ihm, verdammt noch eins?! Die Magie war dahin. Jedes Mal, wenn Duke zu Kaiba sah, waren dessen Augen an anderen Punkten auf dem Spielfeld und es machte ihn regelrecht wahnsinnig. Außerdem fiel ihm auf, dass der Brünette nicht mehr annähernd so gut mitzog wie zuvor. Hin und wieder bemerkte Duke aus dem Augenwinkel kleine Unregelmäßigkeiten in Kaibas Laufstil, die vorher definitiv nicht da gewesen waren und die ihn merklich langsamer machten, auch wenn er es offensichtlich zu überspielen versuchte. Sein zuvor so starker Wurf war schwächer und mittlerweile verfehlte er immer wieder den Korb. So war es kaum verwunderlich, dass auch ihre Verteidigung litt und löchriger war denn je. Am Ende des dritten Viertels hatte sich ihr leichter Vorsprung in einen soliden Rückstand verwandelt. Tristans vorwurfsvoller Blick bohrte sich in Dukes Rücken, als sie zur Pause vom Spielfeld gingen, und er ahnte schon, dass es gleich unangenehm für ihn werden würde. Als sie ein paar Meter von allen anderen Leuten entfernt waren, platzte es dann wie erwartet aus Tristan heraus: „Alter, was ist denn auf einmal bloß los mit dir?!“ Dukes Schultern verkrampften sich und seine Lippen pressten sich fest aufeinander. Was dachte Tris denn eigentlich? Als ob er sich diese Frage in den letzten Minuten nicht schon tausend Mal selbst gestellt hätte! Da keine sichtbare Reaktion von ihm kam, blieb Tristan mit einem Seufzen stehen, baute sich direkt vor Duke auf, packte ihn unsanft an den Schultern und sah ihn durchdringend an. „Reiß dich zusammen, Mann! Du musst jetzt echt die Nerven behalten! Wenn wir uns jetzt nochmal richtig anstrengen, haben wir vielleicht noch eine Chance, das zu gewinnen! Und das hängt auch von dir ab!“ „Ach, glaubst du, das weiß ich nicht?!“, fauchte Duke zurück. Wenn er auch nur den Hauch einer Ahnung hätte, was in den letzten Minuten mit ihm passiert war, hätte er doch schon lange etwas dagegen getan! „Sorry, Alter!“ Tristan hob abwehrend die Hände, appellierte dann aber noch einmal nachdrücklich: „Versprich mir nur, dass du dich im letzten Viertel nochmal so reinhängst, wie du dich noch nie in deinem Leben irgendwo reingehängt hast!“ Dukes Augenbraue wanderte angesichts dieser flammenden Ausdrucksweise unwillkürlich nach oben. Dessen ungeachtet fuhr Tristan fort und ballte dabei unbewusst eine Hand zur Faust. „Ich will meine Ankündigung wahr machen und diesem dämlichen Kenta den Basketball in sein fettes Maul stopfen! … Mindestens im übertragenen Sinne.“ Allem Ärger zum Trotz zuckten Dukes Mundwinkel unwillkürlich für eine Millisekunde nach oben. Da hatte jemand offenbar seine Nemesis gefunden. Als sich auch die letzte Pause ihrem Ende näherte, entfernten sich Duke, Tristan und Ryou wieder von ihren Freunden und liefen schon einmal zurück in Richtung des Spielfeldes. Auch Kazuha stand schon an der Außenlinie bereit; nur Kaiba saß, wie Duke mit einem verwunderten Seitenblick feststellte, noch immer abseits auf einer Bank, die Ellenbogen auf den Oberschenkeln aufgestützt und den Blick nach unten auf die Wiese gerichtet. Es sah jedenfalls nicht so aus, als würde er gleich aufstehen und mit auf das Spielfeld kommen … Statt ihm trat Frau Kobayashi zu ihnen und seufzte tief: „Es tut mir leid, meine Herrschaften, aber auch Mr. Kaiba wird das letzte Viertel nicht mehr mitspielen. Offenbar haben er und Mr. Wheeler beim Orientierungslauf doch mehr Blessuren davon getragen als gedacht und ich kann nicht verantworten, dass die beiden sich angesichts der doch sehr … rustikalen Spielweise schwerere Verletzungen zuziehen.“ Tristan warf den Kopf in den Nacken und stöhnte einmal entnervt auf, waren doch die Chancen auf einen Sieg damit noch einmal dramatisch geschrumpft. Während die Suche nach einem Ersatzspieler schon im Gange war, sah Duke noch einmal gedankenverloren zu dem Brünetten hinüber. Der hob nahezu im selben Moment den Kopf und begegnete zum ersten Mal seit ihrer … Interaktion seinem Blick, doch der Ausdruck seines Gesichts und seiner Augen war unmöglich zu deuten. Wieder kehrte das Kribbeln zurück und Dukes Herzfrequenz schoss sprunghaft nach oben, obwohl er doch eigentlich nur dastand. Rasch wandte er sich wieder ab. Mit viel Mühe und einiger Not war es ihnen gelungen, doch noch einen Ersatzspieler aufzutreiben. Shuichi, kurz Shu, hatte sich dankenswerterweise bereit erklärt einzuspringen, jedoch nicht ohne zuvor lange mit Frau Kobayashi zu verhandeln, sodass Duke vermutete, dass sich dieses Engagement hinterher in irgendeiner Form in seinen Noten widerspiegeln würde. Aber das spielte im Moment keine Rolle, Hauptsache, sie mussten nicht in Unterzahl antreten. Trotzdem machte sich niemand übermäßig große Hoffnungen auf den Sieg, als sie zum letzten Mal für heute auf das Feld trotteten. Für den letzten Sprungball begaben sich noch einmal Tristan und Kenta in den Mittelkreis, während sich der Rest eng um sie herum positionierte, um hoffentlich als erstes an den Ball zu kommen. Bevor Herr Takeda mit dem Ball in ihre Mitte kam, musterte Kenta Tristan noch einmal abschätzig aus dem Augenwinkel und grinste. „Glaubt ihr wirklich, dass ihr ohne die Orientierungs-Loser Blondschopf und Bohnenstange noch eine Chance habt?! Im Basketball waren sie ja gar nicht schlecht, das muss man ihnen lassen, aber sie auszuschalten, war ja fast schon zu einfach!“ Orientierungs-Loser … sie auszuschalten, war ja fast schon zu einfach… Dukes Kiefer verkrampfte und seine Muskeln spannten sich. Dieser miese, kleine … Was fiel diesem verwöhnten, aufgepumpten Vollidioten eigentlich ein?! In Duke begann es noch mehr zu brodeln als ohnehin schon. Auch Tristans Augen verengten sich und er funkelte den Rugby-Spieler eisig an. „Meinst du nicht, es ist noch etwas früh für ein Fazit, wer hier wen ausgeschaltet hat, Spatzenhirn? Lass uns doch am besten nach dem Spiel nochmal drüber reden.“ Dukes Augenbrauen wanderten nach oben. Seit wann konnte Tristan denn so cool bleiben? Duke selbst fühlte sich im Moment weit weniger ruhig und gesammelt. Gemeinsam mussten – und würden! – sie Kenta, Taki und den anderen Privatschul-Idioten jetzt mal zeigen, wie man richtig „ausschaltete“. (Nur durch Können, verstand sich.) Ein Pfiff und das letzte Viertel begann. Ihre neue Rollenverteilung war schnell gefunden und die Strategie denkbar einfach: Sowohl Ryou als auch Shu sorgten auf ihre Art und Weise dafür, die Gegenspieler zumindest abzulenken, während Duke, Tristan und Kazuha noch einmal alles gaben, was sie hatten. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, tauchte Duke einmal mehr in einen Tunnel ab: Was jetzt zählte, war die Mission und die war hier auf dem Platz, nirgendwo sonst. Schnell und punktgenau spielten er, Tristan und Kazuha sich die Bälle zu und kamen mit Hilfe von Ryou und Shu auch immer wieder bis zum Korb durch, wo sie – im Unterschied zu ihren Gegnern – souverän jede Gelegenheit verwandelten. Nach etwas mehr als der Hälfte der Zeit hatten sie zusätzlich noch zwei Würfe von der Dreierlinie getroffen und ihr Rückstand war damit auf nur noch vier Punkte zusammengeschmolzen. Kenta und den anderen trat langsam aber sicher sichtbar der (Angst-)Schweiß auf die Stirn. Nachdem der Ball einmal über die Grundlinie geflogen war, und neu eingeworfen wurde, wanderte Dukes Blick unweigerlich zum rechten Spielfeldrand, wo Kentas hübsche Freundinnen standen und mit gedrückten Daumen das Spielfeld im Blick behielten. Als sie Dukes Blick bemerkten, lächelten sie und zwinkerten oder winkten ihm unauffällig mit den Fingern zu. Ein selbstbewusstes Lächeln huschte über Dukes Gesicht und er zwinkerte nicht nur aus bloßer Gewohnheit zurück. Es gab an dieser Stelle nur ein Problem, das Duke erst danach wirklich bewusst wurde: Kenta hatte es leider mitbekommen. Noch verbissener als ohnehin schon verteidigten er und Taki jetzt den Korb und tatsächlich wurde es für die drei Hauptspieler der Domino High immer schwieriger in den verbliebenen zweieinhalb Minuten die sechs Punkte, die ihnen noch zum Sieg fehlten auch tatsächlich zu erzielen. Tristan hatte gerade den Ball, sah sich aber Taki gegenüber, der keine Anstalten machte ihn links oder rechts vorbei zu lassen. Duke beobachtete es, konnte aber selbst nicht viel unternehmen, da ihm wiederum Kenta keinen Zentimeter von der Seite wich und ihn mit einem Blick bedachte, der vermuten ließ, dass er Duke bei nur einer falschen Bewegung das Genick brechen würde. Kazuha jedoch gelang es schließlich, seitlich durch die Deckung zu brechen. Tristan musste an Taki vorbei zumindest ihren Fuß gesehen haben und schneller als der Rugby-Spieler reagieren konnte, prellte er den Ball durch dessen weit gespreizte Beine hindurch direkt in Kazuhas Hände, die daraus mit schlafwandlerischer Sicherheit einen Korbleger machte. Nur noch ein Treffer, dann hatten sie wieder Gleichstand. Der Gegenangriff der Privatschüler ließ nicht lange auf sich warten. Doch Ryou hatten sie noch immer nicht auf dem Zettel und der nutzte diese Tatsache eiskalt aus. Wendig schlängelte er sich durch die Angreifer hindurch und stibitze ihnen den Ball genau während eines Passes mitten aus der Luft. Geistesgegenwärtig rannte Tristan weit nach vorne in die gegnerische Hälfte, Ryou spielte den Ball zu Duke, dem nächsten Spieler auf halber Strecke, der passte direkt weiter zu Tristan und noch ehe Kenta und Taki ganz begriffen hatten, was überhaupt passiert war, stand es auch schon 38:38. Noch eine Minute auf der Uhr. Jetzt ging es um alles. Die Privatschüler waren am Ball und würden wohl alles tun, um ihn nicht nochmal aus der Hand zu geben. Hochkonzentriert und mit allen Kräften, die sie hatten, versuchten Duke, Tristan und Kazuha sie erst einmal daran zu hindern, noch einen Korb zu erzielen. Nach entsprechend zähen dreißig Sekunden, in denen Duke immer wieder ein wenig Angst um sein Leben hatte, wenn er Kenta gegenüber stand, erhaschte er, wie Taki kurz zu Kenta hinüberblickte, der darauf kaum merklich nickte. Jetzt! Jetzt würden sie etwas versuchen! In der Tat hob Taki schon die Arme, um den Ball zu fangen, den Kenta ihm gerade zuspielte, um dann über den armen Ryou hinweg auf den Korb zu werfen. Blitzartig setzte Duke sich in Bewegung und rannte in Richtung seines weißhaarigen Freundes. Der Ball war schon auf dem Weg zu Taki. Duke sprang so kraftvoll in die Höhe, wie er nur konnte, und griff ihn mitten aus der Luft. Sofort rannte und dribbelte er wie der Teufel auf die andere Seite und den gegnerischen Korb zu, doch Kenta und Taki hatten schnell geschalten und folgten ihm auf dem Fuße. Verdammt, sie waren schon fast bei ihm! Zehn Sekunden auf der Uhr. Er würde es nicht schaffen! Kurz vor der Dreimeterlinie traf er eine Entscheidung. Er stoppte mitten im Lauf. Kenta und Taki brauchten einen Moment, um das zu begreifen, und blieben erst einige Meter weiter vorne stehen. Duke nutzte das so entstandene Überraschungsmoment, zielte und warf. Mit angehaltenem Atem und ohne einen einzigen Laut verfolgten Duke und sämtliche Menschen auf dem Feld und abseits davon die Flugbahn des Balls. Mit einem durch die angespannte Stille gefühlt hundertfach verstärkten ‚Klonk‘ traf der Ball auf den Ring, sprang kurz darauf hin und her, rollte noch ein Stück auf dem Metall und fiel dann fast geräuschlos durch das Netz. Noch eine Sekunde Stille, dann entlud sich die Spannung. Die Schüler der Domino High brachen in Jubelstürme aus, Frau Kobayashi riss begeistert die Arme nach oben, Herrn Takedas Abpfiff war kaum mehr zu hören. Auch Kentas Freundinnen klatschten und winkten Duke, bis sie mit einem strengen und sichtlich verärgerten Blick von Kenta wieder zur Räson gerufen wurden. Seine Mitspieler kamen voller Begeisterung auf Duke zugerannt. Kazuha konnte ihm gerade noch auf die Schulter klopfen, bevor sie Tristan ausweichen musste, der Duke freudestrahlend um den Hals fiel. „Danke, Mann, danke! Ich wusste, du würdest dich reinhängen!“ Vom Spielfeldrand kam auch Joey angelaufen und warf sich von der anderen Seite um ihn. „Alter, das war ja mega-stark!“ Kurz vor seinem sicheren Erstickungstod löste sich die Traube um Duke glücklicherweise und sie verließen erst einmal das Spielfeld. Als sie bei Frau Kobayashi ankamen, fühlte diese sich bemüßigt, allen Spielern noch einmal die Hand zu schütteln und persönlich zu gratulieren – natürlich Kaiba ausgenommen, der noch immer weit abseits saß und zu warten schien, bis sich der Trubel wieder gelegt hatte. Als etwa fünf Minuten später die erste Begeisterung auf ihrer, beziehungsweise Enttäuschung auf Seiten der Privatschüler, abgeebbt war, verkündete Frau Kobayashi, wie es nun weitergehen sollte. „Meine Damen und Herren, ich schlage vor, wir gehen jetzt erst einmal zurück in den Speisesaal und losen noch die letzte und alles entscheidende Disziplin aus. Danach legen wir eine kurze Pause ein, damit Sie sich umziehen und frischmachen können, sollte es sich nicht schon wieder um etwas Sportliches handeln. Sind Sie auch damit einverstanden, Takeda-san?“ Der seufzte nur abgrundtief und nickte und so führte Frau Kobayashi freudestrahlend und mit stolz geschwellter Brust die Kolonne an, die sich zurück in den Speisesaal schob. Auf dem Weg gab Tristan noch einmal ein Best-Of des Spiels aus seiner Sicht, dem Duke nur still in sich hinein grinsend lauschte. Ihr Überschwang wurde kurz unterbrochen, als Tristan von der Seite unsanft an der Schulter gerempelt wurde. Es war Kenta gewesen, der im Vorbeigehen kaum hörbar zu ihm und Duke zischte: „Glaubt ja nicht, dass die Nummer schon durch ist, ihr Flaschen! Eine Disziplin gibt es noch!“ Dann gingen er und Taki achtlos weiter. Da sie schon außer Hörweite waren und es sicher nicht gut angekommen wäre, wenn Tristan ihnen nachgebrüllt hätte, murmelte er nur deutlich hörbar: „Ganz genau, Arschloch! Eine Disziplin gibt es noch!“ „Lass dich doch von dem Idioten nicht immer so provozieren!“, ermahnte ihn Tea, aber sie wusste vermutlich genauso gut wie alle anderen, dass das leichter gesagt war, als getan. „Egal!“, fuhr Tristan aufgekratzt fort, „Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, das dritte Viertel. Ich hab ja echt keine Ahnung, was da auf einmal mit Duke los war, aber meine Motivationsrede in der Pause scheint ja Wunder gewirkt zu haben. Ich glaube sowas liegt mir. … Vielleicht sollte ich nach dem Abschluss Sport studieren und Basketball-Trainer werden …“ Während der Rest lachte und weiter Tristans Erzählung lauschte, drifteten Dukes Gedanken unweigerlich ab. Ja, was war da mit ihm los gewesen? Erst hatten Kaiba und er so gut miteinander funktioniert. Dann war alles den Bach runtergegangen und er völlig neben der Spur gewesen. Während Tristan ausführlichst erklärte, welche seiner achtzig vorgeschlagenen Taktiken und Spielzüge wie genau zum Sieg beigetragen hatte, versuchte Duke die Ereignisse noch einmal zu rekapitulieren. Wann genau hatte es ausgesetzt? Sie hatten super gespielt. Kaiba war schon wieder drauf und dran gewesen einen Korb zu machen. Stattdessen war er gefoult worden und hatte schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Boden gemacht. Dann hatte er ihm aufgeholfen und sie hatten sich berührt – zwangsläufig. Aber in diesem Moment war ganz eindeutig etwas mit ihm passiert. Er hatte auf einmal komplett neben sich gestanden, seine innere Fassung und Kontrolle verloren. So etwas war bisher noch nie passiert, vor allem nicht in einer solchen Drucksituation und mitten unter so vielen Menschen. Schon bei dem Gedanken daran durchzuckte ihn wieder diese Spannung und eine Unrast, die er nur schwer wieder abschütteln konnte. Wie ferngesteuert und mit wild klopfendem Herzen ließ er sich mit den anderen an einem Tisch im Speisesaal nieder. Als sich Frau Kobayashi und Herr Takeda vorne aufbauten, verstummte Tristan endlich und statt seiner waren es nun die Worte der Lehrer, die undeutlich an Duke vorbei waberten, während Erinnerungsfetzen der letzten Tage und Stunden in seinem Kopf wirr ineinander übergingen und verschwammen. Hatte sich etwas ähnliches nicht auch schon gestern angedeutet, als Kaiba ihm seinen Kaffeebecher gegeben hatte? Und auch bei ihrem Zusammenstoß in der U-Bahn? Das hab ich noch Stunden später gespürt. Hatte er danach nicht solche Gelegenheiten erst gesucht – beim Tischtennis – und dann sogar – mit dem Zimmerschlüssel – geradezu initiiert? Und hatte er sich nicht jedes Mal regelrecht zu seinen Freunden geflüchtet, weil es irgendwie so merkwürdig … intensiv gewesen war? Seitdem muss ich ständig an dich denken! Es stimmte, er hatte heute sehr viel an Kaiba gedacht. Aber war es nicht verständlich, dass er sich nach der Sache gestern ein wenig Sorgen gemacht hatte? Und war es da ein Wunder, dass er erleichtert, ja, erfreut gewesen war, als Kaiba endlich gemeinsam mit Joey wieder aus dem Wald zurückgekehrt war? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte er sich aber keine Sorgen gemacht, als Kaiba danach duschen gegangen war. Trotzdem hatte er es kaum erwarten können, ihn wieder im Speisesaal zu sehen. Wenn du morgens ins Klassenzimmer kommst, macht mein Herz immer einen richtigen kleinen Hüpfer! War der Kaffee vorhin wirklich besser gewesen als heute Morgen? Oder hatte ihm sein Unterbewusstsein das nur vorgegaukelt, nachdem … … du mich mal auf dem Schulhof angelächelt hast. Definitiv hatte er mittlerweile einen Blick für die kleinen Regungen entwickelt, die hinter Kaibas kühle Fassade blicken ließen. Zugegeben, er hatte auch noch stärker auf diese Dinge geachtet, seit der Sache am See und ihrem überraschend tiefgründigen Gespräch am Abend. Seit er ihn hatte schlafen sehen. Es ist so toll, dich mal so richtig kennen zu lernen und ein bisschen Zeit mit dir zu verbringen! Hatte er es vorhin nicht sogar bedauert, nicht bei Kaiba sein zu können? Aber wenn er es war, musste er sich jedes Mal höllisch in Acht nehmen, Kaiba nicht durch irgendeine dumme Aktion auf die Nerven zu gehen. Er war in der U-Bahn in ihn hineingefallen, hatte auf seinem Kissen geschlafen … Ich werde immer so nervös, wenn du in der Nähe bist. Mittlerweile schien schon Kaibas bloße Präsenz auszureichen, um das meiste andere aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. Nur ein Hauch dieses verfluchten Parfüms und er hatte Mühe, sich auf die Dinge zu fokussieren, die eigentlich seine Aufmerksamkeit erforderten. Der Duft hat mir schon voll lange den Kopf verdreht. Duke schluckte. Frau Kobayashi griff in das große Glas und zog einen Zettel heraus. „Bei unserer letzten und alles entscheidenden Disziplin handelt es sich um …“ Das ist doch ganz normal, wenn man … Sie faltete das Papier auf. „… Schach.“ … verliebt ist? Scheiße! Kapitel 18: Truth or dare. (Or truth.) -------------------------------------- „Duke?“ Tea blickte ihn besorgt von der Seite an und er schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Hm?“ „Was ist los?“ Ihre Stimme klang ehrlich besorgt. Duke zwang ein Lächeln auf sein Gesicht und versuchte sein Bestes, um möglichst normal zu wirken. Schon wieder beschlich ihn das Gefühl ertappt worden zu sein. „Ähm, nichts, wieso?“ „Weil du gerade ausgesehen hast, als hättest du einen Geist gesehen.“ „Oh, nein, alles in Ordnung! Vielleicht mein Kreislauf oder so.“, winkte er mit einem lockeren Lächeln ab. „Hm, wenn du meinst.“ Noch einmal musterte Tea ihn eindringlich, wurde aber dann von Frau Kobayashi unterbrochen, die ankündigte, wie es weitergehen sollte: „Also dann, Herrschaften, wie besprochen: Da wir nicht noch eine sportliche Disziplin haben, fällt die Pause etwas länger aus, sodass Sie alle duschen und sich frischmachen können. Wir sehen uns dann in einer halben Stunde, also um 17 Uhr, im Gemeinschaftsraum.“ Zumindest für den Moment kehrte Duke in die Realität zurück und er und seine Freunde erhoben sich. Sein Blick wanderte unfreiwillig zu Kaiba, der ein Stück vor ihnen aus der Tür ging, und sein Puls beschleunigte sich sofort wieder. Das ist doch ganz normal, wenn man … verliebt ist. Bis zur allerletzten Minute klammerte sich Duke regelrecht an seine Freunde, während sie sich mit allen anderen Schülern beider Klassen durch das Treppenhaus und die Gänge nach oben schoben. Erst an der Zimmertür der Jungs verabschiedete Duke sich gezwungenermaßen von ihnen, bevor er allein und mit bebendem Herzen die letzten Meter weiter nach hinten zu seinem Zimmer ging. Ihrem Zimmer. Auf dem kurzen Weg spielte er im Kopf schon einmal verschiedene Varianten durch, wie er gleich möglichst normal auf Kaiba reagieren könnte, verwarf sie aber alle direkt wieder – Spontaneität war doch immer noch eine seiner größten Stärken. Mit angehaltenem Atem öffnete er die Tür. Der Raum war leer. Augenblicklich entließ er die angestaute Luft aus seiner Lunge und vernahm das Anspringen der Lüftung im Bad sowie das Zuschieben der Duschtür. Sehr gut, damit hatte Kaiba ihm sogar auch das unangenehme Gespräch über die Frage erspart, wer zuerst duschen durfte. Aber Kaiba brauchte dafür in der Regel nicht lange, wie Duke mittlerweile nur zu gut wusste. Er konnte praktisch jede Minute wieder hinauskommen! Hektisch begann Duke, schon einmal frische Sachen zusammen zu sammeln. Auf der Suche nach diesem einen ganz bestimmten T-Shirt durchwühlte er fast seine komplette Tasche, nur um, als er es gefunden hatte, durch den latenten Cola-Geruch daran erinnert zu werden, dass er es bereits am Montag getragen hatte. Dann also doch ein anderes. Ein wirklich frisches schwarzes Shirt war dann doch schnell gefunden, dazu seine Hose, neue Unterwäsche und Socken, sodass ihm wesentlich schneller als erhofft nichts anderes mehr übrig blieb, als sich auf die Bettkante zu setzen und zu warten. Seine Füße still zu halten, wäre ihm wohl nicht einmal dann gelungen, wenn er es wirklich versucht hätte. Nervös knetete er wechselnd das T-Shirt und die Hose in seiner Hand oder spielte mit der auffälligen Schnalle des Gürtels herum. Unvollendete Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf und wurden von immer neuen verdrängt. Solange Kaiba jeden Moment aus dem Bad kommen konnte, traute Duke sich kaum, über sein Problem auch nur ansatzweise nachzudenken, wenngleich sich sein ruheloser Geist gerade nach nichts mehr sehnte, als endlich die verwirrenden Eindrücke und Erkenntnisse zu sortieren. Aber dann würden diese verdammt blauen Augen wieder direkt in ihn hineinschauen und Kaiba vermutlich seine Gedanken lesen können, und das war das absolut allerletzte, was er in diesem Moment wollte. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag stand Seto unter der Dusche und es war wohl der beste Ausweis für die absolut chaotische Natur dieses Tages, dass er nicht darauf wetten wollen würde, dass es das letzte Mal war. Eigentlich hatte er ja gehofft, sich nach diesem dämlichen Lauf endlich wieder aus allem raushalten zu können, aber nein, die werte Frau Lehrerin hatte ja andere Pläne gehabt. Und warum musste sich dieser Idiot Ginta auch noch freiwillig fürs Kopfrechnen melden? Das wäre ihm rückblickend zumindest noch etwas lieber gewesen als Basketball und er hätte nicht noch ein weiteres T-Shirt opfern müssen. Mit einem Seufzen griff er zu seinem Duschgel. Aber gut, so war er immerhin an Kaffee gekommen und hatte sich im gleichen Zuge auch bei Devlin revanchieren können. Warmes Kribbeln erfüllte seine Magengegend als er daran dachte, wie Devlin ihm lächelnd zugeprostet hatte. Vielleicht hatte es sich ja doch irgendwie gelohnt, dieses eine Mal seinen inneren Widerstand aufzugeben und sich auf diese Sache einzulassen. Einerseits war es von einem eher wissenschaftlichen Standpunkt durchaus interessant zu beobachten, was das physisch und psychisch in seinem System auslöste, andererseits musste er ganz ehrlich zugeben: Die Zwischenbestandsaufnahme fiel überraschend positiv aus. Devlins Reaktion auf die Kaffee-Aktion hätte nicht besser sein können und irgendwie fühlte es sich … gut an, dass sie Dinge miteinander teilten, die niemand sonst wissen oder nachvollziehen konnte. So betrachtet musste man auch das Basketballspiel anders bewerten. Anfangs war seine Motivation praktisch nicht existent gewesen und Wheelers Anwesenheit (als dem Hauptverantwortlichen dafür, dass er sich dem überhaupt aussetzen musste) hatte dazu ihr Übriges beigetragen. Spätestens nach seinem Dreipunktewurf hatte er sich dann jedoch nicht mehr so raushalten können wie zuvor, das wäre ihm irgendwie … falsch erschienen. Außerdem war, sozusagen als netter Bonus, Wheeler nicht mehr auf dem Feld gewesen und so war Devlin ganz automatisch wieder mehr in seinen Fokus gerückt. Man konnte sagen, was man wollte, sie hatten wirklich gut harmoniert und fantastisch miteinander funktioniert. So perfekt, dass er für ein paar Minuten sogar fast so etwas wie Spaß gehabt hatte. Bis zu diesem verhängnisvollen Foul. Devlins ausgestreckte Hand war im Grunde ein Wackelkontakt mit Ansage gewesen und wie zu erwarten hatte danach genau gar nichts mehr funktioniert. Während er aus der Dusche trat und sich nach seinem Handtuch streckte, wurde er jedoch noch einmal schmerzhaft daran erinnert, dass auch Wheeler daran zumindest eine Teilschuld trug. Insgesamt überwogen aber im Moment die positiven Eindrücke tatsächlich die negativen. War am Ende an dieser ganzen „Darauf-Einlassen“-Sache wirklich etwas dran? Unwillkürlich kam ihm das Buch auf seinem Nachttisch wieder in den Sinn. Nun, auch Dr. Jekyll hatte sich, wenn man so wollte, immer mehr „darauf eingelassen“ und es würde nicht gut für ihn enden, das wusste Seto jetzt schon. Am Ende würde nur noch Mr. Hyde übrig bleiben und der alte Dr. Jekyll nie mehr zurückkehren. Er war für immer verändert. Konnte so etwas auch mit ihm passieren, wenn er so weitermachte? Würde er sich verändern, vielleicht sogar … dauerhaft? Zum ‚Guten‘ oder zum ‚Schlechten‘? Und was bedeutete das überhaupt in diesem Zusammenhang? … Aber vielleicht zog er auch schon wieder viel zu viele Parallelen zwischen einem fiktiven Werk und der Realität. Er schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich stattdessen darauf, sich anzuziehen und wieder präsentabel herzurichten. Endlich hatte Dukes qualvolles Warten ein Ende. Die Badtür öffnete sich und Kaiba trat heraus: sauber, wieder in Hemd, Pullover und Jeans, leider noch immer enorm gutaussehend, die dreckige Sporthose und das verschwitzte T-Shirt in der Hand. Nur für eine Millisekunde begegnete Dukes Blick den blauen Augen. Sollte er irgendetwas sagen? Seit ihrer letzten Begegnung zu zweit vor dem Orientierungslauf war so viel passiert … Kaffee. Lächeln. Blicke. Berührung. Er hatte den Mund schon geöffnet, doch seine Kehle fühlte sich mit einem Mal staubtrocken an und in seinem Kopf herrschte gähnende Leere. So viel zum Thema Spontaneität. Schnell überlegte Duke es sich anders, stand eilig auf und verschwand wortlos und mit gesenktem Blick im Badezimmer. Kaum hatte er den Schlüssel im Schloss herumgedreht, lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür, ließ leicht seinen Kopf dagegen fallen und entließ einen tiefen Seufzer. Fuck, fuck, fuck! Nach ein paar Sekunden löste er sich schließlich, legte seine frischen Sachen und die Jeans auf der Heizung ab und begann damit, seinen Schmuck abzunehmen und sich auszuziehen. Noch immer waberte warmer Wasserdampf durch den Raum, gemischt mit dem Duft, dem Duke im Moment am liebsten entflohen wäre, obwohl (oder gerade weil) er doch so unfassbar anziehend war. Das ist doch ganz normal, wenn man … verliebt ist. Warmes Wasser prasselte auf seinen Kopf und seinen Körper hinunter. Mit einem neuerlichen Seufzen stützte Duke sich mit der Hand an den Fliesen ab. Das war … neu. Weniger die Tatsache, dass er sich ganz offensichtlich in einen Mann verguckt hatte. Er war schon hin und wieder von Typen angeflirtet worden und hatte sich nie viel dabei gedacht. Manchmal, wenn derjenige sympathisch ausgesehen hatte, hatte er es sogar erwidert. Die Vorstellung so mit einem Kerl zusammen zu sein, hatte ihn auch nie abgestoßen. Im Gegenteil, er hatte sie immer als durchaus interessant und reizvoll empfunden. Zwar war die Initiative in einer solchen Konstellation bisher nie von ihm ausgegangen, aber das spielte ja nun wirklich keine Rolle. Nein, das war nichts Weltbewegendes. Neu war, dass er zum ersten Mal solche Dinge fühlte – die Nervosität, die Unsicherheit, das pochende Herz, die schwitzigen Hände, das Flattern überall – obwohl er in der Vergangenheit schon häufiger behauptet hätte, verliebt oder zumindest verknallt gewesen zu sein. Zuletzt in … Serenity. Bei ihr war es anders gewesen, als bei den vielen anderen Mädchen. Zumindest hatte er das bis jetzt gedacht. Es musste anders sein, schon allein deshalb, weil sie Joeys Schwester war und der ihn andernfalls umgebracht hätte. Aber doch, mit ihr hatte er es, im Gegensatz zu so vielen anderen, immer ernst gemeint, hatte sie wirklich unbedingt für sich erobern wollen. Doch so wie das hier war es mit ihr nie gewesen. Zu keinem Zeitpunkt. Er war immer ganz Herr der Lage gewesen, gewohnt selbstsicher, hatte noch Tristan verarschen können, … im krassen Unterschied zu dem Nervenbündel, das er gerade war. Aber wenn es ja nun offensichtlich nicht Verliebtheit war, das ihn da angetrieben hatte, was war es dann? Das Gefühl des Erfolgs, sie für sich gewonnen zu haben? Die Bestätigung, dass er jedes Mädchen haben konnte, wenn er es nur wollte – noch dadurch gesteigert, dass es sich um ein Mädchen handelte, das Tristan wirklich mochte? Ihm wurde ein wenig übel. War er wirklich so eingebildet und egozentrisch? Falls ja, war das wohl noch eine Gemeinsamkeit, die er mit Kaiba hatte, auch wenn er stark hoffte, dass sie bei ihm wenigstens nicht ganz so stark ausgeprägt war wie bei dem Brünetten. Aber nein, das konnte zumindest nicht alles sein. Serenity war so süß, auf so eine ehrliche Art offen, so naiv … so anders als er. Vielleicht hatte er sich auch einfach an eine Illusion geklammert: dass da dieses unschuldige Mädchen war, das zu ihm aufblickte, das – einfach so, ganz ohne sein Zutun – erkennen würde, wie er wirklich war, wer er wirklich war, und ihn genauso akzeptieren würde … und das vielleicht irgendwann einmal mehr in ihm sehen würde, als die Fassade, die er tagein, tagaus der Welt präsentierte. Er stellte das Wasser ab, um sich einzuseifen. So oder so, er würde nicht mehr damit weitermachen können. Jetzt nicht mehr. Einerseits, weil es ihm nur noch hohl und falsch vorkam, jetzt, wo er wusste, wie es sich wirklich anfühlen musste, andererseits, weil er nicht mehr länger mit den Gefühlen von gleich drei Leuten spielen konnte, die ihm am Herzen lagen (Serenity, Tristan und am Ende auch Joey), nur um auf die eine oder andere Weise etwas für sich zu tun. Das war aber natürlich noch lange nicht die Lösung für sein Hauptproblem: Er war verliebt in Seto Kaiba. Ihm entfuhr unwillkürlich ein zynisches Schnauben. Wie lächerlich sich alleine schon der Gedanke anhörte! Vollkommen vergeblich, von Anfang an! Mit beiden Händen rieb er sich übers Gesicht und schüttelte den Kopf. Wie sollte da jemals etwas laufen? Es war ja noch nicht einmal klar, ob Kaiba überhaupt auf Männer stand … oder auch nur irgendein materielles Wesen. Ja, sie verstanden sich scheinbar ganz gut und Kaiba war ihm gegenüber im Rahmen seiner Möglichkeiten ein wenig aufgetaut, aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass Kaiba ihn auch … so mochte. Allein der Versuch sich das auszumalen, brachte Dukes Vorstellungskraft an ihre Grenzen. Mit einem tiefen Seufzen drehte er das Wasser wieder auf. Wunderbar! Im noch unsicheren Terrain seines eigenen Geschlechts schaffte er es natürlich wieder einmal zielsicher, genau auf dem unsichersten Teil von allen zu landen! Als stünde er zum ersten Mal auf Skiern und könnte nur über eine Sprungschanze mit angeschlossener schwarzer Piste den Berg wieder hinunter kommen. Wenn das Verliebtheit war, was fand die Menschheit nur daran? Man war so schwach, so machtlos, so verwundbar. Seinen eigenen Gefühlen und vor allem deren Ziel gnadenlos ausgeliefert. Das war normalerweise nicht die Seite der Gleichung, auf der er sich aufhielt. Aber genug gejammert! Was konnte er tun? Da er sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin keine großen Hoffnungen machen konnte, war es vermutlich das Beste, es einfach zu überspielen und möglichst normal weiter zu machen – eine Disziplin, in der er spätestens seit dieser Woche praktisch Weltmeister war. Sein Spiel stand kurz vor dem Aus? Niemand hatte es mitbekommen! Er und Kaiba teilten sich ein Ehebett? Niemand hatte es mitbekommen! Ihre Abmachung über die DDM-Duel Disk? Niemand hatte es mitbekommen! Er hatte Gefühle für Kaiba? Niemand würde es mitbekommen – auch und vor allem Kaiba nicht. Wie schwer konnte das schon sein? Mit diesem Vorsatz stellte er das Wasser ab und trat trotz allem erleichtert aus der Dusche. Wenigstens hatte er jetzt einen Plan. Seine rebellische Seite (vermutlich im Verbund mit der egozentrischen) sträubte sich zwar dagegen aufzugeben, bevor das Spiel überhaupt angefangen hatte, aber er brachte die innere Stimme zum Schweigen. Warum ein Risiko eingehen, wenn etwas schon von vornherein so aussichtslos war? Als Duke wieder innerlich gefestigt und nach außen gewohnt selbstbewusst aus dem Bad trat, fand er das Zimmer erneut leer vor. Kaiba war wohl schon runtergegangen. Umso besser. Er hängte seine verschwitzten Sachen noch schnell zum Trocknen auf, steckte sein Handy ein und ging hinunter in den Gemeinschaftsraum, wo das Schachspiel stattfinden sollte. Dort herrschte bereits reges Gewusel. Die Privatschüler hatten sich rund um den Billardtisch versammelt, während die Schüler der Domino-High in der entgegengesetzten Ecke des Raumes an diversen Tischen verteilt saßen. In der Mitte war auf einem Tisch bereits ein Schachbrett aufgebaut worden und Frau Kobayashi und Herr Takeda beratschlagten angeregt über den besten Spielmodus. Wie von selbst fand Dukes Blick auch Kaiba, der auf einem von zwei abgenutzten Sesseln ein Stück weiter abseits saß und das Buch las, das in den letzten Tagen ein eher unbeachtetes Dasein auf seinem Nachtschränkchen gefristet hatte. Aber bei so vielen Leuten, die andernfalls den Dino-Block, oder schlimmer noch, dessen Inhalt, zu Gesicht bekommen könnten, war das wohl auch besser so. Alarmiert sah Duke aus dem Augenwinkel, wie seine Freunde sich just in diesem Moment erhoben und sich angeführt von Joey ganz eindeutig in Richtung des Brünetten aufmachten. Schnell schloss er sich ihnen an, um zu sehen, was das nun wieder werden sollte und nötigenfalls Schlimmeres zu verhindern. Kaiba sah erst von dem Buch auf, als sich Joey fest entschlossen vor ihm aufgebaut hatte und ihn mit energischer Stimme aufforderte: „Also dann, Geldsack, ich würde mal sagen, du bist dran!“ Ein amüsiertes Schmunzeln umspielte Kaibas Lippen. Er klappte das Buch zu, hielt aber mit einem Finger noch die aktuelle Seite offen. „Interessant! Und wie kommst du zu der Annahme, wenn ich fragen darf?“ „Öhm, naja …“ Den offensichtlichen Grund wollte Joey wohl nicht aussprechen, nämlich, dass Kaiba von den ihrerseits Anwesenden im Schach nun einmal der Beste war. Offenbar war ihm aber eine Alternative eingefallen: „Also, ich denke, nachdem du uns beim Orientierungslauf den Sieg gekostet hast, ist es nur angebracht, wenn du ihn uns auch wiederholst!“ Kaibas perfekt geschwungene Augenbrauen wanderten nach oben. „Ich habe was?!“ „Na, wer ist denn daran schuld, dass die Karte durchgerissen ist, hm?“ Joey stemmte die Hände in die Hüften und nickte, wie um sich selbst zu bestätigen. Der Brünette hingegen schüttelte den Kopf. „Wheeler, du scheinst vergessen zu haben, dass du es warst, der unbedingt seine Navigationsfähigkeiten unter Beweis stellen wollte! Und das, obwohl du hättest wissen oder zumindest ahnen können, wie miserabel es um sie bestellt ist.“ Bereits hier schienen Joey langsam die Argumente auszugehen. „Du … hättest mich ja abhalten können!“ Kaiba lachte spöttisch auf. „Und verpassen, wie du dich lächerlich machst, Köter?! Nein, eine solche Gelegenheit kann ich doch nicht einfach verstreichen lassen. So gut müsstest du mich eigentlich mittlerweile kennen!“ „Du bist aber nun mal der Einzige hier, der das richtig spielen kann!“, grätschte Tristan dazwischen, denn so führte diese Diskussion zu nichts und im Gegensatz zu Joey hatte er kein Problem damit, das Offensichtliche auszusprechen. Kaibas kalter Blick wanderte zu ihm. „Soll ich mich jetzt geehrt fühlen?“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Ich kann mir außerdem keinen Grund vorstellen, warum Muto hier nicht auch gut im Schach sein sollte.“ Yugi lächelte verlegen und fuhr sich mit der Hand in den Nacken. „Aber doch bei weitem nicht … i-ich hab mich nie damit beschäftigt.“ Kaiba schnaubte spöttisch und erwiderte spitz: „Wann hat dich das jemals aufgehalten, Yugi?“ „Naja, also …“ „Mit Dungeon Dice Monsters“, sein Blick streifte Duke, „hattest du dich auch noch nie beschäftigt und hast trotzdem schon beim allerersten Mal den Erfinder des Spiels geschlagen. Und das, obwohl dir Devlin noch das halbe Regelwerk vorenthalten hat.“ Ein kühl-amüsiertes Blitzen lag in Kaibas Augen und er ließ eine kurze Pause, um sein Argument wirken zu lassen. Duke hingegen sah nur zur Seite – nachdem seine kurze innerliche Anspannung durch den Blickkontakt abgeflaut war – und verdrehte die Augen. Wie oft würde Kaiba das denn noch wieder rausholen? Schließlich frage der Brünette eher rhetorisch weiter: „Ich nehme an, die Schachregeln kennst du?“ Reflexhaft nickte Yugi. „Na, dann hast du doch schon beste Voraussetzungen!“ Nun schaltete sich auch Tea ein: „Ja, aber Kaiba …“ Der überging den Einwurf kurzerhand, so als hätte er ihn gar nicht gehört: „Ich finde das sogar äußerst passend: Wer könnte das ‚königliche Spiel‘ besser spielen, als der ‚König der Spiele‘?!“ Seine Lippen umspielte ein selbstzufriedenes, hämisches Grinsen ob des gelungenen Wortspiels. „Aber Kaiba, …“, versuchte es Yugi noch einmal. Der Brünette seufzte und seine zuvor noch leicht amüsierten Züge versteinerten sich augenblicklich. „Gut, nochmal ganz langsam, damit auch alle Kindergartenkinder es verstehen: Ich. denke. nicht. mal. daran!“ „Ach ja?! Mal sehen, was Kobayashi-sensei dazu sagt!“, konterte Joey siegessicher. Scheinbar war ihm diese Möglichkeit zwischenzeitlich noch eingefallen und er hatte sie sich bewusst bis zuletzt aufgespart. Sofort kehrte das süffisante Lächeln auf Kaibas Lippen zurück. „Natürlich, ihr hofft, dass sie mich zum Spielen verdonnert, so wie beim Basketball.Tja, sollte sie das versuchen, wird sie erfahren, dass ich dem Direktor bedauerlicherweise mitteilen muss, dass aus meiner geplanten großzügigen Spende für die Sanierung der Turnhalle leider nichts werden wird. Mal sehen, ob sie mich dann immer noch überreden möchte.“ „Du … !“ Joeys Gesicht färbte sich langsam rot und er ballte die Hände zu Fäusten. „Komm Joey, das hat doch keinen Zweck!“, versuchte Tea routiniert ihn zu beruhigen und gemeinsam mit Tristan zog sie ihn an den Armen weg. Duke folgte seinen Freunden, drehte sich aber noch einmal um, nur um zu sehen, wie Kaiba noch einmal kurz den Kopf schüttelte, dann das Buch wieder öffnete und weiter las. Wenig später trat Frau Kobayashi zu ihren Schülern. „Nun denn, wer von Ihnen wird antreten – und hoffentlich gewinnen?“ Zögerlich meldete sich Yugi. „Sehr gut, Mr. Muto, ich danke Ihnen jetzt schon! Dann los, gehen wir vor und sehen, dass wir wen auch immer schlagen können, den uns dieser … den uns Takeda-san vor die Nase setzt!“ Schon an Yugis Gesicht war zu erkennen, dass er sich nicht sicher war, ob das gelingen würde und auch Duke hatte so seine Zweifel, auch wenn Yugi natürlich sein Bestes geben würde. Aber Schach war nun einmal so vollkommen anders als Duel Monsters oder DDM: Alle Informationen lagen von Anfang an offen auf dem Tisch, Glück spielte keinerlei Rolle, beide Spieler hatten die gleichen Voraussetzungen. Trat man als Anfänger gegen jemanden an, der sich auch nur etwas mehr eingearbeitet hatte, sah man schon ziemlich alt aus, es sei denn, man war ein menschlicher Computer, der mindestens die nächsten fünf Züge spontan, schnell und perfekt vorausberechnen konnte. Und das war Yugi bei allem Können nun wirklich nicht, im Gegenteil. Seine sehr intuitive, gefühlsbetonte, manchmal fast schon spirituelle Herangehensweise an Spiele würde ihm beim Schach vermutlich recht wenig nützen. Auch die Schüler der anderen Klasse sammelten sich jetzt um das Brett. Als Kenta Duke, Tristan und die anderen erspähte, die sich eng um Yugi gruppiert hatten, packte er einen etwas kleineren, schmalen Jungen mit Brille rabiat an den Schultern und schob ihn mit sich nach vorne. Sein herausfordernder Blick blieb ganz besonders auf Tristan geheftet, während er großspurig verkündete: „Für uns wird Toshi hier antreten. Toshi hat sich diese Disziplin auch gewünscht. Er ist nämlich zufälligerweise im Schachverein. Und er hat schon einige Turniere gewonnen!“ Mit einem demonstrativen Nicken sah er sich im Kreise seiner Mitschüler um, die ihm die implizit gewünschte Bestätigung gaben. Dann wandte er sich doch noch einmal kurz an den sichtlich eingeschüchterten Jungen und verstärkte den Griff um dessen Schulter: „Du hast doch schon Turniere gewonnen, oder?“ Ähnlich wie zuvor für Ginta schien es auch für Toshi äußerst gewöhnungsbedürftig zu sein, dass sich auf einmal Leute für ihn interessierten, die ihn sonst entweder nicht beachteten, hänselten oder anderweitig runtermachten. So nickte er nur zögernd und bestätigte leise: „I-ich bin der Landesmeister in meiner Altersgruppe.“ Yugis Augen wurden groß und auch Dukes und Tristans Blicke trafen sich. Die Aussichten auf einen Sieg hatten sich gerade noch einmal dramatisch verschlechtert. Gerade wollte Kenta noch einen weiteren Kommentar abgeben, da legte ihm Herr Takeda die Hand auf die Schulter. „Sie entschuldigen, Matsuda, aber ich glaube, jetzt bin ich dran!“ Kenta senkte den Blick unter den strengen Augen des Lehrers und schwieg. An alle gerichtet fuhr Herr Takeda fort: „Zum Spielmodus: Es werden maximal drei Partien gespielt, allesamt mit Zeitbegrenzung, wir wollen ja nicht den ganzen Abend hier sitzen, nicht wahr?“ Wieder einmal lachte er altväterlich. „Vielen Dank an Mr. Nakamura hier,“, er wies mit der Hand auf Toshi, „der uns ein wenig beraten hat, was sich in unserem Rahmen für so einen Wettbewerb anbietet: Erst einmal werden zwei Partien gespielt, in denen beide Gegner jeweils fünfzehn Minuten Bedenkzeit haben, wobei jeder ein Mal mit Weiß, ein Mal mit Schwarz spielen wird. Sollte es danach einen Gleichstand geben, werden wir noch eine dritte Partie mit nur fünf Minuten Bedenkzeit spielen und zwar im etablierten … Armageddon-Modus?“ Er rückversicherte sich noch einmal mit einem Blick bei Toshi, der ihm mit einem Nicken bestätigte, dass er es richtig gesagt hatte. „Das bedeutet, dass, bei einem Unentschieden automatisch Schwarz gewinnt, da Weiß ja über den Anfangsvorteil verfügt. Somit gibt es am Ende auf jeden Fall eine Entscheidung. Aber Mr. Nakamura hat mir versichert, dass die meisten derartigen Spiele schon vorher anders entschieden werden und diese Regel daher oftmals gar nicht erst zur Anwendung kommen muss.“ Er ließ eine kurze Pause, offensichtlich zufrieden mit sich und seiner fachmännischen Erklärung. Dann klatschte er in die Hände. „Also dann, starten wir!“ Die Farben für die erste Partie wurden mit Hilfe zweier Figuren ausgelost. Yugi würde mit Schwarz beginnen. Erst blickte er ein wenig enttäuscht drein, zuckte dann aber in Richtung seiner Freunde lächelnd mit den Schultern. „Ist ja nicht so, dass ich mit Weiß so viel mehr hätte anfangen können!“ Die beiden Spieler nahmen am Tisch Platz und die Partie begann. Nach allem, was Duke sagen konnte, schien sich Yugi zumindest wacker zu schlagen, wobei auffiel, dass er schon in den ersten Zügen wesentlich mehr Zeit verbrauchte als Toshi. Yugis Seite der Uhr – als solche diente das Tablet eines Privatschülers, auf das kurzerhand eine Schachuhr-App geladen worden war – zeigte nur noch zehn Minuten, während Toshi gerade einmal dreißig Sekunden seiner Zeit verbraucht hatte und sich schon bald sichtlich langweilte, wenn Yugi am Zug war. Egal, wie verschüchtert Toshi sonst vielleicht sein mochte, kaum hatte er sich an das Schachbrett gesetzt, strahlte er absolutes Selbstbewusstsein und Konzentration aus. Das hier war ganz klar sein Element. In den nächsten Minuten geriet Yugi immer weiter ins Hintertreffen und verlor eine Figur nach der anderen. Zwei Minuten waren auf seiner Uhr noch übrig, Toshi hatte noch knapp über zehn. Angespannte Stille erfüllte den Raum. Wenn überhaupt geredet wurde, beschränkte es sich auf ein gedämpftes Flüstern, um die Konzentration der Spieler nicht zu stören. „Schach Matt!“ Es waren die ersten Worte seit längerem in normaler Lautstärke und so war nicht nur Yugi kurz zusammengezuckt, sondern auch einige der Zuschauer. Nun sah es auch Duke: Toshi hatte seinen Turm auf Yugis Grundlinie gezogen, wo dessen König noch immer vermeintlich sicher hinter allen drei Rand-Bauern stand, damit jedoch kein Feld hatte, auf das er ausweichen konnte, um nicht im nächsten Zug geschlagen zu werden. Frau Kobayashi schüttelte nur den Kopf und massierte sich die Stirn. „Glückwunsch!“ Yugi zwang sich zu einem Lächeln und Toshi nickte nur stumm. „Hervorragend, Nakamura!“, freute sich Herr Takeda sichtlich und klopfte dem Angesprochenen auf die Schulter, bevor er über den Applaus seiner Schüler hinweg auch Yugi mit adressierte: „Dann bauen Sie doch gleich die Figuren wieder auf, sodass Sie mit umgekehrten Farben spielen.“ Routiniert setzte Toshi jetzt die schwarzen Figuren auf seiner Seite an ihre Plätze und stellte die Uhr zurück, während Yugi sich die weißen Figuren schnappte und vor sich aufbaute. Die zweite Partie eröffnete somit Yugi, aber auch einem unerfahrenen Zuschauer musste recht schnell klar sein, dass Toshi mit jedem Zug ein wenig besser stand. Immer wieder übersah Yugi trotz aller Anstrengungen Drohungen komplett oder bemerkte sie erst, als es bereits zu spät war. Duke las in den Gesichtern seiner Freunde, dass sie alle wussten, dass es wahrscheinlich nicht gut enden würde, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Als er Tristans Augen begegnete, seufzte der nur leise und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf. Noch einmal wanderte Dukes Blick zu der einzigen Person ihres „Lagers“, die wirklich Ahnung von Schach hatte. Kaiba wäre wahrscheinlich im Handumdrehen in der Lage, das alles noch zu retten, aber nein, er zog es ja stattdessen vor, weiter ganz entspannt zu lesen und freute sich vermutlich noch darüber, dass es trotz der vielen Leute so schön still im Raum war. Und das, während der arme Yugi, der so gut wie keine Ahnung von Schach hatte und sich praktisch für sie geopfert hatte, hier von einem Landesmeister regelrecht auseinander gepflückt wurde. Warum genau hatte er sich nochmal in so einen Arsch verknallt? Nein, korrigierte er sich gedanklich, wer Kaiba so abstempelte, machte es sich zu leicht. Spätestens nach der Sache am See musste das klar sein. Es musste einen Grund dafür geben, dass Kaiba nicht spielen wollte. Wenn er in irgendetwas klar überlegen war, ließ er doch sonst auch selten eine Gelegenheit aus, das aller Welt mitzuteilen. Nun gut, mit Sicherheit spielte hier auch Motivation eine Rolle. Ein Sieg ihrer Klasse bei diesem sinnlosen Wettbewerb brachte Kaiba selbst rein gar nichts. Hm … und wenn man nun dafür sorgte, dass es ihm etwas brachte? Aber was konnte man jemandem wie Kaiba anbieten? Ihm, der angesichts seines finanziellen, geschäftlichen, schulischen Erfolgs im Grunde bereits alles hatte? Duke dachte noch einmal an die vergangenen Stunden zurück, und seine Gedanken blieben beim Tischtennis hängen, wo Kaiba ihm anscheinend durchaus interessiert zugehört und nachgefragt hatte, als er ein wenig von sich erzählt hatte. Informationen … einer der wertvollsten Vorteile, die man haben konnte, das hatte auch Max ihm immer wieder eingetrichtert. Aber war es wirklich klug, Kaiba auch nur irgendetwas zu offenbaren? Zumal in seiner aktuellen Lage? Was, wenn er dabei versehentlich mehr über sich verriet, als er wollte? Noch einmal sah Duke auf das Schachbrett. Yugi hatte schon wieder einige wertvolle Figuren eingebüßt und gerade nur um Haaresbreite seine Dame retten können. Seine Uhr zeigte noch fünf Minuten, die von Toshi elf. Hinter letzterem stand Kenta mit verschränkten Armen und lächelte zufrieden in sich hinein, den Sieg offenbar schon vor Augen. Unbewusst schüttelte Duke kurz den Kopf. Was hatten die vergangenen Tage nur aus ihm gemacht? Er war Duke Devlin, verdammt! Seit wann drückte er sich denn bitte vor einer guten Herausforderung? Ein kleiner Tanz auf seinen eigenen Grenzen – warum denn nicht?! Die Sache mit Kaiba war ja ohnehin aussichtslos. Also, was sollte schon passieren? Rebell-Duke und Ego-Duke brachen in Jubel aus. Die Aufmerksamkeit (fast) aller Menschen im Raum war fest auf dem Schachbrett, sodass es ihm problemlos gelang, sich unbemerkt aus der Gruppe zu lösen. Seine trotz allem leicht schwitzigen Hände locker in den Hosentaschen vergraben ging er zielstrebig auf den einzigen besetzten Sessel zu. Wie aus dem Nichts wurde Seto unsanft aus seiner Lektüre gerissen, als ihm vollkommen unvermittelt das Buch aus der Hand genommen und mit den Seiten nach unten auf dem kleinen Beistelltisch abgelegt wurde. Gleich darauf stützten sich zwei fremde Hände entschlossen links und rechts auf die Armlehnen des Sessels. Setos anfängliche Verwunderung schlug sofort um zu eiskalter Wut. Wer wagte es …?! Sein tödlicher Blick traf auf grüne Augen, in denen ein herausforderndes Blitzen lag. Devlin, ausgerechnet! Was sollte das denn jetzt werden? Noch bevor Seto die Frage laut aussprechen konnte, beugte sich der Schwarzhaarige etwas weiter vor, sodass sein Kopf nur Zentimeter links neben Setos war. Augenblicklich beschleunigte sich sein Herzschlag und seine Sinne waren geschärft für selbst die kleinsten Nuancen und Eindrücke von Dukes Präsenz. Hätte man ihn vor wenigen Tagen noch gefragt, Seto hätte sich für vollkommen immun gegen Devlins provokante, stark physisch geprägte und in seinen Augen billige Art der Einflussnahme erklärt. Stattdessen blieb ihm jetzt nichts anderes übrig, als sich einmal mehr einzugestehen, wie mühelos es dem Schwarzhaarigen gelang, ihn vollständig in seinen Bann zu ziehen. „Hör mal, Kaiba, ich hab ein Angebot für dich!“, flüsterte Duke ihm verschwörerisch zu und warmer Atem streifte sanft sein Ohr und seinen Hals. Unwillkürlich stellten sich Setos Nackenhaare auf, aber noch behielt er die Kontrolle und sein Blick blieb stur an Duke vorbei nach vorne gerichtet. „Ich höre.“ Der Würfel-Ohrring wackelte, als sich Dukes Kopf minimal bewegte, und touchierte einmal kurz Setos Wange. Ein Schauer überlief ihn, als zu allem Überfluss auch noch ein paar der pechschwarzen, weichen Haare ganz leicht eine besonders empfindliche Stelle an seinem Hals kitzelten. Mit jedem Atemzug nahm er fast schon begierig ihren angenehmen Duft auf … nach Zitrone und … Meer. „Wenn du jetzt spielst und gewinnst, dann erfährst du etwas über mich, das niemand anderes weiß.“ Seto musste seine gesamte Willenskraft aufbieten, um Dukes Worten zu folgen und sich nicht vollständig in seinen Sinneseindrücken zu verlieren. Schnell fokussierte er sich wieder auf das Gesagte und seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben. Hm, etwas, das niemand anderes über Devlin wusste? Das konnte durchaus interessant und wertvoll sein. Nicht einmal nur aufgrund seiner unsäglichen hormonellen Situation, sondern auch aus geschäftlicher Sicht. Devlin war eben im Gegensatz zu seinen kleinen Freunden ganz und gar nicht dumm – ein Geschäftsmann, genau wie er, der wusste, dass man ohne eine gute Gegenleistung niemanden dazu bringen konnte, etwas zu tun, was er nicht wollte. „Und wenn ich es nicht tue oder … verliere?“, fragte Seto scheinbar gleichgültig zurück und versuchte sich nicht zu sehr von Dukes Anhänger ablenken zu lassen, der durch dessen vornübergebeugte Haltung immer wieder gegen seine Brust baumelte. Darüber hatte Duke gar nicht nachgedacht. Als Wette war seine fixe Idee eigentlich nicht konzipiert gewesen. Aber gut, in Kaiba steckte auch ein Spieler und wenn er unbedingt eine Wette wollte – warum nicht? Dann gab es sogar noch eine minimale Chance, dass auch für ihn selbst noch etwas dabei heraussprang. Duke überlegte einen kurzen Moment, dem Brünetten dabei noch immer so nahe, dass es fast schon an Masochismus grenzte. Kaibas Duft stieg unablässig in seine Nase, er konnte die Körperwärme spüren, die von seinem Gegenüber ausging und musste außerdem gegen den inneren Drang ankämpfen, mit seiner Hand durch die haselnussfarbenen Haare zu fahren, um herauszufinden, ob sie wirklich so weich waren, wie sie aussahen. „Mhm, dann darf ich dir eine beliebige Frage stellen und du musst sie mir wahrheitsgemäß beantworten.“, schlug er schließlich vor und ergänzte eine Sekunde später noch: „Natürlich nichts, was mit sensiblen Geschäftsdaten zu tun hat, versteht sich.“ Das wäre ja auch langweilig. Ihn würde viel mehr interessieren, was Kaiba am See so aus dem Tritt gebracht hatte, ob es noch andere Gründe dafür gab, dass er nicht hatte Schach spielen wollen … oder vielleicht sogar, ob und wenn ja, auf welche Art von materiellen Wesen Kaiba tatsächlich stand. Aber das konnte er sich ja gegebenenfalls noch überlegen. Information gegen Information, das war nur fair, dachte Seto. Man konnte ja nie wissen, wann sie sich mal als nützlich erweisen würden … Als er den Kopf nun doch ein wenig zur Seite drehte, zog der Schwarzhaarige sich etwas zurück, sah ihm geradewegs in die Augen und hielt Setos prüfendem Blick mit Leichtigkeit stand. Hm, Devlin meinte es offenbar wirklich ernst. So nickte Seto kaum merklich und fragte nur sachlich: „Wann wird der Einsatz eingelöst?“ Nicht eine Sekunde zweifelte er daran, dass er es sein würde, der die Information über Devlin erhielt. Es ging immerhin um Schach. Ein zufriedenes Grinsen umspielte Dukes Lippen. Er bekam eben immer, was er wollte – und wenn es sein musste, fand er sich auch auf dem unsichersten Terrain zurecht. „Gleich heute Abend, wenn du möchtest. Haben wir also einen Deal?“ Statt einer verbalen Antwort machte Kaiba Anstalten sich zu erheben, sodass Duke sich wieder aufrichtete und ihn aus dem Sessel freiließ. Zielstrebig ging der Brünette zum Schachbrett, wo Yugi mittlerweile ziemlich verzweifelt auf seinem Stuhl hin und her rutschte, während die Uhr unablässig weiter nach unten tickte. Noch zwei Minuten. Auch Duke kehrte nur eine Sekunde später wieder zurück zum Zentrum des Geschehens. Voller Überraschung und leise tuschelnd hatten seine Mitschüler Kaiba zügig Platz gemacht, der nun direkt hinter Yugi stand und einen prüfenden Blick auf das Spiel warf. Kopfschüttelnd und mit einem genervten Seufzen kam er zu dem Ergebnis: „Immerhin hast du noch nicht alles kaputt gemacht, Yugi.“ Der sah voller Hoffnung zu ihm auf. „Willst du jetzt etwa doch spielen?“ Der Brünette verdrehte die Augen. Zähneknirschend forderte er den Kleineren auf: „Wenn du mir Platz machen würdest, dann könnte ich auch.“ Sofort erhob sich Yugi, atmete erleichtert auf und überließ Seto seinen Stuhl. „Ja, klar doch, Hauptsache, ich muss nicht mehr!“ Sichtlich erlöst gesellte sich der Kleine wieder zu seinen Freunden und sah nun wie sie gespannt auf das Brett. Kenta kommentierte den unerwarteten Wechsel spöttisch vom Rand: „Ach, jetzt soll Bohnenstange versuchen, das Trauerspiel noch zu retten?!“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr kommt hier nicht mehr raus! Dein Zug, Ersatzmann, die Zeit läuft!“ Kaibas Augenbrauen wanderten nach oben. Anscheinend überlegte er kurz, ob er Kenta etwas entgegnen sollte, kam aber offenbar zu dem Ergebnis, dass das unter seiner Würde war. Stattdessen setzte er sich seelenruhig mit verschränkten Armen und übereinander geschlagenen Beinen auf den Stuhl und ließ die Uhr noch ein paar Sekunden weiter hinunter ticken, während er die Stellung genauer betrachtete. Schließlich lehnte er sich zurück, bewegte seinen verbliebenen Springer und betätigte den Button auf dem Tablet. Duke verstand nur einen Bruchteil dessen, was in den nächsten Minuten auf dem karierten Brett passierte. Auffällig war aber, dass auch Toshi jetzt teilweise eine halbe oder ganze Minute seiner Zeit verbrauchte, bevor er einen Zug machte. Fahrig spielte er mit einem der geschlagenen weißen Bauern herum und biss sich beim Überlegen auf die Lippen, während Kaiba ihm mit regungsloser Miene nach und nach zwei Bauern und einen Turm abnahm, bis sie sowohl im Hinblick auf die Figuren als auch in puncto Zeit gleichauf waren. Danach ging alles ganz schnell. Die ganze Zeit über hatte der Brünette nicht ein Wort gesprochen und seinen Gegner keines Blickes gewürdigt. Umso überraschender kam es, als er schließlich den Blick hob und Toshi direkt ansah. Der starrte noch immer völlig perplex auf das Brett. Sichtlich verstimmt tippte Kenta ihn an. „Hey, was ist, Tosh? Warum ziehst du nicht?“ Langsam schüttelte „Tosh“ den Kopf, dann drehte er sich ruckartig um und herrschte Kenta an: „Weil ich Schach Matt gesetzt wurde, Idiot! Die Partie ist vorbei!“ „Woah, sorry!“ Kenta zog die Augenbrauen hoch und hob verteidigend die Hände. Dann drehte er sich zu seinem Kumpel Taki um, verdrehte die Augen und murmelte halblaut: „So kennt man ihn ja gar nicht.“ Leise kicherten sie, dann wurden sie wieder ernst und der Rugby-Spieler bedachte Toshi mit einem drohenden Blick. „Dann streng dich bei der letzten Partie besser etwas mehr an!“ Für besagte letzte Partie – diesmal mit nur fünf Minuten Zeit pro Spieler – bekam Kaiba nach dem Auslosen die schwarzen Figuren und Toshi die weißen. Letzterer atmete noch einmal tief durch, bevor er seinen ersten Zug, Bauer auf E4, machte und die Uhr betätigte. Kaiba erwiderte sofort mit E5 und die Partie nahm ihren Lauf. Die Figuren wurden blitzschnell hin und her gezogen, die Uhr gedrückt, keiner der Zuschauer begriff zur Gänze, was da passierte, aber alle sahen gefesselt zu. Selbst Kaiba saß nun nicht mehr zurückgelehnt da, sondern hatte die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt und war vollkommen auf das Spiel fokussiert. Als sich die Zeit dem Ende näherte und beide Spieler nur noch etwa zwanzig Sekunden hatten, wurden Toshis Bewegungen immer hektischer und Schweißperlen standen sichtbar auf seiner Stirn. Kaiba hingegen sah so gefasst aus wie eh und je. Seine und auch Toshis Hände schossen jetzt regelrecht über den Tisch: Figur, Uhr, Figur, Uhr, Figur, Uhr. Schließlich erschraken sämtliche Zuschauer, als Toshi mit der rechten Faust hart auf den Tisch schlug, sodass alles darauf hörbar schepperte. Wieder Schach Matt. Kaiba hatte gewonnen. Toshi brauchte offenbar noch einen Moment, um vollends zu begreifen, was gerade schief gelaufen war. Währenddessen war Seto bereits aufgestanden, sah ebenfalls noch einmal abschätzig auf das Brett und schüttelte den Kopf. Während Toshis Klassenkameraden sich sichtlich ärgerten und vor allem Kenta von der Seite auf Toshi einschimpfte, bis er von Herrn Takeda gestoppt wurde, feierten die Schüler der Domino High lautstark ihren Sieg. Frau Kobayashi kam regelrecht auf Seto zugestürmt und schüttelte ihm aufgeregt die Hand – zu seinem Leidwesen konnte er sich dem dieses Mal nicht entziehen. „Vielen, vielen Dank, Mr. Kaiba, ohne Ihre Mithilfe hätten wir den Wettbewerb nicht gewonnen!“ Er nickte nur, ohne eine Miene zu verziehen. Nichts konnte ihm egaler sein und selten war es ihm so unangenehm gewesen, im Mittelpunkt zu stehen – normalerweise gern, aber nur unter seinen Bedingungen. Auch Tristan trat auf ihn zu und Seto konnte ihn mit einem drohenden Blick gerade noch davon abhalten, ihm auf die Schulter zu klopfen. So schluckte Tristan nur und beeilte sich nur zu sagen: „Vielen Dank, dass du eingesprungen bist, Kaiba! Das war echt ne richtig starke Nummer!“ Eiskalt und kurz angebunden gab Seto nur zurück: „Bedankt euch bei Devlin! Ich verschwinde.“, und wandte sich zum Gehen. Da meldete sich überraschenderweise Toshi noch einmal zu Wort: „Moment mal, habe ich das richtig gehört: ‚Kaiba‘? Wie in ‚Gozaburo Kaiba’? Dem ehemaligen Schach-Weltmeister?“ Seto drehte sich noch einmal um und sah ihn von oben herab kühl an. Über diesen Umweg war er tatsächlich bis dato noch nie erkannt worden. Toshi nahm sein Schweigen als Ja und schluckte, bevor er sich kurz verbeugte: „Es war mir eine Ehre, Kaiba-sama!“ „Von mir aus.“ erwiderte Seto abgeklärt mit einem letzten Augenrollen und verließ den Gemeinschaftsraum. Als Duke und seine Freunde ebenfalls hinausgingen, um vor dem Abendessen noch einmal frische Luft zu schnappen, ließ Tristan es sich nicht nehmen, noch einmal an Kenta vorbeizugehen, der in ein Gespräch mit seinen Freundinnen vertieft war, und ihn so stark er konnte mit der Schulter anzurempeln. „Tja, ich würde mal sagen, das war die letzte Disziplin, Flasche!“, warf er ihm im Vorbeigehen zu und hob mit einem breiten Grinsen die Hand zu einem letzten Gruß mit dem Mittelfinger. Auch Frau Kobayashi konnte es nicht lassen, Herrn Takeda ihren Sieg lang und breit unter die Nase zu reiben. Bevor sie den Raum verließen, hörte Duke noch ganz deutlich Sätze wie „Drittklassig also, ja?!“, „Vielleicht kommen Sie mal zu uns hospitieren und schauen sich an, wie eine gute Ausbildung aussieht!“, „Wessen Schüler sind jetzt besser, hm?!“, und er hatte fast schon Mitleid mit Herrn Takeda. Aber auch nur fast. Immerhin hatte er sich einen soliden Teil davon ja selbst eingebrockt. Beim Abendessen saß Duke wie üblich mit seinen Freunden an ihrem gemeinsamen Tisch. Gerade hatte Frau Kobayashi angekündigt, dass morgen wieder ein Ausflug auf dem Programm stehen würde: Zur Matsushiro-Burg sollte es gehen und wie schon zur Wanderung war ein zeitiger Start anberaumt. Nicht einmal von Joey kamen jedoch diesmal Beschwerden über die Agenda, im Gegenteil, ließ doch die Burg vor allem in ihm und Tristan schon lebhafte Samurai-Fantasien aufkeimen. Während letztere von den beiden immer detaillierter ausgeschmückt wurden, wandte sich Tea mit unverhohlener Neugier an Duke. „Sag mal, was ich schon die ganze Zeit fragen wollte: Was meinte Kaiba vorhin eigentlich mit ‚Bedankt euch bei Devlin‘?“ Auch Yugi horchte interessiert auf. „Genau, was hast du ihm gesagt, dass er seine Meinung geändert hat?“ Mit einem verlegenen Lächeln fügte er sogleich noch hinzu: „Außerdem hat er Recht: Ich muss mich wirklich bei dir bedanken! Wäre ich da sitzen geblieben, hätten wir mit Sicherheit nicht gewonnen …“ Duke winkte scheinbar gleichgültig ab. „Ach, kein Ding. Ich kenne solche Leute einfach zur Genüge. Jemand wie Kaiba macht nichts für umsonst. Also hab ich ihm ein Angebot gemacht.“ Tea legte den Kopf schief. „Dass du bei ihm warst, hab ich gar nicht mitbekommen. Was hast du ihm denn angeboten?“ „Informationen.“, gab Duke nur unspezifisch zurück. Viel genauer ins Detail wollte und würde er auch nicht gehen, egal wie sehr sie vielleicht nachbohren würden. Auch das war eine Sache nur zwischen Kaiba und ihm. Seine Freunde sahen ihn in der Tat äußerst skeptisch an. „Jetzt guckt nicht so, Leute! Ich weiß schon, was ich tue!“, verteidigte er sich noch einmal und lachte betont selbstbewusst. Und das stimmte ja auch. Abgesehen vielleicht von der winzigen Einschränkung, dass er noch keinen blassen Schimmer hatte, was genau er Kaiba erzählen sollte. Wenn du jetzt spielst und gewinnst, dann erfährst du etwas über mich, das niemand anderes weiß. Er hatte vorhin einfach improvisiert – da war sie gewesen, seine vielgerühmte Spontaneität – in der Hoffnung, dass es Kaiba ausreichend neugierig machen würde, damit er sich ans Schachbrett bequemte und den Tag rettete. Nicht ohne eine Spur Ironie stellte Duke fest, dass er sich mit Kaiba gewissermaßen auf eine Runde ‚Wahrheit oder Pflicht‘ eingelassen hatte – allerdings mit wesentlich mehr ‚Wahrheit‘ auf seiner Seite. Und das, wo er bei ‚Wahrheit oder Pflicht‘ doch eigentlich immer und ausschließlich ‚Pflicht‘ wählte. Aber hey, ihm blieben ja noch gute drei Stunden, um sich etwas zu überlegen. Kapitel 19: Are you ready? -------------------------- Spätestens nach dem Abendessen hatten sich alle durch den Wettbewerb erhitzten Gemüter wieder etwas beruhigt und die meisten Schüler hielten sich einmal mehr im Gemeinschaftsraum auf. Duke und seine Freunde hatten das ebenfalls vor, standen aber schon seit mindestens fünf Minuten unschlüssig nahe der Tür und waren noch immer nicht zu einer Entscheidung gelangt, wie genau es nun weitergehen sollte. Trotz der über den Tag kultivierten Rivalität zwischen den Klassen fiel Duke auf, dass die vielfältigen Erlebnisse sie wohl letzten Endes doch irgendwie ein wenig zusammengeschweißt hatten: Die Billard-Spieler der Domino-High spielten gegen ein paar der Privatschüler und hatten sichtlich Spaß dabei. Zwei von Teas Zimmergenossinnen saßen mit Kentas Freundinnen an einem Tisch, hatten den Inhalt ihrer Schminktäschchen auf dem Tisch ausgebreitet und tauschten sich nun intensiv darüber aus. Am Bücherregal stand Ginta gemeinsam mit Satsumi und unterhielt sich angeregt mit ihr über ein Buch, das er offenkundig mit Begeisterung gelesen hatte. Als er es aus dem Regal zog und aufschlug, um ihr eine bestimmte Stelle zu zeigen, trat sie noch ein Stück näher zu ihm und Röte stieg auf ihrer beider Gesichter, als sich dabei ganz zufällig (oder auch nicht) ihre Arme berührten. Duke sah es aus dem Augenwinkel und ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Außerdem wusste Tea zu berichten, dass selbst Herr Takeda und Frau Kobayashi offenbar das Kriegsbeil begraben hatten: „Toko hat gemeint, sie hat aus unserem Zimmerfenster gesehen, dass die beiden mit einer Flasche Wein draußen vor der Herberge sitzen und siehe da, auf einmal können sie sich unterhalten wie normale Erwachsene!“ Ryou zuckte nur mit den Schultern. „Ist doch schön für sie! Und was machen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend?“ Für Tristan war die Antwort sonnenklar. „Hallo?! Unseren Sieg feiern? Genug Alkohol haben wir auf jeden Fall und wenn Tea noch ein paar von den restlichen Mädels dazu holt, spielen wir Flaschendrehen! Oder ‚Wahrheit oder Pflicht‘! Das wär doch was! Oder, Alter?“ Mit einem vielsagenden Blick stupste Tristan Duke in die Seite. Der war sofort alarmiert. Gott, nein! Noch mehr selbstoffenbarende Klassenfahrt-Spiele konnte er wirklich nicht gebrauchen! Seine inoffizielle Runde „Wahrheit oder Pflicht und Wahrheit“ mit Kaiba, die er eigentlich gewonnen, aber dadurch irgendwie auch verloren hatte (es war kompliziert), reichte ihm für heute vollkommen aus. Und Kaiba wäre sicherlich wenig angetan von Was-auch-immer-er-ihm-offenbaren-würde, wenn er dabei eine Alkoholfahne hätte. Von den nicht abschätzbaren Konsequenzen abgebauter Hemmschwellen mal ganz zu schweigen. Mit einem Seufzen ließ Duke betont die Schultern sinken. „Ach, wisst ihr, heute wäre das wahrscheinlich fast ein bisschen Verschwendung. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich für meinen Teil bin vom Lauf und vom Basketball ganz schön fertig. Ich würde vermutlich gar nicht lang genug durchhalten, um das ausreichend zu würdigen.“ Im Geiste klopfte Duke sich auf die Schulter. Wenn das nicht eine völlig glaubhafte und nachvollziehbare Begründung war! Auch Joey streckte sich jetzt und konnte ein dabei Gähnen nicht zurückhalten. „Jetzt wo du es so sagst, merke ich auch, dass ich ganz schön im Arsch bin.“ Ryou und Yugi nickten ebenfalls in stiller Zustimmung, sodass Tristan seine Pläne mit sichtlicher Enttäuschung begraben musste. „Okay, dann aber definitiv morgen! So ein grandioser Sieg muss doch begossen werden und ich habe keine Lust den ganzen Fusel wieder mit zurück nach Hause zu schleppen!“ Innerlich atmete Duke auf. Langsam sollte er wirklich ernsthaft über eine Drittkarriere als Schauspieler nachdenken. Mit einem entschuldigenden, hoffentlich nicht zu zufrieden aussehenden Lächeln klopfte er Tristan fest auf die Schulter: „Morgen auf jeden Fall! Versprochen!“ Während Tristan noch einmal leicht genervt mit den Augen rollte, meldete sich Yugi mit einem neuen Vorschlag zu Wort: „Ich hab’s! Wo wir doch letztens erst darüber gesprochen haben: Warum spielen wir nicht noch zwei, drei Runden Dungeon Dice Monsters?“ „Stimmt, gute Idee, Alter!“, erwiderte Joey schon wieder etwas enthusiastischer und sah zu Duke. „Hat tatsächlich ganz schön Bock gemacht, als du vorgestern gegen Kaiba gespielt hast!“ Dukes Gesicht hellte sich schlagartig auf und ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen. „Gerne doch!“ Wie hätte er dazu auch nein sagen können? Wie üblich war Seto nach dem Abendessen wieder hoch ins Zimmer gegangen, um weiter an den Entwürfen zu arbeiten. Seine Aufmerksamkeitsspanne war dabei allerdings in etwa so groß wie vor ein paar Tagen, als er krampfhaft versucht hatte, zu lesen und dabei – anders als jetzt – gerade nicht an die DDM-Duel Disk zu denken. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab, weg von den Technikplänen und hin zu der Frage, was Devlin ihm wohl später erzählen würde. Mit der Rückseite des Stiftes trommelte er selbstvergessen auf den Block vor sich und warf einen beiläufigen Blick auf seine Uhr. Vermutlich würde Devlin erst gegen zehn zurück kommen, er musste sich also noch über zweieinhalb Stunden gedulden. Wenn du jetzt spielst und gewinnst, dann erfährst du etwas über mich, das niemand anderes weiß. Devlin hätte ihm alles Mögliche anbieten können – warum ausgerechnet das? Wie war er darauf gekommen, dass es im Moment wenig gab, was ihn mehr interessierte und er deshalb kaum hätte ablehnen können? War er so durchschaubar geworden? Oder noch viel schlimmer: Ahnte Devlin etwas von seinem Zustand und nutzte das aus? Und wenn ich es nicht tue oder … verliere? Mhm, dann darf ich dir eine beliebige Frage stellen und du musst sie mir wahrheitsgemäß beantworten. Tze, aber natürlich! Frustriert ob seiner plötzlichen Erkenntnis knallte er den Stift auf das Papier und massierte sich die Stirn. Das hatte dieser langhaarige Würfelfanatiker wirklich geschickt angestellt! Ein uralter Trick: Mal gewinnt man, mal verlieren die anderen. In jedem möglichen Ausgang behielt Devlin am Ende die Kontrolle. Und er hatte es nicht bemerkt, weil Devlin ihn so durcheinandergebracht hatte mit seinen Haaren, seinen Augen, seinem verdammten Schmuck, dieser verwirrenden Nähe. Wäre Seto in diesem Fall nicht das „Opfer“ gewesen, es hätte ihm beinahe Anerkennung abgerungen. Devlin hatte es wirklich aufs Perfekteste verstanden, seine (hormonell beeinträchtigte) Klaviatur zu spielen. Das war genau die Art von Fehlern und Unaufmerksamkeiten, die er schon bei der Diagnose seines ganz und gar unerfreulichen Zustands befürchtet hatte. Andererseits… Er griff wieder nach dem Stift und tippte den Radiergummi am Stiftende nachdenklich an seine Lippen. Devlin würde etwas mit ihm teilen, das nach eigener Aussage niemand anderes von ihm wusste – demzufolge nicht einmal der Kindergarten. Es musste sich also wirklich um etwas Besonderes handeln, wurde doch in diesem äußerst kommunikativen Personenkreis sonst nahezu alles geteilt. Welchen Inhalts die Information auch immer sein mochte, sie würde ihn mit Devlin verbinden – und nur ihn. Unwillkürlich hoben sich Setos Mundwinkel ein wenig. Seine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als sich unerwartet die Tür öffnete, und Seto konnte gerade noch verhindern zusammenzuzucken. Schnell versuchte er sich wieder auf den Block und die Entwürfe zu konzentrieren und das warme, kribbelige Gefühl zu unterdrücken, das sich in seiner Brust auszubreiten begonnen hatte. Duke trat herein, ging zielstrebig zu seiner Tasche und begann darin zu kramen, sodass Seto stark vermutete, dass er nur schnell etwas holen wollte. Als Seto ganz leicht den Kopf reckte und sah, wie Duke die beiden Würfelsäckchen und das DDM-Spielbrett hervorholte, konnte er sich eine kleine Spitze nicht verkneifen: „Und wer darf heute den Erfinder besiegen?“ In Dukes Augen trat ein amüsiertes Blitzen und er zuckte lächelnd mit den Schultern. „Wir werden sehen. Solange es nicht schon wieder du bist, ist es mir fast egal.“ Genau wie Duke musste nun auch Seto unweigerlich schmunzeln. Diese kleinen Wortduelle mit Devlin machten irgendwie Spaß. Seine Überlegenheit war hier weit weniger klar als bei Wheeler und darin lag unleugbar ein gewisser Reiz. Schon wandte sich der Schwarzhaarige wieder zum Gehen, da wurde Seto noch einmal ernst und setzte in seiner gewohnten Kühle hinterher: „Denk an unsere Abmachung, Devlin! Und übrigens: Ich sehe ganz genau, was du da getan hast! Glaub’ ja nicht, dass mir so etwas nochmal passiert!“ Er hatte zwar keinen blassen Schimmer, was Kaiba damit meinte, aber das hinderte (Ego-)Duke nicht daran, sich trotzdem ein wenig geschmeichelt zu fühlen und er nahm die Bemerkung mit einem nonchalanten Grinsen zur Kenntnis. Als er schon im Begriff war, die Türklinke nach unten zu drücken, musterten ihn die blauen Augen noch ein letztes Mal eindringlich. „Ich hoffe sehr für dich, dass sich das Spiel für mich gelohnt hat, Devlin!“ Mit der größten Selbstsicherheit, die er aufbieten konnte, gab Duke nur zurück: „Keine Angst, das hat es!“ und verließ schnell das Zimmer. Keine Ahnung, ob sich das bewahrheiten würde, aber was hätte er auch anderes sagen sollen? Kaibas hohe Erwartungshaltung war, nun ja, zu erwarten gewesen. Er musste sich wirklich etwas Gutes einfallen lassen. Kein Druck, wirklich gar keiner. Aber er hatte ja noch etwa zweieinhalb Stunden. Leider gingen zweieinhalb Stunden weitaus schneller vorbei, als Duke es für möglich gehalten hätte. Sie hatten mehrere Runden DDM in verschiedenen Konstellationen gespielt – Tristan gegen Yugi, Tea gegen Joey, Yugi gegen Ryou – und Duke war vollauf damit beschäftigt gewesen, seine Freunde zu coachen und zu genießen, dass sie sichtlich Freude beim Spielen hatten. So sehr es ihn zeitweise belastete, sie (und auch Kaiba) im Unklaren über seine tatsächliche Lage lassen zu müssen, aber dieses Spiel, sein Spiel war definitiv jede Unannehmlichkeit wert. Als schließlich um kurz vor zehn Frau Kobayashi im Gemeinschaftsraum aufkreuzte, um sie auf ihre Zimmer zu scheuchen, wurde Duke mit Schrecken bewusst, dass er, anders als geplant, nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht hatte, was er Kaiba gleich „Gutes“ erzählen würde. Alles in ihm zog sich zusammen und sein Puls ging sprunghaft nach oben. Nachdem sie das Spiel vollständig eingepackt hatten, machten sie sich auf den Weg in ihre Zimmer und erst jetzt konnte Duke anfangen, das Problem zumindest im Hinterkopf zu wälzen. Zu seinem Leidwesen musste er sich aber noch zu sehr auf das Gespräch seiner Freunde und seine Umwelt konzentrieren, damit hoffentlich niemand etwas bemerkte. Auf halber Treppe zu den Zimmern kam ihnen Herr Takeda entgegen und musste stehen bleiben, um sie vorbei zu lassen. Peinlich berührt und wenig erfolgreich versuchte er, eine weitere Flasche Wein hinter seinem Rücken zu verbergen. „Gute Nacht, meine Herrschaften, sehr gut gekämpft heute!“ Er reckte seine freie Hand kurz als Faust nach oben, bevor er die Finger zu einem lockeren Winken streckte. „Schlafen Sie gut!“ Kaum waren die Freunde an ihm vorbei, eilte er mit leicht federndem Schritt die letzten Stufen nach unten. Joey sah ihm mit einem Kopfschütteln nach. „Na, die bechern wohl heute auf jeden Fall noch ein bisschen!“ „Ja, im Gegensatz zu uns!“ Tristan hatte es offenbar noch immer nicht ganz verwunden, dass heute nicht gefeiert worden war. Mit einem sanften Stoß in die Seite versuchte Duke ihn zu besänftigen, auch um seine eigenes schlechtes Gewissen zum Schweigen zu bringen: „Hey, wir sind doch dann morgen dran, schon vergessen?“ „Hm.“, knurrte Tristan, „Hauptsache, es kommt dann morgen nicht auf einmal irgendwas anderes dazwischen!“ Im ersten Stock angekommen wünschte Tea ihnen eine gute Nacht und verschwand in ihr Zimmer, während Duke und die anderen noch ein Stockwerk höher stiegen. Vor der Zimmertür der Jungs musste Duke sich auch von ihnen verabschieden und kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, begannen seine Gedanken mindestens ebenso wild los zu rasen, wie es sein Herz schon in den letzten Minuten getan hatte. Ich hoffe sehr für dich, dass sich das Spiel für mich gelohnt hat, Devlin! Noch immer hatte er keinen Plan. Für seine Ohren unnatürlich laut hallten seine Schritte in dem ansonsten leeren Flur wider, als er langsam auf ihr Zimmer zuging. Obwohl er nicht einmal seinen Hoodie anhatte, schwitzte er und seine Hand zitterte ein wenig, als er sie auf den Türgriff legte. Vielleicht, ganz vielleicht hatte Kaiba es ja in der Zwischenzeit vergessen?! Als Duke den Raum betrat, saß der Brünette bereits umgezogen, aber noch immer mit dem Dino-Block in Händen im Bett. Eilig ging Duke zu seiner Tasche und schnappte sich sein Schlaf-Shirt, da sah Kaiba kurz von dem Block auf. „Also? Bekomme ich jetzt endlich meine Belohnung dafür, dass ich diese absolut anspruchslosen Schachpartien erduldet habe?“ Die wachsende Ungeduld in seiner Stimme war kaum zu überhören. Da ging sie hin, die winzige, vollkommen irrationale Hoffnung, Kaiba könnte ihre Abmachung vergessen haben. Als könnte er sich dadurch auch selbst überzeugen, versuchte Duke cool zu bleiben und zwang sich zu einem gewohnt offensiven Grinsen. „Oh, dein enormes Leid soll natürlich nicht umsonst gewesen sein! Mein Einsatz kommt sofort. Gib mir nur noch einen Moment!“ Mit diesen Worten flüchtete er ins Badezimmer; vordergründig, um sich umzuziehen und bettfertig zu machen, aber nicht zuletzt auch, um sich noch etwas Zeit zu verschaffen. Nachdem er den ersten Punkt schnell erledigt hatte, tigerte er beim Zähneputzen rastlos in dem kleinen Raum auf und ab. So langsam musste wirklich, wirklich eine Entscheidung her, was er Kaiba gleich erzählen sollte! Was wusste bisher niemand von ihm? Im Kopf spulte er im Schnelldurchlauf sein bisheriges Leben ab. Dinge aus der Kindheit lagen natürlich nahe, bevorzugt noch aus seiner Zeit in Amerika, denn da hatte ihn ja hier noch niemand gekannt und er hatte mit seinen Freunden nie ausführlicher darüber gesprochen. Aber würde es Kaiba wirklich interessieren, dass er Klavier spielen gelernt, die japanisch angehauchten American Pancakes seiner Mum geliebt und mit sieben sein erstes eigenes Brettspiel entwickelt hatte? Nein, der Mehrwert dieser Informationen hielt sich dann doch in Grenzen, davon hatte Kaiba nichts. Es musste schon etwas mehr her, etwas, das eine gewisse Fallhöhe hatte. Die Wahrheit musste bei ‚Wahrheit oder Pflicht’ nun mal auch ein bisschen weh tun. Aber das grenzte die Auswahl natürlich sehr viel stärker ein. Wären da nicht diese verfluchten Gefühle, hätte er Kaiba einfach offenbaren können, dass er auch auf Männer stand. Zack, Problem gelöst! Aber unter den aktuellen Bedingungen schied diese Option leider aus. Irgendetwas anderes aus diesem Bereich? Sein erstes Mal vielleicht? Nein, für ein erstes Mal war das eigentlich ziemlich gut gelaufen. Irgendeine andere derartige Begegnung, die er bereute? Gab es nicht. Und davon mal ganz abgesehen war Kaiba vermutlich ohnehin nicht der Typ für die schmuddeligen Themen. Nachdem er den Mund ausgespült und die Zahnbürste wieder verstaut hatte, wühlte Duke geistesabwesend in seinem Kulturbeutel nach der Haarbürste. Kaum war sie gefunden, löste er seinen Zopf, legte das Haargummi auf den Fliesenabsatz über dem Waschbecken und begann sich zu kämmen. Was gab es denn noch über ihn zu wissen, verdammt noch eins?! Und wie schaffte er es eigentlich immer wieder sich in solche Situationen hinein zu reiten? Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm, als er mit einem kurzen Kopfschütteln dem jungen Mann in die Augen sah, der ihm mit seinen langen, schwarzen Haaren und ungeschminktem Gesicht aus dem Spiegel entgegen blickte. Er hielt in seiner Bewegung inne. Das war mit absoluter Sicherheit etwas, das wirklich niemand von ihm wusste. Und so langsam gingen ihm die Ideen aus. Er schluckte. Sollte ausgerechnet Kaiba der erste andere Mensch sein, der ihn so sehen würde, seit … Mein Gott, Junge, mach dir doch wenigstens einen Zopf! Du siehst aus wie sie! Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich an. So nahe hatte er noch nie jemanden an sich herangelassen. Weder seine langjährigen Kollegen, noch seine Freunde und auch Max nicht, seinen mittlerweile fast ein wenig väterlichen Vertrauten und Förderer. Der kannte zwar vermutlich ein paar der Hintergründe, aber definitiv nicht alle Fakten, denn darüber gesprochen hatten sie nie. Sollte, nein, konnte er das wirklich tun? Oder würde er in sich zusammenfallen wie ein schlecht gebautes Kartenhaus? Sein Atem zitterte. Sein Herz bebte. Was wäre die Alternative? Raus spazieren, das Ganze abblasen und Kaiba gegenüber sein Gesicht verlieren? Ganz sicher nicht! Ihm etwas Irrelevantes oder Erfundenes auftischen? Instinktiv schüttelte Duke den Kopf. Nein, auch keine gute Idee. Ein einziger durchdringender Blick aus den viel zu blauen Augen und er würde sofort auffliegen. Und für immer hier im Badezimmer zu bleiben, war leider ebenfalls keine wirkliche Option. Haben … sie dich eigentlich gefragt, was heute wirklich los war? Hatte er nicht erst gestern erlebt, dass auch Kaiba irgendwie verwundbar sein konnte? Ausgehend von dem, was Duke über seine Vergangenheit wusste oder zumindest erahnen konnte, hatte der Brünette vermutlich sein eigenes, nicht eben kleines Päckchen zu tragen. Wenn ihn also jemand verstehen können sollte, dann doch wohl Kaiba, oder? Noch einmal starrte er sein Spiegelbild mehrere Sekunden lang unverwandt an, dann stopfte er die Bürste mit einer gewissen Endgültigkeit wieder in seine Waschtasche zurück. In ihrem gewohnten Automatismus wanderte seine Hand sofort zu dem Haargummi, doch noch in der Bewegung stoppte er sich. Seine Eingeweide krampften sich spürbar zusammen, sein ganzes Inneres rebellierte, so unangenehm, so falsch fühlte es sich an, sich nicht die Haare zusammen zu binden und den Kajalstrich neu zu ziehen, in dem vollen Bewusstsein, dass er gleich einem anderen Menschen unter die Augen treten würde. Erst nach dem dritten, tiefen Atemzug hatte er das Gefühl, dass sein Puls wieder einigermaßen unter Kontrolle war. Rasch löschte er das Licht im Badezimmer – nicht, dass er es sich doch noch einmal anders überlegte – und trat so wie er war hinaus. Kaiba war noch immer vollauf in die Entwürfe vertieft und nahm keinerlei Notiz von ihm. Wortlos schlüpfte Duke halb unter die Bettdecke und stützte den Kopf auf die Hand. Nur das spärliche Licht von Kaibas Nachttischlampe erhellte den Raum und rief Duke noch einmal die ungewohnte Nähe und Privatheit ihrer Situation ins Bewusstsein. Erwartungsvoll sah er seinen Bettnachbarn an und versuchte seinen Atem dabei weiterhin möglichst ruhig zu halten. Erst nach mehreren Sekunden registrierte Kaiba aus dem Augenwinkel seine Anwesenheit und legte endlich den Block beiseite. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Augen des Brünetten weiteten sich sichtlich überrascht, als er sich Duke zuwandte, was diesem ein zufriedenes Schmunzeln entlockte. Der Effekt hatte zumindest schon mal Wirkung gezeigt. Noch einmal kratzte Duke sein gesamtes Selbstbewusstsein zusammen und deutete mit einem vorsichtigen Lächeln auf seinen Kopf. „Hiermit präsentiere ich feierlich die Sensation, die tatsächlich noch nie jemand vor dir gesehen hat – ausgenommen meine Eltern vielleicht. Das bin ich. Einfach so. Ohne Makeup, ohne Frisur, ohne Schnickschnack.“ Während er darum kämpfte, nach außen weiterhin vollkommen locker zu wirken, hämmerte sein Herz von innen beinahe gewaltsam gegen seinen Brustkorb – umso mehr, da die blauen Augen seines Gegenübers ihn noch immer leicht ungläubig und so durchdringend wie nie zuvor musterten. Schließlich hielt Duke das andauernde Schweigen nicht mehr aus. „Also, was sagst du?“ Ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von dem Schwarzhaarigen abzuwenden, atmete Seto einmal hörbar tief ein und aus. Mit dieser Art von Enthüllung hatte er absolut nicht gerechnet. Musste er unbedingt etwas dazu sagen? Konnte er das … alles nicht einfach noch für eine Weile weiter in sich aufnehmen? Die langen schwarzen Haare, die Duke in sanften Wellen über die Schultern fielen, seine unheimlich intensiven grünen Augen, die auch ohne den Kajalstrich absolut einnehmend waren, die längliche Narbe unter dem linken Auge, die erst beim näheren Hinsehen auffiel. Wirklich niemand anderes hatte Devlin bis jetzt so gesehen? ‚Gut so!’, war Setos erster bewusster Gedanke dazu und es kostete ihn einiges an Willensstärke, einen sofortigen und im Vergleich zu gestern wesentlich extremeren Totalausfall zu verhindern. Nach einigen weiteren Sekunden aufgeladener Stille rang Seto sich endlich zu einer verbalen Antwort durch, auch weil der Schwarzhaarige ihn mittlerweile zunehmend verunsichert ansah. Er musste sich kurz räuspern, um seine Stimme wiederzufinden und stellte bemüht nüchtern fest: „Sieht auf jeden Fall besser aus als mit dem Geschmier. Wesentlich ernstzunehmender. Ich nehme an, du machst das wegen der Narbe?“ Unwillkürlich zuckte Duke kurz zusammen, schüttelte seinen reflexhaften Schreck aber sogleich wieder ab. Logisch, dass Kaiba die Narbe gesehen hatte, er war ja nicht geschminkt – das war doch der ganze Punkt der Aktion gewesen! Er sollte lieber froh sein, dass Kaiba nicht nach den Haaren gefragt hatte, aber verständlicherweise war wohl für Außenstehende die Tatsache, dass er als Mann Makeup trug, um einiges auffälliger, als dass seine Haare immer zusammengebunden waren. Duke öffnete schon den Mund für eine Antwort, brachte dann aber kein Wort über seine Lippen, sondern nickte nur. Der intensive Blick des Älteren bohrte sich noch immer viel zu tief in sein Inneres. Schließlich konnte Duke ihm nicht mehr länger standhalten, drehte sich auf den Rücken und sah stattdessen an die Zimmerdecke. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Kaiba auf der anderen Seite sich ebenfalls hinlegte und den Blick genau wie er zur Decke richtete, so als gäbe es dort oben für sie beide irgendetwas Interessantes zu sehen. Im Unterschied zu vorhin war Duke in diesem Moment tatsächlich dankbar für die Stille, denn noch immer waren seine Eingeweide regelrecht zusammengeschrumpft und sein Herz hatte keinerlei Anstalten gemacht sich zu beruhigen. Die schiere Intensität der Situation hatte ihn kälter erwischt als gedacht. War das Ganze doch ein Fehler gewesen und er gar nicht bereit dafür? So oder so, für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Endlich brach er mit einem tiefen Seufzen erneut das Schweigen; immerhin hatte er Kaiba ja auch ein paar Informationen versprochen. „Ich hab sie von meinem Vater.“ Umgehend drehte der Brünette den Kopf und sah aufmerksam zu ihm hinüber; Duke jedoch starrte weiter ausweichend an die Decke – ihm würde sonst wieder die Stimme versagen, das wusste er – und holte zögerlich zu einer ausführlicheren Erklärung aus: „Es war vor etwas mehr als drei Jahren. Kurz danach bin ich dann auch hierher nach Japan abgehauen. Nachdem meine Mutter …“ Er stockte und knetete fahrig die Bettdecke zwischen seinen Händen. Zu lange hatte er es nicht mehr laut ausgesprochen und die Gefühle und Erinnerungen drängten mit Macht zurück in sein Bewusstsein. „Duke, mein Schatz, kommst du bitte mal runter ins Wohnzimmer? Dein Vater und ich, wir… müssen mit dir reden.“ Alarmiert und mit klopfendem Herzen kam er der Aufforderung seiner Mutter nach und stieg die Treppen hinunter. Wie er von einigen Klassenkameraden wusste, deren Eltern sich hatten scheiden lassen, bedeuteten Sätze wie diese selten etwas Gutes. „Setz dich, mein Sohn!“, forderte sein Vater ihn auf und wies auf das Sofa. Duke gehorchte, während seine Mutter sich im Sessel gegenüber niederließ und etwas näher zu ihm rückte. Sein Vater blieb unruhig hinter ihr stehen. Irritiert beobachtete Duke, wie er seufzte, sich die Stirn massierte und dabei seine Augen abschirmte. So hatte er ihn noch nie gesehen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Schließlich atmete auch seine Mutter einmal tief durch, beugte sich noch etwas weiter vor und legte ihm vorsichtig die Hand auf das Knie. Ihre sanften, grünen Augen blickten ihn ernst an. „Wie du ja weißt, waren wir – das heißt eigentlich ich – vor ein paar Tagen im Krankenhaus, weil es mir in den letzten Wochen nicht so gut ging.“ Dukes Augenbrauen zogen sich sorgenvoll zusammen und er nickte. „Aber du hast gesagt, es ist bestimmt nichts weiter.“ Sie schluckte und schloss kurz die Augen, ihr Kinn begann leicht zu zittern und für einen Augenblick musste sie sich abwenden. Liebevoll legte ihr sein Vater die Hand auf die Schulter. Das schien ihr die nötige Kraft zu geben, sich wieder zu sammeln und mit brüchiger Stimme weiter zu sprechen. „Ich bin sehr krank, mein Schatz.“ Blaue Augen sahen Duke erwartungsvoll an und obwohl er spüren konnte, dass kein Drängen darin lag, brachte es ihn schließlich doch dazu sich zu überwinden und fortzufahren: „Meine Mutter, sie … ist gestorben, als ich zehn war. In den Jahren nach ihrem Tod … hat mein Vater sich sehr verändert und ist persönlich und dann bald auch geschäftlich immer weiter abgerutscht. Irgendwann stand er ziemlich mit dem Rücken zur Wand und brauchte dringend ein paar Erfolge. An diesem Punkt war ihm praktisch jedes Mittel recht und er wollte auch meine Ideen für sich verwenden. Ich war damit aber alles andere als einverstanden und hatte kein Problem das auch zu sagen, wenn das Gespräch darauf kam. An einem Abend hatten wir … einen besonders hässlichen Streit. Er hatte schon ziemlich viel getrunken und sein Whiskyglas noch in der Hand. Ich war zu dem Zeitpunkt zwar schon einiges gewöhnt, aber so wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Auf einmal gab es so ein knirschendes Geräusch und das Glas in seiner Hand war zersplittert. Als er dann … zugeschlagen hat, waren noch ein paar Splitter in seiner Hand. Ich kann von Glück reden, dass es nicht das Auge erwischt hat, sondern nur diese Narbe dabei herauskam.“ Duke wandte seinen Kopf nun doch leicht rechts, um Kaibas Reaktion sehen zu können; dessen Gesichtsausdruck war jedoch nicht zu deuten. Mit wiedergefundenem Mut drehte Duke sich zurück auf die Seite, um sich von Neuem den blauen Augen seines Gegenübers zu stellen. Jetzt, wo es einmal raus war, war es zumindest ein wenig leichter. „Seitdem die Wunde einigermaßen verheilt ist, überschminke ich sie. Es hilft mir, die Distanz zu wahren, das Ganze von mir fernzuhalten. Flucht nach vorn, wenn du so willst. Ich hatte auch keine Lust auf ständige Fragen, wo diese dämliche Narbe herkommt, das … würde ich wahrscheinlich nicht aushalten. So bin ich eben nur der gutaussehende Typ mit dem Kajalstrich und dem Würfel im Ohr, das hat komischerweise noch nie jemand hinterfragt.“ „Und bescheiden nicht zu vergessen…“, warf der Brünette leise mit einem minimalen Schmunzeln ein. Darauf musste Duke unweigerlich kichern, und das, obwohl einem signifikanten Teil von ihm eher zum Heulen zumute war. Dann zuckte er mit den Schultern und seufzte. „Dieses Erlebnis und mein Vater sollen keine Macht über mich haben. Ich … will das einfach nur vergessen.“ Das Kissen raschelte leise, als der Brünette nur bedächtig mit dem Kopf schüttelte. „Was?“ Duke konnte seine Irritation nicht verbergen. Seine innere Unruhe stieg sofort wieder an, als Kaiba sich ebenfalls auf die Seite drehte und damit automatisch den Abstand zwischen ihnen weiter verringerte. Der durchdringende Blick des Brünetten steigerte die Beklommenheit nur noch, denn wieder war es, als könne Kaiba in ihm lesen, wie in einem offenen Buch. „Nimm es mir nicht übel, Devlin, aber das ist absoluter Blödsinn!“ Erstaunt wanderten Dukes Augenbrauen nach oben. Normalerweise war Kaibas Direktheit etwas, das Duke durchaus schätzte, aber jetzt und hier kam sie in seinen Augen einer absoluten Anmaßung gleich. Entsprechend frostig fiel seine Antwort aus. „Lass mich raten, du wirst mir sicherlich auch gleich erläutern, wie du zu diesem, ich möchte mal sagen, überraschenden Urteil kommst.“ Anscheinend war es tatsächlich ein Fehler gewesen, sich ausgerechnet Kaiba so zu offenbaren. Was genau hatte er sich davon eigentlich erhofft?! Der Brünette atmete einmal gedehnt aus und begann mit ruhiger Stimme und der ihm eigenen Selbstverständlichkeit zu erklären: „Ganz einfach: Diese Narbe ist offensichtlich ein Teil deiner Vergangenheit, wenn auch ein schmerzhafter. Aber sie gehört zu dir, sie hat dich zu dem gemacht, der du heute bist. Anstatt das zu akzeptieren, mit ihr zu leben und damit das Thema wirklich abzuschließen, versteckst du sie. Damit lässt du überhaupt nichts hinter dir. Im Gegenteil, du lässt dich jeden Tag aufs neue von ihr und damit auch von deinem Vater einschränken. Mit diesem kleinen, schwarzen Strich“, er deutete auf Dukes Auge, „gibst du ihm immer neue Macht über dich und dein Leben. Im Grunde spielst du ihm nur in die Hände.“ Duke wich seinem Blick aus, nahm einen tiefen Atemzug und dachte einen Moment über das Gehörte nach. Schließlich nickte er langsam. „Hm, so hab ich das noch nie betrachtet.“ Das war definitiv eine neue Sichtweise auf die Dinge. Fragen begannen in seinem Kopf umherzuschwirren und er konnte sich kaum entscheiden, welche er zuerst stellen sollte. „Mal angenommen, ich würde den Kajal tatsächlich weglassen: Dann muss ich doch aber ständig erklären, was das für eine Narbe ist.“ Der Brünette rollte nur mit den Augen und schnaubte verächtlich. „Du musst gar nichts! Die anderen sind doch völlig egal; das geht niemanden etwas an! Ja, vielleicht wundern sich die Leute kurz und mit Sicherheit wird die Frage aufkommen, aber am Ende hast ganz allein du die Macht, zu entscheiden, ob und wie du antwortest. Und irgendwann, wenn das Thema nicht mehr neu genug ist oder die Leute verstanden haben, dass sie keine ernsthafte Antwort erhalten werden, hören sie auch auf zu fragen.“ „Sprichst du aus Erfahrung?“ Die Frage war ganz von allein über Dukes Lippen gekommen. Für einen Moment hing Stille im Raum, bevor Kaiba leicht schmunzelnd mit einer Gegenfrage antwortete: „Was glaubst du?“ Ein vorsichtiges Lächeln stahl sich nun auch auf Dukes Lippen. „Ich glaube, ja.“ Der Brünette nickte nur bedächtig, sagte aber nichts weiter dazu, sondern wechselte abrupt das Thema. „Warum ich?“ Wieder fühlte Duke sich merkwürdig ertappt. „Hm?“ „Warum ich? Warum hast du das ausgerechnet mir gezeigt?“ Diese Frage hatte Seto schon die ganze Zeit beschäftigt und er war unsicher gewesen, ob er sie stellen sollte oder nicht. Doch wie er es auch drehte und wendete, es führte kein Weg daran vorbei. Er musste es einfach wissen. Von all den anderen Menschen in Devlins Bekanntenkreis, mit denen er zum Teil sogar eng befreundet war, hatte er sich entschieden, sich ausgerechnet ihm so zu offenbaren. Seto wagte es kaum, die möglichen Implikationen in Betracht zu ziehen. Das nervöse Flattern in seiner Magengegend, das ihn schon die ganze Zeit unterschwellig begleitet hatte, drängte sich einmal mehr machtvoll in sein Bewusstsein, während er voller Spannung die Antwort des Schwarzhaarigen erwartete. Duke blickte kurz zur Seite, biss sich auf die Unterlippe und raschelte nervös mit den Füßen unter der Decke. Ein kühler Windstoß zog durch das angekippte Fenster und sorgte dafür, dass sich die Härchen auf seinem Unterarm aufstellten. Auch wenn man sie eigentlich hätte erwarten können, hatte er mit dieser Frage nicht gerechnet. Sein Herz raste. Was, wie viel konnte er sagen, ohne sich zu verraten? Schließlich sah er den Brünetten wieder an und zwang sich zu einer leisen Antwort, die – so gut es eben ging – der Wahrheit entsprach: „Ich … weiß nicht genau. Weil ich wollte. Weil ich das Gefühl hatte, dass du das irgendwie … verstehen kannst. Besser als die anderen.“ Seto schluckte und erwiderte nichts, sondern sah den Schwarzhaarigen einfach weiter an, während die Worte wie Echos in seinem Innern nachhallten. Weil ich wollte. Er hatte Mühe, seinen Atem ruhig zu halten und ihm war, als müsste sein Herz jeden Augenblick seinen Brustkorb durchstoßen. Duke konnte die ungewohnte Röte förmlich fühlen, die auf seine Wangen trat. Warum sagte Kaiba gar nichts? Hatte er jetzt etwa doch zu viel gesagt? Oder eher zu wenig? Mit einem verlegenen Lächeln schüttelte er den Kopf. „Lächerlich und bescheuert, ich weiß.“ Für einen kurzen Moment drehte er sein Gesicht in das Kissen, um dem unverwandten Blick seines Gegenübers erneut zu entkommen. Als der Schwarzhaarige den Blick wieder hob, fielen ein paar dünne Haarsträhnen in sein Gesicht; er schien sie jedoch – anders als Seto – gar nicht zu bemerken. Noch ehe er es hinterfragen oder sich stoppen konnte, glitten Setos Finger einem jahrelang eingeübten Reflex folgend wie von selbst über Dukes Stirn und strichen die verirrten schwarzen Strähnen vorsichtig beiseite. „Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht!“ Kaum hörte er seine eigene Stimme leise diesen sanften Tadel aussprechen, wurde ihm schlagartig bewusst, dass er gerade eine Grenze übertreten hatte. Seine Augen weiteten sich und er fror von einer Sekunde auf die andere regelrecht ein. „Ich … es tut …“, setzte er schon zu einer äußerst artikulierten Entschuldigung an und wollte gerade seine Hand wegziehen, aber zu seiner Überraschung wurde sie noch in der Luft festgehalten. Setos Atem stockte und sein Blick wurde von grünen Augen gefesselt, die ihn ansahen, als wüsste ihr Besitzer selbst nicht ganz, wie es nun weitergehen sollte. Ganz langsam führte Duke Setos Hand wieder zurück zu seinen Haaren, die zwar ebenso schwarz waren, sich aber so viel weicher und glatter anfühlten als Mokubas unbändige Strubbelmähne. Bedächtig wurde sie weiter nach unten geleitet, zu Dukes Hals, wo er dessen Wärme und für einen kurzen Moment auch dessen Puls fühlen konnte – ebenso unregelmäßig und schnell, wie sein eigener – und von dort weiter nach hinten in Dukes Nacken, wo sich die feinen Härchen durch die Berührung aufrichteten. Vorsichtig ließ der Schwarzhaarige Setos Hand los und überließ sie wieder sich selbst. Überdeutlich spürte Seto, wie Dukes Finger dabei sanft sein Handgelenk und seinen Unterarm hinab strichen und auf jedem Zentimeter eine Gänsehaut hinterließen. Noch immer konnte er kaum atmen, sein Herz schlug rasend schnell und beinahe im wahrsten Sinne des Wortes bis zu seinem Hals – so sehr, dass er glaubte, jeden Moment daran zu ersticken. Die grünen Augen seines Gegenübers hielten seinen Blick unerbittlich gefangen und er sah sich nicht mehr in der Lage irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Ganz von allein und ohne sein bewusstes Zutun vergruben sich seine Finger noch einmal in den pechschwarzen Haaren und Seto nahm erneut das wunderbar fließende, seidige Gefühl an seinen Fingerspitzen wahr. Vorsichtig strich er über die warme, zarte Haut von Dukes Hals wieder nach vorne und mit der Außenseite seiner Finger nach oben über die Wange des Schwarzhaarigen. Behutsam zeichnete er schließlich mit dem Daumen die dünne Narbe unter Dukes Auge nach, der dabei hörbar die Luft anhielt, kurz die Augen schloss und beinahe unmerklich lächelte. Was folgte, brannte sich nur bruchstückhaft, aber dafür umso deutlicher in Setos Erinnerung ein. Das leise Rascheln der Decke, als der Schwarzhaarige die verbliebenen Zentimeter zwischen ihnen überwand. Weiche Lippen, die sich vorsichtig und tastend auf seine eigenen legten. Seine Überraschung und der unmittelbare Impuls, den federleichten Kuss ebenso sanft zu erwidern. Ihr kurzes Innehalten, Dukes heißer Atem an seinen Lippen und das Gefühl, als würde etwas in ihm explodieren. Ein zweiter Kuss, länger, intensiver. Dukes Zunge, die beinahe zärtlich über seine Lippen strich und der er Einlass gewährte. Erregung, die sich in seinem Körper ausbreitete. Und dazwischen immer wieder diese tiefgrünen Augen, trunken von Verlangen wie seine eigenen. Mit seinem letzten Funken bewusster Wahrnehmung erkannte Seto, dass er gerade dabei war, kampflos die Führung abzugeben. Sofort ergriff er selbst die Initiative und erkundete mit der Zunge nun seinerseits Dukes Mund. Doch der Schwarzhaarige war äußerst hartnäckig und Seto spürte deutlich das leicht belustigte Zucken von Dukes Mundwinkeln an seinen Lippen, als er schon nach nur wenigen Sekunden versuchte, den Spieß wieder umzudrehen. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte Seto so stark um die Oberhand und Kontrolle ringen müssen und es gleichzeitig so sehr genossen, sich einfach fallen zu lassen. Ein wohliger Schauer überlief ihn, als Dukes Hand auch durch seine Haare strich, danach fordernd seinen Hals hinabwanderte und sich schließlich fest und voller Leidenschaft in seine Schulter drückte. Schwer atmend unterbrach der Schwarzhaarige den Kuss – eine Sekunde, zwei, viel zu viele – und strampelte hastig seine Decke beiseite. Seto schaltete sofort, hob seine Decke leicht an und ließ ihn zu sich. Seine linke Hand legte sich in Dukes Nacken und zog ihn noch enger an sich, jetzt wo es keinerlei störendes Hindernis mehr zwischen ihnen gab. Die Wärme des fremden Körpers so nahe an seinem benebelte seine Sinne noch mehr und umgehend suchten seine Lippen wieder die des Schwarzhaarigen, so als würde er nur dadurch noch am Leben gehalten. Dankbar nutzte Seto den erweiterten Handlungsspielraum und erkundete mit der rechten Hand Dukes Oberkörper, der ihm schon heute Morgen durch das hellgraue T-Shirt so verlockend erschienen war und bedauerlicherweise noch immer von ebendiesem verborgen wurde. An Dukes Hüfte angekommen fanden seine Finger wie von selbst den Weg unter den weichen Stoff, um endlich die Haut darunter direkt zu spüren. Als seine Finger sich zum ersten Mal sanft über Dukes Bauch tasteten, entwich dem Schwarzhaarigen ein leises Keuchen und Seto gab sich vollends der schieren Macht seiner Erregung und seiner Gefühle hin. Duke hatte keinen blassen Schimmer, was hier gerade passierte und es war ihm auch vollkommen egal – Hauptsache, es hörte nicht auf! Endlich keine Masken mehr, keine Fassaden, nichts verstecken, nichts hinterfragen. Als er fühlen konnte, wie Setos Hände sein T-Shirt immer weiter nach oben schoben, während sie Zentimeter um Zentimeter seinen Oberkörper erforschten, richtete er sich kurz auf, zog sich das T-Shirt hektisch über den Kopf und schmiss es achtlos hinter sich. Zurück in der Umarmung des Brünetten nahm er ihren Kuss jedoch nicht sofort wieder auf, sondern versank einen Moment lang in den blauen Augen seines Gegenübers. Wie ein Tsunami überschwemmte ihn eine ungeahnte Wärme und sanft strich er noch einmal durch Setos haselnussbraunes Haar. Ein verzücktes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Genauso wunderbar weich, wie er es sich die ganze Zeit vorgestellt hatte. Seine Erregung drängte sich nun jedoch ebenfalls zunehmend in sein Bewusstsein und voller Ungeduld machte er sich auch an Setos Oberteil zu schaffen. Der Brünette verstand den Wink mühelos, streifte das Shirt ab und warf es beiseite. Neugierig erkundeten Dukes Hände Setos Brust und Bauch, zeichneten sanft die Linien der Muskeln nach, bevor er sich auf den Rücken rollte und den Brünetten halb mit sich zog, um ihn ganz mit seinen Armen umfangen zu können. Seine Finger krallten sich regelrecht in Setos Rücken, als der Brünette die Gelegenheit nutzte, um von seinen Lippen abzulassen und sich mit leidenschaftlichen Küssen über seine Wange, sein Kinn und dann seinen Hals hinab bis zu seinem Schlüsselbein zu arbeiten. Wieder entfuhr Duke ein kurzes Keuchen, als Setos Hände dabei an seinen Flanken entlang nach unten wanderten und schließlich auf seinen Hüften verharrten, quälend nah am Bund seiner Boxershorts. Duke schloss die Augen, biss sich auf die Unterlippe und genoss die fordernden Berührungen und Küsse, die so anders waren als die zärtlich-verschüchterten der Mädchen, mit denen er bis jetzt im Bett gewesen war. Der Brünette schob sich wieder nach oben, nahm einmal mehr seine Lippen in Besitz und zog ihn schwungvoll mit sich zurück auf die Seite. Berauscht von heißem Verlangen presste Duke sich noch enger an ihn und bewegte zum ersten Mal ganz bewusst seine Hüfte gegen die Härte in Setos Schritt. Erstickt stöhnte der Brünette in ihren Kuss hinein und es brachte Duke beinahe um den Verstand. Mit einem Mal polterte es laut auf dem Flur. Gedämpft drang die leicht lallende Stimme von Frau Kobayashi durch die Tür: „Huch, Takeda-san, Sie sind aber stürmisch!“ Die Antwort des Lehrers blieb unverständlich. „Also Takeda-san, Sie sind mir ja Einer! Na, wenn das so ist, sollten wir erstmal wieder aufstehen und in mein Zimmer gehen, bevor wir noch die Schüler wecken. Dann sind wir ganz ungestört, wenn wir …“ Auch Frau Kobayashis Stimme wurde immer leiser und entfernte sich, bis man schließlich irgendwo am anderen Ende des Gangs das Zuschlagen einer Tür hörte. Ein Bulldozer hatte die Wand ihres Zimmers eingerissen und ein riesiger Scheinwerfer war auf sie gerichtet. So in etwa kam es Duke zumindest vor, als er durch die Worte und lauten Geräusche brutal aus seinem Gefühlsrausch zurück in die Realität gerissen wurde. Noch immer konnte er den schweren, heißen Atem des Brünetten auf seiner Haut spüren, lagen sie doch nach wie vor halbnackt und eng umschlungen unter derselben Decke. Konnten sie noch vor ein paar Sekunden ihre Blicke kaum voneinander lösen, brachte Duke es nun kaum mehr über sich den Brünetten auch nur anzusehen, der seinen Blick ebenfalls krampfhaft gesenkt hielt. Weiterzumachen, wo sie unterbrochen worden waren, war keine Option. Der Moment – ihr Moment – war unwiederbringlich vorüber. Reden, geschweige denn darüber reden, war mindestens genauso unmöglich, mal ganz davon abgesehen, dass vermutlich keiner von ihnen zu sinnvollen Äußerungen überhaupt in der Lage gewesen wäre. Was auch immer hier gerade passiert war, hatte sich verselbstständigt und war irgendwie … eskaliert. Duke schluckte und brachte es als Erster über sich, das peinliche Schweigen zu durchbrechen. „Wir sollten … langsam schlafen, glaube ich.“ Seto nickte nur mechanisch. Die unangenehme Stille hing weiterhin fast greifbar im Raum, während sie sich überstürzt voneinander lösten und Duke unter seine eigene Decke zurückkehrte. Als hätten sie sich aneinander verbrannt, vergrößerten sowohl Duke als auch Seto merklich ihren Abstand zueinander. Das Knipsen von Setos Nachttischlampe und die Dunkelheit, die sich daraufhin im Raum ausbreitete, hatten beinahe etwas Erlösendes. Kapitel 20: Fight or flight? (Or what?) --------------------------------------- Duke hatte fast das Gefühl, er könne durch die Dunkelheit und beinahe unnatürliche Stille sein Herz schlagen hören. So starr und bewegungslos wie möglich lag er unter seiner Decke und spürte, wie die Hitze der Erregung aus seinem Körper wich und die Härte in seinem Schritt nur quälend langsam zurückging. Auch seine Atmung kam immer mehr zur Ruhe, ganz im Gegensatz zu seinem Kopf, in dem Fragen wirr und zusammenhanglos umher rasten, auf der verzweifelten Suche nach Antworten, die er (noch) nicht geben konnte. Antworten darauf, was gerade eigentlich passiert war, was das bedeutete, für ihn, für Kaiba, für sie, wie er Kaiba jetzt begegnen sollte und wie es weitergehen würde. Könnte? Sollte?! Ob es weitergehen würde. (Könnte? Sollte?) Ob er überhaupt wollte, dass es weitergehen würde. (Könnte? Sollte?) … Wann er endlich der geistigen und körperlichen Erschöpfung erlegen und über seinen kreisenden Gedanken eingeschlafen war, wusste er im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Nur, dass das Klimpergeräusch von Kaibas Wecker viel zu früh an seine Ohren drang. Er drehte sich noch einmal auf die rechte Seite und wollte gerade vorsichtig die Augen öffnen, da spürte er die Bewegung auf der anderen Seite des Bettes und augenblicklich überschwemmten ihn die Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Nacht, die der Schlaf ihn für kurze Zeit so gnädig hatte vergessen lassen. Um den Eindruck zu erwecken, als würde er noch schlafen, ließ er die Augen geschlossen, konnte sich jedoch nicht zurückhalten, hin und wieder kurz zu blinzeln. Kaiba stand mit dem Rücken zu ihm vor seinem Koffer, in der Hand zusammengeknüllt das T-Shirt, das er gestern Abend angehabt hatte. Ursprünglich. Bevor Duke angefangen hatte, es von seinem Körper zu schieben, die nackte Haut freizulegen und zu berühren … schnell stoppte er den unvermeidlichen Strom seiner Gedanken und öffnete die Augen, in der Hoffnung, dass die sichtbare Realität die Bilder zumindest für den Moment verdrängen würde. Vergeblich, denn so sah er gerade noch, wie der Brünette sich ins Bad aufmachte: mit nacktem Oberkörper und unordentlichen Haaren, deren duftende Weichheit Duke sofort wieder an seinen Fingern fühlen konnte. Kaum war die Badtür abgeschlossen worden, drehte Duke sich auf den Rücken, entließ einen tiefen Seufzer und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Erschrocken hielt er mitten in der Bewegung inne, in der reflexhaften Angst, gerade seinen Kajal verwischt zu haben, bevor ihm wieder einfiel, dass er ja gerade gar keinen trug. Damit lässt du überhaupt nichts hinter dir. Gott! Wie viel Stoff zum Nachdenken konnte einem ein einziger Abend eigentlich geben? Am liebsten wollte er seinen Kopf sofort zum Schweigen bringen oder sich in einen leeren Raum einsperren, wo ihn niemand stören, ablenken, vollquatschen, auf einen Ausflug schleifen oder völlig unerwartet berühren würde, um sich in Ruhe zu sortieren. Da beides leider Gottes nicht möglich sein würde, zwang er sich schließlich mit einem neuerlichen Seufzen dazu aufzustehen. Seine offenen Haare kitzelten leicht seine bloßen Schultern, als er sich aufsetzte, und sein Blick fiel auf sein eigenes T-Shirt, das zwischen dem Bett und seiner Tasche auf dem Boden lag. Wo er es gestern hingeworfen hatte, nachdem Kaiba … argh! Er streckte sich ein wenig, um es aufzuheben, und starrte das Kleidungsstück in seinen Händen noch ein paar Sekunden lang gedankenverloren an, bevor er sich leicht widerstrebend erhob und aus seiner Tasche die Klamotten für den heutigen Tag heraussuchte. Beim Zähneputzen betrachtete Seto sein Gesicht im Spiegel etwas genauer, nur um festzustellen, dass man ihm zumindest ansatzweise ansehen konnte, wie spät und unruhig er geschlafen hatte. Aber war das ein Wunder, nach allem, was gestern Abend passiert war? Den überraschenden Enthüllungen, seinem kurzen Aussetzer und … allem danach. Sofort setzte er dem Strom der Erinnerungen ein Ende, beugte sich übers Waschbecken, spuckte und spülte den Mund aus. Danach entkleidete er sich, nahm seine Waschutensilien und ging unter die Dusche. Warum konnte man das alles nicht einfach abspülen und alles wäre wieder wie vorher? Nicht so kompliziert, so seltsam, so unangenehm. Diese Ratlosigkeit und Unsicherheit waren einfach unerträglich. Er stellte das Wasser ab und griff zum Duschgel, um sich einzuseifen. Routiniert glitten seine Hände über seinen Oberkörper, seine Arme, seine Schultern und schickten seine Gedanken wie von selbst erneut auf Reisen. Auf einmal waren es nicht mehr seine eigenen, sondern Dukes Hände, die ihn berührten, fordernd über seinen Körper strichen, sich in seinen Rücken gruben. Seine Bewegungen verlangsamten und intensivierten sich, Erregung flammte von Neuem in ihm auf, während seine Hände an seinem Oberkörper entlang immer weiter nach unten wanderten. Erst die zunehmende Hitze und das kurze Zucken in seiner Körpermitte brachten ihn wieder zu sich und augenblicklich stoppte er sich. Himmel, was war nur in ihn gefahren?! Hastig beendete er den Duschvorgang, trocknete sich ab und zog sich an. Nur durch Zufall bemerkte er bei seinem letzten Blick in den Spiegel das Schildchen, das vorne unterhalb seines Hemdkragens hervorblitzte. Mit einem abgrundtiefen Seufzen trat er vom Waschbecken weg, zog den dunkelblauen Kaschmir-Pullover noch einmal aus und richtig herum wieder an, bevor er sich zum zweiten Mal die Haare kämmte und das Bad mit einem letzten Kopfschütteln über sich selbst wieder verließ. Duke schreckte zusammen und sein Herzschlag beschleunigte sich blitzartig, als die Badtür aufging und Kaiba heraustrat. Nur für eine Millisekunde trafen sich ihre Blicke, doch der Brünette wandte sich umgehend wieder ab und ging zielstrebig auf sein Nachtschränkchen und seinen Koffer zu. Auch Duke konnte den Blickkontakt gar nicht schnell genug wieder abbrechen und flüchtete sich vor der Fortsetzung ihres peinlichen Schweigens ins Badezimmer. Irgendwann würden sie über das reden müssen, was passiert war, das war ihm nur zu bewusst. Aber wer sagte denn, dass das unbedingt jetzt sein musste?! Sie würden vermutlich beide noch ein wenig brauchen, um das zu verarbeiten, und die erste wirklich ausgiebige Gelegenheit für ein Gespräch würde es ohnehin erst heute Abend geben. Nachdem Duke in Rekordgeschwindigkeit geduscht, sich die Haare geföhnt und sich angezogen hatte, sah er in den leicht beschlagenen Spiegel. In gewohnter Manier wanderte seine Hand als erstes zum Haargummi und er band sich die Haare zusammen. Normalerweise war danach der Kajal an der Reihe, doch er zögerte und legte stattdessen zuerst seinen Schmuck an. Konnte er nach allem, was Kaiba gestern gesagt hatte, die Narbe wirklich weiter verstecken? Mit diesem kleinen, schwarzen Strich gibst du ihm immer neue Macht über dich und dein Leben. Der Griff nach dem schwarzen Stift fühlte sich falsch an – mindestens so falsch, wie es sich gestern noch angefühlt hatte, ohne den Kajalstrich aus dem Bad zu gehen. Im Grunde spielst du ihm nur in die Hände. Was ein paar Worte doch ausmachen konnten! Aber mal ehrlich, wie würde der Tag ablaufen, wenn er wirklich so, wie er war, hinunter ginge? Als erstes würden seine Freunde fragen, ob er vergessen habe, sich zu schminken, er würde sagen ‚Nein.‘ und spätestens dann würden sie genauer hinsehen und zum ersten Mal die Narbe sehen. Wenn sie ihn nicht sofort danach fragen würden, dann auf jeden Fall später in einer ruhigen Minute. Bis dahin gäbe es nur verstohlene Blicke. Nicht nur von ihnen, auch von allen anderen, dazu vermutlich leises Getuschel, vor allem von den Mädchen, die ihn anhimmelten. Alle würden sich fragen, was sich auf einmal geändert hatte und was mit ihm los war. Die anderen sind doch völlig egal; das geht niemanden etwas an! Am Ende hast ganz allein du die Macht, zu entscheiden, ob und wie du antwortest. Natürlich musste er sich niemandem erklären. Im Grunde seines Herzens hatte er das auch schon gewusst, er hatte es Joey am Ende der Wanderung ja sogar noch selbst gesagt: Er war niemandem – auch nicht seinen Freunden – in irgendeiner Form Rechenschaft schuldig. Aber in Verbindung mit … der anderen Sache war diese zusätzliche Konfrontation gerade einfach zu viel. Erstmal musste er die Sache mit Kaiba klären, dann konnte er die nächste Front aufmachen. Mit dem vertrauten leisen Ploppen zog er die Kappe des Kajalstiftes ab. Als Duke aus dem Bad trat, hatte der Brünette das Zimmer wieder einmal bereits verlassen. Offensichtlich schien Kaiba das mit dem Darüberreden genau so zu sehen wie er selbst. Sehr gut. Nachdem er noch seinen Anhänger umgelegt und seinen Rucksack für den Ausflug gepackt hatte, machte er sich samt seiner Sachen auf den Weg nach unten in den Speisesaal. „Und stell dir mal vor, was danach noch gelaufen sein muss!“ Tristans Stimme klang hörbar aufgeregt, als Duke seinen Rucksack auf dem Boden abstellte und sich zu ihm und den anderen gesellte. Offenbar waren sie so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie ihn gar nicht gleich bemerkten. Tea schüttelte angewidert den Kopf. „Urgh, das will ich mir gar nicht vorstellen!“ „Ich meine, die haben hundertpro rumgeknutscht und wollten definitiv noch mehr machen!“ Dukes Augen weiteten sich und sein Puls ging sprunghaft nach oben. Was?! Wie?! Die anderen konnten doch nicht …! „Ja, sie waren schon kurz davor!“, fügte Joey hinzu und nahm einen Schluck Saft. Oder etwa doch?! Wie war das möglich? Duke brach der Schweiß aus. „Also ich hab nichts mitbekommen, ich hab schon geschlafen.“, warf Yugi schulterzuckend ein. Mit einer Geste seiner Hand verstärkte Joey noch einmal jedes Wort: „Mitten. auf. dem. Gang, Yugi!“ Duke atmete kaum hörbar aus und musste aufpassen, nicht laut über sich selbst zu lachen. Natürlich, es ging um Frau Kobayashi und Herrn Takeda! Ein kurzer Schauer überlief ihn, als er realisierte, was da gestern eigentlich auf dem Flur gesagt worden war, denn das hatte er anscheinend noch gar nicht bewusst verarbeitet. Dafür war er zu sehr mit anderen (wobei, offenkundig gar nicht so anderen) Dingen beschäftigt gewesen. Unwillkürlich musste Duke schlucken. Was wohl geschehen wäre, wenn die beiden Lehrer nicht so einen Krach gemacht hätten? Wie weit wären sie noch gegangen, bevor einer von ihnen die Reißleine gezogen hätte? „Alter, habt ihr das bei euch da hinten gestern auch gehört mit Kobayashi-sensei?“, wurde er von Joey aus seinen Gedanken gerissen. Duke nickte, noch immer halb abwesend. „Mhm.“ Nur äußerst widerstrebend ließ sich sein Gehirn davon überzeugen, ihm den Moment nicht zu lebhaft wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Hitze, ihr Kuss, Kaibas Körper an seinem und das kurze Aufstöhnen, als … stopp! Schnell warf er einen ausweichenden Blick über seine Schulter zur Durchreiche, stellte fest, dass gerade kein Schüler – insbesondere kein koffeinsüchtiger Firmenchef – dort war und stand eilig noch einmal auf, um sich einen Kaffee zu holen. An ihrem Tisch waren bereits Wetten darauf abgeschlossen worden, ob Frau Kobayashi es noch zum Frühstück schaffen würde, doch in beinahe allerletzter Minute tauchte sie tatsächlich im Speisesaal auf. Mit auffällig gesenktem Kopf und einer Sonnenbrille im Gesicht ging sie zur Durchreiche und erbat sich anscheinend ebenfalls einen Kaffee. „Na, die hat auf jeden Fall nen ordentlichen Kater, das wird ein toller Ausflug heute!“, lachte Joey und selbst die eher zurückhaltenden Mitglieder ihres Freundeskreises konnten sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. Nachdem die Lehrerin offenbar nur mit äußerstem Widerstreben ein paar Bissen hinuntergewürgt hatte, gab sie wesentlich verhaltener als sonst das Signal zum Aufbruch. Wie bereits zur Wanderung würden sie auch heute wieder mit dem Reisebus unterwegs sein. Setos Erfahrungen der letzten Tage zufolge platzierte sich der Kindergarten immer relativ weit hinten, sodass er dieses Mal extra früh einstieg und sich einen Platz vorne in der dritten Reihe sicherte. Für den Moment wollte er Devlin einfach nur so weit von sich entfernt haben wie irgend möglich, schien das doch aktuell die einzige wirkungsvolle Maßnahme zu sein, um seinen Hormonhaushalt weitestgehend in Schach zu halten. Tasche und Mantel legte er auf dem Sitz neben sich ab und machte es sich so bequem, wie es in diesem anstrengenden Gefährt eben ging. Mit verschränkten Armen saß er da und trommelte unruhig mit dem rechten Fuß auf den Linoleumboden unter sich. Himmel, er musste noch nicht einmal sehen, dass der Kindergarten einstieg – er konnte Wheelers und Taylors lautstarker Unterhaltung draußen bereits von seinem Platz aus besser folgen, als ihm jemals lieb sein konnte. Einer nach dem anderen erklommen die Freunde in der Tat nur wenige Sekunden später die Busstufen neben dem Fahrersitz und schoben sich auch an seinem Platz vorbei. Seto drehte sich bewusst weg und starrte nur stoisch aus dem Fenster, in dem Versuch, seinen temporären Zimmergenossen auf diese Weise nicht sehen zu müssen. Doch wieder einmal war es die unnachgiebige Physik, die das erfolgreich verhinderte. Zwar konnte er den Schwarzhaarigen selbst in der Tat nicht sehen, aber sehr wohl dessen geisterhaft durchscheinendes Spiegelbild in der Glasscheibe. Augenblicklich machte sein Herz einen kurzen Sprung und das mittlerweile schon vertraute Kribbeln in seinem Magen hob von Neuem an. Ganz wie von selbst blieb Setos Blick an der Spiegelung hängen und seine Augen folgten ihr aufmerksam weiter nach hinten, so lange, wie es die Gesetze der Reflexion zuließen. Hm, Devlin war einfach gerade durchgegangen und hatte weder nach links, noch nach rechts geschaut – auf jeden Fall hatte er keine sichtbare Reaktion gezeigt, als er an ihm vorbeigekommen war. Ärger begann in Seto hochzuköcheln. Nicht zu fassen! Dieser Typ zeigte nicht die kleinste Regung, während bei ihm alleine schon der schwache Luftzug der Bewegung ausgereicht hatte, dass sich seine Nackenhärchen aufstellten. Aber gut, vielleicht – nein ganz wahrscheinlich sogar – verfolgte Devlin die gleiche Strategie wie er, die in der Hauptsache vorsah, auf Abstand zu gehen, bis man sich über die nächsten Schritte besser im Klaren war. Am Ende war das Erlebnis vermutlich auch für ihn kein ganz alltägliches gewesen. Aber auch das konnte genauso gut nur eine fromme Hoffnung sein, wer konnte das bei einem derart … umtriebigen Menschen wie Devlin schon sagen. Er kannte ihn ja auch nur oberflächlich. Das bin ich. Einfach so. Ohne Makeup, ohne Frisur, ohne Schnickschnack. Ich nehme an, du machst das wegen der Narbe? Ich hab sie von meinem Vater. Unbewusst schüttelte Seto den Kopf. Trotzdem, wer wusste schon, was Devlin sonst noch in diesem Bereich getrieben hatte, so wie er sich immer gab. Umso ärgerlicher war es, dass er selbst sich so hatte gehen lassen. So mussten sich Leute fühlen, wenn sie zu viel getrunken und dann im Rausch unmögliche Dinge getan hatten. Als hätte sie sich durch seine Gedanken angesprochen gefühlt, erhob sich in diesem Moment Frau Kobayashi – noch immer mit der Sonnenbrille auf der Nase – und riss Seto aus seinen ziellosen Grübeleien. Sie signalisierte dem Fahrer, der den Motor bereits gestartet hatte, noch einen Moment zu warten, vermutlich, um ihre obligatorische Ansprache noch ohne die Einwirkung moderater Fliehkräfte und schaukelnder Bewegungen zu halten. Alles andere hätte in ihrem momentanen Zustand wohl unschöne Konsequenzen gehabt, wie Seto mit einer Mischung aus Amüsement und Ekel ob der Vorstellung, was da gestern Abend zwischen den Lehrern passiert war, dachte. „So, meine Damen und Herren!“, begann sie mit belegter Stimme und räusperte sich noch einmal; ihre für gewöhnlich sprühende Motivation wollte jedoch noch nicht so recht aufkommen. „Heute tauchen wir ein in die spannende Welt der Samurai! Wir besuchen die Stadt Matsushiro am östlichen Rand von Nagano gelegen, die einst vom mächtigen Samurai-Clan der Sanada beherrscht wurde. Freuen Sie sich auf viele original erhaltene oder rekonstruierte Gebäude, wie die Festung, die Fürstenresidenz, und den Chokokuji-Tempel. Dazu besuchen wir das angeschlossene Museum, wo wir viel von der Originalausstattung der entsprechenden Häuser sehen können, und dazu natürlich Schwerter, Rüstungen und weiteres historisches Gerät. Ich wünsche uns allen viel Spaß auf dieser kleinen Zeitreise!“ Schon wollte sie sich wieder auf ihren Platz in der ersten Reihe hinter dem Fahrer setzen, da stand sie doch noch einmal auf, drehte sich zu ihren Schülern um und ruckelte verlegen ihre Sonnenbrille zurecht. „Ach, und eine Bitte noch: Wie Sie vielleicht bemerkt haben, bin ich heute … nicht ganz auf der Höhe. Ich wäre Ihnen daher sehr verbunden, wenn Sie vor allem hier im Bus ihre Lautstärke etwas drosseln könnten! Vielen Dank!“ An der Erfüllbarkeit dieses Wunsches hegte Seto für seinen Teil doch starke Zweifel. Die Lehrerin setzte sich wieder hin und der Bus sich endlich in Bewegung. Langsam zuckelten sie die links und rechts bewaldeten Serpentinen zur Stadt hinunter, während die Morgensonne durch die teils schon entlaubten, teils noch bunten Baumkronen brach, und für einen Moment versank Seto in dem Anblick. Eigentlich hatte er weiter an den Entwürfen feilen wollen, doch die Straße und der schwankende Bus machten die jetzt noch nötige feine Detailarbeit wohl zu einem Ding der Unmöglichkeit. So kramte er in seiner Tasche nach seinen Kopfhörern und verband sie mit seinem ansonsten nutzlosen, aber heute zumindest wieder vollständig aufgeladenen Telefon. Während ihn die Töne umfingen und erst die herbstliche Landschaft, dann die hektische Stadt an ihm vorbeizogen, wanderten seine Gedanken erneut ganz von allein zu ihrem momentan alles überlagernden Dauer-Thema und immer wieder schossen unkontrolliert einzelne Bilder und Szenen der letzten Nacht in seinen Kopf. Etwas Vergleichbares hatte er bisher noch nicht erlebt und man konnte sagen, was man wollte, aber auf diese Erfahrung hatte der Biologie-Unterricht ihn definitiv nicht ausreichend vorbereitet. Inhaltlich, bezogen auf die physischen Reaktionen vielleicht, aber nicht auf … den ganzen Rest. Auf die Intensität der Gefühle, darauf, dass sich sein klarer Verstand fast vollständig ausschaltete und er sich komplett vergaß. Das war ein wirklicher Totalausfall gewesen. Der ultimative Kontrollverlust. Zu so etwas kam es also, wenn man sich zu sehr „darauf einließ“: Mr. Hyde – genau wie im Buch. Zwar ohne das gelegentliche Blutbad, aber trotzdem. Gleich, es war vorbei und würde nicht noch einmal passieren. Heute Nachmittag oder heute Abend würden sie darüber reden und er diesem so merkwürdigen wie sinnlosen Spiel ein Ende setzen. Das peinliche Schweigen und die seltsame Atmosphäre zwischen ihnen würden ein für alle Mal vorbei sein und alles wäre wieder wie vorher (zumindest im Rahmen der Möglichkeiten), wofür Devlin vermutlich auch nur dankbar wäre. Überhaupt Devlin! Der war wahrscheinlich das größte Rätsel an der ganzen Sache! Hatte Seto nicht gestern noch konstatiert, dass kaum jemand so eindeutig auf Mädchen stand wie der Schwarzhaarige? Aber was war das dann letzte Nacht gewesen? Nicht nur hatte Devlin ihn nicht gestoppt und abgewiesen, nein, er hatte mitgemacht! (Und das nach Setos zugegeben laienhafter Einschätzung sogar äußerst engagiert.) Genau betrachtet hatte er die Sache eigentlich sogar angefangen! Devlin hatte ihn geküsst, nicht umgekehrt. Hieß das etwa … ? Vielleicht hatte Devlin ihn vorher im Laufe des Tages tatsächlich mit Absicht berührt, war ihm absichtlich nahe gekommen. Hatte Devlin am Ende gar einen Plan verfolgt? Und er war darauf hereingefallen, so wie beim Schachspiel? Falls ja, was bezweckte Devlin damit? Andererseits (seine innere Stimme hörte sich auf einmal verdächtig nach seinem Bruder an): Musste wirklich immer hinter allem ein Plan stecken? Konnte es nicht einfach nur bedeuten, dass Devlin unter der gleichen … unerfreulichen Disposition litt wie er? Dann wäre das Ganze vielleicht ja doch weit weniger aussichtslos als gedacht … Wieder war es, als würde Setos Brust von einem äußerst lebhaften Schwarm Fluginsekten erfüllt und der Hauch eines Lächelns stahl sich unwillkürlich auf seine Lippen. Beendet werden musste die Sache natürlich trotzdem. ... Oder? Kapitel 21: Are you watching? (Or just waiting?) ------------------------------------------------ Gut eine Dreiviertelstunde später kamen sie zum Stehen und nach und nach schälten sich alle Schüler wieder aus dem Bus. Kurz nach seinen Freunden trat auch Duke auf den noch nahezu ausgestorbenen Parkplatz. Ein herbstlich kühler Windstoß ließ Kälte durch alle Ritzen und durchlässigen Stellen seiner Kleidung kriechen und er beeilte sich, den Reißverschluss seines schwarzen Parkas zu schließen. Zusammen mit dem Rest der Klasse folgte er Frau Kobayashi, die sie geradewegs zur ersten Attraktion des Tages dirigierte. Im sanften Licht der Sonne stieg letzter Morgendunst aus einem breiten, wassergefüllten Graben auf und hüllte die herrschaftliche Anlage dahinter mit ihren dicken, leicht angeschrägten Steinmauern, den hölzernen Aufbauten und den sie überragenden, bunt gefärbten Bäumen in eine geheimnisvolle Aura vergangener Größe. Das musste die Burg sein, von der Frau Kobayashi gesprochen hatte. Oder zumindest das, was davon übrig war. Vor einer Brücke, die über den Graben hinweg in die Burg hineinführte, erwartete sie eine Frau, jünger als Frau Kobayashi, in Turnschuhen, einer praktischen Hose mit vielen Taschen, einer wetterfesten Jacke sowie einem Basecap auf dem Kopf, aus dem hinten ein kurzer Pferdeschwanz herausschaute. Ein Schildchen an ihrer Jacke wies sie als Gästeführerin für den Ort aus. Sichtlich verwundert registrierte sie Frau Kobayashis Sonnenbrille, schien dann aber zu beschließen, es zu ignorieren und verbeugte sich mit einem freundlichen Lächeln. Leise tauschten sich die zwei Frauen kurz aus, bevor Frau Kobayashi wie üblich in die Hände klatschte, um die Aufmerksamkeit ihrer Schüler zu bekommen. „Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, werden wir uns als erstes die rekonstruierte Burg von Matsushiro ansehen. Sakamoto-san hier …“, sie wies auf die Führerin, „wird uns heute durch den gesamten Tag begleiten. Ich erwarte, dass Sie ihr Ihre volle Aufmerksamkeit schenken und interessiert zuhören. Hin und wieder werde ich sicherlich auch die eine oder andere Frage stellen, glauben Sie also nicht, ich würde mich hier zurücklehnen und alles Sakamoto-san überlassen, nur weil ...“ „... ich mich gestern Abend tierisch habe volllaufen lassen.“, beendete Joey ihren abgebrochenen Satz im Flüsterton, sodass nur Duke und die anderen es hören konnten. Tristan neben ihm hatte Mühe ein lautes Prusten zu unterdrücken und auch Duke musste sich auf die Lippen beißen. „Egal, genug der Vorrede!“, fuhr die Lehrerin schließlich geschäftsmäßig fort. „Damit übergebe ich das Wort an Sie, Sakamoto-san!“ Sie trat einen Schritt zurück und die Führerin übernahm. „Danke Kobayashi-san und herzlich willkommen! Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie den langen Weg aus Domino in unsere schöne Region Nagano und natürlich besonders hierher nach Matsushiro gefunden haben! Wir starten heute, wie Sie schon hinter mir sehen können, mit der Burg, danach werden wir das Sanada Treasures Museum besuchen, um uns einige der Reichtümer der mächtigen Samurai-Familie anzusehen, die hier einst geherrscht hat. Für den Nachmittag stehen dann noch die Fürstenresidenz und der Chokoku-ji Tempel auf dem Plan. Alles wunderschöne Anlagen, die Sie zurück in die großen Tage der Samurai entführen werden. Zu Beginn aber vielleicht einige Worte dazu, wie es in Japan um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aussah, damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, wie die Lage zur Bauzeit der Burg war. … “ Nachdem Frau Sakamoto ihre einführenden Bemerkungen beendet hatte, schritten sie über die ausgeblichenen Planken der Brücke erst durch ein etwas kleineres und gleich darauf ein wesentlich größeres Holztor, das zusätzlich über einen bedachten Aufbau verfügte. Abgesehen von vielen Bäumen und einigen Bänken war der Innenhof der Festung leer. Wie Frau Sakamoto berichtete, war die Burg bis auf die Mauern zerstört gewesen und man hatte sich erst in neuerer Zeit entschieden, zumindest einige Teile der Außenbebauung wieder zu rekonstruieren. Trotzdem konnte Duke, als er sich umsah, nicht bestreiten, dass es in der Tat etwas Magisches hatte: Die alten Mauern und Tore, die vielen Bäume, von denen manche noch in Rot und Orange leuchteten, andere schon fast nackte Zweige hatten, die mächtigen Berge rundherum, der strahlend blaue Himmel und die kristallklare Morgenluft, in der er seinen Atem sehen konnte … „Die hatten es schon ganz hübsch hier, findet ihr nicht?“, fasste Yugi seine Gedanken in Worte und Duke nickte nur versonnen. In der nächsten halben Stunde erklärte Frau Sakamoto Station für Station den (ehemaligen) Aufbau der Burg und kam durch die vielen Erweiterungen und Umbauten ganz automatisch darauf zu sprechen, wie der Sanada-Clan in der Region an die Macht gelangt war. Schließlich waren sie physisch wie thematisch bei den äußeren Verteidigungsanlagen angekommen und stiegen über eine Treppe nach oben auf einen Teil der hohen Steinmauer, wo sich einstmals ein Turm befunden hatte. Über ein Holzgeländer, vor dem sich die Führerin positionierte, konnte man weit über die äußeren Gräben und Erdwälle, den Ort und auf die dahinter liegenden Berge blicken. Duke lauschte Sakamoto-sans Erzählung von den diversen Zerstörungen der Burg nur noch mit einem halben Ohr; sein Interesse galt im Moment einer anderen Aussicht, die seinen Blick beinahe automatisch angezogen hatte: Kaiba stand genau auf der gegenüberliegenden Seite des Halbkreises, den sie um Sakamoto-san geschlossen hatten. Mit verschränkten Armen lehnte der Brünette an dem Stamm eines Baumes, der hier oben aus dem aufgefüllten Mauerwerk wuchs, und sah in die Ferne. Das Ganze hätte auch gut als Covermotiv der Herbstausgabe eines Katalogs für stilvolle Herrenmode getaugt: Der helle Schein der Sonne brachte das Blau seiner Augen noch mehr zum Strahlen, das leuchtende Gold der Blätter harmonierte perfekt mit dem Haselnussbraun seiner leicht vom Wind verwehten Haare und dem Beige seines eleganten, kurzen Mantels, den er offen trug. Dazu die graue Jeans, die hellbraunen Lederschuhe, passend zu seiner Tasche, und wieder einmal der dunkelblaue Kaschmir-Pullover über einem weißen Hemd. Duke schüttelte kaum merklich den Kopf. Und wenn man dann noch bedachte, dass es unter all der Kleidung kaum weniger … „Warum erzählen Sie uns das nicht, Mr. Kaiba?“ Unweigerlich horchte Duke bei Frau Kobayashis Aufforderung auf. Nicht so offenbar Kaiba, denn Frau Kobayashi wiederholte noch einmal ungeduldiger: „Mr. Kaiba?!“ Jetzt erst wandte sich der Brünette mit stechendem Blick der Lehrerin zu, die sich davon jedoch nicht beeindrucken ließ: „Schön, dass Sie nun auch anwesend sind!“ Die leichte Gereiztheit und Ironie in ihrer Stimme war nur schwer zu überhören. „Ich weiß, in Ihrem Kopf gehen bestimmt sehr viel wichtigere Dinge vor sich, aber ich wäre Ihnen jetzt trotzdem sehr dankbar, wenn Sie uns sagen würden, wann die Abschließung Japans endete und das Land sich damit auch architektonisch für die ersten westlichen Einflüsse öffnete?“ Duke konnte sehen, dass der Brünette nur knapp ein genervtes Augenrollen unterdrückte, bevor er grimmig antwortete: „1853.“ „Sehr richtig!“, übernahm Frau Sakamoto wieder fröhlich das Wort, um der leicht angespannten Stimmung etwas entgegen zu setzen. „Und das war auch genau das Jahr, in dem die Burg einmal mehr nach einem Feuer …“ Die Erklärungen der Führerin verkamen für Duke erneut zu einem bloßen Hintergrundrauschen und mechanisch folgte er ihr und den anderen, als sie weitergingen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es weder traditionelle japanische Architektur, noch die Schönheit der Landschaft oder etwas Geschäftliches gewesen, das Kaibas Gedanken so in Anspruch genommen hatte. Sicher ließ ihn das, was gestern passiert war, ebenso wenig kalt wie ihn selbst. Wenn er so darüber nachdachte: Gar nichts von dem, was gestern Abend gesagt (und später getan) worden war, schien Kaiba kalt gelassen zu haben. Und das, wo er eine solche Einstellung doch normalerweise geradezu kultivierte – zu allem und allen (die nicht Mokuba hießen oder etwas mit seiner Arbeit zu tun hatten). Soweit Duke das beurteilen konnte, hatte Kaiba ihm jedoch gestern mit ernsthaftem Interesse zugehört, hatte ihm auf seine eigene, merkwürdige und sehr direkte Art Verständnis entgegengebracht, ihm sogar eine ganz neue Perspektive eröffnet und dann … Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht! Eigentlich … ja, eigentlich war die Annäherung von Kaiba ausgegangen! Kaiba hatte ihm die Haare aus dem Gesicht gestrichen und er selbst danach im Grunde nur beherzt die Gelegenheit ergriffen. Und dann … dann hatte Kaiba seinen spontanen, ja beinahe instinktiven Kuss auch noch mit einer Leidenschaft erwidert, mit der Duke niemals zu rechnen gewagt hätte. Unwillkürlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. Kaiba hatte angefangen! Und es nicht nur nicht beendet, sondern aktiv mitgemacht. Das konnte doch eigentlich nur bedeuten, dass … Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter und ein warmes Kribbeln erfüllte seine Brust, bis ihn ein kurzer Schmerz in der Seite aus seinen Gedanken riss. Tristans Ellenbogen war schnell als Ursache ausgemacht und verwundert sah Duke zu seinem Kumpel. „Alter!“, flüsterte Tristan ihm mit zusammengebissenen Zähnen zu und nickte mit aufforderndem Blick in Richtung von Frau Kobayashi, die schon fragend ihre Sonnenbrille ein Stück von der Nase schob. Duke schüttelte kurz den Kopf und blinzelte, als würde er aus einer Trance erwachen. „Entschuldigung, könnten Sie die Frage nochmal wiederholen?“, bat er verlegen, wohlwissend, dass Frau Kobayashis Geduldsfaden heute wohl nicht der längste war und das letzte Mal, dass jemand – Kaiba! – ähnlich offensichtlich nicht zugehört hatte, noch keine zehn Minuten her war. Die Lehrerin seufzte und ihre Stimme troff nur so vor Sarkasmus: „Aber selbstverständlich, Mr. Devlin, wo doch anscheinend auch Ihre Gedanken von weit bedeutenderen Themen beansprucht werden! Wann begann die Meiji-Zeit, an deren Anfang diese Burg dann schlussendlich aufgegeben wurde?“ „Ähm …“ Nervös bewegte er seine Hände in den Jackentaschen und tippte mit dem Schuh auf den steinernen Grund unter sich. Großartig! Und das, wo doch Geschichte ohnehin nicht gerade seine Paradedisziplin war! Glücklicherweise hatte er Freunde, die ihn kannten und das wussten, und schnell wurde ihm von gleich zwei Seiten – von Yugi und Ryou – die richtige Antwort zugeflüstert. „1868.“, verkündete er im Brustton seiner vermeintlich eigenen Überzeugung. „Danke, Mr. Devlin!“ Augenblicklich entspannte Duke sich wieder etwas. „… sowie Mr. Muto und Mr. Bakura.“, schob die Lehrerin mit strengem Blick nach. Mist, sie hatte es also doch bemerkt! Yugi sah nur kurz zu ihm auf und zuckte mit einem entschuldigenden Lächeln die Schultern, Ryou klopfte ihm leicht auf den Rücken. Immerhin hatten sie es versucht. Nur wenige Minuten später hatte Frau Sakamoto ihre Führung rund um die Burg beendet und sie machten sich auf den Weg hinunter zur zweiten Station des Tages, dem Museum. Auf dem Weg dorthin entging ihnen nicht das geschäftige Treiben in der kleinen Stadt: Häuser wurden geschmückt, Banner aufgehängt, Stände aufgebaut. Noch bevor jemand die Frage stellen konnte, gab Frau Sakamoto bereits die Erklärung: „Ein Jammer, dass Sie das traditionelle Sanada-Fest so knapp verpassen! Es wird jedes Jahr Mitte Oktober gefeiert. Morgen geht es los und am Sonntag findet die große Parade statt, bei der der ‚Fürst’ noch einmal zeremoniell mit seinem Gefolge vom Schloss durch die Stadt reitet. Darum wird hier bereits alles vorbereitet und geschmückt.“ Frau Kobayashi nickte interessiert und unterhielt sich weiter angeregt mit ihr. Tristan wandte sich indes mit einem leicht besorgten Seitenblick an Duke: „Wo warst du denn vorhin schon wieder mit deinen Gedanken, Mann? Gestern warst du auch schon so komisch weggetreten!“ Dukes Herzschlag beschleunigte sich. Himmel, musste Tris denn schon wieder darauf rumreiten? „Ach, ich hab nur schlecht geschlafen.“ Und das war ja noch nicht mal gelogen. Auch Tea blickte ihn jetzt fragend von der Seite an. „Ist irgendwas mit eurem Zimmer nicht in Ordnung? Kaiba schien es ja ähnlich zu gehen.“ Scheiße! Duke wurde plötzlich sehr heiß und er schluckte. Was sollte er denn nun schon wieder dazu sagen? „Und da wären wir auch schon! Ich habe Ihnen ja gesagt, der Weg zum Museum ist wirklich nur ein Katzensprung!“, platzte Sakamoto-san energisch in das Gespräch, das sich für Duke just in diesem Moment eher zu einer Art Verhör gewandelt hatte. Sie waren vor einem äußerlich unscheinbaren weißen Gebäude neuerer Bauart zum Stehen gekommen, an dessen Eingang groß das Clansymbol der Sanada – sechs Münzen, aufgeteilt in zwei horizontale Dreierreihen – angebracht war. Erleichtert atmete Duke aus, während Sakamoto-san ohne Unterlass weitersprach und erklärte, wie die Sammlung und das Museum zustande gekommen waren. Selten war er für Langatmigkeit dankbarer gewesen als jetzt, wo sie ihn davor bewahrte, eine weitere hanebüchene Ausrede für sein – nein, diesmal sogar ihrer beider Verhalten – erfinden zu müssen. Sakamoto-san schien ihre Berufung definitiv gefunden zu haben: Die Frau konnte reden, reden, reden. Desinteressiert schlenderte Seto hinter ihr, seinen Mitschülern sowie Frau Kobayashi durch die Ausstellungsräume und sah sich nur beiläufig die Schwerter, Rüstungen, Figuren und Schriftrollen in den Vitrinen an. Wie von allein wanderte sein Blick immer wieder unauffällig zu Duke; das verhindern zu wollen, hatte er schon vor einer ganzen Weile aufgegeben. Was er (oder viel mehr sein Unterbewusstsein) allerdings in Mimik, Gestik und Verhalten des Schwarzhaarigen zu finden hoffte, konnte er nicht genau sagen. Die Bestätigung seiner Theorie vielleicht, irgendein Indiz dafür, dass Devlin wirklich in der gleichen … Lage war wie er selbst? Irgendein Zeichen, dass die letzte Nacht für ihn doch mehr gewesen war als nur ein dummer Fehler? Bislang waren solche Zeichen jedenfalls rar gesät gewesen. Eigentlich kein Wunder, schien Devlin ihm selbst doch in vielerlei Hinsicht ähnlich zu sein und das bedeutete, er würde nicht weniger Vorsicht walten lassen (auf eine etwas andere, extrovertiertere Weise) als er, wenn es darum ging seine wahren Gef- … Einstellungen zu zeigen. Der Tagtraum vorhin war sein einziger Ausrutscher gewesen, und auch wenn es sehr wahrscheinlich war, konnte Seto sich doch nicht sicher sein, ob es darin wirklich um die letzte Nacht gegangen war. Wenn dem allerdings so war, dann standen seine Karten wohl gar nicht so schlecht, denn Devlin hatte dem Anschein nach ziemlich zufrieden ausgesehen – als „dümmliches Grinsen“ hätte er diesen Gesichtsausdruck wohl bei Wheeler oder Taylor bezeichnet. Aus irgendwelchen Gründen schienen die beiden Letzteren eine ausgemachte Faszination für das Samurai-Thema zu haben, sodass der gesamte Kindergarten gezwungen war, weit vorne zu stehen; diese Menschen gab es ja im Grunde nicht allein, sondern nur im Gesamtpaket, und auch hier machten sie keine Ausnahme. Aber wenigstens musste sich Seto, der wie üblich ganz hinten blieb, auf diese Weise zumindest keine Gedanken darüber machen, dass Duke oder sonst irgendjemand seine gelegentlichen, manchmal durchaus etwas ausgedehnteren Blicke bemerken würde. Die Rückansicht des Schwarzhaarigen kannte er auf jeden Fall bereits wesentlich besser als die Samurai-Rüstung, bei der Sakamoto-san sie schon seit knapp fünfzehn Minuten festhielt, um gefühlt jeden einzelnen Hammerschlag des Schmiedes bis ins letzte Detail zu beschreiben. Zum wiederholten Male wanderten Setos Augen von Dukes langen, jetzt wieder zum Zopf gebundenen Haaren nach unten, über seinen Hals und Nacken, dann von der Kapuze seines schwarzen, eng geschnittenen Hoodies weiter hinab zu Dukes Hüften und der ebenso schwarzen Jeans, in deren hinteren Hosentaschen er die Hände vergraben hatte, als wollte er Setos Aufmerksamkeit extra auf diese Stelle lenken. (Wenn so etwas bei jemandem grundsätzlich vorstellbar war, dann wohl bei Devlin!) Jedes einzelne Mal hatte Seto ein neues Detail bemerkt und genauer studiert: die zu kurzen, hauchdünnen schwarzen Strähnen, die nicht von dem Haargummi erfasst worden waren, oder wie der lange Würfelohrring bei fast jeder Bewegung seines Kopfes leicht Dukes Hals streifte. (Nervte das nicht?) Jetzt blieb sein Blick an Dukes Handgelenken hängen, die zu sehen waren, seit er die Ärmel seines Pullis vor ein paar Minuten etwas hochgeschoben hatte. Schlank, und irgendwie … schön waren sie, das linke noch betont von einem dünnen, enganliegenden Armband (oder war es ein zusätzliches Haargummi?), das er darum trug. Für Setos Geschmack etwas zu plötzlich kam Bewegung in die Gruppe; offenbar hatte Sakamoto-san endlich ihren Vortrag über die Rüstung beendet. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, wie Duke den Kopf im Gehen beiläufig in seine Richtung wandte. Setos Herz begann zu rasen und er beeilte sich, sich sehr für den Inhalt der gegenüberliegenden Vitrinen zu interessieren. Langsam kam sein Herzschlag wieder zur Ruhe und er atmete leise aus. Das war knapp gewesen! Um nichts in der Welt sollte Devlin wissen, wie tief der Eindruck wirklich war, den er und alles, was gestern passiert war, bei ihm hinterlassen hatten. Noch mehr Wasser auf die Mühlen seines ohnehin nicht gerade kleinen Selbstbewusstseins brauchte Devlin nun wirklich nicht, außerdem war Seto keineswegs bereit, sich widerstandslos in die Aufzählung von Devlins Eroberungen einzureihen. Umso mehr wuchs in der nächsten Stunde seine Wut auf sich selbst, musste er doch noch ganze drei Mal Dukes potentiell entlarvendem Blick entgehen. Beim ersten Mal war es eine merkwürdige Porzellanfigur, die er eingehend studierte, beim zweiten Mal griff er sich schnell einen ausnehmend scheußlich gestalteten Flyer, der auf einer der Vitrinen auslag, und beim dritten Mal musste er, in Ermangelung irgendwelcher anderer Alternativen, sogar auf sein Handy zurückgreifen, obwohl Devlin doch sehr genau wusste, dass sich die Zahl spannender Neuigkeiten darauf in Grenzen halten dürfte. So stand Seto nach dem Ende der Führung mit der Tasche zwischen seinen Füßen im Foyer des Museums und zog sich seinen Mantel mit besonders dynamischen Bewegungen über, die seinem Frust immerhin nonverbal Ausdruck verliehen. Am Ende war es ein simples Spiel um Macht und er war gerade dabei, es zu verlieren. Und dabei war es eigentlich so leicht: Er musste doch nur Devlins Blick ganz selbstverständlich, bewusst und nüchtern-gefühllos erwidern! Normalerweise war sein Geist doch auch problemlos in der Lage seinen Körper zu beherrschen, warum nicht auch diesmal? Dieses ganze Ausweichen und Verstecken war doch eines Kaiba vollkommen unwürdig! Verdammt, er war doch nun wirklich kein schwaches, scheu-verträumtes Schulmädchen! Geschweige denn eines von Devlins Fangirls, die schon halb in Ohnmacht fielen, wenn der sie nur einmal schief ansah! Wieder kam er nicht umhin sich zu wünschen, die letzte Nacht wäre anders verlaufen. Denn selbst, wenn es Devlin ging wie ihm, was ihr Spiel wenigstens zu einem ausgeglichenen machen würde und was sein abwesendes Lächeln vorhin in der Burg immerhin vermuten ließ, gab es da ja immer noch … „Geil, Leute, seht mal, ich bin ein mächtiger Samurai!“ Joey stand hinter einem Fotoaufsteller mit Samurai-Rüstung und hielt mit einem breiten Grinsen sein Gesicht in die passend gesetzte Aussparung, sodass es aussah, als stecke er in der Rüstung. „Nice, Mann, ich auch!“ Tristan füllte mit seinem Kopf sogleich die zweite Aussparung und sowohl Tea als auch Duke beeilten sich, ihre Smartphones zu zücken und Fotos zu machen. „Super, und jetzt ihr!“ Joey und Tristan traten wieder hinter der Wand hervor und tauschten ihre Plätze mit den anderen beiden. Auch Yugi und Ryou schlossen sich begeistert an und für Seto war vollkommen klar, dass nun vermutlich so lange hin- und hergewechselt würde, bis jeder einmal mit jedem hinter dieser billigen Fotowand gestanden hatte. Gelöst und mit einem warmen Leuchten in seinen grünen Augen grinste Duke aus der rechten der beiden Samurai-Rüstungen in Tristans Handykamera und Seto versuchte das kurze Stechen in seiner Brust so gut er konnte zu ignorieren. Schnell wandte er sich ab, verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. ‚Unüberbrückbare Differenzen’ würden sie so etwas in der Politik wohl nennen. Für die Mittagspause hatte Frau Kobayashi anderthalb Stunden angesetzt. Nachdem Duke und die anderen in jeder möglichen Konstellation einmal hinter der Fotowand gestanden hatten, verließen sie das Museum und Ryou googelte für sie, was es in der Umgebung an Essensmöglichkeiten gab. Die gemeinschaftliche Entscheidung fiel schließlich auf eine Ramen-Bar nicht weit entfernt. Einige Meter vor ihnen erspähte Duke noch Kaiba, der sich an der nächsten Kreuzung nach rechts wandte. An derselben Kreuzung mussten sie jedoch Ryous Handy zufolge geradeaus weiter, sodass Duke nur noch sehen konnte, wie am Ende der Seitenstraße der beige Mantel und die elegante Ledertasche um die nächste Ecke verschwanden. Wie er Kaiba einschätzte, war der wohl am ehesten auf der Suche nach einem Café, für eine weitere Ration Koffein und ein ruhiges Plätzchen zum Arbeiten. Wieder einmal schwankten Dukes Empfindungen irgendwo zwischen Enttäuschung und Erleichterung, aber vermutlich taten ihnen beiden ein paar Minuten, in denen sie sich nicht sehen mussten, auch ganz gut. Im Museum hatte Duke immer wieder das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, aber jedes Mal, wenn er zu Kaiba gesehen hatte, um seinen Eindruck zu überprüfen, war dessen Aufmerksamkeit anderswo – jedenfalls nicht bei ihm – gewesen. Das konnte aber natürlich alles und nichts bedeuten, hatte er selbst doch ebenfalls sowohl in der Burg als auch im Museum das eine oder andere Mal zu Kaiba geschaut und sich schnell wieder abgewandt, wenn es auch nur im Entferntesten ausgesehen hatte, als könnte der Brünette seinen Blick bemerken. Nachdem sie in der Ramen-Bar einen Platz gefunden und sich jeder seine Suppe bestellt hatte (Joey natürlich mit einer doppelten Portion Nudeln), herrschte ein sekundenlanges Schweigen bis sich Teas Blick aufhellte. „Achso, wir waren ja vorhin gar nicht mehr dazu gekommen: Was stimmt denn jetzt mit eurem Zimmer nicht, Duke?“ Gerade noch gelang es dem Angesprochenen nicht zusammenzuzucken, hatte er sich in dieser Angelegenheit doch schon längst vom Haken geglaubt. Tea schien einen sechsten Sinn oder so etwas zu haben, so zielsicher, wie es ihr immer wieder gelang mit nur einem Stups sein kleines Schweige- und Halbwahrheitsgebäude ins Wanken zu bringen. „Naja, also das – die! – Betten sind …“ Noch bevor er sich mit rasendem Herzen und schwitzigen Händen vor seinen aufmerksam lauschenden Freunden weiter um Kopf und Kragen reden konnte, plärrte ein Handy in voller Lautstärke los. Tea verdrehte nur die Augen und stöhnte: „Echt, Joey! Ich hab dir schon tausendmal gesagt: Stell gefälligst den Klingelton leiser! Das ist ja peinlich! “ „Sorry!“, erwiderte der so Gescholtene ebenfalls mit einem Augenrollen, aber seine genervte Miene wich sofort, als er auf das Display sah. Ein flaues Gefühl breitete sich in Dukes Magengegend aus. „Es ist Serenity! Ich hab ihr vorhin ein paar von unseren Samurai-Bildern geschickt!“, informierte Joey sie, bevor er mit einem Wisch nach rechts und einem breiten Grinsen den Anruf annahm. Genau wie Duke vermutet hatte. „Hallo, Schwesterchen! Moment, warte kurz …“ Der Blonde nahm das Telefon weg vom Ohr, fingerte auf dem Display herum und hielt es dann in die Runde. Offenbar hatte er auf einen Video-Call umgeschalten. Der schwere Stein, den Duke irgendwo zwischen seinem Magen und seiner Brust fühlen konnte, wurde noch etwas größer. „So, sag Hallo zu allen!“ „Hallo zu allen!“, tönte Serenitys sanfte Stimme kichernd aus dem Lautsprecher, alle lachten und auch Duke verzog leicht gequält das Gesicht zu einem Grinsen. „Schön euch alle zu sehen! Moment, dann mach’ ich meine Kamera auch an …“ Nun erschien auch ihr Gesicht auf dem Display: strahlend, mit so viel Wärme und entwaffnender Fröhlichkeit im Ausdruck wie immer. „Freut mich, dass ihr so eine gute Zeit habt!“ „Naja, …“, schränkte Joey prompt ein, „Manche Aktionen und Ausflüge sind natürlich jetzt nicht so der Bringer. Am Mittwoch zum Beispiel sind wir gewandert, kannst du dir das vorstellen? Ich und Wandern! Aber weil ich ja in ausgezeichneter Gesellschaft bin, hab ich sogar das überlebt!“ Joey grinste in das Rund seiner Freunde und Duke war erleichtert, dass Joey ihren Streit schon wieder vergessen zu haben schien oder zumindest nicht erwähnte. Serenity stimmte lächelnd zu: „Oh ja, das bist du! Darum rufe ich eigentlich auch an. Ich dachte, wenn ihr ohnehin alle zusammen seid, muss ich nicht mit jedem einzeln sprechen. Ich wollte ja nächste Woche gerne ins Kino gehen und als du mir die Bilder geschickt hast, ist mir wieder eingefallen, dass Tristan und Duke letztens beide so nett waren, mir anzubieten mit ihnen hinzugehen.“ Als sein Name fiel, winkte Tristan leicht errötend in die Kamera, Duke hingegen lächelte einmal mehr gezwungen. Stimmt, das hatte er ja vollkommen vergessen! „Ich wollte euch beiden nur sagen, dass ich gerne am Dienstag gehen wollen würde, also gebt mir einfach nochmal kurz Bescheid, wer von euch nun mitkommt. Dann würde ich schon mal die Karten kaufen.“ „Klaro, machen wir!“, bestätigte Tristan mit nach oben gerecktem Daumen. „Wunderbar! Dann euch noch viel Spaß, Leute, ich bin gespannt, was ihr nächste Woche noch so alles zu erzählen habt! Tschüss!“ Sie winkte noch ein letztes Mal in die Kamera, alle am Tisch erwiderten den Abschiedsgruß und winkten zurück. Kaum hatte Serenity aufgelegt, plusterte sich Tristan regelrecht auf und wandte sich Duke zu, der neben ihm saß. „Ich gehe mit ihr hin, damit das klar ist!“ „Okay.“ „Also, es ist doch wohl völlig klar, dass ich das mit ihr mache, ich hab sie zuerst gefragt!“ Tristan schien ihn gar nicht gehört zu haben und sich bereits gewohnheitsmäßig in Rage zu reden. „Ja, geh du ruhig mit ihr hin, alles cool!“ „Mit mir will sie ja auch viel lieber … Moment, was hast du gesagt?“ Ein verwirrter Blick legte sich auf Tristans Gesicht. Duke schüttelte nur lächelnd den Kopf und wiederholte es noch einmal klar und deutlich: „Ja, Tris, du kannst gerne mit ihr in den Film gehen.“ „Kann ich?! Einfach so?“ „Mhm.“ Noch einmal nickte Duke. Tristan musterte ihn skeptisch und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Wer sind Sie und was haben Sie mit Duke Devlin gemacht?!“ Duke lachte kurz auf. „Nichts! Ich weiß nur jetzt schon, dass ziemlich viel Arbeit auf mich warten wird, wenn wir wieder da sind. Ich werd’ keine Zeit haben, der Film läuft aber nur noch nächste Woche und Serenity möchte ihn doch so gerne im Kino sehen.“ Jetzt nickte auch Tristan vorsichtig zufrieden, auch wenn er dem Frieden noch nicht ganz zu trauen schien. „Okay. Danke.“ Da wurde auch schon das Essen gebracht und nur langsam begann sich der Knoten in Dukes Magengegend wieder aufzulösen, sodass er etwas hinunter bekam. Bisher hatte er Serenity noch nie wegen der Arbeit abgesagt, hatte immer versucht (und es auch stets geschafft) sich die Zeit für sie freizuschaufeln. Doch irgendwann war immer das erste Mal und angesichts dessen, was nächste Woche tatsächlich auf ihn warten würde – die Industrial Illusions-Vorstandssitzung, die er offenbar zwischenzeitlich mit einigem Erfolg verdrängt hatte –, wäre es wohl spätestens jetzt ohnehin so weit gewesen, Kaiba hin oder her. Seinem gestrigen Vorsatz folgend würde das wohl in nächster Zeit noch häufiger vorkommen. Und wenn er Serenity dann das nächste Mal sah, würde er sich mehr zurückhalten und versuchen ihr zu vermitteln, dass er lediglich freundschaftliches Interesse an ihr hatte. Sicherlich würde sie enttäuscht sein, aber hoffentlich nicht allzu sehr. Und selbst wenn, würde Tristan das wohl nur zu gerne und ausgezeichnet abfedern. Kurz vor Ende der Mittagspause trat Seto durch das kleine, offene Seitentor in den Vorhof der Sanada-Residenz. Vor dem Eingang ins Haus standen bereits einige seiner Mitschüler, die ebenfalls auf das Eintreffen der anderen sowie Frau Kobayashis und Frau Sakamotos warteten. Kurz nach ihm kamen die beiden Frauen dann tatsächlich gemeinsam durch das Tor geschlendert; augenscheinlich verstanden sie sich prächtig und hatten gemeinsam zu Mittag gegessen. Auch schien es Frau Kobayashi mittlerweile wieder etwas besser zu gehen, hatte sie doch die Sonnenbrille nun endgültig gegen ihre normale Brille getauscht. Er selbst hatte die Mittagspause in einem Café mit einer großen Tasse seines favorisierten Heißgetränks (Stark, schwarz, viel!) verbracht, hatte endlich einmal wieder konzentriert arbeiten können (der Nicht-Anwesenheit gewisser Personen geschuldet) und große Fortschritte bei den technischen Details für die DDM-Duel Disk gemacht. Wenn er weiter so vorankäme, wäre der Entwurf bei ihrer Rückkehr am Sonntag fast schon produktionsfertig. Natürlich mussten seine Leute in der Entwicklungsabteilung trotzdem noch einen Blick darauf werfen, um die Herstellung spezieller Komponenten zu planen, aber ansonsten war das wohl eine neue Rekordzeit in der Produktentwicklung – ganz anders als bei der ‚richtigen‘ Duel Disk, bei der sich die Konzeptionsphase über knapp zwei Jahre hingezogen hatte, bis er damit halbwegs zufrieden gewesen war. Auch wenn er nach wie vor nur äußerst ungern auf seinen Laptop und sein Telefon verzichten musste, aber seine Konzentration profitierte ungemein von den fehlenden Anrufen, Meetings und E-Mails. Weitere fünf Minuten später sah die Lehrerin schon mit leichter Verärgerung auf die Uhr. Eigentlich sollte es genau jetzt weitergehen, aber bestimmte Personen fehlten noch immer. Seto war schon fast überrascht, dass nahezu im selben Moment, und damit gerade eben noch pünktlich, Muto und der Rest seiner Vorschul-Patrouille herbeigehetzt kamen, wobei zwischen Taylor und Wheeler offenbar eine gewisse Uneinigkeit darüber bestand, wessen Schuld ihre Beinahe-Verspätung war. „Wenn du nicht noch unbedingt einen Nachtisch hättest haben wollen, dann …“ „Ach Quatsch! Wer kannte denn den Rückweg so super genau und hat uns dann um fünf falsche Ecken dirigiert?!“ Mit einer strengen Geste und einem dazu passenden Blick brachte Tea die beiden schließlich zum Schweigen. Devlin hatte seine Jacke geöffnet, den Kopf ein wenig gesenkt, die Hände in die Hüften gestemmt und versuchte, wie die anderen auch, wieder zu Atem zu kommen. Wahrscheinlich waren sie ein Stück gerannt, um nicht zu spät zu kommen. Beinahe fuhr Seto zusammen, als der Schwarzhaarige ganz plötzlich den Kopf hob und sich zum ersten Mal seit heute Morgen ihre Blicke kreuzten. Augenblicklich durchzuckte ihn eine Spannung, ein elektrisches Kitzeln bis in seine Fingerspitzen, das ihn – neben seinem Stolz – davon abhielt, den Blick wieder zu lösen. Devlin schien das ebenso kalt erwischt zu haben, doch auch er konnte (oder wollte?) nicht wegsehen. Noch einmal unternahm Setos Unterbewusstsein den Versuch aus dem Gesichtsausdruck des Schwarzhaarigen etwas herauszulesen, doch keine Regung in Dukes Zügen verriet ihm irgendetwas hilfreiches. Nur die Spannung, die war eine Tatsache und Devlin fühlte sie auch. Gedanken lesen konnte er zwar nicht, aber in diesem Punkt war er sich zu einhundert Prozent sicher. Unnatürlich laut und störend drängte sich Frau Sakamotos kräftige Stimme in sein Bewusstsein und setzte dem kurzen Moment ein jähes Ende. Hastig richteten sich die grünen Augen auf die Führerin und auch Seto tauchte wieder auf und zwang sich mit aller Macht zur Aufmerksamkeit. „Herzlich willkommen zurück, ich hoffe, Sie haben eine entspannte Mittagspause gehabt und konnten noch ein wenig die Schönheit unserer historischen Stadt genießen! Die Sanada-Residenz, die wir uns jetzt ansehen werden, wurde im Jahre 1864 im Namen von Sanada Yukinori, dem neunten Lord der Matsushiro-Domäne erbaut. …“ Wie immer mit angemessenem Abstand zu seinen Mitschülern folgte Seto ihnen und der Führerin kurz darauf durch die komplexe Struktur des riesigen, traditionell japanischen Herrenhauses. Es besaß zwei Etagen und von den zentralen Gängen der beiden Flügel gingen jeweils links und rechts Räume ab, die sich durch verschiebbare Shoji-Wände mit beinahe unendlichen Möglichkeiten in Anzahl und Größe verändern ließen. Seto kam nicht umhin, die Durchdachtheit der auf das absolut Wesentliche reduzierten Architektur anzuerkennen, aber auch die Kunstfertigkeit, mit der die Wände und Einbauten an vielen Stellen bemalt und dekoriert worden waren, ohne den Eindruck der edlen Schlichtheit zu stören. Der offizielle Teil der Führung im Haus war schon nach etwa einer Stunde beendet, nachdem sie sich gewissermaßen zur abschließenden Zusammenfassung den kurzen Film angesehen hatten, der in einem der Räume auf einem Fernseher gezeigt wurde und eigentlich zur Einführung für die Besucher gedacht war. Während noch der Abspann durchlief, baute sich Frau Kobayashi vor ihnen auf und verkündete das weitere Vorgehen: „Meine Damen und Herren, wir haben noch ein wenig Zeit bis wir weiter müssen, das heißt, ich würde sagen, wir treffen uns in …“, sie schob ihre Brille ein Stück von ihrer Nase herunter und konsultierte ihre Armbanduhr, „… einer guten halben Stunde, also um Punkt 15 Uhr wieder draußen vor dem Eingang. Sehen Sie sich gerne noch ein bisschen um oder genießen Sie bei diesem schönen Wetter den Garten!“ Einige der Schüler, der Kindergarten eingeschlossen, diskutierten kurz in ihren Grüppchen, dann strömten die meisten zügig aus dem Raum. Sofort wich die anstrengende Wuseligkeit einer angenehmen Stille. Seto saß noch immer auf einem der kleinen Hocker und überlegte schon, ob er gleich jetzt und hier den Block herausholen sollte, doch Frau Kobayashis fragender Blick in seine Richtung, zusammen mit einem neuerlichen Beginn des in Schleife laufenden Films sowie dem Eintreffen weiterer schwatzender Besucher ließen ihn sich dann doch schnell erheben und ebenfalls das Weite suchen. Ziellos streifte Seto noch einmal ein paar Minuten durch die stillen Gänge und Räume, bis er sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben besann und erkannte, dass er hier drinnen vermutlich keinen guten Platz zum Arbeiten finden würde. Durch eine der geöffneten papiernen Außenwände zog es ihn nach draußen auf den Engawa, den überdachten, schmalen, um das Haus herumlaufenden Außengang. Richtige Sitzgelegenheiten gab es hier natürlich ebenfalls nicht, sodass Seto sich schließlich kurzerhand direkt an der Kante des Engawa auf dem Holzboden niederließ. Er ließ die Tasche von seiner Schulter gleiten, stellte sie neben sich ab und zog zum zweiten Mal an diesem Tag den Dino-Block daraus hervor. Wie üblich schlug er das Cover komplett um, blätterte diesmal aber eine neue Seite auf, da er einige der Komponenten noch etwas detaillierter ausarbeiten musste. Bevor er den Stift ansetzte und sich damit geistig wieder aus der ‚echten‘ Welt um sich herum verabschiedete, ließ er doch noch einmal kurz den Blick schweifen. Ganz unrecht hatte Sakamoto-san ja nicht gehabt, als sie hervorgehoben hatte, wie prächtig der Garten war und wie gut er sich in die umliegende Natur einfügte. Eine ausgedehnte Rasenfläche reichte an einen langgestreckten, natürlich gestalteten Teich heran, der von in Form geschnittenen Buchsbaum-Sträuchern und Kiefern, roten Ahorn-Bäumen und anderen Gewächsen umrahmt wurde, während im Hintergrund majestätisch die Berge aufragten und alles zu einem stimmungsvollen Gesamtbild vereinten. Doch, eine gewisse landschaftliche Ästhetik konnte man dem Ganzen nicht absprechen. Die Sonne schien warm in Setos Gesicht und während im Haus aufgrund der geöffneten, ohnehin dünnen Wände noch herbstliche Kühle geherrscht hatte, war er jetzt beinahe geneigt den Mantel auszuziehen. Vogelgezwitscher, das sanfte Rauschen von Blättern im Wind und das Gemurmel anderer Besucher im Haus hinter ihm drangen leise an seine Ohren. Mit einem letzten Durchatmen beendete er seinen kurzen Moment der Kontemplation, blendete alle potentiellen Ablenkungen aus und widmete sich endlich wieder der leeren Seite in dem Block auf seinen Oberschenkeln. Auch wenn er in den vergangenen Jahren kaum je auf echtem Papier gezeichnet hatte, war der unsägliche Dino-Bleistift mittlerweile eine fast ebenso effektive Verlängerung seines Arms und damit seines Geistes nach außen, wie es sonst seine digitalen Werkzeuge waren. Routiniert skizzierte Seto die Umrisse des angepassten Würfelmechanismus, als er ein paar Minuten später auffällige Bewegungen in seiner Peripherie wahrnahm. Ein Schülergrüppchen – Muto und Anhang, wie er leicht entnervt beim genaueren Hinsehen erkannte – kam auf einem schmalen Pfad aus der Baumgruppe links des Teiches hervorspaziert und ließ sich nach kurzer Beratschlagung auf der Wiese genau in Setos Blickfeld nieder. Mit einem leisen Seufzen schüttelte er den Kopf und versuchte sich von Neuem auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Es wollte ihm jedoch nicht recht gelingen, denn jede Bewegung im Hintergrund, vor allem jene einer gewissen, ganz in schwarz gekleideten Person, ließ ihn von dem Papier aufsehen. Entspannt und locker saß Devlin im Gras, mit aufgestellten Beinen, die Arme auf den Knien abgelegt, die Hände ineinander gefaltet, und unterhielt sich angeregt mit seinen Freunden. Irgendjemand machte einen (vermutlich schlechten) Witz oder erzählte etwas (vermeintlich) lustiges. Was auch immer es war, Devlin lachte darüber und warf dabei seinen Kopf in den Nacken, sodass sein Zopf halb in der Kapuze seiner Jacke verschwand und der Würfelohrring bei jeder Bewegung mitschwang. Schon heute Morgen war Seto aufgefallen, dass auch der Kajalstrich unter dem linken Auge noch immer da war. Unwillkürlich trat ein schmales, kaum sichtbares Lächeln auf sein Gesicht. Er allein wusste, was es damit auf sich hatte und wie Devlin ohne das alles aussah. Seine Freunde hingegen, die ständig an ihm klebten und sicherlich behauptet hätten, ihn besser zu kennen, hatten davon keine Ahnung. Wärme erfüllte sein Inneres, so als wäre es einem verirrten Sonnenstrahl irgendwie gelungen, in seine Brust einzudringen. Plötzlich raschelte das Papier des Blocks im auffrischenden Wind und geistesabwesend hielt Seto die Seite mit dem Handballen fest. Seine Augen waren noch immer fest auf Devlin geheftet, dem die kräftige Böe einige Haarsträhnen ins Gesicht geweht hatte, die er mit einer Art beiläufiger Eleganz wieder beiseite strich. Wie von selbst setzte sich Setos Hand in Bewegung und begann mit dem Stift neue Striche aufs Papier zu bringen, seinen ganz und gar nicht mehr bewussten Gedanken folgend, die sich schon längst von der DDM-Duel Disk verabschiedet hatten. Erst ein Knarzen der Holzbohlen hinter sich ließ Seto für eine Sekunde aus seinem Tunnel auftauchen. Jemand hatte den Außengang betreten. Wahrscheinlich nur irgendein anderer Besucher. Ohne es weiter zu beachten, fuhr Seto fort, die Stelle zu schattieren, mit der er gerade beschäftigt war. Die Schritte kamen näher. Noch näher. Wollte da ernsthaft jemand zu ihm? Jetzt erst hielt Seto inne und drehte sich um, um zu sehen, wer so wenig an seinem Leben hing. Verdammt, ausgerechnet … ! Schnell klappte er den Block zu und sah mit kalter Verachtung zu seinem unerwarteten Besucher auf. „Was willst du, Wheeler?!“ Aus dem Augenwinkel warf Seto noch einmal einen kurzen Blick zu der Gruppe auf der Wiese. Ihm war überhaupt nicht aufgefallen, dass der Köter gefehlt hatte. Jetzt stand der Blonde halb hinter ihm und inspizierte von oben herab skeptisch den Block in Setos Hand. „Oh, ich war nur neugierig und wollte mal sehen, was du so mit deinem Dino-Bleistift in deinem schicken Dino-Block anstellst, wo du doch Dinos so sehr magst!“ Ah, das war es also gewesen, auf das Wheeler mit seiner Frage gestern beim Orientierungslauf abgezielt hatte! Und offensichtlich schien es noch einige Dinge mehr zu geben, die Devlins Freunde nicht wussten. So sehr es Seto wunderte, dass Devlin sie anscheinend nicht in ihre Zusammenarbeit eingeweiht hatte, es war ganz bestimmt nicht seine Aufgabe, das zu ändern. „Das habe ich dir doch schon mal erklärt, Wheeler! Ich arbeite. Nicht, dass du davon etwas verstehen würdest.“ „Hey, ich arbeite auch!“, protestierte der Blonde und verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Seto entfuhr ein belustigtes Schnauben. „Du willst doch nicht ernsthaft Zeitungen austragen mit dem vergleichen, was ich tue? Ich rede von ernsthafter Arbeit!“ In Joeys Augen trat sofort ein ärgerliches Funkeln. „Was ich mache, ist genauso ernsthafte Arbeit, eingebildeter Fatzke! Ich verdiene vielleicht nicht so viel Geld, dass ich damit eine Turnhalle für die Schule finanzieren könnte, was ich dann nach Belieben in die eine oder andere Richtung als Druckmittel einsetzen kann, um dafür zu sorgen, dass alles nach meiner Pfeife tanzt, aber wenigstens ist es ein ehrlicher Job! Du glaubst nicht, wie viele Leute morgens schon auf ihre Zeitung warten und sich dann wirklich freuen, wenn sie mich kommen sehen! Außerdem erfordert es um einiges mehr körperlichen Einsatz als ab und an im Bürostuhl von links nach rechts zu rollen oder sich in einer Limousine von A nach B kutschieren zu lassen!“ „In einem Punkt gebe ich dir sogar recht: Ich glaube in der Tat nicht, dass jemand, der nicht Teil deiner kleinen Bienchengruppe da drüben ist, sich ernsthaft darüber freut, dich zu sehen.“, antwortete Seto leicht belustigt und mit einer abweisenden Geste seiner rechten Hand, die noch immer den Dino-Bleistift locker zwischen den Fingern hielt. „Aber, wenn du meinst.“ „Ach, du bist doch nur neidisch! Genau das ist nämlich noch so ein Punkt, der meine Arbeit so viel besser macht: Ich hab wenigstens ein Leben und Freunde! Lass mich dir das kurz erklären, du kannst ja nicht wissen, was das ist.“ Joeys Stimme wandelte sich zu einer Art langsamen Sing-Sang, als hätte er es mit einem Vierjährigen zu tun. „Das erste ist das, was man macht, wenn man nicht arbeitet – ich weiß, es muss schwer für dich sein, dir das vorzustellen! – und das zweite sind Menschen, mit denen man Spaß hat, die sich ernsthaft dafür interessieren, wie es einem geht und mit denen man einfach gerne zusammen ist.“ Aus dem Augenwinkel registrierte Seto, wie Devlin zu ihnen herüber sah. Wieder dieses Stechen. Schlagartig schwand Setos Amüsement und seine Stimme senkte sich zu einem eiskalten Zischen: „Dann tu mir doch endlich den Gefallen und geh wieder zu deinen kleinen Freunden, Köter! Sie sehen schon aus, als würden sie jeden Moment anfangen, Flugblätter mit deinem Gesicht und der Überschrift ‚Hund entlaufen!‘ zu verteilen.“ Auch Joey sah nun die besorgten Mienen seiner Freunde, schleuderte ihm noch ein kurzes „Mit Freuden!“ entgegen, wandte sich ab und stieg über den großen Stein vor dem Engawa zurück nach unten in den Garten. Leise atmete Seto aus. Da drehte Joey sich noch einmal um und rief ihm von Weitem zu: „Und ich habs dir ja letztens schon mal gesagt: Der Hundevergleich nutzt sich auch langsam ab!“ Zurück bei den anderen wurde Joey von Tea und Yugi mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln begrüßt. Seto entging keineswegs, dass Devlins grüne Augen noch für ein paar Sekunden auf ihn geheftet blieben, bevor er sich wieder seinen Freunden zuwandte. Sein Kopf war vollkommen leergefegt, als er das mit leuchtend orangenen Triceratops bedeckte Ringbuch erneut aufschlug, zu seiner letzten Seite blätterte und sein Werk der vergangenen Minuten betrachtete. Beinahe kam es ihm vor, als hätte er unter Hypnose gestanden, so wenig hatte sein Bewusstsein gesteuert, was da auf dem dezent karierten Papier gelandet war. Mit einem tiefen Seufzer riss er das Blatt Loch um Loch aus der Ringbindung. Schon war er drauf und dran, es zu zerknüllen, zögerte aber im letzten Moment und überlegte es sich anders. Hastig faltete er das Papier – ein Mal, zwei Mal – und schob es zwischen das letzte Blatt und den hinteren Einband des Ringbuchs. Nach einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr schloss er den Block wieder, ohne sein eigentliches Vorhaben weiter vorangebracht zu haben. Die zehn Minuten, die ihm theoretisch noch blieben, würden ihm jetzt auch nicht mehr viel nützen. Genervt über diese sinnlose Vergeudung einer wertvollen halben Stunde packte er den Block wieder in die Tasche, erhob sich und zog sich noch einmal in die Ruhe des Hauses zurück, wo er zumindest für den Moment kein Mitglied des Kindergartens sehen oder hören musste. Schon als Tea aus der Ferne gesehen hatte, dass Joey bei Kaiba stand und mit ihm zu diskutieren schien, hatte sich abgezeichnet, dass der Blonde sich einmal mehr etwas von ihr anhören durfte, sobald er zurück war. „Musste das denn wirklich schon wieder sein, Joey?! Sag mir bitte, dass du wenigstens was zu deinem ach-so-mysteriösen Dino-Fall herausgefunden hast, damit die Aktion für irgendwas gut war!“ Der Angesprochene verschränkte die Arme vor der Brust und sah demonstrativ zur anderen Seite. „Nein, hab ich nicht! Bist du jetzt zufrieden?!“ Tea antwortete nichts, ihr Blick sprach jedoch Bände. Schnell fügte Joey daher noch hinzu: „Außerdem musste ich wirklich nur aufs Klo! Ich bin nur durch Zufall auf dem Rückweg dort vorbeigekommen!“ Diese Aussage zog Duke doch stark in Zweifel, aber er hütete sich davor, sich in das Gespräch einzumischen. Tea nickte nur. Für sie wäre das Thema damit wohl eigentlich bereits abgeschlossen gewesen, für Joey war es das aber offenbar noch nicht. „Außerdem müsst ihr doch auch gemerkt haben, wie der immer zu uns rübergeguckt hat! Als wären wir es nicht wert auf der gleichen Erde zu wandeln wie der feine Herr Ich-hab-eine-große-Firma-und-kann-mit-Geld-alles-und-jeden-kaufen!“ Dukes Miene hellte sich kaum merklich auf und das leichte Kribbeln in seiner Magengegend kehrte zurück. Aha, also hatte Kaiba sie – ihn? – tatsächlich beobachtet! Er selbst hatte ihn nur ganz kurz in der Entfernung mit dem Block in Händen auf dem Engawa sitzen sehen, aber er hätte sich zu auffällig drehen müssen, um mehr zu erkennen. Diese Information von Joey warf allerdings ganz neue Fragen auf. Allen voran: Hatte Kaiba wirklich zu ihm gesehen? Und warum? Weil es ihm tatsächlich ähnlich ging? Oder wartete er nur darauf, dem Ganzen endlich ein Ende setzen zu können? Der Gedanke schnürte Duke die Kehle zu und es gelang ihm erst die Enge in seiner Brust wieder etwas zurückzudrängen, als sie sich erhoben, um zur letzten Station des Tages aufzubrechen. Das Hauptgebäude des Chokoku-ji-Tempels folgte wie zuvor die Residenz der klassischen Architektur der Edo-Zeit mit einem Holzgerüst und leichten, mit dünnen Holzstreben verstärkten, papiernen Wänden; sein Dachfirst, den ebenfalls das Wappen der Sanada zierte, wurde zusätzlich ganz oben von zwei Fischen geschmückt. Nach und nach traten die Schüler, Frau Sakamoto und Frau Kobayashi folgend, mit einer kurzen Verbeugung durch das Tempeltor. Das Sanada-Fest schien zwar einige Besucher in die Stadt gelockt zu haben, trotzdem war der Tempel eine gute Dreiviertelstunde vor der Schließzeit ein stiller Ort. Mit leiser Stimme erklärte Sakamoto-san vor dem Hauptgebäude dessen Aufbau und die Wurzeln der japanischen Soto-Tradition des Zen-Buddhismus, in der auch dieser Tempel stand. Danach umrundeten sie auch die kleineren Nebengebäude und kamen zum Bereich hinter dem eigentlichen Tempel, wo zwei größere, aufwändig mit vergoldeten Schnitzereien dekorierte Gebäude aus dunklem Holz – Mausoleen der alten Sanada-Fürsten, wie Sakamoto-san erklärte – den Beginn des fürstlichen Friedhofs markierten. „Schnarch! Kann diese Nummer nicht endlich vorbei sein?!“, fragte Joey flüsternd (nach einem prüfenden Blick zu Tea) in Richtung Tristan und Duke. Beide nickten nur stumm, sagten aber nichts, wenngleich Duke zumindest dem zweiten Teil nur zustimmen konnte. Mit verschränkten Armen stand er zwischen seinen Freunden und zwang sich irgendwie aufmerksam zu bleiben. Trotz seiner Haltung gelang es ihm nicht seine Hände stillzuhalten; unaufhörlich spielten seine Finger mit den Schnallen zur Höhenverstellung seines Rucksacks. Für einen Moment löste er die Arme und sah möglichst unauffällig auf sein Telefon.15:28 Uhr. Nachdem die Mausoleen abgehandelt worden waren, traten sie durch eine Art Gartentor in den umzäunten Bereich dahinter, den eigentlichen Friedhof. Die Herbstsonne stand bereits tief am Horizont und sachte segelten Blätter im leichten Wind von den Bäumen wie bunter und viel zu früher Schnee. Knisternd sammelte sich das herabgefallene Laub rund um die Füße der alten, schmalen, pagodenartigen Grabsteine. Während seine Klassenkameraden die Steine mit teils spiritueller, teils morbider Faszination betrachteten, warf Duke allenfalls beiläufige Blicke darauf. Mit klammen Fingern zog er erneut sein Telefon halb aus der Jackentasche und aktivierte das Display. 15:33 Uhr. Mein Gott, wie lange konnte sich das denn noch hinziehen? Ja, das alles hier war nett anzuschauen, er hatte schon hässlichere Friedhöfe gesehen, aber … erstens mochte er sie nun einmal nicht und zweitens wollte er das alles endlich hinter sich haben. Zu seinem Glück war dieser Teil des Friedhofs nicht groß und Frau Sakamoto hatte offenbar nicht den Anspruch jeden einzelnen Grabstein und das komplette Leben der Person darunter zu erklären, sodass dieser Teil der Führung in der Tat nur wenig später vorbei war. „Wenn Sie einmal hier in der Gegend sind und sich dafür interessieren, sollten Sie sich noch einmal die große Grabhügelanlage der Omuro-Kufon ansehen!“, empfahl Sakamoto-san, während sie das Tor der Umzäunung aufhielt und die Schüler nach und nach wieder nach draußen traten. „Wie es der Zufall will, steht genau das für morgen auf dem Programm!“, gab Frau Kobayashi neben ihr mit einem selbstzufriedenen Lächeln zurück, als habe sie gerade einfach so aus dem Stand 100 Punkte in einem Test erreicht. Duke sah zur Seite und zog die Augenbrauen hoch. Oh klasse, noch mehr Gräber! Wenn das kein Grund war, sich auf morgen zu freuen! Jetzt war der Ausflug aber doch sicher zu Ende? Immerhin mussten sie noch zurückfahren, Abendessen, dann musste er noch irgendwie zwei Stunden mit seinen Freunden herumbringen, bis es endlich zu dem dringend notwendigen Gespräch mit Kaiba kommen konnte, das schon den ganzen Tag wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Und warum zur Hölle war er eigentlich so nervös? Er hatte schon unzählige solcher Es-tut-mir-leid-aber-das-war-nur-eine-einmalige-Sache-es-liegt-an-mir-nicht-an-dir-Gespräche geführt und war dabei immer die Ruhe in Person gewesen. Was war das schlimmste, was passieren konnte? Es gab genau zwei Möglichkeiten: Weitermachen oder Beenden, und er würde mit beiden leben können … müssen. Allerdings … bisher war noch nie er derjenige gewesen, der abserviert worden war – und das würde er, denn realistisch betrachtet stand Kaiba wohl eher auf der „Beenden“-Seite. Aber was war mit ihm? Stand er denn wirklich auf der anderen? Und sollte er das nicht langsam aber sicher wirklich mal wissen? Den ganzen Tag über hatte er immer nur nach irgendwelchen Zeichen bei Kaiba gesucht und sie sich, genau wie dessen Verhalten gestern Abend, irgendwie zurecht verargumentiert, aber ein wirkliches Bild hatte er doch nicht daraus gewonnen. Hauptsache, er hatte sich erfolgreich davor gedrückt, sich über seine eigene Einstellung klar zu werden! Verdammt, das alles war so anders als sonst! Schulterzucken und Weitermachen würde diesmal nicht so einfach funktionieren, das war Duke instinktiv klar. „Wer möchte kann gerne noch einen kurzen Moment verweilen, dem Buddha spenden und sich etwas wünschen“, hörte er Sakamoto-sans Stimme von irgendwo sehr weit weg an sein Ohr dringen. Einige Mädchen waren sofort begeistert, suchten Münzen aus ihrem Portemonnaie und traten an die Holzstufen vor der Glasscheibe, durch die man den Buddha sehen konnte. Sie wurden still, verbeugten sich, warfen die Münzen in die Kiste, schlossen ihre Augen und legten die Hände aneinander. Noch einmal verbeugten sie sich, dann kehrten sie zur Klasse zurück. „Wollen wir auch?“, fragte Yugi hoffnungsvoll lächelnd in die Gruppe. Ryou und Tea waren sofort bereit, sodass sich letztendlich auch die anderen Jungs überzeugen ließen. Abwesend fischte Duke seine Brieftasche aus dem Rucksack, suchte eine Münze heraus und trat mit den anderen vor den Buddha. Nach einer kurzen Verbeugung landete auch seine Münze wie die der anderen mit einem dumpfen, metallischen Geräusch in der großen Holzbox vor der Treppe. Er legte die Hände aneinander, schloss die Augen und dachte darüber nach, was er sich wünschen, für was er (als nicht eben religiöser Mensch) beten konnte. Klarheit, schoss es wie von selbst in seinen Kopf. Wenn er gerade eines brauchen konnte, dann das. Wahrscheinlich lag er damit nach Sakamoto-sans Erläuterungen sogar ganz auf der Glaubenslinie. Mit einer letzten Verbeugung dankte er dem Buddha, sah, als er sich aufrichtete, dass auch seine Freunde offensichtlich fertig waren und gemeinsam kehrten sie wieder zum Rest der Klasse zurück. Fast schon feierlich kam Frau Sakamoto nach einigen abschließenden Worten zur Geschichte der Sanada und der Stadt zum Ende ihrer Führung. Es gab einen kurzen Applaus, sie bedankte sich herzlich für die Aufmerksamkeit und Frau Kobayashi verbeugte sich ebenfalls noch einmal mit ausschweifendem Dank vor ihr. Kaum hatte sie sich wieder aufgerichtet, schnippte die Lehrerin mit dem Finger, als sei ihr gerade etwas elementar Wichtiges eingefallen. Aufgeregt sah sie in das Rund ihrer Schüler. „Wissen Sie, was ich denke?“ Vereinzeltes Kopfschütteln, keiner wusste es. „Das hier wäre doch der ideale Platz für ein Klassenfoto!“ Noch bevor irgendjemand protestieren konnte (es wäre wohl auch zwecklos gewesen), drückte sie ihr Handy auch schon Frau Sakamoto in die Hand, die sich ganz selbstverständlich dazu bereit erklärte, das Foto zu machen. Duke konnte sich ein Seufzen nur knapp verkneifen. Naja, es war nur ein Foto und würde wohl nicht allzu lange dauern. „Am besten stellen Sie sich alle mal da vorne auf den Steinstufen auf dem Weg zum Tempel auf!“ Mit leichtem Murren hier und da taten die Schüler wie ihnen geheißen, während die beiden Erwachsenen noch ein ganzes Stück weiter vor gingen, um sowohl den Tempel im Hintergrund als auch die Klasse optimal einzufangen. Duke und seine Freunde gruppierten sich eher auf der linken Seite. Yugi und Ryou stellten sich nach ganz unten vor die Stufen, Tea, Joey, Tristan und Duke in die zweite Reihe. Nach ein wenig hin und her mit einigen anderen Schülern um sie herum schien eine Aufstellung gefunden und Duke hatte ganz links außen neben Tristan seine finale Position bezogen. Frau Kobayashi überwachte den gesamten Aufstellungsprozess von vorne und sah immer wieder prüfend über Sakamoto-sans Schulter auf das Display ihres Telefons. Mit der rechten Hand gestikulierte sie wild in der Luft und wies noch ein paar Schülern die in ihren Augen richtigen Plätze zu. „Mr. Kaiba, rücken Sie doch bitte noch ein wenig mehr nach links – also für Sie rechts – ach, einfach etwas näher an den Rest heran!“ Duke fror auf der Stelle ein. In dem Gewusel hatte er überhaupt nicht darauf geachtet, wo Kaiba war, doch er musste irgendwo hinter ihm stehen, denn vor oder irgendwo neben sich konnte er den Brünetten nicht entdecken. Er wagte es nicht den Kopf zu drehen, um seine Vermutung zu überprüfen. Stattdessen lauschte er mit plötzlich geschärftem Gehörsinn auf jedes einzelne Geräusch in seinem Rücken. Die kleinen Steine auf den Stufen knirschten unter Kaibas Schuhen. Ganz nahe, direkt hinter ihm. Dann kein Knirschen mehr, stattdessen der winzige Luftzug der Bewegung, der Duke einen allzu bekannten Duft in die Nase wehte. Herber als noch heute Morgen im Bad, die fruchtigen Noten mussten sich über den Tag verflüchtigt haben. Duke schluckte. „Und jetzt bitte noch etwas weiter vor, Mr. Devlin und Mr. Taylor beißen nicht!“, flötete die Lehrerin in ihrer anstrengenden, resoluten Fröhlichkeit. Duke schloss für eine Sekunde die Augen. Sein Kiefer, seine Schultern, seine Muskeln, alles in ihm war angespannt, seine Eingeweide erneut ein einziger Knoten. Wieder leises Knirschen, noch eine Bewegung hinter ihm, etwas streifte ganz kurz die Rückseite seiner Oberschenkel – vermutlich der Stoff von Kaibas geöffnetem Mantel. Ein leichter, kaum spürbarer Lufthauch zog in regelmäßigem Takt in seinen Nacken. Kaibas Atem? Oder nur eine Einbildung? Sein Herz schien völlig aus dem Rhythmus und sich in seinem Brustkorb in wilder Raserei zu überschlagen, während er nur stocksteif dastehen konnte. Es wäre Duke schwer gefallen, zu entscheiden, wohin er im Augenblick lieber wollte: Ganz weit weg oder viel näher heran. Beides war gleichermaßen schwer zu realisieren und er gezwungenermaßen an seinem Platz festgenagelt. Hoffentlich war Kobayashi-sensei langsam zufrieden und ließ Sakamoto-san endlich den verfluchten Auslöser drücken! Doch, es musste Kaibas Atem sein. Er war Duke tatsächlich so nah. Zum ersten Mal seit … „Also dann, sagen Sie ‚Cheese’!“ Bevor er sich noch weiter in seinen Gedanken verlieren konnte, eilte Frau Kobayashi neben die Schüler auf die rechte Seite und grinste in die Handykamera, die Sakamoto-san auf sie gerichtet hielt. Zum wiederholten Male an diesem Tag zwang sich Duke zu einem verhaltenen Lächeln; sein gewohntes Posterboy-Grinsen wollte ihm diesmal einfach nicht gelingen. Nachdem sie mehrmals geknipst hatte, ließ Frau Sakamoto das Telefon sinken, und nickte zur stummen Bestätigung, dass die Fotos ihrer Meinung nach gelungen waren. Sofort hastete Frau Kobayashi wieder zu ihr, um sich ebenfalls von der Qualität der Bilder zu überzeugen. Wieder spürte Duke einen Luftzug hinter sich, der ihm verriet, dass sich Kaiba sofort wieder entfernt hatte, und er entließ den Atem, den er offenbar fast die ganze Zeit unbewusst an- oder wenigstens flach gehalten hatte. Auch die restlichen Schüler strömten sofort wieder auseinander, wie eine Soldatenkompanie, die erst stillgestanden und nun das Kommando bekommen hatte, sich rühren zu dürfen. Niemand wollte ernsthaft auf ein Zeichen warten, ob die Lehrerin wirklich zufrieden war. Das glückliche Lächeln, mit dem Frau Kobayashi ihr Telefon wieder an sich nahm, ließ das jedoch zum Glück vermuten. Der Fußmarsch zurück zum Parkplatz vor der Burg ging weitestgehend schweigend vonstatten. Erschöpfung hatte sich breit gemacht, die Schüler hatten über den Tag viel gesehen, neue Eindrücke gewonnen, Interessantes erfahren, sich gelangweilt. Und manch einer hatte zusätzlich noch eine emotionale Achterbahnfahrt hinter sich. Duke lief mit seinen Freunden relativ weit vorne, Kaiba musste wie üblich irgendwo am Ende der Kolonne sein, jedenfalls konnte er ihn nicht sehen und war auch nicht undankbar dafür. Nachdem sie sich alle im Bus einsortiert hatten, jeder wieder auf dem gleichen Platz wie heute morgen, fuhr das Fahrzeug an und rollte langsam vom Parkplatz. Fast gleichzeitig zückten in dieser Sekunde fast alle Schüler ihre Telefone und auch Dukes Handy vibrierte in seiner Tasche. Tristan hatte sein Smartphone als erster zur Hand. „Ah, seht mal, Ginta hat das Klassenfoto in den Gruppenchat gepostet!“ Tea sah sich das Foto ebenfalls an und schüttelte peinlich berührt den Kopf. „Oh mein Gott, wie sehe ich denn wieder aus?!“ „Toll natürlich, wie immer!“, beruhigte Yugi sie leicht errötend und auch auf Teas Wangen trat ein sanftes Rosa. Neugierig und mit pochendem Herzen fischte Duke ebenfalls nach seinem Telefon, öffnete das Foto und zoomte hinein. Kaiba hatte in der Tat ganz nahe hinter ihm gestanden und sah mit ernstem Blick geradewegs in die Kamera. Abgesehen von seinen leicht verwehten Haaren und der etwas alltäglicheren Kleidung sah er genauso aus, wie auf gefühlt jedem seiner Pressefotos der letzten Jahre. Fast war Duke ein wenig enttäuscht, auch wenn er sich fragte, warum eigentlich. Hatte er ernsthaft erwartet, dass Kaiba sich ausgerechnet auf einem Foto irgendwie verraten würde? Und was war mit ihm? Trotz seiner inneren Unruhe und Anspannung sah auch er selbst aus wie immer, nur sein Lächeln etwas schmaler und unscheinbarer, als es vielleicht sonst gewesen wäre. Hm. Aber eigentlich … Er vergrößerte den Ausschnitt noch etwas mehr, sodass nur noch Kaiba und er zu sehen waren. Eigentlich sahen sie gar nicht so schlecht aus zusammen. Duke konnte fühlen, wie die Enge in seinem Brustkorb langsam nachließ und sich seine Mundwinkel kaum merklich hoben. Die Antworten auf die Fragen, die er letzte Nacht in seiner ganzen Überforderung noch nicht hatte geben können, lagen mit einem Mal vollkommen klar vor ihm: Wollte er, dass es weiterging? Ja. Am Ende wäre es doch mehr als schade, wenn diese für ihn in jeder Hinsicht einmalige Erfahrung genau das bliebe: eine einmalige Erfahrung. Würde es überhaupt weitergehen? Nun, das hing nicht zuletzt von Kaiba ab. Vielleicht würde er es beenden, noch bevor es überhaupt richtig angefangen hatte. Vielleicht aber auch nicht. Verstohlene Blicke allein würden jedenfalls nicht ausreichen, um das zu beantworten. Wie sollte es weitergehen? Gesetzt den Fall, Kaiba würde es tatsächlich nicht beenden wollen, war das nun wirklich ein nachrangiges Problem. Sie würden schon einen Weg finden. Kaiba und er hatten zusammen weiß Gott genügend Einfallsreichtum und wenn er es bei Serenity geschafft hatte, alles möglich zu machen, dann würde er das jetzt erst recht versuchen. Seine nervöse Aufregung war noch immer da, als er das Display wieder ausschaltete und sein Telefon verstaute. Jetzt jedoch, da Duke zum ersten Mal eine Idee hatte, wo er in alldem stand, hatte sich die Beklemmung von vorhin in eine Art prickelnde Vorfreude verwandelt: fast wie damals, als er nach Japan gekommen war und einfach alles möglich schien, oder noch früher, wenn er als Kind am Morgen des 25. Dezember aufgewacht war und wusste, dass im Wohnzimmer unter dem Weihnachtsbaum Geschenke auf ihn warteten. Natürlich war der Ausgang diesmal um einiges ungewisser: Er hatte keine Ahnung, ob sich seine Wünsche wirklich erfüllen würden und auch nur sehr begrenzt Einfluss darauf, aber hey … nicht mehr lange und er würde es herausfinden. Also was sollte es? Lebte man nicht genau für solche Momente?! Kapitel 22: Is it any wonder? ----------------------------- In Setos Manteltasche blieb es still, als nahezu zeitgleich überall im Bus die Telefone pingten und vibrierten. Schnell erkannte er an den Gesprächen, dass anscheinend das Klassenfoto herumgesendet worden war. Unzählige „Oh, mein Gott!“s und „Seht mal, wie“s wurden ausgetauscht, über die Seto nur den Kopf schütteln konnte. Schließlich reaktivierte er seine Kopfhörer, um die so anstrengenden wie belanglosen Konversationen seiner Mitschüler einmal mehr auszublenden. Selbst wenn er sein echtes Smartphone dabei gehabt hätte (statt eines praktisch funktionslosen, das nur so aussah), hätte er das Foto nicht erhalten, schlicht und ergreifend, weil er nicht Teil dieses Gruppenchats war. Davon mal abgesehen: Warum sollte er sich ausgerechnet an diesen äußerst unangenehmen Moment erinnern wollen?! Seto hatte durchaus sorgfältig darauf geachtet, wo Devlin und der Rest der Chaostruppe herumwuselten und ursprünglich hatte jemand anderes an ihrem Platz gestanden, sodass er es für ungefährlich befunden hatte, sich ganz hinten links aufzustellen und damit etwas Abstand zur Klasse halten zu können. Dann war jedoch praktisch in letzter Sekunde noch einmal hin- und hergetauscht worden und ehe er sich’s versah, war Devlin genau vor ihm gewesen. Sein Wunsch, auf Abstand zu bleiben, war dadurch nicht gerade kleiner, jedoch von Kobayashi-sensei unerbittlich vereitelt worden; ihrer Aufforderung nicht Folge zu leisten, wäre viel zu auffällig gewesen. So hatte er sich gezwungenermaßen aus nächster Nähe noch einmal mit allem auseinandersetzen müssen, was seine Hormone verrücktspielen ließ: Der frische Duft von Devlins Shampoo war ihm in die Nase gestiegen, er hätte seine Hand nur ein paar Zentimeter ausstrecken müssen, um die weichen, schwarz-glänzenden Haare zu berühren, sich nur ein kleines Stück hinunterbeugen müssen, um wie letzte Nacht Dukes Hals und Nacken entlang zu küssen und vielleicht noch einmal die hingerissenen Laute zu hören, die Duke dabei von sich gegeben hatte. So schnell, wie sie über ihn gekommen war, hatte er die Phantasie auch wieder hinuntergeschluckt, spätestens als Frau Kobayashi im Stile eines gehetzten Baby-Nilpferds angelaufen gekommen war, um sich zur Gruppe zu stellen. Ob Devlin seine Nähe umgekehrt wenigstens genauso aus dem Konzept gebracht hatte? Gleich. Sein Verstand, schon immer sein bester Ratgeber, sagte ihm ohnehin ganz eindeutig, was zu tun war: Er musste die Sache ein für allemal beenden und zwar so schnell wie möglich, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit. Es machte nur Ärger und Umstände und lenkte ihn von allem ab, was wirklich wichtig war. Auch wenn sein innerer Mr. Hyde anscheinend nicht müde wurde, seine eigene unzweideutige Meinung zu den passendsten und unpassendsten Zeitpunkten einzustreuen, er würde ihm keine weitere Beachtung schenken. Endlich bog der Bus in die Auffahrt der Jugendherberge ein und kam ein Stück vor dem Eingang zum Stehen. „Also dann, meine Herrschaften, wir sehen uns wie gewohnt um 18 Uhr zum Abendessen! Bis dahin haben Sie Freizeit und können tun, was Sie möchten. In einem zivilisierten Rahmen, versteht sich!“, gab Frau Kobayashi den restlichen Nachmittag frei, bevor der Fahrer die Türen öffnete und alle aus dem Bus hinausströmten. Während seine Freunde sich schon langsam in Richtung Herberge in Bewegung setzten, blieb Duke noch einen Moment stehen und kramte in der kleinen Vordertasche seines Rucksacks. Mit einem klimpernden Geräusch zog er den Zimmerschlüssel heraus, schloss den Reißverschluss und wollte gerade den Rucksack wieder nach hinten schwingen, um seinen Freunden zu folgen, da fror er mitten in seiner Bewegung ein. Er musste nicht aufsehen, um zu wissen, wer vor ihm stand. Der Duft allein genügte. Als er mit bebendem Herzen den Blick hob, begegnete er blauen Augen, die ihn auffordernd ansahen und bemerkte die geöffnete Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Duke brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dann hielt er Seto den Schlüssel hin. Schon schloss der Brünette die Hand darum, doch irgendetwas hielt Duke davon ab, den Metallring loszulassen. Die blauen Augen schienen einmal mehr direkt in ihn hineinzusehen und seine Hand begann leicht zu kribbeln, als würde durch das Metall des Schlüssels ein schwacher Strom fließen – und das obwohl sich ihre Finger nicht einmal direkt berührten, sondern mindestens einen Zentimeter voneinander entfernt waren. Da verengten sich die Augen des Brünetten und er zog noch etwas stärker an dem Schlüssel, sodass Duke ihn schließlich mit leichtem Widerwillen freigab. Ohne eine weitere Reaktion drehte Seto sich um und ging zügigen Schrittes in Richtung Haus. Mit einem leisen Seufzen sah Duke ihm nach, bevor er sich ebenfalls in Bewegung setzte und dabei versuchte, das auf einmal wieder sehr reale Gefühl der Beklemmung abzuschütteln. Was auch immer das gerade zu bedeuten gehabt hatte (und die Frage war gar nicht mal nur auf Kaiba bezogen), sie mussten definitiv miteinander reden. Dringend. Im Gehen zog er kurz sein Handy hervor. Bis 18 Uhr waren es noch etwas mehr als anderthalb Stunden. Das war doch eine, wenn nicht sogar die Gelegenheit! Er musste nicht bis zehn warten; er konnte jetzt gleich Gewissheit haben, wenn er es nur schaffte, sich von den anderen loszueisen … „Sorry Leute, ich musste noch schnell den Schlüssel raussuchen.“, entschuldigte er sich, als er bei seinen Freunden ankam, die vor der Herberge auf ihn gewartet hatten. Tea winkte lächelnd ab. „Kein Problem. Wir waren gerade dabei zu klären, was wir bis zum Abendessen machen.“ Perfekt! Genau hier musste er einhaken. Denk nach, Duke, denk nach! Ryou zuckte mit den Schultern. „Furchtbar viele Möglichkeiten haben wir ja nicht. Gehen wir in den Gemeinschaftsraum?“ Tristan nickte. „Ja, lasst uns unsere Sachen hochbringen und dann ne Runde Billard spielen oder so.“ „Ich glaub, ich bin raus, ich werd mich bis zum Abendessen noch ein bisschen ausruhen.“ Duke war selbst ein wenig überrascht, wie schnell und selbstverständlich ihm diese Ausrede über die Lippen kam. Sicher, es war auch ein Glücksspiel, barg speziell dieser Vorwand doch das Risiko, einmal mehr die Nachfrage zu provozieren, was denn nun eigentlich mit dem Zimmer nicht stimmte, aber hey, er war nun mal eine Spielernatur und etwas Glaubhafteres weit und breit nicht in Sicht. Zu seinem Glück fragte Tea nicht noch einmal nach, sondern legte ihm verständnisvoll die Hand auf die Schulter. „Klingt nach einer guten Idee, wenn du schon so eine schlechte Nacht hattest. Du siehst auch ziemlich erledigt aus.“ „Willst du bei uns pennen?“, fragte Joey und Duke zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Warum sollte ich?“ „Du willst echt freiwillig länger als nötig bei dem reichen Pinkel sein?!“ Oh oh, machte er sich jetzt doch verdächtig? Dukes Hände wurden ein wenig schwitzig, während Joey weitersprach. „Ich meine nur, am Ende erstickt er dich doch noch mit einem Kissen, so angepisst, wie er vorhin geklungen hat.“ Mit einem Kopfschütteln und der größten Selbstverständlichkeit, die er aufzubringen imstande war, versuchte Duke seinem Freund den Wind aus den Segeln zu nehmen: „Ich muss doch eh mein Zeug ins Zimmer schaffen. Da kann ich mich auch gleich ne Runde auf meinem eigenen Bett hinhauen. Und ich weiß, du kannst dir das nicht vorstellen, aber mit Kaiba zu koexistieren, ist gar nicht so unmöglich, wie du denkst.“ Auch wenn Koexistenz für das, was er vorhatte, natürlich die Untertreibung des Jahrhunderts war. „Na gut, wie du meinst, war nur ein Angebot.“, erwiderte Joey schulterzuckend und zusammen gingen sie hinein. Wirklich, das war es schon?! Duke konnte sein Glück kaum fassen. Die Bahn schien damit tatsächlich frei für das Gespräch, vor dem er sich den Tag über erfolgreich gedrückt hatte! Je näher sie den Zimmern kamen, desto mehr wurde ihm allerdings auch wieder schmerzlich bewusst, warum eigentlich. Als die Zimmertür hinter den Jungs zugefallen war und Duke draußen nur noch gedämpftes Gemurmel hören konnte, hatte er beinahe das Gefühl ein Déjà-Vu zu erleben. Wieder blieb er allein auf dem Gang zurück. Wieder schritt er langsam weiter nach hinten zu seinem eigenen Zimmer, immer noch auf der Suche nach einem Haken, weil es fast zu leicht gewesen war. Aber vermutlich war das Gespräch selbst schon der größte Haken an der ganzen Sache. Die geänderten Umstände und Vorzeichen schienen seinen Körper schon länger nicht mehr zu interessieren, die weihnachtsähnliche Vorfreude von vorhin war verflogen und hatte einer Nervosität Platz gemacht, die sich noch wesentlich schlimmer anfühlte als gestern. Seine Magengegend schien eine einzige Achterbahn zu sein, deren diverse Loopings sich ganz nahe an seinem Herz in die Luft schraubten, sein gesamtes Inneres fühlte sich an wie ein einziger Freizeitpark. Kaiba Land, schoss es ihm in bitterer Selbstironie durch den Kopf und beinahe hätte er gelacht. Seit gestern Nacht hatten Kaiba und er kein einziges Wort gewechselt. Was würde er jetzt zu hören bekommen? Würde er Kaiba überzeugen müssen – überzeugen können – es zu versuchen? (Was auch immer es genau war …) Seine Hand lag schon auf dem Türgriff, doch er zögerte noch. Ein letzter tiefer Atemzug, dann überwand er sich und drückte die Klinke hinunter. Seto stand am Fenster und drehte sich nicht um, als er hörte, wie die Tür geöffnet, gleich darauf geschlossen und der Schlüssel ein Mal im Schloss herumgedreht wurde. Ein Rucksack wurde auf den Boden geworfen, Kleidung schabte an der Tür entlang, als Devlin sich anscheinend daran anlehnte. Kurz war Seto überrascht, dass der Schwarzhaarige bereits jetzt ins Zimmer kam und offensichtlich auch beabsichtigte zu bleiben, aber im Grunde spielte es keine Rolle. Seine Entscheidung war unumstößlich und die nächste Gelegenheit, es zu beenden (was auch immer es überhaupt gewesen war), dann eben bereits jetzt. So betrachtet musste er Devlin eigentlich sogar dankbar sein. Im ersten Moment konnte Duke nur eine dunkle Silhouette im Gegenlicht der langsam untergehenden Sonne erkennen und es dauerte ein paar Sekunden, bis die Umrisse klarer wurden. Kaiba sah mit hinter dem Rücken verschränkten Händen stoisch aus dem Fenster und man brauchte nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie er in derselben Haltung in seinem Büro am Fenster stand und auf Domino und seine kleinen, unbedeutenden Bewohner hinabblickte, bevor er einem Geschäftspartner oder Angestellten schlechte Neuigkeiten eröffnete. Er musste den ersten Schritt machen – nur dann würde er überhaupt eine Chance haben. „Ich ahne schon, was du sagen willst, Kaiba, aber … bevor du das tust, hör mich wenigstens kurz an.“ Keine Bitte, sondern eine Forderung. Skeptisch verschränkte Seto die Arme vor der Brust, drehte sich zu dem Schwarzhaarigen um und wurde mit grünen Augen konfrontiert, die seinen Blick fest und entschlossen erwiderten. Devlin schien einen ebenso klaren Standpunkt zu haben wie er selbst. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Egal. Er würde sich nicht umstimmen lassen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben stieß Duke sich von der Tür ab und trat ein Stück in den Raum hinein. „Ich weiß, das letzte Nacht kam unerwartet und war im Nachhinein auch ziemlich … merkwürdig. Aber du musst zugeben, bis zu der Sache mit Kobayashi-sensei war es einfach …“, er biss sich kurz auf die Unterlippe und zuckte dann mit den Schultern, „… unglaublich.“ Ein vorsichtiges Lächeln umspielte seine Lippen, denn ihm entging keineswegs, wie Kaiba bei seinem letzten Wort für einen winzigen Moment die Augen schloss. „Ich habe heute den ganzen Tag darüber nachgedacht und ich finde wirklich, wir soll-“ „Halt die Klappe!“ Augenblicklich verstummte Duke und musste unwillkürlich schlucken, als der Brünette vom Fenster weg- und langsam auf ihn zutrat. Seine Lungen schienen das Atmen verlernt zu haben und sein Herz hämmerte von innen wie wild gegen seinen Brustkorb. Kaiba kam immer näher, die Brust des Brünetten hob und senkte sich in ebenso schneller Frequenz wie seine und auch in seinem Atem lag ein kaum hörbares Zittern. Die blauen Augen fesselten Duke an Ort und Stelle, wenngleich der sonst so kühle Ausdruck darin fehlte. Schließlich stand Kaiba genau vor ihm, nahe genug, dass er die Wärme des anderen Körpers selbst durch den Stoff ihrer Kleidung spüren konnte. In einer schnellen, fließenden Bewegung legte sich Kaibas Hand in seinen Nacken und zog ihn zu sich. Noch bevor Duke ganz begriffen hatte, legten sich weiche Lippen auf seine und reflexhaft erwiderte er den Kuss. Wie um sich der Realität all dessen zu versichern, wanderte seine rechte Hand zur Brust des Brünetten und vergrub sich in dem weichen Stoff des dunkelblauen Wollpullovers. Nein, das hier war kein Traum und die Erkenntnis ließ ihn den Druck und die Bewegungen seiner Lippen noch intensivieren. Kaiba sollte – musste! – einfach alles verstehen, was er ihm mit Worten allein ohnehin niemals hätte sagen können. Ihre gemeinsame Sprache schien im Moment eine zu sein, die besser ohne Worte auskam. Die Jacke fiel mit einem leisen Rascheln zu Boden, nachdem Seto sie dem Schwarzhaarigen noch im Kuss von den Schultern geschoben hatte. Wer er war, wo er war, was vorher gewesen war und was später sein würde, das alles spielte jetzt keine Rolle. Sie waren allein. Endlich. Keine Frau Kobayashi, kein Kindergarten. Nur er und Devlin, dessen leuchtende, grüne Augen und warmes Lächeln seine vermeintliche Gewissheit hatten dahinbröckeln lassen wie eine Sandburg im Platzregen. Wie sich die Arme des Schwarzhaarigen um seinen Nacken schlangen und die Finger sich in seinen Haaren vergruben – einfach alles daran war richtig. Seto schloss seine Arme fest um Dukes Taille, so als würde er sonst jede Sekunde verschwinden. Seine rechte Hand wanderte weiter nach oben und wurde erst an der Kapuze des Hoodies gestoppt. Unwillkürlich entfuhr ihm ein leises Murren, woraufhin sich die Lippen des Jüngeren an seinen zu einem amüsierten Grinsen verzogen, dann löste er sich von ihm und zog den schwarzen Pullover aus. Dass sich dabei das Haarband gleich mit verabschiedete, schien Devlin nicht im Geringsten zu kümmern. Einmal aus der Umarmung entwichen, nutzte der Schwarzhaarige die Gelegenheit, noch schnell aus seinen Schuhen zu schlüpfen und sie von sich zu kicken, irgendwo in die grobe Nähe seiner Tasche. Dann endlich gab er Setos Drängen nach und ließ sich von ihm zurück in einen weiteren, verlangenden Kuss ziehen. Jede Sekunde, in der diese Lippen nicht geküsst wurden, grenzte an Verschwendung! So strich Seto fordernd mit der Zunge darüber und konnte seine Befriedigung kaum verbergen, als ihm bereitwillig Einlass gewährt wurde. Als würde er von einer Welle überspült, wurde Duke immer weiter nach hinten geschoben, bis er zum zweiten Mal binnen weniger Minuten die Tür im Rücken hatte. Es war anders als gestern. Tausendmal besser. Gestern war es spontan und aus einer unklaren Situation heraus geschehen. Heute wusste Duke, dass er es wirklich, wirklich wollte, mehr, als alles andere, und ließ sich in diesem Bewusstsein ganz von der Ekstase mitreißen. Ein intensiver Hauch des so wohl vertrauten Duftes stieg ihm in die Nase, ließ ihn den Kontakt ihrer Lippen unterbrechen und sich stattdessen Kaibas Hals widmen, auf der Suche nach dem Ursprung dessen, was ihm schon seit Tagen verlässlich die Sinne vernebelte. Die Hitze, der aufgeregte Puls unter seinen Lippen in Verbindung mit dem Duft berauschten ihn und schließlich erreichte er sein Ziel: An Kaibas offenem Hemdkragen, dort wo sein Schlüsselbein begann, schmeckte er eine leicht bittere, alkoholische Note. Kurz ließ Duke seine Zunge über diese so wichtige Stelle gleiten und als der Brünette daraufhin scharf die Luft einzog, konnte Duke sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Spätestens jetzt war alles klar: Es war nie um das Parfüm an sich gegangen. Erst die Kombination mit Kaiba – seinem Körper, seinem eigenem Duft – machte es so unwiderstehlich. Überrascht zuckte er zusammen, als sich dessen Hände unter sein Shirt schoben, allerdings ohne sich dort lange aufzuhalten. Aufreizend langsam zog der Brünette das Kleidungsstück Zentimeter um Zentimeter nach oben und ließ ihn dabei nicht eine Sekunde aus den Augen. Oh ja, da gefiel jemandem eindeutig, was er sah und Stück für Stück weiter freilegte! Kurz biss sich Duke auf die Unterlippe, dann schloss er die Augen und konzentrierte sich ganz darauf, wie die schlanken Finger und der Stoff des Shirts sanft über seine Haut glitten und in Verbindung mit der kühlen Luft eine leichte Gänsehaut entstehen ließen, dazu auf Kaibas schweren Atem, der sich mit seinem eigenen vermischte. Schließlich wurde das Shirt über seinen Kopf und seine Arme gezogen und landete, ebenso achtlos wie zuvor die Jacke, auf dem Boden neben ihnen. Kraftvoll fasste ihn Kaiba um die Hüften, um sich wieder enger an ihn zu ziehen und Duke keuchte leise in den Kuss hinein, konnte er doch jetzt nur zu genau fühlen, dass der Brünette ihn mindestens so sehr wollte wie umgekehrt. So wunderbar weich und warm sich der Kaschmirpullover auch auf seiner nackten Brust anfühlte, bedeutete es jedoch im Umkehrschluss, dass Kaiba noch immer viel zu viel Kleidung anhatte. Ganz gezielt wanderten Dukes Hände an ihm nach vorne, schoben den Pullover etwas hoch und zogen dem Brünetten das Hemd aus der Hose. Die Beschaffenheit und Menge des textilen Materials behinderten ihn jedoch in seinem weiteren Erkundungsdrang. Scheinbar hatte Kaiba das auch bemerkt, denn dessen Mundwinkel zuckten kurz an seinen Lippen nach oben, bevor er sich endlich des Pullovers entledigte und Duke beginnen konnte, genussvoll nacheinander jeden einzelnen Knopf des verbliebenen Kleidungsstücks zu öffnen. Spannung und Amüsement blitzten in den blauen Augen auf, die jeden seiner Handgriffe genau beobachteten. Als die Seiten des Hemdes auseinanderfielen und den Blick auf den schlanken, muskulösen Oberkörper darunter freigaben, schob Duke den Brünetten ein Stück von sich, trat von der Tür weg und betrachtete für einen Moment voller Stolz sein Werk: Leicht zerzauste haselnussbraune Haare, tiefblaue, von Lust verschleierte Augen, ein Hemd, das nurmehr lose auf Kaibas Schultern hing. Ein halb benommenes Lächeln schlich sich auf Dukes Gesicht und ein warmes Kribbeln breitete sich von seinem Herzen in seinen gesamten Körper aus. Hätte man ihm früher gesagt, wie ungemein befriedigend es war, Seto Kaibas sonst so wohlgeordnetes Äußeres durcheinanderzubringen, er hätte schon viel eher damit angefangen. Dieser Anblick – dieser Kaiba – gehörte ganz allein ihm. Ihm war es erlaubt worden, hinter die Fassade zu sehen, eine Seite des Brünetten freizulegen, die der restlichen Welt verborgen blieb. Duke trat wieder auf ihn zu und ihm gefiel die Aufmerksamkeit, mit der erneut jede seiner Bewegungen verfolgt wurde, ob nun aus Vorsicht oder – wesentlich besser – Erregung und Neugier. Mit federleichten Bewegungen schob er das Hemd von den Schultern des Brünetten und sah noch aus dem Augenwinkel, wie es auf dem Boden halb auf seinem eigenen weinroten T-Shirt zu liegen kam. Sanft umfasste Kaiba sein Gesicht mit beiden Händen und ließ sie noch im Kuss weiter über seinen Hals zu seinen Schultern wandern, um ihn mit sanftem Druck in Richtung Bett zu bugsieren. Duke drohte einmal mehr in den Augen seines Gegenübers zu versinken, als dieser ihren Kuss löste und ihm mit wenigen behutsamen Handgriffen das Haargummi aus den Haaren zog. Widerstandslos ließ er es geschehen. Kaiba hatte ihn schon einmal so gesehen und würde – zumindest auf absehbare Zeit – auch der einzige bleiben, der ihn so sehen durfte. Sacht, beinahe schwelgerisch ließ der Brünette seine Hand durch die gesamte Länge seiner Haare gleiten und Duke musste die Augen schließen, um nicht von Gefühlen überschwemmt zu werden. Wie lange hatte er das schon nicht mehr gespürt?! Der Kontext war zwar ein völlig anderer gewesen, trotzdem lag in dieser Geste eine zärtliche Vertrautheit, von der er nicht einmal geahnt hatte, wie sehr er sie all die Jahre vermisst hatte. Mit einem leichten Schubs wurde er rücklings auf das Bett befördert, robbte sich nach hinten und streckte die Hand aus, um Kaiba zu bedeuten, dass er nicht gewillt war, hier lange auf ihn zu verzichten. Der kam der Aufforderung offenbar nur zu gerne nach, ließ sich ebenfalls auf das Bett sinken und schloss zu ihm auf. Dukes Atem beschleunigte sich, als sich Kaibas Hände auf dem Weg genussvoll über seinen Oberkörper tasteten und dabei auch den Clown-Anhänger streiften, um den er sich bis jetzt überhaupt nicht gekümmert hatte. Für einen kurzen Moment nahm der Brünette das Schmuckstück in die Hand und betrachtete es, dann zog er es Duke vorsichtig ab und legte es auf seinen Nachttisch. Fast war es, als würde mit dem Anhänger auch jedes ablenkende Detail seiner Identität abgestreift: Duke Devlin, den Spieledesigner und Besitzer des Black Clown, gab es hier nicht mehr. Hier und jetzt war er nur noch Duke. Unter Kaibas wachsamem Blick setzte er sich auf, erwiderte die Geste ebenso bedächtig mit dessen Anhänger und sah den jungen Mann, der ihm gegenüber mit nacktem Oberkörper auf dem Bett kniete, für ein paar Sekunden einfach nur an. Das war nicht mehr Seto Kaiba, der die kolossale Verantwortung für ein Milliardenunternehmen und seinen kleinen Bruder trug. Das hier war einfach nur Seto. War es Rache für die Sache mit den Schuhen vorhin, dass Kaiba – Seto – ihn ausgerechnet jetzt ebenfalls kurz warten ließ, um auch noch seine Uhr abzumachen und auf das Nachtschränkchen zu legen? Kaum waren dessen Hände wieder frei, ließ Duke voller Ungeduld seine Hand einmal mehr durch Setos Haare gleiten und nahm endlich wieder seinen Mund in Besitz. Noch währenddessen beugte er sich etwas nach oben, um die Hose des Brünetten zu erreichen und mit wenigen, geübten Handgriffen Gürtel, Knopf und Reißverschluss zu öffnen. Ab jetzt galt es, wachsam zu sein und noch genauer auf jede kleine Regung seines Gegenübers zu achten. Mit vorsichtigen Bewegungen begann Duke, über den Stoff der schwarzen, enganliegenden Boxershorts zu massieren, die er freigelegt hatte, und ein Schauer überlief ihn, als er ein leises Stöhnen aus Setos Mund vernahm. Der Kontakt ihrer Lippen brach ab und Duke hielt alarmiert in seinem Tun inne, doch der Brünette zog sich nicht zurück. Stattdessen drückte er seine erhitzte Wange fest an Dukes, vergrub seine Hand in den schwarzen Haaren und bedeutete ihm mit einer dezenten Bewegung seiner Hüfte unzweifelhaft, weiterzumachen. Der schwere, heiße Atem an Dukes Hals und seinem Ohr ging unter dem sanften Druck seiner Hand immer mehr zu einem erregten Keuchen über. Setos Oberschenkel presste sich zwischen seine Beine, streifte dabei auch – bewusst oder nicht – seinen Schritt und auch ihm entfuhr ein leises Stöhnen. Unvermittelt verstummten darauf die lustvollen Laute an seinem Ohr und wieder hielt er inne, ohne jedoch seine Hand zurückzuziehen. Der Brünette hob leicht den Kopf, um ihn anzusehen; Erregung schimmerte in den blauen Augen, aber auch etwas, das er nicht von Kaiba kannte, sondern das ganz Seto sein musste: etwas echtes, rohes … – Verunsicherung. Über ihm hob und senkte sich Setos Brust im Rhythmus seines schnellen Atems und die Stimme des Brünetten klang ungewohnt tief und rau, als er kaum hörbar in die Stille fragte: „Hast du schon mal …?“ „Nicht … so. Du?“, hauchte Duke atemlos zurück. Das minimale Kopfschütteln, das folgte, war ihm Antwort genug. Jedes zusätzliche Wort konnte eines zu viel sein, hatte das Potential den Moment zu zerstören, alles zu real werden zu lassen. Dasselbe würde allerdings auch geschehen, wenn diese Stille noch länger andauerte. Wenn es weitergehen sollte, musste jetzt etwas passieren. Unerwartet schnell wurde Seto überrumpelt und Duke saß auf ihm, ein verwegenes Lächeln auf den Lippen und die Enge in Setos Schritt nahm unweigerlich noch einmal zu. „Ich für meinen Teil bin auch ganz gut im Improvisieren!“, wisperte Duke ihm verführerisch ins Ohr, rutschte etwas weiter nach unten und schob ihm die Hose ein Stück von den Hüften, um sich mehr Handlungsspielraum zu verschaffen. Sein Herz drohte jetzt schon jeden Moment aus seinem Brustkorb auszubrechen, trotzdem stützte sich Seto auf die Ellenbogen und beobachtete vollkommen versunken und mit einer geradezu außerkörperlichen Faszination jede von Dukes Bewegungen. Aufreizend, fast quälend langsam wanderten die Finger des Schwarzhaarigen über den Bund seiner schwarzen Shorts, bevor er von einer Sekunde auf die nächste seine Hand hineingleiten ließ. Das war zu viel. Seto atmete scharf ein, warf den Kopf in den Nacken und ließ sich wieder auf die Matratze fallen. Eine leise Stimme in seinem Hinterkopf mahnte, dass er gerade nicht viel mehr als Wachs in Dukes Händen war, aber nichts konnte ihm jetzt egaler sein. Als der Schwarzhaarige seine Hand nur wenig später wieder zurückzog, konnte Seto nur knapp einen enttäuschten Laut unterdrücken. Duke kam wieder nach oben, um sich einen kurzen Kuss von Setos Lippen zu stehlen – immerhin war der letzte schon mehrere Minuten her –, nur um sogleich von Neuem wieder abzutauchen. Auf dem Weg ließ er sich Zeit, immerhin gab es da noch einige Stellen, die bis jetzt ungerechtfertigterweise viel weniger seiner Aufmerksamkeit erhalten hatten, als sie es eigentlich verdient hatten: Setos Schlüsselbein, seine Brustwarzen, sein Bauchnabel. Gott, wie hatte er das alles bis jetzt nur verpassen können?! Dass Kaiba verdammt gut aussah, hatte er schon immer gewusst, aber er hatte es noch nicht gewusst. Wieder am Bund der Shorts angekommen zog er mit der Zunge eine feuchte Spur über die zarte, empfindliche Haut dort, ließ seine Lippen noch für einen Moment darüber schweben und lauschte genau auf den Atem des Brünetten, um ganz bewusst wahrzunehmen und zu genießen, wie er sich schlagartig intensivierte, als seine Hände die Shorts Stück für Stück nach unten zogen. Setos Hand krallte sich in die Bettdecke und ihm entfuhr ein abgehacktes Stöhnen, als Dukes Mund noch ein Stück weiter nach unten wanderte. Er versank ganz in dem Gefühl, ließ sich treiben, gab sich für einen Moment ganz der Illusion hin, dass das niemals aufhören könnte. Sein Körper allerdings sendete andere Signale und der kleine Teil von ihm, der zumindest noch zu so etwas ähnlichem wie Denken in der Lage war, warnte, dass, wenn Duke so weitermachte, er es nicht mehr lange aushalten würde. So brachte ihn der letzte Rest seiner völlig betäubten bewussten Wahrnehmung dazu sich wieder ein wenig aufzurichten, seine Hand nach unten zu bewegen und sanft über die schwarzen Haare zu streichen. Duke hielt augenblicklich inne und sah zu ihm auf, die grünen Augen lustverschleiert und absolut göttlich. Offensichtlich hatte der Schwarzhaarige verstanden und schob sich wieder nach oben, Seto beugte sich ihm jedoch schon auf halbem Wege entgegen und nahm seinen Mund rücksichtslos und voller Leidenschaft wieder in Besitz. Bereitwillig fügte sich Duke und überließ nun anscheinend ihm die Oberhand, auch wenn Seto sich noch nicht ganz sicher war, was genau er eigentlich als nächstes vorhatte. Egal. Er würde schon sehen, was sein Körper tat. Durch eine geschickte Verlagerung seines Gewichtes vertauschte Seto ihre Positionen und war nun wieder über Duke. Mit einer Entschiedenheit, von der Seto nicht wusste, woher er sie in dieser für ihn so fremden und neuen Situation eigentlich nahm, schob er eine Hand unter den Körper des Schwarzhaarigen und bedeutete ihm damit, sich umzudrehen. Die grünen Augen funkelten gespannt, als Duke der stummen Aufforderung nachkam. Mit der Hand strich Seto einmal sanft über den schönen Rücken, dann legte er erneut den Arm um Duke und zog ihn nach oben, sodass sie hintereinander auf dem Bett knieten. Jeder Quadratzentimeter von Setos Brust schien Duke zu berühren, warme Haut auf warmer Haut, trotzdem hätte er den Jüngeren noch näher, noch enger an sich gezogen, wenn er gekonnt hätte. Sanft strich er die langen, schwarzen Haare ein wenig beiseite, küsste Dukes Hals und Nacken, so wie er es sich schon heute Nachmittag kurz vorgestellt hatte und ließ seine Hände genussvoll und langsam über dessen Schultern und Arme nach unten wandern. Seine Finger machten sich nun auch an Dukes Gürtel und Hose zu schaffen und der Schwarzhaarige atmete beinahe erlöst aus, als beides geöffnet war. Noch einmal ließ Seto seine Hände sanft über Dukes Oberkörper gleiten, dann zogen sie ebenfalls die gerade geöffneten Hosen inklusive der dunkelgrauen Boxershorts ein Stück nach unten. Wahrscheinlich funktionierte das Ganze eigentlich etwas anders, aber darum scherte Seto sich jetzt nicht. Was in diesem Moment passierte, war wichtiger als jedes Richtig oder Falsch. Ihr Atem ging stoßweise, vermischte sich, wurde zu einem einzigen. Seine rechte Hand kümmerte sich ganz um Duke, und jedes leise, halb unterdrückte, kehlige Stöhnen des Schwarzhaarigen machte Seto nicht nur unmissverständlich deutlich, dass er das Richtige tat, sondern steigerte auch seine eigene Erregung immer weiter, zusätzlich zu den rhythmischen Bewegungen seiner Hüfte. Die reale Welt um ihn herum – das Bett, die Wand, das Zimmer – verschwamm immer mehr vor seinen Augen. Auch sein eigenes Keuchen konnte er irgendwann nicht länger unterdrücken, das Fieber, die Ekstase mussten sich irgendwie Bahn brechen. Plötzlich griff der Schwarzhaarige nach Setos linker Hand, die ihn an der Schulter gehalten hatte, und presste sie fest auf seine Brust, sodass Seto Dukes rasendes Herz fühlen konnte, wie es von innen gegen seinen Brustkorb hämmerte. Die Umklammerung verstärkte sich in dem Maße wie seine Bewegungen immer schneller, ihr Atem immer abgehackter wurde. Daraufhin löste Seto seine Hand ein wenig und ganz wie von selbst verschränkten sich ihre Finger, so als könnte der andere sich sonst in der nächsten Sekunde in Luft auflösen und sich alles nur als surrealer Traum entpuppen. Im Hochgefühl schmolzen ihre Körper ineinander und Seto verlor jegliches Gefühl dafür, wo er anfing und Duke aufhörte. Alles, was er in diesem Augenblick fühlte, dachte, lebte, innen und außen, war Duke, und nur Duke. Der Schwarzhaarige richtete sich noch etwas weiter auf, ließ seinen Kopf nach hinten gegen seine Schulter fallen und krallte seine Finger in Setos Nackenhaare. Setos Lippen pressten sich in einem beinahe verzweifelten Kuss an Dukes Hals, um sein eigenes Aufstöhnen zu dämpfen, als sie nur um Sekunden versetzt zum Höhepunkt kamen. Vollkommen außer Atem ließ sich der Schwarzhaarige rücklings auf das Bett fallen und Seto sank nicht minder erschöpft halb auf ihn nieder, mit dem Kopf genau zwischen Dukes Hals und Schulter, wo er mit jedem seiner tiefen Atemzüge den wundervollen Duft der pechschwarzen Haare in sich aufnehmen konnte. Seine rechte Hand ruhte auf Dukes Oberkörper und gedankenverloren strich er mit dem Daumen hin und her, so als könne er allein dadurch das Pochen von Dukes Herz sowie das noch immer schnelle Heben und Senken seiner Brust beruhigen. Seto schloss die Augen, als Arme sich um ihn schlossen, eine Hand sich in seinen Nackenhaaren vergrub und Duke gedankenverloren seinen Hinterkopf kraulte. Langsam ließ der Rausch nach, kamen ihre aufgewühlten Körper ein wenig zur Ruhe. Schließlich löste Seto sich aus der Umarmung und rollte sich nach rechts auf seine Seite des Bettes ohne dabei jedoch den Blick von Duke zu lösen, auf dessen Lippen ein seliges, fast verträumtes Lächeln lag. Als der Schwarzhaarige Setos Blick erwiderte, sich zu ihm drehte und entspannt den Kopf auf seiner Hand aufstützte, blitzten die grünen Augen amüsiert und gleichzeitig voller Wärme und Zärtlichkeit auf. „Also so langsam sollten wir wirklich mal anfangen darüber zu reden, wie …“ Mitten im Satz erstarb sein Lächeln, er starrte an Seto vorbei und seine Augen weiteten sich. „Scheiße!“ Irritiert drehte auch Seto den Kopf und folgte Dukes entsetztem Blick, der, wie er erkannte, auf die Uhr auf seinem Nachttisch gerichtet war. Im selben Moment, als der Schwarzhaarige es aussprach, dämmerte es auch ihm. „Das Abendessen! Es hat schon vor zwanzig Minuten angefangen!“ Verdammt! Die viel zu weiche Matratze vibrierte leicht, als Seto seine rechte Faust mit voller Kraft auf sie schlug. Mit der anderen Hand fuhr er sich über die Stirn und durch die Haare. Duke hatte sich aufgesetzt und – im Unterschied zu ihm – sofort begonnen praktisch zu denken. „Wir können unmöglich zusammen runtergehen, das wäre zu auffällig!“ Seto sah ihn nur an, sagte nichts und ließ ihn fortfahren. „Am besten gehst du zuerst, ich werde einen Moment länger brauchen als du, um mich fertig zu machen.“ Mit einem abwesenden Nicken stand Seto auf, zog seine Hose wieder hoch, sammelte seine verstreuten Sachen ein und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, ins Badezimmer. Statt sich umgehend und mit der gebotenen Eile wieder herzurichten, verharrte Seto für einen Moment vor dem Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn auf und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ein Mal. Zwei Mal. Drei Mal. Ohne sich abzutrocknen, stützte er die Hände links und rechts auf das kalte, weiße Porzellan und sah sich im Spiegel an. Sein Atem zitterte, sein Herz schlug noch immer rasend schnell. Sein Körper und sein Geist waren ein einziges Schlachtfeld, auf dem sich seine Hormone wie wild austobten. Er fühlte sich wacher als nach seinem fünften Kaffee, aufgeputscht und euphorisch, wie nach einem im ausverkauften Stadion gewonnenen Duell, irgendwie … glücklich, wie wenn Mokuba lachte (aber anders), und nicht zuletzt verwirrt. Vor allem verwirrt. Ratlos. Zwei Empfindungen, für die er keine Vergleiche hatte, weil es nur äußerst wenige Dinge gab oder in seinem Leben gegeben hatte, die er nicht verstand. Aber was hier gerade passiert war, war mit Sicherheit eines davon. Aus dem Spiegel blickte ihm ein junger Mann entgegen, mit noch immer leicht tropfendem, vom eiskalten Wasser etwas geröteten Gesicht, der sich gerade eben auf eine Weise mit jemand anderem geteilt – und damit auch mitgeteilt – hatte, die er bis vor wenigen Tagen noch ganz entschieden aus seinem Leben ausgeklammert hatte. War das noch er? War das noch Seto Kaiba? Nichts und niemand hatte ihn auf eine solche Situation vorbereitet, weder die Schule noch seine rigorose Ausbildung unter Gozaburo. Was hier passiert war, widersprach allem, was er je gelernt hatte, schon allein deshalb, weil es so absolut irrational gewesen war! Er war absolut irrational gewesen! Kaum zwei Stunden war es her, da hatte er noch einen genauen Plan gehabt, den er dann im Bruchteil einer Sekunde, beim Blick in diese viel zu ausdrucksvollen, grünen Augen einfach so über den Haufen geworfen hatte. Wer versicherte ihm, dass das nicht wieder vorkommen würde? Niemand konnte das, er selbst am allerwenigsten. Stets hatte er die Kontrolle gehabt, wenn schon nicht über die Welt um sich und die anderen Menschen darin, so doch wenigstens über sich selbst. Jederzeit. Ausgerechnet diese Kontrolle war ihm im Laufe der letzten Tage immer weiter entglitten, oder – viel schlimmer noch – war vielleicht von Anfang an nur eine Illusion gewesen. Die Erkenntnis traf ihn hart und trotz allem irgendwie plötzlich: Er hatte keine Kontrolle. Er war machtlos. Ausgeliefert. Seinen Gefühlen, seinen Hormonen und – am allerschlimmsten – einem anderen Menschen. Seine Brust begann sich zuzuschnüren, seine Hände krampften sich auf der Suche nach mehr Halt noch fester um den Rand des Waschbeckens, kalter Schweiß brach ihm aus und sein Herz hämmerte immer lauter und schneller gegen seinen Brustkorb. Leichte Übelkeit stieg in ihm hoch, während sein Blick nervös durch den Raum mäanderte, sein Atem wurde immer flacher und abgehackter. Sein Bild im Spiegel verschwamm, stattdessen tauchten immer mehr kleine Punkte in der Luft vor ihm auf. Schließlich blieb sein Blick an seiner Waschtasche hängen, die ihn wie ein rettender Anker aus seiner Gedankenspirale zurück in die Realität holte. Das Abendessen. Anziehen. Haare kämmen. Fertig machen. Langsam beruhigten sich sein Atem und sein Herzschlag wieder, er löste sich vom Waschbecken und griff mit noch immer leicht zitternden Fingern nach seinem Hemd. Nur wenige Minuten später kam Seto wieder angezogen und gekämmt aus dem Bad und hoffte, dass nach außen keine Spur seines inneren Tumultes zu erahnen war. Auch Duke stand nun vom Bett auf, die Hose hatte er bereits wieder hochgezogen, aber noch immer geöffnet. Als der Schwarzhaarige genau auf ihn zuhielt, blieb Seto wie angewurzelt stehen. Fast genau vor Setos Füßen beugte Duke sich nach unten und hob sein T-Shirt auf, dann stand er tatsächlich genau vor ihm und sah ihn schon wieder mit diesem Lächeln an, das Setos Gedanken mit sofortiger Wirkung jeder Sachlichkeit beraubte. „Wir reden später?“, drang Dukes sanfte Stimme wie durch Watte an seine Ohren. Seto nickte nur und Duke ging weiter an ihm vorbei Richtung Bad. Er hatte schon die Tür geöffnet und das Licht angeschaltet, da drehte er sich noch einmal um. „Achso, falls die anderen fragen: Ich hab vorhin gesagt, ich müsste mich noch ein wenig hinlegen. Schlecht geschlafen und so.“ Wieder nickte Seto mechanisch, dann erwachte er aus seiner Starre, wandte sich der Zimmertüre zu und hatte die Hand schon auf die Klinke gelegt, als … „Kaiba?“ Für eine Millisekunde kniff Seto die Augen zusammen. Ohne es wirklich zu wollen, sah er noch einmal zu Duke. In den grünen Augen lag eine unfassbare Wärme und auf Dukes Lippen einmal mehr jenes atemberaubende Lächeln. „Das war Wahnsinn!“ Unwillkürlich zuckten Setos Mundwinkel ein paar Millimeter nach oben, Weite erfüllte seine Brust und der Schwarm Insekten in seiner Magengegend kehrte zurück und schien ausgelassen auseinander zu stieben. Als Seto die Zimmertür hinter sich zuzog, war die Welt einen winzigen Moment lang vollkommen in Ordnung. Die Euphorie hielt noch ungefähr bis zum Ende des Ganges an, danach ließ sie mit jedem weiteren Meter, den er sich von dem Zimmer entfernte, jeder Treppenstufe, die er hinabstieg, rapide nach, bis sie schließlich vor der Tür des Speisesaals komplett versiegt und er wieder ganz in seinem gewohnt kühlen und nüchternen Selbst angekommen war. Kaum hatte er den Saal betreten, überkam ihn das Gefühl, dass alle Augenpaare im Raum sich gleichzeitig auf ihn richteten. Mit Sicherheit war das keine reine Einbildung, immerhin war er eine knappe halbe Stunde zu spät gekommen, aber normalerweise hätte es ihm weitaus weniger ausgemacht. Angestarrt zu werden war etwas, das er gewohnt war, manchmal sogar genoss. Aber dieses Mal war es anders, unangenehmer, ging viel tiefer als sonst. So als könnte jeder hier in ihn hineinschauen und damit unweigerlich auch sehen, was gerade passiert war. Natürlich war das Unsinn, trotzdem fiel es ihm ungewöhnlich schwer, das Gefühl abzuschütteln. Die meisten seiner Mitschüler wandten sich bereits wieder ihrem Essen und ihren Gesprächen zu, Frau Kobayashi saß mit Herrn Takeda am Tisch und schien mit ihm schon seit geraumer Zeit in eine intensive Unterhaltung vertieft zu sein, was der Hauptgrund dafür sein mochte, dass ihr noch nicht aufgefallen war, dass zwei ihrer Schüler, darunter wieder einmal Seto, gefehlt hatten. So sehr er auf das romantische Intermezzo der beiden Lehrer gestern Abend hätte verzichten können, aber unter den gegebenen Umständen musste Seto dafür mehr als dankbar sein. In dem Wunsch unangenehme Nachfragen weiterhin zu vermeiden ging er zielstrebig in Richtung der Essensausgabe, geradewegs am Tisch von Dukes Freunden vorbei, die er ignorierte, wie er es am liebsten zu tun pflegte, wenn er nicht durch etwas oder jemanden daran gehindert wurde. „Hey, Eisklotz!“ Ohne sich umzudrehen, blieb Seto stehen. Natürlich, es wäre ja auch zu schön gewesen! „Wo ist Duke?“ Kurz schloss Seto die Augen, bevor er so kurz und sachlich wie möglich antwortete: „Kommt gleich.“ „Warum so spät?“ Ein leicht herausfordernder Unterton lag in der Frage, der Seto nun doch veranlasste sich umzudrehen und Joey anzusehen. Musste er sich jetzt allen Ernstes von dem Köter verhören lassen? „Mein Gott, Wheeler, er ist weggepennt, was dachtest du denn?!“ „Was weiß ich?! Du hättest ihn auch mit deinem Kissen erstickt haben können, weil er dich irgendwie genervt hat. Dir traue ich alles zu.“ Seto entfuhr ein kurzes Schnauben. Voller Geringschätzung funkelte er Joey an, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. „Sicher, und ich bin auch nur deshalb zu spät, weil ich bis eben noch im Wald war, um Devlins Leiche zu verscharren. Warum gehst du mit deiner Superspürnase nicht gleich los und versuchst sie zu finden?“ Joey verzog nur sein Gesicht. „Haha, wirklich sehr witzig!“ Dann allerdings hellte sich sein Blick auf und er neigte fragend den Kopf. „Aber ein guter Punkt, den du da ansprichst: Warum bist du denn eigentlich zu spät?“ Verdammt, ärgerte sich Seto, diese Frage hatte er gerade ja regelrecht provoziert. Offensichtlich war er noch immer nicht wieder ganz auf der Höhe. „Ich muss mich nicht rechtfertigen, Köter, und schon gar nicht vor dir! Aber da du es so unbedingt wissen willst: Ich habe erst gearbeitet, dann gelesen und dabei nicht permanent auf die Uhr gesehen.“ Joeys Augenbrauen wanderten skeptisch nach oben. „Soso, gelesen?“ Warum hatte er auf einmal das Gefühl in eine Ecke gedrängt zu werden? Vom Köter, noch dazu? Reflexartig holte Seto zum Gegenangriff aus. „Das ist für gewöhnlich das, was man mit Büchern tut. Du kennst sie vielleicht eher als Untersetzer oder Türstopper.“ „Ich kann lesen, Arschloch!“ „Wirklich? Ich war eigentlich bisher immer davon ausgegangen, dass der arme Muto und sein Großvater sich vor jedem Turnier mit dir hinsetzen und dir alle deine Karten erklären.“ Wut loderte in Joeys Augen auf und ruckartig erhob er sich, sodass sein Stuhl laut knarzte und beinahe umfiel. Schon fasste ihn Tristan am Arm und auch seine anderen Freunde machten sich bereit einzugreifen. „Leute, entspannt euch, was ist denn hier los?“ Duke hatte die Lage sofort erkannt, als er den Speisesaal betreten hatte und war zu Joey geeilt, um ihn von einer Dummheit abzuhalten, die auch für ihn selbst nur negative Auswirkungen haben konnte. „Hey, da bist du ja endlich, Mann!“, wurde er von ebendiesem begrüßt, als wäre nichts. In Kaibas blauen Augen hingegen lag noch immer ein wütendes Funkeln, das sich, genau wie sein eisiger Tonfall, schmerzhaft in Duke hineinschnitt. „Könntest du deinen kleinen Wachhund hier bitte von deiner körperlichen Unversehrtheit überzeugen und dann endlich an die Leine nehmen?! Ein Maulkorb wäre auch nicht unangebracht!“ Joey knuffte Duke daraufhin nur lachend mit dem Ellenbogen in die Seite. „Ach, kümmer’ dich nicht weiter drum, ich wollte doch nur sichergehen, dass der böse, reiche Mann dir nichts angetan hat!“ Duke verdrehte nur die Augen und seufzte. „Sehr lustig, Joey!“ Dessen breites Grinsen erstarb augenblicklich, als er den ernsten Ausdruck in Dukes Augen erkannte. Mit zusammengezogenen Brauen konnte Duke nur noch zusehen, wie Kaiba einmal entnervt schnaubte und sich mit einem letzten Kopfschütteln entfernte. Über diese Sache würde bei ihrem Gespräch später mit Sicherheit noch zu reden sein und die Vorstellung gefiel Duke ganz und gar nicht. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Yugi mit sorgenvoller Stimme, während Duke sich auf den freien Platz neben Joey setzte und sich zu einem minimalen Lächeln zwang. Den Zwischenfall gerade nicht weiter zu thematisieren und das Gespräch wieder in unverfängliche Bahnen zu lenken, erschien Duke für den Moment am klügsten. „Ja, warum sollte es das nicht sein? Ausgeruht bin ich jetzt auf jeden Fall.“ „Sehr gut,“, warf Tristan ein und klopfte ihm auf den Rücken, „dann musst du nur noch ordentlich reinhauen! Du brauchst doch noch Grundlage im Magen für unseren großen Party-Abend!“ Duke nickte nur gedankenverloren und erhob sich, um sich etwas zu Essen zu holen, solange es noch ging. Erst auf dem Weg zur Durchreiche schienen die Worte sein Gehirn tatsächlich zu erreichen. Party-Abend?! Was für ein …?! Na, die bechern wohl heute auf jeden Fall noch ein bisschen! Ja, im Gegensatz zu uns! Hey, wir sind doch dann morgen dran, schon vergessen? Fuck! Kapitel 23: If all this was easy (...) -------------------------------------- „Also, wir haben Sake, Wodka, Rum und diverse Limos zum Mischen. Von den Chips sind leider nur noch zwei Tüten da, den Rest hat Joey schon vernichtet.“ Während Tristan bereits voll in der Party-Planung aufging, schob Duke sich abwesend die letzten Bissen seines verspäteten Abendessens in den Mund. „Wenn wir hier fertig sind, kommt ihr am besten gleich alle hoch in unser Zimmer. Tea, bringst du ein paar von den Mädels mit?“ Tea zuckte nur mit den Schultern und schien nicht gerade optimistisch. „Hm, ich kann’s zumindest versuchen.“ Aus dem Augenwinkel nahm Duke eine Bewegung hinter sich wahr. Wieder war es der Duft, genauso wie Joeys sich verfinsternde Miene, die ihm noch vor dem eindeutigen Räuspern verriet, wer hinter ihm stand. Sein Puls beschleunigte sich. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was Kaiba wollte. Nach außen vollkommen ruhig legte er die Stäbchen auf dem Teller ab und kippte leicht mit dem Stuhl nach hinten, um besser an seine Hosentasche zu kommen. Er musste ein wenig kramen, bevor er den Zimmerschlüssel gefunden hatte, dann drehte er sich halb herum, um ihn Kaiba zu geben. Leider konnte er das Gesicht des Brünetten nicht richtig erkennen, aber das Funkeln in Joeys Augen ließ vermuten, dass da lediglich ein missbilligender Blick war, der primär dem Blonden galt. Kaum hatten sich Kaibas Finger um das Stück Metall geschlossen, rauschte er, ohne Duke oder irgendjemand anderen eines weiteren Blickes zu würdigen, davon und verließ den Speisesaal. Jede Faser in Duke zog sich zusammen. Am liebsten wäre er sofort aufgesprungen und Kaiba hinterher gerannt, um genau dort weiterzumachen, wo sie vorhin hatten aufhören müssen. Stattdessen nahm er seine Stäbchen wieder zur Hand und aß still weiter, während ihn die so frischen und darum noch ausgesprochen lebhaften Erinnerungen an das, was vor nicht einmal einer Stunde oben passiert war, nicht in Ruhe lassen wollten. Kaiba? Das war Wahnsinn. Wahnsinn, weil er noch nie so intensiv gefühlt, so dabei empfunden, es noch nie so genossen hatte. Die Spannung, die Erregung, die Intensität von … einfach allem: Den Küssen, den Berührungen, dem Höhepunkt. Alles hatte gestimmt, sich einfach richtig angefühlt. Erst kurz vor dem Speisesaal hatte er das glückselige Grinsen, mit dem er trotz der Hektik und Aufregung ins Bad gegangen war, wieder von seinen Lippen bekommen. Wahnsinn aber auch, weil er wahnsinnig sein musste, um ausgerechnet auf einer Klassenfahrt mit jemandem zu schlafen. Seinem Zimmergenossen. Seinem männlichen Zimmergenossen. Seto Kaiba, ausgerechnet. Aber nein, nach allem, was er in den letzten Tagen von ihm gesehen, gehört, erlebt hatte, hätte es an Wahnsinn gegrenzt, wenn er das nicht gewollt hätte. „Sehr schön, jetzt wo Duke auch endlich fertig ist, kann es ja losgehen!“, brach Tristans Stimme mitten in seine Gedanken ein. Duke blinzelte und sah nach unten. Stimmt, da war tatsächlich nichts mehr auf seinem Teller! Hätte Tristan nichts gesagt, er hätte vermutlich noch ein paar Mal mit seinen Stäbchen ins Leere gestochert. Kaum merklich schüttelte er den Kopf, dann erhob er sich und brachte seinen Teller zur Geschirrabgabe. Bei seiner Rückkehr erhoben sich die anderen ebenfalls und gemeinsam machten sie sich Tristans Plan gemäß auf den Weg nach oben. „Oh Mann, Leute, das wird spitze!“ Im Gehen legte ihm Tristan voller Vorfreude den Arm um die Schulter und zog ihn an sich. „Auf diesen Abend hab ich mich schon die ganze Zeit gefreut!“ Beinahe schmerzhaft fest drückte Tristan seine Schulter und ließ erst los, als Duke seiner ‚Freude‘ mit einem ebenso breiten Grinsen Ausdruck verliehen hatte. Der Knoten in seinem Inneren wurde minütlich größer. Wie schnell sich die Dinge doch ändern konnten! Noch vor wenigen Tagen hätte er jedes Wort von Tristan unterschrieben, jetzt hingegen kam es ihm vor, als würde er in Hand- und Fußschellen abgeführt. Wir reden später? Verdammt, er hatte doch keine Zeit sich zu betrinken, er musste endlich vernünftig mit Kaiba sprechen (Betonung auf ‚sprechen’)! Mit jeder Minute, die verstrich, kippte die fragile Situation weiter, entfernte sich Kaiba wieder von ihm, hatte Zeit über alles nachzudenken und einmal mehr alles in Frage zu stellen. Hauptsache, es kommt dann morgen nicht auf einmal irgendwas anderes dazwischen! Auf der anderen Seite konnte er auch Tristan nicht schon wieder hängen lassen; sie hatten ihm das kleine Gelage für heute hoch und und heilig versprochen! Die Enttäuschung in den Augen seines vielleicht besten Freundes, wenn er sich wieder unter einem Vorwand entschuldigte oder pünktlich um 22 Uhr zurückzog – was für Tristan vermutlich auf dasselbe hinauslief – wäre nur schwer zu ertragen. Außerdem musste doch spätestens dann auch noch der Letzte misstrauisch werden. Wie sollte er aus dieser Zwickmühle herauskommen? Die Erschöpfungskarte hatte er gestern und heute Nachmittag bereits gespielt. Ein drittes Mal würde er damit nicht durchkommen, zumal er vorhin ja selbst gesagt hatte, dass er ausgeschlafen sei. Gab es noch einen anderen Weg sich elegant aus der Affäre zu ziehen? Noch dazu mit einem möglichst geringen Alkohol-Pegel? Denn alles andere würde Kaiba wohl nicht gerade anziehend und begrüßenswert finden… Bevor er zu einem Ergebnis kommen konnte, wurde er auch schon durch eine Tür geschoben und fand sich wesentlich schneller als erwartet im Zimmer der Jungs wieder. Voller Elan zog Tristan seine Reisetasche unter dem Bett hervor, öffnete den Reißverschluss und ehe er sich’s versah, bekam Duke kommentarlos, aber mit einem vielsagenden Blick, zwei schwere Glasflaschen in die Hand gedrückt: eine mit blauem Etikett und klarem Inhalt – Wodka – sowie eine mit schwarzem Etikett und bernsteinfarbener Flüssigkeit – Rum. Gedankenverloren stellte er sie auf dem Tisch ab, während Tristan noch drei weitere Flaschen starken Alkohols aus seiner Tasche zog und ebenfalls auf dem Tisch absetzte. Es folgten mehrere große Plastikflaschen Limonade und Cola, sowie eine jungfräuliche Großpackung Plastikbecher. Das alles hatte Tristan von zu Hause mit hierher geschleppt? Kein Wunder, dass er so vehement auf seinem Partyabend bestanden hatte! Joey hatte indes aus einem der Schränke die besagten zwei Tüten Chips hervorgekramt und warf sie ebenfalls in die Mitte auf den Tisch; Yugi und Ryou brachten das Zimmer in Ordnung und verstauten in weiser Voraussicht herumliegende Gegenstände sicher in ihren Taschen und den Schränken. Da seine Hilfe anscheinend nicht mehr benötigt wurde, ließ sich Duke mit verschränkten Armen auf einem der Stühle nieder, lehnte sich weit zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus, sodass das nervöse Wippen seines Fußes niemandem auffiel. Tristan riss bereits die Folie der Plastikbecher auf, holte fünf Stück heraus und reihte sie sorgfältig vor sich auf. „Was darf ich Ihnen anbieten, meine Herren?“, fragte er in gespielter Förmlichkeit. „Duke, Rum-Cola für dich?“ „Mhm.“ Duke nickte nur und sagte, entgegen seines Vorsatzes, nichts, als beim Mischen seines Getränks die Rumflasche wesentlich länger über seinem Becher verweilte, als ihm lieb sein konnte. Auch die anderen sammelten sich jetzt um den Tisch: Joey mischte sich Wodka und Orangenlimonade, Ryou goss sich ein wenig puren Sake ein, Yugi füllte seinen Becher fast bis oben hin mit Limo und gab erst am Ende einen winzigen Schluck – kaum mehr als einen Tropfen – Wodka dazu. Als schließlich jeder ein Getränk in der Hand hatte, hob Tristan seinen Becher und blickte stolz in die Runde. „Ich weiß, Tea und die Mädels sind noch nicht da, aber das hier ist mindestens einen Tag überfällig: Jungs, auf uns und unseren grandiosen Sieg über die Privatschulsäcke!“ Gemeinsam mit den anderen erhob auch Duke seinen Becher und prostete seinen Freunden zu, bevor er den ersten Schluck nahm. Trotz der Cola brannte es in seiner Kehle, doch er ließ es sich nicht anmerken. Ja, Tristan hatte wirklich nicht mit dem Rum gespart! Es klopfte und gleich darauf öffnete sich die Tür. Wie nicht anders zu erwarten war es Tea, die tatsächlich drei weitere Mädchen im Schlepptau hatte: Mariko winkte zur Begrüßung und warf Duke ein scheues Lächeln zu, das er mit einem dezenten Nicken erwiderte. Bei den weiteren Begleiterinnen handelte es sich um Teas andere Zimmergenossin Ayumi sowie das Mädchen von der Privatschule, mit dem Ayumi sich gestern Abend im Gemeinschaftsraum über Make-Up ausgetauscht hatte. Ungewohnt engagiert wurden die weiblichen Neuankömmlinge (Privatschule oder nicht schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen) von Joey und Tristan begrüßt und mit Getränken versorgt – mit Ausnahme von Tea, die über die Ignoranz ihrer Freunde nur den Kopf schütteln konnte. Mit einem genervten Augenrollen drückte sie sich an den Jungs vorbei, stellte eine Flasche Wein mit Schraubverschluss auf dem Tisch ab, die sie offenbar selbst mitgebracht hatte, und nahm sich einen Becher. Nachdem sie sich eingeschenkt hatte, ließ sie sich seufzend auf den Stuhl neben Duke fallen. Demonstrativ hielt sie ihm den Becher hin und während er wie gewünscht mit ihr anstieß, nutzte sie die Gelegenheit, ihn ausgiebig und forschend zu mustern. „Solltest du nicht anstelle der beiden Hornochsen da vorne an der Tür stehen und die Mädels begrüßen? Ich dachte eigentlich, du hättest dich auf diesen Abend mit am meisten gefreut … und sag mir jetzt bloß nicht, du bist müde!“ War seine mangelnde Motivation denn so offensichtlich? Duke schüttelte den Kopf und hielt dem prüfenden Blick ihrer hellblauen Augen problemlos stand. „Nein, ich hatte nur irgendwie gar nicht mehr daran gedacht, dass wir das heute machen wollten, das ist alles. Gib mir noch ein paar Minuten und zwei, drei Getränke und Duke Devlin ist voll da!“ Zum ersten Mal heute gelang es ihm tatsächlich, sein gewohntes nonchalantes Grinsen aufzusetzen. Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. „Hab ich da etwa ‚Gib mir mehr Getränke!‘ gehört?“, schaltete sich Tristan in aufgekratzter Fröhlichkeit ein und füllte Dukes Becher prompt mit mehr Rum wieder auf. Verflucht, er musste wirklich besser aufpassen! Wie ein Tiger im Käfig lief Seto schon seit seiner Rückkehr im Zimmer auf und ab und dachte nach. Dass er sich ausgerechnet von Wheeler so in eine Ecke hatte drängen lassen! Ja, er hatte sich durch ein mehr oder weniger geschicktes Ablenkungsmanöver wieder befreit, aber trotzdem! Eines musste man dem Köter lassen: Er hatte ein untrügliches Auge für seine Schwachpunkte, schien irgendwie gespürt zu haben, dass er angreifbar gewesen war. Aber es auf Wheeler allein zu schieben, wurde der ganzen Angelegenheit nicht gerecht. Wenn er überhaupt jemanden verantwortlich machen konnte, dann sich selbst. Ob der Frische der verwirrenden Ereignisse hatte er keine souveränere Reaktion zustande gebracht. Und überhaupt wäre es gar nicht zu dieser kleinen Konfrontation gekommen, wenn er bei seiner Entscheidung geblieben und nicht angesichts von Devlins Blick, Gesten und Worten eingeknickt wäre, wie ein Grashalm im Wind. Das alles hätte schon längst vorbei sein können! Nun ja, besser spät als nie. Noch heute Abend würde er seinen ursprünglichen Plan in die Tat umsetzen und diesen Irrsinn beenden. Dazu war allerdings Devlins Anwesenheit unabdingbar. Wir reden später? Tze, ‚später’, was sollte das überhaupt bedeuten, ‚später’?! Später – nach dem Abendessen? Später – zur Nachtruhe? Später – wenn mir danach ist?! So unspezifisch und wenig aussagekräftig es war, hätte Devlin ebenso gut gar nichts sagen können! Seto entließ ein zynisches Schnauben. Angreifbar und dann auch noch von jemandem abhängig – zwei Zustände, die er verabscheute und eigentlich zu vermeiden suchte, wann immer es ging. Voller Ungeduld warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Nun, das Abendessen war mittlerweile wirklich vorbei. Hätte Devlin es geschafft, seine nervigen Anhängsel unter irgendeinem Vorwand ein weiteres Mal loszuwerden, um wieder zu ihm zu kommen, wäre er wohl bereits hier. Vermutlich war er also in Beschlag genommen worden, sodass es äußerst unwahrscheinlich war, dass er vor der Nachtruhe um 22 Uhr wieder auftauchte. Wie konnte er die Zeit bis dahin am besten herumbringen? Abwägend ließ Seto seinen Blick durch den Raum schweifen, verharrte kurz bei seiner Tasche, die den Block enthielt, und wanderte dann weiter zu seinem Nachtschränkchen, auf dem noch immer das angefangene Buch lag. Zwangsläufig rückte dabei auch das Bett in sein Blickfeld. Die eingedrückten, zerknautschten Kissen. Devlin, der seine Hand darin vergrub und seinen Kopf genussvoll zur Seite warf, als Setos Oberschenkel seinen Schritt streifte. Die zerwühlten Decken. Devlin, der mit einem Schubs darauf landete, sich weiter nach hinten schob und ihn gleich darauf mit diesem warmen, verlangenden Blick zu sich zog. Seine eigenen Finger, die sich hineinkrallten, als Devlins Lippen sich um … Schnell, fast hektisch ließ Seto seine Hände über die Decken gleiten, um sie wieder glatt zu streichen, schüttelte die Kissen auf und platzierte sie ordentlich an dem niedrigen Kopfteil des Bettes, in der Hoffnung so auch die Erinnerungen und Empfindungen wieder aus seinem Kopf zu verbannen. Gehörten diese Gedanken und … Sehnsüchte wirklich zu ihm selbst? Oder doch eher einem Fremden? Jemandem, der ihm mehr als suspekt war, obwohl oder gerade weil sie sich offenbar denselben Körper teilten. Er wollte nicht dieser Jemand sein, hatte keine Lust, keine Kraft, keine Zeit dazu, aber in dieser Frage schien er jegliches Mitspracherecht verloren zu haben. Hatte keine Wahl. Keine Kontrolle. Genau wie … Fast automatisch fiel sein Blick auf das Buch auf dem Nachttisch. Zwischenzeitlich war es in dem doch recht kleinen Vierer-Zimmer wesentlich voller und vor allem lauter geworden. Vor einer halben Stunde hatte Ayumi das Fehlen von Musik bemängelt, woraufhin ihre neue Privatschulfreundin den Bluetooth-Lautsprecher ihrer Klassenkameradin ins Spiel gebracht hatte. Selbstverständlich kam das Gerät nicht alleine, sondern mit dessen Besitzerin, deren Freundinnen und einigen weiteren Klassenkameraden, die zum Teil noch eigene Getränke mitbrachten, sodass der Raum bald darauf erfüllt war von Menschen, elektronischer Musik und vielfachen Gesprächen. Unter normalen Umständen lebte Duke erst richtig auf, wenn es laut und wuselig wurde, viele neue Gesichter zu entdecken und kennenzulernen gab, aber heute war schon den ganzen Tag sehr vieles anders als sonst. Unbemerkt von allen anderen hatte er sich in die Ecke hinter dem linken der beiden Hochbetten geflüchtet. Die Beats aus der auf Anschlag aufgedrehten Box dröhnten in seinen Ohren, das diffuse, unverständliche Gemurmel aus so vielen Mündern und die stickige Luft in dem kleinen, überfüllten Zimmer ließen seinen Kopf schmerzen. Schon wieder spürte er ein Ziehen nahe seiner linken Schläfe, kniff die Augen zusammen und massierte die Stelle ein wenig. Während der kurze Schmerz langsam wieder abebbte, schielte er zum wiederholten Male am Bettpfosten vorbei in Richtung Tür und nippte dabei unauffällig an seinem Becher. Aus der Pullovertasche zog er sein Handy hervor und aktivierte das Display. 20:37 Uhr. Würde es irgendjemandem auffallen, wenn er jetzt einfach hier rausspazierte? Alle diese Leute hinter sich ließ, die ihn im Moment nicht im Geringsten interessierten und sich über den Flur in sein eigenes Zimmer stahl, wo Ruhe herrschte und der einzige Mensch auf ihn wartete, mit dem er heute wirklich reden wollte … reden musste? Noch einmal warf er einen Blick zur Tür. Genau neben dem rettenden Ausgang stand Joey und unterhielt sich angeregt mit einem Mädchen von der Privatschule. Es war nur zu offensichtlich, dass er bereits gut angetrunken war – seinen ausladenden Gesten nach zu urteilen, begann er gerade mit seinen Turnier-Erfolgen zu prahlen – aber da es bei dem Mädchen nicht viel anders aussah, schien die Konversation gar nicht so schlecht zu laufen. Trotzdem würde er die beiden nie und nimmer unbemerkt passieren können. „Hey Süßer, was machst denn ausgerechnet du so alleine hier hinten?“, riss ihn eine weibliche Stimme aus seinen Gedanken. Zwei Mädchen standen vor ihm, ein blondes – sie war es, die ihn angesprochen hatte – und ein brünettes, beide ausnehmend hübsch und durchaus nach seinem Geschmack. Unter normalen Umständen. „Echt mal, wir haben gedacht, du kommst mal zu uns rüber! Gestern schienst du noch so … aufgeschlossen zu sein.“, fuhr das brünette Mädchen fort und zwinkerte ihm zu. Moment, gestern? Dukes Augenbrauen zogen sich kaum merklich zusammen und er sah noch einmal genauer hin. Richtig! Das waren zwei von Kentas Freundinnen, mit denen er geflirtet hatte, um diesem Idioten eins reinzuwürgen. Zufrieden nahmen die beiden Mädchen sein Erinnern zur Kenntnis und ließen ihm nicht einmal die Chance etwas zu antworten. Stattdessen hakten sie sich bei ihm ein und zogen ihn ungefragt heraus aus seiner Ecke. Immer wieder schwappte sein Getränk bedrohlich, während er beinahe rabiat von den Damen nach vorne auf eines der unteren Betten bugsiert wurde. Schüchtern waren sie jedenfalls nicht, so wie sie ihn kurzerhand gekapert hatten und sich nun links und rechts eng an ihn schmiegten. „Also, kommen wir mal zur Sache: Ich bin Bianca und das ist …“, die Blondine wies auf ihre Freundin, die den Satz prompt beendete und dabei kurz ihr Kinn auf seiner Schulter abstützte: „Lucy. Und du bist?“ Duke unterdrückte gerade so den Reflex das Gesicht zu verziehen. Ja, das eine oder andere Getränk schienen auch die beiden schon genossen zu haben. „Duke. Duke Devlin.“, antwortete er und zwang sich zu einem Lächeln. Wie hohl der Name klang, aus seinem eigenen Mund noch dazu! Als wäre dieser Duke Devlin, den er da vorstellte, jemand ganz anderes, der eigentlich gar nicht da war. „Also schön, Duke, warum erzählst du uns nicht mal ein bisschen was über dich?“, forderte ihn Bianca äußerst entschieden auf, sodass ihm kaum eine andere Wahl blieb, als wieder in die Rolle jenes Duke Devlin zu schlüpfen – seine Parade-Rolle, die er in den letzten Jahren perfektioniert hatte und konstant spielte, sobald er nicht allein war. Eigentlich. Das bin ich. Einfach so. Ein Stich durchfuhr sein Herz, doch er schluckte das Unbehagen hinunter, so gut es eben ging. Mit dem gewinnendsten Lächeln, das er aufbringen konnte, sah er zwischen den Mädchen hin und her und begann zu erzählen. Erst nachdem das Bett wieder genauso ordentlich und scheinbar unangetastet vor ihm lag wie noch heute Morgen vor ihrer Abfahrt, konnte sich Seto überwinden, es sich wieder darauf bequem zu machen und zu dem Buch zu greifen. Er war schon fast am Ende angekommen – Jekylls finale Beichte der Ereignisse an seinen Freund Lanyon – und wunderte sich selbst ein wenig, dass er für ein so schmales Buch so lange gebraucht hatte. Nun ja, er war eben gelegentlich etwas … abgelenkt gewesen. Gerade beschrieb Jekyll seine allererste Verwandlung in sein böses Alter Ego Mr. Hyde. Die mörderischsten Qualen folgten: ein Knirschen in den Knochen, eine tödliche Übelkeit und ein Angstgefühl, wie es sich nicht schlimmer in der Geburts- oder Sterbestunde äußern kann. Dann legte sich die Agonie schnell, und ich kam, wie nach einer tiefen Ohnmacht, wieder zu mir. Da war etwas Fremdes in meinen Empfindungen, etwas unbeschreiblich Neues, und in seiner Neuheit unglaublich Süßes. Ich fühlte mich jünger, leichter, glücklicher, empfand eine berauschende Unbekümmertheit, die in meiner Phantasie eine Fülle sich überstürzender, sinnlicher Vorstellungen hervorrief, und nahm eine Lösung aller Bande der Verantwortlichkeit wahr, eine bisher unbekannte, aber nicht unschuldsvolle innere Befreitheit der Seele.¹ Das! Ganz genau so war es gewesen! Heute Nachmittag, ein paar wenige Sekunden lang, zwischen Bett, Badezimmer und Speisesaal, und hatte seine Gewissheit, dass er so etwas in seinem Leben jetzt und in Zukunft nicht brauchte, ins Wanken gebracht. Mit bebendem Herzen las Seto weiter. Auf den folgenden Seiten berichtete Jekyll von seinen regelmäßigen Verwandlungen der ersten Zeit, den Genüssen und der Freiheit, die sie ihm brachten, schließlich aber auch von den zunehmenden Gefahren und seiner beginnenden Skepsis. Jener Teil meines Wesens, dem ich durch meine Macht Gestalt verleihen konnte, hatte sich in letzter Zeit oft bestätigt und entwickelt. Neuerdings schien es mir, als ob der Körper von Edward Hyde gewachsen wäre, als ob mir (wenn ich seine Gestalt annahm) das Blut feuriger durch die Adern rollte. Ich fing an, Gefahr zu wittern – die Gefahr, dass, wenn dies länger fortgesetzt würde, das Gleichgewicht meines Wesens für die Dauer verlorengehen, die Macht freiwilliger Verwandlung verwirkt und der Charakter von Edward Hyde unwiderruflich der meinige werden könnte.² Wenn er dieser Sache mit Devlin, dieser anderen Person in sich, weiterhin Raum gab, würde das früher oder später auch mit ihm passieren. Konnte er das zulassen? Nun, nichts von alldem, was gestern, heute und in den letzten Tagen passiert war, hatte er in seinem bisherigen Leben vermisst. Es bestand also eigentlich keinerlei Anlass, irgendetwas daran zu ändern. Somit schien alles darauf hinzuweisen, dass mir mein ursprüngliches, besseres Ich langsam entglitt und ich allmählich in mein zweites, schlechteres verwandelt wurde.³ Es war in der Tat immer schlimmer geworden, je mehr er sich auf diese Devlin-Geschichte eingelassen hatte. Bis hin zu seinem ersten kompletten Kontrollverlust gestern, der ihn endgültig zu einer Entscheidung gezwungen hatte. Ja, ich wählte den ältlichen, grämlichen Doktor, der von Freunden umgeben war und ehrenhaften Zielen zustrebte, und sagte der Freiheit, der Jugend, dem leichten Gang, dem jagenden Puls und den geheimen Ausschweifungen, die ich in der Gestalt von Hyde genossen hatte, entschlossen Lebewohl.⁴ Sobald Devlin wieder hier aufkreuzte, würde auch er seine Entscheidung endlich wahr machen! Für Doktor Jekyll war die Geschichte an dieser Stelle zwar noch nicht zu Ende, aber seine eigene kleine, unerfreuliche Episode würde es sein! Aber ich hatte freiwillig all die abwägenden Instinkte abgestreift, die selbst den Bösesten unter uns mit einem gewissen Grad von Festigkeit inmitten von Versuchungen einhergehen lassen; darum bedeutete in meinem Fall in Versuchung kommen, und mochte sie noch so gering sein, ihr unterliegen.⁵ Natürlich konnte man argumentieren, dass er schon einmal an exakt dem gleichen Punkt gewesen war. Aber ein Seto Kaiba machte niemals den gleichen Fehler zweimal! …darum bedeutete in meinem Fall in Versuchung kommen, und mochte sie noch so gering sein, ihr unterliegen.⁵ Was aber, wenn dieses Mal anders war? Würde er wieder schwach werden? Würde er wieder einfach seinen Impulsen nachgeben, um das alles noch einmal zu spüren: das Kribbeln, die Leichtigkeit, den Rausch? Er ließ das Buch sinken, schloss die Augen und horchte tief in sich hinein. Was, wenn Devlin genau jetzt zur Tür hereinkäme? Er auf dem Bett. Die Türklinke wird heruntergedrückt. Sein Herz schlägt schneller. Die Tür geht auf. Devlins schlanke Gestalt wird sichtbar. Ein flaues, leichtes Gefühl, wie bei einem hohen Sprung oder auf einer Schaukel. Devlin kommt näher. Die grünen Augen, das sanfte Lächeln. Flattern in seinem gesamten Oberkörper, der Impuls das Lächeln zu erwidern. Seto öffnete die Augen, legte das Buch auf seinen Oberschenkeln ab und ließ mit einem leisen Seufzen seinen Kopf nach hinten gegen die Wand sinken. Nichts von alldem konnte er unterdrücken, stoppen oder aufhalten. Es passierte einfach. Vollkommen automatisch. Körperliche Reaktionen, die so schnell ausgelöst wurden, dass sein Geist keinen Einfluss darauf nehmen konnte, egal, wie sehr er wollte. …darum bedeutete in meinem Fall in Versuchung kommen, und mochte sie noch so gering sein, ihr unterliegen.⁵ Von einem sprunghaften Aktionismus gepackt legte er das aufgeschlagene Buch auf den Nachttisch, streckte sich nach seiner Tasche aus und kramte den Dino-Block hervor. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig, als er das Ringbuch ganz bewusst von hinten aufschlug und mit unsteten Bewegungen die herausgerissene Seite entfaltete, die er heute Mittag dort hineingelegt hatte. Fast begierig fuhren seine Augen die Bleistiftlinien nach, die, im Unterschied zu denen seiner Entwürfe weiter vorne, nicht gerade, gleichmäßig, technisch verliefen, sondern natürliche Umrisse, Schwünge und Schattierungen bildeten. Wieder Ziehen, Flattern, Schaukelgefühl. Nicht unangenehm, eher … aufregend. Bedächtig faltete er das Blatt wieder zusammen und legte es zurück in den Block. Wenn er ohnehin nichts dagegen tun konnte und es ihm gefiel, … … warum sollte er dann darauf verzichten? Er war Seto Kaiba. Er musste auf gar nichts verzichten, wenn er nicht wollte. Er war niemandem Rechenschaft schuldig und erst recht nicht in Bezug auf sein Privatleben. Warum also einen mühsamen, kräftezehrenden Kampf kämpfen, den er eigentlich nur verlieren konnte? Wenn man eines von Jekyll lernen konnte, dann doch wohl das! Wie von allein wanderte sein Blick erwartungsvoll zur Tür. Ich habe heute den ganzen Tag darüber nachgedacht und ich finde wirklich, wir … Wenn Devlin jetzt käme und noch immer dieser Meinung war, dann … Aufgrund der vielen Menschen auf engem Raum herrschte eine Hitze im Zimmer, gegen die auch das gekippte Fenster nicht viel ausrichten konnte. Duke schwitzte jedoch nicht nur deshalb. Krampfhaft hielt er sich noch immer an seinem Becher fest; demselben wie vor anderthalb Stunden, noch immer viertelst voll. Bianca und Lucy hingegen hatten in der gleichen Zeit schon weitere anderthalb Getränke geleert und langsam, aber sicher machte sich das auch in ihrem Verhalten bemerkbar. Zweifellos waren die beiden Privatschülerinnen sehr hübsch, was in seinen Augen durchaus manch anderen, negativen Persönlichkeitsaspekt aufwiegen konnte. Nur eben leider nicht heute. Eigentlich durfte er sich noch nicht einmal beschweren, im Grunde hatte er es sich gestern ja selbst eingebrockt. (Noch ein Punkt für Tea!) Die oberflächlichen Gespräche über ihren Alltag auf der Privatschule, ihre Hobbies und Freundinnen sowie die Fragen über sein Leben zogen sich nun schon eine gefühlte Unendlichkeit in die Länge. Er hatte andere, wesentlich wichtigere Gespräche zu führen, verdammt! Die Kenta-Karte hatte er schon gespielt („Was wird eigentlich euer Freund, dieser … Kenta dazu sagen, er schien mir ja ein ziemlich eifersüchtiger Typ zu sein…“), aber das hatte nichts genützt („Ach, vergiss den …“). Damit schienen sein Reservoir an Ausreden und seine diesbezügliche Kreativität schon wieder aufgebraucht zu sein, sein Kopf erneut blockiert. Es gab nichts, was er ‚mal eben‘ aus seinem Zimmer holen könnte: seinen Pulli hatte er an (und selbst wenn nicht, bei der Hitze hier würde kein gesunder Mensch einen brauchen), sein Handy hatte er dabei, das hatten sowohl die beiden Damen als auch Tristan bereits gesehen … Während sich Bianca und Lucy vordergründig über eine ihrer Mitschülerinnen amüsierten, spürte Duke nicht zum ersten Mal Berührungen auf seinen Oberschenkeln, die stetig länger anzudauern schienen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Schließlich reichte es ihm und er pflückte die schmalen, warmen Hände mit einem sanften Lächeln wieder von sich. Viel besser! Wie konnte er sich endlich aus dieser Situation befreien ohne unhöflich zu erscheinen? (Unhöflichkeit Mädchen gegenüber kam nicht in Frage, nicht einmal in Zeiten größter Verzweiflung. Duke Devlin hatte seine Prinzipien!) Für seine aktuelle Lage konnten die beiden ja n- … Schon wieder diese Hände! Nun jedoch nicht mehr auf seinen Oberschenkeln, sondern auf seinem Rücken und an seinen Schultern. Und sie hielten nicht still, sondern streichelten auf und ab, unermüdlich. Himmel, hatte er denn gestern wirklich derart eindeutige Signale gesendet? Nicht, soweit er wusste, jedenfalls. Und überhaupt, was stimmte nicht mit diesen Mädchen, dass sie gleich so auf einen harmlosen Flirt ansprangen? Jetzt waren sie auch wieder auf seinen Oberschenkeln! Die Enge und Beklemmung in seiner Brust wurden von Sekunde zu Sekunde stärker. Einfach alles daran war falsch: Die Umstände, zu wem diese Hände gehörten, die ganze Art wie sie ihn vermeintlich verführerisch berührten und streichelten – zu zart und fahrig. Ganz anders als … Er musste hier weg! Raus! Irgendwie! Andere schafften es doch auch; immer wieder kamen und gingen hier Leute! Was machten die, was er nicht … Sein Blick wanderte suchend durch den Raum und blieb bei zwei anderen Mädchen hängen, die kurz miteinander tuschelten und dann gemeinsam das Zimmer verließen. Dukes Augen weiteten sich kaum merklich. Aber klar! Warum zur Hölle war er darauf denn nicht eher gekommen?! Als er Anstalten machte, sich zu erheben, klammerten sich die beiden Privatschülerinnen an seinen Händen fest und versuchten nachdrücklich, ihn wieder nach unten zu ziehen. „Oh nein, du willst uns doch nicht etwa schon verlassen, oder?“, fragte ihn Bianca mit übertrieben trauriger Stimme, Lucy setzte ihren besten Schmollmund auf. „Aber nein, Ladies, natürlich nicht!“, beruhigte er sie kopfschüttelnd und machte sich von ihnen los. Mit dem Daumen wies er auf die Tür. „Ich muss nur mal eben für kleine Jungs, ich bin sofort wieder bei euch.“ Augenblicklich hellten sich ihre Gesichter auf und sie ließen ihn ziehen. Gott sei Dank! Er entließ ein tiefes Seufzen. Natürlich würde er nicht aufs Klo gehen und die Absicht, umgehend wiederzukommen, hatte er auch nicht. Es war viertel vor zehn, er hatte zumindest etwas getrunken, das musste für heute an Party reichen! Außerdem würde es Tristan vermutlich sowieso nicht mitbekommen, wenn er einen Abgang machte, so beschäftigt wie er damit war, seine vielen Gäste zu versorgen und sich mit ihnen auszutauschen. Am Tisch angekommen trank er seinen letzten Schluck Rum-Cola aus und ließ den leeren Plastikbecher zurück, bevor er sich weiter an den anderen Menschen vorbei in Richtung Tür kämpfte. Gleich hatte er es geschafft! Gleich würde er hier raus sein und sofort und ohne Umwege zu Kaiba gehen! Als er seine Hand entschlossen auf die Klinke legte und sie nach unten drückte, trat zum ersten Mal seit Stunden der Anflug eines echten Lächelns auf Dukes Lippen. _______  ¹ Stevenson, Robert Louis: Der seltsame Fall von Doktor Jekyll und Mr. Hyde, Frankfurt am Main/Leipzig 2014, S. 107f. ² ebd., S. 117f. ³ ebd., S. 118 ⁴ ebd., S. 119f. ⁵ ebd., S. 121 Kapitel 24: (...) it wouldn't matter how it ends. ------------------------------------------------- „Wo willst’n du hin?!“ Eine Hand schloss sich um seinen Oberarm und erschrocken hielt Duke inne. Es war Tristan. Natürlich, von allen Menschen in diesem verfluchten Zimmer! Wut begann in ihm hochzubrodeln. Aber nein, kein Grund sich aufzuregen! Er konnte es trotzdem noch schaffen. Dann wusste Tristan eben, dass er das Zimmer verlassen hatte, na und?! Der war ähnlich angeheitert wie Joey; es bestand also durchaus eine reelle Chance, dass es nicht auffallen würde, wenn er nicht zurückkam. „Nur auf’s Klo, entspann dich mal!“, musste er regelrecht gegen die Musik anschreien. Die einzige erreichbare Steckdose des Raumes befand sich direkt neben der Tür, sodass dort die Boombox installiert worden war. Überraschend flink presste sich Tristan an ein paar Leuten vorbei, die ihn noch von Duke trennten und stand schließlich leicht außer Atem neben ihm. „Gute Idee, da komme ich mit!“ Um ein Haar hätte Duke gegen die Tür getreten. Stattdessen verkrampfte sich seine linke Hand um den Griff, die Rechte ballte sich zur Faust. Mit einem tiefen Einatmen und einem mehr als gezwungenen Lächeln öffnete er die Tür und ließ seinem Freund den Vortritt. Auf dem Gang war die Luft im Vergleich zum Zimmer geradezu frisch. Duke warf einen kurzen, sehnsüchtigen Blick nach links zu seinem eigenen Zimmer. Da drüben, so nah und gleichzeitig unglaublich fern, war Kaiba und dachte wahrscheinlich nach: Darüber, auf wie vielen Ebenen Duke und diese ganze Sache eine Gefahr für ihn darstellen konnten, ihn schwach machten, über die unzähligen Risiken, die das alles barg. Und er war nicht da, um … … er war eben einfach nicht da! Tristan wandte sich nach rechts und Duke folgte ihm mit einem leisen Seufzen zum Gemeinschaftsbad der Jungs, wo sich auch die Herrentoilette befand. Immer wieder spürte er Tristans prüfenden Blick auf sich ruhen, was ihm an den Pissoirs besonders unangenehm auffiel. Was hatte Tris denn nur? Dieses Verhalten war nicht nur irritierend, sondern geradezu besorgniserregend. Endlich rückte Tristan beim Händewaschen mit der Sprache heraus und Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit: „Was’n los mit dir, Mann? Ich hab das Gefühl, irgendwie bist du gar nicht so richtig in Party-Laune …“ „Quatsch, wie kommst du denn darauf?“, widersprach er fast schon reflexartig und schüttelte den Kopf, als sei es das Lächerlichste, was er je gehört hatte. Während Duke sich die Hände abtrocknete, zählte Tristan die Punkte an seinen noch immer tropfenden Fingern ab: „Erstens: Ich hätte nie gedacht, dass ich mal kritisieren würde, dass du dich bei den Mädels zurückhältst, vor allem bei welchen, die mega-gut aussehen und sich voll an dich ranschmeißen! Und zweitens hast du noch so gut wie nix intus! Noch langsamer könntest du dich nur betrinken, wenn du dir das Zeug mit so nem Drück- … Röhrchen-…Glas-Ding einflößen würdest.“ „Ner Pipette?!“ „Genau damit!“ Der Teil von ihm, der Tristan für diesen verkorksten Abend und seinen ganzen Frust verantwortlich machte, spielte kurz mit dem Gedanken, einfach die Wahrheit zu sagen, um den Unglauben und das Entsetzen im Gesicht seines Gegenübers zu genießen. Ach, ich bin nur ein bisschen abgelenkt. Weißt du, irgendwie habe ich mich in den letzten Tagen in Kaiba verguckt und der scheint auch was für mich übrig zu haben. Gestern haben wir uns geküsst und rumgemacht und vor ein paar Stunden haben wir miteinander geschlafen. Sicherlich hast du Verständnis dafür, dass sich mein Interesse für diese Mädchen darum gerade leider etwas in Grenzen hält! „Ist das schon alles? Ich dachte, da kommt jetzt sonst was! Aber mal im Ernst: Das bildest du dir nur ein!“, winkte er stattdessen lachend ab und folgte Tristan gezwungenermaßen zurück zu dem verhassten Party-Zimmer, aus dem die Musik gedämpft nach draußen wummerte. „Sicher? Na gut. Dann streng dich gefälligst ein bisschen mehr an beim Spaßhaben!“, grinste Tristan und knuffte ihn in die Seite, bevor er die Tür öffnete und Duke zurück in die Enge, Hitze und nicht vorhandene Luft des Zimmers schob. Bianca und Lucy hatten ihn natürlich sofort erspäht und winkten ihn aufgeregt wieder zu sich. Anscheinend war nun auch noch ihre schwarzhaarige Freundin dazugestoßen und hatte es sich mit ihnen auf dem Bett bequem gemacht. Seine Mundwinkel zu heben erforderte praktisch seine gesamte Kraft, doch schließlich ging er lächelnd auf sie zu. Es war ohnehin zwecklos, sie würden ihn ja doch nur wieder zu sich schleifen, wenn er jetzt woanders hinging. Seine Rolle als Duke Devlin zu spielen grenzte heute wirklich an Folter! Auf dem Weg legte er noch einen Zwischenstopp am Tisch ein, der nach wie vor als Bar fungierte, und füllte sich einen neuen Becher – diesmal mit etwas mehr Rum –, um sich für weitere Zumutungen der angetrunkenen Mädchen zu wappnen und wohlwissend, dass Tristans wachsames Auge auf ihm ruhte. Seto sah von dem Dino-Block und seinem aktuellen Entwurf auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 22:05 Uhr. Seit fünf Minuten war Nachtruhe, das bedeutete eigentlich, dass Devlin jede Minute hier sein musste. … 22:12 Uhr. Sein rechtes Bein über der Bettkante begann ruhelos zu wackeln, sein Fuß tippte wieder und wieder auf den Fußboden. Im Nachdenken strich er sich mit dem Zeigefinger seiner linken Hand unablässig über die Unterlippe. Alle paar Sekunden hob er den Blick und sah zur Tür, nur um danach von Neuem auf die gleiche Stelle seiner Zeichnung zu starren, ohne mit dem Stift tatsächlich etwas zu tun. … 22:20 Uhr. Noch immer rührte sich nichts. Wo blieb Devlin denn nur? Unwillkürlich hatte Seto die Ohren gespitzt und lauschte auf jedes Geräusch, dass potentiell die Ankunft des Schwarzhaarigen ankündigen könnte. Moment, was war das? Leise, aber doch deutlich erkennbar, nicht natürlichen Ursprungs, sehr repetitiv. Das kam von … Das Bett knarzte, als Seto aufstand und zur Tür ging. Neugierig öffnete er sie einen Spalt und sah nach draußen, um die Ursache der Laute auszumachen. Musik drang aus dem Zimmer von Wheeler, Muto und Co. und ihr stumpfer Beat war es offenbar, den Seto selbst am Ende des Ganges und über mehrere Türen und Wände hinweg noch vernommen hatte. Als die Zimmertür überraschend aufging und zwei unbekannte Mädchen kichernd daraus hervorstolperten, zog sich Seto schnell wieder zurück. Verwirrung und ein Anflug von Ärger stiegen in ihm auf. Devlin ließ ihn warten – wegen einer Party?! Nun gut, er war vermutlich von seinen idiotischen Freunden dazu genötigt worden. Außerdem konnten Leute wie Devlin ja tatsächlich sogar Spaß an so etwas haben. Die Gründe dafür waren Seto zwar schleierhaft, aber von diesen Dingen verstand er ehrlicherweise nicht besonders viel und hatte auch kein Verlangen etwas daran zu ändern. Also schön. Noch bis halb zwölf; eine gute Stunde. So lange würde er noch warten. Bis dahin würde Devlin ja wohl hoffentlich eine Ausrede gefunden haben, um sich davonzustehlen, darin schien er ja gar nicht schlecht zu sein. Ansonsten … Kaiba? Das war Wahnsinn! Ach, er würde schon noch kommen. Mit jedem Schluck mehr Alkohol wurde es tatsächlich ein wenig einfacher. Mittlerweile brachte Duke es immerhin über sich, hin und wieder seine Arme um die Schultern der Mädchen zu legen oder ihnen während ihrer bedeutungslosen Gespräche etwas tiefer in die Augen zu sehen. Als er sich gerade anhören musste, wie sich Lucy das perfekte erste Date vorstellte (Essen oder Kino, ein Spaziergang im Dunkeln nach Hause, Abschiedskuss – hier traf Duke ein vielsagender Blick), lief Tristan kurz an ihnen vorbei und reckte dreckig grinsend den Daumen nach oben. Na, wenigstens einer war jetzt glücklich! Da spürte Duke wie eine Hand durch seine Haare fuhr und zuckte reflexhaft mit dem Kopf zur Seite. Bianca hatte die Gelegenheit genutzt, ihm wieder etwas näher zu kommen, anscheinend noch immer in der irrigen Hoffnung ihn durch ihre kleinen Zärtlichkeiten endlich herumzukriegen. Als ihre Finger auch noch begannen, an der Seite seines Halses entlang zu streicheln, musste er sich wirklich zusammenreißen. Mein Gott, wie hartnäckig konnte man denn sein?! Ihm kam es ein wenig so vor, als würde er nach einem Insekt schlagen, das an seinem Hals krabbelte, in der Realität ergriff er ihre Hand jedoch wesentlich sanfter, nahm sie weg von seinem Hals nach unten und hielt sie noch einen Moment fest, um den unangenehmen Berührungen vorerst ein Ende zu bereiten. Lautes Johlen und Pfiffe schallten von einer anderen Ecke des Raumes herüber. Neugierig streckten sich die Mädchen, um den Ursprung der Begeisterung ausmachen zu können und Duke nutzte die Ablenkung, um Biancas Hand wieder loszulassen. Durch kleine Lücken in der Menge konnte er Teas längst geleerte Weinflasche erkennen, die in der Mitte eines Kreises von Gästen beiderlei Geschlechts auf dem Boden lag. Anscheinend war jetzt Ayumi an der Reihe sie zu drehen und würde vermutlich denjenigen küssen müssen, auf den der Flaschenhals am Ende zeigte. Die Flasche wurde immer langsamer und blieb schließlich bei Yugi stehen, der schon feuerrot anlief, noch bevor Ayumi ihm einen millisekundenlangen Verlegenheitsschmatzer auf die Lippen drückte. Machte Yugi da wirklich freiwillig mit oder war er nur wieder zu nett gewesen, um nein zu sagen? „Wie niedlich!“, kicherte Bianca neben ihm spöttisch und in ihre Augen trat ein besorgniserregendes Funkeln. „Aber wir brauchen für so etwas kein albernes Spiel, oder?“ Sie sah leicht überheblich in das Rund ihrer Freundinnen, als würde sie endlich zu einem lange geplanten Angriff übergehen. Ihre Hand legte sich auf Dukes Wange und sie drehte sanft, aber bestimmt seinen Kopf, sodass er sie ansehen musste. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, doch es war schon zu spät: Ihr Mund kam seinem immer näher und ihm blieb nur noch die Augen zu schließen. Biancas Atem streifte seine Lippen, ihr warmes, vom Alkohol leicht gerötetes Gesicht war nur noch Millimeter von seinem entfernt. „Entschuldige mal, Süße, aber das ist mein Freund, mit dem du da rumknutschen willst!“ Die Überraschung ließ Bianca innehalten und Duke traute sich seine Augen wieder zu öffnen. Was zur …? Mariko hatte sich vor ihnen aufgebaut und sah voller Entrüstung auf ihn und die drei Privatschülerinnen hinunter. Sie war leicht geschminkt, die Haare trug sie offen und ihr enganliegendes Oberteil betonte ihre schlanke Figur. Dass sie so hübsch war, war ihm gestern gar nicht aufgefallen … Unauffällig zwinkerte sie ihm zu. „Schatz, kann ich dich mal einen Moment unter vier Augen sprechen?“, verlangte sie streng. Ohne lange nachzudenken stieg Duke darauf ein und setzte eine schuldbewusste Miene auf. „Ähm … aber natürlich! Es ist auch gar nicht so wie du denkst!“ Er erhob sich und nahm Marikos Hand, die ihn scheinbar stinksauer von den Mädchen weg- und in Richtung Zimmertür zog. Noch einmal sah er über seine Schulter zu Bianca und ihren Freundinnen: Die Drei sahen ihnen sichtlich verwundert nach und tuschelten dabei aufgeregt miteinander. Mit einem Schulterzucken warf er ihnen einen letzten ‚entschuldigenden‘ Blick zu, dann wandte er sich voll und ganz seiner Retterin zu. Erst draußen auf dem Gang blieb Mariko stehen. Eine Sekunde lang blickte sie noch versonnen auf ihre ineinander verschränkten Hände, dann ließ sie los und sah mit einem verlegenen Lächeln zu ihm auf. „Du sahst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen. Ich hoffe, das war okay.“ „Mehr als okay, danke! Und ich meine wirklich: Danke!“, gab er zurück und erwiderte ihr Lächeln aus vollem Herzen. Wäre es nicht furchtbar unpassend und unfair ihr gegenüber gewesen, er hätte Mariko in diesem Moment küssen können. „Aber wie … ?“ „Wie ich darauf kam?“ Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken, zuckte verlegen mit den Schultern und sah nach unten. „Naja, ich … hab dich natürlich hin und wieder … beobachtet. Du hast zwar versucht, es zu verstecken, aber du sahst nicht wirklich glücklich aus. Du hast anders gelacht als sonst, so … aufgesetzt. Und du bist immer wieder weggezuckt, wenn sie versucht haben, dir noch näher zu kommen. Du sahst einfach aus, als würdest du dich da gerade nicht wohl fühlen. Das … gefiel mir nicht.“ „Danke, Mariko, ich …“ Fragend neigte sie den Kopf, als er stockte. Er wich ihrem Blick aus, entließ einen langgezogenen Seufzer und rieb sich mit der Hand den Nacken. „Ich … wünschte wirklich, es gäbe mehr, was ich dir sagen könnte.“ Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. „Schon gut. Und … gerne doch! Also, ich … geh dann mal wieder rein.“ Mit einem gedehnten Ausatmen sah Duke ihr nach, als sie noch einmal winkte und dann schnellen Schrittes wieder im Zimmer verschwand. Im Gang war es, bis auf die Geräusche aus dem Zimmer, still. Nichts bewegte sich. Er war allein. Moment mal … Sein Gesicht hellte sich schlagartig auf. Er war draußen! Er hatte es geschafft! Er war entkommen! Den Menschen, der lauten Musik, Kentas furchtbaren Freundinnen, dem Alkohol, und ja, auch Tristan! Ganz bewusst atmete er noch einmal tief ein und aus, dann zog er sein Handy hervor. 23:24 Uhr. Mit etwas Glück war Kaiba noch wach. Ein wenig sauer vermutlich, aber noch könnte er das Ruder vielleicht wieder herumreißen! Je näher das Ende seines einseitigen und bei genauerer Betrachtung recht unspezifischen Ultimatums rückte, desto kürzer wurde Setos Konzentrationsspanne. Wie lange sollte diese dämliche Disco für Arme denn noch dauern? Und wo war eigentlich Kobayashi-sensei, um die Nachtruhe sicherzustellen? Oder der andere Lehrer … Herr … ? Also Takeda-san, Sie sind mir ja Einer! Vielleicht wollte er das aber auch gar nicht allzu genau wissen. Und eigentlich spielte es ja auch gar keine Rolle, ob die Party noch lief oder nicht. Wenn Devlin die Dinge sah wie er, würde er dann nicht Mittel und Wege finden, herzukommen? Es war eine Party, kein Gefängnis! Oder hielt ihn noch etwas anderes da drüben fest? Jemand anderes …? Sein Herz krampfte sich für den Bruchteil einer Sekunde zusammen. Mit einem energischen Kopfschütteln legte er den Block beiseite, stand auf und ging mit seinen Schlafklamotten ins Bad. Wenn er sich schon auf sonst nichts konzentrieren konnte, konnte er sich genauso gut auch schon einmal bettfertig machen. Irgendwann würde er schlafen müssen, egal, ob Devlin kam oder nicht. Im Badezimmer zog er sich um, dann griff er nach Zahnbürste und Zahnpasta und begann sich die Zähne zu putzen. Dabei marschierte er in dem kleinen Raum auf und ab, wieder und wieder: Drei Schritte nach links, drehen, drei Schritte nach rechts, den Blick immer stur geradeaus gerichtet, je nach Laufrichtung wechselnd auf die Toilette oder die Dusche, nie seitlich zum Waschbecken. Irgendwann musste er dann aber doch ausspucken und sich den Mund spülen, sodass er nicht länger vermeiden konnte, sich zum zweiten Mal an diesem Tag selbst im Spiegel zu begegnen. War das wirklich noch er selbst? Nun, da er nicht mehr von den unterschiedlichsten Empfindungen überschwemmt wurde, schien die Antwort ganz offensichtlich: Nein, war es nicht. Es war nicht der gleiche Seto Kaiba, der ihn sonst zu Hause mit festem Blick aus dem Spiegel ansah, der alles unter Kontrolle hatte, der genau wusste, was ihn erwartete, wie er das Beste aus einer Situation machen konnte, der die Sicherheit im Rücken hatte, am Ende als Gewinner dazustehen. Im Ausdruck seiner Augen lag etwas, das er schon lange nicht mehr darin gesehen hatte … oder nein, schon einmal ganz kurz heute Nachmittag: Unsicherheit. Er hatte keine Ahnung, was passieren würde, ob es am Ende gut gehen würde. Ob er als Gewinner aus alldem hervorging. Wenn es in solchen Situationen überhaupt einen geben konnte. Seine starke Intuition, die ihn normalerweise neben Rationalität und Logik leitete, schien außer Betrieb zu sein. Wie er es hasste, nicht zu wissen oder zumindest zu ahnen, was kam! Wenn er sich wenigstens nur auf sich selbst verlassen könnte! (Das allein war im Moment ja schon schwierig!) Aber nein, jetzt musste er auch noch einen anderen Menschen in die Gleichung einbeziehen, dessen Motive, Einstellungen, Prioritäten, Entscheidungen, von denen er im Falle Devlins ehrlicherweise nicht die geringste Ahnung hatte. Was dachte er sich nur dabei? War er komplett wahnsinnig? Er schloss für einen Moment die Augen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er konnte ja noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Devlin überhaupt immer noch … Hach, das alles war so unbequem und anstrengend! Und es konnte überhaupt nur dann einfacher werden, wenn Devlin endlich auftauchen würde, verdammt noch eins! Ein dumpfer Schmerz riss ihn aus seinen Gedanken. Er hatte, ohne es wirklich zu registrieren, mit der Faust auf den Rand des Waschbeckens geschlagen. Kopfschüttelnd wandte er sich von seinem Spiegelbild ab und verließ das Badezimmer. Vielleicht wurde Devlin doch von jemandem auf der Party festgehalten? Irgendeinem gutaussehenden Mädchen? Das wäre wohl kaum verwunderlich, es war schließlich immer noch Devlin. Was, wenn er seine Meinung wirklich schon längst geändert hatte? Wir reden später? Mechanisch kehrte Seto zum Bett und seiner Arbeit zurück, doch der nagende Zweifel blieb. Konnte Devlin nicht kommen … oder wollte er nicht? Er sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten. „Alter!“ Duke blieb auf der Stelle stehen wie eingefroren. Ein Blick über seine Schulter verriet ihm, dass Joey offenbar just in diesem Moment aus der Toilette gekommen war und ihn natürlich gesehen hatte. „Willst du etwa schon ins Bett gehen?! Nicht dein Ernst, Mann!“ Nein, nicht dein Ernst, Mann! Eine Sekunde lang spielte er mit dem Gedanken, tatsächlich die Hände hoch zu nehmen, wie ein Gefängnisinsasse, den man auf frischer Tat beim Ausbrechen erwischt hatte. So kam er sich jedenfalls mittlerweile vor. Noch einmal wandte er den Kopf zurück in Richtung seines eigentlichen Ziels. Wenn er jetzt sofort losrannte, dann … … würde Joey den anderen davon berichten und er spätestens morgen eine verdammt gute Erklärung für sein Verhalten abgeben müssen. Mit einem tiefen Seufzen drehte er sich um und versuchte den ernsthaft entsetzten Joey zu besänftigen: „Natürlich nicht! Ich muss nur gerade mal in Ruhe was checken.“ Demonstrativ hob er sein Handy in die Höhe. Der Blonde entspannte sich sichtlich, kam ihm entgegen und legte ihm freundschaftlich den Arm um die Schultern. „Arbeit, oder was?!“ Instinktiv nickte Duke. Kopfschüttelnd angelte Joey ihm das Telefon aus der Hand und drückte so lange den Knopf an der Seite, bis der Bildschirm schwarz wurde. „Ausschalten … so, bitteschön!“ Damit steckte er Duke das ausgeschaltete Telefon wieder in seine Pullovertasche und dirigierte ihn erbarmungslos zurück in das Zimmer. „Arbeit gibts jetzt nicht! Jetzt gibt’s nur Spaß!“ Das Fenster stand schon seit mindestens fünfzehn Minuten weit offen. Ungefähr so lange hatte Seto keinen neuen Strich mehr an seiner Zeichnung gesetzt, sondern sie nur noch angestarrt. Kräftige Windböen draußen wirbelten heruntergefallenes Laub umher und kündigten einen bevorstehenden Wetterwechsel an. Erst das geräuschvolle Zuschlagen eines der Fensterflügel brachte Seto dazu, aus seiner Trance zu erwachen. Die Armbanduhr auf dem Nachttisch zeigte 00:01 Uhr. Mit einem tiefen Seufzen klappte Seto den Block zu und packte ihn zurück in die Tasche, dann stand er auf und schloss das Fenster samt der Vorhänge. Der eintönige Beat der Musik war noch immer ganz leise in der Ferne zu hören, als Seto sich auf die Bettkante setzte, die Decke zurückschlug und sein Kissen aufschüttelte. Er hatte ihm eine faire Chance gegeben, sogar eine halbe Stunde länger gewartet. Wenn Devlin bis jetzt keinen Weg gefunden hatte, zu ihm zu kommen, dann wollte er es nicht. Nichterscheinen war auch eine Antwort. Seto entfuhr ein zynisches Schnauben und er schüttelte über sich selbst den Kopf. Wenn er eines bis jetzt nicht gewesen war und auch niemals hatte sein wollen, dann war es ein von Hormonen getriebener Teenager, so wie all die anderen sich unreif und irrational verhaltenden Individuen seiner (Alters-)Klasse. Er war nicht ‚normal’. Im besten Sinne. War es nie gewesen. Und hier saß er nun und hatte sich von Devlin den Kopf verdrehen und zu einem schwärmenden Schulmädchen degradieren lassen! Wie hatte er jemals auf den irrwitzigen Gedanken kommen können, einfach aufzugeben? Vor seinem eigenen Körper zu kapitulieren?! Sein Blick wanderte zu dem noch immer aufgeschlagenen Buch auf seinem Nachttisch. Tze, Dr. Jekyll! Dr. Jekyll war nichts anderes als ein schwacher Idiot, der nicht genügend Charakterstärke besessen hatte, um seinem Verlangen zu widerstehen und Mr. Hyde in die Schranken zu weisen! Nicht das Aufgeben konnte man von Jekyll lernen, im Gegenteil, man musste lernen zu kämpfen, nicht nachzugeben! Ohne das Lesezeichen wieder an die Stelle zu tun, wo er aufgehört hatte, schlug Seto das Buch endlich zu und legte es so zurück auf das Nachtschränkchen, dass nicht etwa der Buchrücken mit dem Titel, sondern das Papier der Seiten ihn ansah. Dann schlüpfte er unter die Decke, ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken und löschte das Licht. Die zahlreichen und vielfältigen Anstrengungen des Tages machten sich unerwartet schnell bemerkbar und seine Augenlider fielen beinahe augenblicklich zu. Was würde er machen, wenn Devlin später hier aufkreuzte? (Mit seinen weichen, duftenden Haaren und diesen verdammt grünen Augen…) Irgendwann musste er ja wieder herkommen, sei es zum Schlafen oder wenigstens, um an neue Klamotten zu kommen. (Das alte T-Shirt auszuziehen, seine Hose …) Was, wenn er irgendeine Entschuldigung parat hatte? (Eine gute, nachvollziehbare?) Konnte es das überhaupt geben – eine Entschuldigung? Dafür, dass er sich auf einer Party herumgetrieben hatte, mit seinen kleinen Freunden gefeiert, sich amüsiert, vermutlich mit Mädchen geflirtet hatte – nach allem, was passiert war? (Vielleicht schon …) Während er hier stundenlang … gewartet … fieberhaft … und innerlich … komplett … im Kreis … Immer weiter zerfaserten seine bewussten Gedanken und konnten dem betäubenden Sog des Schlafes schließlich nicht mehr standhalten. „Ich glaub’, jetz is’ alles alle!“, verkündete Tristan, als er die letzte Wodka-Flasche noch einmal an die Lippen setzte und keinen Tropfen mehr herausbekam, so sehr er sich auch abmühte. Die Privatschüler sowie ihre eigenen Klassenkameraden waren allesamt weg und mit ihnen auch der Lautsprecher. Tea hatte sich vor einer ganzen Weile gemeinsam mit Mariko zurück in ihr Zimmer verabschiedet, Yugi und Ryou lagen bereits seit knapp zwei Stunden komplett angezogen mehr über- als nebeneinander auf Yugis Bett und schliefen. Duke saß auf dem Boden, die harte Holzkante des unteren, rechten Bettes in seinem Rücken. Fahrig nestelte er in seiner Pullovertasche, bis er sein Handy gefunden und zu fassen bekommen hatte. Er brauchte einen Moment, um es wieder einzuschalten und den Zahlen auf dem Display, die anfangs noch mehrfach da waren, einen Sinn abzuringen. 01:48 Uhr. Huch, wann war es denn so spät geworden?! Er wollte doch noch mit Kaiba … Oh, das war nicht gut. Das war gar nicht gut… Nachdem Joey ihn wieder zurück zur Party geschleift hatte, hatte er immerhin zu seiner Erleichterung feststellen können, dass Bianca, Lucy und ihre Freundin offenbar ein paar neue Kerle zum Rummachen gefunden hatten. Allerdings hatte Joey es sich nicht nehmen lassen, Tristan zu berichten, wie er Duke auf dem Gang aufgegabelt hatte, sodass die beiden kurzerhand beschlossen hatten, ihn erstens nicht mehr aus den Augen zu lassen und zweitens ihn jetzt endlich so richtig abzufüllen. Nun, so viel konnte er guten Gewissens sagen: Sie hatten Erfolg gehabt. Wirre, abgehackte Vorstellungen der allernächsten Zukunft stiegen in seinem Kopf auf: Wie er versuchte, in seiner Verfassung möglichst leise ins Zimmer zu kommen (eigentlich unmöglich). Wie er Kaiba wecken würde (sehr wahrscheinlich), der kalte, enttäuschte Blick in dessen Augen … dabei konnte er doch alles erklären! Ein nicht eben kleiner Teil von ihm wäre am liebsten hier geblieben und hätte sich in einem der oberen Betten unter einer Decke verkrochen. Aber nein, Duke Devlin scheute auch herausfordernde Umstände nicht! „Leude, ich werd mich dann jetz auch ma verziehn.“, kündigte er an und machte Anstalten sich zu erheben. Seine Gliedmaßen wollten ihm nicht recht gehorchen und es dauerte etwas, bis er sich mit schweren, behäbigen Bewegungen und beiden Händen am Pfosten des Doppelstockbetts auf die Beine gehievt hatte. Tristan neben ihm war ebenfalls aufgestanden, um ihm behilflich zu sein, wankte allerdings selbst so stark, dass er sie beinahe wieder zu Boden riss. „Oh nein, Mann, so könn’ wir dich doch nich gehn lassn! Wir bring’n dich noch ins Bett.“ Langsam hörte die Welt auf sich im Kreis zu drehen. Moment, was hatte Tristan da gerade gesagt? Sein Herzschlag beschleunigte sich. „Jungs, das’ echt nich nötig! Ich muss ja nich nach draußn oder so. Nur’n paar Zimmer weiter. Außerdem würde das Kaiba gar nich gefalln, glaub ich.“ Fuck. Das hätte er besser nicht gesagt! Prompt meldete sich Joey zu Wort, der sich gerade am Tisch und den Stühlen auf die Beine zog: „Smir’och egal, was’er Geldsack davon hält! Hauptsache, du komms’ sicher an! Außerdem pennt der Penner b’stimmt schon.“ Eben. Dukes energischen Beteuerungen zum Trotz wankten sie nur wenig später zu dritt in Richtung Zimmer 21. Gute Freunde griffen sich gegenseitig unter die Arme und genauso, im wahrsten Wortsinn, gestaltete sich auch ihre Fortbewegung. Duke hing in der Mitte zwischen Joey und Tristan, die sich auf diese Weise jeweils links und rechts an den Wänden und Zimmertüren des Ganges abstützen konnten, um nicht hinzufallen. Immer wieder verschwamm das Bild vor seinen Augen, verlängerte sich der Gang scheinbar ins Unendliche, begannen die Zahlen an den anderen Türen sich zu bewegen. 26, 27, 28. Wieso gab es die 28 zweimal? Egal, sein Zimmer war ja links. 23, 22. Viel zu viele Zweien! Moment, 22? Verdammt, sie waren gleich da! Er musste sich zusammenreißen! Was würde Kaiba sonst von ihm denken? Außerdem mussten Joey und Tristan verschwinden und zwar sofort! Vor Zimmer 21 kamen die Freunde zum Stehen. Schwerfällig löste sich Duke von den Jungs, stützte sich im Türrahmen ab und drehte sich zu ihnen um. „So, hier binnich – sicher und wohlbehaltn. Dann könnt ihr ja jetz auch ins Bett gehn. Nacht!“ „Ers’ wenn du reingegang bis’! Los, husch, husch!“, widersprach Joey, legte die Hand an Dukes Hüfte und schubste ihn leicht gegen die Tür, als würde sie sich dadurch wie von Zauberhand öffnen. „Mann, bis’ du bescheuert?! Wir müssn leise machn!“, fuhr Duke ihn panisch flüsternd an. Hoffentlich hatte Kaiba das nicht gehört! Da beugte sich Tristan nach unten und hob etwas Kleines, Weißes auf. Auch Joey hatte es bemerkt und wandte sich zu seinem Kumpel um. „Was’n das?“ „Is Duke aus der Tasche gefalln, als du ihn grad so unsittlich berührt has’.“ Tristan musste sich kurz an der Wand abstützen, als er wieder hochkam, dann begann er mit unsicheren Handbewegungen das Papier zu entfalten und zu drehen, bis er es lesen konnte. „N’Kassnzettl. Aus’m Museum.“ Ach du Scheiße! Dukes Augen weiteten sich, sein Puls begann zu rasen und ließ ihn seine rauschbedingte Trägheit nahezu sofort vergessen. Schnell versuchte er Tristan den Zettel aus der Hand zu reißen, doch er war sowohl zu unkoordiniert als auch zu langsam: Joey hatte Tristan das Papier schon abgenommen. „Stimmt, was hast’n da eignlich gekauft? ‚Ringbuch Tri..Trice ..dings (orange)’, ‚Bleistift Tri… Triceto… – Mann! – Triceratops … (orange)‘. Moment mal …“ Duke konnte förmlich sehen, wie sich – durch den Alkohol verlangsamt – die Erkenntnishäppchen in Joeys Kopf zu einer Schlussfolgerung formten. „Das’ doch so’n Block, wie’n Kaiba mit sich rumschleppt! Has’ du ihm den hier abgenomm?“ Er deutete auf den Zettel, bevor er noch enger an Duke herantrat, ihm beide Hände auf die Oberarme legte und ihn rührig ansah. „Bis’du jetz etwa doch wieder mein Spion, Alter? Du bis’ echt n klasse Kumpel, Duke!“ „A-also, …“ Duke kam gar nicht mehr dazu, zu entscheiden, ob er darauf eingehen sollte oder nicht, denn Joey drehte sich schon mit triumphierendem Blick halb zu Tristan und dachte einfach laut weiter. „Das’ der Beweis! Kaiba war in dem Ladn! Un’ zwar um … wo steht’n hier die scheiß Uhrzeit? …16:13 Uhr.“ „So’n Zufall! Genau, als wir auch da warn.“, warf Tristan glucksend ein. Da runzelte Joey die Stirn und ließ den Zettel sinken. „Aber dann hättn wir’n doch sehn müssn! Und ich hab ihn nich gesehn! Der stand schon draußn, als wir rauskam’.“ Duke kniff die Augen zusammen und wartete nur darauf, dass endlich der Groschen fiel. Drei, zwei, eins … „DU has’ das gekauft?!“, platzte es schließlich sehr laut aus Joey heraus und sowohl Duke als auch Tristan bedeuteten ihm mit einem reflexhaften „Pssscht!“ leiser zu machen. „Du has’as gekauft?!“, wiederholte Joey noch einmal wild gestikulierend, diesmal allerdings im Flüsterton. „I-ich … also … ja.“, gab Duke drucksend zu und rieb sich dabei über die Stirn. „Un’ ich rätsel hier die ganze Woche rum wie so’n Idiot! Warum has’u nix gesagt?“ Noch bevor Duke überhaupt über eine Antwort nachdenken konnte, schlug sich Joey die Hand vor die Stirn. „Sag nix, ich hab’s schon verstan’n: Der Block war für Serenity! Hast ja gesagt, is’n Mitbringsel.“ Duke öffnete den Mund, um zu antworten (ohne jedoch wirklich zu wissen was), doch wieder schnitt ihm Joey das Wort ab: „Un’ der Blödmann Kaiba hat’n dir abgenomm’, weil er was zum Arbeiten brauchte! Wusst’ich doch, dass da was faul is’! … Ich mein, jetz macht das alles voll Sinn!“ „Was’n noch alles?“, fragte Tristan irritiert, während er sich am Kopf kratzte, und sprach damit Duke aus der Seele. Joey löste seine Hand vom Türrahmen, drehte sich ein wenig zu Tristan und zählte die Punkte an den Fingern ab, so als handele es sich bei Duke um ein Seriencharakter, dessen zentralen Plottwist Tristan einfach nicht verstand. „Na, ers’mal schläft er dauernd schlecht, dann die Sache mit’m Block, dann geht er ‚freiwillig‘ … hui!“, als er die Anführungszeichen in die Luft machte, verlor Joey beinahe das Gleichgewicht und musste sich schnell wieder am Türrahmen festhalten, „… freiwillig zum Eisklotz ins Zimmer …“ Tristan nickte zwar, aber Duke erkannte an seinem Blick, dass ihm immer noch nicht klar war, worauf sein Kumpel hinauswollte. Da drehte sich Joey schlagartig wieder zu Duke, legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn mit glasigen Augen ernsthaft besorgt an. „Sag schon, Alter, was hat Kaiba gegn’ich inner Hand?!“ „Was? Nein – nichts!“, stammelte Duke und schüttelte wild den Kopf, doch Joeys Meinung schien ohnehin festzustehen, sodass er einfach ignoriert wurde. Wut loderte in Joeys Augen auf und schon griff der Blonde an ihm vorbei nach der Türklinke. „Na warte, den kauf’ ich mir!“ „Joey, nein!“, rief Duke aus, warf sich zwischen seinen Freund und die Tür und drückte ihn an den Schultern nach hinten, in einem letzten, verzweifelten Versuch ihn aufzuhalten. Doch es war zu spät. Joey hatte die Klinke zwar knapp verfehlt, dabei aber im Gegenzug eine Art menschliches Domino ausgelöst. Er verlor endgültig die Balance und fiel nach vorn in Dukes Arme, der wiederum ungedämpft gegen die Tür prallte; Tristan hatte noch versucht, Joey von hinten festzuhalten, wurde jedoch stattdessen von ihm mitgerissen. In dieser Sekunde öffnete sich die Tür auch noch schwungvoll von innen, womit das letzte Objekt wegfiel, das den Dreien noch einen Halt gegeben hatte. Überrascht registrierte Duke, wie er kraftvoll an der Schulter gepackt und zur Seite gezogen wurde, sodass er im Gegensatz zu Joey und Tristan nicht unbeholfen in den Raum stolperte und nähere Bekanntschaft mit dem Teppichboden machte. Mit einem Klacken fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und es herrschte die mit Abstand unangenehmste Stille, die Duke je in seinem Leben erlebt hatte. Seine Kehle und sein Brustkorb schnürten sich zu, wie er noch atmete, wusste er nicht. Der Griff an seiner Schulter war beinahe schmerzhaft und ganz vorsichtig folgten seine Augen dem zu der Hand gehörigen Arm bis zu dessen Ende, wo er wie erwartet einen alles andere als glücklich aussehenden Kaiba in seinen Schlafklamotten vorfand. Unsanft – ohne Zweifel absichtlich – löste der Brünette seine Hand von Dukes Schulter, baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf und funkelte sie fassungslos und voller Unverständnis an. „Könnt ihr drei Knalltüten mir mal erklären, was um alles in der Welt der Lärm da draußen soll?!“ Nur eine Sekunde später verzog er leicht angewidert das Gesicht und wedelte mit der Hand hin und her: „Urgh, wie viel habt ihr bitte getrunken?!“ „N’bisschn.“ Tristan versuchte mit Daumen und Zeigefinger eine Menge anzuzeigen. „Vlleicht auch n’bischn mehr.“, schob er noch nach, während er, genau wie Joey, versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Augenblicklich vergrößerte Kaiba seinen Abstand zu den beiden noch etwas und Duke spürte den unangenehm bohrenden Seitenblick nur zu deutlich, mit dem er einmal von oben nach unten gemustert wurde. Geradezu verzweifelt bemühte er sich um einen festen Stand, aber es war sinnlos. Spätestens jetzt musste Kaiba klar sein, dass er ebenfalls alles andere als nüchtern war. Endlich wandte der Brünette seinen strengen Blick wieder von ihm ab- und den beiden anderen zu, die sich unter Ächzen und Stöhnen wieder halbwegs an der Ecke des Bettes aufgerappelt hatten. Angesichts der aktuellen Situation überraschend sachlich forderte er sie auf: „Taylor, Wheeler, ihr habt Devlin am Stück hier abgeliefert, soweit ich das beurteilen kann, wirklich ganz großartig! Also verschwindet jetzt gefälligst! Und zwar leise, sofern ihr in eurem Zustand überhaupt dazu in der Lage seid!“ Duke konnte erkennen, dass Tristan und sogar Joey schon kurz davor waren, sich der Tür zuzuwenden, doch mitten in der Bewegung stoppte Letzterer abrupt und seine Miene verfinsterte sich. Der Blonde machte einen großen Schritt auf Kaiba zu und wies drohend mit dem Finger auf ihn – wabernd und nicht wirklich konstant auf dieselbe Stelle. „Kommt ja gar’nich inn’ie Tüte! Ers’mal sags’ du mir, wassu gegn Duke inner Hand hast, Sackgesicht!“ Oh, Himmel nein! „Wovon zur Hölle redest du, Wheeler?!“ „Ach, mach mir’och nichs vor, Geldsack! Ich weiß’och genau, dass…“ Harsch fiel der Brünette ihm ins Wort: „Wheeler, anstatt mich irgendwelcher ausgedachter Komplotte zu beschuldigen, empfehle ich euch dringend meiner Aufforderung endlich Folge zu leisten! Macht gefälligst, dass ihr hier raus und zurück in euer eigenes Zimmer kommt!“ „Vergisses! So leicht wirssu uns ni- …“ Abrupt brach er ab und schlug sich die Hand vor den Mund, seine Augen weiteten sich erschrocken. „Oh oh.“ Duke ließ den Kopf sinken und rieb sich mit der Hand übers Gesicht. Bitte nicht, was er dachte, bitte nicht, bitte, bitte nicht … „Was?!“ Kaibas Stimme senkte sich bedrohlich. „’chglaub, ch’muss mir euer Bad ma’ von inn anschaun…“ Natürlich genau, was er dachte! Selbstverständlich hatte auch Kaiba begriffen, was damit gemeint war, und wies mit ausgestrecktem Arm auf die Tür: „Raus hier, sofort! Macht das gefälligst in eurem jämmerlichen Gemeinschaftsbad!“ Erneut musste Joey würgen und schüttelte – jetzt mit beiden Händen vor dem Mund – energisch den Kopf. „Keineseit!“ Auch Tristan appellierte nun an Kaiba und piekte dabei dank seines unsicheren Standes und beeinträchtigten Sinns für Entfernung mit dem Zeigefinger mehrmals leicht in die Schulter des Größeren: „Wenn du nich wills’, Kaiba, dass es mittn im Zimmer auffm Teppich landet, dann solltesu uns jetz besser ins Bad lassn!“ Mit einem tiefen Seufzen gab der Brünette schließlich seinen Widerstand auf und trat zähneknirschend einen Schritt zur Seite. So schnell sie konnten, ohne erneut hinzuschlagen, rannten Joey und Tristan ins Bad, letzterer dabei vermutlich eher als Joeys moralischer Beistand. Der Toilettendeckel wurde hörbar unsanft gegen die Fliesen geschlagen; die Badtür blieb angesichts der Eile einen Spaltbreit offen stehen. Seine eigenen Füße schienen noch immer an Ort und Stelle festgefroren zu sein, dann wiederum hätte sich Duke aber auch keinen Millimeter bewegen wollen – die akute Lebensgefahr war zu groß. Kaiba ließ sich am Fußende des Bettes nieder, schlug die Beine übereinander und massierte sich mit geschlossenen Augen und zusammengekniffenen Brauen die rechte Schläfe, seine Lippen so stark aufeinander gepresst, dass sie beinahe weiß aussahen. Durch die angelehnte Badtür drangen sämtliche Geräusche aus dem Innern nach draußen und bei jedem einzelnen fuhr Duke unwillkürlich zusammen. Tiefes Würgen. Es würde alles an ihm hängen bleiben. Ächzen und Husten. Er würde noch im Zimmer sein, wenn Joey und Tristan gleich hoffentlich draußen waren. Wieder Würgen. Sie waren seine Freunde und er hatte sie mit hierher geschleift, gewollt oder nicht. Kaum verdautes Essen und Flüssigkeit klatschten auf Wasser und Porzellan. Er war einfach so ohne eine Erklärung den ganzen Abend weggeblieben und genauso betrunken wie sie – und das nach allem, was letzte Nacht und vor ein paar Stunden … Noch ein Schwall. Auf Kaiba musste es wirken, als habe es ihm nicht das Geringste bedeutet. Ein Stich durchfuhr sein Herz. Lautes Schniefen, dann erstmals Stille. Hoffnungsvoll sah Duke auf. Erneut kehlig-tiefes Würgen und eine weitere Ladung in der Kloschüssel. Duke wollte seine Aufmerksamkeit gerade wieder dem Teppich zuwenden, doch ein stechender Blick aus blauen Augen hielt ihn davon ab. „Ich schwöre dir, Devlin, wenn auch nur ein Tropfen von Wheelers Erbrochenem neben der Toilette gelandet ist, dann werde ich sicherstellen, dass du das eigenhändig mit einem deiner T-Shirts aufwischst!“, zischte Kaiba ihm eiskalt durch seine zusammengebissenen Zähne entgegen. Ein Schauer überlief ihn, er schluckte, dann nickte er nur stumm. Das war keine leere Drohung. Schleimiger Husten und mehrmaliges Spucken. Konnte er sich nicht einfach in Luft auflösen? Am besten jetzt gleich? Langsam verebbte das Würgen, bis es schließlich ganz aufhörte. Die Spülung wurde betätigt, danach der Wasserhahn aufgedreht. Ein kurzes Gurgeln, Ausspucken, dann traten Joey und Tristan unsicheren Schrittes wieder aus dem Badezimmer. Peinlich berührt sahen sie nach unten und Tristan sprach für sie beide: „Danke! Un … `tschuldigung. Wir gehn dann jetz ma besser.“ „Wird auch Zeit!“, erwiderte Kaiba frostig. Sie waren bereits an der Tür, da blieb Joey noch einmal stehen. „Hey, Sekunde!“ Duke konnte ein genervtes Stöhnen nur knapp unterdrücken. Was um alles in der verdammten Welt konnte Joey denn bitte jetzt noch haben? Hatte er noch nicht genug Schaden angerichtet? Mit fragendem Blick drehte Joey sich um und seine Augen weiteten sich in plötzlicher Erkenntnis. „Das’ ja’n Ehebett!“ Der Brünette erhob sich von besagtem Bett, verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich einmal mehr vor Joey und Tristan auf. „Fein beobachtet, Sherlock Köter, und jetzt raus hier!“ Die Lippen des Blonden verzogen sich zu einem gehässigen Feixen. „Is’ dir das etwa unangenehm?!“ „Raus!“, zischte Kaiba noch einmal drohend. „Wow! Da hab’ ich ja voll in’s Schwarze getroffn! Es is’ dir unangenehm!“, stichelte Joey weiter und seine glänzenden, noch immer leicht geröteten Augen blitzten hämisch auf. „Alter, hör auf, lass uns gehn!“ Tristan fasste den Blonden am Arm und machte Anstalten ihn wieder in Richtung Tür zu ziehen, doch Joey entzog sich dem Griff. „Grad jetz, wo’s intressant wird?! Ich denk’ doch gar nich’ dran!“ Voller Entschlossenheit drückte er sich an seinem Freund vorbei. „’s gefällt dir!“, lachte Joey dem Brünetten höhnisch entgegen. „Bitte was?!“ Kaibas Stimme senkte sich gefährlich. „’s gefällt dir! Sonst wär’s dir nich’ so unangenehm!“ „Wheeler, es ist mir n-…“ „’S gefällt dir, dass da jemand so eng neben dir liegt und ich glaub, ich weiß auch warum!“, sprach Joey berauscht von seiner scheinbaren Überlegenheit einfach lauter weiter. Mit einem vielsagenden Nicken legte er Daumen und Zeigefinger an sein Kinn. „Weil’s dir einma’ in deim Lebn das Gefühl gibt, wie’s wär, wenn jemand ernsthaft was für dich übrig hätte!“ Kaibas Augen verengten sich zu Schlitzen. Wieder öffnete er den Mund, um etwas zu erwidern, doch Joey ging erneut einfach darüber hinweg: „Un jetz erzähl mir bloß nich, dass’s schonma irgendjemand so lange nebn dir ausgehaltn hat, das würd’ ich dir jetz nämlich nich abnehm!“ Triumphierend stolzierte der Blonde abwechselnd mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und weiten Armbewegungen vor Kaiba hin und her, kippte dabei immer wieder leicht nach links und rechts und schlussfolgerte einfach wild weiter: „Vielleicht has’du ja auch gar nich die Zeit beim Lesn vergessn heute Nachmittag?! Vielleicht has’u Duke ja mit Absicht weiter penn’ lassn, um noch’n bisschn länger so tun zu könn’ als ob!“ Joey trat noch etwas näher an Kaiba heran und bohrte seinen Finger wiederholt in dessen Brust. „Ich hab doch genau gesehn, wie du schon den ganzn Tag zu uns rüber geguckt has’! Ich glaub, weil das genau das is, was du dir ins-… inse-… eignlich wünschs’, so wie jeder andre auch: Jeman’n, der bei dir sein will – aus frein Stückn! – un’ der nich nur auf dein Geld un’ dein’ Einfluss scharf is! Un soll ich dir ma was sagn, Kaiba?! Genau davor has’u eine scheiß Angst!“ „Ich habe nichts dergleichen!“, spuckte Kaiba regelrecht aus und sah angewidert auf den Blonden herab. Seine Brust hob und senkte sich bedrohlich, entließ schwere, zitternde Atemzüge. Seine linke Hand war so fest zur Faust geballt, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, mit der rechten pflückte er Joeys Zeigefinger von sich. „Oh doch! Ich seh’s in dein’ Augn, dass ich Recht hab!“, widersprach Joey umgehend und blieb nur wenige Zentimeter vor ihm stehen. Es bereitete dem Brünetten sichtlich Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen, wann immer ihn Joeys Alkohol- und Magensäure-geschwängerter Atem traf. „Der kleine Seto will von jema’m gemocht un geliebt wern un Freunde ham, genau wie alle andern! Aber am Ende has’du zu viel Angst! Un weiß’u was? Ich versteh’s auch! Wenn dir ma wirklich jemand nahe kommt, dann haut’er doch sofort wieder ab! Weil er dann ganz schnell merkt, was für’n kaputtes Arschloch dein verrückter Stiefvater aus dir gemach’ hat un was für’n trauriges Lebn du eign’lich führst!“ Duke und Tristan zogen gleichzeitig scharf die Luft ein. Es war zu spät. Wie bei einem Unfall, bei dem man nur noch zusehen, aber nichts mehr tun konnte. Kaibas Stimme blieb erstaunlich ruhig, doch das Beben darin war durchaus wahrzunehmen: „Und das muss ich mir ausgerechnet von einem verlausten Straßenköter sagen lassen, der gerade seinem abgebrannten und armseligen Alkoholiker-Vater alle Ehre macht?!“ „Das war’s, jetz’ bis’u fällig!“ Auf einmal ging alles ganz schnell. Kaibas Nüchternheit war sein schlagender Vorteil. Joey war schon drauf und dran sich auf ihn zu stürzen, da packte ihn der Brünette schmerzhaft fest am Arm, zog ihn erbarmungslos in Richtung Tür, öffnete sie und stieß ihn unsanft und ohne Rücksicht auf eventuelle Verletzungen hinaus. Ein einziger Blick reichte aus, dass Tristan seinem Freund folgte – auch, um Joey davon abzuhalten, sofort wieder zurück ins Zimmer zu stürmen. Kaum war auch Tristan draußen, schlug Kaiba die Tür mit einem lauten Knall zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Einen Atemzug lang blieb er noch an der Tür stehen, dann drehte er sich um und sah Duke an. Seine Brust hob und senkte sich noch immer schwer. Die blauen Augen, in denen noch vor wenigen Stunden ein so vollkommen anderer Ausdruck gelegen hatte, starrten ihn kalt und unnachgiebig nieder, verlangten nach irgendeiner Form von Erklärung. Duke öffnete den Mund, doch seinen Kehle war vollkommen ausgetrocknet und er brachte kein Wort heraus, lediglich ein leises Seufzen. Vielleicht war es am Ende sogar besser so. Was auch immer er sagen würde, es konnte sich nur lächerlich anhören. Bitterkeit und Enttäuschung sprachen aus Kaibas Blick, bevor er sich mit einem Kopfschütteln von ihm abwandte. Ohne ein weiteres Wort rauschte der Brünette an ihm vorbei, legte sich wieder ins Bett und löschte das Licht. Duke warf den Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. Fuck, fuck, fuck, fuck, FUCK! Ein paar Sekunden lang verharrte er noch in dieser Haltung, dann trugen ihn seine Füße wie von allein ins Badezimmer. Als er den kleinen Raum betrat und das Licht anschaltete, stieg ihm der beißende Gestank von Erbrochenem in die Nase. Eine erste oberflächliche Prüfung ergab jedoch, dass Joey die Kloschüssel getroffen zu haben schien; wahrscheinlich musste er also nicht anfangen zu überlegen, welches seiner T-Shirts er opfern würde. Unsicheren Schrittes tappte er ans Waschbecken und drehte kaltes Wasser auf. Zwei Mal warf er sich eine Handvoll ins Gesicht, dann sammelte er noch einmal etwas Wasser in seinen Händen und trank einige Schlucke. Nicht, dass es wirklich etwas helfen, geschweige denn ihn nüchterner machen würde. Es dauerte einen Moment, bis er seine Zahnbürste gefunden und die Zahnpasta darauf verteilt hatte. Als könnte er sich dadurch auch sonst von allem reinigen, was heute Abend geschehen war, putzte er sich fast schon manisch die Zähne, beinahe zehn Minuten lang. Leichte Übelkeit stieg in ihm auf und mit absoluter Sicherheit kam sie nicht von dem billigen Alkohol. Oder zumindest nicht nur. Wann war er das letzte Mal so betrunken gewesen, dass er es nicht schaffte, sich die Hose auszuziehen, ohne sich irgendwo festzuhalten (in diesem Fall am Waschbecken)?! Gut, dass niemand dieses entwürdigende Schauspiel mit ansehen musste. Wobei, so, wie der Abend gelaufen war, würde das wahrscheinlich auch keinen Unterschied mehr machen. Mit zusammengebundenen Haaren, sonst aber nur noch in Unterhose und T-Shirt, verließ er das Bad, warf seine Klamotten in der Dunkelheit irgendwo dorthin, wo er seine Tasche vermutete, und kroch vorsichtig unter seine Bettdecke. Abgesehen von seinem eigenen und Kaibas leisem Atem herrschte Stille im Raum. Beinahe erschrak er über das laute Rascheln seiner eigenen Decke, als er sich zu seinem Bettnachbarn drehte. Im sanften Licht, das von draußen hereinfiel, konnte er immerhin den Umriss von Kaibas Körper erkennen. Sein Zeitgefühl war völlig durcheinander; er hätte nicht sagen können, ob er erst ein paar Sekunden oder schon mehrere Minuten lang unverwandt auf Kaibas Rücken starrte, so als könne er ihn allein kraft seines Blickes und seiner Gedanken dazu bewegen, sich umzudrehen. Doch nichts dergleichen geschah. Kaiba behandelte ihn wie Luft. Duke entließ einen hörbaren Seufzer und wartete. Noch immer keine Reaktion. Es nützte wohl alles nichts, er würde es noch einmal mit Worten versuchen müssen. Gott, hoffentlich klang er nicht zu betrunken! „Kaiba?“, hörte er sich leise in die Dunkelheit krächzen und musste sich erst einmal räuspern, bevor er weitersprechen konnte. „Es … tut mir so leid, ich … eigentlich wollte ich nach dem Essen gleich wieder … aber ich hatte vergessen, dass wir Tristan ne Feier versprochen hatten und ich konnte doch nicht schon wieder … weil, du weißt schon, dann hätten sie … und vorhin auch nicht!“ Nichts regte sich. Zugegeben, sicherlich nicht seine beste Leistung in puncto Artikulation und Argumentation. Aber er musste trotzdem weitermachen. Er musste einfach! „Ich wollte die beiden ja loswerden, aber es hat nicht geklappt … ich konnte doch nicht ahnen, dass …“ Noch einmal seufzte er abgrundtief. „Es tut mir so leid!“ Er würde es noch tausend Mal sagen, wenn er das Gefühl hätte, dass es auch nur irgendetwas bringen würde. Verzweiflung begann sich in ihm auszubreiten. Sein Herzschlag beschleunigte sich in jäher Panik. „Oh, komm schon, Kaiba, rede mit mir! Bitte!“ Fast ein Flehen – so tief war er also schon gesunken. „Bitte!“ Herrgott, wenn das so weiterging, fehlte nicht mehr viel und er fing noch an zu heulen! Warum drehte sich dieser sture Mistkerl nicht endlich um?! Er wollte ihm doch nur in die Augen sehen und ihm noch einmal ins Gesicht sagen, wie leid es ihm tat, was da gerade geschehen und gesagt worden war und warum er überhaupt weggeblieben war … ihm wieder nahe sein, ihn berühren, … die weichen Lippen auf seinen und die Wärme seiner Haut und seiner Hände an seinem eigenen Körper spüren. Es musste doch noch irgendetwas geben, was er tun konnte! Behutsam tastete er in die Dunkelheit. Seine Finger hatten die Schulter des Brünetten kaum berührt, da fuhr Kaiba blitzschnell halb herum. „Fass. mich. nicht. an!“ Jedes Wort ein Messerstich. Erschrocken zog Duke seine Hand zurück, als habe er sich verbrannt. Noch ein paar Sekunden lang blieb er wie gelähmt in der Dunkelheit liegen, dann drehte er sich schwerfällig auf den Rücken, ließ seinen Kopf auf das Kissen fallen und starrte an die Decke. Herzlichen Glückwunsch! Er hatte es ganz offiziell verkackt. Kapitel 25: Bad actors. (With bad habits.) ------------------------------------------ Für seinen Geschmack viel zu früh wurde Seto vom Klingeln des Handy-Weckers wieder aus dem Schlaf gerissen und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über seine noch immer schweren Augenlider. Mit einem routinierten Handgriff deaktivierte er das sanfte Klimpergeräusch des Telefons und setzte sich auf. Hörbare Atemzüge in seinem Rücken riefen ihm schneller als erhofft die Geschehnisse der letzten Nacht wieder ins Gedächtnis. Ohne es wirklich zu wollen, drehte er sich kurz um und sah zu seinem Bettnachbarn, der in einer noch raumgreifenderen und unbequemeren Haltung dalag als sonst, und sich trotz des Weckerklingelns nicht regte. Eigentlich wollte ich nach dem Essen gleich wieder … aber … ich konnte doch nicht ahnen, dass … Es tut mir so leid. Devlins Hand an seiner Schulter, kaum eine Sekunde lang, konnte nicht aufwiegen oder gut machen, was in den Minuten davor passiert und wofür in letzter Konsequenz Devlin selbst verantwortlich war. Das war durch nichts zu entschuldigen. Und es zeigte einmal mehr, dass seine ursprüngliche Entscheidung, wie mit dieser Sache weiter zu verfahren sei, die richtige gewesen war. Nicht auszudenken, wie es weitergegangen wäre, wenn Devlin tatsächlich in jenem kritischen Zeitfenster zu ihm gekommen wäre, als er für kurze Zeit der irrigen Auffassung unterlegen war, dass er so etwas wollen oder dass es funktionieren könnte. Ein Ziehen in seiner Brust. Nein, es war vorbei. Endgültig. Damit wandte Seto sich ab, suchte seine Sachen heraus und ging ins Bad, wobei er sich keinerlei Mühe gab, leise zu machen. Erstens hatte Devlin aus den genannten Gründen keine Rücksicht verdient, zweitens würde er ohnehin irgendwann in den nächsten Minuten aufstehen müssen, wenn er noch zum Frühstück kommen wollte. Als Seto das Badezimmer zehn Minuten später wieder verließ und auch seine Sachen für den Ausflug gepackt hatte, lag der Schwarzhaarige noch immer in nahezu unveränderter Haltung im Bett. Falls Devlin weiter so fest schlief, würde er nicht nur das Frühstück verpassen, sondern auch den Bus zum heutigen Ausflug – nicht, dass das unbedingt eine Strafe wäre. Das eigentliche Problem war vielmehr ein anderes: Wenn dieser Idiot zu spät käme, würde Kobayashi-sensei ihn, Seto, fragen, warum er als sein Zimmergenosse Devlin nicht geweckt hatte und auf diese neuerliche Tirade konnte er nun wirklich verzichten, noch dazu vor allen anderen. Kopfschüttelnd sah er noch einmal zu dem Schwarzhaarigen. Wie sollte man ihn wachbekommen? Und zwar am besten ohne jedwede Art von körperlicher Interaktion… Kraftvoll und zielgenau klatschte etwas mitten in Dukes Gesicht. Mit panisch rasendem Herzen schrak er aus dem Schlaf, schlug die Augen auf und sah … nichts. Die Tür wurde geöffnet und fiel unsanft wieder ins Schloss. Was zur…? Mit unkoordinierten Handbewegungen entfernte Duke das blaue Etwas, das sich als eiskaltes, triefendes Handtuch entpuppte, von seinem Gesicht. Wäre es nicht so ekelhaft nass gewesen, er hätte es am liebsten sofort wieder zurück getan. Das Licht im Zimmer und von draußen brannte regelrecht in seinen Augen, Schmerz pochte durch seine Schädeldecke und seine Schläfen. Sein Kopf schien mehr als die Hälfte seines Körpergewichts auszumachen, als er ihn ein paar Zentimeter hob und vorsichtig nach rechts drehte. Die andere Bettseite war ordentlich gemacht und wirkte vollkommen unangetastet. Kaiba musste also bereits fertig gewesen sein, als er sich dafür entschieden hatte, ihn auf diese überaus ‚freundliche‘ Art und Weise zu wecken. Nun ja, nach gestern hatte er wohl auch jedes Recht dazu. Erschöpft von der winzigen Bewegung ließ Duke seinen Kopf zurück auf das Kissen sinken. Mit einem leisen Stöhnen zog er sich die Decke über das noch feuchte Gesicht. Konnte er nicht einfach hier bleiben und nie wieder rauskommen? Wie sollte er Kaiba jemals wieder in die Augen sehen können?! Aber es nützte ja nichts. Nur mit allergrößter Kraftanstrengung gelang es ihm gegen die Übermacht der Trägheit anzukämpfen und sich aufzusetzen. Sein Pullover war zwischen Wand und Tasche eingeklemmt, seine Hose lag irgendwo weiter vorne auf dem Boden; offensichtlich war es mit seiner Treffsicherheit unter Alkoholeinfluss und im Dunkeln nicht sonderlich weit her. Ächzend stand er auf, schnappte sich die Hose, suchte ein neues T-Shirt und neue Unterwäsche heraus und schleppte sich ins Badezimmer. Nach einer längeren Dusche und ausdauerndem Zähneputzen begann Duke sich ganz langsam wieder wie ein Mensch zu fühlen, wenngleich noch immer Schmerzen in stärkeren und schwächeren Wellen durch seinen Kopf puckerten. Als er noch ein letztes Mal kontrolliert hatte, ob wirklich alles für den heutigen Ausflug in seinem Rucksack war, zog er die Reißverschlüsse der Taschen zu und sein Blick fiel noch einmal auf das Bett. Seine unordentliche Seite. Kaiba? Das war Wahnsinn. Die andere Seite, die aussah, wie in einem unbenutzten Hotelzimmer (soweit es hier möglich war). Fass. mich. nicht. an! Mit einem leisen Seufzen wandte er sich ab und machte sich schließlich auf den Weg hinunter zum Frühstück. Im Speisesaal war es heute um einiges ruhiger und es war genau zu erkennen, wer ebenfalls auf der Party gewesen war und wer nicht. Viele der Schüler hielten sich den Kopf, einige hatten nur ein Getränk, aber keinen Teller vor sich, es wurde wesentlich mehr geflüstert als sonst. Seine Freunde saßen an ihrem üblichen Tisch. Joey hing mit gesenktem Kopf über einem halb vollen Glas Orangensaft, Tristan rührte in der Schüssel vor sich, ohne jedoch einen Bissen zum Mund zu führen. Wut köchelte in Duke hoch. Sie hatten alles kaputt gemacht: Tristan mit seiner bescheuerten Party und dem Alkohol, Joey, der sich einfach nicht im Griff hatte und wegen dem alles eskaliert war. Dann waren da auch noch Yugi, Tea und Ryou mit ihren neugierigen, besorgten und fragenden Blicken, die er sich liebend gerne erspart hätte. Aber sich ganz alleine irgendwo hinzusetzen ging natürlich nicht. Der alte Duke Devlin hätte das noch gekonnt: Der, der Yugi die Schuld an seinen verbauten Möglichkeiten gegeben hatte, mit niemandem ernsthaft befreundet gewesen war und alle auf seine ganz eigene Art auf Abstand gehalten hatte. Dieser alte Duke war unabhängig gewesen, hätte gestern ganz ohne schlechtes Gewissen einfach gehen können und … Unauffällig schüttelte er den Kopf. Den alten Duke Devlin gab es schon lange nicht mehr. So stellte er nur wortlos seinen Rucksack am Tisch seiner Freunde ab und ging zur Durchreiche. Als die Küchenfrau ihn näher kommen sah, wanderten ihre Mundwinkel nach oben und sie griff sofort zu der großen Kanne unter der Kaffeemaschine, um ihm eine Tasse zu füllen. Lächelnd überreichte sie ihm das dampfende Getränk, hielt jedoch den Griff noch einen Moment länger fest. „Sagen Sie mal, ist was mit Ihrem Freund?“ Der angestrengt freundliche Ausdruck in Dukes Gesicht erstarb und er neigte stumm fragend den Kopf. „Ihr Freund, der andere Kaffeetrinker.“, schob sie nach und stützte die Hände auf den Tresen. „Stellen Sie sich vor, er hat sich heute bedankt! Ich hab’s kaum gehört, der Gute war mit den Gedanken ganz woanders, aber trotzdem! Was auch immer es ist, seinen Manieren scheint es gut zu tun. Richten Sie ihm das bei Gelegenheit gerne aus!“ Duke nickte verlegen, murmelte selbst noch einen kurzen Dank und wandte sich dann eilig ab. Mit wild pochendem Herzen schweifte sein Blick suchend durch den Raum und entdeckte Kaiba links von sich am hintersten Tisch in der Ecke, wie er gerade seinen Kaffeebecher zum Mund führte, das Gesicht so ausdruckslos wie immer. Duke entfuhr ein leises Seufzen. Keine zwei Tage war es her, da hatte Kaiba ihm noch mit einem Kaffee zugeprostet und dabei ganz kurz gelächelt. Es kam ihm vor wie ein anderes Zeitalter. Nicht nur die Kaffee-Sache – alles, was davor gewesen war. Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht! Mit einem gedehnten Ausatmen ließ er die Erinnerung los und kehrte zum Tisch seiner Freunde zurück. Kaum, dass Tristan und vor allem Joey in sein Blickfeld kamen, trat seine Trauer in den Hintergrund. Absichtlich laut knarzend zog er seinen Stuhl zurück, setzte sich und rückte ebenso lautstark wieder an den Tisch heran. Seine eigenen Kopfschmerzen? Egal! Tristans und vor allem Joeys gequälte Mienen waren es wert. „Alter, bist du wahnsinnig?! Mach leise!“, wurde er ausgerechnet von dem Blonden zurechtgewiesen, verkniff sich jedoch ein Auflachen sowie den gehässigen Kommentar, der ihm schon auf der Zunge lag. Um die Geschehnisse der letzten Nacht angemessen zu erörtern, war es noch zu früh, außerdem zu hell und viel zu laut – bei jedem Klirren einer Schüssel oder eines Glases hätte Duke sich am liebsten die Ohren zugehalten. An feste Nahrung war noch nicht zu denken und der Einfluss des Kaffees auf seine Lebensgeister hielt sich ebenfalls in Grenzen. Auch sonst herrschte am Tisch eine ähnlich gedrückte Stimmung wie im ganzen Raum und ein wirkliches Gespräch wollte nicht aufkommen. Nach ein paar Minuten betretener Stille fragte Tea schließlich niemandem im Speziellen: „Wie lange habt ihr noch gefeiert?“ Eine längere Pause entstand, bevor Tristan sich erbarmte zu antworten: „Um zwei.“ „Wow!“ Tea schien zu überlegen, ob sie weiter fragen wollte, hielt es dann aber offenbar für klüger, das nicht zu tun, wofür Duke ihr sehr dankbar war. Für eine Weile fielen sie zurück in ihr verkatertes Schweigen, weshalb nicht nur Duke zusammenzuckte, als sich Frau Kobayashi erhob und in ihrer belastenden Fröhlichkeit flötete: „Guten Morgen, meine Herrschaften! Ich hoffe, Sie haben ebenso gut geschlafen wie ich und sind bereit für unseren Ausflug!“ Mit Sicherheit nicht, aber was er dachte, zählte ja nicht. Konnten sie nicht einfach ohne ihn fahren? Oder besser noch, ohne ihn und Kaiba? Dann könnte er noch einen Versuch unternehmen, über alles zu reden und niemand würde sie stören. Natürlich war es mehr als unwahrscheinlich, dass Kaiba sich nach der vergangenen Nacht noch einmal überzeugen lassen würde, aber das, was er bis dahin erlebt und gefühlt hatte, war definitiv jeden Versuch wert. Während die anderen noch ihre Sachen holten, trat Duke bereits hinaus auf den Vorplatz der Herberge. Das Licht des Tages blendete, obwohl der Himmel heute, anders als in den letzten Tagen, grau-bewölkt über der Landschaft hing. Immerhin sah es nicht nach Regen aus, wie ihm ein kurzer Blick in die Wetter-App bestätigte. Auf dem Platz herrschte reges Gewusel. Zwei Busse standen dort: ihr eigener, der noch abgeschlossen war, und ein zweiter, dessen Türen und Laderaum-Klappen geöffnet waren und um den herum einige Schüler mit ihrem Gepäck warteten oder es bereits einluden. „Entschuldigung, dürfte ich vielleicht mal?!“, wurde er von einem Mädchen von der kleinen Treppe verscheucht, das sich gerade mit einem enorm großen Koffer hinter ihm aus der Tür zu quetschen versuchte. An jedem anderen Tag hätte er ihr vermutlich den Koffer abgenommen und sie zum Bus begleitet, aber heute war alles, bloß nicht jeder andere Tag. Beim genaueren Hinsehen erkannte er einige der Gesichter von dem Wettbewerb und der Party gestern. Anscheinend reisten die Privatschüler heute schon wieder ab. Waren das nicht Bianca und Lucy, die gerade einstiegen? Ihm entfuhr ein leises Stöhnen. Die beiden hätten gerne auch schon gestern wieder fahren dürfen. Gedankenverloren folgten seine Augen den Mädchen weiter, bis sie einen Platz am Fenster gefunden hatten. Da bemerkten sie ihn und begannen wild zu winken, Bianca warf ihm eine Kusshand zu. Mit aller Kraft zwang er ein kleines Lächeln auf sein Gesicht und winkte peinlich berührt zurück, nur um seinen Blick dann schnell in eine andere Richtung zu lenken – nicht, dass ausgerechnet jetzt Kenta ihn sah und ihn noch auf den letzten Metern halbierte. Rechts von ihm befand sich eine Bank, auf der er sich niederließ, bevor nur wenige Sekunden später Frau Kobayashi gemeinsam mit Herrn Takeda durch die Tür nach draußen kam. Die beiden Lehrer gingen auffallend nah nebeneinander, ihre Hände nur Millimeter voneinander entfernt, doch ohne sich zu berühren. Am Bus angekommen schob Herr Takeda seinen Koffer in den Laderaum, bevor er sich erneut Frau Kobayashi zuwandte. Die beiden sahen sich tief in die Augen und sanft strich die Lehrerin noch einmal über das Revers seines Jacketts. Moment, hatte sie ihm da gerade einen Zettel in die Brusttasche gesteckt? Vermutlich ihre private Telefonnummer… Leicht angeekelt verzog Duke das Gesicht. Aber hey, wenigstens zwei Menschen waren auf dieser Klassenfahrt glücklich geworden. Ein Vibrieren in seiner Jackentasche riss ihn gerade noch rechtzeitig aus seinen Gedanken, bevor sie wieder in Wehmut abdriften konnten. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er zog das Handy hervor und sah auf das Display. Auch das noch! Mit einem Wisch nach rechts nahm er ab. „Hallo, Max!“ „Duke, mein Bester, wie geht es dir? Wie ist die Klassenfahrt?“, drang Pegasus Stimme schnarrend an sein Ohr und ließ seine Kopfschmerzen wieder aufflammen. Mit einem unterdrückten Seufzen lehnte er sich nach vorn, stützte den linken Ellenbogen auf seinem Knie ab und massierte sich die Stirn. „Geht so.“ „Wunderbar, wunderbar! Sag, hast du schon eine Lösung für unser kleines Zahlenproblem gefunden?“ Duke zögerte eine Sekunde, bevor er antwortete: „Ja, habe ich.“ „Sehr schön, dann wird es dich sicherlich freuen zu hören, dass du sie gleich am Montagmorgen vorstellen darfst! Ich dachte, du würdest es schnell hinter dich bringen wollen. Keine lange Wartezeit, Augen zu und durch!“ „Großartig, Max, großartig!“ Montag, jeder andere Tag … alles war gleich schlecht. „Also, Montag um neun Uhr, meine Sekretärin schickt dir die Termineinladung per E-Mail.“ „Danke.“ „Duke, mein Junge, …“, Pegasus atmete einmal hörbar ein und aus, sein Tonfall wurde ungewohnt ernst, „Ich weiß, ich muss dir das eigentlich nicht sagen, aber … gib dein Bestes! Du weißt, was auf dem Spiel steht!“ Natürlich wusste er das. Auf seine Lippen trat ein trauriges Lächeln. „Keine Sorge, Max.“ „Gut. Dann bis Montag!“ Vermutlich war es seinem Kater geschuldet, dass ihm der ganze Zusammenhang erst dämmerte, nachdem er aufgelegt und das Handy zurück in seine Jackentasche gesteckt hatte. Noch immer in seiner vornübergebeugten Haltung rieb er sich mit den Daumen seiner ineinander gefalteten Hände über die Stirn, in der Hoffnung so verhindern zu können, dass sich die Kopfschmerzen noch intensivierten. Verdammte Scheiße! Ja, er hatte eine Lösung für das ‚kleine Zahlenproblem‘. Leider beruhte diese Lösung vor allem auf einer ganz bestimmten Person, in deren Händen sie sich auch noch immer befand. Dem Menschen, dem er genau aus diesem Grund um keinen Preis auf die Füße hatte treten wollen. Für den er Dinge empfand, die er so noch nie für jemanden gefühlt hatte. Den er geküsst hatte. Mit dem er geschlafen hatte. Den er durch sein Wegbleiben und durch die Dummheit seiner Freunde tief verletzt hatte. Er war am Arsch. Sein Spiel – das, wofür er so viele Jahre hart gearbeitet und gekämpft hatte – war am Arsch. Spätestens jetzt musste er wirklich, wirklich mit Kaiba reden! Er brauchte diese Entwürfe, und zwar schnell! Gott, wie ekelhaft und selbstsüchtig musste man eigentlich sein, um nach allem, was er sich in den vergangenen zwei Tagen geleistet hatte, so etwas zu denken?! Ihm entfuhr ein abgrundtiefes Seufzen, während er aus dem Augenwinkel sah, wie sich die Türen des Busses der Privatschulklasse schlossen, der Motor angelassen wurde und das Fahrzeug aus der Ausfahrt rollte. Als er die Stimmen seiner Freunde erkannte, die in diesem Moment aus der Tür der Herberge nach draußen traten, zwang er sich, seinen Selbsthass fürs Erste hinunterzuschlucken, erhob sich und ging gemeinsam mit ihnen zu ihrem eigenen Bus. Seto hatte bis fast zuletzt gewartet, bevor er nach draußen gegangen war. Beim Einsteigen konnte er über die Sitze hinweg ganz hinten Devlins schwarzen Haarschopf ausmachen, doch er wandte seinen Blick schnell wieder ab und ließ sich in der komplett leeren dritten Sitzreihe nieder. Er war gerade ans Fenster durchgerutscht und hatte seine Sachen auf dem Platz links von sich drapiert, als sich Frau Kobayashi wie üblich im Mittelgang aufbaute, durchzählte und noch einmal ein paar einleitende Worte sprach. „Also, Herrschaften, wir haben jetzt eine gute halbe Stunde Fahrt vor uns und werden uns, wie gestern schon kurz erwähnt, die faszinierenden Grabhügel der Omuro-Kufon-Gruppe ansehen – eine der größten Ansammlungen vorbuddhistischer Begräbnisstätten in Japan überhaupt. Es wird sehr interessant, das kann ich Ihnen versprechen. Für das Mittagessen gibt es heute für jeden ein vorgepacktes, gesundes Lunchpaket.“ Sie griff nach einem großen Korb, der bereits auf dem Platz neben ihr bereitgestanden hatte, ging damit durch die Reihen und verteilte an jeden Schüler eine Tüte wie eine in die Jahre gekommene Stewardess in der Economy Class einer Billigfluglinie. Ohne den Inhalt auch nur anzusehen, packte Seto die Tüte in seine Tasche und hoffte, dass Frau Kobayashi langsam fertig wurde, damit er auch noch diese letzte vermeintliche Sehenswürdigkeit hinter sich bringen konnte, bevor er morgen endlich wieder zurück nach Hause und in sein normales Leben kam. „Und drücken Sie die Daumen, dass das Wetter durchhält! Für heute Abend ist nämlich noch eine kleine Überraschung geplant! Was das ist, verrate ich Ihnen allerdings erst, wenn wir zurückfahren – so lange müssen Sie die Spannung noch aushalten.“ Gott, wie sollte er das nur schaffen?! Als der Korb leer war, kam die Lehrerin wieder nach vorne, gab dem Fahrer das Zeichen loszufahren und sie setzten sich in Bewegung. Fast schon gewohnheitsmäßig wanderte Setos Hand zu seiner offenen Tasche, um den Block herauszuholen, doch im letzten Moment zögerte er. Sekundenlang schwebten seine Finger über der Ringbindung, dann zog er sie weg und klappte die Tasche wieder zu. Nur noch heute, dann hatte er es überstanden. Dazu brauchte er weder Devlin, noch dessen kleines Projekt. Fünf Minuten. So lange hatte Seto es ausgehalten ohne eine Beschäftigung in diesem Bus zu sitzen und unfreiwilliger Zeuge der Gespräche um sich herum zu sein. Es hatte keinen Sinn, er musste seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken. Dringend! Er stieß ein kaum hörbares Seufzen aus, öffnete die Tasche wieder und zog zähneknirschend den Block und den Stift heraus. Sie fuhren erst durch die Stadt, dann von ihr weg, immer weiter und höher zu den ersten Ausläufern der umliegenden Berge. Kurz vor der Einfahrt in einen weiteren Tunnel (die Seto hasste, weil sie ihn jedes Mal in seiner Arbeit unterbrachen), fuhren sie schließlich ab. Schon entlang der kurzen Straße zum Parkplatz konnte er die ersten kegelförmigen Steinstrukturen aufragen sehen und atmete gedehnt aus. Nicht mehr lange. Während die meisten anderen Schüler den Bus bereits verlassen hatten, ließ Seto sich Zeit – eine letzte Stelle in seiner Zeichnung musste noch schnell fertig werden, bevor er sich mehrere Stunden lang leere Steinhügel ansehen würde. Nur am Rande nahm er wahr, wie jemand noch einmal durch die vordere Bustür hereinkam und genau auf seiner Höhe auf die anderen Gangseite ausweichen musste, als noch eine Mitschülerin aussteigen wollte. Schließlich klappte er den Block zu und wollte ihn gerade in die Tasche packen, als … „Über das Teil reden wir nochmal, Kaiba!“ Wheeler. Wer sonst konnte nach einer halbstündigen Fahrt etwas im Bus liegen gelassen haben?! „Ist das so?!“, gab er nur trocken und mit einer hochgezogenen Augenbraue zurück. „Tu’ nicht so, als wüsstest du nicht, wovon ich rede! Außerdem hab ich nicht vergessen, was du gestern gesagt hast, Geldsack!“ „Was hast du vor, Köter?“ Da die Frage ohnehin eine rein rhetorische gewesen war, machte er sich gar nicht die Mühe auf eine Antwort zu warten. „Sag es mir nicht, ich will es gar nicht wissen! Überrasch’ mich! Mir zittern schon die Knie!“ Kühler Sarkasmus troff aus jedem seiner Worte. Damit stand er auf, hing sich die Tasche über die Schulter, seinen Mantel über den Arm und ließ den Blonden stehen, der ihm noch ein entschiedenes „Völlig zu recht!“ nachrief. Duke spürte, dass Joey nicht ganz die Wahrheit sagte, als Yugi ihn bei seiner Rückkehr zur Gruppe fragte, was los war. „Nichts.“, hatte der Blonde nur grummelnd geantwortet, aber Duke war nicht entgangen, dass Kaiba kurz vor ihm aus dem Bus gekommen war. Das konnte nichts Gutes bedeuten. „Hast du jetzt wenigstens dein Lunch-Paket und deine Trinkflasche?“, fragte Tea und klang dabei wie eine Mutter, der die Schusseligkeit ihres Sohnes gehörig auf die Nerven ging. „Ja, Mama!“, gab Joey denn auch nicht minder genervt zurück und Duke konnte nicht leugnen, dass es ihn ein wenig freute. Zu seinem Leidwesen war Frau Kobayashi nicht gerade eine Meisterin der leisen Töne, wie sie auf dieser Fahrt schon mehrmals unter Beweis gestellt hatte und es auch jetzt wieder tat, um sicherzustellen, dass ihre Schüler sie trotz des auffrischenden Windes verstehen konnten: „Meine Damen und Herren, herzlich willkommen bei den Omuro-Grabhügeln! Als erstes werden wir uns natürlich das Museum anschauen, damit Sie dann bei unserem Rundgang alles besser einordnen können. Ich erwarte wie immer, dass Sie sich zivilisiert benehmen und die präsentierten Inhalte genau studieren!“ Die Begeisterung über den Besuch eines weiteren Museums war ihrer mehr oder weniger stark verkaterten Schülerschaft nur zu deutlich anzusehen, trotzdem trotteten sie ihr unmotiviert zum Eingang hinterher. Was hatten sie auch für eine Wahl? Nachdem alle ihre Sachen eingeschlossen hatten, sammelte sich die Klasse rund um ein Modell der Umgebung im Eingangsbereich, das zeigte, wie weit sich die Grabhügel in die Talsenke hinein erstreckten und in welche zeitlichen Abschnitte sie sich einteilen ließen. Wieder einmal schien Frau Kobayashi sich ein profundes Wissen zu dem Thema angelesen zu haben, allerdings war sie vermutlich auch nicht ohne Grund Geschichtslehrerin geworden und hatte ein echtes Interesse an derartigen Themen. Dem Modell folgten zwei kleine, enge Räume, vollgestopft mit erklärenden Wandtafeln, sodass sich wirklich niemand, der noch ganz richtig im Kopf war, über einen Mangel an Hintergrundinformationen beschweren konnte. Während vor allem Yugi und Ryou jede Tafel genau studierten, überflog Duke die Tabellen, Landkarten und Texte lediglich grob – viel mehr gab sein noch immer unter dem Alkoholkonsum von gestern leidendes Gehirn gerade einfach nicht her. Immerhin konnte er behalten, dass es grob um die Jahre 400 bis 700 unserer Zeit ging, dass es einen starken Einfluss von der koreanischen Halbinsel gegeben hatte, sowie, dass es verschiedene Arten von Grabhügeln gab, namentlich runde, eckige und schlüssellochförmig angelegte. Das musste doch eigentlich reichen, oder?! Auch hier gab es, wie schon gestern in dem Herrenhaus, eine kleine Video-Ecke, wo immer zur halben Stunde ein erklärender Film gezeigt wurde. Als es das nächste Mal soweit war, dirigierte Frau Kobayashi sie alle zu den Hockern, deren Anzahl allerdings noch begrenzter war als Tags zuvor. Nicht einmal die Hälfte der Schüler konnte sich setzen, der Rest musste dicht gedrängt stehen. In der Hoffnung, dass die Situation für ein gewisses Maß an Unauffälligkeit sorgte, suchte Dukes Blick zwischen seinen Klassenkameraden nach Kaiba und fand ihn genau auf der anderen Seite der Gruppe und des Raums. Locker an die Wand gelehnt und mit unverhohlenem Desinteresse machte er sich nicht einmal die Mühe wirklich auf den Fernseher zu schauen und schien nur darauf zu warten, dass das alles endlich vorbei war. Stellen Sie sich vor, er hat sich heute bedankt! Ich hab’s kaum gehört, der Gute war mit den Gedanken ganz woanders, aber trotzdem! Seine Brust schnürte sich zu. Kaiba konnte noch so sehr versuchen, den Eindruck zu erwecken, dass ihn das alles kalt ließ, aber Duke machte sich keine Illusionen. Joey hatte ihn getroffen, sogar empfindlich getroffen, nicht nur, aber vor allem angesichts dessen, was tatsächlich nur wenige Stunden zuvor zwischen ihnen passiert war. Kaiba hatte ihn an sich herangelassen, so nahe, wie vermutlich noch niemanden zuvor, und er war einfach nicht mehr aufgetaucht. Wenn dir ma wirklich jemand nahe kommt, dann haut’er doch sofort wieder ab! Und das nur wegen … Ein Ellenbogen traf ihn in die Seite. Tristan hatte in seiner Hosentasche gekramt und ihn dabei versehentlich angerempelt. „Mann, pass doch auf!“, fuhr Duke ihn bissig, aber im Flüsterton an. „Sorry! Ist halt eng hier!“, gab der Angesprochene zurück und hob beschwichtigend die Hände, ein Taschentuch in der rechten. Duke machte sich nicht einmal die Mühe seinem Freund noch etwas zu antworten; stattdessen verdrehte er nur die Augen und wandte sich demonstrativ wieder dem Film zu. Viel sah er nicht mehr, denn knappe drei Minuten später begann bereits der Abspann durchzulaufen. „Nun denn, meine Herrschaften, ich denke, jetzt haben wir alle das Rüstzeug, um nach draußen gehen und die Grabhügel in echt anzusehen. Also dann, auf geht’s!“, dirigierte die Lehrerin sie wieder zu den Schließfächern. Trotz des eher grauen Tages tat es gut, aus den engen und stickigen Räumen des kleinen Museums wieder nach draußen zu kommen. Frischer Wind rauschte sanft durch die Bäume der bewaldeten Hänge und Duke ließ fast schon begierig die kühle Herbstluft in seine Lungen strömen. Mit dem umfangreichen Prospekt in der Hand führte Frau Kobayashi die Gruppe an und gab die Richtung vor, geradewegs auf die ersten runden Grabhügel des vorderen Talabschnitts zu. Sie folgten einem Rundweg, der am Museum startete und sich durch und entlang der verschiedenen Anlagen schlängelte, die man zum Teil sogar betreten konnte. Der Ablauf war dabei immer der gleiche: Sie kamen an einen neuen Hügel oder eine neue Hügelgruppe, Frau Kobayashi konsultierte kurz das Prospekt und erklärte etwas, dann gab sie den Schülern einen Moment Zeit, sich alles genauer anzusehen, was ein paar wenige taten, der Rest nutzte die Zeit, um sich zu unterhalten, dann wedelte die Lehrerin mit dem Prospekt in der Luft und es ging weiter. Die Eingänge der ersten Hügel, die man betreten konnte, wurden anfangs noch als willkommene Foto-Gelegenheiten genutzt, aber auch das erstarb mit der Zeit. Duke hatte ohnehin kein großes Faible für Geschichte und Archäologie, sodass sich ihm nicht erschloss, was man am leeren Innern eines Iglus aus Steinen, das vor Jahrhunderten mal eine Leiche enthalten hatte, so spannend finden konnte – anders als Ryou und Yugi, die ebenfalls ein Prospekt mitgenommen hatten, jeden Hügel fasziniert umrundeten, immer wieder auf bestimmte Steinstrukturen zeigten und sich angeregt darüber austauschten. Tea versuchte anfangs noch den beiden auch inhaltlich zu folgen, stieg aber relativ schnell aus und hielt sich nur deshalb bei ihnen, weil die Gesellschaft der „Kater-Truppe“, wie sie ihn, Joey und Tristan getauft hatte, sie nach eigener Aussage zu sehr deprimierte. In der Tat empfand Duke die Unbeschwertheit und Begeisterung dieses Teils seiner Freunde heute als ungemein belastend, ebenso wie Frau Kobayashis gesammelte Ausführungen, sowie Tristans und vor allem Joeys bloße Präsenz. Jedes Wort des Blonden war eines zu viel und Dukes Magen krampfte sich zusammen, wann immer er wieder einmal einen der vermeintlich unauffälligen Seitenblicke registrierte, die Joey Kaiba zuwarf, wenn letzterer einmal zufällig in ihrer Sichtlinie stand. Plante Joey etwas? Und wenn ja, was? Zu einer Antwort kam er nicht; dafür waren die verräterischen Momente zu selten, lief Kaiba doch wie immer meist am Ende der Gruppe und hielt sich auch sonst im Hintergrund, wie ein ruheloser Geist, der Duke erbarmungslos verfolgte, ohne dass er ihn wirklich zu Gesicht bekam. Wie konnte er Kaiba um Verzeihung bitten und dabei gleichzeitig etwas von ihm fordern? Wie sollte er Kaiba erklären, warum er die Entwürfe jetzt schon brauchte? Wie konnte er überhaupt eine entsprechende Gelegenheit für ein Gespräch schaffen? Und wann? Immerhin, sollte das Gespräch zustande kommen, konnte er heute wenigstens sicher sein, dass sie auch tatsächlich reden würden. Die Chancen, dass es zu körperlicher Annäherung kommen würde, standen jedenfalls mehr als gering. Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Gedanken hörten nicht auf, ergebnislos um alle diese Dinge zu kreisen und nicht einmal der beeindruckende Ausblick über die Stadt und die bereits leicht schneebedeckten Gipfel der Berge konnte ihn ablenken. Um kurz nach zwölf hatten sie den Rundweg absolviert und waren wieder am Museum angekommen. Frau Kobayashi rief eine Dreiviertelstunde Mittagspause aus, bevor sie sich den zweiten Abschnitt der Anlage weiter hinten im bewaldeten Tal anschauen würden. Am Museum gab es einen kleinen Pavillon als Sitzgelegenheit, den jedoch schon einige Schüler okkupiert hatten, sodass Duke und seine Freunde sich einen anderen Platz suchen mussten. Die Treppe hinunter zum Parkplatz mit ihrer angrenzenden Wiese wurde vorgeschlagen und schnell akzeptiert. Auf ihrem Weg dorthin quer über den Vorplatz des Museums erspähte Duke Kaiba, der allein mit dem aufgeschlagenen Dino-Block auf einer schmalen Rasenfläche am Rand des Platzes saß. Sein Herz schlug schneller und er konnte ein gelöstes Ausatmen gerade eben unterdrücken. Kaiba arbeitete noch immer an den Entwürfen – trotz allem, was passiert war! Das erste gute Zeichen heute! „Tze, unfassbar! Wie er da so seelenruhig sitzt! Mit Serenitys Block!“ Joey schüttelte den Kopf und warf dem Brünetten einen bösen Seitenblick zu. „Lass es gut sein, es ist okay!“, versuchte Duke ihn zu beruhigen, während sie an der Treppe ankamen und noch ein Stück hinunterstiegen, sodass Kaiba und alle anderen aus ihrem Blickfeld verschwanden. Abrupt blieb Joey stehen; die anderen leicht irritiert ebenso. „Nein, ist es nicht! Du hast diesen Block als Geschenk für meine kleine Schwester gekauft und jetzt kritzelt Kaiba dort Weiße Drachen oder was auch immer rein?! Der reiche Pinkel hat doch nun wirklich mehr als genug Geld, um sich selbst ein scheiß Notizbuch zu kaufen!“ „Wie jetzt, Duke hat den Block gekauft?!“, verlieh Ryou den fragenden Blicken seiner Freunde Ausdruck. „Mhm,“, nickte Joey, „für Serenity! Und Kaiba hat ihm den einfach abgenommen! Wahrscheinlich irgendwie abgepresst. Irgendwas hat er gegen Duke in der Hand, aber Duke will es nicht sagen!“ Alle Augen richteten sich besorgt auf ihn. Erneut kochte die Wut in ihm hoch und schlug sich nun auch leicht in seiner Stimme nieder. „Kaiba hat mir den Block nicht irgendwie abgepresst, ich hab ihn ihm überlassen! Freiwillig!“ Er ließ eine kurze Pause, konnte sich jedoch nicht zurückhalten, weiterzusprechen: „Und wenn du mich gestern nur einmal hättest ausreden lassen, hättest du das gewusst und wir hätten wir uns sehr viel Ärger ersparen können!“ „Ist was dran. Und wenn du uns früher von dem Ehebett erzählt hättest, hätte mich das gestern auch nicht überrascht!“ „Was hat das denn jetzt damit zu tun?!“ An dieser Stelle unterbrach Tea die sich erhitzende Diskussion: „Halt, halt, stopp mal! Das geht mir jetzt zu schnell. Ehebett?“ Tristan sprang mit einem leichten Grinsen ein: „Mhm, da staunt ihr, Duke und Kaiba haben in ihrem schicken Doppelzimmer ein Ehebett!“ „…von dem wir gestern erst erfahren haben, weil Duke einfach nie ein Wort über diese spannende und wichtige Information verloren hat!“, fügte Joey hinzu und klang dabei geradezu persönlich beleidigt. Teas Augen wanderten zu Duke und musterten ihn einmal intensiv. Dann zuckte sie die Schultern. „Na und? Hätte ich an seiner Stelle wahrscheinlich auch nicht. Es ist nur ein Bett!“ „Das nimmst du einfach so mit einem Schulterzucken hin?! Ein Ehebett! Mit Kaiba!“, fragte Joey ungläubig nach. An dieser Stelle konnte Duke sich nicht länger zurückhalten: „Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?! Mir Werkzeug organisieren und das Bett auseinandersägen?!“ Der Blonde verzog das Gesicht und hielt sich eine Hand ans Ohr. „Kannst du dich vielleicht ein bisschen leiser aufregen?! Meinen Kopfschmerzen gefällt das gar nicht!“ Das war doch einfach unglaublich! Dieser …! „Ich kann mich aufregen, so laut ich will! Falls du es vergessen haben solltest, lass mich dich kurz erinnern: Ich war letzte Nacht noch da, nachdem ihr in unser Zimmer eingefallen seid, du Kaiba Erpressung unterstellt hast, dann erstmal ne Runde in unserem Bad gekotzt hast, …" „Du hast WAS?!“, unterbrach Tea und sämtliche Augenpaare wanderten zu Joey. „Mir war halt schlecht …“ „Und als wäre das noch nicht genug gewesen,“, riss Duke den Faden wieder an sich, „kommst du dann noch mit der Ehebett-Sache und greifst Kaiba auf einer Ebene an, die selbst für deine Verhältnisse einen echten Tiefpunkt markiert!“ Joeys Augen weiteten sich. „Selbst für meine Verhältnisse?! Was soll das jetzt bitte heißen, he?! Außerdem hab ich ihn nicht beleidigt, ich hab höchstens ein paar unbequeme Wahrheiten ausgesprochen! Und warum zur Hölle nimmst du eigentlich ihn in Schutz?! Du hast genau gehört, was er zu mir gesagt hat!“ „Ich nehme niemanden in Schutz, Joey! Was Kaiba gesagt hat, war nicht cool, keine Frage! Aber du kannst doch nicht ernsthaft abstreiten, dass du es provoziert hast! Du bist als erster zu weit gegangen!“ In dem Maße, wie Duke nicht verhindern konnte, dass sich seine Stimme erhob, gelang es auch Joey immer weniger sich noch zu zügeln. „Ich war betrunken, okay?! Ich wusste nicht, was ich sage! Er war nüchtern, er wusste es ganz genau!“ „Bullshit! Du wusstest, was du sagst! Jedes beschissene Wort hast du genossen!“ Der Blonde lachte bitter auf. „Vielleicht muss ich mir nochmal die Ohren waschen, aber für mich hört es sich verdammt danach an, als würdest du Kaiba in Schutz nehmen! Wo ihr euch beide doch jetzt so nahe steht, warum geht ihr nicht gleich zusammen in einen Laden und sucht ein hübsches, neues Hundekostüm für mich aus?!“ „Ach, halt doch einfach die Fresse!“ Die Augenbrauen aller anderen Anwesenden schossen kollektiv nach oben; Duke rieb sich mit der Hand über die Stirn, schluckte und wandte sich frustriert ab. „Whoa, Jungs, kommt mal wieder runter!“, versuchte Tristan mit einer entsprechenden Geste seiner Hände zu beschwichtigen, erreichte damit jedoch nur, dass Dukes funkensprühender Blick nun ihn traf. „Und du bist auch nicht besser!“ „Ich?! Was hab ich gemacht?!“, fragte der Angesprochene ernsthaft verwundert zurück und zeigte dabei auf sich. „Das sage ich dir gerne: Nichts, Tristan! Nichts hast du gemacht! Du hast einfach nur rumgestanden und zugehört, wie er …“ „Du doch auch nicht.“ „Was?!“, entwich es ihm atemlos und er blinzelte irritiert. „Du doch auch nicht! Du hast auch nur rumgestanden wie eine Salzsäule und hast nichts unternommen! Also mach mir gefälligst keinen Vorwurf!“ Stille. Dukes Brust hob und senkte sich schnell, sein Blick wurde für eine Sekunde leer, dann eiskalt. „Wisst ihr was, ihr könnt mich mal! Alle!“ Damit wandte er sich um und stapfte mit schweren Schritten die kleine Anhöhe wieder hoch. „Duke, warte!“, hörte er Teas Stimme von weitem, doch er reagierte nicht, drehte sich nicht noch einmal um. Er wollte nur noch weg. Weg von Joey, weg von Tristan, weg von den anderen, weg von Kaiba, weg von hier. Kapitel 26: Excuse to get hurt. (And to hurt.) ---------------------------------------------- Du doch auch nicht. Wieder oben auf dem Hügel angekommen, lief Duke quer über den Vorplatz ohne nach links und rechts zu sehen. Inmitten einer Baumgruppe und weit außerhalb des Sichtfeldes aller seiner Mitschüler, ließ er seinen Rucksack achtlos zu Boden gleiten und sich an einem der Baumstämme nach unten sinken. Tristan hatte recht. Warum hatte er nicht versucht, Joey zu stoppen? Warum hatte auch er nur wie gelähmt dagestanden und zugesehen? Schmerz durchzuckte von Neuem seine Schädeldecke. Noch ein Grund mehr für Kaiba, sauer auf ihn zu sein, ihn für alles verantwortlich zu machen. Gegen das Gespräch, das sie später führen mussten, würde die Präsentation vor dem Industrial Illusions-Vorstand geradezu ein Spaziergang werden! Und niemand würde ihm helfen. Niemand konnte ihm helfen. Er hatte sich ganz allein in diese Lage manövriert und jetzt musste er auch allein wieder hinausfinden. Seine Brust zog sich zusammen. Früher war es immer so gewesen – Duke Devlin, allein gegen die Welt – und er hatte sich stark gefühlt dabei, unabhängig. Er entließ ein kurzes, zynisches Schnauben. Wie sich die Dinge doch geändert hatten! Einige Zeit später, aber trotzdem viel zu früh, drang Frau Kobayashis anstrengende Stimme an sein Ohr. Er wandte seinen Kopf ein wenig nach hinten und sah durch die Bäume, wie die Lehrerin nach und nach die anderen Schüler aufscheuchte und sie aufrief, sich an der Treppe vor dem Museumseingang zusammenzufinden. Seufzend erhob er sich und trottete ebenfalls zu dem auserkorenen Sammelplatz. Der triste Himmel schlängelte sich wie ein graues Band über dem staubigen Weg, der sie weiter hinein in das langgestreckte und dicht bewaldete Tal zwischen den beiden Bergketten führte. Duke blieb allein und immer auf Abstand sowohl zu seinen Freunden als auch zu Kaiba, als wären sie alle Elementarteilchen mit der gleichen Ladung, die sich abstießen, wann immer sie einander zu nahe kamen. Alle paar Meter versteckten sich zwischen den hohen Laub- und Nadelbäumen weitere Grabhügel und Steinansammlungen, unterschieden sich jedoch in Bauart und Erhaltungszustand teils deutlich von denen weiter vorne. Gerade deutete Frau Kobayashi aufgeregt und wild gestikulierend auf verschiedene Stellen einer Struktur aus aufgeschichteten Steinen, doch so faszinierend das Ganze auch sein mochte, an Duke rauschten ihre Worte einfach vorbei. Eine Hügelform war hier schon lange nicht mehr zu erkennen, die oberen Steinschichten waren fast vollständig abgetragen. Übrig geblieben waren lediglich die Wände oder Einfassungen der Grabkammer, die sich in Form einer rechteckigen Grube im Boden auftaten. Ein offenes Grab. Das war es doch im Grunde, oder? 1600 Jahre und bestimmte Dinge blieben einfach gleich. Die Grube, in die sie damals den Sarg hinabgelassen hatten, ihren Sarg, hatte gar nicht so viel anders ausgesehen. Noch immer sah er das Bild genau vor sich, so lebhaft und detailreich hatte es sich in sein Gehirn eingeprägt. Eigentlich war der Tod für seine Mutter fast schon eine Erlösung gewesen – das Ende eines langsamen und grausamen Sterbeprozesses, der sich über Monate hingezogen hatte. Man hatte zusehen können, wie sie schwächer geworden war, dünner, der Husten immer stärker und unerträglicher, bis ihre Kräfte sie schließlich nach ein paar letzten Wochen im Krankenhaus verlassen hatten. Ein Windstoß fuhr durch den Wald, ließ Blätter rascheln, Äste knacken und einige Haarsträhnen seines Zopfes wild in sein Gesicht wirbeln. Ein Stich durchfuhr sein Herz. Das gleiche Haar. Ihr Haar, lang, seidig weich und pechschwarz, auf das sie immer so stolz gewesen war, das sein Vater so geliebt hatte, das die aggressive Chemotherapie ihr genommen hatte. „Ich weiß was, Mom! Warum lasse ich nicht einfach meine Haare lang wachsen, bis du deine wieder hast? Dann sind sie gar nicht so richtig weg! Und wenn es soweit ist, dann tauschen wir wieder. Oder mir gefällt es und dann haben wir beide lange Haare!“ Mit einem traurigen Lächeln zog sie ihn an sich – vorsichtig und immer darauf bedacht, nicht versehentlich einen der Schläuche an ihrem Arm zu quetschen – und gab ihm einen sanften Kuss auf den Kopf. „Das ist eine ganz wundervolle Idee, mein Schatz!“ Wie naiv er gewesen war! Vielleicht hatte er aber auch schon geahnt, wie es kommen würde und es nicht wahrhaben wollen. Sein zehnjähriges Ich hatte die Endgültigkeit des ganzen Vorgangs erst dann wirklich begriffen, als es bereits vorbei gewesen war und er an der Hand seines Vaters vor der offenen Grube gestanden hatte. Den Ort hatte sie sich selbst ausgesucht, ein schöner Platz unter einer alten Weide, in der Hoffnung, dass er und sein Vater oft zu ihr kommen würden, sie besuchen, ihr erzählen. Zwei oder drei Mal nur hatten sie es geschafft, bevor der Schmerz seinen Vater so sehr verändert hatte, dass er nicht mehr wiederzuerkennen war. Mein Gott, Junge, mach dir doch wenigstens einen Zopf! Du siehst aus wie sie! Seitdem hatte ihn genau ein anderer Mensch so gesehen – hatte sie gesehen. Weil er es zugelassen hatte. Zum allerersten Mal. Und er hatte es vergeigt. Auf ganzer Linie. Frau Kobayashis Wortschwall war versiegt. Offenbar hatten sie jetzt wieder einmal etwas Zeit, um sich die Steine selbst genauer anzusehen – oder eben auch nicht. Duke entschied sich wenig überraschend für letzteres und ließ sich einige Meter entfernt auf einem umgestürzten Baumstamm nieder. Eine Bewegung in seiner Nähe schreckte ihn aus dem Strudel an traurigen Erinnerungen, in den er in den letzten Minuten immer weiter hineingezogen worden war. Tea setzte sich zu ihm und strich ihm, ohne ein Wort zu sagen, sanft über den Rücken. Er hatte weder die Kraft noch den Willen, ihr Einhalt zu gebieten, sondern ließ es einfach geschehen. Schließlich entließ er ein langgezogenes Seufzen und sah sie an. „Was ich vorhin gesagt habe, tut mir leid. Wenn ich es überhaupt gemeint habe, dann nur auf Joey und Tristan bezogen, nicht auf Yugi, Ryou und dich. Ihr hattet mit alldem ja nichts zu tun.“ Für einen Moment bedauerte es Duke, als die Wärme ihrer Hand von seinem Rücken verschwand, doch stattdessen fing sie seinen Blick auf und lächelte. „Entschuldigung angenommen! Bei dem, was da gestern offenbar gelaufen ist mit den beiden, ist dein Ärger ja auch nur verständlich. Wenn es um Kaiba geht, gibt es für Joey eben meistens nur schwarz und weiß.“ „Und wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn.“ Tea nickte und musterte ihn noch einmal ausführlicher. „Mhm. Ist das wirklich alles oder ist noch etwas anderes?“ Duke wich ihrem prüfenden Blick aus und scharrte mit seinen Schuhspitzen durch das Laub auf dem Waldboden. Natürlich war das nicht alles. Es gäbe so viele Geständnisse, die er machen könnte, machen müsste. Aber heute würden sich die Geständnisse auf Kaiba beschränken, und das allein würde schon schwer genug werden. So schüttelte er nur den Kopf, sie legte noch einmal ihren Arm um seine Schultern und drückte sich kurz an ihn, bevor Frau Kobayashi auch schon zum Weitermarsch blies. Tea erhob sich und streckte ihm mit einem sanften Lächeln die Hand hin, er ergriff sie und ließ sich von ihr nach oben ziehen. Den restlichen Teil der Führung absolvierte er hauptsächlich gemeinsam mit Tea, die Yugis und Ryous Fachsimpelei ebenfalls nicht mehr ertragen konnte. Schließlich kamen sie wieder zum Parkplatz, wo sie erst einmal auf die Rückkehr des Fahrers warten mussten, damit er den Bus aufschloss. Als Tea ganz selbstverständlich zu den anderen ging, blieb Duke kurz stehen, atmete noch einmal tief durch und folgte ihr dann. Er würde sie nicht ewig meiden können und wollte das auch gar nicht. Es war nicht mehr wie früher. Er war nicht mehr wie früher. Sich bei Ryou und Yugi zu entschuldigen war ebenso unkompliziert, wie es bei Tea gewesen war. Nach ihnen kam Tristan an der Reihe: „Tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe! Ich hab mich wahrscheinlich mehr über mich selbst geärgert und das an dir ausgelassen.“ „Schon okay, Mann! Ging uns allen mal so.“, erwiderte Tristan lächelnd und klopfte zweimal sanft mit der Hand auf seinen Oberarm. „Ist ja auch logisch, dass du sauer warst. Wir haben uns gestern echt nicht gerade von unserer besten Seite gezeigt.“ Als Tristans und sein eigenes verlegenes Lachen erstarb, hing ein merkwürdiges Schweigen in der Luft, nur durchbrochen von Joeys Fuß, der hörbar auf den Asphalt tippte. Der Blonde hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ein Funkeln lag in seinem Blick. Erwartete Joey ernsthaft ebenfalls eine Entschuldigung von ihm?! Tze, das konnte er vergessen! Wenn sich jemand entschuldigen sollte, dann Joey – und zwar bei ihm! Und Kaiba! Tea sah zwischen ihnen hin und her und rollte mit den Augen. „Himmel! Ihr seid wirklich zwei Sturköpfe sondersgleichen!“ Sie legte dem Blonden die Hand auf die Schulter und sah ihn eindringlich an. „Joey, könntest du Duke als Freund einfach mal vertrauen und ihm glauben, wenn er sagt, dass er Kaiba den Block wirklich freiwillig gegeben hat?“ Unter ihrem vorwurfsvollen und mahnenden Blick nickte Joey schließlich sichtlich zähneknirschend. „Sehr schön! Und damit legen wir dieses ganze leidige Thema jetzt bitte endgültig zu den Akten!“ Dann wandte Tea sich ihm zu. „Duke, du kennst Joey. Was auch immer er gestern genau gesagt hat, einiges davon hätte er sicherlich nicht gesagt, wenn er nüchtern gewesen wäre.“ Die Hände in den Hosentaschen vergraben sah er zu Boden und wiegte kurz den Kopf hin und her. „Wahrscheinlich nicht.“ „Okay. Können wir diesen dummen Streit dann bitte vergessen und uns wieder vertragen? Niemandem ist was passiert, es gab keine Toten, es sind keine irreparablen Schäden entstanden.“ Widerstrebend nickten sie beide und gaben sich die Hand, während Tea noch etwas in sich hineinmurmelte das stark nach „… wie im Kindergarten hier …“ klang. Von wegen ‚keine irreparablen Schäden‘! Die ganze Sache war noch lange nicht vergessen, für ihn selbst genauso wenig wie für Joey, das war nur zu deutlich aus dessen Blick abzulesen. Mit einer gewissen inneren Befriedigung legte Seto im Bus Mantel und Tasche auf einem der Sitze ab und ließ sich auf den Fensterplatz daneben fallen. Der letzte Ausflug war überstanden! Nur noch ein einziges Mal würde er in diesem unwürdigen Gefährt sitzen müssen und zwar morgen, um wieder nach Hause zu kommen. Dann gehörte diese ganze Fahrt endlich genauso der Geschichte an, wie die zerfallenen Hügel und Gräber, die er gerade zu besichtigen gezwungen gewesen war. Nicht, dass er wirklich irgendetwas besichtigt hätte. Die Vergangenheit war Vergangenheit und es lohnte sich selten, darauf zurückzuschauen. Er blickte lieber nach vorne, in die Zukunft, die man ändern und gestalten konnte, nach seinen eigenen Vorstellungen. Versonnen sah er aus dem Fenster. Warum fiel es ihm dann so verdammt schwer, seine eigene nähere Vergangenheit einfach loszulassen? Devlin war ihm den ganzen Tag ausgewichen – zu recht natürlich, nach letzter Nacht. Nicht einmal einen kleinen Seitenblick hatte er ihm zugeworfen. Vermutlich hatte er nun endlich aufgegeben und eingesehen, dass diese ganze Sache aussichtslos war. Falls dem so war: Wunderbar! Das machte sein Leben um einiges einfacher! Sicher, er würde hin und wieder noch mit Devlin zu tun haben, spätestens wenn es um die Realisierung der DDM-Duel Disk ging, aber bis dahin würde sein Alltag die Erinnerungen an das, was hier geschehen war, vollständig überspült haben. Sie würden bedeutungslos sein, einfach keine Rolle mehr spielen, ganz so, als wären sie jemand völlig anderem passiert. Mr. Hyde, nicht Dr. Jekyll. Ein leichtes Ziehen in seiner Magengegend brachte ihn dazu, das Sinnieren einzustellen, schnell nach seiner Tasche zu greifen und den Block herauszuholen. Die Fahrzeit würde vermutlich genau ausreichen, um die Detailzeichnung des Dimensionierungsmechanismus zu beenden, die er heute in der Mittagspause begonnen hatte, anstatt das labberige und ausgesprochen uninspirierte Sandwich zu verspeisen, das den Hauptinhalt des Lunchpaketes dargestellt hatte. Etwa zwanzig Minuten später war die Zeichnung beendet und Seto sah das erste Mal wieder auf. Bewegten sie sich überhaupt noch vorwärts? Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass dem in der Tat nicht so war. Bereits seit mehreren Minuten schienen sie in einer langen Kolonne von Autos zu stecken und stillzustehen. Just in diesem Moment erhob sich Frau Kobayashi, wechselte ein paar Worte mit dem Fahrer und postierte sich dann im Mittelgang. „Meine Damen und Herren, wie ich gerade erfahren habe, hat sich weiter vorne ein Unfall ereignet und wir stehen im Stau. Es kann also noch ein wenig länger dauern. Aber keine Sorge, ich rechne damit, dass wir trotzdem pünktlich zum Abendessen und zu unserer kleinen Überraschung zurück sein werden. … Ach, wissen Sie was? Was soll’s! Ich wollte Ihnen ja ohnehin auf der Rückfahrt verraten, worum es sich handelt. Die Überraschung ist …“ Warum die dramatische Pause? Wartete die Gute auf einen Trommelwirbel?! „ … ein Lagerfeuer! Ja, Sie haben richtig gehört: Nach dem Abendessen wird es draußen ein Lagerfeuer geben, wir werden uns alle darum versammeln, gemütlich unter freiem Himmel sitzen, die Natur genießen und die herrlichen, letzten Tage noch einmal Revue passieren lassen!“ Ein Lagerfeuer?! Das verbuchte Kobayashi-sensei unter einer Überraschung? Und einer guten noch dazu?! Dass er wie ein Höhlenmensch vor einem Feuer sitzen und seine Kleidung komplett nach Rauch stinken würde? Mit dem Stift massierte Seto sich die rechte Schläfe und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Gott, diese Frau! Nur noch wenige Monate, dann hatte er seinen Abschluss und war diese Nervensäge endlich los. Der Fahrer schaffte es, eher von der Autobahn abzufahren, allerdings mussten sie sich stattdessen durch den spätnachmittäglichen Berufsverkehr Naganos kämpfen, sodass sie wesentlich später als ursprünglich geplant zurück in der Herberge ankamen und umgehend von der Lehrerin zum Abendessen in den Speisesaal gescheucht wurden. Duke saß mit den anderen am Tisch, schob sich abwesend sein Essen in den Mund und hörte der Konversation nur mit einem halben Ohr zu, im Kopf schon wieder (oder vielmehr immer noch) bei der zunehmend drängenden Frage, wie er mit Kaiba reden sollte. „Was soll ich denn gleich nur anziehen? Ich möchte eigentlich nicht, dass irgendeins meiner guten Tops voll nach Rauch stinkt! Und meine Jacke erst!“ Tea machte sich schon seit der Ankündigung des Lagerfeuers Gedanken über die Wahl der richtigen Kleidung. „Ich kann mich auch irren, aber gibt es dafür nicht so ein Gerät? So eine – wie sagt man noch gleich? –‚Waschmaschine‘?“, warf Tristan in gespielter Ahnungslosigkeit ein. „Sicher, Blödmann, aber manche meiner Sachen sind nun einmal empfindlich und ich habe Angst, dass der Gestank nicht vollständig wieder rausgeht!“ Yugi lächelte. „Ich würde dir ja einen von meinen Pullis geben, aber ich glaube nicht, dass die dir passen …“ „Danke Yugi, das ist wirklich nett von dir! Aber die Idee ist gar nicht so übel! Joey, leihst du mir einen von deinen Pullovern?“ „Ach, weil meine Klamotten verraucht werden dürfen oder was?!“ „Hmm, lass mich überlegen …“ Sie legte nachdenklich die Finger an die Lippen, dann nickte sie. „Ja! Mehr als meine jedenfalls.“ Joey rollte mit den Augen. „Na gut, von mir aus. Ich bring dir einen mit.“ „Danke, Joey, du bist ein Schatz!“ „Ja ja, mal sehen wie lange noch.“ Sollte das gleich vielleicht schon seine Gelegenheit sein? Oder sollte er warten, bis er heute Nacht wieder allein mit Kaiba im Zimmer war? Immerhin gab es heute keine Party, die ihn daran hindern würde, zur Nachtruhe wieder oben zu sein. Aber dann war es spät, Kaiba würde genervt sein vom Lagerfeuer, würde schlafen wollen … keine gute Ausgangsbasis, so viel stand fest. Ebenso, dass er selbst das Lagerfeuer unmöglich würde genießen können, wenn er noch weitere drei Stunden warten musste. Voller Ungeduld würde er die Minuten zählen und je später es wurde, desto mehr würde er zum Nervenbündel werden, bis es im schlimmsten Fall vielleicht noch seinen Freunden auffiel. Wenn er sich hingegen schon im sicheren Besitz der Entwürfe wüsste … Die Aufregung ließ das Blut schneller durch seine Adern rauschen. Je eher er es hinter sich hatte, desto besser. Aber würde Kaiba ihm überhaupt eine Chance geben und ihn anhören? Wie sollte er anfangen? Zwar hatte er schon den ganzen Tag über diesen Fragen gebrütet, aber das war weit weniger fruchtbar gewesen, als er gehofft hatte. Am Ende würde es wohl wieder einmal auf Improvisation hinauslaufen. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus und den Rest seiner Mahlzeit brachte er nur mit Mühe hinunter. Nachdem das Essen beendet war, fiel unter den Freunden ganz wie erwartet tatsächlich der Beschluss, erst einmal auf die Zimmer zu gehen, sich umzuziehen und dann unten zu treffen. Eine feste Zeit wurde glücklicherweise nicht vereinbart; Duke hätte auch gar keine Lust gehabt, sich eine weitere, vermutlich noch hanebüchenere Ausrede ausdenken zu müssen, warum er erneut länger brauchen würde als der Rest. Die Zeit der Ausreden musste (und würde!) endlich ein Ende haben! Seine vielfachen Verschleierungstaktiken kosteten doch um einiges mehr Kraft, als er jemals erwartet hätte und langsam, aber sicher war er nur noch erschöpft. So betrachtet grenzte es ja schon fast an eine Erlösung, Kaiba gleich sagen zu können, was Sache war. Ach, wem machte er eigentlich etwas vor? Es gab nichts schönzureden, an dem, was ihm gleich blühte. Kaum waren sie oben im Gang der zweiten Etage angekommen, rutschte ihm das Herz endgültig in die Kniekehlen. Kaiba lehnte an der Wand neben der Tür zu ihrem Zimmer, seinen Mantel über dem Arm und die Tasche auf den Schultern, und schien bereits ungeduldig auf ihn zu warten. Kein Wunder, immerhin war wieder einmal er es, der den Schlüssel hatte. Duke schluckte. Kurz angebunden verabschiedete er sich vorübergehend von den anderen und schritt den Gang weiter nach hinten auf Kaiba zu. Sein Herz raste und er musste sich zwingen, nicht den Kopf zu senken und den blauen Augen auszuweichen. Der Brünette bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle, als Duke die Tür erreichte, und seine unerwartete Nähe war ebenso erdrückend wie einschüchternd. Selbst das Parfüm roch heute ein wenig anders als sonst: irgendwie … bittersüß, Kopfnote: Schuld und schlechtes Gewissen. Das minimale Zittern seiner Hände beim Aufschließen der Tür konnte er nur mit allergrößter Mühe zügeln. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen, Kaiba hatte so schon genügend Gründe, ihn zu verachten. Gentleman, der er war, ließ er dem Brünetten den Vortritt und nahm noch einmal einen tiefen Atemzug, bevor er direkt nach ihm ins Zimmer trat und die Tür hinter ihnen schloss. Anders als gestern war nicht die untergehende Sonne durch das Fenster zu sehen; nur die weiterhin undurchdringliche, graue Wolkendecke, die sich im schwindenden Tageslicht immer dunkler färbte. Zielstrebig ging Kaiba zu seinem Koffer und begann, darin zu suchen, vermutlich, um ebenfalls einige getragene Kleidungsstücke zu finden, die er gleich guten Gewissens dem Rauch des Feuers aussetzen konnte. Duke ließ seinen Rucksack von der Schulter gleiten, legte seine Jacke auf dem Bett ab und setzte sich mit angewinkeltem Bein daneben, den Blick auf den Rücken des Brünetten geheftet. „Kaiba, wir müssen reden!“ Der Brünette hielt in seinem Tun inne, richtete sich auf und sah ihn mit verschränkten Armen kühl und abwartend an. Dukes Herzschlag legte noch einen weiteren Gang zu. Er hatte keine Wahl: Am Ende musste es auf diese eine kritische Forderung hinauslaufen. Aber er hatte die Chance sie einzubetten und vorzubereiten, sodass Kaiba seine Zwangslage hoffentlich verstehen würde. Außerdem gab es da ein paar Dinge, die es verdienten, noch einmal gesagt zu werden: nüchtern und von Angesicht zu Angesicht. „Nochmal wegen gestern …“, setzte er an und rieb nervös seine kalten und zunehmend feuchten Handflächen aneinander. Schon öffnete Kaiba den Mund, vermutlich, um ihn sogleich zu stoppen, aber Duke brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. „Bitte, lass mich ausreden, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole und es dich nervt!“ Der Brünette entließ ein leises Seufzen und bedeutete ihm sichtlich widerstrebend fortzufahren. „Es tut mir unendlich leid, was letzte Nacht gelaufen ist! Glaub mir, ich wollte nichts mehr, als sofort hierher zurückkommen – zu dir zurückkommen – aber ich … hab nicht den Mut gehabt, die anderen einfach stehen zu lassen. Ich wollte um jeden Preis vermeiden, dass sie Verdacht schöpfen und es irgendwie hässlich wird.“ Leise und ein wenig bitter lachte er auf. „Ironisch, nicht wahr?!“ Seine Suche nach irgendeiner Reaktion auf Kaibas Gesicht blieb erfolglos, doch er ließ sich davon nicht abhalten. „Und zu dem, was Joey gesagt hat … irgendwie ist es auch meine Schuld gewesen, dass es diese Richtung genommen hat – indirekt zumindest. Ich wollte mir nicht die ganze Woche dumme Sprüche anhören, darum hab ich niemandem von dem hier erzählt.“ Er klopfte leicht mit der Hand auf ihre gemeinsame Matratze. „Natürlich war das für Joey gestern ein gefundenes Fressen, zumal in seinem Zustand, und auch weil … er ohnehin schon sauer auf dich war. Die ganze Woche hat er irgendwelche wilden Theorien über diesen Dino-Block gesponnen und gestern kam er auf einmal auf die Idee, dass …“ Der Brünette drehte minimal sein Handgelenk, um auf die Uhr zu sehen, weshalb Duke eilig abkürzte: „Ist ja eigentlich auch egal. Der springende Punkt ist: … Er und die andern wissen nichts von unserer Zusammenarbeit.“ Zum ersten Mal glomm ein Fünkchen Interesse in den blauen Augen auf. „Ist mir nicht entgangen. Und der Grund dafür wäre?“ Duke schluckte. Der Kloß in seinem Hals wurde minütlich größer. „Dazu wollte ich gerade kommen.“ Sein Atem zitterte leicht, als er noch einmal tief Luft holte. Sich ewig zu winden, würde es nicht besser oder einfacher machen. Augen zu und durch, hallten Max Worte in seinem Kopf nach. Das Bett knarzte leise, als er sich erhob und etwas mehr in den Raum trat. Gedankenverloren strich seine linke Hand dabei über den kleinen Tisch und fand schließlich auf einer der Stuhllehnen Halt. „Ich … brauche die Entwürfe von dir. Noch bevor wir zurückfahren.“ Langsam, Schritt für Schritt, trat der Brünette auf ihn zu, baute sich vor ihm auf und spielte die knapp zehn Zentimeter, um die er ihn überragte, voll aus. „Und wozu das, wenn ich fragen darf?“ Seine Finger krampften sich fester um das Holz der Lehne. „Ich möchte … – muss – sie am Montag dem Industrial Illusions-Vorstand präsentieren.“ Eine perfekt geschwungene Augenbraue wanderte nach oben. „Weil … ?“ Kaibas durchdringender Blick und messerscharfer Tonfall ließen die gefühlte Temperatur im Raum um mindestens zwanzig Grad sinken. Duke sah zu Boden und massierte sich mit seiner freien Hand den Nacken – nicht, dass es viel zu seiner Beruhigung beigetragen hätte. Noch einmal atmete er tief ein und aus, dann begegnete er von Neuem den blauen Augen seines Gegenübers. „Weil … möglicherweise mein Spiel eingestellt wird, wenn ich dem Vorstand keinen guten Grund vorweisen kann, das nicht zu tun.“ Stille. Sein Herz schlug geradezu unerträglich laut und es erschien Duke wie ein Wunder, dass Kaiba es nicht ebenfalls hören konnte. Die Sekunden zogen sich erbarmungslos in die Länge. Kaibas Miene blieb vollkommen regungslos und die Ungewissheit drehte ihm beinahe den Magen um. Sie waren sich so nahe, dass Duke den sanften Lufthauch auf seinem Gesicht spürte, als dem Brünetten ein zynisches Schnauben entfuhr, seine Stimme nurmehr ein bedrohliches Flüstern. „Ich hätte es wissen müssen!“ Mit einem Kopfschütteln ließ er Duke stehen und wanderte ziellos durch den Raum. „Schon bei unserem ersten Gespräch habe ich geahnt, dass an der ganzen Sache etwas faul ist!“ „Glaub mir, Kaiba, ich…“ „Dir glauben?!“, fuhr ihm der Brünette mit erhobener Stimme ins Wort und schlug dabei einmal mit der flachen Hand gegen die Schranktür, sodass Duke unwillkürlich zusammenzuckte. „Hörst du dir eigentlich zu, Devlin?! Du verlangst allen Ernstes von mir, dass ich dir irgendwas glaube, nachdem du mir gerade frei heraus gesagt hast, dass du nicht nur deinen sogenannten Freunden, sondern vor allem mir absolut kritische Informationen vorenthalten hast?!“ Dukes Herz krampfte sich zusammen. „Hättest du mir denn geholfen, wenn du es gewusst hättest?“, fragte er kraftlos zurück und vergrub seine Hände in der Bauchtasche seines Hoodies. Kaiba sah ihn an, als hätte er gerade vorgeschlagen, Holographietechnik für ‚Mensch ärgere dich nicht‘ zu nutzen. „Selbstverständlich nicht! Warum sollte ich wertvolle Ressourcen in etwas investieren, das kurz vor dem Aus steht?! Mein anhaltender Erfolg erklärt sich unter anderem dadurch, dass ich solche dummen Fehler nie begangen habe!“ Duke nickte kaum merklich. Immerhin war seine zugegeben unehrenhafte Verschleierung der Tatsachen damit irgendwie gerechtfertigt und nicht umsonst gewesen. „Wenigstens bist du ehrlich.“ „Was man von dir nicht gerade behaupten kann!“ „Ja, verdammt, ich hab’s doch zugegeben!“, platzte es aus Duke heraus und die Leere in seinem Blick wich einem trotzigen Funkeln. „Ja, ich habe dir Informationen vorenthalten und denk’ bloß nicht, ich wäre darauf in irgendeiner Form stolz! Aber Dungeon Dice Monsters ist nun mal meine Erfindung – mein Traum! –, und ich bin bereit sehr viel dafür zu geben, um es am Leben zu erhalten! Wenn das jemand verstehen können sollte, dann doch wohl du! Erzähl mir nicht, dass du nicht bereit wärst, hier und da die Wahrheit ein bisschen zurecht zu biegen, wenn deine Erfindung auf dem Spiel stehen würde!“ Duke nahm die Hände aus der Tasche und trat auf den Brünetten zu, der sich am Schrank angelehnt hatte. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand bohrten sich fest in die Brust des Größeren, genau an die Stelle, wo sich sein Herz befand. „Du warst meine einzige Hoffnung, Kaiba! Also, sag mir, was für eine Wahl hätte ich gehabt?! Was hätte ich bitte deiner Meinung nach tun sollen?“ Dukes eigenes Herz hämmerte von innen gegen seinen Brustkorb und drohte ihn zu durchbrechen, als sich Kaibas warme Hand sanft auf die seine legte. Die blauen Augen blitzten gefährlich auf. „Was du hättest tun sollen?! Ich sage dir, was du hättest tun sollen!“ Voll unverhohlener Abscheu wischte er Dukes Finger von sich. „Dich nicht noch billig an mich ranmachen, um sicherzustellen, dass du dein Ziel auch wirklich erreichst!“ „Bitte was?!“ Duke entgleisten alle Gesichtszüge. „Tu doch nicht so unschuldig, Devlin!“, erwiderte Kaiba verächtlich, stieß sich vom Schrank ab und drängte ihn mit jedem Satz ein paar Zentimeter weiter nach hinten: „Aus der ersten Reihe hast du mitbekommen, dass ich nicht arbeiten kann. Das traf sich gut, denn du brauchtest mich ja, um dein Spiel zu retten. Spätestens im Museum kam dir dann die Idee mit diesem lächerlichen Notizbuch. Aber das allein hat dir nicht gereicht, du wolltest wirklich absolut sicher gehen! Also hast du noch ein bisschen mit mir rumgeflirtet und am Ende sogar deinen Spaß mit mir gehabt! Herzlichen Glückwunsch!“ „Nein! Nein, so war das nicht! Das mit uns hatte damit rein gar nichts zu tun!“, widersprach er atemlos und schüttelte vehement den Kopf. Schon drückte sich die Lehne des Stuhls in seinen unteren Rücken und zwang ihn zum Stillstand. „Das mit uns?!“ Die Augen des Brünetten verengten sich und er spuckte ihm die Worte regelrecht vor die Füße. „Das mit uns gibt es nicht, Devlin, das gab es nie!“ „Achja?!“ Energisch stieß Duke sich von dem Stuhl ab, sodass nun Kaiba reflexhaft zurückwich. „Das gestern und vorgestern, das war also nichts für dich?! Das hat auf mich aber einen ganz anderen Eindruck gemacht!“ Ein wissendes Lächeln zuckte über die Lippen des Brünetten. „Oh, da bin ich mir sicher! Dein Eindruck war, dass dein Plan ganz wunderbar aufgeht! Ich gebe zu, mit deiner kleinen Narben-Geschichte hast du mich tatsächlich eingewickelt, Devlin! Bravo!“ „Das hast du gerade nicht wirklich gesagt!“, presste Duke schwer atmend durch seine Zähne hervor, spannte seine Schultern und richtete sich zu voller Größe auf. „Du – ausgerechnet du, Herr Ich-sitze-apathisch-auf-einer-Bank-und-starre-auf-den-See – wagst es allen Ernstes eines der schmerzhaftesten Erlebnisse meines Lebens, von dem ich niemandem, noch nicht mal meinen Freunden, jemals erzählt habe, meine ‚kleine Narben-Geschichte’ zu nennen?!“ Fassungslos wandte er sich ab und war mit zwei großen Schritten am Fußende des Bettes angekommen. Einen Moment lang stützte er die Hände darauf ab, senkte den Kopf und nahm einen tiefen Atemzug. Als er den Brünetten erneut konfrontierte, gab er sich keinerlei Mühe mehr, das Beben in seiner Stimme, seine Wut und seine Enttäuschung zurückzuhalten: „Du hast mich verstanden, Kaiba! Wirklich verstanden! Da war nicht nur eine körperliche Verbindung zwischen uns, da war mehr! Und das hab ich mir ganz sicher nicht nur eingebildet! Ich dachte wirklich …“ Eine plötzliche Erkenntnis ließ ihn stocken und voller Bitterkeit auflachen. „Nicht zu fassen, Joey hatte recht!“ „Wie bitte?!“ Duke nickte langsam und sah den Älteren durchdringend an. „Du hast Angst.“ „Hab ich nicht!“ Jeder Muskel in Kaibas Körper war sichtbar angespannt, sein Kiefer verkrampft. Natürlich, es ergab alles Sinn! Als wäre ein Knoten geplatzt, strömten die Worte aus Duke heraus: „Oh doch, wenn du mich fragst, hast du eine Scheiß-Angst! Ja, was mein Spiel und diese blöden Entwürfe angeht, habe ich gelogen und dazu stehe ich! Aber was ich dir vorgestern über mich erzählt habe, alles, was ich seitdem getan und gesagt habe, war echt – zu einhundert Prozent! Und wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist, dann weißt du das auch! Aber nein, du baust dir schön alles in deinem Kopf zurecht, wie es in deine Story passt, weil dein Leben so viel einfacher und unkomplizierter ist, wenn dir niemand zu nahe kommt! Weil du dich dann nicht ernsthaft mit dem auseinandersetzen musst, was in dir vorgeht, sondern einfach weiter funktionieren kannst! Glaub mir, ich weiß sehr gut, wovon ich rede! Aber d-…“ „Schluss jetzt!“, fuhr der Brünette mit unerwarteter Heftigkeit dazwischen, als wäre er aus einer Versteinerung erwacht, „Dieses Gespräch endet hier!“ Er schnappte nach seiner Tasche, zerrte das Ringbuch daraus hervor, und warf sie, ungeachtet ihres sonstigen Inhalts, geräuschvoll zurück auf den Boden. Schmerzhaft fest wurde Duke der Block vor die Brust gedrückt. „Da hast du deine verdammten Entwürfe, Devlin! Bitte kläre alles Weitere mit meiner Entwicklungsabteilung – das heißt, wenn es dein jämmerliches Spiel dann noch gibt! Ich möchte damit nichts mehr zu tun haben.“ Ein kühler Luftzug, als Kaiba an ihm vorbeirauschte. Ein lauter Knall, als die Tür hinter dem Brünetten ins Schloss fiel. Wie an einen Rettungsring klammerte sich Duke an den Block und schloss die Augen. Mit forschen Schritten stürmte Seto durch den Gang. Er hatte es von Anfang an gewusst! Warum hatte er nicht auf seine Intuition gehört? Natürlich hatte Devlin bei alldem Hintergedanken gehabt! Devlin war schlau und durchtrieben, der persönliche Protegé von Pegasus! Das allein sagte doch eigentlich schon alles! Und er war einfach blindlings in die Falle gelaufen, weil er sich von seinem Körper und seinen Hormonen hatte überwältigen lassen! Eigentlich sollte Devlin sich bei nächster Gelegenheit in Demut vor ihm in den Staub werfen, dafür, dass er ihm trotz all der Dreistigkeiten, die er sich in den vergangenen Minuten hatte anhören dürfen, noch die Entwürfe überlassen hatte! Eine Zimmertür auf der rechten Seite ging auf und Seto stoppte gerade noch rechtzeitig, um nicht mit der Person zusammenzustoßen, die daraus hervortrat. „Whoa, immer langsam! Warum so eilig, Geldsack?“ Seto brauchte eine Sekunde, um zu registrieren, wer vor ihm stand und angemessen zu reagieren. „Das geht dich einen feuchten Dreck an, Wheeler! Und jetzt lass mich gefälligst vorbei!“ „Sieh an, da kann es wohl jemand gar nicht erwarten, zum Lagerfeuer zu kommen?!“ „Ich warne dich, Köter, ich bin gerade nicht in der Stimmung für Spielchen! Und jetzt geh mir aus dem Weg!“ „Okay, okay!“ Mit einer beschwichtigenden Geste machte Joey ihm Platz und ließ ihn ziehen. Zielstrebig und ohne den Blonden noch eines Blickes zu würdigen, marschierte er umgehend weiter zur Treppe. „Denk’ dran, wir beide haben noch eine Rechnung offen, Kaiba!“, rief Joey ihm herausfordernd von der Tür zur Herrentoilette aus hinterher, bevor er endgültig aus Setos Blickfeld verschwand. Wie üblich nahm sich Wheeler viel zu wichtig! Diese hirnlose Made glaubte offensichtlich, im Zentrum seines Hasses zu stehen und begann langsam aber sicher, sich etwas darauf einzubilden. Dabei war von allen seinen offenen Rechnungen diese gerade mit Abstand die unwichtigste. Devlin auf der anderen Seite … Der würde den Tag noch bereuen, an dem er beschlossen hatte, Seto Kaiba zu hintergehen und auszunutzen. Bitter. In keiner der unzähligen Varianten, in denen Duke sich dieses Gespräch über den Tag ausgemalt hatte, war es so vernichtend gewesen. So quälend der unklare, fragile Schwebezustand auch gewesen war, in dem er und Kaiba sich während der letzten zwei Tage befunden hatten: Angesichts dessen, was sich hier gerade ereignet hatte, hätte er ihn mit Freuden noch ein wenig länger ausgehalten. Schrödingers Katze war ja auch am Leben, solange man die Kiste zuließ und einfach nicht nachsah – oder in ihrem Fall: miteinander sprach. Wobei ihm vermutlich jeder halbwegs vernünftige Mensch hätte sagen können, dass diese Katze am Ende nur noch tot aus der Kiste kommen konnte. Vielleicht hatte er sein naives, zehnjähriges Ich gar nicht so weit hinter sich gelassen, wie er gedacht hatte. Gedankenverloren löste Duke seinen Klammergriff um das Ringbuch und nahm es in beide Hände. Mittlerweile entlockten ihm die neon-orangenen Dinos nicht einmal mehr ein müdes Zucken seiner Mundwinkel. Er schlug das Cover auf und ließ die karierten Seiten einmal im Schnelldurchlauf durch seine Finger rauschen. Etwa bis zur Hälfte folgte ein Blatt mit akkuraten Bleistiftstrichen auf das nächste, dann nur noch leeres Papier. Die Mission war erfüllt, DDM war gerettet. Aber zu welchem Preis? Hätte ihm nicht von vornherein klar sein müssen, dass er unmöglich beides bewahren konnte – sein Spiel und die Sache mit Kaiba?! Mit einer schmerzhaften Leere im Herzen klappte er den Block wieder zu und hielt ihn locker an dem beringten Rücken fest, um ihn in seinen Rucksack zu packen. Beinahe wäre er auf das zusammengefaltete Stück Papier getreten, das in dieser Sekunde daraus hervor- und auf den Boden fiel. Hm, sicher nur eine verworfene Entwurfszeichnung, die irgendwo lose zwischen den Seiten oder dem Einband gesteckt hatte … Leise seufzend beugte er sich nach unten, hob das Blatt auf und entfaltete es mit fahrigen Bewegungen. Seine Augen weiteten sich und er zog scharf die Luft ein. Das … das war doch völlig … Sich selbst zu sehen, war das letzte, womit er gerechnet hätte. Und doch war das ganz eindeutig er da auf dem Papier, eingefangen in stärkeren und schwächeren Graphit-Strichen, inmitten einiger weniger, nur leicht angedeuteter und trotzdem lose vertrauter Gewächse. Der Garten des Herrenhauses … Sein Gesicht war im Halbprofil dargestellt, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, der Blick nicht zum Betrachter, sondern zu einem unsichtbaren Gegenüber gerichtet. Der rechte Arm war locker um sein aufgestelltes Bein geschlungen, mit der anderen Hand strich er ein paar Haarsträhnen zurück. Man konnte den Wind förmlich auf der Seite fühlen, wie er ein paar Blätter durch die Luft fliegen ließ und in seine Haare fuhr, die nahtlos in so etwas wie zarte, kaum sichtbare Wolkenbänder im Hintergrund überzugehen schienen. Es war perfekt. Seine Kehle schnürte sich zu, das Bild begann vor seinen Augen zu verschwimmen und er musste mehrmals blinzeln. Schwer atmend ließ er die Zeichnung sinken und faltete sie bedächtig wieder zusammen. Das mit uns gibt es nicht, Devlin, das gab es nie! Hitze stieg in ihm auf, sein Gesicht begann zu glühen und von einer Sekunde auf die nächste wurde er von einer wilden Entschlossenheit gepackt. Das mit uns gibt es nicht – am Arsch! War das hier nicht der beste Beweis? Das mit uns war auch für Kaiba sehr real gewesen und das konnte er nicht einfach so leugnen! Diese Erfahrung würde Kaiba ihm – ihnen beiden – nicht absprechen! So leicht gab er nicht auf, es war noch nicht vorbei! Er steckte die Zeichnung in seine hintere Hosentasche, warf den Block auf das Bett und stürmte aus dem Zimmer. Im Laufschritt durchquerte Duke den menschenleeren Gang und blieb an der Treppe stehen. Wenn er Kaiba wäre, wo wäre er hingegangen? Vermutlich würde er allein sein wollen, niemanden sehen. Die andere Gruppe war abgereist, alle Mitschüler waren vermutlich schon draußen … vielleicht der Gemeinschaftsraum? Mehrere Stufen auf einmal nehmend hetzte er die Treppe eine Etage weiter nach unten, bis er vor der geschlossenen Tür des besagten Raums stand. Noch ein tiefer Atemzug, dann stieß er sie auf und sah sich um. Die Tische und Stühle waren leer, ebenso die Sessel vor den Bücherregalen, der Billard-Tisch vollkommen unangetastet. Niemand hier. Dann vielleicht im Speisesaal? Dort wäre Kaiba um diese Zeit auf jeden Fall auch allein. Hektisch verließ er den Raum und lief noch ein Stockwerk weiter nach unten. Klirren von Geschirr, Besteck und Töpfen, sowie leises Platschen war aus der Küche zu hören, dazu eine gesummte Melodie, die nicht eben vom musikalischen Talent der Küchenfrau zeugte. Im Speisesaal selbst war jedoch niemand zu sehen. Verdammt, wie weit konnte Kaiba in den paar Minuten denn gekommen sein? War er etwa doch rausgegangen? Also schön. Leise und unauffällig – nicht, dass die alte Dame in der Küche ihn womöglich noch bemerkte – zog er sich aus dem Speisesaal zurück und erklomm einmal mehr die Treppen. Wieder im Zimmer angekommen wandte er sich eilig nach rechts, griff nach seiner Jacke auf dem Bett und zog sie an. Schon hatte er die Hand wieder am Türgriff, da drehte er sich noch einmal um. Moment mal … irgendetwas war anders! Hatte er nicht vorhin den Block auf das Bett geworfen, bevor er den Raum verlassen hatte? Er sah noch einmal ganz bewusst hin. Weiße Decken, weiße Kissen. Keine neon-orange leuchtenden Dinos. Was zur … ? Panik stieg in ihm auf, sein Herzschlag beschleunigte sich. Noch einmal stürzte er zum Bett und stolperte dabei beinahe über seinen Rucksack. Hastig riss er seine Decke zurück, hob das Kissen an, ließ seine Hände fieberhaft suchend über das Bettlaken gleiten, obwohl der Block ganz eindeutig nicht dort war. Leicht außer Atem beugte er sich wieder nach oben und stemmte die Hände in die Hüften. Seine Augen wanderten zur in perfekter Ordnung arrangierten anderen Bettseite. Ohne darüber nachzudenken, sprang er auf das Bett und wühlte sich wie ein Wahnsinniger auch durch Kaibas Bettzeug. Als er auch dort nicht fündig wurde, ließ er mit einem frustrierten Schnauben die Decke und das Kissen achtlos wieder fallen. Ordnung war jetzt zweitrangig, was zählte, war nur der Block! Er hatte die Tür vorhin nicht abgeschlossen. War Kaiba zwischenzeitlich noch einmal zurückgekommen und hatte den Block wieder an sich genommen?! Vielleicht weil er sich an die verräterische Zeichnung erinnert hatte? Wenn ja, wo hatte er ihn versteckt? Er würde das Teil doch unmöglich die ganze Zeit mit sich herumtragen … Abwägend ließ Duke seinen Blick durch den Raum schweifen. Kaibas Tasche jedenfalls war noch hier. Sollte er … ? Ach, viel schlimmer konnte es zwischen ihnen auch nicht mehr werden! Er sank auf die Knie, schlug die Klappe der Tasche zurück und prüfte jedes Fach, das auch nur annähernd eine entsprechende Größe hatte. Erfolglos. Der Koffer?! Seine Hosenbeine scheuerten über den Teppich, als er ein Stück weiter nach rechts kroch und mit zitternden Händen den Reißverschluss erst der linken, dann der rechten der beiden Kofferhälften öffnete. Kopflos, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, berührte, drehte und wendete er jedes Kleidungsstück des Brünetten – ohne Ergebnis. Die zwei schmalen Schränke in der Ecke waren noch genauso leer wie am Tag ihrer Ankunft und unter dem Bett lag so einiges (das er am liebsten schnell wieder vergessen hätte), nicht aber sein Block. Um spontane geistige Umnachtung auszuschließen und wenigstens gleiche Verhältnisse zu schaffen, durchsuchte er auch seinen Rucksack und sein eigenes Gepäck noch einmal auf das Gründlichste, aber auch dort: Keine leuchtenden Dinos. Fuck! Der kraftvolle Tritt gegen seine Reisetasche reichte nicht aus, um seinen Frust signifikant zu verringern. Arbeitete denn auf dieser verfluchten Fahrt wirklich alles gegen ihn?! Was sollte er denn jetzt nur machen? Tief seufzend erhob er sich, trat zum Fenster und sah hinaus. In der beginnenden Dunkelheit standen seine Mitschüler unbeschwert um das bereits stattlich in die Höhe lodernde Feuer. Sie lachten und scherzten, tranken heißen Tee, lebten ihre vollkommen normalen Leben – in den meisten Fällen ohne bisher jemals ernsthafte Verantwortung für etwas getragen zu haben. Da vorne waren seine Freunde: Tea hielt ihre Hände nahe an die Flammen, um sich zu wärmen, Yugi und Ryou standen bei ihr und unterhielten sich (Teas desinteressierter Haltung nach zu urteilen vermutlich immer noch über die Grabhügel oder Archäologie im Allgemeinen), Tristan schleppte mit ein paar anderen unter Kobayashi-senseis Kommando zusätzliche Holzscheite herbei. Und da, auf der anderen Seite der Feuerstelle, stand tatsächlich Kaiba. Mit verschränkten Armen (und definitiv ohne Dino-Block) sah er in das Feuer, so als könnte er es allein mit seinem Blick einfrieren oder löschen. Logisch eigentlich: Er musste mit unten sein, zumindest ein bisschen, ansonsten hätte er sich vermutlich wieder Ärger mit Kobayashi-sensei eingehandelt. Eine Bewegung schräg unterhalb seines Blickfeldes, im Eingangsbereich der Herberge erregte seine Aufmerksamkeit. Das war Joey, der da aus der Tür kam, schnell, beinahe im Laufschritt. Im Schein des Feuers und damit fast bei den anderen angekommen, wandte sich der Blonde kurz um, so als befürchtete er verfolgt zu werden. Das Ganze dauerte kaum eine Sekunde, doch lang genug für Duke, um trotz des spärlichen Lichts der Flammen zu erkennen, was Joey da halb unter seiner Jacke versteckt hielt. Oh nein! Zum zweiten Mal binnen weniger Minuten hetzte Duke aus dem Zimmer. Drei Mal glitt ihm der Schlüssel beim Versuch, die Tür dieses Mal abzuschließen, aus seinen schwitzigen und nervösen Händen, bis er es endlich geschafft hatte. Dann rannte er, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Zu sagen, dass die Hitze des Feuers und der beißende Geruch des Rauchs Seto störten, wäre stark untertrieben gewesen. Er warf einen Blick auf die schwach grün leuchtenden Zeiger seiner Uhr. Noch etwa eine halbe Stunde, dann konnte er sich bei Kobayashi-sensei entschuldigen und wieder hochgehen – je nachdem, wann Devlin endlich das Zimmer freigab und sich hierher bequemte. Sein Mantel würde auf jeden Fall in die Reinigung müssen, obwohl er sich wohlweislich auf der Seite postiert hatte, aus der der Wind kam, sodass er zumindest nicht direkt im Rauch stand. Wie seine Klassenkameraden es zuwege brachten, Spaß zu haben, war ihm ein vollkommenes Rätsel. Wenigstens hielten sie sich mit ihren sinnlosen Unterhaltungen und Marshmallow-bewehrten Stöcken weiträumig von ihm fern. Eigentlich wollte er nichts lieber als allein sein, weit weg von diesen nervtötenden Individuen und natürlich Frau Kobayashi, aber im Hinblick auf die letztere war es ihm nicht ratsam erschienen, dem Lagerfeuer komplett fernzubleiben. Morgen hatte er es hinter sich. Morgen würde er wieder zu Hause sein, bei Mokuba und seiner Arbeit, und würde das, was hier geschehen war, großflächig vergessen – vollständig sogar, sobald Devlin bezahlt hatte. Eine viel zu nahe Bewegung ließ ihn aufsehen. „Schau mal, was ich hier habe, Kaiba!“ Es war Wheeler, der ein nur zu vertrautes Triceratops-bewehrtes Ringbuch zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und aufreizend hin- und herschwang. „Schön für dich.“, erwiderte er so nüchtern und emotionslos, wie möglich, konnte aber nicht verhindern, dass sich seine Augenbrauen kaum merklich zusammenzogen. Woher hatte Wheeler den Block? Nie und nimmer hatte Devlin das Teil freiwillig aus der Hand gegeben – nicht, wenn tatsächlich, wie behauptet, die Weiterexistenz seines Spiels davon abhing. „Weißt du, Geldsack, Duke hat diesen Block für meine Schwester gekauft und ich hätte gerne, dass sie ihn auch bekommt!“ Das musste die ominöse Theorie sein, die Devlin angedeutet hatte. Demonstrativ blätterte Joey den Block auf, bis er zu den ersten leeren Seiten kam und hielt die gefüllten fest. „Du hast also doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich dein Gekritzel entferne?!“ Tze, wenn der Idiot wüsste, was … Moment! Wheeler hatte keine Ahnung, worum es sich wirklich handelte … Wie überaus amüsant! Die Hände in den Manteltaschen vergraben, zuckte Seto scheinbar gleichgültig mit den Schultern. „Tu dir keinen Zwang an!“ Der Blonde hatte sichtlich Mühe, alle Seiten mit einem Mal aus der Ringbindung zu reißen, versuchte aber dennoch geradezu verzweifelt Überlegenheit und Souveränität auszustrahlen. „Brauchst du die noch?“, fragte er schließlich in scharfem Tonfall und präsentierte ihm ein wenig außer Atem den dünnen Stapel herausgerissener Blätter. Der Köter schien tatsächlich zu glauben ihn in der Hand zu haben! Das wurde ja immer besser! „Joey, was soll das werden?! Hör auf!“ Tea hatte die Feuerstelle umrundet und legte dem Blonden eine Hand auf den Arm. „Wir hatten doch gesagt, das Thema ist … “ „Halt dich da raus, Tea! Du hast keine Ahnung, worum es geht!“ Die braunen Augen verengten sich, Joey schüttelte ihre Hand brüsk ab und trat noch einen Schritt näher auf ihn und das Feuer zu. Der Brustkorb des Blonden hob und senkte sich unter seinen schweren Atemzügen. Langsam streckte er den Arm zur Seite aus. „Sag, dass dir deine Scheiß-Bemerkung von gestern leid tut, Geldsack, oder deine kleinen Kritzeleien werden ein bisschen heiß!“ Die Zeichnungen schwebten kaum einen halben Meter über den Flammen. In Setos Magen kribbelte es – wie in einem Duell, wenn er kurz davor stand, seine drei Weißen Drachen zu fusionieren oder er im Schach den entscheidenden Zug machte, der das baldige Matt seines Gegners einläutete. „Ich entschuldige mich nicht, Wheeler! Besonders nicht bei dir und vor allem nicht für die Wahrheit.“ In der Entfernung löste sich eine schwarze Silhouette aus der Dunkelheit. Die Finger des Blonden begannen sich zu öffnen. „Du dreckiger …! Ich hab dich gewarnt!“ „Joey, NICHT!“ Devlin kam in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf sie zugerannt, stürmte an seinen Mitschülern vorbei, rempelte dabei einige von ihnen an und stieß Tea rücksichtslos beiseite. Völlig außer Atem riss er Joeys ausgestreckten Arm nach unten und hielt ihn mit beiden Händen fest umklammert, sodass der Blonde ihn nicht mehr bewegen konnte. Das Feuer loderte hell auf, leuchtende Funken stoben in die Luft. Joeys Hand war leer. Das billige Papier war binnen Sekunden verbrannt. Vollgepumpt mit Adrenalin wie er war, musste Wheeler seinen Freund nur am Rande bemerkt haben. Der Blonde brauchte nicht viel Kraft, um sich aus Devlins Griff zu befreien und verschränkte die Arme vor seiner stolz geschwellten Brust – den unbenutzten Rest des Dino-Blocks noch immer in der Hand. „Hoppla, da bin ich wohl gestolpert! Das tut mir aber leid! Sah wichtig aus, was da drauf war!“ Und Seto konnte nicht mehr. Es begann mit einem leisen, stoßweisen Schnauben, dann erschütterten kleine Beben seinen Oberkörper und seine Mundwinkel strebten machtvoll und unaufhaltsam nach oben. Langsam verschwand der Triumph aus Joeys Blick und machte endgültig kompletter Irritation Platz, als Seto die Augen zusammenkniff und das Lachen vollständig aus ihm herausbrach. Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf ihn – kein Wunder, wann hatte man Seto Kaiba jemals zuvor herzhaft lachen gesehen? –, bis von seinem ungewohnten Anfall nurmehr ein süffisantes Lächeln übrig blieb und er voller Geringschätzung den Kopf schüttelte. „Tja, dumme, tollpatschige Köter sollten eben nicht mit dem Feuer spielen! Sie verbrennen sich dabei nur die Pfoten.“ Die Augen des Blonden verengten sich. „Was soll das heißen, Großkotz?! Was war daran bitte so lustig?!“ „Ich bin mir sicher, euer Freund Devlin hier wird euch das nur zu gerne erläutern.“ Er nickte in Richtung seines Zimmergenossen, der zusammengesunken, mit kreidebleichem Gesicht und weit aufgerissenen, feucht glänzenden Augen in das Feuer starrte. Erst, als sein Name fiel, richtete Duke sich etwas auf und schien zu registrieren, dass die Aufmerksamkeit der Umstehenden nun ihm galt – allen voran die seiner noch immer ahnungslosen Freunde, die sich mittlerweile vollständig um sie geschart hatten. „So gerne ich dem noch beiwohnen würde, aber ich glaube, ich habe doch Besseres zu tun. Ihr entschuldigt mich.“ Seto trat auf den Schwarzhaarigen zu und hielt ihm wortlos die geöffnete Hand hin. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, wie Devlin in seine Jackentasche griff, noch einmal schluckte und schließlich den Blick hob, um ihn anzusehen. Obwohl sich die Flammen des Feuers in den grünen Augen spiegelten, war jeder Rest von Wärme aus ihnen gewichen. Mit Nachdruck presste der Schwarzhaarige ihm den Schlüssel in die Hand, vielleicht in der naiven Hoffnung, ihm damit in irgendeiner Form Schmerzen zufügen zu können. Devlin musste ihn hassen – wirklich hassen –, daran konnte kein Zweifel bestehen. Mit einem hämischen Grinsen schloss Seto seine Finger fest um das angewärmte Stück Metall und ging, ohne irgendjemanden eines weiteren Blickes zu würdigen, zurück zur Herberge. Im vollen Bewusstsein, dass Duke ihm nachsah, ließ er den Schlüssel demonstrativ um seinen Zeigefinger kreisen. Jetzt war es vorbei. Kapitel 27: No need to argue. (Anymore.) ---------------------------------------- „Was war das denn?!“ Joeys verwunderte Frage weckte Duke aus seiner Erstarrung. Seine Augen verengten sich, er trat auf den Blonden zu und funkelte ihn an. „Du!“ Sein Atem zitterte, seine Stimme bebte und mit jedem Wort schubste er Joey ein Stück weiter nach hinten. „Du bist der größte, gigantischste, unfassbarste Vollidiot, den es …“ „Whoa, stopp mal!“, unterbrach Joey energisch seine Tirade. Genau im richtigen Moment, als Duke zum nächsten Schubs ansetzte, umfasste der Blonde seine Handgelenke und hielt sie in festem Griff gefangen. „Willst du uns vielleicht endlich mal erklären, was hier eigentlich los ist, Mann?!“ In einem reflexhaften Versuch sich zu befreien, ballte Duke die Hände zu Fäusten, doch er musste schnell einsehen, dass Joey ihm in körperlicher Hinsicht zweifellos überlegen war und – vermutlich aus Erfahrung – genau wusste, wie er seine geradezu lächerlichen Versuche, ihm noch irgendwie weh zu tun, unterbinden konnte. Er ließ die Schultern sinken und löste die Anspannung seiner Muskeln, um Joey zu bedeuten, dass sein Widerstand gebrochen war. Zögernd und noch immer ein wenig skeptisch dreinschauend entließ der Blonde ihn aus der Fesselung. Mit einem abgrundtiefen Seufzen sank Duke auf eine der Steinbänke um die Feuerstelle nieder. Tea und Yugi kamen sofort neben ihn, die anderen hockten sich vor ihm ins Gras. Ihnen in die Augen zu sehen, brachte Duke nicht über sich, sondern starrte einfach weiter auf seine Füße. Noch lag kein Vorwurf in ihren fragenden Blicken, aber das würde sich mit Sicherheit gleich ändern. Ursprünglich hatte er ihnen erst später alles erzählen wollen, in ein paar Tagen vielleicht, wenn sein Spiel definitiv nicht mehr auf der Kippe stand, aber das konnte er jetzt wohl vergessen. Er sah Joey vor sich – oder wenigstens dessen Oberschenkel und Knie – und die Frage verließ wie von allein seinen Mund, kraftlos und leise: „Wie bist du an den Block gekommen, Joey?“ Es war das einzige Puzzleteil in der ganzen beschissenen Geschichte, das ihm noch fehlte. „Öhm…naja, …“, stammelte der Blonde los und kratzte sich mit einer Hand am Kopf, „Ich wollte vorhin nur nochmal für kleine Joeys und dann runtergehen. Auf dem Gang bin ich fast in Kaiba gerannt – oder eher er in mich. Wir haben uns ganz kurz … ‚unterhalten’, dann ist er runter und ich aufs Klo. Ich dachte: ‚Eigentlich ganz gut, dass er nicht da ist!‘, weil ich eh nochmal mit dir reden wollte – mich entschuldigen wegen heute Mittag und …“, er hielt kurz inne und sah zur Seite, „… wegen letzter Nacht. Aber als ich bei euch geklopft hab und reingekommen bin, warst du auch nicht da. Der Block … lag da eben einfach so und ich hatte ja noch eine kleine Rechnung mit Kaiba offen, also …“ Duke schnaubte leise und nickte. „Verstehe.“ Dass Joey sich eigentlich hatte entschuldigen wollen, machte die Sache auf eine traurige Weise noch komischer. Ironie des Schicksals und so. „Also: Warum war Kaiba denn jetzt nicht sauer, dass seine Arbeit im Feuer gelandet ist?“, fragte Tea mit leichter Ungeduld in der Stimme, „Auch wenn deine Aktion natürlich trotzdem voll daneben war, Joey!“ „Ja ja.“, winkte der Gescholtene ab. Duke hatte die Hände neben sich aufgestützt, lehnte sich etwas nach vorne und schloss seine Finger fest um die Kante der Bank. Dann mal los. „Weil der Inhalt des Blocks für ihn weit weniger wichtig ist – war – als für mich.“ „Hä?“ Tristans Stirn legte sich in Falten. „Kaiba hat nicht einfach nur gearbeitet, er hat für mich gearbeitet … gewissermaßen.“ Noch immer sah Duke in ratlose Gesichter. Offensichtlich musste er weiter ausholen. „Wisst ihr noch, als ich kurz vor der Abfahrt diesen Anruf bekommen habe?“ Allgemeines Nicken, doch in Tristans Augen trat ein leicht kritischer Ausdruck. „Der, von dem du behauptet hast, er wäre nicht so wichtig gewesen.“ „Und nichts Schlimmes.“, fügte Ryou hinzu. Duke massierte sich die Stirn. „Ja, das war … so nicht ganz richtig. Ich wollte euch nicht beunruhigen, ihr solltet doch die Klassenfahrt genießen können.“ „Und um was ging es denn da nun?“, bohrte Tea unnachgiebig weiter. „Es war Max … Pegasus. Er hat mir mitgeteilt, dass Dungeon Dice Monsters sich in letzter Zeit sehr schlecht verkauft hat und dass, wenn ich nächste Woche nicht mit einem guten Plan vor dem Vorstand stehe, die Auflage stark verkleinert oder das Spiel vielleicht sogar ganz eingestellt wird.“ „Oh, Duke!“ Tea schlug eine Hand vor den Mund und strich ihm gleich darauf mit der anderen über den Rücken, wie sie es schon heute Mittag getan hatte, Yugi legte die Hand auf sein Knie. „Wie furchtbar! Dabei ist es doch so gut!“ Ryou nickte nur zustimmend, während Tristan sich etwas aufrichtete und seine Schulter drückte. „Sorry, Mann!“ Joey blieb als Einziger still und schien nur darauf zu warten, dass er fortfuhr. „Jedenfalls bin ich am Montag auf dem Weg zum Museum durch das Gespräch über Duel Disks – dank Joey, um genau zu sein – auf die Idee gekommen, dass es so etwas für mein Spiel noch nicht gibt. Es war die perfekte Lösung für mein Problem.“ „Und dafür musstest du Kaiba einspannen.“, vervollständigte Ryou seinen Gedankengang. „Mhm. Ich wusste ja, dass er keinen Laptop und nichts dabei hat, darum habe ich im Museum den Block gekauft und ihm gegeben, nachdem er zugestimmt hat. Seitdem hat er für mich diese Duel Disk entworfen.“ „Also war der Block niemals für Serenity, sondern von Anfang an für ihn.“, schlussfolgerte Joey und Duke nickte. Teas Augenbrauen zogen sich zusammen. „Aber warum dann die …“ „… Dinos?!“, beendete Duke ihre Frage. „Ich sag dir warum: Ich fand es witzig!“ Er spuckte das letzte Wort voller Bitterkeit aus. Seine Augen brannten. „Glaubt mir, wenn ich euch sage, dass der kurze Gag beim Auspacken es definitiv nicht wert war.“ „Aber Moment mal!“ Tristans Blick wurde misstrauisch. „Heißt das, Kaiba hast du von deiner Misere erzählt und uns nicht?!“ Duke schüttelte den Kopf. „Ich hab befürchtet, dass er dann direkt ablehnt, weil es nicht profitabel sein könnte. Er hat es auch eben erst erfahren und … war darum nicht besonders gut auf mich zu sprechen.“ Nicht nur deshalb, aber das war nun wirklich allein ihre Sache und ging die anderen absolut nichts an. Sein Herz krampfte sich zusammen. Yugi lächelte ermutigend und drückte sein Knie etwas fester. „Naja, wir lassen ihn sich erstmal beruhigen und dann fragen wir, ob er die Zeichnungen nochmal …“ „Hast du mir nicht zugehört, Yugi?!“, fuhr Duke ihm aufgebracht ins Wort, stoppte sich aber sogleich wieder, als er sah, wie die anderen erschrocken zusammenzuckten. „Sorry.“ Seufzend schüttelte er den Kopf. „Keine Chance. Angesichts der wirklichen Umstände wird er es nicht machen, das hat er mir schon gesagt.“ Joey stand auf und begann unruhig auf- und abzulaufen, die Hand mit dem Block in die Hüfte gestemmt; mit der anderen fuhr er sich über den Mund und das Kinn. „Was für ne abgefuckte Scheiße, Alter!“, fluchte er und Duke kniff die Augen zusammen. Joeys Wut auf ihn war nur zu verständlich. Umso überraschter war er, als er das leichte Zittern in dessen Stimme wahrnahm. „Hätte ich das gewusst, ich hätte doch niemals …!“ Joey beendete den Satz nicht, sondern schluckte nur und trat wieder zu ihm. „Gibt’s irgendwas, was ich tun kann?“ „Was wir tun können?“, ergänzte Tristan. Schwerfällig erhob sich Duke und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich glaube, ich muss einfach erstmal ein bisschen allein sein. Darf … ich in euer Zimmer?“ „Klar doch!“ Joey kramte sofort in seiner Hosentasche und gab ihm den Schlüssel. „Danke. … Ach, Joey, eine Sache gibt es.“ „Alles, Mann!“ „Halt dich um Gottes Willen von Kaiba fern!“ Joeys Augen verengten sich kurz, dann jedoch nickte er widerwillig. Dabei fiel sein Blick auf den Block. Sichtlich zerknirscht überreichte er ihn Duke und sah ihm dabei tief in die Augen. „Es tut mir so leid, Mann!“ „Ich weiß.“, erwiderte Duke mit einem traurigen Lächeln, klopfte ihm leicht auf den Oberarm und ging davon. Kaum war die Zimmertür hinter Seto zugefallen, lehnte er sich noch einmal daran an, schloss die Augen und atmete gelöst aus. Er war wieder er selbst. Zum ersten Mal seit Tagen. Wheelers Irritation angesichts seiner Ungerührtheit, Devlins glasiger Blick ins Feuer, die langsame Realisation, dass er zu spät gekommen war … Ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Lippen. Mit dem Verlust der Entwürfe war Devlins hohes Poker innerhalb von wenigen Sekunden zu einem Nullsummenspiel geworden. Niemand von ihnen hatte irgendetwas gewonnen, niemandes Lage hatte sich verbessert, von seiner eigenen Genugtuung vielleicht einmal abgesehen. Beide, Devlin und Wheeler, hatten nur bekommen, was sie verdienten: Devlin hatte die Entwürfe verloren, die er sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und blanker Ausnutzung erschlichen hatte, und Wheeler würde als Strafe für jede einzelne seiner kleineren und größeren Dreistigkeiten der letzten Tage – ach, der letzten Jahre! – heute Nacht mit dem Wissen einschlafen, dass er durch seine Dummheit und seine vorlaute Klappe den Lebenstraum seines Freundes zerstört hatte. Es war mit Abstand das Beste, was aus dieser ganzen verfahrenen Situation noch herauszuholen gewesen war. Die Ungereimtheiten im Raum fielen ihm sofort auf, als er die Augen wieder öffnete und sich umsah. Seine Seite des Bettes war in Unordnung gebracht worden, ebenso wie die von Devlin, dessen Rucksack und Reisetasche weit offen standen. Alarmiert trat Seto weiter in den Raum, nur um auch die beiden Hälften seines Koffers sowie seine Tasche offen und unzweifelhaft durchwühlt vorzufinden. Was zur …? Schau mal, was ich hier habe, Kaiba! Natürlich, irgendwie musste Wheeler ja an den Block gekommen sein! Der Köter hatte ihm schaden wollen und sich im Recht geglaubt. Nicht einmal vor Devlins Sachen hatten seine dreckigen Pfoten Halt gemacht. Aber halt. Würde Wheeler wirklich heimlich die Sachen seiner eigenen Freunde durchsuchen, nur um ihm etwas heimzuzahlen? Das verstieß doch sicher gegen mindestens dreißig der ungeschriebenen Regeln und Werte in Mutos kleinem Freundschaftsmanifest … Am Ende war noch Devlin selbst für dieses Chaos verantwortlich. Kopfschüttelnd ging Seto in die Hocke und prüfte die Inhalte seines Koffers und seiner Tasche. Allesamt noch vollzählig vorhanden. Nun, dann war es im Grunde müßig, sich weiter den Kopf über den Täter zu zerbrechen. Mit einigen schnellen Handgriffen brachte er seine Sachen wieder in Ordnung, nahm sich seine Schlafkleidung, schlug sein Bett auf und ging ins Badezimmer. Mit schnellen Schritten ließ Duke den Lichtkreis des Lagerfeuers hinter sich und lief durch die Dunkelheit in Richtung der Herberge. Kurz vor der Tür des Gebäudes drang ein entferntes Kichern an sein Ohr und ließ ihn innehalten. „Es kann gar nicht sein, dass du mich dort schon mal gesehen hast! Bei diesem Lehrer-Kongress war ich nicht, das muss jemand anders gewesen sein.“ Es war Frau Kobayashi, die entlang des Gebäudes mit dem Handy am Ohr auf und ab lief und anscheinend angeregt telefonierte. „Ach, du bist ein Charmeur!“ Unwillkürlich verzog er das Gesicht. Himmel, Herr Takeda war doch kaum zwölf Stunden weg! Die beiden schienen es ja kaum mehr ohne einander auszuhalten. Natürlich hatte sie da von dem ganzen Trubel am Lagerfeuer nichts mitbekommen und damit zielgenau die eine Gelegenheit verpasst, bei der die Erfüllung ihrer Aufsichtspflicht einen wirklichen Unterschied gemacht hätte! Mit einem genervten Augenrollen betrat er die Herberge, stieg geistesabwesend die Treppen nach oben und fand sich schneller als erwartet vor der Zimmertür der Jungs wieder, als hätte jemand nur einmal mit dem Finger geschnippt. Unweigerlich wanderte sein Blick noch einmal nach rechts zu seinem eigentlichen Zimmer. Da hinten, hinter der Tür mit der Nummer 21, war Kaiba. Der seinen Traum zerstört und noch nicht einmal die Eier in der Hose gehabt hatte, es selbst zu machen! Nein, er hatte Joey als Werkzeug seiner Rache missbraucht, den er dafür noch nicht mal aktiv manipulieren musste! Einfach nichts zu sagen hatte schon ausgereicht, und das, obwohl er ganz genau gewusst hatte, was für ihn, Duke, auf dem Spiel stand – im wahrsten Sinne des Wortes. Und warum das alles? Wegen eines vermeintlichen Betrugs, den er sich einredete, weil er ein Feigling war und Angst vor der Wahrheit hatte! Das Blut in Dukes Adern pulsierte schnell und heiß. Eigentlich sollte er jetzt da hinter gehen, die Tür aufstoßen und … Aber nein. Was würde es nützen? Leise seufzend ließ er die Schultern sinken, schüttelte den Kopf und schloss die Tür zu dem Viererzimmer auf. Kaiba anzubrüllen und ihm mit etwas (okay, eher sehr viel) Glück eine reinzuhauen, würde die Wut nicht lindern, ganz im Gegenteil. Sie würden sich weiter im Kreis drehen, um die immer gleichen Vorwürfe, weil Kaiba ein rachsüchtiger, nachtragender Sturkopf war und er selbst ebenfalls nicht im Traum daran dachte, nur noch einen Zentimeter weiter nachzugeben. Warum auch? Außer der Lüge über den Hintergrund seiner Anfrage, zu der er offen und ehrlich stand, hatte er sich nichts vorzuwerfen! Und die Entwürfe würde ihm das auch nicht zurückbringen. Genauso wenig wie das … Andere. Im krassen Unterschied zum hell erleuchteten Gang war es im Zimmer stockfinster. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter, verharrte kurz darauf, dann ließ er sie unverrichteter Dinge wieder sinken und schloss die Tür hinter sich. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und er die Gegenstände im Raum zumindest schemenhaft erkennen konnte. Sein erster Impuls trug ihn zu Tristans Bett. Den Block warf er achtlos auf den Tisch, zog Schuhe und Jacke aus, erklomm die Leiter und ließ sich, so wie er war, bäuchlings auf die dünne Matratze des Hochbetts fallen. Langsam ließ die Taubheit nach, sodass es den Eindrücken der letzten Minuten endlich gelang, den Damm aus Wut und Stolz zu durchbrechen, der sie bis eben noch im Zaum gehalten hatte, und ungehindert in seinen Kopf zu strömen. Die schiere Panik in seinem Herzen, als er zum Feuer rannte. Seine Finger um Joeys Handgelenk, fest, unnachgiebig. Das plötzliche Gefühl zu ersticken, als er langsam realisierte, dass Joeys Hand leer war. Die Seiten im Feuer, wie sie verkohlten, immer kleiner wurden, sich in Luft und stobende Funken auflösten. Die Erkenntnis, dass es sein Spiel war, das da gerade verbrannte. Sein Traum. Heißer Schmerz, der sich augenblicklich in seine Haut und sein Herz zu fressen schien, als würde ein Teil von ihm selbst gemeinsam mit den Seiten verbrennen. Kaibas ausgelassene Freude angesichts seiner Erschütterung, seines Entsetzens. Dieses hässliche, süffisante Grinsen, als er sich den Schlüssel hatte geben lassen. Er schlug mit der flachen Hand gegen das Holz der Bettumgrenzung. Er hatte doch keine Wahl gehabt, verdammt! Warum begriff Kaiba das denn nicht?! Ich bin mir sicher, euer Freund Devlin hier wird euch das nur zu gerne erläutern. Seine Finger krallten sich fest in Tristans Kissen. Dieser hinterhältige Mistkerl! … wenn es dein jämmerliches Spiel dann noch gibt. Dieses miese Arschloch! … mit deiner kleinen Narben-Geschichte hast du mich tatsächlich eingewickelt, Devlin! Bravo! Dieser dreckige Bastard! … sie gehört zu dir, sie hat dich zu dem gemacht, der du heute bist. Dieser … Haben … sie dich eigentlich gefragt, was heute wirklich los war? Dieser … Hast du schon mal …? Es war zu viel. Einfach viel zu viel. Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen, die sich unaufhaltsam einen Weg über seine Wangen nach unten suchten. Immer stärkere Beben ließen seinen Brustkorb erzittern und zwangen ihn schließlich seinen letzten Widerstand aufzugeben. Er vergrub sein Gesicht in Tristans Kissen, um das Geräusch seines Schluchzens wenigstens ein bisschen zu dämpfen und ließ es einfach geschehen. Wann er eingeschlafen war, völlig erschöpft und zusammengekrümmt auf der Seite liegend, wusste er nicht. Diffuse Geräusche drangen gedämpft an sein Ohr und wurden nur langsam klarer. Menschen kamen ins Zimmer. „Duke?“, hörte er eine Stimme leise fragen, „Schläfst du?“ Ach ja, er war ja bei Yugi. Er hatte keine Kraft sich zu bewegen, zu sprechen, mit irgendjemandem in irgendeiner Form zu interagieren. Also: Ja, er schlief. Dankbar nahm er zur Kenntnis, dass die anderen sich nur flüsternd unterhielten und das Licht ausgeschaltet ließen. Die Wuseligkeit dauerte ein paar Minuten an, immer wieder ging die Tür auf und zu, erhellte ein Lichtkegel aus dem Gang den Raum ganz leicht, wenn jemand ins Gemeinschaftsbad ging, um sich umzuziehen und die Zähne zu putzen. Ihm war vollkommen bewusst, dass er noch immer Tristans Bett okkupierte, aber die Vorstellung, rüberzugehen und sich in sein eigenes Bett zu legen – zu Kaiba! – oder überhaupt aufzustehen, lähmte ihn und ließ ihn regungslos an Ort und Stelle verharren. Irgendwann ging die Tür nicht mehr länger auf und zu, stattdessen wurde flüsternd beratschlagt und schließlich hörte er Joey leise – vermutlich zu Tristan – sagen: „Komm halt mit zu mir rüber.“ Kissen wurden aufgeschüttelt, Decken raschelten, auf dem anderen Hochbett ruckelte es noch ein wenig, dann kehrte endlich wieder Ruhe ein und Duke dämmerte erneut weg. Wie von selbst fiel Setos Blick auf die leere, rechte Bettseite, als er sein Kissen aufschüttelte. Devlin würde hier und heute wohl nicht mehr auftauchen. Verständlicherweise. Der Schwarzhaarige würde nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, das hatte er äußerst erfolgreich sichergestellt, und das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit. Gewissermaßen als letzte Amtshandlung verstaute er seine vom Feuer verrauchten Sachen, dann legte er sich hin, deckte sich zu und löschte das Licht. Zum ersten Mal wieder allein und ungestört schlafen! Endlich! Nach einigen Minuten drehte er sich seiner Gewohnheit folgend auf die andere Seite. Trotz seiner unbestreitbaren Müdigkeit fühlten sich seine Lider nicht schwer genug an, um seine Augen nachhaltig geschlossen zu halten. Die dunklen Umrisse von Dukes Kissen und Decke erschienen vor ihm, als er kurz blinzelte, dann verschwanden sie wieder. Er zog die Bettdecke noch ein Stückchen höher und presste seine Augenlider zu. Vergeblich. Wieder sah er die leere Bettseite vor sich. Ein Ziehen in seiner Brust. Es gefällt dir, dass da jemand neben dir liegt. Einfach nur lächerlich! Er gab keinen Deut auf Wheelers betrunkene Küchentisch-Psychologie! Energisch drehte er sich zurück auf die andere Seite, auch wenn es eigentlich nicht die war, auf der er für gewöhnlich einzuschlafen pflegte. Er zwang sich zu ruhigen, tiefen Atemzügen und nach einigen quälend langen Minuten gab sein Körper den angestrengten Bemühungen endlich nach. Als Seto das nächste Mal erwachte, herrschte noch tiefe Dunkelheit. Hatte er überhaupt richtig geschlafen? Viel mehr als wirre Träume und unruhiges Hin- und Herwerfen konnte es seiner Erschöpfung nach zu urteilen eigentlich nicht gewesen sein. Schwerfällig griff er nach seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch und musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, um die schwach leuchtenden Zeiger erkennen zu können. Halb drei. Mit einem leisen, genervten Stöhnen legte er die Uhr zurück und starrte an die Decke. Stille. Außer seinem eigenen Atem war nichts zu hören. Er war noch immer allein. Vorsichtig tastend streckte er seinen linken Arm aus, bis hinüber auf die andere Bettseite. Ganz von selbst glitt seine Hand Zentimeter für Zentimeter weiter nach oben, wie um sich zu überzeugen, dass da wirklich niemand unter der Decke lag. Nahe des Kopfkissens spürte er auf einmal ein anderes Material unter seinen Fingerspitzen: Dünner, weicher. Er musste es nicht sehen, um zu wissen, dass es ein T-Shirt war. Devlins T-Shirt. Das hellgraue, das er, bis auf letzte Nacht, immer zum Schlafen getragen hatte. Aufregung und ein dezentes Kribbeln erfassten seinen Körper, als sich seine Hand in den leichten Stoff grub. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Er konnte nicht aufhören, das Shirt zu berühren, musste es wieder und wieder durch seine Finger gleiten lassen. Es war wie ein Zwang. Die Frage, was er hier eigentlich tat, regte sich leise in seinem Hinterkopf. Nun, er war allein, es war dunkel, seine Augen schon längst wieder geschlossen. Im Schlaf taten Menschen eben seltsame Dinge. Bedächtig drehte er sich auf die linke Seite, ignorierte dabei die deutliche Regung in seiner Körpermitte und zog seine Hand samt T-Shirt langsam näher zu sich heran. Das Shirt fühlte sich kühl an – zu kühl –, ließ ihn die angenehme Wärme des Körpers vermissen, den es normalerweise umhüllte. Unter seiner eigenen Decke kam die Wärme langsam zurück. Sein Atem zitterte. Begierig erkundete auch seine rechte Hand den weichen Stoff, so als sei ihr die ganze Zeit etwas vorenthalten worden. Plötzlich der Hauch eines vertrauten Geruchs. Flattern in seiner Brust. Wie ferngesteuert brachte er das Shirt näher an sein Gesicht und atmete tiefer ein. Alles war wieder da: Die Wärme und das Verlangen in den grünen Augen, das Gefühl der weichen, warmen Haut und der festen Muskeln unter seinen Fingerspitzen, der Geschmack der zarten Lippen, das verführerische Lächeln … Ich für meinen Teil bin auch ganz gut im Improvisieren! Ein leichtes Pochen in seiner Lendengegend, angenehm, fordernd. Was um alles …? Voller Entsetzen, so als sei er gerade aus einer unfreiwilligen Hypnose erwacht, riss er die Augen auf. Überstürzt befreite er seine Arme aus der Bettdecke und warf das T-Shirt blindlings von sich, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob es tatsächlich in der Nähe von Dukes Tasche oder einfach irgendwo auf dem Boden landete. Das Beben in seiner Brust war hartnäckig und wollte auch Minuten, nachdem er sich wieder weggedreht und geradezu gewaltsam die Augen geschlossen hatte, nicht nachlassen. Ich wollte nichts mehr als sofort hierher zurückkommen … … – zu dir zurückkommen – … Ach ja?! Wenn er es wirklich so sehr gewollt hatte, warum hatte er es dann nicht einfach getan?! Seine dummen kleinen Freunde konnten nicht für alle seine schlechten Entscheidungen herhalten! Nein, so war das nicht! Das mit uns hatte damit rein gar nichts zu tun! Setos linke Hand krallte sich noch fester in die Bettdecke. Diese ach-so-entsetzte Reaktion! Wirklich eine schauspielerische Glanzleistung! Da war nicht nur eine körperliche Verbindung zwischen uns, da war mehr! Du hast mich verstanden, Kaiba! Wirklich verstanden! Wie er einfach den Spieß umgedreht und auf einmal so getan hatte, als sei er der Enttäuschte! Was für ein erbärmliches Manöver, um von der eigenen Schuld abzulenken! Was ich dir vorgestern über mich erzählt habe, alles, was ich seitdem getan und gesagt habe, war echt – zu einhundert Prozent! Einhundert Prozent, von wegen! Wie konnte Devlin allen Ernstes erwarten, dass er ihm das abnahm? Nach allem, was nur Minuten vorher enthüllt worden war! Nein, Devlin konnte noch so verletzt und enttäuscht und beleidigt tun, das änderte nichts an den Tatsachen: Er hatte ihn belogen und ausgenutzt, um sein im Scheitern begriffenes Spiel zu retten. Nichts davon war echt gewesen! Alles nur Strategie und kühle Berechnung! Wie immer. … Eine bleierne Schwere legte sich um sein Herz und mit ihr kam endlich auch der Schlaf. Langsam schlug Duke seine schweren Augenlider auf und blinzelte gegen das spärliche Licht des beginnenden Tages. Um ihn herum war es still, nur Joeys leises Schnarchen und Tristans geräuschvolles Atmen waren zu hören. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Tatsächlich hatten sich beide in Joeys Bett gequetscht und sich anscheinend, von ein paar überlappenden Gliedmaßen abgesehen, trotz der Enge ganz gut eingerichtet.Vorsichtig richtete er sich ein wenig auf, um nicht mit dem Kopf an die Zimmerdecke zu stoßen und griff in die Tasche seines Pullovers nach seinem Telefon. 06:35 Uhr. Kaiba dürfte also bereits wach sein. Er würde ihm nicht ewig aus dem Weg gehen können, mindestens einmal musste er noch nach drüben, um seine Sachen zu holen. Seinen verschwitzten Klamotten und dem belegten Gefühl in seinem Mund nach zu urteilen, waren Zähneputzen und eine Dusche auf jeden Fall absolut notwendig. Bevorzugt im Gemeinschaftsbad. So leise wie er konnte, stieg Duke vom Hochbett herunter, nahm den Block vom Tisch und ließ ihn sanft in den Papierkorb gleiten, damit das Rascheln der Tüte die anderen nicht weckte. Dann griff er sich seine Schuhe und seine Jacke und schlich beinahe geräuschlos aus dem Zimmer. Er würde Kaiba einfach ignorieren. Nur schnell die Sachen schnappen und dann sofort wieder raus! Vorsichtig öffnete er die Tür ihres Zimmers und linste hinein. Das Brummen der Badlüftung ließ ihn erleichtert aufatmen. Flink huschte er in den Raum und stopfte alle seine herumliegenden Sachen irgendwie in den Rucksack und die Reisetasche: Seine Sportsachen, die noch über dem linken der beiden Stühle hingen, seine Turnschuhe, das graue Schlafshirt, das irgendwie auf dem Boden gelandet war (vielleicht, als er so hektisch das Bett durchsucht hatte?) sein Handy-Ladegerät, das noch in der Steckdose gesteckt hatte. Notdürftig schloss er alle Reißverschlüsse, schwang den Rucksack über eine Schulter, die Reisetasche über die andere und war schon auf dem Weg, das Zimmer wieder zu verlassen, als die Badtür entriegelt wurde. „Meinst du nicht, du brauchst noch die hier?“ Die Stimme ließ ihn an Ort und Stelle festfrieren. Langsam wandte er sich um und begegnete blauen Augen, in denen ein spöttisches Blitzen lag. Kaiba lehnte am Türrahmen der Badezimmertür, die Haare ungekämmt und noch leicht feucht, ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, sein Hemd nur zur Hälfte zugeknöpft und noch nicht in die Hose gesteckt. Hitze stieg in Duke auf und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er hätte kaum sagen können, was größer war: Sein Hass auf Kaiba und dessen ekelhafte Selbstgefälligkeit oder sein Hass auf sich selbst für das subtile Kribbeln der Erregung, das der Anblick trotz allem in seinem Unterleib auslöste. Das Baumeln der Waschtasche in den Fingern des Brünetten weckte ihn schließlich aus seiner kurzen Trance. Ohne sein Gepäck noch einmal abzulegen trat Duke mit funkelndem Blick auf Kaiba zu, riss ihm den Kulturbeutel aus der Hand und stopfte ihn ebenfalls in die halboffene Reisetasche. Ohne ein Wort machte er auf dem Absatz kehrt und ließ die Tür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss fallen. Zum Glück war das Gemeinschaftsbad leer, als Duke mit Sack und Pack dort einfiel und diese Tatsache ließ ihn erleichtert aufatmen. Nichts konnte er jetzt weniger gebrauchen als dumme Nachfragen, warum er sein gesamtes Gepäck mit sich herumschleppte. Frisch geduscht, eingekleidet und mit sauberen Zähnen hielt er sich nur wenige Minuten später wenigstens für einigermaßen präsentabel, packte seine Sachen etwas ordentlicher zusammen und stieg die Treppen hinunter zum Speisesaal. Auch hier war um diese Zeit noch niemand. Gewohnheitsmäßig ging er zu dem Tisch, an dem sie bis jetzt immer gesessen hatten, und ließ Tasche und Rucksack einfach lustlos auf den Boden fallen. Die Küchenfrau hatte ihn bereits erspäht und den Kaffee parat, als er an die Durchreiche trat. „Na, Sie wollen den Bus aber auf keinen Fall verpassen, was?!“ Mehr als ein gequältes Lächeln brachte er als Reaktion auf ihre amüsierte Bemerkung nicht zustande, nahm schweigend den Kaffee entgegen und kehrte an den Tisch zurück. Schwerfällig sank er auf den Stuhl, ohne die Hand vom Henkel der Kaffeetasse zu lösen. Das heiße, glatte Porzellan in seiner Hand ankerte ihn im Jetzt und bewahrte seine Gedanken davor, zu weit abzuschweifen. Es war vollkommen still, nur das Rauschen des Regens, der in der Nacht begonnen hatte, drang leise durch eines der angekippten Fenster. Duke schloss die Augen, atmete tief ein und aus und genoss die Ruhe. Kurz hallte die Frage durch seinen Kopf, wie es nun weitergehen sollte, war sie doch das sprichwörtliche Damoklesschwert, das nun über ihm hing. Mit einem tiefen Seufzen nahm er einen ersten Schluck Kaffee. Der bittere Geschmack und der vertraute Duft beruhigten ihn, gaben ihm das subtile Gefühl von Kontrolle, auch wenn er nur zu gut wusste, dass es eine Illusion war. Setos Augen verharrten noch einen Moment auf der Zimmertür, dann schüttelte er leicht amüsiert den Kopf und ging zurück ins Badezimmer. Herrlich, Devlins genervter Gesichtsausdruck, sein hasserfüllter Blick! Wie hätte er sich das nehmen lassen können, zumal Devlin seine Waschtasche ja tatsächlich brauchen würde und er keine Lust gehabt hatte darauf zu warten, bis der Schwarzhaarige ihn aus eigenem Antrieb stören würde. Das leichte Schmunzeln erstarb, als er vor den Spiegel trat. Er wich seinem Blick aus, konzentrierte sich ganz darauf, sein Hemd zuzuknöpfen, es in die Hose zu stecken und seine Haare zu kämmen. Als er fertig war, warf er den Kamm in die Waschtasche, verschloss letztere und verließ das Bad, um sie wegzupacken. Noch einmal ließ er seinen Blick kontrollierend durch den Raum schweifen. Offensichtlich waren alle seine Sachen verstaut. Routiniert schloss er den Koffer, stellte ihn auf die Rollen und hing seinen Mantel darüber. Regen trommelte leise auf das Fensterbrett und an die Scheiben und für ein paar Sekunden verlor er sich in dem undurchdringlichen Grau des Himmels, gegen das sich die fast nackten Zweige des Baumes vor dem Fenster deutlich abhoben. Schließlich nahm er einen tiefen Atemzug, ließ sich auf der Bettkante nieder und legte seine Uhr und den Anhänger um, sodass nur noch ein Gegenstand auf dem Nachttisch übrig blieb. Achja. Seufzend erhob er sich, nahm das Buch mit sich und verließ das Zimmer. Auf dem Weg hinunter in den Speisesaal machte er im Gemeinschaftsraum Halt. Selten hatte er ein Buch mit so viel Befriedigung ins Regal zurückgestellt. So sehr er sich in den letzten Tagen auch hin und wieder mit Jekyll hatte identifizieren können (das war nicht zu leugnen), so dankbar war er, dass seine Geschichte ein anderes Ende genommen hatte. Im Gegensatz zu Jekyll hatte er widerstanden, hatte sich zurückgekämpft, war wieder ganz er selbst. Gut, Devlin hatte es ihm auch nicht besonders schwer gemacht, aber dennoch. Und wenn er erst wieder zu Hause war, seinen Alltag wieder hatte und vor allem sein eigenes Bett, in dem er alleine schlief und keine Kleidungsstücke von anderen Leuten finden würde, die ihn dazu brachten, fragwürdige Dinge zu tun, dann würde diese ganze Episode Stück für Stück verblassen. Wie Stevensons kleine Geschichte hier würde er sie vergessen, hoffentlich eher früher als später. Mit einem letzten abfälligen Schnauben wandte Seto sich ab und verließ den Raum. Das Quietschen der Speisesaal-Tür riss Duke aus seinen leeren Gedanken. Vorbei war die Ruhe, jetzt ging das Gewusel los. Doch es folgten nur ein paar Schritte, kein Geschnatter, noch nicht einmal ein gedämpftes Gespräch. Verwundert öffnete er die Augen und sah sich um. Natürlich. Kaiba stand an der Durchreiche und bekam ebenfalls einen Becher Kaffee in die Hand gedrückt. Glaubst du etwa, du bist der Einzige hier, der morgens nicht ohne Kaffee auskommt? Seine Augen folgten dem Brünetten unauffällig, so lange bis er aus seinem Blickfeld verschwand und sich an seinen Stammplatz in der hintersten Ecke des Raumes setzte. Eine plötzliche Unruhe überkam ihn, gegen die auch ein neuerlicher Schluck Kaffee nicht viel auszurichten vermochte. Das Gefühl, dass Kaiba in seinem Rücken saß, sein Blick ihn von hinten durchbohrte, wurde immer stärker, aber natürlich konnte er sich nicht umdrehen, um seinen Eindruck zu überprüfen. Obwohl … noch waren sie allein. Noch könnte er einfach zu Kaiba gehen und mit ihm sprechen. Wie sehr hatte er sich am Tag des Wettbewerbs gewünscht, genau das zu tun?! Einfach rübergehen, sich zu Kaiba setzen, Kaffee mit ihm trinken, weiter so reden, wie am Vormittag und am Abend zuvor: Offen, entspannt, auf Augenhöhe. Sie waren sich so nah gewesen – in mehrfacher Hinsicht –, nun saßen sie hier, in einem ansonsten leeren Saal, viele Meter und Tische voneinander entfernt, und nippten stoisch an ihren Kaffeebechern, jeder für sich. Nein, es war alles gesagt. Wenig später tröpfelten die ersten anderen Schüler herein und erfüllten den Raum mit Gesprächen und dem Klirren von Geschirr, als sie begannen, sich ein letztes Mal am Frühstücksbüffet zu bedienen. „Morgen!“, holte ihn Teas sanfte Stimme in die Realität zurück. Eine gewisse fragende Ratlosigkeit lag in ihren Augen; sie schien noch zu eruieren, wie er sich wohl fühlte und wie sie mit ihm umgehen sollte. Gott, hoffentlich würden sie ihn nicht alle behandeln wie ein rohes Ei! Er hatte ja nun wirklich kein Problem damit, im Mittelpunkt zu stehen, aber doch bitte nicht so! Wie er befürchtet hatte, herrschte auch Minuten nach Ankunft der anderen noch betretenes Schweigen und Duke konnte ihre verstohlenen Blicke geradezu körperlich spüren. Wenn er das Eis nicht brach, würde es ewig so weiter gehen. „Es ist nicht so, dass keiner mehr reden oder lachen darf, nur weil es bei mir gerade nicht so läuft, ich hoffe das wisst ihr!“, begann er lächelnd und sah in das Rund seiner Freunde, „Versteht mich nicht falsch, ich weiß eure Anteilnahme sehr zu schätzen, aber … ihr könnt mir ohnehin nicht helfen. Also lasst euch nicht runterziehen, seid einfach normal! Zu Hause wartet noch genug schlechte Stimmung auf mich.“ „Hast recht.“, stimmte Tristan ihm zu und auch der Rest nickte. „Danke. … Für alles.“ Und er wusste, dass sie genau verstanden hatten, was er meinte: Dass sie ihn nicht verurteilten, weil er sie angelogen hatte, dass sie seine Motive verstanden (im Gegensatz zu anderen Personen in diesem Raum), dass sie einfach für ihn da waren. „Vor allem dafür, dass ihr euch nur wegen mir zusammen in ein Bett gequetscht habt!“, fügte er schließlich mit einem leisen Lachen hinzu, um die betretene Stimmung wieder etwas zu aufzulockern. „Kein Ding, Mann, das war doch das Mindeste!“, gab Joey grinsend zurück. Tristan verschränkte die Arme vor der Brust und sah den Blonden leicht vorwurfsvoll an. „Wenn du dich nicht so breit gemacht hättest, wäre es wesentlich angenehmer gewesen!“ „Ich mich breit gemacht?! Wenn sich jemand breit gemacht hat, dann doch wohl du! Außerdem kannst du nicht behaupten, dass du schlecht geschlafen hättest!“ „Sag das mal meinem Arm, der die ganze Nacht über der Bettkante hing! Ich kann froh sein, dass der nicht einfach abgefallen ist!“ Dukes Mundwinkel wanderten unweigerlich nach oben, ebenso wie die der anderen. Die Diskussion ging noch ein Weilchen so weiter und Duke sog die gelöste Stimmung auf wie ein Schwamm, bis Frau Kobayashi das Signal zum Aufbruch gab. Im Laufschritt brachte Duke seine Sachen zum Bus und half auch Tea und den anderen, damit sie nicht allzu nass wurden. Schließlich waren alles und alle verstaut und Duke saß mit den anderen wie immer in der letzten und vorletzten Reihe des Fahrzeugs. Frau Kobayashi zählte noch einmal durch, fragte zum wiederholten Male, ob auch alle sicher seien, nichts vergessen zu haben, dann setzten sie sich in Bewegung. Die Herberge hinter ihnen wurde immer kleiner, bis sie vollständig aus Dukes Blick entschwand und es die steile, an den Rändern von nassem Herbstlaub bedeckte Waldstraße wieder hinabging. Von seinem Fensterplatz aus nahm er noch einmal die Aussicht über Nagano in sich auf, bis sie das Tal erreichten und auf die Autobahn auffuhren. Als er die letzten Tage noch einmal in seinem Kopf Revue passieren ließ, erschienen sie ihm wie eine turbulente Achterbahnfahrt, inklusive Rückwärtsfahren, einer Passage im Dunkeln und mehreren Loopings. Selten war in seinem Leben in so kurzer Zeit so viel passiert: Spiel am Arsch. Doppelzimmer mit Kaiba. Ehebett. Kaffee. Parfüm. Dino-Block. Schwimmbad. DDM. Spiel gerettet?! Kaiba schlafend. Bank am See. Kaffee. Spiel gerettet! Wettbewerb. Kaffee. Basketball. Kaiba geküsst. Mit Kaiba geschlafen. Party. Fiasko. Wahrheit gesagt. Kaiba verloren. Spiel am Arsch. Nun, es war eine Klassenfahrt, die er mit Sicherheit nicht vergessen würde. Fast alle um ihn herum scrollten durch ihre Smartphones, sahen noch einmal die Fotos der letzten Tage an, verglichen, lachten und amüsierten sich. So fiel es nicht weiter auf, als auch Duke sein Telefon hervorholte und die Foto-App öffnete. Das Klassenfoto war schnell gefunden. Wieder zoomte er hinein, bis nur noch er und Kaiba zu sehen waren. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen. Sie sahen gut aus zusammen. Wirklich gut. Wie hatte er nur so naiv sein können zu glauben, dass das funktionieren konnte? Sein Herz wurde schwer, schien ihn nach unten und noch tiefer in den Sitz zu ziehen. Mit einem kaum hörbaren Seufzen schaltete er das Display aus, steckte das Handy zurück in die Tasche seines Pullovers und ließ seinen Kopf gegen die kühle Fensterscheibe sinken. Langsam dämmerte er weg und wachte erst wieder auf, als die Autobahnbeschilderung die ersten bekannten Ortsnamen ankündigte. In der Tat fuhren sie schon kurz darauf von der Autobahn ab und in das ebenso verregnete Domino hinein, wo schon bald die ersten vertrauten Straßen und Gebäude an ihnen vorbeizogen. „Was wirst du eigentlich jetzt tun?“, riss ihn Yugis leise Stimme aus seinen Gedanken. Sorge sprach aus seinem Blick. Schon die ganze Zeit hatte Duke sich gefragt, wann wohl endlich jemand den Mut aufbringen würde, ihm diese Frage zu stellen. Sein erster Impuls war eine selbstbewusste, aber ausweichende Antwort, ein „Das lass mal meine Sorge sein!“ oder ein „Mir wird schon was einfallen!“, doch in letzter Sekunde hielt er inne. Das hier waren seine Freunde. Was brachte es, ihnen jetzt noch etwas vorzumachen? Besonders nach allem, was ihm genau dieses Verhalten in den vergangenen Tagen eingebracht hatte. So sah er Yugi nur traurig an und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ „Hm.“ Der Kleinere nickte betrübt, dann lächelte er und sah Duke voller Wärme an. „Dir wird schon was einfallen! Ich glaube an dich! Wir glauben an dich!“ Duke erwiderte darauf nichts, sondern nickte nur. Woher nahm Yugi nur immer diese Zuversicht? Als sie in die Straße zur Schule einbogen, beugte sich Tea auf einmal halb über Yugi und ihn und winkte aus dem Fenster. „Da sind schon meine Eltern!“ Unter leichtem Ächzen zog sie sich wieder zurück und sah zu ihren Sitznachbarn. „Yugi, Ryou, es bleibt dabei, dass ihr mit uns mitfahrt?“ Die beiden Angesprochenen nickten. „Ah, da vorne stehen meine Leute!“, stellte Tristan fest und Joey legte ihm die Hand auf die Schulter. „Danke, dass ihr mich mitnehmt, Alter!“ „Duke, was ist mit dir?“, wandte sich Tristan an ihn, „Du willst doch bei dem Wetter nicht mit dem Fahrrad nach Hause?! Wir haben noch einen Platz im Auto frei. Dann kommst du morgen halt mal mit dem Bus in die Schule!“ Die Vorstellung jetzt noch – auch wenn es nur ein paar Minuten waren – mit Tristan, seinem extrem kumpeligen Vater und seiner stets sonnigen Mutter sowie Joey in einem Auto zu sitzen, bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen. Nein, er hatte sich schon zu sehr mit dem Gedanken angefreundet, gleich durch den strömenden Regen auf seinem Fahrrad nach Hause zu fahren, allein zu sein, seinen Kopf auszuschalten. „Danke für das Angebot, Tris, aber ich nehm das Rad. Das passt schon.“ „Sicher?!“ Tristans Gesicht nach zu urteilen zweifelte er ernstlich an Dukes Verstand. Nun, man musste nur einmal nach draußen sehen und konnte es ihm nicht mehr verübeln. So nickte er noch einmal und Tristan zuckte nur mit den Schultern. „Okay.“ „Aber wenn du dann später krank wirst, sag nicht, wir hätten nicht gefragt!“, fügte Tea mit leicht tadelndem Unterton hinzu, stieß mit ihrem Einwand jedoch auf ebenso taube Ohren. Kaum war der Bus zum Stehen gekommen, wollten alle schon aufspringen, doch Frau Kobayashi hielt sie noch einmal zurück. In einer für den Geschmack ihrer Schüler viel zu langen Schlussansprache bedankte sie sich für die wahrlich wunderschöne Fahrt, zählte noch einmal lang und breit jeden Ausflug und jede Aktivität auf, an die man sich doch bitte noch lange erinnern möge und wünschte allen einen schönen Rest-Sonntag bis man sich ja bereits morgen im Unterricht wiedersehen würde. Der Regen sorgte für Eile beim Verlassen des Busses und ließ keine Zeit für lange Verabschiedungen. Trotzdem wurde Duke das Gefühl nicht los, dass die kurzen Umarmungen unter der Gepäckklappe bei ihm ein wenig länger und fester ausfielen als bei den anderen, bevor sie in die verschiedensten Richtungen entschwanden: Tea, Yugi und Ryou nach links zum Auto von Teas Eltern, Tristan und Joey nach rechts zum Wagen der Taylors. Duke hingegen warf sich seine Tasche um, setzte den Rucksack auf und spazierte ganz ohne Eile zu den Fahrradständern. Sich zu beeilen hatte keinen Sinn, nass würde er ja ohnehin werden. Routiniert öffnete er das Schloss an seinem schwarzen Eingang-Rennrad, das er vor nicht allzu langer Zeit mit roten Lenkergriffen und Felgen so angepasst hatte, dass es seinem Traumrad zumindest ein Stückchen näher kam, wischte notdürftig das Wasser vom Sattel und schob es in Richtung des Schultors. Er wandte den Kopf nach links und rechts, um zu prüfen, ob er gefahrlos aus der Einfahrt fahren konnte, da fiel sein Blick auf eine dunkle Limousine ein Stück weiter vorne an der Straße. Unter einem großen, schwarzen Regenschirm wurde Kaiba von seinem Assistenten in Empfang genommen, der ihm den Koffer abnahm und den Schirm schützend über ihn hielt, bis der Firmenchef im Fond des Wagens saß und die Tür hinter ihm geschlossen worden war. Wie betäubt stand Duke da und sah zu, wie der silberne Koffer in den Kofferraum geladen wurde, der Fahrer einstieg und den Motor anließ. Mit einem letzten, langgezogenen Seufzer schüttelte er den Kopf, schwang sich seiner Beladung zum Trotz in einer fließenden Bewegung auf den Sattel und trat in die Pedale. Schwere, kalte Tropfen klatschten unnachgiebig in sein Gesicht, als er an Tempo gewann und die Limousine ebenso wie die anderen wartenden Autos hinter sich ließ. Kapitel 28: Who am I? (To pull the stars from your sky.) -------------------------------------------------------- Regen prasselte an die getönten Fensterscheiben und begann lange Bahnen zu ziehen, als die Limousine anfuhr. Setos Gedanken verhielten sich nicht viel anders als die Wassertropfen: Sie folgten einer Spur, teilten sich auf, verbanden sich mit anderen, brachen einfach ab. Wild, unkoordiniert, ohne System – wie schon auf der gesamten Busfahrt. So sehr er auch versucht hatte, an die Zukunft zu denken, die nächsten Tage und Stunden, seine Rückkehr nach Hause, in sein Büro, die Firma, die Anrufe und Meetings der nächsten Wochen, die neue Duel Disk, die Release-Show, das Turnier, immer wieder hatten sie einen neuen Weg gefunden, um zur jüngeren Vergangenheit zurückzukehren. Zu Devlin, ihrem Streit, dem Dino-Block, dem Feuer, dem Hass in Devlins Augen. Es war vorbei, verdammt! Warum wühlte ihn das alles noch immer so auf?! Er konnte doch auch sonst immer ganz wunderbar mit allem Möglichen abschließen. Er traf seine Entscheidungen, er stand dazu, handelte nach ihnen und fertig. Fehler gab es nicht. Manche Entscheidungen hatten im Nachhinein betrachtet vielleicht etwas bessere Konsequenzen als andere, aber am Ende konnte – musste – man aus allem etwas machen. Einen Weg zurück gab es nicht. Aus dem Augenwinkel bemerkte Seto eine unscheinbare Bewegung auf der rechten Seite. Ein Fahrradfahrer stand neben ihnen an der roten Ampel. Seine Brust zog sich unwillkürlich zusammen. Devlins Blick blieb starr nach vorne auf die Ampel gerichtet, seine Hände fest um die roten Lenkergriffe geschlossen, der Rucksack und die Reisetasche hingen schwer über seinem nach vorne gelehnten Körper und glänzten vom Regen. Tropfen lösten sich von seinen Haaren, glitten über sein Gesicht nach unten, einzelne blieben an seinen Lippen hängen. Beiläufig strich er sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht.  Wie vor ein paar Tagen im Schwimmbad. In Setos Bauch begann es zu kribbeln. Kaum merklich schüttelte er den Kopf, um die Bilder wieder so tief zu vergraben, wie sie es verdienten, und sich auf die Gegenwart zu fokussieren. Sofort als die Ampel auf Grün schaltete und die Limousine sich in Bewegung setzte, trat auch der Schwarzhaarige entschlossen in die Pedale und lehnte sich in die Kurve, um im Gegensatz zu ihnen nach rechts abzubiegen. Auf der folgenden langen Geraden nahm er für ein paar Sekunden die Hände vom Lenker und richtete sich auf, so als wolle er dem Regen, der ihm entgegenpeitschte, mit der Kraft seines ganzen Körpers entgegentreten. Seto schluckte. Die Entfernung wurde größer, die Umrisse unschärfer, bis Devlin und sein Fahrrad schließlich ganz aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Das Kribbeln verschwand und ließ nur jene ungewohnte Schwere zurück, die Seto schon den ganzen Tag begleitete und ihn noch etwas tiefer in die weichen Polster zu drücken schien. Es gab gefühlt keine Stelle an Duke, die nicht triefte und tropfte, als er endlich im Flur seiner Wohnung stand. Schnell schlüpfte er aus seinen Schuhen und versuchte mit so wenigen Schritten wie möglich in sein kleines Badezimmer zu kommen. Die nasse Tasche und der Rucksack wurden auf den Fliesen abgestellt, seine Jacke hing er an der Kapuze über den Duschkopf, sodass sie direkt in den Abfluss abtropfen konnte. Der Pullover und das T-Shirt waren noch halbwegs trocken geblieben, was man von seiner Jeans leider nicht behaupten konnte. Mit routinierten Handgriffen öffnete er Gürtel, Knopf und Reißverschluss und musste den klammen, schwarzen Stoff regelrecht von seinen Beinen schälen. Warum zum Teufel kaufte er auch immer Slim Jeans? Schließlich hatte er die Hose ausgezogen und wollte sie gerade ebenfalls in die Dusche hängen, da hielt er mitten in der Bewegung inne. Etwas Weißes blitzte aus der hinteren rechten Hosentasche hervor. Was war das denn? Seine Stirn legte sich in Falten, als er was auch immer es war vorsichtig herauszog. Ein Zettel, kariert, gefaltet … Sein Herz machte einen Sprung. Die Zeichnung! Achtlos ließ er die Hose neben sich auf den Boden fallen. Das Papier war vollkommen aufgeweicht, hatte an den Rändern dunkle Flecken von der schwarzen Hose und war durch das lange Daraufsitzen regelrecht zusammengeklebt. Wenn es so trocknete, bekäme er es nie wieder unbeschadet auseinander! Behutsam begann er das Blatt zu entfalten. Schon konnte er überlagerte Bleistiftstriche durchscheinen sehen. Die erste Hälfte war geschafft. Jetzt ganz vorsichtig, das Papier war nicht das beste … Langsam und millimeterweise, fast als hätte er es mit einer alten Schriftrolle oder einem brüchigen Pergament zu tun, löste er die beiden verbliebenen Papierschichten voneinander. Sein Herz hämmerte schnell und voller Aufregung gegen seinen Brustkorb, doch er versuchte geradezu krampfhaft seinen Atem flach zu halten, als könnte er damit andernfalls das empfindliche Objekt in seinen Händen beschädigen. Die ersten Linien kamen zum Vorschein: seine Haare, Füße, Beine, der Arm auf dem Knie, seine Stirn, Augen, Nase … gleich, gleich hatte er es geschafft, nur noch zwei Zentim- … Plötzlich, fast ruckartig, verschwand der ohnehin kaum spürbare Widerstand zwischen seinen Händen. Die durchweichten Fasern hatten nachgegeben, das Papier war entlang des Mittelfalzes zerrissen. „Scheiße!“, fluchte er laut und starrte fassungslos und wie gelähmt auf die zwei nassen Papierhälften in seiner Hand. In seinen Augen brannte es verräterisch, doch er blinzelte die sich ankündigenden Tränen gerade noch weg. Das konnte dieser dämliche Idiot vergessen, dass er noch ein zweites Mal wegen ihm rumheulte! Mit einem einzelnen, leisen Schniefen schluckte er den Kloß in seinem Hals hinunter und marschierte geradewegs zum Mülleimer in der Küche. „Seto, du bist wieder da!“ Kaum hatte er die Tür geöffnet, kam Mokuba auch schon auf ihn zugestürmt und schlang die Arme um seine Taille. Eigentlich hatte Seto fest vorgehabt, zumindest ein wenig sauer auf ihn zu sein, für das, was er getan hatte, aber er musste schnell einsehen, dass er dazu aktuell nicht in der Lage war. Dafür war er viel zu erleichtert, wieder zu Hause zu sein und seinen kleinen Bruder wiederzusehen. Endlich vertrautes Terrain, in jeder Hinsicht! Alles würde wieder so sein wie vorher. Er würde wieder so sein vorher. So dezent wie immer erwiderte er die Umarmung, doch Mokuba schien trotzdem bemerkt zu haben, dass etwas anders war, denn der Kleine ließ ihn schneller als erwartet wieder los und sah betreten zu Boden. „Entschuldige, dass ich deinen Laptop und dein Handy genommen habe! Ich wollte eben einfach, dass du wirklich mal … dabei bist, weißt du? Dass du die volle Erfahrung hast und auch mal abschalten kannst. Dein Laptop und dein echtes Handy liegen auf deinem Schreibtisch.“ „Mhm.“ Setos Miene blieb unbewegt und er sah seinen kleinen Bruder streng an. „Über die genauen Konsequenzen mache ich mir noch Gedanken und werde dich darüber informieren.“ Mokuba sah noch immer auf seine Füße und nickte schuldbewusst. „ … morgen.“, fügte Seto daraufhin mit einem kaum merklichen Seufzen hinzu. Der Kleine hob den Kopf und für den Bruchteil einer Sekunde lag Unglauben in seinem Blick, doch dann eroberte sofort wieder ein breites Grinsen seine Lippen. Aus dem Augenwinkel sah Seto, wie Roland, der den Koffer nach oben geschafft hatte, bereits die Treppen wieder herunterkam. „Ich packe jetzt aus, dann essen wir.“ „Alles klar! Es gibt Lasagne!“ Mit diesen Worten sprintete Mokuba an Roland vorbei nach oben und Seto schüttelte schmunzelnd den Kopf. Für den Moment war er einfach nur froh, wieder da zu sein. Die unangenehmen Themen konnten auch noch bis morgen warten. Das Auspacken und Wegräumen seiner Sachen gab Duke erstmals genügend Ruhe, um sich ernsthaft mit der Frage zu befassen, was er nun eigentlich morgen früh um neun dem Vorstand von Industrial Illusions erzählen würde. Ursprünglich war das Thema Duel Disk ja gar nicht komplett vom Tisch gewesen, nur dass Kaiba selbst sich nicht mehr darum kümmern wollte. Aber da hatte es auch die Entwürfe noch gegeben. Jetzt hingegen ... Was sollte das für ein Anruf bei Kaibas Entwicklungsabteilung werden? „Guten Tag, ich habe mit Ihrem Chef vereinbart, dass wir eine Duel Disk für Dungeon Dice Monsters entwickeln. Es gab sogar schon erste Pläne.“ „Was meinen Sie, ‚es gab‘?!“ „Es gab sie eben. Aber jetzt nicht mehr. Und Ihr Chef wird auch nicht nochmal mit der Sprache rausrücken. Im Gegenteil, wenn Sie damit zu ihm gehen, wird er vermutlich so tun, als könne er Sie nicht hören. Aber hey, sehen Sie es mal positiv, das bedeutet, Sie dürfen selbst kreativ werden!“ Seufzend rieb er sich mit den Händen über das Gesicht und ließ sich auf sein Bett sinken. Wem machte er eigentlich etwas vor, die Sache war gestorben. Das Thema würde in der KC ohnehin versanden, wenn unter den Mitarbeitern bekannt würde, dass es dafür keinen Rückhalt von Kaiba gab. Ein paar Minuten lang blieb er einfach so sitzen, die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt, das Gesicht in den Händen vergraben, seine Gedanken leer und ziellos. Erst ein lautes Knurren seines Magens holte ihn in die Realität zurück und trieb ihn in die Küche. Der Blick in den Kühlschrank fiel einigermaßen ernüchternd aus. Verdammt, er hätte noch an einem Supermarkt halten sollen! Sein Blick wanderte aus dem Fenster: Draußen tropfte noch immer der Regen von den Bäumen und Dächern, im Badezimmer seine Jacke und seine Hose von der Dusche. Nein, noch einmal nach draußen gehen fiel aus. Im Tiefkühlfach fanden sich noch eine Packung Mini-Frühlingsrollen sowie eine halbvolle Tüte Edamame. Immerhin, besser als nichts. Schulterzuckend griff er sich eine Pfanne für erstere sowie eine Schüssel für zweitere. Sicherlich nicht das elaborierteste Abendessen, aber ein Abendessen. Mokuba hatte sein erstes Stück Lasagne schon zur Hälfte vernichtet (anders konnte man den Prozess nicht beschreiben), als er endlich die Frage stellte, mit der Seto schon die ganze Zeit gerechnet hatte: „Also, wie war es?“ Große, graue Augen sahen ihn erwartungsvoll an. Reinfall, Fiasko, Katastrophe, schoss es ihm in genau dieser Reihenfolge in den Kopf, doch in letzter Sekunde konnte er sich zurückhalten und atmete nur einmal gedehnt aus. „Oh.“, erwiderte Mokuba hörbar enttäuscht, bevor erneut Neugier in seinen Augen aufschien: „Aber so leicht kommst du mir trotzdem nicht davon, Seto! Jetzt erzähl schon: Was habt ihr so gemacht?“ Himmel, musste er denn jetzt allen Ernstes wirklich noch darüber reden?! Er hatte es hinter sich gebracht, das musste doch eigentlich reichen! „Komm schon, Seto! Von Anfang an! Ich geb dir auch Stichworte! Die Busfahrt …“ Ihm entfuhr ein leises Seufzen. Es hatte ja doch keinen Zweck. „ … war die Hölle auf Erden. Es war laut, es war anstrengend, Arbeiten war völlig unmöglich.“ „Also wusstest du da noch gar nicht, dass …“ Seto nickte und fuhr zügig fort: „Wir kamen an, die Zimmer wurden verteilt, es gab Abendessen …“ Fast schon entrüstet legte Mokuba die Gabel beiseite und schüttelte energisch den Kopf. „Halt, halt, langsam! Du kannst doch nicht einfach wesentliche Punkte auslassen! Mit wem warst du im Zimmer?“ Wieder dieses Stechen in seiner Brust. „Devlin. Es … war ein Zweierzimmer.“ „Okay, und das hat gut funktioniert?“ Seto schluckte, seine Finger spielten mit einer Ecke der Stoff-Serviette neben dem Teller. Nun, das hing wohl davon ab, was genau man in diesem Zusammenhang unter ‚gut‘ und ‚funktionieren‘ verstehen wollte, bis wohin sich die jeweilige Definition erstreckte und wann genau man den Kipppunkt ansetzte. Aber das ging seinen kleinen Bruder nun wirklich nichts an. Außerdem wollte er das freudige Funkeln in dessen Augen nicht trüben. So entschied er sich für eine allgemeine, trotz allem aber definitiv zutreffende Antwort: „Besser jedenfalls, als es mit Wheeler oder Taylor funktioniert hätte.“ Und der Meinung war er trotz allem immer noch. Lieber eine zerrüttete Geschäftsbeziehung als Blut an den Händen. „Na, immerhin. Und da hast du dann festgestellt, dass du nicht arbeiten kannst?“ „Kurz bevor du so freundlich warst, es mir auch noch einmal direkt mitzuteilen.“ Mokuba rieb sich mit dem Finger die Nasenspitze und lächelte verschmitzt. „Ein bisschen hätte ich das ja schon gerne gesehen.“ „Frag doch Devlin, der war dabei!“ Die Antwort war ihm beinahe automatisch von der Zunge geglitten und im Tonfall ärgerlicher ausgefallen, als er beabsichtigt hatte. Kurzerhand beeilte er sich fortzufahren und lose von den einzelnen Ausflügen und Aktionen zu berichten, sparte aber alle Geschehnisse rund um seinen Zimmergenossen und den Dino-Block weiträumig aus. „Das klingt doch eigentlich alles gar nicht so schlecht! Und was hast du abends und so gemacht, wenn ihr wieder da wart?“ „Gelesen.“, antwortete Seto schnell, nur um gleich darauf zu hoffen, dass es nicht zu schnell gewesen war und sein Bruder misstrauisch wurde. „Im Gemeinschaftsraum gab es eine kleine Bibliothek.“ „Also warst du doch die meiste Zeit alleine?“ Die Enttäuschung in Mokubas Stimme war unüberhörbar. Seto seufzte leise. „Hin und wieder haben … Devlin und ich uns auch … unterhalten.“ Bilder schossen durch seinen Kopf und ließen Hitze in ihm aufsteigen. Gut, dass er nicht dazu neigte, rot zu werden. Mokuba verdrehte nur die Augen. „Lass mich raten: über Geschäftliches.“ Wie sollte er darauf bitte antworten? Mokuba schien sein Schweigen jedoch als widerwillige Zustimmung zu deuten und nahm lächelnd sein Besteck wieder auf, um seinen Teller noch restlos zu leeren. „Typisch! Naja, immerhin hast du mit jemand anderem gesprochen. Aber jetzt sei doch mal ehrlich, war es denn am Ende wirklich so schlimm?“ „Schlimmer.“, erwiderte er mit todernster Miene. „Und ich bin sehr froh, dass ich das endlich hinter mir habe!“ Damit war das Thema jetzt hoffentlich beendet. Wurde Zeit, dass Mokuba wie sonst auch das Reden übernahm, damit er sich ebenfalls seiner schon stark abgekühlten Lasagne widmen konnte. „Und was hast du in der ganzen Zeit gemacht?“ Der Kleine zuckte mit den Schultern, während er mit der Gabel auch noch den letzten Hackfleisch-Rest vom Teller putzte. „Naja, weitestgehend das Übliche: Schule, Hausaufgaben, Zocken. Nichts Besonderes eigentlich.“ Seto nickte. So viel also zum Thema ‚Mokuba übernimmt das Reden‘. „Ach, doch … ha, was für ein lustiger Zufall eigentlich!“ Mokubas Gesicht hellte sich auf, er strahlte förmlich bis über beide Ohren. „Am Mittwoch war ich mit meinen Freunden im Black Clown und wir haben zum ersten Mal Dungeon Dice Monsters gespielt!“ Um ein Haar hätte Seto sich an seiner Lasagne verschluckt, konnte es aber gerade noch verhindern und griff schnell nach seinem Wasserglas. Mokuba schien es jedoch gar nicht aufgefallen zu sein, denn er sprudelte einfach weiter: „Das hatten wir schon ganz lange vor und jetzt haben wir es endlich mal durchgezogen. Ich meine, ich wusste ja, dass es cool sein muss, immerhin hat Duke es erfunden, aber ich hatte ja keine Ahnung! Nächste Woche wollen wir gleich nochmal gehen! Ich hoffe, Duke ist dann auch da, damit ich ihm das auch persönlich sagen kann.“ …wenn es dein jämmerliches Spiel dann noch gibt! Mit leuchtenden Augen berichtete Mokuba weiter, wie er ganze zwei Mal gegen seinen besten Freund gewonnen hatte, und rekapitulierte seine besten Spielzüge bis ins letzte Detail. Seto nickte nur stumm und aß stoisch weiter, obwohl ihm jeder Rest von Appetit abhanden gekommen war. Der Teller mit den Frühlingsrollen auf dem Couchtisch war mittlerweile leer, in der Schüssel lagen nur noch die Hülsen der Edamame. Mit einem leisen Ächzen erhob Duke sich, räumte das Geschirr weg und setzte sich an den Schreibtisch. Es hatte keinen Sinn mehr, sich noch länger zu drücken, er musste sich endlich etwas Neues einfallen lassen. Pegasus E-Mail mit den kritischen Auswertungen war schnell gefunden und schweren Herzens öffnete er eine Tabellenkalkulation nach der anderen, um zu überprüfen, ob seine Schlussfolgerungen von vor ein paar Tagen tatsächlich stimmten. Der Anblick der vielen roten Negativ-Zahlen und stetig abfallenden Linien in den Diagrammen schmerzte noch mehr, als er erwartet hatte. Es aus Pegasus Mund zu hören war das eine, es schwarz auf weiß zu sehen, das andere. Das beklommene Gefühl, das ihn nach seinem Alptraum am Anfang der Klassenfahrt überkommen hatte, kehrte machtvoll zurück. Was hatte er falsch gemacht? Was hatte er übersehen? Hätte er mehr tun können – mehr tun müssen?! Er schüttelte den Kopf. Egal, die Vergangenheit konnte erstmal warten, dafür war später immer noch Zeit. Jetzt ging es um die Frage, wie es in Zukunft besser laufen konnte. Seine grundsätzlichen Annahmen schienen jedenfalls korrekt gewesen zu sein; zumindest fand er in den Zahlen nichts, das ihnen zuwiderlief. Also blieb es dabei: Er musste eine Lösung finden, wie man DDM auch draußen oder unterwegs besser spielen konnte – ganz analog und pur, ohne Holographie-Technik, und möglichst ohne, dass dafür hohe Investitions- und Herstellungskosten anfielen. Er öffnete eine neue, leere Präsentation. Herausfordernd, ja geradezu höhnisch blinkte der Cursor in der Titelzeile. Das restliche Gespräch beim Abendessen wurde wie erhofft in der Hauptsache von Mokuba bestritten, der noch einiges aus der Schule zu berichten hatte. Seto hörte wie sonst auch größtenteils schweigend zu oder versuchte zumindest diesen Eindruck zu erwecken, wann immer er bemerkte, dass er schon wieder innerlich abgedriftet war. Er war längst fertig, aber da Mokuba noch einmal einen Nachschlag genommen hatte und wie ein Wasserfall redete, statt zu essen, dauerte es nun einmal länger. Wie jeden Sonntag verbrachten sie den weiteren Abend zusammen und spielten auf Mokubas Wunsch hin Videospiele, was Seto immerhin effektiv genug beschäftigte, um seine Gedanken von weiteren Ausflügen abzuhalten. Er verlor zwar häufiger als gewöhnlich, aber das schob er kurzerhand auf die anstrengende Busfahrt. Um halb zehn verabschiedete sich der Kleine schließlich ins Bett und Seto konnte endlich in sein Arbeitszimmer gehen. Alles normal, alles wie immer. Ein großer Schreibtisch mit einer Platte aus dunklem, edel gemaserten Holz, eingelassen in einen luftigen Unterbau aus schwarz lackierten Metallstreben, beherrschte den Raum. Auf den Regalen und Sideboards an den Wänden standen Bücher und vereinzelte Fotos, die zu lesen und zu betrachten er sich jedoch nur äußerst selten die Zeit nahm. Die hohen Fenster, durch die man tagsüber in den großen Garten sehen konnte, zeigten jetzt ohnehin nur noch Schwärze, sodass er die hellgrauen Vorhänge zuzog und sich anschließend den beiden Gegenständen auf dem ansonsten weitgehend leeren Schreibtisch zuwandte. Oh ja, damit konnte er arbeiten! Kein Vergleich zu dieser kindischen, ringgebundenen Ansammlung von Billigpapier … Das dumpfe Gefühl in seiner Magengrube brachte ihn dazu, schnell den Laptop aufzuklappen – zum ersten Mal seit einer Woche! – und sein echtes Smartphone zu überprüfen. Er zog das Fake-Exemplar aus seiner Hosentasche, bevor er sich schwerfällig in den Schreibtischstuhl sinken ließ, aktivierte die Displays und hielt beide Geräte nebeneinander. Mokuba hatte wirklich ganze Arbeit geleistet, das musste man ihm lassen! Die Anrufe auf sein eigentliches Handy waren vermutlich auf seine Sekretärin umgeleitet worden, denn das Telefon zeigte keine entgangenen Anrufe an. Um die eher unwichtigen Mails hatte sie sich offensichtlich ebenfalls gekümmert, trotzdem warteten jetzt noch etwas mehr als hundertfünfzig ungelesene Nachrichten in seinem Posteingang. Er stützte die Arme auf der Tischplatte auf, seufzte leise und begann mit den aktuellsten. Auch eine halbe Stunde später blinkte der Cursor untätig, war Dukes Präsentation noch immer nicht über die leere Titelfolie hinaus gewachsen. Er hatte sich zwischenzeitlich schon auf Papier und Stift verlegt, doch auch das Blatt vor ihm lag noch immer blendend weiß und unberührt da. Sein Kopf war wie leergefegt. Mit einem frustrierten Stöhnen stützte er die Ellenbogen auf den Tisch auf und rieb sich mit den Handballen die Augen. Er hatte die perfekte Lösung doch schon in den Händen gehabt! Wie sollte ihm bitte etwas Besseres oder zumindest annähernd so Gutes einfallen?! Egal, womit er jetzt kam, es konnte nur schlechter sein und würde deutlich weniger Überzeugungskraft haben. Und dann … … dann war es das für Dungeon Dice Monsters. Er rollte ein wenig mit dem Bürostuhl nach hinten, legte seine Arme auf der Tischplatte ab und ließ seinen Kopf darauf sinken. Seine Lider waren schwer und fielen wie von selbst zu. Er war so müde – im wörtlichen, wie im übertragenen Sinne. All die Jahre, all die Kämpfe, die er ausgefochten hatte … kurze Bilder zogen in schneller Folge an seinem geistigen Auge vorbei, bis sein Bewusstsein vollends der Müdigkeit nachgab. Schon wieder im Bus. Sie waren gerade wieder zu Hause angekommen, die Türen waren geöffnet. Draußen prasselte der Regen laut auf den Asphalt. Wo waren alle anderen? Waren sie schon gegangen? Langsam erhob er sich und schritt durch die leeren Sitzreihen zur hinteren der beiden Bustüren. Den Geräuschen nach zu urteilen, hätte er nass werden müssen, kaum, dass er den ersten Fuß vor den Bus gesetzt hatte, doch der Regen hatte anscheinend aufgehört. Um ihn herum herrschte ein düsteres Zwielicht. Das hier war nicht der Vorplatz der Schule. Quadrate unter seinen Füßen leuchteten auf, ebenso wie zwei Terminals links und rechts mit jeweils drei Herzen darauf. Er stand auf einem DDM-Spielfeld. Mal wieder. Mit vorsichtigen Schritten ließ er den Bus hinter sich und trat etwas weiter in die Mitte der weiten Fläche. „Devlin!“ Er sah erschrocken auf. Kaiba stand überlebensgroß auf der anderen Seite, blaue Augen starrten ihn vorwurfsvoll nieder. „Du hast mich benutzt, um dein jämmerliches, kleines Spiel zu retten! Wie kannst du es wagen?!“ Seine Hände wurden klamm, sein Herz begann augenblicklich zu rasen. „Kaiba, jetzt hör mir doch mal zu! Ich …“ Doch der Brünette schüttelte nur den Kopf und holte mit seiner geschlossenen Hand ein wenig aus. „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, Devlin!“ Duke duckte sich und musste ausweichen, um nicht unter einem der drei riesigen Würfel begraben zu werden, die krachend und mit gewaltigen Aufschlägen vor ihm auf das Spielfeld flogen. Einer der Würfel zeigte ein Verteidigungssymbol, ein anderer ein Bewegungssymbol, der dritte blieb auf einem Angriffssymbol stehen. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben, als er auf den ersten Würfel zutrat. Als nach einigen Sekunden nichts damit passierte, streckte Duke vorsichtig seine Hand aus und strich über die glatte Oberfläche. Ein klickendes Geräusch ließ ihn alarmiert zurückweichen. Die Seite, die er angefasst hatte, begann sich langsam zu öffnen und gab Stück für Stück den Blick in einen Raum frei. Alles in ihm zog sich schmerzhaft zusammen. Er kannte das elegant und herrschaftlich eingerichtete Esszimmer nur zu gut. Eine Bewegung. Jemand saß am Tisch. Augenblicklich löste sich jegliche Angst und Beklemmung in Luft auf. Wie lange hatte er Mom nicht mehr gesehen? Und nun saß sie da vor ihm, einfach so! Er musste zu ihr gehen! Doch seine Füße schienen ihm nicht zu gehorchen. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich keinen Zentimeter bewegen, sie nur weiter ansehen. Ihre grünen Augen strahlten voller Wärme und ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, als eine zweite Person den Raum betrat und sich ihr gegenüber setzte, groß und schlank, eine ehrfurchtgebietende Erscheinung, mit seinen scharfen, stahlgrauen Augen und dem kurzen, schwarzen Vollbart. Sein zärtlicher Blick und sein ebenso sanftes Lächeln bohrten sich wie Pfeile in Dukes Herz. Er hatte damals nicht nur Mom verloren. Eine kleinere Person kam voller Aufregung angestürmt und kletterte auf einen der Stühle, der mit dem Rücken zu ihm stand, sodass er nur den kurzen, schwarzen Haarschopf und den Strohhut sehen konnte, der an einem Band um den Hals des Jungen hing. Der Hut kam aus seiner Verkleidungskiste und war das gewesen, was seiner Ansicht nach am ehesten einem ‚Entdeckerhut’ entsprach. Natürlich! Es war jener Abend kurz nach seinem siebten Geburtstag, an dem er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er kniff die Augen zusammen und wandte den Blick ab. Er musste die Szene nicht sehen, er erinnerte noch immer jedes Wort. Die Stimmen hallten geisterhaft in seinen Ohren. „Mom, Dad, ich weiß, was ich werden will!“ „So? Was denn, mein Schatz?“ „Ich werde Spieleerfinder! Ein richtig guter, wie Mr. Pegasus!“ „Wer?“ „Pegasus! Im Fernsehen haben sie von ihm erzählt. Er ist so cool! Er hat in Ägypten ein altes Spiel entdeckt und daraus sein eigenes Kartenspiel gemacht. Wenn ich ein Spiel erfinde, wird das auch so ein riesiger Erfolg und auf der ganzen Welt gespielt wie Duel Monsters!“ „Duel was?! Duke, Junge, du weißt doch, deine Zukunft liegt …“ „David, gib ihm doch noch ein paar Jahre, bevor es ernst wird, hm?! Also, wie soll dein Spiel denn aussehen?“ „Hmm, ich weiß noch nicht. Aber auf jeden Fall muss es Würfel haben!“ Danach blieb es still. Duke öffnete die Augen. Die Kulisse und die Personen in dem Raum vor ihm standen still, nichts bewegte sich. Fast wirkte es wie eine übergroße Puppenstube. Die Lähmung in seinen Füßen ließ spürbar nach und er floh so schnell er konnte vor dem Ausdruck liebevollen Interesses in den Augen seiner Mutter, dem sanften Nachgeben im Blick seines Vaters. Mit prüfendem Blick umrundete er den Würfel mit dem Bewegungssymbol. Wie von allein, fast gegen seinen Willen, streifte seine Hand sacht über die Kante. Es überraschte ihn nicht mehr, dass sie daraufhin zu leuchten und sich zu öffnen begann, und er trat einen Schritt zurück. Diesmal war es sein Zimmer. Wieder war da eine jüngere Version von ihm, jetzt bereits mit schulterlangen Haaren, die am Schreibtisch saß und ihm den Rücken zuwandte. Duke trat einen Schritt näher heran, um erkennen zu können, was auf dem Computerbildschirm zu sehen war, da zerrte etwas an ihm. Er verschwamm, schien sich aufzulösen, … … starrte auf den langen Text am Bildschirm. Zum wievielten Mal las er das jetzt schon?! Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte Ihnen gerne eine Spielidee vorstellen, von der ich mit einiger Sicherheit behaupte, dass sie Sie begeistern w- … Schritte auf dem Flur. Verdammt, er musste es tun, jetzt oder nie! Seine Hände zitterten leicht, als er die Entertaste drückte. Warum füllte sich der Fortschrittsbalken im E-Mail-Programm denn ausgerechnet jetzt so viel langsamer als sonst?! Das leise Zisch-Geräusch, das verkündete, dass die Mail erfolgreich versendet worden war, ließ ihn innerlich aufatmen. Genau in diesem Moment flog die Tür mit Wucht auf und obwohl Duke es erwartet hatte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Sein Vater trat mit finsterer Miene herein und marschierte zielstrebig auf ihn zu. „Roberto hat mir mitgeteilt, dass du schon zum dritten Mal in Folge deine Spanisch-Stunde versäumt hast! Wofür bezahle ich den Mann überhaupt noch?!“ Skeptisch beäugte er die auf dem Tisch verstreuten Skizzen und schüttelte den Kopf. Seine Stimme war ebenso kalt wie der Ausdruck seiner Augen. „Wann hörst du endlich auf mit diesem Kinderkram und beginnst dich ernsthaft um deine Zukunft zu kümmern?!“ Auf Dukes Lippen trat ein süffisantes Lächeln, als er sich im Schreibtischstuhl drehte, um seinen Vater direkt anzusehen. „Es mag vielleicht für dich nicht so aussehen, aber genau das tue ich gerade. Ich habe meine Spielidee soeben an Industrial Illusions geschickt!“ „Industrial Illusions?!“ David Nathaniel Devlin entließ ein missbilligendes Schnauben. „Deine Zukunft liegt hier, in meiner – in unserer – Firma!“ Eine nur allzu vertraute Wut begann in Duke hochzubrodeln. Er wich dem stechenden Blick seines Vaters aus, rollte zum Schreibtisch zurück und begann geschäftsmäßig seine Zeichnungen zu ordnen. „Meine Zukunft liegt da, wo ich will! Und vor allem liegt sie in Dungeon Dice Monsters!“ „Hör dich doch mal an! ‚Dungeon Dice Monsters‘, das ist doch lächerlich! Du bist mein Sohn und …“ „Und auch der von Mom!“, fiel er seinem Vater lautstark ins Wort und funkelte ihn zornig an. „Und Mom würde wollen, dass ich glücklich werde und meinen Traum verwirkliche!“ „Deine Mutter hat immer die Notwendigkeit gesehen, dass …“ „Oh nein, jetzt komm mir nicht so!“ Er sprang aus seinem Stuhl auf und trat auf seinen Vater zu. Zwar musste er den Kopf heben, um ihm in die Augen zu sehen, aber diese Tatsache schüchterte ihn schon längst nicht mehr ein. „Mom wusste, was mir das Spiel bedeutet! Sie hat …“ „Aber sie ist nicht mehr da, Duke!“, brach es aus seinem Vater heraus und er schlug dabei mit der Faust auf den Schreibtisch, sodass alles darauf schepperte. Seine kalte Miene war in sich zusammengefallen, Schmerz und Wut verzerrten sein Gesicht. „Und du hast gefälligst zu tun, was …“ „Du kannst mir keine Vorschriften machen!“, zischte Duke und versuchte so das leichte Zittern seiner Stimme zu verstecken. „Wenn das Spiel erstmal ein Erfolg ist, dann …“ „Glaubst du allen Ernstes, dass dein ach-so-großes Idol Pegasus die E-Mail eines vierzehnjährigen High-School-Schülers lesen wird?! Wenn sie nicht sofort im Papierkorb landet, dann wird man dich mit einer freundlichen Standard-Antwort abspeisen und das war es dann! Aber gut, wie du willst, ich überlasse dich noch ein wenig länger deinen naiven Phantasien. Manche Dinge lernt man nur aus eigener Erfahrung. Und wenn du es endlich begriffen hast, ist Schluss mit diesem ganzen Unsinn!“ Mit diesen Worten wandte sein Vater sich ab und ging. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, ließ Duke sich seufzend zurück in seinen Drehstuhl fallen. Was wenn er recht hatte? Wer sagte, dass es seine E-Mail überhaupt bis zu irgendwem schaffen würde, der sich ernsthaft damit auseinandersetzen würde?! Er ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken und … … stand auf einmal wieder außerhalb des Würfels, direkt hinter seinem früheren Ich. Am liebsten hätte er ihm kurz beruhigend auf die Schulter geklopft, um ihm zu sagen, dass am Ende alles gut werden würde, aber seine Hand stieß gegen eine unsichtbare Barriere. Mit einem leisen Seufzen wandte er sich ab. Blieb nur noch ein Würfel, der mit dem Angriffssymbol. Fast schon routiniert ging er hin und strich mit der Hand über die glatte Oberfläche und das leicht vertiefte Symbol mit den zwei Schwertern. Wenn er schon einmal hier war, konnte er es genauso gut hinter sich bringen. Die Seite des Würfels öffnete sich, gab den Blick frei auf einen hohen Raum mit einem riesigen Sofa, einigen Sesseln und einer kleinen Bibliothek an der Wand. Das Wohnzimmer. Ein weiteres seiner jüngeren Ichs betrat die Szene, das seiner aktuellen Erscheinung schon recht nahe kam – von dem unversehrten, ungeschminkten Gesicht abgesehen. Ihm blieb keine Zeit, sich länger zu mustern, sah er doch den Raum auf einmal wieder direkt durch seine eigenen, jüngeren Augen. Wie üblich saß sein Vater in seinem Lieblingssessel und hielt ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit in der Hand. Was war es heute? Whisky, Brandy? Egal. Nur schnell in die Küche, eine Flasche Wasser holen. Rein, an ihm vorbei, wieder hinaus. Leise und unauffällig. „Herzlichen Glückwunsch, Junge!“ Er blieb auf der Stelle stehen, drehte sich aber nicht um. „Na, überrascht? Glaubst du etwa, ich hätte nicht mitbekommen, dass du mit diesem Pegasus in Kontakt stehst?!“ Seine Augenbrauen zuckten nach oben, sein Puls wurde schneller. „Er scheint ja wirklich ernsthaftes Interesse zu haben! Wie oft habt ihr schon telefoniert?“ Der eisige Blick, der ihn von hinten durchbohrte, presste die Antwort förmlich aus ihm heraus. „Zwei Mal, seit er auf meine E-Mail geantwortet hat.“ „Mhm, davon ein Mal über eine Stunde, wenn ich richtig informiert bin.“ Nun drehte er sich doch um. Verdammt, woher … ? Wut begann in ihm hochzuköcheln. „Und? Was interessiert es dich?! Ich dachte, für dich ist das alles nur Kinderkram?“ Noch einmal nippte sein Vater an seinem Drink, dann erhob er sich und trat langsam auf ihn zu, die Augen auf das Glas gerichtet, das er bedächtig in der Hand schwenkte. „Nun, sagen wir, meine Ansichten haben sich angesichts deines überraschenden Erfolges ein wenig … geändert. Dieser Pegasus scheint ja der Meinung zu sein, dass dein kleines Spiel wirklich Geld abwerfen könnte. Ich habe mich ein wenig mit ihm beschäftigt, der Mann ist in der Tat überaus erfolgreich, in dem, was er tut. Wenn es also gut genug für ihn ist, dann ist es auch gut genug für mich. Meinst du nicht auch, dass im Zweifel lieber deine Familie von deinem Erfolg profitieren sollte, als irgendein Fremder?“ Sein Vater war so nahe, dass jedes Wort ihm eine kleine Wolke alkoholgeschwängerten Atems in die Nase wehte. Whisky, ganz eindeutig. Mit größter Beherrschung gelang es ihm, nicht das Gesicht zu verziehen und der strengen Musterung seines Vaters standzuhalten. „Wir haben zwar erst zwei Mal miteinander gesprochen, aber für mich ist er trotzdem schon lange kein Fremder mehr! Im Gegensatz zu dir hat er an mich und meine Idee geglaubt – von Anfang an!“ „Und ich tue das jetzt auch!“ Eine kräftige Hand legte sich auf seine Schulter und drückte ihn förmlich nieder. „Es tut mir leid, mein Sohn!“ Nur mit Mühe gelang es ihm, sich aus dem festen Griff zu befreien und wieder mehr Abstand zwischen sie zu bringen. Seine Stimme schwoll unwillkürlich an; gerade noch so konnte er verhindern, dass sie sich überschlug und damit auch noch das kleine Fünkchen Respekt zunichte machte, das sein Vater ihm gegenüber noch haben mochte. „Einen Scheiß tut es dir! Glaubst du wirklich, eine halbherzige Entschuldigung mit ein paar Promille Alkohol im Blut macht auf einen Schlag all die Jahre wett, die du meinen Traum durch den Dreck gezogen und kleingeredet hast?! Und denkst du ernsthaft, ich würde dir diesen Traum jetzt einfach so mir nichts, dir nichts überlassen, damit du deine beschissene Firma aus dem Dreck ziehen kannst – in den du sie im Übrigen selbst versenkt hast?! Wer von uns beiden ist jetzt hier naiv?!“ „Ich bin immer noch dein Vater!“ In der tiefen, früher so sanften Stimme seines Vaters lag ein unterschwelliges, bedrohliches Beben. Der Whisky im Glas warf leichte Wellen, als er weitersprach: „Wir sind eine Familie! Bedeutet dir das denn gar nichts?!“ Dukes Augen verengten sich und die Worte verließen wie von allein seinen Mund. „Sorry, aber der Zug ist leider abgefahren, Dad!“ Er spuckte es aus wie eine Beleidigung und noch im selben Moment wurde ihm klar, dass er sein Blatt überreizt hatte. Das Glas zersprang. Scherben fielen zu Boden. Flüssigkeit breitete sich in einer kleinen Lache auf dem Boden aus und umfloss seine Füße. Sein Atem beschleunigte sich, sein Brustkorb schnürte sich zu. Er schielte zur Tür. Er musste hier raus. Schnell. Alle Synapsen feuerten, befahlen ihm zu fliehen, doch er konnte sich keinen Zentimeter bewegen, war praktisch am Boden festgenagelt. „Du …!“ Mit jedem Wort wurde die Stimme seines Vaters lauter. „Du undankbarer, kleiner Bastard!“ Die Zeit verlangsamte sich, verzerrte alle Eindrücke unnatürlich und ließ sie viel intensiver wirken. Das Knirschen, als sich die starke Hand zur Faust ballte. Wie die kleinen Scherben zwischen den Fingern im Licht des Kronleuchters fast schon magisch glitzerten, die anfangs noch kleinen roten Rinnsale immer größer wurden und die Faust beinahe wie in Zeitlupe auf ihn zukam. Duke kniff die Augen zusammen. Er schrak hoch. Sein Herz hämmerte genauso stark und schnell gegen seinen Brustkorb wie damals, kalter Schweiß bedeckte seinen Körper. Er blinzelte, rieb sich mehrmals mit beiden Händen über die Stirn und das Gesicht, bis er das Gefühl hatte, wieder im Hier und Jetzt angekommen zu sein. Der Bildschirm des Computers war ausgegangen. Mit noch immer leicht zitternden Fingern fuhr er über das Trackpad, gab mechanisch sein Passwort ein und sah sich von neuem mit der leeren Folie und dem blinkenden Cursor konfrontiert. Sein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er hatte es mit seiner Idee, seinem Spiel so weit gebracht! Aus eigener Kraft! Ohne ihn! Und nun sollte es enden?! Einfach so?! Damals hatte Pegasus ihm geantwortet, dass er beim ersten Lesen des Konzeptes sofort begeistert gewesen war – so wie alle anderen, die es vor ihm gelesen und bis zu ihm weitergeleitet hatten. Stundenlang hatten sie über das Spiel gesprochen und ihm war sofort klar gewesen, dass Pegasus nicht weniger leidenschaftlich an die Sache heranging als er selbst. Nicht ohne Grund war er so unfassbar wütend gewesen, als sich Pegasus nach dem Königreich der Duellanten nicht mehr gemeldet hatte und hatte, ohne die schrecklichen Hintergründe zu kennen, die Schuld bei Yugi gesucht. In seiner Verblendung hatte er sein eigenes Spiel, seinen Traum, für eine Agenda missbraucht, die auf Hass begründet war und trotz alledem hatten auch Yugi und die anderen erkannt, dass es ein großartiges Spiel war, und es später mit so viel Freude gespielt. Ebenso wie all die Menschen, die jeden Tag nur dafür in seinen Laden kamen. Selbst Kaiba hatte es gefallen. Wenn er es auch weniger … feurig ausgedrückt hatte, als manch anderer. Es war gut. Die Erinnerung ließ ihn kurz schmunzeln, bevor erneut der Schmerz überhandnahm. Er schüttelte den Kopf. Damit konnte er sich jetzt nicht befassen. Kaiba war Geschichte. Er musste allein weitermachen, musste selbst um seinen Traum kämpfen, wie er es schon immer getan hatte. Das war er nicht nur sich selbst schuldig, sondern allen Menschen, denen Dungeon Dice Monsters jemals Freude bereitet hatte oder noch bereiten konnte. Die Uhr oben rechts am Bildschirm von Setos Laptop zeigte mittlerweile 23:58 Uhr. Zwar hatte er erst knapp die Hälfte der E-Mails zur Kenntnis genommen oder beantwortet, aber für heute war es trotzdem genug. Mit einem gedehnten Ausatmen klappte er den Rechner zu. Die innere Unruhe, die durch die Aktivitäten des Abends betäubt worden war, kehrte machtvoll zurück, kaum dass die geistige Beschäftigung wegfiel. Sich ebenso sehr aufs Umziehen oder Zähneputzen zu konzentrieren war ein Ding der Unmöglichkeit und so konnte er nur tatenlos mitverfolgen, wie das Gefühl sich von seiner Magengrube ausgehend immer weiter in seinen Bauch und seine Brust hineinwühlte. Aber das würde sicher gleich besser werden, wenn er erstmal im Bett lag – seinem eigenen Bett, mit einer vernünftigen Matratze und niemand anderem außer ihm selbst darin. Für den Weg aus dem Bad dorthin brauchte er kein Licht. Routiniert kippte er auf dem Weg noch das bis eben weit geöffnete Fenster an, zog die Vorhänge zu und schlüpfte endlich unter die weiche Decke. Die edlen Laken und die Bettwäsche schmiegten sich sanft um seinen Körper – ein Hochgenuss im Vergleich zum rauen Stoff der Bezüge in der Jugendherberge. Er drehte sich auf die Seite und schob eine Hand unter sein Kissen. Mit tiefen, bewussten Atemzügen versuchte er endlich zur Ruhe zu kommen und einzuschlafen. Der Regen draußen hatte aufgehört, nur gelegentliche Windböen pfiffen noch immer um das Haus und ließen die Bäume im Garten leise rauschen. … wir haben zum ersten Mal Dungeon Dice Monsters gespielt! Ruckartig drehte er sich auf die andere Seite und presste seine Lider fester zu. Nächste Woche wollen wir gleich nochmal gehen! Mokubas Worte, sein Lächeln, die Begeisterung in seiner Stimme waren wie bleierne Anker, die sein Herz nach unten zogen. Noch einmal drehte er sich herum, versuchte das Gewicht wieder abzuschütteln, aber jeder Atemzug schien es nur noch zu vergrößern. Warum musste Mokuba dieses vermaledeite Spiel auch gerade jetzt für sich entdecken und ihm dann auch noch lang und breit davon erzählen?! Mit diesen leuchtenden Augen … … ich wusste ja, dass es cool sein muss, immerhin hat Duke es erfunden, aber ich hatte ja keine Ahnung! Mit einem tiefen Seufzen drehte er sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah zur Decke. Ja, es war ein gutes Spiel, das konnte nicht einmal er leugnen. Er stand durchaus zu dem, was er Devlin gesagt hatte: Es war eine abwechslungsreiche Mischung aus Glück, Strategie und Taktik, was es unzweifelhaft enorm spannend machte. Und das nicht nur für die Spieler, immerhin hatten sich in kürzester Zeit sämtliche Menschen im Gemeinschaftsraum um sie versammelt und bis zur letzten Minute gebannt ihr Spiel verfolgt. … Nun, zu dumm, dass es damit wohl demnächst vorbei sein würde. Aber Devlin war ja auch selbst schuld! Er hätte sich eben einfach vorher über die Konsequenzen seines Handelns Gedanken machen und ihm von Anfang an reinen Wein einschenken sollen! Hättest du mir denn geholfen, wenn du es gewusst hättest? – Selbstverständlich nicht! Er biss sich auf die Unterlippe. Verdammt! Hätte er gewusst, wie es aktuell um Devlins Spiel stand, er hätte natürlich sofort und entschieden abgelehnt, um kein Geld und keine Ressourcen in ein möglicherweise untergehendes Projekt zu stecken. Mit Daumen und Mittelfinger massierte er sich die Schläfen. Trotzdem musste es doch noch andere Möglichkeiten gegeben haben! Devlin hätte sich selbst etwas ausdenken können, wofür war er denn Spieledesigner?! Irgendein neues Spielkonzept oder eine Mechanik oder … was auch immer! Er fuhr sich durch die Haare und ließ die Hand schwer neben sich auf die Decke fallen. Natürlich waren diese Dinge in ihrer Wirkmacht kein Vergleich zu einer Duel Disk, sondern würden bestenfalls für müden Applaus in der Vorstandssitzung sorgen. Eine weitere, vertiefte Kooperation mit Kaiba Corp hingegen, von der Devlin selbstbewusst behaupten konnte, dass auch Seto Kaiba persönlich dahinter stand, … Du warst meine einzige Hoffnung, Kaiba! Also, was für eine Wahl hätte ich gehabt? Was hätte ich bitte deiner Meinung nach tun sollen? Also gut, zugegeben, Devlin mochte, was das anging, durchaus einen Punkt haben: Er war der mit Abstand beste Ausweg aus der Misere gewesen, er hätte es definitiv nicht getan, wenn er die Wahrheit gekannt hätte … die Lüge war praktisch alternativlos. Und wenn es um seine eigene Erfindung gegangen wäre, hätte er vermutlich noch zu ganz anderen Mitteln gegriffen, auch damit hatte Devlin zweifellos recht. … Was nicht bedeutete, dass Devlin seine Strafe nicht trotzdem verdient hatte! Ihn zu belügen war die eine Sache, ihn so zu benutzen, eine ganz andere. Wut brodelte von Neuem in ihm hoch. Das mit uns hatte damit rein gar nichts zu tun! Seinen läppischen ‚Es ist nicht, wonach es aussieht‘-Monolog hätte Devlin sich wirklich sparen können! Wickelte dieser Schmalspur-Casanova nicht ständig aus Spaß irgendwelche Gören um den Finger? Vermutlich war er einfach nur eine neue Herausforderung gewesen, für die Devlin sich eben ein bisschen mehr hatte anstrengen müssen, indem er noch ein paar alte Erinnerungen aus der Schublade holte, von denen angeblich ‚niemand‘ wusste. Er musste schlucken, doch der hartnäckige Kloß in seinem Hals wollte einfach nicht verschwinden. Du – ausgerechnet du – wagst es …! Was, wenn es stimmte? Was, wenn tatsächlich niemand anderes Devlin jemals so gesehen hatte? Gesehen hatte, wie sein Gesicht ohne diesen dämlichen Kajalstrich aussah, sich die langen schwarzen Haare um seine Schultern schlängelten, sanft über seinen Rücken flossen … niemand anderes die Hände so in ihnen hatte vergraben dürfen … Sein Herzschlag beschleunigte sich. … ausgerechnet du … Devlin hatte nicht einmal den Versuch unternommen ihn zu fragen, was ihn am See beschäftigt hatte, sondern ihn nur angesehen, mit diesen verdammt grünen Augen, so … verständnisvoll. Weil er nur zu genau wusste – aus eigener Erfahrung –, dass es in Setos, genau wie in seinem Leben, Dinge gab, die man nicht einfach mal eben teilte … Und dennoch hatte er es getan. Weil ich wollte. Im Geiste konnte Seto die Worte noch immer ganz genau so hören, wie sie an jenem Abend ausgesprochen worden waren: leise, zweifelnd, hoffnungsvoll. Und genau wie vor ein paar Tagen schien sich sein Herz dabei beinahe zu überschlagen. Du hast mich verstanden, Kaiba! Wirklich verstanden! Leichte Übelkeit kroch langsam seine Kehle hoch. Angenommen, es wäre tatsächlich so, dann bedeutete das … … er hätte einen Fehler gemacht. Weißt du, ich habe so viel Zeit und Herzblut in dieses Spiel gesteckt – es ist fast schon ein Teil von mir. Devlin war gerannt, als ginge es um sein Leben. Der Ausdruck in den grünen Augen, als die Zeichnungen in Flammen aufgingen, da war … etwas zerbrochen. Er hatte Devlins Traum zerstört. Nicht ganz allein – Wheeler und dessen unzweifelhafte Beschränktheit hatten ihren Teil dazu beigetragen – aber das änderte nichts an der Tatsache. Denn eines war vollkommen klar: Wenn der Industrial Illusions-Vorstand auch nur ein wenig so war wie seiner, dann war Devlin geliefert. Wahrscheinlich belächelten sie ihn auch so schon hinter seinem Rücken, machten ihn klein, so wie man es auch bei ihm selbst versucht hatte, weil er jung war und neue, andere Ideen und Vorstellungen mitbrachte. Wenn er jetzt, in einer solch hochkritischen Situation, noch mit leeren Händen dastand und nichts vorweisen konnte … nun, dann war Devlin die längste Zeit seines Lebens ein erfolgreicher Spieledesigner gewesen und konnte eine entsprechende Karriere in der Branche vergessen. Natürlich war das kein grundsätzliches Problem; es gab genug Menschen, deren Existenz Seto ohne schlechtes Gewissen, teils sogar mit Freuden, vernichtet hatte. Weil sie es nicht anders verdient hatten. Er presste die Augen zu. Die Enge in seiner Brust wurde unerträglich, schien ihm fast die Luft abzuschneiden. Gehörte Devlin wirklich dazu? Wenn ich eine coole Idee für die Weiterentwicklung von DDM oder für ein anderes neues Spiel habe, dann ist alles, was an meiner sonstigen Arbeit nervt, wie weggeblasen. Seine Augen hatten geleuchtet. Wie die von Mokuba … Wenn auch nur das geringste Risiko bestand, dass er sich tatsächlich … geirrt hatte, dann … Er rieb sich die Nasenwurzel, seufzte und sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch. 01:13 Uhr. Noch einmal schloss er die Augen und atmete tief ein und aus. Dann schlug er die Decke zurück und stand auf. Kapitel 29: Made my decision. (And it never felt so right.) ----------------------------------------------------------- 23:12 Uhr. Seufzend löste Duke den Blick von der Uhr in der rechten Ecke des Bildschirms, zog das Blatt erneut zu sich heran und nahm den Bleistift zur Hand. Mal ganz systematisch betrachtet: Was waren die größten Probleme, die man hatte, wenn man DDM draußen spielen wollte? Natürlich zu allererst das Würfeln. Im schlimmsten Fall hatte man keine gerade Fläche, die Würfel flogen durch die Gegend, man konnte sie verlieren. Stichwort „Unebener Untergrund“: In aufgeklapptem Zustand durften Würfel nicht wegrutschen, wenn man sie auf das Spielfeld legte und zu einem Dungeon anordnete. Die Größe des Spielfelds – war die ein Problem? Nein, vermutlich eher nicht, die war egal, wenn man im Park oder im Garten spielte. (Niemals im Leben würde ihn jemand oder etwas dazu bringen, so ein peinliches Mini-Magnet-Spiel fürs Auto zu entwickeln!) Das war doch eigentlich gar nicht so viel … Wie ließen sich diese Punkte also lösen? Eine stabilere, outdoor-taugliche Variante des Spielbretts musste her, am besten aus Hartplastik und zum Zusammenstecken, mit kleinen Erhebungen oder Kanten als Begrenzungen zwischen den einzelnen Feldern, in die die Würfelteile einrasteten, sodass sie nicht wegrutschen konnten, dazu eine längliche Vertiefung am Rand für den Würfelpool. So etwas würde sich vermutlich recht günstig herstellen lassen, vielleicht sogar in verschiedenen Farben. Und was die Würfel anging: Warum nicht eine Art Würfelbecher oder Würfelbox, die auch gleich als Transportbehältnis dienen konnte? Zweigeteilt würde sie sein müssen, eine Kammer für den Vorrat, eine für die drei aktuellen Hauptwürfel, dazu einen Mechanismus, der auf Knopfdruck drei zufällige Würfel von der Vorrats- in die Hauptkammer entließ. Wenn die zweite Kammer dann auch noch durchsichtig war, brauchte man nur noch zu schütteln und würde direkt sehen können, wie die Würfel lagen, ohne das Risiko sie zu verlieren. Dann müsste sie noch eine Klappe haben, um die Würfel zu entnehmen, damit man sie entweder in den Pool oder auf das Spielfeld legen konnte. Ein anderes Spielfeld und eine Plastikbox: Nicht im Entferntesten spektakulär, aber auch nicht die schlechteste Idee, die er je gehabt hatte. Mit ein wenig mehr Selbstbewusstsein setzte er den Stift aufs Papier und begann zu zeichnen. … Eins, zwei, drei, vier, … sehr gut, er hatte bereits sechs Seiten. Ein kurzer Seitenblick auf die Uhr. 02:23 Uhr. Um eine grundlegende Vorstellung zu vermitteln, sollte das eigentlich schon reichen. Er legte den Bleistift beiseite, atmete einmal tief durch und streckte sich. Die Federung des Bürostuhls quietschte leise, als er sich erhob, um die Zeichnungen einzuscannen. … 03:30 Uhr. Die Skizzen waren fertig bearbeitet und in die Präsentation eingefügt. Jetzt noch einmal die Vorteile auflisten: Das Grundspiel blieb unverändert, die Zusatzteile waren einfach und günstig zu produzieren, … … Als Duke der Präsentation den letzten Schliff gegeben sowie ausführliche Notizen und Stichpunkte gemacht hatte, schloss er das Präsentationsprogramm, lehnte sich mit einem gedehnten Ausatmen zurück und verschränkte die Hände im Nacken. Ein Big Bang, wie es die Duel Disk gewesen wäre, war es natürlich nicht, insofern waren große Hoffnungen sicherlich nicht angebracht, aber er hatte etwas in der Hand. Etwas, das er sich selbst ausgedacht hatte, etwas Sinnvolles, mit Hand und Fuß. Allemal besser als nichts. Träge löste er die Verschränkung seiner Hände, klappte den Laptop zu und warf einen Blick auf sein Smartphone: 05:03 Uhr. Zwei Stunden Schlaf waren auf jeden Fall noch drin. Es war zwar nur eine Videokonferenz, aber völlig übernächtigt auszusehen wäre mit Sicherheit trotzdem nicht besonders hilfreich. Umziehen und ins Bett legen lohnte sich definitiv nicht mehr, die Zeit war so schon knapp genug. So knipste er nur die Schreibtischlampe aus, trottete zur Couch und ließ sich kurzerhand darauf fallen. Schnell stellte er noch den Wecker auf seinem Handy, dann zog es ihm wie von selbst die Augen zu. Mit einem kurzen, zufriedenen Nicken speicherte Seto seine Ergebnisse ab und schloss die Programme, die er verwendet hatte. Der nagelneue USB-Stick, den er wie erhofft noch in einer Schublade seines Schreibtisches gefunden hatte, ließ sich kaum wieder abziehen, doch schließlich klackte es leise und der Widerstand gab nach. Er klappte den Laptop zu, legte den Stick daneben und erhob sich schwungvoll aus dem Schreibtischstuhl. Es war jetzt kurz vor sechs. Schlafen lohnte sich nicht mehr, spätestens in einer halben Stunde wäre er ohnehin aufgestanden. Nun gut, dann war er eben ein wenig früher dran als sonst und musste sich erst recht nicht beeilen. Durch die schmalen Schlitze zwischen den Vorhängen drang bereits Tageslicht. Er zog sie auf und sah für einen Moment hinaus in den Garten: Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die Äste der Bäume und ließen die verbliebenen Regentropfen an den bunten Blättern und im Gras glitzern. Das bleierne Gefühl in seiner Brust, das ihn gestern Abend regelrecht nach unten gezogen hatte, war ebenso verschwunden wie die Wolken, die nur noch in weiter Ferne am Horizont zu sehen waren. Stattdessen erfüllte ihn eine Art nervöse Leichtigkeit, von der er noch nicht sicher war, ob er sie wirklich angenehmer fand. In einem vergeblichen Versuch das Gefühl zu vertreiben, atmete er noch einmal tief ein und aus, dann wandte er sich ab und ging zielstrebig hinüber in sein Zimmer, um seine Schuluniform, sowie frische Sachen aus dem Schrank zu holen und schon einmal unter die Dusche zu springen. Das Klingeln des Handyweckers riss Duke viel zu früh aus seinem traumlosen Schlaf. Er konnte kaum die Augen öffnen, seine Glieder fühlten sich schwer und träge an. Alles in ihm schrie danach weiterzuschlafen, aber das war unter den gegebenen Umständen einfach nicht drin. Ächzend erhob er sich, schleppte sich in die Küche und bereitete die Kaffeemaschine vor. Egal, wie es an der Essensfront aussehen mochte, diese Vorräte waren immer gut gefüllt. Die Maschine begann leise zu gluckern und würde noch ein paar Minuten brauchen, also erstmal weiter ins Schlafzimmer. Aus der Kommode nahm er eine frische Unterhose und Socken, von der Kleiderstange daneben (einen Schrank besaß er nicht) das Jackett seines schwarzen Anzugs, ein schwarzes Hemd sowie seine seidig glänzende, karmesinrote Lieblingskrawatte. Die Anzughose würde er nicht brauchen, man würde ihn ohnehin nur brustaufwärts sehen und da er nach dem Meeting umgehend in die Schule musste, war es wahrscheinlich am sinnvollsten gleich die Uniformhose anzuziehen. Jackett und Krawatte hing er vorerst über den Schreibtischstuhl und machte sich mit der restlichen Kleidung bewaffnet auf ins Bad: Zähneputzen, duschen, föhnen, Haare hochbinden – ohne das Haarband, wie immer bei geschäftlichen Terminen. Kaum zu glauben, dass dieser Tag, so normal, wie er begann, über die Zukunft seines Spiels und damit auch seine Zukunft als Spieledesigner entscheiden würde! Höchstwahrscheinlich würde beides heute ein Ende finden, denn mal ehrlich, seine ‚Besser als nichts‘-Idee würde vermutlich nicht reichen, um den Vorstand zu überzeugen. Gut, dann hatte er immer noch den Laden, aber … die Vorstellung, dort alsbald nur noch anderer Leute Spiele zu verkaufen, … nein. Sein Herz krampfte sich zusammen. Fertig angezogen trat er einmal mehr näher an den Spiegel und musterte sein Gesicht. Mit den Fingern fuhr er mehrmals unter seinen Augen entlang, aber das änderte nicht das Geringste an den sichtbaren, dunklen Ringen. Das mit dem Nicht-übernächtigt-aussehen hatte ganz offensichtlich nicht geklappt. Nun ja, die meiste Zeit würde sein Videobild ja ohnehin nur klein in der Ecke zu sehen sein. Wie von allein wanderten Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand weiter und zeichneten sanft die Narbe unter seinem Auge nach. Wie sein Vater sich freuen würde, ihn jetzt mit seinem Spiel – seinem Traum – so untergehen zu sehen … Der Kajalstift lag an seinem angestammten Platz: einem kleinen Schälchen auf dem Fliesenabsatz über dem Waschbecken. Voll grimmiger Entschlossenheit zog er die Kappe ab und beugte sich ein wenig nach vorne, näher an den Spiegel. Damit lässt du überhaupt nichts hinter dir. Mitten in der Bewegung stoppte er. Sein Herz schlug schneller. Wut köchelte in ihm hoch. Wie lange würde ihn das denn noch verfolgen?! … sie gehört zu dir, sie hat dich zu dem gemacht, der du heute bist. Ihm entfuhr ein zynisches Schnauben. Wer er heute war?! Jemand, der sich versteckte, hinter einer Maske, die weit über den schwarzen Strich auf seinem Gesicht hinausging. Jemand, der andere ohne mit der Wimper zu zucken belog, um seine Ziele zu erreichen, sogar seine engsten Vertrauten … Im Gegensatz zu seinen Freunden hatte Kaiba ihn wenigstens durchschaut und die richtigen Konsequenzen gezogen: Er wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Und warum auch?! Am Anfang hatte eine Lüge gestanden, war Kaiba für ihn nicht mehr als ein Mittel zum Zweck gewesen, um seinen Traum zu retten … und das machte alles, was danach gekommen war und das er vom Grunde seines Herzens ehrlich gemeint hatte, null und nichtig. Er schluckte, doch die Enge in seiner Brust nahm nur noch mehr zu. Eigentlich war der Zug schon vom ersten Tag an abgef– … Wir sind eine Familie! Bedeutet dir das denn gar nichts?! – Sorry, aber der Zug ist leider abgefahren, Dad! Klackernd fiel der Kajalstift ins Waschbecken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er voller Entsetzen auf sein Spiegelbild. Die Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. In den letzten Monaten, vielleicht sogar Jahren, war sie stetig größer geworden – so schleichend, dass er es überhaupt nicht bemerkt hätte, wenn nicht die letzten Tage den Prozess noch einmal beschleunigt hätten. Die Knöchel seiner Hände traten weiß hervor, so fest umklammerte er den Rand des Waschbeckens. Er senkte den Kopf, um der Einsicht zu entfliehen, doch auch vom Abflussdeckel sah ihm sein Gesicht entgegen, klein und verzerrt. Nein, nein, nein! Das konnte, das durfte nicht wahr sein! Energisch schüttelte er den Kopf und kniff die Augen fest zusammen. Seine Brust hob und senkte sich schnell unter flachen, abgehackten Atemzügen. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Langsam und unaufhaltsam sank die Erkenntnis ein, brannte bitter in seiner Kehle wie der Whisky, den er so gerne trank. Es gehörte zu ihm. Das war, wer er heute war: Nur ein Abziehbild von David Nathaniel Devlin. Jemand, der nicht davor zurückschreckte, andere zu belügen und zu benutzen, um eine Fassade zu wahren und seinen eigenen Traum zu retten. Mit diesem kleinen, schwarzen Strich gibst du ihm immer neue Macht über dich und dein Leben. Im Grunde spielst du ihm nur in die Hände. Na und?! Was machte das jetzt noch für einen Unterschied?! Manche Dinge konnte man anscheinend nicht hinter sich lassen. Manche Dinge waren so fest in einen eingeprägt, dass man ihnen nicht entfliehen konnte, so sehr man es auch versuchte. Wer von uns beiden ist jetzt hier naiv?! War der Kajalstrich am Ende einfach nur ein verzweifelter Versuch gewesen zu leugnen, was schon lange eine Tatsache war? Der Versuch, ein letztes sichtbares Zeichen zu setzen, das ihn noch von seinem Vater abhob?! Und musste er es nicht schon allein deshalb weiter tun?! Er öffnete die Augen und trat wieder näher an den Spiegel. Mit zitternden Fingern fischte er den Kajal aus dem Waschbecken und hob die Spitze an sein Gesicht. Du musst gar nichts! Wieder hielt er inne, kurz bevor die weiche, schwarze Mine seine Haut berührte. Etwas in ihm blockierte, protestierte, lehnte sich auf. Wollte er wirklich jetzt, nach all den Jahren, aufgeben?! Vor ihm kapitulieren, einfach so?! Seine Veranlagung – seinen Vater – dafür verantwortlich machen, dass alles den Bach runterging?! Die Doppelmoral war so offensichtlich, sie schrie ihm förmlich entgegen: ‚Deine Erfolge rechnest du allein dir selbst an, aber für deinen Misserfolg soll jemand anderes verantwortlich sein?!‘ … denkst du ernsthaft, ich würde dir diesen Traum jetzt einfach so mir nichts, dir nichts überlassen, damit du deine beschissene Firma aus dem Dreck ziehen kannst … ?! War er wirklich genauso feige wie sein Vater und wollte es einfach nicht wahrhaben? Er ließ den Kajalstift sinken und schüttelte leicht den Kopf. Nein. Wenn der Erfolg sein eigener war, war es auch der Misserfolg. Nicht sein Vater, seine Veranlagung hatten ihn dahin gebracht, wo er jetzt war, sondern seine eigenen Entscheidungen. Im Guten, wie im Schlechten. Er selbst hatte sie getroffen und er hätte sie jederzeit anders treffen können. Er durfte sich nicht mehr länger hinter seinem Vater verstecken. Er würde sich nicht mehr länger hinter seinem Vater verstecken. Er würde zu seinen eigenen Entscheidungen stehen und mit den Konsequenzen leben, egal, wie sie ausfielen. Sollte diese Nummer hier, trotz allem, was passiert war, noch irgendwie gut ausgehen, musste und würde er froh und über alle Maßen dankbar sein. Wenn nicht, würde er eben untergehen – mit wehenden Fahnen. Und dann würde er wieder aufstehen und es besser machen. Ehrlicher. Er hatte es einmal geschafft und er konnte es wieder schaffen, wenn nicht bei Industrial Illusions, dann woanders oder notfalls auch allein. Die Kappe des Kajals lag noch immer auf dem Waschbeckenrand. Er setzte sie wieder auf den Stift und warf einen letzten Blick in den Spiegel: Die grünen Augen seiner Mutter, in denen eine kämpferische Entschlossenheit blitzte, die er bei seinem Vater trotz aller Verfehlungen immer bewundert hatte, und darunter die Narbe, offen und unkaschiert, als sichtbares Zeichen dessen, was er mit dem heutigen Tag anders machen und wirklich hinter sich lassen würde. Zufrieden wandte er sich ab, löschte das Licht und ging schnurstracks in die Küche, den Kajalstift noch in der Hand. Ein leises Rascheln der Tüte, ein dumpfes Klonk und der Stift traf auf den Boden des Mülleimers. Der Deckel ging quietschend zu, als Duke den Fuß von dem Pedal löste und sich wieder aufrichtete. Einen Moment lang fühlte er sich merkwürdig leicht, so als sei ein unsichtbares Gewicht von seinen Schultern abgefallen, das er all die Jahre ohne es zu wissen mit sich herumgetragen hatte. Mit seinem ersten, bereits zur Hälfte ausgetrunkenen Kaffee in der Hand ging Seto erneut ins Arbeitszimmer, um seine Tasche zu packen. Ein kaum sichtbares Lächeln schlich sich auf seine Lippen, als er feststellte, dass das Laptop-Fach noch belegt war. Wie viel angenehmer war doch der Anblick von Mokubas Dino-Buch, wenn er seinen Laptop in greifbarer Nähe wusste! Schnell tauschte er das Buch in seiner Tasche durch den Computer aus und ging mit ersterem in der Hand zur Tür. Über den Gang spähte er zum Zimmer seines Bruders. Mokuba war bereits aufgestanden: Seine Zimmertür stand einen Spalt offen und die Dusche rauschte im Nebenraum. Leise ging er hinüber und legte das Buch auf Mokubas Nachttisch. Vorsichtig zog er das Post-It ab und strich noch einmal sacht mit den Fingern über den Triceratops auf dem Einband, bevor er den Raum so schnell wieder verließ, wie er gekommen war. Zurück im Arbeitszimmer fiel sein Blick auf den USB-Stick, der noch immer unschuldig auf dem Schreibtisch lag. Aus der untersten Schublade holte er einen kompakten, braunen Briefumschlag hervor und ließ das kleine Objekt darin verschwinden. Schon wollte er den Umschlag in das zweite Innenfach seiner Tasche stecken, doch im letzten Moment zögerte er und holte ihn noch einmal heraus. Von seiner Schreibtischablage schnappte er sich einen kleinen Notizzettel und seinen Füllfederhalter, schrieb ein paar Worte und … nein. Das klang zu … nein. Er knüllte den Zettel zusammen, warf ihn in den Papierkorb und griff nach dem nächsten. Schon nach dem ersten Wort landete auch dieser Zettel im Müll. Vielleicht sollte er es einfach lassen? Wieso überhaupt dieses plötzliche Mitteilungsbedürfnis?! Nun gut, noch ein Versuch. Die Feder glitt über das Papier. Wieder ein prüfender Blick: Ja, das war gar nicht schlecht. Ganz neutral. Aber trotzdem … ach, egal! Er öffnete den Umschlag erneut, warf auch noch den Zettel hinein, verschloss ihn und packte ihn endgültig in die Tasche. Mit Sicherheit würde er Devlin in der Schule einmal unauffällig abpassen können … Mokubas Badtür wurde entriegelt und Seto nahm es als Signal, endlich hinunter in die Küche zu gehen. Die Tasche deponierte er auf einem der Stühle, setzte sich an seinen üblichen Platz am Tisch und überflog beim letzten Rest seines Kaffees die Titelseite der wie üblich bereitliegenden Zeitung. Mokuba war schon von weitem zu hören, bevor er überhaupt nur in die Nähe der Küche kam; genau wie Roland hatte auch Seto es mit der Zeit aufgegeben, seinen kleinen Bruder zu ermahnen, doch bitte nicht so die Treppe hinunterzupoltern. Ohne Umschweife ging der Kleine zum Kühlschrank, nahm sich Milch für seine bereits von der Haushälterin vorbereiteten Cornflakes und goss sich ein Glas Orangensaft ein, bevor er sich zu ihm an den Tisch setzte. Über den Rand der Zeitung hinweg sah Seto, wie sich Mokubas Augen weiteten, und ahnte bereits, was ihn erwartete. „Seto, um Himmels Willen, du siehst furchtbar aus! Was hast du letzte Nacht noch gemacht? Schlafen kann es jedenfalls nicht gewesen sein …“ Er erhob sich, um sich einen zweiten Becher Kaffee einzugießen und der strengen Musterung seines kleinen Bruders zu entkommen. „Dafür gesorgt, dass du auch auch in Zukunft noch Dungeon Dice Monsters spielen kannst.“ „Was?!“ Man konnte regelrecht dabei zusehen, wie sich Myriaden von Fragen in Mokubas Kopf zu formen begannen, auf die Seto ihm jedoch allesamt keine Antwort zu geben gedachte. Sein kleiner Bruder mochte es zwar ganz und gar nicht im Unklaren gelassen und wie ein Kind behandelt zu werden – und in vielen Fällen gab er einem auch keinen Anlass dazu –, aber zum jetzigen Zeitpunkt ging diese Sache nun einmal nur Devlin und ihn selbst etwas an. „Frag nicht, sondern iss lieber dein Frühstück, damit wir pünktlich loskommen!“ Er hatte immerhin noch etwas zu erledigen … Mokubas Miene verfinsterte sich. Na, wunderbar! Das hatte strenger geklungen, als er beabsichtigt hatte. Vollkommen ruhig setzte sich Seto mit einer neuen Tasse dampfenden Kaffees wieder an den Tisch und entließ ein leises Seufzen, bevor er seinen unverhohlen schmollenden Bruder direkt ansah. „Ich … habe während der Klassenfahrt nachgedacht, Mokuba. Wir haben wirklich schon lange nichts mehr unternommen.“ Mokubas Augenbrauen zogen sich skeptisch zusammen. Natürlich war der Kleine alles andere als dumm und wusste ebenso gut wie er selbst, dass es ein Ablenkungsmanöver war, gleichzeitig schien er die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme durchaus zu spüren. Schließlich hoben sich Mokubas Mundwinkel zu einem vorsichtigen Lächeln. „Stimmt auffallend! Aber du hattest auch echt viel um die Ohren in den letzten Monaten mit der neuen Duel Disk und so …“ Seto nickte, stellte den Kaffee ab und beugte sich ein wenig vor. „Was hältst du davon, wenn wir nächstes Wochenende einen Ausflug machen?“ Mokubas Gesicht hellte sich vollends wieder auf. „Klar doch! Wohin?“ Passend zu dem Buch auf Mokubas Nachttisch kam ihm auch das riesige Triceratops-Skelett in den Sinn, das ihn vor genau einer Woche auf diesen Gedanken gebracht hatte. „Ins … Naturkundemuseum?“ Die grauen Augen blitzten voller Vorfreude auf und der Kleine senkte fast schon verschwörerisch die Stimme: „Du meinst … Dinos angucken?“ Seto musste unweigerlich schmunzeln und nickte nur. „Oh ja!“ Mokubas Mundwinkel konnten unmöglich noch weiter nach oben wandern. In der Küche goss sich Duke seine erste Tasse Kaffee ein – endlich! – und konzentrierte sich für einen Moment voll auf das beruhigende Aroma und den Duft. Er nahm einige vorsichtige Schlucke, dann ging er zum Spiegel im Flur, um sich die Krawatte zu binden. Mit jeder weiteren Schlaufe schien sich auch sein Magen immer weiter zusammenzuziehen und schließlich vollends zu verknoten. Wahrscheinlich war es nicht dumm, noch eine Kleinigkeit zu essen. Zwar widerstrebte ihm im Augenblick eigentlich schon der bloße Gedanke, aber während des Meetings aus den Latschen zu kippen würde auch nicht den besten Eindruck machen. Leider hatte sich der Kühlschrank seit gestern Abend nicht von selbst wieder aufgefüllt, doch im Vorratsschrank fand sich neben ein paar Konservendosen Kokosmilch und einer Tüte Mehl immerhin noch ein einsamer Müsliriegel, den er vor ein paar Monaten gratis bei einer Werbeaktion in der Stadt zugesteckt bekommen hatte. Der Riegel war trocken, wurde beim Kauen in seinem Mund immer größer und schien jegliche Feuchtigkeit aufzusaugen, die er im Körper hatte, doch schließlich schaffte er es, wenigstens den ersten Bissen hinunterzuwürgen. Die beruhigende Wirkung des Kaffees ließ indes immer weiter nach. Nervös klopften seine Finger auf der Tasse herum, sein rechter Fuß tippte in schneller Frequenz auf den Fliesenboden. Diese Warterei machte ihn noch wahnsinnig, er wollte das alles endlich hinter sich haben! Vom In-der-Küche-Rumstehen verging die Zeit jedenfalls nicht schneller … vielleicht sollte er seine Präsentationsfolien noch einmal durchgehen … und in der Schule anrufen und sich für die ersten Stunden entschuldigen musste er auch noch! Mit dem Kaffee in der Hand ging er zum Schreibtisch, klappte schon einmal den Rechner auf und wählte nebenbei auf dem Handy die Nummer des Sekretariats. Die schwarze Limousine machte zuerst an Mokubas Schule Halt. Wie üblich verabschiedete Seto sich von seinem kleinen Bruder und war dankbar, dessen ‚unauffällige‘, prüfende Seitenblicke für die nächsten Stunden los zu sein. Etwas entspannter ließ er sich zurück in die weichen Sitzpolster sinken. Gleich würde Devlin den Umschlag bekommen, dann war diese ganze Sache ein für alle Mal aus der Welt. Er verschränkte die Arme vor der Brust, um das unruhige Kribbeln in seinem Bauch zu unterdrücken, und schloss für die restliche Dauer der Fahrt die Augen. Etwa zehn Minuten später hielt der Wagen vor der Domino High, Roland hielt ihm die Tür auf und ließ ihn aussteigen. Der Assistent öffnete gerade den Mund, um Seto wie üblich noch einen angenehmen Tag zu wünschen, da klingelte das Telefon in seiner Jackett-Tasche. Mit einem kurzen Nicken bedeutete Seto ihm, ruhig ranzugehen, wandte sich ab und spazierte gemessenen Schrittes durch das Schultor. Bis zum Beginn der Stunde hatte er noch etwa zehn Minuten Zeit, kein Grund zur Eile also. Auf dem Weg zum Eingang streiften seine Augen die Fahrradständer, suchten ganz beiläufig nach den mehr als auffälligen roten Felgen und Lenkergriffen. Seine Brauen zogen sich zusammen. Weder auf einen zweiten, noch einen dritten Blick wurde er fündig. Devlins Fahrrad fehlte. Vielleicht war er einfach spät dran? Aber im Normalfall saß der Kindergarten immer bereits vollzählig im Klassenzimmer, wenn er kam (von Wheeler vielleicht einmal abgesehen) … Seine Augen weiteten sich und er konnte nur knapp den Impuls unterdrücken, sich mit der flachen Hand auf die Stirn zu schlagen. Gott, was hatte diese Klassenfahrt nur mit ihm und seinen Gehirnzellen angestellt?! Wie angewurzelt blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Gerade nahm Roland das Handy vom Ohr und machte Anstalten einzusteigen. Verdammt! Seine Beine setzten sich wie von allein in Bewegung. Ohne auch nur einen Gedanken an die Außenwirkung zu verschwenden, rannte er so schnell er konnte zur Limousine zurück. Devlin hatte nur gesagt, dass er den Termin vor dem Vorstand heute hatte, nicht aber wann. Was, wenn es schon heute Morgen war, vielleicht schon um neun oder halb zehn?! Der Umschlag musste jetzt zu Devlin, sonst konnte es unter Umständen zu spät sein! Wenigstens blieb es ihm erspart, über den halben Schulhof zu brüllen, hatte Roland ihn doch glücklicherweise gesehen und war stehen geblieben; Verwirrung sprach nur zu deutlich aus seinem Blick. Und die würde gleich nicht kleiner werden, denn wie sollte Roland den Umschlag abliefern, wenn er gar keine Adresse hatte?! Wo zur Hölle wohnte Devlin? Er könnte Mokuba anrufen, wobei fraglich war, ob der es überhaupt wusste. In der Kundendatenbank der Firma stand vermutlich nur Devlins Geschäftsadresse … Was für Möglichkeiten gab es noch, um möglichst schnell herauszuf- … Unwillkürlich blieben seine Augen an einem nur allzu vertrauten Blondschopf hängen, der in diesem Moment in entgegengesetzter Richtung das Schultor durchquerte und ihm praktisch in die Arme lief. Hm. Wheeler wusste definitiv, wo Devlin wohnte … und es musste nun einmal schnell gehen. Darüber hinaus hatte der Köter ja durchaus auch keinen kleinen Anteil an der ganzen Misere! Er verlangsamte sein Tempo etwas und hielt genau auf Joey zu, dessen Stirn sich mit jedem Meter, den er näher kam, mehr in Falten legte. Kaum hatte Seto den Blonden erreicht, packte er ihn fest am Kragen und zerrte ihn mit sich. „Hey, was zur … ?!“ Joey versuchte sofort energisch sich freizukämpfen, strampelte, zerrte und schnappte nach seiner Hand, doch Setos Umklammerung war fest und unnachgiebig. „Klappe halten, mitkommen!“ „Was soll das, Geldsack?! Lass. mich. los!“, protestierte der Blonde lautstark und bereits leicht außer Atem von seinen vergeblichen Befreiungsbemühungen. Endlich bei dem noch immer sichtlich verwunderten Roland angekommen, machte Seto keinerlei Anstalten seinen Griff zu lockern. „Wheeler, wo wohnt Devlin?!“ Braune Augen sahen ihn erst völlig verdutzt an, dann verengten sie sich voller Misstrauen und unverhohlener Abneigung. „Sag ich dir doch nicht, Arschloch! Und warum willst du das überhaupt wissen, was soll der ganze Scheiß hier?! Willst du ihn jetzt noch komplett ruinieren?!“ Seto rollte mit den Augen und verstärkte seinen Griff noch einmal. „Nein, will ich nicht! Und jetzt spuck’ es schon aus, Köter!“ Joey verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. „Nicht bevor du mir nicht gesagt hast, was du vorhast!“ Mein Gott, musste man dem Köter denn wirklich alles ausbuchstabieren?! „Unter anderem auch die Konsequenzen deiner Dummheit verhindern!“, fauchte er Joey mehr als ungeduldig entgegen. Der Mund des Blonden öffnete sich, schloss sich wieder, öffnete sich noch einmal, nur um sich wieder zu schließen. Nicht eine Sekunde nahm er den Blick von Seto und schien am liebsten direkt in ihn hineinschauen zu wollen, um festzustellen, ob er wirklich die Wahrheit sagte. Schließlich seufzte er leise und murmelte eine Adresse. Seto sah zu seinem Assistenten, der das Schauspiel vollkommen ungerührt beobachtet hatte. „Haben Sie das verstanden, Roland?“ „Ja, Sir.“ „Gut.“ Ohne den Blonden eines weiteren Blickes zu würdigen, ließ er ihn unsanft los. „Zisch ab!“ Grummelnd klopfte sich Joey imaginären Staub von seiner Uniform, richtete sich zu voller Größe auf und trat mit drohendem Blick noch einmal etwas näher an ihn heran. „Glaub mir, Kaiba, wenn ich mitkriege, dass du Scheiße erzählt hast, dann bringen wir die Sache zu Ende, die wir im Wald angefangen haben, aber diesmal so richtig!“ Mit gesenktem Blick und leicht zusammengekniffenen Augen massierte Seto sich die Nasenwurzel. Merkte Wheeler denn wirklich immer noch nicht, wie … ach, egal. „Ich sagte, verzieh dich!“, wiederholte er seine Forderung mit etwas mehr Nachdruck, woraufhin Joey sich tatsächlich abwandte und wieder zurück in Richtung Schule ging. Nach nur wenigen Metern drehte er sich jedoch noch einmal um, lief ein paar Schritte rückwärts und deutete mit gestrecktem Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand mehrmals zwischen seinen Augen und Seto hin und her. Mit einem letzten Kopfschütteln wandte Seto sich endgültig seinem Assistenten zu und holte den Umschlag aus seiner Tasche. „Sie haben die Adresse gehört. Fahren Sie hin und geben Sie Devlin das hier!“ Eine Sekunde lang starrte Roland nur auf das braune Papier in seiner Hand und rührte sich nicht. „Sofort!“ Die absichtliche Kälte und Schärfe in seiner Stimme machte hoffentlich zur Genüge deutlich, dass er weder Widerspruch noch Verzögerung duldete. Wie erhofft nickte Roland sogleich gehorsam, stieg umgehend ins Auto ein und fuhr los. Mit einem leisen Seufzen drehte Seto sich um, ging nun ebenfalls zum Schulgebäude und warf einen prüfenden Blick auf seine Armbanduhr. 08:27 Uhr. Er hatte getan, was er konnte. Es lag nun nicht mehr in seiner Hand. Etwa einmal pro Minute. So oft schossen Dukes Augen mittlerweile zur oberen rechten Ecke des Bildschirms. Die drückende Enge in seiner Brust und in seiner Magengegend waren nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. (Hoffentlich hatte der ekelhafte Müsliriegel nichts damit zu tun!) 08:47 Uhr. Um neun startete der Termin, Zeit genug also für etwas mehr Kaffee. In der Küche angekommen tauschte er den Filter aus, öffnete die Kaffeedose und begann fast schon mechanisch, frisches Kaffeepulver in die Maschine zu schaufeln. Ein plötzliches, lautes Klingeln an der Haustür ließ ihn zusammenschrecken und den Kaffeelöffel beinahe quer durch die Küche werfen. Zum Glück konnte er es gerade noch verhindern, ließ den Löffel stattdessen in den Filter fallen und ging zur Gegensprechanlage. Wer wollte denn etwas von ihm und noch dazu um diese Zeit? Bestellt hatte er nichts und ein anderer Grund für eine so frühe, ach, für irgendeine Störung wollte ihm partout nicht einfallen. Vielleicht sollte er es einfach ignorieren. Er hatte gerade wirklich andere Sorgen! Noch ein Klingeln. Lauter, ausdauernder, nerviger. Vielleicht einfach jemand, der irgendwelche Werbeprospekte in die Briefkästen werfen wollte? Die wollten ja auch nur leben. Er entließ ein gedehntes Seufzen, öffnete, ohne den Hörer abzunehmen, und ging zurück in die Küche. Seine Hand schwebte schon über dem Kaffeefilter, um den Löffel wieder herauszuholen, als es ein drittes Mal klingelte, diesmal an der Wohnungstür. Da schien wirklich jemand etwas von ihm zu wollen! Wieder ging er in den Flur. Gott, hoffentlich war es nicht irgendjemand, der ihm einen neuen Internetvertrag oder so etwas aufschwatzen wollte und sich nicht abwimmeln ließ! Sollte er es doch ign-… Wieder ein Klingeln, laut und schrill in seinen Ohren. „Schon gut, schon gut, ich mach’ ja schon auf!“, knurrte er entnervt und öffnete. Vor ihm stand ein Mann im Anzug mit kurzen, schwarz-grauen Haaren und einem dünnen Schnurrbart, eine Sonnenbrille in der Brusttasche seines Jacketts. Dukes Augen weiteten sich, als er ihn zu erkennen glaubte. „S-sind Sie nicht…?!“ Ohne ihn zu begrüßen oder auf die unvollendete Frage einzugehen, hielt ihm der Mann einen kompakten, braunen Briefumschlag hin. „Ich soll Ihnen das hier von Mr. Kaiba geben.“ Mit starren Fingern nahm er die ‚Lieferung’ entgegen. „Danke?!“ Es war mehr Frage als Aussage. Kaibas Assistent – Roland war sein Name, wenn er sich recht erinnerte – nickte nur kurz angebunden und wünschte ihm noch einen angenehmen Tag, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und die Treppen wieder hinabstieg. Einen Moment lang blieb Duke noch in der offenen Tür stehen, dann schüttelte er den Kopf und trat wieder hinein. Was war das denn bitte gewesen? Sein Blick fiel auf den unbeschrifteten Umschlag in seiner Hand und er betrachtete ihn einmal von allen Seiten. Wenn Kaiba ihn jetzt auch noch verklagen wollte, waren seine Anwälte aber wirklich verdammt schnell! Leichte Übelkeit kroch seine Kehle hinauf. Mit fahrigen Bewegungen riss er die Lasche des Umschlags auf. Seine Hand glitt hinein, doch anstelle eines dicken Stapels Papiere fischte er nur zwei Dinge heraus: einen kleinen, gefalteten Zettel sowie einen silbernen USB-Stick mit eingeprägtem KC-Logo. Vorsichtig faltete er den Zettel auf und hielt unwillkürlich den Atem an. Die elegante, schwungvolle Handschrift war unverkennbar. Mach gefälligst was draus! SK Das Herz schlug ihm augenblicklich bis zum Hals. Bedeutete das etwa…? Er sprintete zum Schreibtisch und stolperte dabei beinahe über die Teppichkante. Seine Finger zitterten, sodass es ein paar quälend lange Sekunden dauerte, bis der Stick im USB-Slot steckte. Hektisch flog seine Hand über das Trackpad, um in die Dateiverwaltung zu gelangen. Nur zwei Dateien befanden sich auf dem Laufwerk. Er öffnete die erste – ein pdf – und scrollte sich im nächsten Moment durch eine ganze Reihe von detailliert am Computer ausgearbeiteten, colorierten Entwürfen für die DDM-Duel Disk. Seine Kinnlade klappte nach unten. Mit jeder weiteren Seite hämmerte sein Herz stärker gegen seinen Brustkorb. Ungläubig schüttelte er den Kopf und öffnete die zweite Datei. Ein zweites Fenster seines Präsentationsprogramms öffnete sich und schob seine eigene Präsentation in den Hintergrund. Die professionell gestalteten Folien zeigten ebenfalls die Entwürfe für die DDM-Duel-Disk, jedoch etwas einfacher aufbereitet und mit kurzen, verständlichen Anmerkungen zu verwendeten technologischen Komponenten und zum Design. Alles, was er darüber hinaus wissen und sagen musste, stand in den umfangreichen Moderatornotizen. „…Vorbehaltlich letzter Design-Änderungen könnte die Produktion bereits in weniger als drei Monaten starten.“, las er leise vor sich hin murmelnd den letzten Satz. Das … das war … Schwer atmend ließ sich Duke in seinen Bürostuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf dem Tisch auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Das erstickte, abgehackte Schnauben, das durch seine Finger und Handflächen drang, wurde immer lauter, bis er das halb erlöste, halb wahnsinnige Lachen nicht mehr länger zurückhalten konnte. Kapitel 30: You want me gone. (But I’ll stay.) ---------------------------------------------- Ping. Das Aufploppen der Terminerinnerung auf dem Desktop seines Rechners brachte Duke wieder zu sich. Nur noch fünf Minuten. Eine Entscheidung musste her, und zwar schnell: Würde seine eigene Idee einem direkten Vergleich mit der Duel Disk standhalten? Wohl eher nicht. Sollte er sie also verwerfen und nur die Duel Disk präsentieren? Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein, immerhin war es seine eigene Idee – vollkommen ehrlich und verdammt sinnvoll! – und die hatte es nicht verdient, einfach in der Schublade zu landen! Es gab mehr als genug Leute, die sich eine Duel Disk nicht mal eben leisten konnten. Außerdem würde er einen Teufel tun, sich einfach nur auf Kaibas Arbeit auszuruhen! Okay, dann also beides; seine Improvisationskünste waren ja in den vergangenen Tagen bereits ausführlichst trainiert worden. Und was wäre das Leben ohne ein bisschen Nervenkitzel?! Hastig verband er sein Bluetooth-Headset mit dem Computer, schmiss parallel einige seiner eigenen Folien aus der Präsentation, kopierte die prägnantesten von Kaiba hinein und schaffte es nebenbei irgendwie noch, sich in den Video-Call einzuwählen. Sein Herz hämmerte mit schweren Schlägen gegen seinen Brustkorb, während er im Vorschaubild der Kamera noch ein letztes Mal den Sitz seiner Krawatte überprüfte, dann klickte er auf den Button, der ihn in den Call einließ. Auf dem Bildschirm erschien ein großer, runder Tisch in einem von fast allen Seiten verglasten Konferenzraum, um den herum etwas mehr als zehn Männer und Frauen versammelt saßen und erwartungsvoll in seine Richtung starrten; scheinbar wurde sein Bild über einen Beamer oder großen Fernseher an der dem Tisch gegenüberliegenden Wand angezeigt. Pegasus dunkelroter Anzug stach zwischen den allseits grauen, schwarzen und dunkelblauen Jacketts mehr als deutlich heraus. Er saß etwas links der Mitte, in seinem Blick und seinem Lächeln lag eine ermutigende Wärme, welche die erdrückende Nervosität in Dukes Magen immerhin ein wenig linderte. „Meine Herrschaften, ich darf Ihnen Mr. Duke Devlin vorstellen, den Kopf hinter Dungeon Dice Monsters! Er wird Ihnen nun Möglichkeiten vorstellen, wie sich die unerwartet … betrübliche Entwicklung der Zahlen bei diesem so vielversprechenden Spiel hoffentlich in eine andere Richtung lenken lässt.“ Die Worte ‚betrübliche Entwicklung‘ schnitten sich tief in Dukes Brust, doch er schob den Schmerz beiseite, zwang ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht und nickte. Es war nun einmal eine Tatsache. Und er hatte die perfekte Lösung. Genau genommen sogar zwei. Von einer Sekunde auf die andere legte Max den lockeren Plauderton ab und wandte sich mit ernster, geschäftsmäßiger Miene direkt an ihn. „Mr. Devlin, Sie haben zwanzig Minuten für Ihre Präsentation. Danach nehmen wir uns noch …“, er sah auf seine Uhr, „zehn Minuten Zeit für Fragen. Sind alle einverstanden?“ Einhelliges Nicken ging durch das Rund der Vorstandsmitglieder. „Schön. Also dann: Mr. Devlin, Sie haben das Wort!“ Vorne an der Tafel referierte der Mathelehrer in seiner gewohnt monotonen Art über die grundlegenden Prinzipien der Integralrechnung. Nicht, dass es Seto besonders interessiert hätte, Gott bewahre! Gelegentlich wanderten seine Augen kurz zur Tafel, die meiste Zeit jedoch sprangen sie zwischen den verschiedenen Diagrammen und Tabellen auf seinem Laptop hin und her, ohne sich dabei länger als eine oder zwei Sekunden auf eine Sache fokussieren und damit den Zahlen und Linien irgendeinen Sinn abringen zu können. Zum wiederholten Mal warf er einen kurzen Seitenblick auf die Uhr an seinem Handgelenk. 09:03 Uhr. Was, wenn Roland im morgendlichen Berufsverkehr stecken geblieben war und es nicht rechtzeitig geschafft hatte? Minimales Kopfschütteln. Egal, nicht mehr sein Problem! Innerlich seufzend schloss er für einen Moment die Lider und massierte sich die Schläfen. Verdammt, es sollte doch alles wieder normal sein! Er sollte arbeiten und nebenbei mehr oder eben eher weniger aufmerksam dem Lehrer folgen, anstatt immer und immer wieder völlig ergebnislos dieselben komplett hypothetischen und damit sinnlosen Fragen zu wälzen! Vielleicht half es ja, sich zur Abwechslung einmal wirklich auf eine Sache zu konzentrieren … Er sperrte den Laptopbildschirm und richtete seine Aufmerksamkeit nach vorn an die Tafel, die bereits zu einem großen Teil mit Zahlen und Formeln gefüllt war. … Was würde Devlin ohne die Entwürfe tun? Sein Magen zog sich zusammen. Ach, wahrscheinlich hatte er sich auch selbst etwas ausgedacht. Devlin war niemand, der sich einfach so kampflos auseinandernehm- … „Mr. Kaiba, wenn Sie wohl ebenfalls die Güte hätten, ihr Buch auf Seite 137 aufzuschlagen, um die Aufgaben mitzurechnen?“, durchbrach die Stimme des Lehrers seine Gedanken. Seto warf ihm einen stechenden Blick zu und zog sichtlich widerstrebend das Mathebuch zu sich heran. Er konnte das doch ohnehin alles im Schlaf und der Mann wusste das! Warum musste er ihn trotzdem noch ermahnen?! Zwei Reihen weiter vorne wandten sich braune Augen schnell wieder von ihm ab und ebenfalls wieder dem Buch und der Tafel zu. Tze, wenn Wheeler glaubte, er habe den Blick nicht bemerkt – diese enervierende Mischung aus Spott, Neugier und derselben Skepsis wie heute Morgen vor dem Schultor – dann hatte er sich, wie so oft, getäuscht. Ach, sollte der Köter doch denken, was er wollte! „Das angepasste Spielbrett sowie die Box sind gleichermaßen kompakt, günstig in der Produktion und sollten damit auch preislich für alle Zielgruppen offen sein.“, endete Duke nach etwas mehr als fünfzehn Minuten und sah in die Runde. Vereinzeltes Nicken, niemand schaute offen entsetzt oder komplett abgeneigt. Trotzdem war die Stille erdrückend. Er kannte Pegasus mittlerweile lange genug, um zu wissen, was dessen verhalten freundlicher Gesichtsausdruck wirklich bedeutete: Er zweifelte, und zwar ernsthaft. Verdammt, er hatte sie nicht! Panik kroch in Dukes Brust hoch, doch er schluckte sie schnell wieder herunter und zwang sich ruhig weiter zu atmen. Alles war okay. Genau dafür war der zweite Teil vorgesehen und die Überraschung musste sitzen. Insofern spielte ihm die aktuell noch fehlende Begeisterung der Vorstandsmitglieder und Pegasus sogar in die Karten. Die würden schon noch Augen machen … Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben, sein Herzschlag beschleunigte sich. Dann mal los! „Meine Damen und Herren, ich ahne, was Sie jetzt denken: ‚Ein Spielbrett und eine Plastikbox! Wen soll das bitte dazu bringen, das Spiel neu zu kaufen?‘ und – ob Sie es glauben oder nicht – ich stimme Ihnen sogar zu.“ Er ließ eine kurze Pause, um seine Aussage wirken zu lassen. Mehrere Augenbrauen wanderten nach oben, Stirne legten sich in Falten. „Aber, Sie ahnen es vielleicht schon, ich bin noch nicht ganz am Ende angekommen.“ Alle Augen waren auf ihn gerichtet, einige Vorstandsmitglieder rutschten auf ihren Stühlen nach vorne, Pegasus Lippen umspielte ein vorfreudiges Schmunzeln. „Diesen Satz wollte ich schon immer mal in einer passenden Situation sagen und ich glaube, jetzt und hier ist meine Chance gekommen: There’s one more thing!“ Die etwas jüngeren unter den Vorstandsmitgliedern schienen die Referenz zu verstehen und nickten amüsiert, die anderen warteten einfach nur gespannt auf das, was kam. Er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit. „Meine Damen und Herren, worauf kommt es bei einem Spiel wie Dungeon Dice Monsters an? Im Grunde doch auf ähnliche Dinge, die auch für Duel Monsters wichtig sind: Dass man es wann immer und wo immer man möchte mit seinen Freunden spielen kann, an jedem beliebigen Ort. Würfel und ein Spielbrett sind – genau wie Karten – leicht zu transportieren und funktionieren nahezu überall. Eine gute alte, klassische Partie kann bereits eine unglaubliche Sogwirkung auf Spieler und Zuschauer entfalten, aber – und auch das hat die bisherige Erfahrung zweifelsfrei gezeigt – ist diese Wirkung ungleich größer, wenn aus dem Geschehen auf dem Spielbrett ein echtes Erlebnis wird: Wenn man das Dungeon wirklich sehen kann, wenn man sehen kann, wie sich statt lebloser Figuren riesige Monster vollkommen realistisch bewegen und miteinander kämpfen. Ein solches Erlebnis gibt es bereits! Allerdings nur in einer unserer vielen Arenen und nicht überall.“ Obwohl es nur ein Video-Call war, konnte er die geladene Stille in dem Konferenzraum förmlich spüren. Sein Finger schwebte über der Enter-Taste. Er nahm noch einen tiefen Atemzug und ließ den Blick einmal durch die gesamte Runde wandern. „Meine Damen und Herren, ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen, sondern präsentiere Ihnen …“ Entschlossen drückte er die Taste und schaltete damit auf die erste von Kaibas Folien. „… die Duel Disk für Dungeon Dice Monsters! Entworfen – und das sage ich nicht ohne Stolz – von Seto Kaiba persönlich!“ Kaum hatte es zur Pause geklingelt, klappte Seto seinen Laptop wieder auf, um sich wenigstens für ein paar Minuten ausschließlich auf seine Arbeit zu konzentrieren. 09:26 Uhr. Falls Devlins Termin wirklich um neun begonnen hatte, war er wahrscheinlich fast vorbei. In großen Vorstandssitzungen wurde selten länger als eine halbe Stunde über ein Thema diskutiert. Wenn dem so war, würde Devlin vermutlich in der nächsten Pause hier aufschlagen … Leichtes Flattern erfüllte seine Brust. … es sei denn natürlich, es war doch etwas schief gelaufen … Das Flattern erstarb, stattdessen schien ein schwerer Stein in seine Magengrube zu sinken. Erst das Klingeln zur nächsten Stunde brachte ihn vollends wieder zurück in die Gegenwart. Ihre Englisch-Lehrerin, Frau Yamamura, hatte sich vorne hinter dem Lehrertisch aufgebaut und musterte die Klasse, während sie noch letzte Materialien bereitlegte. Für einen Moment verharrten ihre Augen am unbesetzten zweiten Tisch der Fensterreihe. „Hm, Mr. Devlin ist heute für die ersten beiden Stunden entschuldigt, wie ich höre. Wie überaus bedauerlich!“ Ärger wallte in Seto auf. Ja doch, Devlin war nicht da! Warum konnte diese Frau das nicht einfach still zur Kenntnis nehmen, wie alle anderen auch?! Aber nein, natürlich konnte sie das nicht, die Gute hatte an Devlin ja einen besonderen Narren gefressen! ‚Das sagt man doch wirklich so, Mr. Devlin, oder?!‘ – er konnte es nicht mehr hören! Als würde man ihr nicht glauben, wenn es nicht von einem Muttersprachler bestätigt wurde! Auch Devlin war das Ganze mehr als unangenehmen und er hatte immer wieder versucht ihr zu vermitteln, dass er lediglich ein einzelner Amerikaner (‚Halb-Amerikaner!‘) aus der San Francisco Bay Area und nicht der lokale Botschafter aller englischsprachigen Menschen weltweit war, aber irgendwann hatte er es entnervt aufgegeben. Immerhin thematisierte sie Devlins Fehlen im weiteren Verlauf der Stunde nicht noch weiter, sondern konzentrierte sich ganz auf ihr geplantes Programm. Setos Blick hingegen streifte noch weit mehr als einmal den fraglichen Platz, während seine Füße immer wieder unruhig unter dem Tisch zu wackeln begannen. Himmel, es wurde wirklich höchste Zeit, dass Devlin hier aufschlug, diese Ungewissheit raubte ihm noch den letzten Nerv! Wenn er nur wusste, wie die Sache ausgegangen war, würde er endlich mit alldem abschließen und zum Alltag zurückkehren können. „Vorbehaltlich letzter Design-Änderungen könnte die Produktion schon in weniger als drei Monaten starten.“ Mit einem Klick beendete Duke die Präsentation, sodass die Vorstandsrunde wieder groß auf dem Bildschirm erschien. „Und mit dieser letzten guten Nachricht bin ich nun wirklich am Ende angekommen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!“ Einige Momente lang blieb es still am anderen Ende der Leitung, dann brach sich die Begeisterung in stetig anschwellendem Applaus Bahn. Dukes Augen suchten Max. Ein anerkennendes, ja, fast stolzes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er Duke zunickte. Überschwängliche Wärme breitete sich in Duke aus wie heiße Lava nach einem Vulkanausbruch. Pegasus sah auffordernd in die Runde der Anzugträger. Ein Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit ergrautem Kurzhaarschnitt räusperte sich und ergriff das Wort: „Nun, angesichts dieser Aussichten sind wir uns, denke ich, auch ohne eine eingehendere Beratung einig.“ Die meisten der anderen Vorstandsmitglieder nickten. „An der Auflage von Dungeon Dice Monsters wird sich vorerst nichts ändern – ganz im Gegenteil! Sollten die ersten Wochen zeigen, dass sich der Absatz dank dieser neuen Duel Disk so entwickelt, wie es zu erwarten ist, sollten wir wohl eher über eine Erhöhung nachdenken. Und in diesem Fall würden sicherlich auch die … analogen Mittel, die Sie vorgestellt haben, eine sinnvolle Ergänzung des Portfolios darstellen.“ Der Mann neigte anerkennend den Kopf. „Herzlichen Glückwunsch, Mr. Devlin! Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass Sie uns heute in jeder Hinsicht überrascht und begeistert haben! Pegasus, Sie tun gut daran, sich den jungen Mann warm zu halten!“ „Ich weiß, McMillan, ich weiß! Nichts anderes hatte ich vor.“, gab Pegasus gewohnt nonchalant zurück, dann sah er mit seinem verbliebenen Auge erneut zu Duke. „Mr. Devlin, vielen Dank! Ich werde mich spätestens morgen noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen, um die Details zu besprechen.“ „Ich habe zu danken! Dann erwarte ich Ihren Anruf und wünsche Ihnen allen einen schönen Abend!“ Noch ein letztes freundliches Lächeln in die Runde, dann schloss Duke mit einem Klick auf den roten Button das Anruffenster und der Raum sowie die Anzugträger verschwanden. Mit einem schweren Ausatmen ließ er sich im Bürostuhl nach hinten gegen die Lehne sinken und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Mundwinkel zogen machtvoll nach oben und für ein paar Momente lachte er halblaut in sich hinein. Er hatte es geschafft! Ach was, mehr als das! Dungeon Dice Monsters lebte nicht nur weiter, sondern würde vielleicht sogar noch größer! Beiläufig streifte sein Blick den USB-Stick an seinem Rechner. Die blaue LED darin blinkte rhythmisch und illuminierte das leicht durchscheinende Logo der Kaiba Corporation. Die überschwängliche Freude und sein Lachen erstarben. Ganz offensichtlich hatte Kaiba irgendeine Form von Einsehen gehabt. Aber warum auf einmal? Was hatte ihn zu diesem Sinneswandel bewogen? Und was bedeutete das? Für ihn, für sie, für … das Andere? Er schluckte, um die trügerische Flamme der Hoffnung, die augenblicklich in seiner Brust hochgezüngelt war, umgehend wieder zu ersticken. Besser nicht. Es war immer noch Kaiba – dieser elende, schwierige, komplizierte Sturkopf, in dessen Schuld er jetzt stand, und zwar big time. Er entließ ein leises Stöhnen und massierte sich die Schläfen. Ein einfaches ‚Danke‘ würde nicht einmal im Ansatz ausreichen. Andererseits: Irgendwo musste man ja anfangen. Und vielleicht, ganz vielleicht, ließ sich ja dabei noch herausfinden, ob … Er schüttelte den Kopf und seufzte. Ein Blick auf die Uhr riss ihn schlagartig aus seiner kurzen Trance. Scheiße! Wenn er noch pünktlich zum Beginn der dritten Stunde da sein wollte, musste er jetzt wirklich los! Ruckartig erhob er sich aus seinem Bürostuhl und hastete ins Schlafzimmer. Das schwarze Jackett landete achtlos auf dem Bett und wurde hektisch durch das der Schuluniform ersetzt. Den halboffenen Rucksack über einer Schulter sprintete er in den Flur, zog in Rekordgeschwindigkeit seine Schuhe an, schloss die Tür hinter sich und hetzte, zwei Stufen auf einmal nehmend, durch das Treppenhaus nach unten zu seinem Fahrrad. Das Pausenklingeln kam einer Erlösung gleich, jedoch keiner dauerhaften. Wieder entsperrte Seto den Computerbildschirm und begann sich erneut in seine Tabellenkalkulation hineinzudenken. Nach jeder Zeile, jedem Balken eines Diagramms huschte sein Blick zur Tür. Sein rechter Ringfinger trommelte in schnellem Rhythmus auf das Metall des Laptopgehäuses neben der Entertaste. Minuten vergingen. Das Klassenzimmer füllte sich stetig wieder, Stühle rückten, Rucksäcke raschelten, als Bücher daraus hervorgezogen wurden, immer mehr Schüler nahmen ihre Plätze wieder ein. 10:28 Uhr. Verdammt, gleich war die Pause vorbei! Wo zur Hölle blieb dieser … Eine Bewegung an der Tür. Setos Kopf schoss herum. Devlin stand leicht außer Atem im Türrahmen, die Uniform-Jacke offen, mit einem schwarzen Hemd und einer dunkelroten Krawatte darunter, deren Knoten sich leicht gelöst hatte. Seine Brust hob und senkte sich schnell; er musste die letzten Meter gerannt sein. Unauffällig ließ Seto seinen Blick weiter nach oben wandern. Gewissheit – mehr brauchte und wollte er nicht. Devlins Mimik war nicht zu entziffern, die sonst so ausdrucksstarken grünen Augen verrieten nichts – kein freudiges Aufblitzen, kein schelmisches Funkeln. Hieß das etwa … ? Sein Magen krampfte sich zusammen und schnell wandte er sich wieder den Zahlen in seiner Tabelle zu. Kaum eine Sekunde später nahm er aus dem Augenwinkel wahr, wie Devlins Gesicht sich aufhellte, seine Lippen sich zu einem breiten Grinsen verzogen und und er in Richtung seiner Freunde den Daumen nach oben reckte. Wie von einem scharfen Messer durchschnitten löste sich der Knoten in Setos Magengrube und seine Mundwinkel zuckten unfreiwillig nach oben. Also war doch alles gut gegangen. Was sollte man sagen, auf Roland war eben einfach Verlass. Über den Rand des Laptops hinweg folgten Setos Augen dem Schwarzhaarigen, der unter dem strengen Blick der Japanisch-Lehrerin zügig die Reihen zu seinem Platz durchquerte. Devlins Blick war leicht nach hinten gerichtet, die grünen Augen suchten die seinen. Sein Körper hatte offenbar noch immer nichts begriffen und reagierte augenblicklich mit jenem luftigen Flattern, doch es gelang ihm gerade noch rechtzeitig, den Impuls niederzukämpfen und den Blick nicht zu erwidern. Die Sache war vorbei, sie waren quitt. Das hoffnungsvolle Leuchten in den grünen Augen erstarb und augenblicklich wandte Devlin sich ab. Genau mit dem Klingeln zum Beginn der Stunde ließ er sich auf seinen Platz sinken und begann hastig auszupacken. Leise entließ Seto den Atem, den er offenbar unbewusst angehalten hatte und konnte sich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich auf die Tabelle vor sich konzentrieren. Auch fünf Minuten, nachdem er sich hingesetzt und alle seine Sachen aus dem Rucksack geholt hatte, schlug Dukes Herz noch immer wie wild – und es lag ganz sicher nicht mehr an seiner ziemlich halsbrecherischen Fahrt mit dem Rad zur Schule oder seinem Rekord-Sprint die Treppen hinauf zum Klassenzimmer. Die neugierigen Blicke seiner Freunde hatte er erwartet und ihnen schnell bedeuten wollen, dass alles gut gegangen war. Etwas in ihm hatte gehofft, ein Fünkchen derselben Neugier auch in Kaibas Augen aufglimmen zu sehen, doch Fehlanzeige. Keine Emotion hatte sich in den Zügen des Brünetten gespiegelt, er hatte kaum aufgesehen. Duke entfuhr ein leises Seufzen. Es war eben immer noch Kaiba. Die Instruktionen der Japanisch-Lehrerin rauschten an ihm vorbei, ohne, dass er sie wirklich wahrnahm und verarbeitete. Genau wie die anderen öffnete er das Buch und seinen Schreibblock, erkannte aber erst nach dem zweiten Absatz, dass er im völlig falschen Kapitel war. Mechanisch beantwortete er die Aufgaben, die ihnen die Lehrerin gestellt hatte, ohne jedoch hinterher noch zu wissen, wie genau die Sätze ihren Weg auf das Papier gefunden hatten. Er musste mit Kaiba reden, ungestört. Aber wie sollte er das anstellen? Was, wenn Kaiba überhaupt nicht mit ihm reden wollte? Am Ende betrachtete er sie als quitt und wollte einfach nur stillschweigend wieder zu ihrem normalen Umgang zurückkehren … so weit, so normal, so ‚eigentlich nichts miteinander zu tun‘. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Egal, und wenn schon! Ein Dank für die Rettung seines Spiels – seines Traums! – war das absolut mindeste und den würde er loswerden, koste es, was es wolle! Das Pausenklingeln ließ Duke unwillkürlich zusammenzucken, war es doch wesentlich schneller gekommen, als er erwartet hatte. Sein Puls beschleunigte sich. Sollte er es jetzt gleich tun? Dann hätte er es wenigstens hinter sich und diese verfluchte Nervosität wäre weg. Ein schneller Blick nach hinten: Kaiba tippte scheinbar konzentriert auf seinem Laptop herum. Dukes Gliedmaßen fühlten sich ungewöhnlich steif an, als er sich erhob – kein Wunder, wenn er die gesamte Stunde auch nur halb so verknotet dagesessen hatte, wie er sich innerlich fühlte. Gerade wollte er nach hinten gehen, da schoben sich mehrere Gestalten in seinen Weg: Yugi, Tea, Joey, Tristan und Ryou hatten ihn umringt und blickten ihn erwartungsvoll an. „Und? Jetzt erzähl schon!“, forderte Tristan ihn aufgeregt auf. „Es ist also gut gelaufen?“, schloss sich Tea an und Yugi ergänzte: „Obwohl die Entwürfe gefehlt haben?“ Noch einmal versuchte Duke einen Blick auf Kaiba zu erhaschen, doch Joey und Tristan versperrten ihm die Sicht, sodass er nur noch die braunen Haarspitzen seines eigentlichen Ziels erkennen konnte. Kurz sah er zu Boden und rieb sich mit der Hand den Nacken. „Sie … haben nicht gefehlt.“ Als er den Blick wieder hob, sah er in fragende Gesichter. „Sagen wir … als ich sie brauchte, waren sie da.“ Unauffällig neigte er den Kopf, um doch an seinen Freunden vorbei zu Kaiba spähen zu können. Der starrte in diesem Moment unzufrieden auf seinen Laptop und rieb sich schließlich einmal mit Daumen und Zeigefinger die Augen, gegen die leichten Ringe darunter half aber auch das nicht. „Mehr weiß ich selbst noch nicht.“, fügte Duke wieder an seine Freunde gewandt hinzu, in der Hoffnung, dass sie nicht weiter nachbohren würden. Mehr hätte er ihnen zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin nicht sagen können – über die Hintergründe wusste er nicht das Geringste, noch hatte er eine Ahnung, wo er nun eigentlich mit Kaiba stand. „Siehst du, ich habe doch gesagt, dass alles gut wird.“, lächelte Yugi. „Ja, das hast du.“, nickte Duke und schüttelte gleich darauf lächelnd den Kopf, „Wie auch immer du das jedes Mal anstellst …“ Joey kam noch einen Schritt näher auf ihn zu, kniff die Augen zusammen und kratzte sich am Hinterkopf. „Dude, sag mal, kommt mir das nur so vor oder siehst du irgendwie anders aus?!“ Dukes Hand krampfte sich fester um die Lehne seines Stuhls, die er noch immer festhielt. Joeys Frage brachte auch Tea dazu, ihn genauer zu mustern. „Stimmt, hast du vergessen, dich zu schminken?“ Am Ende hast ganz allein du die Macht, zu entscheiden, ob und wie du antwortest. Mit einem vorsichtigen Lächeln schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich … dachte, ich lasse es mal eine Weile weg. Es war nur noch eine Gewohnheit. Wenn ich irgendwann wieder Lust darauf habe, mache ich es vielleicht wieder, aber dann ist es eine bewusste Entscheidung.“ Sein Herzschlag beschleunigte sich, als auch Tea einen Schritt auf ihn zutrat. Beim Versuch zurückzuweichen, stieß er sich die Ferse schmerzhaft an einem der Stuhlbeine. Seine Augen weiteten sich, als Tea ihre Hand an sein Kinn legte und seinen Kopf einmal leicht nach links und rechts drehte. Er schluckte. Würde sie ihn auf die Narbe ansprechen? … Doch sie nickte nur anerkennend und ließ wieder von ihm ab. „Sehr gut, gefällt mir!“ Die anderen schlossen sich ihr an und das Gespräch floss wie von allein weiter: Zum gestrigen Abend sowie den vergangenen Stunden, und ehe Duke es sich versah, klingelte es erneut, sodass alle schnell an ihre Plätze zurückhuschten. Verdammt! Seine Hand schlug leise an die Stuhllehne, bevor er sich unverrichteter Dinge wieder hinsetzte. Aber vermutlich war die Mittagspause ohnehin besser geeignet … Wann immer seine Finger in der nächsten Dreiviertelstunde keiner schreibenden oder blätternden Beschäftigung nachzugehen hatten, trommelten sie leise sich stetig wiederholende Rhythmen auf die Tischplatte. Die Minuten zogen sich wie Kaugummi und gaben seinem Kopf so jede Menge Zeit, sich immer wieder auszumalen, auf welche Arten und Weisen das Gespräch gleich (schief-)laufen konnte. Jeden der sekundenlang aufglimmenden Hoffnungsschimmer, dass Kaiba der … Sache zwischen ihnen vielleicht noch eine zweite Chance zu geben gewillt war, redete er sich im nächsten Moment sofort wieder aus. Das stetige Auf und Ab war schlimmer als jede Achterbahn, mit der er jemals gefahren war. Kaum war der letzte Ton des Pausenklingelns verhallt, spähte er erneut nach hinten. Kaiba tippte konzentriert und machte noch keine Anstalten einzupacken, um nach draußen zu gehen. Das war seine Chance! „Kommst du?“ Diesmal war es an Ryou seinen Tunnelblick zu durchbrechen. Auch die anderen hatten bereits zusammengepackt und warteten nur noch auf ihn. Duke zwang ein Lächeln auf sein Gesicht und schüttelte leicht den Kopf. „Geht schon mal vor, ich komme gleich nach!“ Kurz schienen sie verwundert, dann aber winkten sie ihm noch einmal zu und folgten seiner Aufforderung. „Alles klar, du weißt ja, wo wir sind. Bis gleich!“ Duke nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er durch die Reihen der Tische nach hinten ging, wo Kaiba gerade den Laptop zuklappte und nach seiner Tasche griff. So selbstbewusst wie möglich baute er sich vor dem Tisch auf, obwohl sein Herz nahezu sekündlich zwischen Rasen und Stillstand wechselte. „Hey.“ Kaiba hielt in seiner Bewegung inne. Blaue Augen durchbohrten ihn mit einem Ausdruck irgendwo zwischen Ungeduld und Missbilligung und er musste unwillkürlich schlucken. „Können … wir kurz reden? Unter vier Augen?“ Für einen Moment schien Kaiba zu überlegen, dann jedoch nickte er sichtlich widerwillig, packte mit einem leisen Seufzen den Laptop in seine Tasche und erhob sich. Duke trat auf den Gang hinaus und hielt nach einem leeren Klassenzimmer Ausschau, in der stillen Hoffnung, dass Kaiba ihm auch tatsächlich folgen würde. Zwei Türen weiter links wurde er fündig und bedeutete dem Brünetten, der zum Glück tatsächlich hinter ihm war, einzutreten. Noch einmal ließ er den Blick prüfend über den Gang schweifen, um sicherzugehen, dass niemand ihnen größere Beachtung geschenkt hatte, dann zog er die Tür hinter ihnen zu. Mit weichen Knien und schwitzigen Händen trat er in den Raum. Kaiba saß bereits mit verschränkten Armen halb auf einem der mittleren Tische und sah ihn abwartend an. Dukes Kehle war staubtrocken und schien sich von Sekunde zu Sekunde weiter zuzuschnüren. Er lehnte sich ebenfalls an einen Tisch gegenüber von Kaiba und seine leicht zitternden Finger klammerten sich dankbar für einen Halt um die Tischkante. Endlich überwand er sich und stellte sich dem kalten, eindringlichen Blick seines schweigenden Gegenübers. „Danke!“ Er ließ das Wort einen Moment im Raum schweben, bevor er weitersprach: „Noch zehn Minuten vor dem Termin heute Morgen hab ich echt gedacht, ich müsste mein Spiel beerdigen!“ Seine Mundwinkel zogen zaghaft nach oben, als er noch immer leicht ungläubig den Kopf schüttelte. „Und dann steht auf einmal Roland vor meiner Tür und gibt mir diesen Umschlag! Ich konnte mein Glück echt kaum fassen! Die Entwürfe waren der absolute Hammer – der Vorstand und Pegasus waren hin und weg!“ Falls sich Kaiba über den Dank und das Lob freute oder darüber, dass es gut gelaufen war, dann zeigte er es nicht. Sein Gesicht blieb versteinert, seine Stimme eisig und schneidend. „Denk dir nicht zu viel dabei! Wenn sie dein Spiel eingestellt hätten, hätte das auch Umsatzverluste für mich bedeutet.“ Ein Schlag in die Magengrube. Enttäuschung breitete sich wie ätzende Säure in seinem Herz aus, doch er zwang sich zu nicken. „Das stimmt natürlich.“ Gott, er war so naiv! Hatte er denn ernsthaft geglaubt, dass die Entwürfe bedeuteten, alles wäre vergeben und vergessen?! Dass Seto Kaiba höchstselbst sich ernsthaft hinstellte und sagte, er habe sich nicht aus rein rationalen Beweggründen die Nacht um die Ohren geschlagen, sondern für ihn? Nach allem, was in den vergangenen Tagen zwischen ihnen passiert war?! Er schüttelte leicht den Kopf und zwang erneut ein minimales Lächeln auf sein Gesicht. „Naja, so oder so, danke auf jeden Fall nochmal!“ „War es das?!“ Kaiba erhob sich und machte Anstalten zu gehen. „Warte!“, stieß Duke alarmiert hervor und umklammerte reflexhaft Kaibas Handgelenk, um ihn zurückzuhalten. Die blauen Augen verengten sich drohend. Sofort ließ er wieder los, als habe er sich verbrannt und setzte leise hinzu: „Noch nicht ganz.“ Der Brünette rollte mit den Augen und ließ sich widerwillig zurück in seine Ausgangsposition sinken. Duke schluckte. Die Berührung kribbelte noch immer in seinen Fingerspitzen. Kurz knetete er seine Hände, um das Gefühl zu vertreiben und vergrub sie schließlich in seinen Hosentaschen, als es nicht gelang. Er nahm einen tiefen Atemzug, dann zwang er sich, sein Gegenüber erneut anzusehen und weiterzusprechen. Kaiba hatte ihn schon einmal verstanden – besser als die anderen –, warum sollte das nicht noch einmal funktionieren? „Ich … hab nicht nur dir und den anderen, sondern auch mir selbst die ganze Zeit etwas vorgemacht. Dich zu belügen war nicht alternativlos. Natürlich hätte ich eine andere Wahl gehabt; das weiß ich jetzt.“ Zum ersten Mal schien tatsächlich so etwas wie Interesse in den blauen Augen auf, sodass Duke sich beeilte, fortzufahren: „Weißt du noch, als wir vor ein paar Tagen über den Rabatt für meine Duell-Arena gesprochen haben? Du hast gesagt: ‚Liefere mir gute Argumente und ich bin der Letzte, der ablehnt.‘“ Die Erinnerung an ihre Nähe, die entspannte Vertrautheit ließ sein Herz flattern, doch er ignorierte es, so gut er konnte. Es kam jetzt auf jedes Wort an. „Genau das hätte ich tun sollen! Dir die Wahrheit sagen und dir dann gute Argumente liefern, warum du es trotzdem tun solltest. Aber dafür hätte ich mich wirklich mit den Gründen für die schlechten Zahlen auseinandersetzen müssen und …“, er biss sich auf die Unterlippe, „… davor hatte ich Angst. Angst, erkennen zu müssen, dass es meine eigene Schuld ist. Dass mein Spiel vielleicht doch schlechter ist, als ich immer dachte, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe oder noch mehr hätte tun können. Es zu verschweigen war so viel einfacher – zumindest im ersten Moment – aber nicht richtiger. Es tut mir leid, dass es so gelaufen ist! Vielleicht …“ Er hielt inne. Kaibas Augenbrauen wanderten erwartungsvoll nach oben. Sollte er es wirklich sagen?! Jetzt? Hier, in der Schule?! Fuck it, er hatte angefangen, dann konnte er es genauso gut auch noch zu Ende bringen! Mit bebendem Herzen sah er in die blauen Augen, die ihn noch immer distanziert, aber durchaus aufmerksam musterten. „Vielleicht hättest du mir dann ja auch … das andere geglaubt.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln und nervös rieb Duke sich mit der rechten Hand den Nacken. Sein Blick irrte ruhelos durch den Raum, über die leeren Tische hinweg, die bunten Schaubilder an den Wänden. Gott, er redete sich um Kopf und Kragen! Aber er musste es durchziehen! Er musste einfach! Wieder zwang er sich zu seinem Gegenüber aufzusehen und fuhr mit gesenkter Stimme, fast flüsternd, fort: „Ich … hatte wirklich keine Hintergedanken! Dass dieser Eindruck entstanden ist, tut mir vielleicht sogar noch mehr leid, als die Lüge selbst. Das … mit uns war neu und wirklich … besonders für mich. Und es hatte rein gar nichts mit diesem bescheuerten Projekt zu tun!“ Er seufzte tief und ließ sich vielleicht zum letzten Mal ganz bewusst in das tiefe Blau von Kaibas Augen ziehen. „Du warst der Erste und Einzige, dem ich gezeigt habe, wer ich wirklich bin. Ob du mir das nun glaubst oder nicht, liegt natürlich bei dir, aber ich wollte es zumindest nochmal gesagt haben. Auch, wenn ich vermute, dass es nach allem, was passiert ist, ohnehin keine Chance mehr hat.“ Kaiba wich seinem Blick aus und sah zu Boden. Das Kopfschütteln war kaum zu sehen, aber dennoch völlig eindeutig. Ein stechender Schmerz durchzuckte Dukes Brust. Er seufzte tief, dann nickte er. „Dachte ich mir.“ Er gab sich keine Mühe, die Enttäuschung in seiner Stimme zu verstecken, doch mit einiger Kraft gelang es ihm, seine Mundwinkel erneut zu einem schwachen Lächeln zu heben. „Falls du es dir doch anders überlegen solltest, weißt du ja, wo du mich finden kannst!“ Mit einem letzten Augenzwinkern stieß er sich von dem Tisch ab und wandte sich zum Gehen. „Also, deine Entwicklungsabteilung hört von mir!“ Ohne den Brünetten noch einmal anzusehen, hob er die Hand zu einem lockeren Gruß und verließ das Klassenzimmer. Wie betäubt stieg er die Treppen nach unten zum Schulhof. Er hatte es geschafft. Er hatte Kaiba gedankt und alles gesagt, was noch zu sagen war. Es war vorbei. Kapitel 31: All that we have left. (Is never like before.) ---------------------------------------------------------- Das Klingeln, das das Ende der letzten Stunde an diesem Dienstagnachmittag verkündete, kam für Seto einer Erlösung gleich. Zwar war er bereits gestern länger in der Firma geblieben, um einiges Liegengebliebene aufzuholen (und später aufgrund der durchgemachten Nacht zuvor binnen Sekunden eingeschlafen), aber es gab immer noch zu viel abzuarbeiten, als dass er auch nur eine Minute verlieren konnte. Devlin hatte er über den Tag bestmöglich auszublenden versucht, so wie er es auch generell mit allen anderen Mitschülern tat, und war von seiner Leistung nicht übermäßig enttäuscht. Die zwei oder drei kleinen Ausrutscher, die es gegeben hatte, waren der schlichten Tatsache geschuldet, dass Devlin nun einmal weiter vorne saß und man schließlich irgendwo hinschauen musste. Dass sein Blick vielleicht ein oder zwei Sekunden länger dort verweilt hatte … geschenkt. Dass sein Handgelenk noch jedes Mal leicht gekribbelt hatte dort, wo Devlin ihn gestern bei seiner kleinen Ansprache berührt hatte, war da schon weitaus unangenehmer. Aber auch das würde sich in den nächsten Tagen sicher noch legen. Vor dem Schultor erwartete ihn wie üblich bereits Roland mit der Limousine. Schnurstracks marschierte er über den Hof darauf zu und verlangsamte sein Tempo auch dann nicht, als er eilige Schritte und lautes Rufen hinter sich vernahm. „Hey! Hey, Kaiba! Warte!“ Oh nein, einfach weitergehen! Er hatte jetzt definitiv keine Zeit für … „Jetzt bleib doch mal stehen, verdammt!“ Die Schritte stoppten und eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Zähneknirschend blieb er stehen und fuhr herum. „Was willst du, Wheeler?!“ Verstohlen spähte Joey einmal nach links und rechts, so als wollte er sichergehen, dass niemand sie beobachtete. Dann öffnete er seinen Rucksack, zog etwas Längliches daraus hervor und hielt es Seto entgegen. „Das hab ich in der Jugendherberge aus dem Papierkorb gerettet.“ Unwillkürlich zog Seto scharf die Luft ein. „Und?! Willst du jetzt ein Leckerli dafür?! Was soll ich damit?“ Sofort schob er das nur allzu vertraute Ringbuch von sich. „Gib das Teil doch einfach deiner Schwester, das wolltest du doch ohnehin!“ „Sicher, aber …“, mit einem Kopfschütteln streckte Joey ihm den Block erneut hin, „er hat es nun mal nicht für sie, sondern für dich gek-“ „Ja, damit ich ihm den Hintern rette!“, fiel Seto ihm harscher ins Wort als geplant. „Was … du letzten Endes ja auch getan hast. Und als sein Freund, der das beinahe verhindert hätte, muss ich wohl oder übel sagen …“, an dieser Stelle schluckte Joey und wich seinem Blick aus, „Danke!“ Seto entfuhr ein kaum hörbares Schnauben. Warum um alles in der Welt ließ er sich nur immer und immer wieder in diese schmierige, kleine Freundschafts-Seifenoper hineinziehen?! Kraftvoll riss er Joey den dargebotenen Block aus der Hand. „So, zufrieden?! Und jetzt geh mir gefälligst aus dem Weg, im Gegensatz zu dir habe ich heute noch wichtige Dinge zu erledigen!“ „Aber gerne doch!“, fauchte Joey nun wieder gewohnt giftig, vergrub die Hände in den Hosentaschen und zog erhobenen Hauptes von dannen, als sei er gerade von einer schweren Last befreit worden. Mit einem letzten Kopfschütteln ließ Seto den Block in seiner Tasche verschwinden und ging endlich zur Limousine. Duke war gerade im Begriff, sein Fahrradschloss zu öffnen, als sein Handy in der Jackentasche zu vibrieren begann. Mühsam fischte er es mit einer Hand heraus, während er parallel weiter mit dem Schloss kämpfte, und warf einen Blick auf das Display. Pegasus? Jetzt?! In LA war es halb zwölf nachts … Hastig strich er mit dem Daumen nach rechts und klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter. „Hi Max, so spät noch wach?“ „Duke, mein Bester!“, tönte die vertraute Stimme aus dem Hörer, „Ja, ich habe soeben den letzten Pinselstrich an einem neuen Kartenmotiv gesetzt, da ist mir mit Schrecken eingefallen, dass ich mich noch gar nicht bei dir gemeldet habe! Heute Nachmittag war wirklich die Hölle los, nicht einmal ein paar Minuten für ein kurzes Telefonat und dabei hatte ich es dir doch versprochen! Wie dem auch sei, jetzt musste ich eben kurz rechnen und dachte mir, dass es für dich vermutlich gar keine so schlechte Zeit ist.“ Während Max so vor sich hin sprudelte, verstaute Duke das Schloss in seinen Rucksack, nahm das Telefon wieder in die Hand und ging, das Fahrrad mit der anderen Hand neben sich herschiebend, durch das Schultor. „Ach, kein Problem! Die Zeit ist wirklich gut, die Schule ist gerade vorbei.“ „Wunderbar, also dann zur Sache! Zuerst einmal muss ich dich natürlich noch einmal persönlich loben: Wirklich eine absolut grandiose Vorstellung vor dem Vorstand! Du weißt, wie man einen Spannungsbogen aufbaut!“ Unwillkürlich richtete Duke sich etwas mehr auf und seine Mundwinkel wanderten wie von selbst nach oben. „Eine Duel Disk für Dungeon Dice Monsters! Fantastisch! Wie bist du nur auf die Idee gekommen?“ „Ach naja, wie sowas immer läuft – ganz nebenbei. Joey hat ein paar Sachen gesagt, die mich auf den Gedanken gebracht haben.“ „Der junge Wheeler, ausgerechnet! Schön schön! Aber sag, wie hast du den guten Kaiba dazu bekommen da mitzumachen?“ „Es …“, er musste sich räuspern, sein Hals fühlte sich auf einmal sehr trocken an, „war nicht ganz einfach, das stimmt.“ „Ich kann doch aber hoffentlich davon ausgehen, dass er über die Umstände und die aktuelle Lage im Bilde ist?“, fragte Max jetzt in einem deutlich strengeren Ton. „Ja. Ja, das ist er.“ „Und trotzdem hat er sich beteiligt – wirklich erstaunlich!“ Eine kurze Pause entstand, in der Duke viel darum gegeben hätte, zu erfahren, welche Gedanken und Theorien wohl in diesem Moment im Kopf seines Gesprächspartners entstanden. „Nun gut,“ fuhr Max schließlich wieder in seinem lockeren Plauderton fort, „schließlich hängt für Kaiba ja auch kein ganz kleines Geschäft an DDM, nicht wahr?“ Denk dir nicht zu viel dabei! Wenn sie dein Spiel eingestellt hätten, hätte das auch Umsatzverluste für mich bedeutet. Dukes Herz krampfte sich zusammen. „Mhm.“ „Also, folgendermaßen geht es weiter: Ich werde mich im Laufe der nächsten Tage auch mit Kaiba in Verbindung setzen müssen, um die ersten offiziellen Gespräche anzustoßen. Ich nehme an, ihr beiden werdet die weitere Entwicklung sozusagen ‚auf dem kurzen Dienstweg‘ klären?“ Bitte kläre alles Weitere mit meiner Entwicklungsabteilung! Ich möchte damit nichts mehr zu tun haben! „Sicher.“ „Sehr gut, dann wirst du ja sozusagen automatisch auf dem Laufenden gehalten. Also, mein Lieber, ich muss jetzt wirklich in die Falle, morgen wird wieder ein langer Tag. Wir hören uns!“ „Gute Nacht, Max!“ Er hatte den Satz kaum beendet, da verriet das wiederholte Tuten schon, dass Pegasus aufgelegt hatte. Er ließ das Telefon zurück in die Jackentasche gleiten, schwang sich gedankenverloren auf sein Fahrrad und trat in die Pedale. Tja, aus dem ‚kurzen Dienstweg‘ würde wohl nichts mehr werden. Weder gestern noch heute hatte irgendeine Reaktion von Kaiba darauf schließen lassen, dass das, was er am Ende ihres Streits in der Herberge gesagt hatte, nicht mehr galt. Im Gegenteil, Kaiba hatte ihn nahezu vollständig ignoriert und er selbst war seinem eigenen Vorsatz gefolgt, das auf Gegenseitigkeit beruhen zu lassen – im eigenen Interesse und mit einigem Erfolg; immerhin hatte er den Vorteil, weiter vorne zu sitzen und damit sehr gut unter Kontrolle zu haben, ob er Kaiba sah oder nicht. Egal, dann musste er eben den offiziellen Weg über die Entwicklungsabteilung nehmen, sobald Pegasus alles Notwendige in die Wege geleitet hatte. Am Laden angekommen schloss Duke sein Fahrrad erneut an und trat durch die gläserne Eingangstür, im Kopf schon einen genauen Plan, was heute noch alles zu tun war. Bereits gestern hatten ihn die Hektik und das Gewusel äußerst effektiv auf andere Gedanken gebracht, sodass er abends nur noch ins Bett gefallen war und geschlafen hatte wie ein Stein (sicherlich auch dank der durchgemachten Nacht zuvor). Hoffentlich funktionierte diese Strategie heute wieder – je länger er nicht an Kaiba und die Duel Disk denken musste, desto besser. Nach dem obligatorischen Abendessen mit Mokuba ging Seto nach oben in sein Arbeitszimmer, um dem prall mit Meetings gefüllten Nachmittag im Büro noch ein paar Stunden wirklich konzentrierter Arbeit folgen zu lassen. Routiniert öffnete er seine Tasche und entnahm ihr den Laptop sowie ein paar Mappen mit Berichten, die er noch zu prüfen hatte. Gerade wollte er sie wieder auf den Boden stellen, da fiel sein Blick auf das hinterste Fach und dessen Inhalt. Mit spitzen Fingern zog er das Ringbuch heraus; die kleinen, neon-orangenen Triceratops leuchteten grell im Licht seiner Schreibtischlampe. Oh nein, sag nicht, du hättest doch lieber den Stegosaurus gehabt! … das schelmische Funkeln in Devlins grünen Augen … Ach, und Kaiba … danke! … das Lächeln, mit dem diese ganze desaströse Geschichte überhaupt erst begonnen hatte … Mit einem entschiedenen Kopfschütteln vertrieb er die Erinnerungen, streckte seinen Arm lang nach rechts aus und ließ den Block einige Sekunden lang genussvoll über dem Papierkorb schweben. Bilder der nächsten Sekunden zogen vor seinem geistigen Auge vorbei: wie seine Finger sich einer nach dem anderen lösten, der Block mit einem befriedigenden, dumpfen Klong auf den Boden des Papierkorbs traf und die schwere Last damit auch von ihm abfiel. … Doch seine Finger bewegten sich nicht. Standhaft verweigerten sie sich seinem Kommando und hielten das Ringbuch weiter fest umklammert. Auch ein tiefes Ein- und Ausatmen löste die Blockade nicht, sodass ihm nach zwei weiteren vergeblichen Versuchen des Loslassens nichts anderes übrigblieb, als seine Hand unverrichteter Dinge zurückzuziehen. Drohend starrte er das Cover an, als könnten die Triceratops irgendetwas für das, was gerade passiert (oder vielmehr nicht passiert) war. Er ließ das Buch achtlos auf den Tisch fallen und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn. Kaum hatte er die Augen wieder geöffnet, blickten ihn die winzigen Dinos von Neuem mit ihren freundlichen, schwarzen Knopfaugen an. Er konnte diese bescheuerten Dinger nicht mehr sehen, verdammt! Lächerliche Karikaturen, kein Vergleich mit einem richtigen Triceratops, wie er im Museum gestanden hatte, oder wie er auf dem Cover von „Die Dinosaurier und ihre Welt“ ... Moment! Nachdenklich strich er sich mit der Hand übers Kinn. Hm, eigentlich gar keine schlechte Idee … Der Bürostuhl federte sanft nach, als er sich erhob und mit dem Block in der Hand aus dem Zimmer und quer über den Flur ging. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe! Erst würde er seinem kleinen Bruder eine Freude machen und dann, vielleicht schon in ein paar Tagen, würde das verfluchte Ding in dem Bermuda-Dreieck, das Mokubas Zimmer war, verschollen sein! Auf nimmer Wiedersehen! Ein letztes Mal betrachtete er das Notizbuch, um die bevorstehende Erlösung angemessen würdigen zu können. Das dämliche Dino-Muster. Ist das dein Ernst?! Die Eselsohren und eingeknickten Ecken. Selbst ein Blinder hätte sehen können, mit welcher Hingabe du dich in den letzten Tagen in das hier eingegraben hast. Die verbogenen Ringe und langen Kratzer auf der Oberfläche. Da hast du deine verdammten Entwürfe, Devlin! Mit einem kaum hörbaren Seufzen ließ er die Hand, die er bereits zum Klopfen erhoben hatte, sinken, ging zurück ins Arbeitszimmer und ließ den Block still und leise in der kaum benutzten untersten Schublade seines Schreibtischs verschwinden. Einige Stunden sowie zahlreiche Berichte, Tabellenkalkulationen und E-Mails später trat Seto in T-Shirt und Pyjamahose aus dem Bad, schloss das Fenster und die Vorhänge und legte sich erschöpft, aber im Rahmen der Möglichkeiten zufrieden ins Bett. Nur noch morgen, dann war der Klassenfahrt-bedingte Rückstand endlich aufgeholt! Wie üblich kontrollierte er noch ein letztes Mal den Wecker, bevor er sich zudeckte und seine Augen erneut wie von allein zufielen. Er saß an seinem Platz in der Schule, wie üblich tief in Arbeit vergraben: Die Präsentation für die Aufsichtsratssitzung war schon so gut wie fertig. Im Klassenzimmer war es ruhig; kein Wunder, war er doch vollkommen allein. Plötzlich eine Bewegung irgendwo im Hintergrund. Er sah vom Laptop auf. Eine verschwommene Gestalt kam durch die leeren Reihen auf ihn zu und blieb schließlich genau vor seinem Tisch stehen. Er hob den Kopf, um zu sehen, wer es war, und blickte in leuchtend grüne Augen. Devlin legte den Dino-Block vor ihm auf den Tisch und schob ihn demonstrativ in seine Richtung. „Danke nochmal – für alles!“ Ein rätselhaftes Lächeln umspielte Devlins Lippen und eine Sekunde lang verharrte seine Hand noch auf dem Einband, bevor er sich mit einem letzten, vielsagenden Augenzwinkern umdrehte und ging. Mit jedem Meter, den Devlin sich entfernte, schnürte sich Setos Kehle ein kleines Stück mehr zu. Die Tabellenkalkulation mit den Umsatzzahlen starrte ihm vorwurfsvoll entgegen, Devlin war schon fast außer Sichtweite. Ohne weiter darüber nachzudenken, schloss er den Laptop, stand auf und folgte Devlin – aus dem Klassenzimmer hinaus, ein Stück über den Gang und in ein anderes Klassenzimmer. Seto hatte kaum einen Fuß hineingesetzt, da hatte sich der Raum bereits verändert: Statt Linoleum war der Boden von grauem Teppich bedeckt, links standen keine niedrigen Regale mit Schulbüchern, sondern ein kleiner Tisch und zwei Stühle, an der Wand schräg vor ihm zwei hohe Schränke und rechts statt Tafel und Lehrertisch nur ein Bett. Seine Augen weiteten sich. Das Zimmer aus der Herberge! Das Geräusch der Zimmertür, die geschlossen wurde, ließ ihn herumfahren. Wie zum Teufel war Devlin hinter ihn gelangt, ohne dass er es bemerkt hatte? Die grünen Augen unverwandt auf ihn gerichtet, trat Devlin von der Tür weg und auf ihn zu. Ein Schritt. Noch einer. Näher, immer näher. Sein Herzschlag beschleunigte sich, in seinem Bauch hob ein Kribbeln an, das sich immer weiter in Richtung seiner Körpermitte fortpflanzte. Devlin ergriff seine Hand und zog ihn weg von der Tür weiter in den Raum. Sein Kopf war vollkommen leergefegt. Smaragdfarbene Augen sahen mitten in ihn hinein. Es gab nichts zu sagen, zu gestehen, zu beichten. Devlin wusste alles – er wusste nichts. Devlin hatte die Kontrolle – er hatte keine. Mit einem Mal presste sich Devlin an ihn und der plötzliche Kontakt vernebelte Seto vollends die Sinne. Seinem ersten, unmittelbaren Impuls folgend beugte er sich nach unten und verschloss Devlins Lippen mit seinen – überstürzt und ausgehungert, als hinge sein Leben davon ab – und eine elektrische Spannung schien mit einem Mal durch seinen gesamten Körper zu fließen, von seinen Zehen- bis hinauf in seine Haarspitzen. Aufhören war keine Option. Er wollte das. Er wollte ihn. Wann auch immer Devlin seinen Haargummi herausgemacht hatte, Seto hatte es nicht mitbekommen. Jetzt jedenfalls waren die langen, schwarzen Haare offen und genussvoll vergrub er seine Finger in den weichen Strähnen. Ein Hauch ihres leichten, fruchtigen Dufts stieg ihm in die Nase – noch immer aufregend neu und doch irgendwie vertraut, eine verblasste, undeutliche Erinnerung an die Geborgenheit früherer Zeiten. Ein leises Keuchen entwich ihm, als Devlin überraschend ihren Kuss löste, um sich das T-Shirt auszuziehen. Es war kaum auf Boden angekommen, da waren Devlins flinke Finger bereits damit beschäftigt, Knopf um Knopf sein eigenes Hemd zu öffnen und es aufreizend langsam von seinen Schultern zu schieben. Wieder fand Devlins Hand die seine, zog ihn mit sich auf das Bett und in einen erneuten, intensiven Kuss. Dass das Bett auf einmal viel mehr seinem eigenen glich als dem in der Herberge, beachtete er schon gar nicht mehr. Devlins Zunge strich fordernd über seine Lippen und noch immer leicht überrumpelt öffnete Seto den Mund und ließ ihn gewähren. Fordernd wanderten Devlins Hände in seinen Nacken, zogen ihn noch enger an sich, dann weiter nach unten über seinen Hals, seine Schultern, seine Flanken, bis Devlins Arme ihn schließlich komplett umfingen und ihn alles außerhalb vergessen ließen. Wie von allein machten sich auch seine eigenen Hände auf die Reise, erkundeten Devlins Brust, Bauchmuskeln, Hüften. Seine Lippen folgten, glitten sanft über Devlins Wange, streiften dabei kurz die Narbe unter dem linken Auge, hauchten federleichte Küsse an Devlins Hals hinab und an seinem rechten Schlüsselbein entlang. Ein Beben ging durch Devlins Oberkörper und verstärkte das zunehmend unnachgiebigere Pochen in Setos Schritt noch. Als hätte Devlin es gespürt oder gewusst, wanderte seine Hand genau dorthin (Wann hatten sie eigentlich die Hosen ausgezogen?!) und begann mit gekonnten Bewegungen darüber zu streichen und zu massieren. Sämtliche bewussten Gedanken waren restlos aus Setos Kopf verschwunden, alle Mauern zerbröckelt. Er ließ sich einfach fallen, stöhnte gepresst auf und … … öffnete die Augen. Alles war schwarz. Nur sein eigener schwerer Atem erfüllte den Raum. Er war allein. Mit beiden Händen rieb er sich über das erhitzte Gesicht. Bilder des soeben Geträumten flimmerten vor seinem geistigen Auge auf und die Reaktion seines Körpers ließ nicht lange auf sich warten. Seine rechte Hand ballte sich zur Faust und schlug hart auf die Matratze. Verdammt! Er kniff die Augen zusammen und sah sofort wieder den halbnackten Devlin vor sich, wie er unter ihm lag, ein leicht verruchtes Grinsen auf den Lippen. Devlins Muskeln spannten sich und nur einen Augenblick später hatte er ihre Positionen vertauscht. Erinnerungen mischten sich unter die Traumbilder. Zögerlich wanderte Setos rechte Hand nach unten, Zentimeter für Zentimeter, und verschwand schließlich im Bund seiner Pyjamahose. Als Duke am nächsten Morgen zur Schule kam, erwarteten ihn seine Freunde bereits am Eingang zur Sporthalle. Auf sein „Hey, Leute!“ bekam er allseits ein „Morgen!“ zurück, dann kehrte das Gespräch, das er unterbrochen hatte, wieder zu seinem ursprünglichen Lauf zurück. „Wie war es eigentlich gestern im Kino? War der Film gut?“, erkundigte sich Yugi bei Tristan, während sie alle gemeinsam die Turnhalle betraten. „Stimmt, was habt ihr überhaupt gesehen?“, fügte Tea noch hinzu, bevor Tristan antworten konnte. „Diesen Fantasy-Film mit dem einen Schauspieler, auf den alle Mädchen gerade so abfahren.“ „Ach den! ‚Legenden von … Andoria‘ oder so ähnlich.“ „Ja genau. War nicht gerade ein Meisterwerk, wenn ihr mich fragt, aber Serenity hat’s gefallen, das ist die Hauptsache.“ Dukes Eingeweide verknoteten sich augenblicklich. Gestern Nachmittag hatte Serenity ihn angerufen, um zu sagen, wie schade sie es fand, dass er nicht mitkommen konnte, und dass er hoffentlich bald nicht mehr so viel zu tun haben würde. Schweren Herzens hatte er ihr erwidert, dass es leider im Moment nicht danach aussähe, und dass sie sich einen schönen Abend mit Tristan machen sollte. Beim Abschied war die Irritation in ihrer Stimme deutlich zu hören gewesen, aber es nützte nun einmal nichts. Seine Entscheidung war endgültig. In der Jungenumkleide sicherte sich Duke wie immer seinen Stammplatz, kramte seine Sportsachen aus der Tasche und begann sich umzuziehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Tristan neben ihm sich einmal verschwörerisch umblickte, anscheinend um sicherzustellen, dass Joey ihnen gerade keine Beachtung schenkte, und sich dann etwas näher zu ihm beugte. „Alter, du hast ja keine Ahnung, was du gestern hast sausen lassen! Immer, wenn es aufregend oder gefährlich wurde, ist Serenity ganz nahe an mich rangerückt und als dann die Kuss-Szene kam, hab ich sogar meinen Arm um sie gelegt! Und sie ist nicht weggezuckt, sondern hat sich richtig an mich rangekuschelt! Ich sag dir, Mann, am Ende des Films hatte sie den blöden Schauspieler komplett vergessen!“ Schnell zog Duke sich sein Sportshirt über den Kopf, um sein Augenrollen zu verbergen. „… und dich vermutlich gleich mit!“ Als Tristan ihn lachend in die Seite knuffte, zuckte er zusammen und konnte eine genervten Laut nur knapp unterdrücken. „Freut mich für dich!“, gab er stattdessen nur kurz angebunden zurück und wandte sich ab, um auch noch seine Turnschuhe aus der Sporttasche zu holen. Musste ihm Tristan das denn alles so haarklein unter die Nase reiben?! Konnte er sich nicht einfach still freuen, dass er Serenity jetzt für sich hatte?! Unsanft landeten die Schuhe auf dem Fliesenboden. Nicht, dass er Tristan das Glück nicht gönnte – genau das hatte er ja beabsichtigt – aber das bedeutete doch noch lange nicht, dass er in allen Einzelheiten darüber informiert werden wollte! Ohne einen weiteren Kommentar zog Duke sich die Schuhe an und verließ noch vor den anderen die Umkleide. Mit einem lauten Pfiff begann ihr Sportlehrer, Herr Nokita, wenige Minuten später offiziell die Stunde. „Also, Herrschaften, heute steht die letzte Einheit Basketball auf dem Plan, bevor wir dann nächste Woche die Leistungskontrollen und die finalen Spiele durchführen werden. Nutzen Sie die Gelegenheit noch einmal, sich vorzubereiten und Ihr Bestes zu geben! Zur Aufwärmung bitte einmal zehn Runden um die Außenlinie!“ Genau wie die anderen startete auch Duke in einem lockeren Joggingschritt, in den Tristan sogleich einfiel und sich neben ihn gesellte – die bohrenden Seitenblicke waren beinahe körperlich spürbar. Ja sicher, er hatte nicht geplant, vorhin so schnippisch zu reagieren, aber es war nun einmal passiert! Konnte Tristan sich denn nicht denken, dass er nichts von alldem hören wollte, und es einfach auf sich beruhen lassen?! Sie begannen gerade ihre zweite Runde, da nahm er am Rande eine Bewegung an der Hallentür wahr. Kaiba betrat leicht verspätet die Halle und reihte sich mit etwas Abstand ganz ans Ende der Schülerkolonne ein. Sofort wandte Duke seinen Blick stoisch zurück nach vorne und war mehr als dankbar, dass Tristan ihn nach wie vor in Frieden ließ. Der kurzen Aufwärmung folgte eine lange Reihe von Übungen zur Vorbereitung auf die einzelnen Kontrollen, bevor schließlich gegen Ende der Stunde Mannschaften für ein kurzes Zwanzig-Minuten-Spiel eingeteilt wurden. Die beiden Mädchen-Mannschaften sollten gegeneinander auf den linken Korb spielen, die Jungen auf den rechten – jeweils zwei gegen zwei, damit Herr Nokita als Schiedsrichter noch einigermaßen die Übersicht über beide Spiele behalten und Verbesserungsvorschläge geben konnte. Alle paar Minuten sollten die Spieler ausgewechselt werden, sodass am Ende jeder mindestens einmal die Gelegenheit zum Spielen gehabt hatte. Duke hatte keine großen Ambitionen als erster oder überhaupt auf dem Feld aufzulaufen, während Tristans Enthusiasmus wieder mal vom Lehrer gebremst werden musste („Taylor, die Schüler zu trainieren ist hier immer noch meine Aufgabe!“). So zogen die Minuten unaufhaltsam dahin, bis fast jeder schon einmal dran gewesen war. Für ihre Mannschaft hatten soeben noch Yugi und – schon zum zweiten Mal – Tristan gespielt, und nachdem letzterer schließlich vehement vom Feld beordert wurde, hatte Duke als Letzter keine andere Wahl mehr. Fälschlicherweise war er davon ausgegangen, gegen Joey und Shuichi ranzumüssen, doch auch im anderen Team, das er bis jetzt gar nicht weiter beachtet hatte, wurde noch einmal gewechselt. Joey passte ihm den Ball zu und ging zur Seite, sodass Duke sich suchend nach der Person umsah, die stattdessen spielen würde. Sämtliche Muskeln in seinem Körper spannten sich, als er sah, wie Kaiba von der Bank aufstand und lustlos auf das Spielfeld trottete. Na wunderbar, so viel also zum Thema „Kaiba ignorieren“! Herr Nokita pfiff und das Spiel ging umgehend weiter. Duke begann langsam zu dribbeln und blickte immer wieder hinüber zu seinem Teamkollegen Yugi, um zu prüfen, ob er gefahrlos abspielen konnte. Der wurde jedoch von Shuichi mehr als gut gedeckt, was angesichts seiner Körpergröße zugegeben nicht besonders schwer war. (Ein Grund mehr, warum Yugi Ballsportarten allgemein und Basketball im Besonderen ganz und gar nicht mochte.) Es nützte also nichts, Duke musste den Ball vorerst behalten und nach Möglichkeit Abstand zu Kaiba halten. Letzterer hatte zwar noch keine Defensiv-Haltung eingenommen, beobachtete jedoch jede seiner Bewegungen ganz genau, um – daran bestand kein Zweifel – sofort reagieren zu können, sobald er einen Angriff starten würde. Unfreiwillig musste Duke an eine Naturdokumentation denken, die er während eines Messebesuchs in Tokyo zufällig auf dem Hotelfernseher gesehen hatte: Genau wie die zwei verfeindeten Löwen in der Savanne umkreisten sie einander und schienen nur auf den passenden Moment zu warten, um vorzuschnellen und zuzuschlagen. Einige Sekunden lang war nur das gleichförmige Aufprallen des Balles auf dem Parkett der Halle zu hören, dann setzte Duke sich blitzschnell in Bewegung und rannte in Richtung Korb. Wie erwartet reagierte Kaiba sofort und versuchte ihm den Weg abzuschneiden. Sieh an, diesmal war der werte Herr also gleich bei der Sache! Für einen Moment war Seto tatsächlich überrascht, doch er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich zwischen Devlin und den Korb zu stellen. Devlin stand unmittelbar vor ihm, grüne Augen blitzten ihn herausfordernd an. Jeder Handwechsel des Balls, jede noch so kleine Bewegung Devlins löste einen minimalen Luftzug aus, den er deutlich auf der nackten Haut seiner Arme spüren konnte und der ihm beständig einen vertrauten Geruch in die Nase wehte: nach Zitrone und … Meer. Er blinzelte und schüttelte kaum merklich den Kopf, um die unweigerlich auftauchenden Bilder im Keim zu ersticken. Die kurze Unaufmerksamkeit rächte sich prompt: Mit einer geschickten Drehung überwand Devlin seine Deckung und Seto konnte nurmehr dabei zusehen, wie der Ball durch den Ring flog. Seine Hand ballte sich zur Faust. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Als Duke Kaiba kraftvoll den Ball zuwarf, lag ein gewisses, kämpferisches Funkeln in dessen Blick. Noch stand er zwar nahe am Außenkreis und damit weit vom Korb entfernt, doch wie man letzte Woche nur zu deutlich gesehen hatte, war Kaiba auch aus der Distanz durchaus gefährlich, sodass Duke umgehend zu ihm aufschloss, um ihm die Sicht auf den Korb zu versperren und seinen Wurfarm zu blockieren. Doch dieses Mal war es anders. Wie ein Tsunami brachen die Eindrücke alle gleichzeitig über Duke hinein: die Wärme, die von Kaibas Körper ausging, die kalte Entschlossenheit in den blauen Augen, seine schiere, die aller anderen Menschen in dieser Halle weit überragende Präsenz. Dukes Herz begann schneller zu schlagen. Oh nein, nicht jetzt! Nicht schon wieder beim Basketball! Schnell konzentrierte er sich wieder auf das Hier und Jetzt, die Bewegungen seines Gegners und den Ball, doch es war bereits zu spät: Kaiba hatte links angetäuscht, er war, noch immer in Gedanken, der Bewegung reflexhaft gefolgt, sodass Kaiba rechts an ihm vorbeiziehen, ausholen und trotz einiger Meter Entfernung vom Korb einen zielgenauen Treffer landen konnte. Fuck! Dukes Kiefer verkrampfte sich, so fest presste er die Zähne zusammen. Ohne Umschweife sprintete er nach vorn, schnappte sich den Ball und ging nahtlos zum nächsten Angriff über. Genauso hatte dieser ganze Scheiß vor einer Woche angefangen! Er war doch im Rahmen seiner Möglichkeiten glücklich gewesen! Mit seinem Leben, den Mädchen, Serenity! Aber nein, dann musste Kaiba kommen und alles kaputt machen, mit seinem verdammten Duft, seiner überraschenden Verletzlichkeit, seinem beschissenen Verständnis! Mit mehr Nachdruck als zuvor prellte er den Ball auf den Turnhallenboden. Wäre das alles nicht gewesen – wäre Kaiba nicht gewesen –, dann wäre er gestern mit Serenity ins Kino gegangen, er hätte den Arm um sie gelegt, an ihn hätte sie sich gekuschelt! Die Welt um ihn herum war verschwunden, es gab nur noch ihn und Kaiba und den Ball. Mit fast schon schlafwandlerischer Sicherheit manövrierte er sich an Kaiba vorbei und landete einen nahezu perfekten Korbleger. Seto entging keineswegs, wie sich Devlins Bewegungen, sein Wurf, ja sein ganzes Spiel praktisch von einer Sekunde auf die andere veränderten und mit einem Mal eine gewisse Härte und spürbare Aggressivität bekamen. War Devlin etwa sauer?! Auf ihn?! Was erlaubte sich dieser Kerl eigentlich?! Wenn hier jemand das Recht hatte, sauer zu sein, dann doch wohl er selbst! Hatte er sich nicht erst vorgestern eine ganze Nacht für Devlin um die Ohren geschlagen?! Und war er nicht heute Morgen schon wieder völlig zerstört aufgewacht, nachdem er sich die halbe Nacht von einer Seite auf die andere gewälzt hatte, den Kopf voller wirrer Gedanken und halbverzerrter Traumbilder?! Weil er Devlin einfach nicht aus dem Kopf bekam, mit seinen verdammten Augen, seinem verfluchten Lächeln, seiner unheimlichen Wärme und Offenheit?! Ihre Blicke trafen sich und Seto war, als würde er in einen Tunnel abtauchen. Irgendwann würde Devlin eine Lücke in seiner Verteidigung haben und die würde er ausnutzen, so wie es Devlin bei ihm getan hatte! Verbissen studierte er sein Gegenüber, den Ball dabei geschickt zwischen den Händen wechselnd. Jeder Muskel in Devlins Oberkörper schien unter Spannung zu stehen, seine Brust hob und senkte sich im Takt seines hörbar beschleunigten Atems. Ein einzelner Schweißtropfen rann langsam Devlins Schläfe hinab. Über seine Wange. Seinen Hals. Verfing sich an seinem Schlüsselbein. Seto schluckte. In Duke brodelte es noch immer. Konnte Kaiba mit seinem Angriff endlich mal zum Punkt kommen? Einmal aufhören zu überlegen, ständig nach der besten Taktik zu suchen, sondern einfach mal machen?! Wie schwer konnte es denn sein, über seinen Schatten zu springen?! Er hatte es doch auch geschafft – mehr als einmal! Was sollte er denn bitte noch tun?! Er hatte sich bedankt, sich entschuldigt, seine Beweggründe und auch seine Hoffnung offen zum Ausdruck gebracht … und diesmal hatte Kaiba ihm geglaubt! Mit Sicherheit! Und trotzdem … noch nicht mal ein Wort dazu zu sagen, sondern einfach nur den verdammten Kopf zu schütteln! Die Erinnerung stach sich wie eine spitze Nadel in sein Herz. Wie verbohrt konnte ein einzelner Mensch eigentlich sein?! Warum weigerte sich Kaiba so standhaft zu sehen, was er sah?! Wie oft sollte er denn noch den ersten Schritt machen?! Um ein Haar wäre Seto zurückgezuckt, so plötzlich schoss Devlins Arm wie aus dem Nichts nach vorne, in einem Versuch, ihm den Ball während des Dribbelns zu entreißen und einen Gegenangriff zu starten. Glücklicherweise konnte er gerade noch rechtzeitig reagieren, drehte sich und brachte so seinen Körper als zusätzliche Barriere zwischen Devlin und den Ball. Seine Augen verengten sich. Devlin wollte seine Unachtsamkeit ausnutzen?! Das konnte er vergessen! Nicht noch einmal! Er täuschte eine Bewegung nach rechts an, schnellte dann jedoch nach links aus der Deckung, stand frei vor dem Korb, zielte und traf. Die einzigen Geräusche, die Duke in den nächsten Minuten noch halbwegs bewusst wahrnahm, waren Kaibas und sein eigenes gelegentliches Keuchen, das Quietschen ihrer Turnschuhe, der schnelle, unregelmäßige Rhythmus des Balls auf dem Boden, das Zischen des Netzes, wann immer der Ball durchging. Erst der laute Pfiff des Sportlehrers brachte ihn wieder in die Realität zurück. Verschwitzt, außer Atem und mit dem Ball unter dem Arm blieb er stehen und sah sich um. In der Halle war es totenstill, alle Augen waren auf sie gerichtet. Die Mädchen hatten längst aufgehört zu spielen, Yugi und Shuichi mussten seit Minuten untätig an der Seite gestanden haben. „Also, meine Herren, ich muss schon sagen …“, hob Herr Nokita an und Duke machte sich auf eine gehörige Standpauke gefasst. „ … das war vielleicht der beste Basketball, den ich je in dieser Halle gesehen habe! Auch, wenn Sie ihre Mitspieler doch etwas mehr mit hätten einbeziehen können! Mr. Kaiba wird vermutlich keine Zeit dafür haben, aber Mr. Devlin, haben Sie vielleicht schon einmal darüber nachgedacht, unserer Schulmannschaft beizutreten?“ „Wie?!“, fragte er verdutzt und schüttelte gleich darauf den Kopf, „Danke, nein!“ „Schade! Nun ja, damit ist unsere Zeit für heute leider schon um. Denken Sie alle daran, nächste Woche finden die Leistungskontrollen statt!“ Ohne seine Klassenkameraden oder Herrn Nokita weiter zu beachten, ließ Duke den Ball in den dafür vorgesehenen Rollwagen am Rand des Spielfeldes fallen und marschierte direkt weiter zur Umkleide, sodass Tristan sich ihm halb in den Weg werfen musste, um ihn zu stoppen. „Alter, jetzt warte doch mal!“ Widerwillig blieb er stehen und starrte seinen Freund wortlos und finster an. „Was war das gerade, Mann?!“ „Was?“, seufzte er ungeduldig, obwohl er natürlich genau wusste, was Tristan meinte. „Das gerade zwischen dir und Kaiba!“ „Kommunikation!“, gab er nur kühl zurück und schob sich energisch an Tristan vorbei. „Aber es hat ausgesehen, als würdet ihr euch jeden Moment gegenseitig umbringen!“, warf Tea ein und als er sich ohne innezuhalten zu ihr umdrehte, musste er feststellen, dass alle seine Freunde ihm auf dem Fuße folgten. „Ist doch egal, Tea, Fakt ist, es war mega-stark und Duke hat Kaiba tierisch den Arsch versohlt!“ Dass Joey so darüber dachte, war zu erwarten gewesen, auch wenn er selbst sich ziemlich sicher war, dass sie die ganze Zeit einigermaßen gleichauf gelegen hatten. „Nokita-sensei hat auch ganz fasziniert zugesehen“, schaltete sich Yugi nun ebenfalls ein, „Ich musste ihn sogar am Ende daran erinnern, dass die Zeit abgelaufen ist und er pfeifen muss!“ Duke sagte zu alldem nichts, sondern lief einfach schweigend vorneweg, während seine Freunde nicht aufhören konnten ihn zu löchern und das soeben Geschehene zu analysieren. Der weitere Schultag verstrich ohne nennenswerte Interaktionen oder Zwischenfälle, wofür Seto mehr als dankbar war. Devlin schien ihn vollkommen zu ignorieren – eine Tatsache, die er eigentlich begrüßen sollte, umso mehr nach der Aktion heute Morgen im Sportunterricht –, doch noch immer weigerte sich sein unzuverlässiger Körper, eine positive Emotion bei dem Gedanken zu empfinden. Was musste denn noch alles passieren?! Wie oft würde er sich noch gehen lassen und damit zum Tagesgespräch werden, bis sein Körper endlich einsah, was sein Verstand schon lange wusste?! Dass all das keine Zukunft hatte, dass es gefährlich war, dass Menschen – seine Mitschüler, Yugis kleine Möchtegern-Freunde-und-Helfer, Devlin (vor allem Devlin!) – Seiten von ihm sahen, die sie nicht sehen sollten, ach, die es gar nicht geben sollte! Der Biologie-Unterricht, die letzte Stunde an diesem Mittwoch, fand in einem anderen Klassenzimmer statt, das extra für die naturwissenschaftlichen Fächer ausgestattet war: Die Tische waren größer, sodass jeweils zwei Schüler an einem sitzen konnten, hatten Waschbecken an der Seite und waren mit einer speziellen Oberfläche versehen, sodass man auf ihnen auch chemische Experimente durchführen konnte. Noch während Seto seine Unterrichtsmaterialien auspackte, kam Frau Kobayashi herein, stellte ihre Tasche auf dem Lehrertisch ab und verschaffte sich wie so oft durch erhöhte Lautstärke Gehör: „Guten Tag, meine Damen und Herren, wir haben heute wieder viel vor, es gibt also keine Zeit zu verlieren! Sie kennen ja die Prozedur: Bitte holen Sie schon einmal die Mikroskope aus dem Schrank hinten rechts, je zwei Personen teilen sich eines sowie ein Präparat!“ Sie wartete, während ein Teil der Schüler, Seto eingeschlossen, nach hinten ging und ihrer Aufforderung nachkam. Aus dem Augenwinkel sah er Devlin ebenfalls aufstehen, schnappte sich hastig eines der am weitesten vorne stehenden Mikroskope aus dem Schrank und ging zurück zu seinem Tisch. Da erst fiel ihm auf, dass der Platz neben ihm noch immer leer war. Für das Mikroskopie-Praktikum hatten sie feste Partner zugeteilt bekommen; er hatte eine Gruppe mit einem Mädchen gebildet – Brille, längere Haare, das Gesicht genauso nichtssagend wie der Name (Michiko? Masako? Mariko? Mariko!) – und nie auch nur ein Wort mit ihr gewechselt. Wie auch immer, heute schien sie jedenfalls nicht da zu sein. Als wäre es ihr Stichwort gewesen, fuhr Frau Kobayashi zügig fort: „Bedauerlicherweise sind Ms. Yuki sowie Mr. Sato heute krank. Mr. Devlin und Mr. Kaiba, wenn Sie daher bitte ausnahmsweise zusammenarbeiten würden? Sie scheinen ja schon letzte Woche auf der Klassenfahrt gut miteinander zurecht gekommen zu sein.“ Alarmiert spähte er hinüber zur linken Bankreihe und sein Puls beschleunigte sich. War denn heute wirklich alles gegen ihn?! Der Kindergarten und auch einige andere Schüler waren in wildes Getuschel verfallen, während Devlin nur stumm seine Sachen zusammenklaubte. Er kam nach vorne, umrundete Setos Tisch und knallte noch im Gehen sein Biologie-Buch und den Schreibblock darauf. Seinen Rucksack ließ er ebenfalls unsanft auf den Boden fallen, bevor er sich unter Einhaltung des größtmöglichen Abstands auf dem Stuhl rechts neben Seto niederließ. Nun, immerhin schien Devlin die Begeisterung wenigstens zu teilen. Seto hielt seinen Blick standhaft nach vorne zur Tafel gerichtet, im Versuch nicht nur Devlin selbst, sondern auch das hartnäckige Ziehen in seiner Brust so gut wie möglich auszublenden. „Sehr schön, jetzt, wo jeder einen Partner hat, kann es ja losgehen!“, fuhr Frau Kobayashi ohne Umschweife fort, „Heute mikroskopieren wir die Mundschleimhaut. Einer von Ihnen wird dafür einen solchen Holzspatel in den Mund nehmen“, sie hielt demonstrativ ein Exemplar in die Höhe, „und damit mehrmals kräftig über die Innenseite der Wange kratzen, um Mundschleimhaut-Zellen zu gewinnen. Diese werden sauber auf den Objektträger übertragen, eingefärbt und dann fertigen Sie wie gehabt eine ordentliche mikroskopische Zeichnung davon an. Worauf es dabei ankommt, sollten Sie ja mittlerweile wissen.“ Mit einem leisen Seufzen griff Devlin nach dem Spatel, den ihnen Frau Kobayashi soeben ausgeteilt hatte, und deutete damit sichtlich unmotiviert zwischen ihnen hin und her. „Deine oder meine?“ Da Seto nicht sofort reagierte, beantwortete er sich die Frage sogleich selbst: „Okay, also meine.“ Als wollte er das alles so bald wie möglich hinter sich bringen, schob Devlin sich sogleich den Holzspatel in den Mund und fuhr damit wie gefordert über seine Wange. Schnell wandte Seto sich ab (er musste nun wirklich nicht dabei zusehen, wie Devlin sich Dinge in den Mund steckte!) und nutzte die Zeit, den Objektträger zu reinigen, mit der Pipette einen Wassertropfen darauf zu setzen, das Deckgläschen zu säubern und das Fläschchen mit der Färbelösung bereitzustellen. Wortlos schob er den fertig vorbereiteten Objektträger hinüber zu Devlin, der nun seinerseits den Spatel leicht in den Wassertropfen tunkte und ein wenig darin herumrührte. Während Devlin noch einmal aufstand, um den Spatel in den Müll zu werfen, nahm Seto die Flasche mit der Färbelösung, drückte einen Tropfen auf das Glas, führte das dünne Deckgläschen mit ruhigen Fingern genau an den nun blauen Wassertropfen und ließ es präzise und mittig darauf fallen. Beinahe wäre er zusammengezuckt, als er Frau Kobayashis Stimme viel zu laut und viel zu nah hinter sich vernahm: „Wirklich hervorragend, meine Herren, kein einziger Lufteinschluss! Weiter so!“ Devlin neben ihm nickte ihr zu und verzog den Mund zu etwas, das man mit viel Phantasie als Lächeln deuten konnte, Seto beachtete die Lehrerin gar nicht weiter, die bereits zum nächsten Tisch gezogen war, und schob den Objektträger unter das Mikroskop. Nachdem er das richtige Objektiv gewählt und den Lichtschalter betätigt hatte, erhob er sich und schaute hindurch. Anders als bei pflanzlichen Zellen mit ihrer festen Struktur gab es hier keinerlei Muster oder Zusammenhang. Die Zellen waren unregelmäßig geformt, besaßen keine starke Zellwand und außer dem Zellkern war in ihrem Innern wenig zu erkennen. Unwillkürlich musste er an die hauchdünnen, zerrissenen Plastiktüten auf der Straße denken, die der Fahrtwind heute Morgen zusammen mit einigen Blättern hochgewirbelt und am Seitenfenster der Limousine vorbeigetragen hatte. Er setzte sich wieder, nahm einen Druckbleistift mit feinster Mine zur Hand und begann ein leeres Blatt Papier für die Zeichnung vorzubereiten (Datum, Name, Präparat, Vergrößerung), während Devlin neben ihm nun seinerseits aufstand und durch das Okular blickte. Das metallische Geräusch von Devlins Anhänger, der immer wieder gegen die Tischplatte baumelte, ließ Seto innehalten. Devlin kam noch ein Stück näher, um mit dem anderen Auge durch das Mikroskop zu sehen, wobei seine Hüfte beinahe Setos Schulter streifte. Seto hielt den Atem an. Der Würfelohrring klackerte wiederholt gegen das Mikroskop, Devlins glänzendes Haar fiel sanft über dessen Schulter und strich beinahe über den Tisch. Unauffällig rückte Seto ein Stück weiter nach links und atmete leise aus, als Devlin sich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder hinsetzte und ebenfalls mit der Zeichnung begann. Im gesamten Klassenzimmer war es merklich stiller geworden, selbst Wheeler und Taylor hatten ihr Präparat mittlerweile fertig und saßen konzentriert über ihr Papier gebeugt. Auch Devlin schien völlig auf die Zeichnung vor sich fokussiert, mit geübten Bewegungen führte er den Bleistift über das Papier, sein Atem ging ruhig und regelmäßig. Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln kehrte Seto zu seiner eigenen halbfertigen Zeichnung zurück; er musste definitiv noch einmal mit erhöhter Vergrößerung durch das Mikroskop sehen, vielleicht konnte er so noch weitere Details um den Zellkern herum erkennen. Er rückte mit dem Stuhl nach hinten, erhob sich und bewegte seinen Kopf geradewegs in Richtung Okular, da spürte er auf einmal warmen Atem auf seinem Gesicht und blickte in grüne Augen unmittelbar vor sich. Wie vom Blitz getroffen zuckte er zurück, sein Herz raste. Offenbar hatten Devlin und er den gleichen Gedanken gehabt. Mit einer stummen Geste überließ ihm Devlin den Vortritt, setzte sich wieder hin und rückte dabei vermeintlich unauffällig noch etwas weiter nach rechts. Setos Puls kam nur langsam wieder zur Ruhe, während er das Objektiv umstellte und noch einmal die chaotischen Strukturen unter dem Mikroskop betrachtete. Er setzte sich wieder hin, um die nun besser sichtbaren Details akkurat auf seine Zeichnung zu übertragen, und nahm nur am Rande wahr, wie nun Devlin seinerseits mit der erhöhten Vergrößerung durch das Mikroskop sah. Ein unangenehmes Knacken und ein unmittelbar folgendes, halbgeflüstertes „Scheiße!“ zu seiner Rechten hätten Seto um ein Haar mit dem Stift abrutschen lassen. Herrgott, was war denn nun schon wieder?! Der Bleistift, der quer auf Devlins Blatt lag, besaß keine Mine mehr; offensichtlich war sie gerade abgebrochen. Devlin selbst durchwühlte hektisch sein Federmäppchen, schüttelte wiederholt den Kopf und drehte sich nach hinten um, vermutlich um zu eruieren, welcher seiner kleinen Freunde im Besitz eines Anspitzers sein könnte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen schien er jedoch zu keinem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Seto entließ ein gedehntes Ausatmen, beugte sich nach unten zu seiner Tasche, suchte kurz darin und wurde tatsächlich fündig. „Hier.“ Mit versteinerter Miene hielt er Devlin den Dino-Druckbleistift entgegen, der wie vermutet noch immer in seiner Tasche gewesen war. Devlins Augenbrauen wanderten nach oben. Trotz seiner Zwangslage wirkte er alles andere als erfreut über das Wiedersehen. „Ist das dein Ernst?!“ „Falls du lieber den Stegosaurus gehabt hättest, muss ich dich leider enttäuschen!“, gab Seto nur trocken zurück ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Im ersten Moment blieb Devlins Gesicht völlig unbewegt, dann zuckten seine Mundwinkel leicht nach oben, ihm entwich ein leises Schnauben, seine Lippen begannen sich unaufhaltsam zu kräuseln und schließlich konnte er das Lachen nicht mehr länger zurückhalten. In Setos Magengegend machte sich unweigerlich ein luftiges Flattern breit und es gelang ihm nur gerade eben, die Kontrolle zu behalten und nicht über seine eigene zugegeben gelungene Retourkutsche zu schmunzeln. Ein tadelnder Blick von Frau Kobayashi brachte Devlin umgehend wieder zur Räson; er räusperte sich einmal leise und nahm Seto noch immer grinsend den Stift aus der Hand. „Danke!“ Gerade wollte sich Seto wieder seiner Zeichnung zuwenden, da folgte noch etwas leiser: „Das habe ich gebraucht!“ Seto war sich nicht sicher, ob er damit wirklich nur den Bleistift meinte. In der Folge schien die Atmosphäre zwischen ihnen irgendwie gereinigt, ein bisschen wie die Luft nach einem lange überfälligen Sommergewitter. Seto vergaß die Zeit und seine Umgebung fast vollständig. Er und Devlin saßen nebeneinander, zeichneten konzentriert, jeder für sich und doch irgendwie … zusammen. Niemand musste etwas sagen und doch war alles gesagt. Erst als er aus dem Augenwinkel sah, wie Devlin neben ihm den Stift beiseite legte, tauchte Seto aus seinem Flow wieder auf. Auch seine Zeichnung war im Grunde fertig und so stand er kurz nach Devlin ebenfalls auf, um sie Frau Kobayashi auf den Lehrertisch zu legen. Während er den Objektträger und die restlichen Materialien säuberte, schaffte Devlin das Mikroskop nach hinten und begann anschließend seine Sachen einzupacken. Mit jedem Gegenstand, der in Devlins Rucksack verschwand, wurde das flaue Gefühl in Setos Magen stärker. Genau mit dem Klingeln zog Devlin den Reißverschluss seines Rucksacks zu und wandte sich mit einem vorsichtigen Lächeln noch einmal zu ihm, in der Hand den Dino-Bleistift. „Danke nochmal!“ Reflexhaft streckte Seto die Hand aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne und schüttelte den Kopf. „Behalt ihn!“ Devlins Lächeln wurde noch etwas breiter und statt einem verbalen Abschiedsgruß hob er den Stift einmal kurz an seine Schläfe und zwinkerte Seto verschwörerisch zu. Dann wandte er sich um und ging. Für einen kurzen Moment verspürte Seto den starken Drang, Devlin zu folgen, doch statt ihm nachzugeben atmete er tief aus, packte in aller Ruhe seine Sachen und verließ auf eine merkwürdige Art erleichtert ebenfalls das Klassenzimmer. Kapitel 32: Trying to decide. (If I’ll bother with you.) -------------------------------------------------------- Geschichte war für Duke mit Abstand das langweiligste Schulfach und wer auf den Gedanken gekommen war, es ausgerechnet als erste Stunde am Donnerstagmorgen anzusetzen, aus seiner Sicht ein absoluter Vollidiot. Kobayashi-sensei hatte die Klassenfahrt noch einmal aufgegriffen und zu einem ausgedehnten Vortrag über die Schlacht von Kawanakajima angesetzt, die sie dank des Wettbewerbs mit der Privatschulklasse nicht im Zuge eines Ausfluges hatten abhandeln können. Als er den Kopf auf seiner linken Hand aufstützte, fiel sein Blick auf sein geöffnetes Stiftetäschchen. Grell-orangene Triceratops leuchteten daraus hervor. Gedankenverloren zog er den Dino-Bleistift heraus und drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her. Falls du lieber den Stegosaurus gehabt hättest, muss ich dich leider enttäuschen. Wieder stahl sich ein schmales Grinsen auf seine Lippen. Kaiba hatte ihm den Stift überlassen – warum? War es ihm schlicht egal oder hatte es etwas zu bedeuten? Und wenn es etwas zu bedeuten hatte – was? Wollte Kaiba den Stift loswerden? Das Letzte, das ihn noch an die Klassenfahrt und alles, was dort passiert war, erinnerte? Behalt ihn. Kaibas Stimme war ruhig gewesen, sein Blick weniger kühl als üblich. Eine Haltung der absoluten Abneigung sah definitiv anders aus. Es hatte mehr von einem … Friedensangebot gehabt. Ein verräterisches Kribbeln breitete sich in seiner Magengrube aus. Eine ganze Woche lang hatte Kaiba diesen Stift in der Hand gehalten und damit mehr als nur die Duel Disk-Entwürfe gezeichnet … Vorsichtig ließ er seinen Ellenbogen auf der Schulbank noch etwas weiter nach links gleiten und spähte aus dem Augenwinkel nach hinten. Kaiba hatte ebenfalls den Kopf aufgestützt, auf Daumen-, Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand, und starrte mit leerem Blick halb am Bildschirm seines Laptops vorbei. Die Finger seiner linken Hand tippten rastlos auf der Tischplatte; er schien weder ganz bei seiner Arbeit noch beim Unterricht zu sein. Wie von selbst wanderte Dukes Hand mit dem Dino-Bleistift zur unteren rechten Ecke seines College-Blocks und begann Striche aufs Papier zu setzen. Erst nach ungefähr drei Minuten versonnenen In-die-Leere-Starrens ertappte sich Seto und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Langsam aber sicher wurden diese Konzentrationsschwierigkeiten wirklich zu einem Problem! Weder war er bei seiner Umsatzauswertung vorangekommen, noch hatte er Kobayashi-sensei zugehört, was aber vernachlässigbar war, solange sie ihn nicht überraschend aufrief. Schon gestern Nachmittag hatte er der Telefonkonferenz mit den Leitern der Fabrikstandorte kaum folgen können, immer wieder waren seine Gedanken zur vorangegangenen Nacht, zur Sport- und zur Biologiestunde zurückgekehrt, als wären sie in einer Art Teufelskreis gefangen. Nachdem der Termin endlich zu Ende gewesen war, hatte er das eigentlich geplante ruhige Studieren der restlichen in seiner Abwesenheit aufgelaufenen Unterlagen verschoben (Was brachte es, wenn er sich keine zwei Sätze lang konzentrieren konnte?), seine Sekretärin beauftragt, alle Anrufer zu vertrösten und sich nach unten in die Labors verabschiedet. Nichts half ihm besser, seinen Gedanken zu entfliehen, als seinen Händen etwas ausreichend anspruchsvolles zu tun zu geben. So hatte er der Einfachheit halber begonnen, den ersten Prototyp für die DDM-Duel Disk zu konzipieren und vorzubereiten – nicht, weil es mit Devlin zu tun hatte, sondern viel mehr … aus der Not heraus, denn er hatte keinerlei Bedürfnis gehabt mit den Ingenieuren zu interagieren, die an den anderen aktuellen Projekten arbeiteten. Sollte es denn jetzt wirklich immer so weitergehen? So lange, bis die Schule zu Ende war und er Devlin nicht mehr beinahe jeden Tag sehen musste? Ein gutes halbes Jahr lang? Unmöglich! Aber was konnte er tun? Die Schule wechseln? War für die Kürze der Zeit den Aufwand nicht wert. Die Klasse wechseln? Dann würde er Devlin in der Schule allenfalls gelegentlich sehen. Allerdings hätte er in beiden Fällen dank der DDM-Duel Disk nach wie vor außerhalb der Schule mit Devlin zu tun – was sich aber in Grenzen halten würde … Ganz automatisch war sein Blick seinen Gedanken gefolgt. Devlin saß konzentriert über seinen Schreibblock gebeugt und … Moment, war das der Dino-Bleistift in seiner Hand? Setos Mundwinkel zuckten bedrohlich, doch er konnte sie gerade eben noch im Zaum halten. Plötzlich drehte Devlin den Kopf leicht nach hinten. Setos Atem stockte, sein Herz schien kurz auszusetzen. Umgehend richtete er den Blick wieder auf den Laptopbildschirm und entließ die zurückgehaltene Luft aus seinen Lungen. Das war knapp gewesen! Vielleicht sollte er die Idee mit dem Klassenwechsel doch noch nicht ganz verwerfen … Mit dem Klingeln zum Ende der Stunde warf Duke noch einmal einen letzten Blick auf das Papier und das Ergebnis der vergangenen zwanzig Minuten, bevor er seinen Schreibblock hektisch zuklappte. Das hier musste – durfte! – niemand von den anderen sehen, allen voran nicht Joey! Nachdem er eingepackt hatte, folgte Duke seinen Freunden durch das Gewimmel des Gangs ins nächste Klassenzimmer, als er auf einmal auf halber Strecke am Ärmel seiner Uniformjacke festgehalten und fast schon ruckartig beiseite an eines der Fenster gezogen wurde. „Wir müssen reden!“ Joey ließ seinen Ärmel wieder los und sah ihn mit ungewöhnlich ernster Miene an. „Oh oh, willst jetzt etwa mit mir Schluss machen?“, erwiderte Duke amüsiert, doch Joeys Züge blieben vollkommen versteinert. „Ich hab mit Serenity gesprochen. Warum bist du auf einmal so komisch zu ihr, Alter?“ Dukes Lachen erstarb, sein Magen zog sich zusammen. „‚Komisch‘?! Inwiefern?“, fragte er nur scheinbar ahnungslos nach. „Als ihr am Dienstag telefoniert habt, hatte sie das Gefühl, dass du sie abgewimmelt hast! Du würdest ihr ausweichen, hat sie gesagt, und du reagierst nicht auf ihre Nachrichten!“ Es gelang ihm nicht, Joeys vorwurfsvollem Blick standzuhalten. „Ich bin nicht ‚komisch‘ zu ihr, ich hab nur gerade extrem viel zu tun!“ „So viel, dass du nicht mal die dreißig Sekunden hast, um auf eine verdammte Nachricht zu antworten?!“ Duke vergrub die Hände in den Hosentaschen und entließ ein langgezogenes Seufzen. Warum konnte nicht einmal alles so laufen, wie er es wollte? „Ich hab ihr doch gesagt, dass es eine sehr stressige Zeit für mich wird und dass–“ „Mir ist scheißegal, was du gesagt oder gemeint hast!“, fiel ihm Joey harsch ins Wort, „Fakt ist: Serenity macht sich echt Gedanken deswegen, also rede gefälligst mit ihr!“ Das gefährliche Funkeln in Joeys Blick ließ keinen Zweifel daran, dass Duke der Aufforderung besser nachkam, war ihm doch nur zu bewusst, dass Joey nicht nur in der Lage, sondern, wenn es um das Glück seiner kleinen Schwester ging, auch durchaus bereit wäre, ihm sämtliche Knochen zu brechen. „Schon gut, schon gut! Ich rede nochmal mit ihr!“ „Sehr schön! Sie will mich heute Nachmittag von der Schule abholen, da kannst du gleich loslegen!“ Wie immer, wenn ein langer Schultag endlich zu Ende ging, strömten Schüler aus sämtlichen Klassenzimmern durch die Gänge zu den Treppen, um schnellstmöglich nach unten und aus dem Schulgebäude zu kommen. Wie ebenfalls üblich, zückte Seto noch im Gehen sein Telefon, um zu überprüfen, ob Nachrichten oder wichtige E-Mails eingetroffen waren, die Einfluss auf seine weitere Tagesplanung haben konnten. Hm, vier Anrufe in Abwesenheit von Sakano-san? Eigentlich wussten doch alle seine direkten Mitarbeiter – und sein CMO zählte zweifelsfrei dazu –, dass er um diese Zeit noch im Unterricht saß … vermutlich war etwas wirklich dringend. An einem geöffneten Fenster auf dem Treppenabsatz zum zweiten Stock blieb er stehen und tippte auf die Nummer, um zurückzurufen. Wiederholtes Tuten, niemand nahm ab. Wie er so etwas leiden konnte! Erst war immer alles ganz dringend, und dann … Beiläufig warf er einen Blick nach draußen auf den Hof. Wie von allein fanden seine Augen in der Menge der Schüler jenen ganz bestimmten schwarzen Haarschopf mit dem roten Haarband. Der Kindergarten, einschließlich Devlin, hatte gerade das Gebäude verlassen, da kam ihnen ein Mädchen in fremder Schuluniform regelrecht in die Arme gelaufen. Beim genaueren Hinsehen erkannte er Wheelers Schwester, die nun von allen Seiten freudestrahlend begrüßt wurde. Das monotone Tuten hörte endlich auf und Sakano-sans verlegene Stimme tönte blechern aus dem Hörer. „Ah, Mr. Kaiba, entschuldigen Sie, ich habe–“ Ein demonstratives Räuspern von Seto gemahnte ihn, doch bitte zum Punkt zu kommen. „Nun, wie dem auch sei, danke für Ihren schnellen Rückruf, es geht um folgendes …“ Während ihm Sakano-san den Grund für seine mehrfachen Anrufe auseinandersetzte, stieg Seto die bereits fast gänzlich ausgestorbenen Treppen weiter nach unten. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock stoppte er erneut – Sakano-san war bei einem besonders kritischen Punkt angelangt. Auch hier stand das Fenster offen und ließ eine kühle Herbstbrise hinein, die leicht durch seine Haare wehte. Er hatte die Hand schon am Fenstergriff, um es zu schließen, doch im letzten Moment hielt er inne. Devlin näherte sich den Fahrradständern unterhalb des Fensters, und zwar nicht allein: Die kleine Wheeler folgte ihm auf dem Fuße. Setos Augen verengten sich. Machte Devlin jetzt etwa einfach da weiter, wo er vor der Klassenfahrt aufgehört hatte?! Dieser … „Mr. Kaiba? Haben Sie meine Frage gehört?“ Mit einem leichten Kopfschütteln wandte er sich vom Fenster ab. „Bitte wiederholen Sie sie noch einmal, ich war kurz abgelenkt.“ Seto beantwortete die Frage mit einer Gegenfrage und wieder hatte Sakano-san zu einer ausschweifenden Antwort ausgeholt, als von draußen Devlins Stimme an sein Ohr drang: „Ich schließe nur noch schnell mein Fahrrad ab, dann reden wir, okay?“ Eine gewisse Schwere und Ernsthaftigkeit lag darin, dabei sprach er, wie ein kurzer Seitenblick bestätigte, noch immer mit Wheelers Schwester. Ungewöhnlich. Verdächtig schnell wandte Devlin sich von ihr ab und begann, mit seinem Fahrradschloss zu hantieren. Auch Serenitys Blick war ernster als sonst. Was ging da vor sich? „Mr. Kaiba? Mr. Kaiba, was halten Sie von dem Vorschlag?“, kam es hörbar irritiert vom anderen Ende der Leitung. Seto entließ ein leises Seufzen und traf schließlich im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung. „Ich muss auflegen, ich rufe später zurück!“ Mit der Schulter an die Wand neben dem Fenster gelehnt tat er so, als würde er auf sein Telefon schauen, bis auch noch zwei letzte Nachzügler ihn passiert hatten, während seine eigentliche Aufmerksamkeit natürlich dem galt, was sich unter ihm auf dem Hof abspielte. Die kleine Wheeler hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Devlin an, als hätte er ihrem idiotischen Bruder seinen Schwarzen Rotaugendrachen geklaut. „Also, jetzt mal raus mit der Sprache: Warum gehst du mir aus dem Weg? Hab ich was Falsches gesagt oder gemacht?“ „Was?“ Devlin beugte sich wieder nach oben, das offene Fahrradschloss in der Hand und schüttelte vehement den Kopf. „Nein, nein, absolut nicht! Wie gesagt, ich hab einfach echt viel um die Ohren zur Zeit.“ Mit hektischen Bewegungen packte Devlin das Fahrradschloss in seinen Rucksack und zog sein Fahrrad aus dem Fahrradständer. Tze, das mit dem Lügen hatte er schon einmal besser hinbekommen … Serenity schien es ebenfalls bemerkt zu haben und funkelte ihn sichtlich verärgert an. „Wow! Also ehrlich gesagt, nach allem, was wir zusammen erlebt haben, bin ich ein bisschen enttäuscht von dir!“ Devlin hielt inne und bewegte sich nicht, sein Gesichtsausdruck war von oben nicht wirklich zu erkennen. „Warum spielst du mir etwas vor, Duke? Wir sind doch Freunde! Also, was ist wirklich los?“ „Ich–“, hob er an, als wolle er noch einmal widersprechen, doch ihr strenger Blick brachte ihn dazu, sich stattdessen mit einem leisen Seufzen halb auf die Stange seines Fahrrads zu lehnen, eine Hand fest auf dem Lenker, die andere auf den Sattel gestützt. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Die Dinge haben sich … geändert.“ Skeptisch zog sie die Augenbrauen zusammen. „Die Dinge?“ „Mein Blickwinkel, meine … Ansichten dazu, wie ich mich bisher verhalten habe.“ „Also hast du dich geändert.“ Der Ärger in ihren Augen machte einer sichtbaren Neugier Platz. Devlin fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ja, schon … irgendwie.“ „Trägst du darum auch kein Make-Up mehr? Das ist mir gleich aufgefallen.“ „Mhm.“ „Steht dir!“, gab sie mit einem leicht verlegenen Lächeln zurück, das Devlin erwiderte. „Danke!“ Für einen Moment herrschte Schweigen. Ein säuerliches Gefühl stieg in Setos Kehle auf. Wie sie da standen und sich dämlich angrinsten! Was fand Devlin nur an … „Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“ Serenitys Blick wurde erneut ernst, wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust und trat noch einen Schritt näher auf Devlin zu. Der kniff die Augen zusammen und atmete schwer aus. „Mir ist klar geworden, dass …“ Auf der Suche nach den richtigen Worten wanderte Devlins Blick nach oben, genau in Richtung des Fensters, an dem Seto stand. Er reagierte blitzschnell und trat einen Schritt zur Seite. Devlin wandte sich wieder Serenity zu, er schien ihn nicht entdeckt zu haben. Zum Glück! „Ich war nicht wirklich ehrlich zu euch – zu dir –, weil … ich auch nicht ehrlich zu mir selbst war. Und du, du … verdienst jemanden, der es wirklich ehrlich mit dir meint!“ Devlin nickte schmunzelnd in Richtung des Schultors, wo, wie Seto feststellte, als er vorsichtig wieder etwas näher ans Fenster trat, der Rest des Kindergartens versammelt war und sich unterhielt. Devlins Bemerkung konnte sich eigentlich nur auf Taylor beziehen, der an der kleinen Wheeler immer ein mindestens ebenso großes, wenn nicht größeres Interesse gezeigt hatte als Devlin selbst. „Ich wollte dich eben einfach nicht enttäuschen.“ Verwundert legte Serenity den Kopf schief. „Mich enttäuschen? Inwiefern?“ „Naja, du hast dir ja vielleicht Hoffnungen gemacht und–“ „Hoffnungen? Was für Hoffnungen?“ Ihre Augen wurden größer. „Moment, solche Hoffnungen?!“ Sie schüttelte den Kopf und nahm eine Hand vor den Mund, doch schließlich hörte auch Seto das Kichern, das sie mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. „Keine Sorge, die hatte ich nicht! Nie! Zu keinem Zeitpunkt! Wirklich nicht!“ „Schon gut, schon gut, ich hab’s ja verstanden!“ Devlins sichtliche Verstimmung entlockte Seto ein minimales Schmunzeln. „Entschuldige!“ Ihr Kichern verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass du dir darüber keine Gedanken zu machen brauchst.“ Devlin entließ ein leises Schnauben und nickte nur. „Jetzt, wo das geklärt ist:“, fuhr Serenity fort, „Woher der Sinneswandel? Was kann denn in einer Woche alles passieren, dass–“ Sie unterbrach sich; ihre Augen blitzten auf, so als sei ihr gerade eine Idee gekommen. Die gespannte Stille war fast körperlich spürbar, da begann das Handy in Setos Hosentasche laut zu klingeln. In Windeseile zog er es hervor und drückte den Anrufer weg, ohne überhaupt einen Blick auf das Display geworfen zu haben. Hatte man es unten gehört? Anscheinend nicht, denn noch immer, und damit fast schon unangenehm lange, musterte die kleine Wheeler Devlin durchdringend. „Du hast dich verliebt, oder? So richtig?“ Seto zog scharf die Luft ein. Devlin wich ihrem Blick aus und klopfte gedankenverloren mit der rechten Hand auf seinen Fahrradsattel. Setos Herzschlag beschleunigte sich und hämmerte laut in seinen Ohren. Ein zaghaftes Lächeln umspielte Devlins Lippen, als er den Blick wieder hob und mit den Schultern zuckte. „Irgendwie schon.“ Seto biss sich auf die Unterlippe. Er hatte alle Mühe seine Mundwinkel unten zu halten und das mittelgroße Feuerwerk, das augenblicklich in seiner Magengegend losging, angemessen zu ignorieren. Serenity sprang leicht nach oben und klatschte in die Hände. „Oh, das freut mich ja so für dich, ehrlich!“ Devlin schüttelte den Kopf; das Lächeln auf seinen Lippen war bereits wieder verschwunden. „Ach, wahrscheinlich wird sowieso nichts daraus werden.“ „Aber warum das denn?“ „Weil…“, Devlin seufzte einmal tief und ließ seine Hand schwer auf den Fahrradsattel fallen, „wir nun mal sind, wie wir sind.“ „Das heißt?“ „Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, wenn du mich fragst.“ „Zumindest habt ihr schon mal was gemeinsam.“ Devlin entwich ein bitteres Schnauben. „Vielleicht zu viel.“ Ein Stich durchfuhr Setos Herz. Nach ein paar quälenden Sekunden der Stille richtete Devlin sich auf und griff sein Fahrrad am Lenker. „Weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?“, fragte er Serenity nun wieder schmunzelnd, „Du könntest Psychologin werden … oder zur Kriminalpolizei gehen. Auf jeden Fall weißt du, wie man Leute zum Reden bringt!“ „Hm, gar keine schlechte Idee!“, stimmte sie mit einem leisen Kichern zu und machte wie er Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Im letzten Moment jedoch blieb sie noch einmal stehen und legte Devlin sanft eine Hand auf die Wange. „Gib nicht so schnell auf, hörst du? Das passt nicht zu dir! Außerdem sind Menschen immer für Überraschungen gut!“ Und da war es wieder: dieses absolut entwaffnende Lächeln, zusammen mit jener unglaublichen Wärme in Devlins smaragdgrünen Augen. Aus dem mittelgroßen wurde ein gewaltiges Feuerwerk, das sich von Neuem mit ungeahnter Vehemenz in Setos Bewusstsein drängte. In einer fließenden Bewegung nahm Devlin Serenitys Hand von seiner Wange und deutete einen Handkuss an, der sie unwillkürlich erröten und Seto nur mit den Augen rollen ließ. Zum Abschied winkte Serenity noch einmal und lief dann in Richtung Schultor davon. Devlin blieb noch einen Moment stehen und atmete einmal tief durch. Dann schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr los. Als er außer Sichtweite war, trat Seto vom Fenster weg und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Die Worte hallten in seinem Kopf nach, wieder und wieder und wieder und wieder und wieder … Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Das erneute Klingeln seines Telefons riss ihn schließlich aus der Dauerschleife. Mit einem gedehnten Ausatmen stieß er sich von der Wand ab und strich auf dem Display nach rechts. Erst in der Limousine, auf halbem Weg nach Hause legte Seto endlich auf und ließ das Smartphone in die Tasche seiner Schuluniform gleiten. Erschöpft ließ er den Kopf nach hinten fallen und schloss die Augen. Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, diesem Gespräch zu lauschen? Warum hatte er nicht einfach das Fenster geschlossen oder war irgendwo anders hingegangen, um sich voll und ganz auf das Telefonat zu konzentrieren? Dann hätte er all das nicht gehört und könnte einfach weiter durch sein Leben gehen, als wäre (fast) nichts gewesen! … Ja, vermutlich war genau das die beste Lösung: Einfach so tun, als habe er das alles nie gehört – vielleicht würde er es ja irgendwann sogar tatsächlich glauben. Irgendwann musste dieser ganze Devlin-Wahnsinn doch ein Ende haben! Im Unterricht hatte es, abgesehen von dem einen, kleinen schwachen Moment heute Morgen in Geschichte, doch auch ganz gut funktioniert – und war es da nicht auch viel mehr der Dino-Bleistift gewesen, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte? Egal, er sollte einfach keinen Gedanken mehr an diese Sache und an Devlin verschwenden und sich stattdessen auf die wirklich wichtigen Dinge fokussieren! Zu Hause schnell seine Schulsachen auspacken, sich umziehen, noch ein paar Termine in der Firma und dann – als leidiger Abschluss – noch das Essen mit einigen wichtigen Geschäftspartnern. Auf letzteres könnte er zwar gut und gerne verzichten, aber wenigstens hatte er es heute Abend endlich hinter sich. In der Villa angekommen, ging Seto zielstrebig nach oben in sein Arbeitszimmer und begann seine Schulbücher aus der Tasche zu räumen. Als es vorsichtig an der Tür klopfte, sah er auf. „Ja, bitte?“ Mokuba streckte vorsichtig seinen Kopf herein. „Wann fährst du wieder los?“ Seto sah auf seine Uhr. „In einer Viertelstunde. Warum?“ „Super, dann könnte ich eigentlich gleich mitfahren! Roland kann dich an der Firma absetzen und mich danach schnell zum Black Clown fahren.“ „Zum Black Clown?“ Es gelang Seto nicht ganz, den gereizten Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. Mokuba trat nun ganz herein und kam zu ihm an den Schreibtisch. „Ja, ich hab dir doch erzählt, dass wir nochmal Dungeon Dice Monsters spielen gehen wollten – und bevor du fragst: Ja, ich habe meine Hausaufgaben schon gemacht!“ „Hm.“ „Außerdem ist Duke ja jetzt wieder da – ich wollte ihm doch noch persönlich sagen, wie gut das Spiel ist. Du solltest es auch mal ausprobieren, es würde dir bestimmt gefallen!“ Unwillkürlich knallte Seto das Mathebuch, das er gerade in der Hand hatte, stärker auf den Schreibtisch. „Möglicherweise.“ Es war gut. Eine gelungene Verbindung aus Glücks-, Strategie- und Taktik-Elementen. Sehr abwechslungsreich. „Und Duke würde sich bestimmt tierisch freuen, wenn du sagst, dass es dir auch gefällt!“ Jetzt, wo Sie einmal Dungeon Dice Monsters ausprobiert haben, Mr. Kaiba, und offenkundig auf den Geschmack gekommen sind, wollen Sie überhaupt jemals wieder Duel Monsters spielen? „Seto?“ Erst die Erwähnung seines Namens brachte ihn wieder vollständig zurück ins Hier und Jetzt. „Ich hab dich was gefragt.“ „Was?“ „Was hast du eigentlich gemeint, als du am Montag gesagt hast, du hättest dafür gesorgt, dass ich weiter DDM spielen kann?“ Die Antwort, die ihm eigentlich auf der Zunge lag, war harsch und er konnte sich gerade noch zurückhalten sie auch so zu äußern. Ein beleidigter Mokuba war das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte. Stattdessen warf er ihm einen Blick irgendwo zwischen Ungeduld und leichtem Ärger zu. „Mokuba, wie du siehst, habe ich hier zu tun und muss mich noch umziehen, also–“ „Okay, okay, ich lass dich ja schon in Ruhe! Bis gleich, ich warte unten!“ Duke stand vor einem Regal mit Brettspielen und ließ seinen Blick über die verschiedenen Packungen und Schriftzüge schweifen. Welche davon hatte er noch nie zur Game Night zum Ausprobieren angeboten? Natürlich würde es morgen Abend wie jedes Mal auch ein paar gut laufende Klassiker geben, aber ein wichtiger, wenn nicht gar der hauptsächliche, Sinn der Veranstaltung bestand natürlich darin, seine bestehende und potentielle Kundschaft mit immer neuen Eindrücken (und Kaufanreizen!) zu versorgen … Als er von hinten angetippt wurde, schrak er unwillkürlich zusammen und fuhr herum. Ein bekanntes Gesicht, umrahmt von schwarzen Haaren, mit fröhlich glänzenden, grauen Augen sah ihm entgegen. Sein Puls schnellte hoch. Mit Kaibas kleinem Bruder hatte er nun wirklich nicht gerechnet. „Mokuba, hi, was machst du denn hier?“ „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken! Ich bin mit Freunden hier, wir wollen nochmal Dungeon Dice Monsters spielen.“ Er deutete auf eine Gruppe von drei anderen Jungs in seinem Alter, die gerade an der Kasse standen. „Nochmal?“ „Ja, wir waren letzte Woche schon mal hier, um es auszuprobieren. Es hat echt mega-viel Spaß gemacht! Ich wollte dir das auch unbedingt persönlich sagen, aber letzte Woche warst du ja nicht da.“ „Stimmt.“ Mit einiger Anstrengung gelang es Duke, trotz der unfreiwillig heraufbeschworenen Erinnerungen ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. „Schön, dass es euch gefällt! Ich freue mich immer riesig, wenn jemand DDM neu für sich entdeckt! Dann mal viel Erfolg!“ „Danke!“ Schon wollte Mokuba wieder zu seinen Freunden gehen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne und drehte sich noch einmal herum. Dukes Augenbrauen wanderten fragend nach oben. „Kann ich dir noch irgendwie helfen?“ „Ja … ja, ich glaube schon“, begann Mokuba und Duke hielt unwillkürlich hielt Duke den Atem an. „Es geht um–“ „Mokuba, kommst du jetzt endlich?“, rief einer von Mokubas Freunden aus Richtung des Treppenabgangs hinunter zur DDM-Arena. Auch der Rest schien bereits ungeduldig zu warten. „Ach, vergiss es!“, schüttelte Mokuba mit einem kaum merklichen Seufzen den Kopf, „Na dann, wir sehen uns!“ Schon war er verschwunden und Duke sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie die vier Jungs aufgeregt schnatternd zur DDM-Arena hinunter stiegen. Im Lager des Black Clown, ganz unten im Keller des Gebäudes, befanden sich noch einige Stühle, die nach oben geholt werden mussten, sodass um jeden der vorbereiteten Spieletische Platz für ausreichend Spieler und neugierige Zuschauer war. Im ersten Untergeschoss, wo sich die DDM-Arena befand, blitzte und knallte es, sodass Duke auf dem Weg nach unten seine Neugier nicht im Zaum halten konnte und einen Moment im Türrahmen stehen blieb, um zuzusehen. Mokuba hatte offenbar gerade ein Monster seines Gegners zerstört und war soeben im Begriff, letzterem mit seinem eigenen Monster den zweiten Lebenspunkt abzuziehen. Auch der Blick auf die Größe und Verteilung der Dungeons machte unmissverständlich klar, dass er das Spiel klar dominierte. Eigentlich kein Wunder, auch Kaiba hatte unglaublich schnell gelernt und sofort begriffen, worauf es bei DDM ankam. Ich denke, so viel kann ich sagen: Ich werde wohl in nächster Zeit aus beruflichen Gründen häufiger Dungeon Dice Monsters spielen als Duel Monsters. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen. Damit hatte es sich wohl auch erledigt. Ob Kaiba, nach allem, was passiert war, überhaupt jemals wieder einen DDM-Würfel in die Hand nehmen würde? Vermutlich nicht. Was hatte Mokuba wohl vorhin noch von ihm gewollt? Sein Zögern und der merkwürdige Ausdruck in seinen Augen konnten eigentlich nur bedeuten, dass es nicht um DDM oder irgendetwas ähnlich banales gehen konnte – dann hätte Mokuba einfach rundheraus gefragt. Ob es etwas mit seinem Bruder zu tun hatte? Vielleicht. Vermutlich. Wahrscheinlich. So, wie er ihn kannte, hatte Kaiba weder seinem kleinen Bruder, noch einer anderen Menschenseele gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verloren, was vergangene Woche wirklich zwischen ihnen passiert war. Das war vollkommen ausgeschlossen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er wohl am liebsten ein undurchdringliches Tuch des Schweigens über sämtliche Erlebnisse und Details der vergangenen Woche gelegt. Aber vielleicht hatte Mokuba ja trotzdem etwas bemerkt? Benahm sich Kaiba anders als sonst oder hatte eine unbedachte Bemerkung gemacht? Denn, dass Kaiba noch nicht wieder ganz derselbe war wie vor der Klassenfahrt, das war ganz offensichtlich, zumindest für ihn selbst, der die ganze Geschichte unmittelbar miterlebt hatte. Vielleicht konnte Kaiba seine Gefühle (ja, Gefühle!) genauso wenig einfach abschütteln wie er selbst? (Beweisstück A: das Basketball-Spiel, Beweisstück B: die Sache mit dem Stift, …) Vielleicht hatte Kaiba die Entwürfe ja doch nicht nur wegen ‚der Umsätze‘ neu gemacht? Vielleicht steckte ja doch mehr dahinter? Vielleicht hatte Kaiba ja doch eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hatte? Immerhin hatte es bei ihrem klärenden Gespräch (wenn man seinen Monolog in dem leeren Klassenzimmer denn so nennen wollte) so gewirkt, als glaubte Kaiba ihm, dass er es ernst gemeint hatte … zumindest hatte er ihm dieses Mal nicht widersprochen, seine Motive nicht in Frage gestellt … … Vielleicht … ganz vielleicht hatte Serenity ja recht und es war doch noch nicht alles verloren? Ein winziges Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich endlich wieder auf sein eigentliches Vorhaben besann und weiter nach unten in den Keller ging. Unauffällig schob Seto die Manschette seines Hemdes ein paar Millimeter nach oben, um einen schnellen Blick auf seine Uhr zu werfen. 19:30 Uhr. Seit einer halben Stunde saßen sie nun schon in diesem stickigen Nebenraum eines der besten Restaurants der Stadt: sein COO, sein VP Procurement & Production, sein CIO, sowie sein VP Product & Design, dazu die Geschäftsführer der drei mit Abstand wichtigsten Zulieferbetriebe der Kaiba Corporation. Nicht nur sollte es um die Verhandlung von besseren Einkaufskonditionen gehen, sondern auch um die Frage, welche neuen Technologien die drei Firmen in Zukunft zur Verfügung stellen könnten und wie eine vertiefte Kooperation in der technologischen Forschung aussehen könnte. So sehr Seto sie auch hasste, leider waren derartige Geschäftsessen eine Notwendigkeit, vor der er sich nicht drücken konnte. Bei Meetings in seinem Büro war immerhin sichergestellt, dass es ausschließlich um die wirklich wichtigen, das heißt die geschäftlichen, Themen ging – ganz im Gegensatz zur etwas formloseren Atmosphäre in einem Restaurant, wo sehr zu seinem Leidwesen immer wieder kleine Subkonversationen aufkamen, für deren eher privatere Inhalte Seto keinerlei Interesse hegte, vermittelten sie ihm doch nur zu häufig, dass er trotz aller seiner Bemühungen möglichst erwachsen aufzutreten, in einer völlig anderen Lebenswelt zu Hause war als seine in der Regel wesentlich älteren Geschäftspartner. Das ursprünglich doch recht interessante Gespräch über verbesserte Projektionstechnologien war mit dem Eintreffen der Vorspeise leider in die besagte Richtung abgebogen und Seto bedauerte es zutiefst, dass er Fujiwara-san, dem Geschäftsführer der Firma, die den Großteil der in den Duel Disks und Arenen verbauten Sensortechnologie produzierte – einem Mann etwa Mitte fünfzig, mit grauen Haaren und etwas größerer Körperfülle –, unmöglich in aller Öffentlichkeit den Mund verbieten konnte. „… und ich sage Ihnen, meine Frau kommt aus Shikoku, die macht ein Fischgericht mit Nudeln, das haut jeden um!“ Fujiwara-san nahm einen weiteren Schluck Sake und stellte den Becher (es war bereits sein dritter) geräuschvoll wieder ab. „Das lieben sogar die Kinder!“ Seto hörte nur noch mit einem halben Ohr zu und konzentrierte sich stattdessen mehr darauf, die kleine Portion in irgendeiner mysteriösen, dunklen Soße ertränkter Nudeln zu essen, ohne seine Kleidung in Mitleidenschaft zu ziehen. „Ach, ich dachte Ihre Frau käme aus Nagano?“, erkundigte sich Fujiwara-sans Tischnachbar, Geschäftsführer eines Herstellers von Spezialgläsern. Beim letzten Wort zuckten Setos Augenbrauen unwillkürlich nach oben, sein Griff um die Stäbchen lockerte sich und einige der Nudeln, die er soeben zum Mund hatte führen wollen, fielen mit einem leisen ‚Platsch’ zurück in die Schüssel. Schnell und möglichst unauffällig sah er sich um. Zum Glück schien die kleine Ungeschicklichkeit niemandem aufgefallen und sein Anzug und seine Krawatte verschont geblieben zu sein. Natürlich war das nur ein Zufall und hatte nichts mit dem zu tun, was gesagt worden war! Und selbst wenn, er war nun mal vor kaum einer Woche dort gewesen, da war es doch wohl kein Wunder, dass der Name der Stadt ihn ungewollt aufhorchen ließ, oder?! „Nagano?“ Fujiwara-san runzelte die Stirn, doch dann hellte sich seine Miene auf. „Oh, ich verstehe! Sie reden von Hinako! Nein, wir sind schon seit zwei Jahren geschieden. Ich rede von meiner jetzigen Frau – wir haben letztes Jahr geheiratet.“ „Ach was, meinen Glückwunsch!“, warf sein COO von der Seite ein. „Ja, ich kann es manchmal selber kaum fassen: Schon drei Jahre zusammen und noch immer so verliebt wie am ersten Tag!“ Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. „Moment, drei Jahre? Aber das heißt ja, dass–“ „Ja, Hinako und ich, wir hatten beide unsere kleinen Geheimnisse, wenn Sie verstehen“, lachte Fujiwara-san anzüglich, stieß seinen Tischnachbar leicht mit dem Ellenbogen an und schob sich noch eine Portion Nudeln in den Mund. Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, wenn du mich fragst. „Trotzdem habe ich ziemlich lange gebraucht, bis ich endlich eingesehen habe, dass es Yumi ist, die ich wirklich liebe, und die Ehe mit Hinako beenden muss. Und ich sage Ihnen, wenn ich dadurch eine Sache gelernt habe, dann dass man das Glück beim Schopf packen und festhalten muss, wenn es einem über den Weg läuft, sonst ist es schneller weg, als man gucken kann! Im Nachhinein betrachtet war es die ganzen Scherereien mit der Scheidung und den Kindern und so weiter jedenfalls mehr als wert. Glauben Sie mir, es gibt Tage, da fühle ich mich immer noch wie ein bis über beide Ohren verliebter Teenager!“ Sämtliche Mitarbeiter der KC zogen scharf die Luft ein und lenkten Setos Aufmerksamkeit dadurch ebenfalls wieder aktiv auf das Gespräch. „Oh, ich vergaß, wir haben ja noch einen am Tisch!“, lachte Fujiwara-san dröhnend, „Aber was soll’s, der junge Mr. Kaiba wird das alles sicherlich noch früh genug selbst kennen lernen, nicht wahr? In Ihrem Alter geht es doch erst so richtig los, dass man das eine oder andere Mädchen mit ganz anderen Augen sieht!“ Auf welche der Damen haben Sie denn ein Auge geworfen? Seto spürte wie Wut in ihm hochzukochen begann, sagte jedoch nichts, sondern bedachte seinen Geschäftspartner nur mit einem Blick, der bei seinen eigenen Mitarbeitern dazu angetan war, einen spontanen Fluchtreflex auszulösen. Bei Fujiwara-san hingegen schien er lediglich dafür zu sorgen, dass das breite Grinsen auf dessen vom Alkohol geröteten Gesicht zu einem leichten Schmunzeln wurde. „Jaja, ich verstehe schon!“, winkte er ab, „Mein 17-Jähriger hasst es auch, wenn ich vor anderen über so etwas rede! Entschuldigen Sie! Das gehört ja auch eigentlich gar nicht hier her, nicht wahr?“ „Sehr richtig!“ Setos Tonfall hätte den Sake in den Gläsern der erwachsenen Männer am Tisch gefrieren lassen können. Bevor das Gespräch noch einmal in Fahrt kommen konnte, wurden dankenswerterweise endlich auch die Hauptspeisen serviert – ein Schritt näher in Richtung Ende dieses Alptraums! Duke war gerade damit beschäftigt, mit Hilfe von kleinen Klebeetiketten festzulegen, welches seiner zuvor ausgewählten Spiele morgen Abend auf welchem Tisch gespielt werden sollte, als Mokuba und seine Freunde wieder nach oben kamen. Mokubas Freunde verabschiedeten sich und gingen zielstrebig zur Tür, Mokuba hingegen blieb noch zurück und sah sich suchend im Raum um. Kaum hatte er Duke erspäht, kam er auch schon strahlend auf ihn zugelaufen. „Na, wie war’s?“, fragte Duke bemüht beiläufig und zog einen weiteren der beschrifteten Aufkleber vom Trägerpapier ab. „Super! Ich hab alle meine Spiele gewonnen!“ Mokubas ehrliche Freude ließ wie von allein auch sein eigenes Lächeln größer werden. „Dachte ich mir schon! Ich hab vorhin kurz zugesehen; du scheinst ein echtes Händchen für DDM zu haben. Muss in der Fam-“ Schnell brach er ab. „Was?“ „Ach nichts.“ Dukes Eingeweide verknoteten sich. Als könnte Mokuba seine Unsicherheit riechen, musterten die grauen Augen ihn nun umso eindringlicher. „Sag mal, … Seto und du, habt ihr euch eigentlich gut verstanden in eurem gemeinsamen Zimmer?“ Als würde er aus einer Starre erwachen, umrundete Duke schnell den Tisch, um das Etikett, das noch immer an seinem Finger klebte, an der Seite des Tisches anzubringen. Vermutlich hatte Mokuba seinem großen Bruder selbst diese simple Tatsache förmlich aus der Nase ziehen müssen. Also, schön unspezifisch bleiben und nicht schon wieder zu viel ausplaudern! „Ähm, ja, schon. So weit es eben geht.“ Mokuba vergrub die Hände in den Hosentaschen, sah zu Boden und wippte leicht auf seinen Fußballen vor und zurück. Enttäuschung legte sich wie ein Schleier über sein Gesicht und schlug sich auch in seiner Stimme nieder. „Und, wenn überhaupt, habt ihr vermutlich nur über Geschäftliches geredet, stimmt’s?“ „Nun ja, …“ Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht. „… ja.“ Duke zuckte mit den Schultern. „Du kennst doch deinen Bruder.“ Mokubas Augen blitzten auf und seine Mundwinkel zuckten fast schon triumphierend nach oben. Duke runzelte die Stirn und konnte die Schweißtropfen förmlich fühlen, die sich auf ihr bildeten. Wieso wurde er das Gefühl nicht los, gerade blindlings in eine Falle getappt zu sein? „Prima! Dann kannst du mir doch mit Sicherheit eine Sache erklären:“, sprudelte Mokuba weiter, als habe er diese Wendung tatsächlich von langer Hand geplant, „Weißt du, Seto hat nämlich am Sonntag noch die ganze Nacht durchgearbeitet. Und als ich ihn morgens gefragt habe, was er gemacht hat, da sagte er nur, er hätte ‚dafür gesorgt, dass ich weiter DDM spielen kann‘. Du hast also nicht zufällig eine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?“ Schach Matt. Dukes Hände wurden schwitzig. Er legte den Bogen mit den beschreibbaren Aufklebern beiseite, den er, ohne es wirklich zu merken, halb zerknüllt hatte. Das Verweigern einer Aussage stellte an diesem Punkt keine Alternative mehr dar, das machte Mokubas Gesichtsausdruck nur zu deutlich. So unähnlich sie im ersten Augenblick auch scheinen mochten, in Momenten wie diesen war die Verwandtschaft der beiden Kaiba-Brüder unmöglich zu leugnen. Mit einem gedehnten Ausatmen ließ er sich auf einen der Stühle sinken. „Okay, es war so …“ Die zentralen Ereignisse waren schnell in groben Zügen geschildert: Das Telefonat mit Pegasus vor der Abfahrt, seine Idee, der Kauf des Blocks (natürlich ohne Erwähnung der Dinos), Kaibas Zustimmung die DDM-Duel Disk tatsächlich zu konzipieren. An dieser Stelle schien Mokuba stutzig zu werden und strich sich nachdenklich mit zwei Fingern über das Kinn. „Verstehe ich das richtig? Er hat dir geholfen, obwohl dein Spiel drohte eingestellt zu werden? Aus rein wirtschaftlicher Sicht ist das mindestens fragwürdig!“ Dukes Augenbrauen waren wohl unwillkürlich nach oben geschnellt, sodass er sich beeilte, fortzufahren, „Sorry, was ich damit sagen will: So etwas sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich!“ Duke schluckte. „Dieses … winzige Detail habe ich, nun ja, sagen wir“, er biss sich leicht auf die Unterlippe, „anfangs ausgelassen.“ „Oh!“ Mokubas Augen wurden groß. „Dein Bruder hat natürlich absolut großartige Entwürfe ausgearbeitet, aber irgendwann kam der Punkt, da–“ „Da musstest du ihm die Wahrheit sagen.“ „Ja.“ Für einen Moment starrte Duke versonnen ins Leere, dann wandte er sich wieder Mokuba zu und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Du kannst dir sicher vorstellen, wie das gelaufen ist.“ „Seto muss stinksauer gewesen sein!“, nickte Mokuba langsam und ließ sich ebenfalls auf einen der Stühle ihm gegenüber nieder. Duke entwich ein leises Schnauben. „Ich hab mich natürlich entschuldigt und versucht ihm meine Zwangslage zu erklären, in der Hoffnung, dass er es verstehen würde.“ „Und?“ Er schüttelte nur den Kopf. „Verstehe. Und wie ging es dann weiter?“ Als er den Blick wieder hob, wurde Duke mit grauen Augen konfrontiert, die ihn erwartungsvoll und mit ungeteilter Aufmerksamkeit ansahen. Wie sollte er es nur ausdrücken? Wie sollte er Mokuba erklären, dass sein so abgöttisch verehrter Bruder dafür gesorgt oder zumindest billigend in Kauf genommen hatte, dass die Entwürfe vernichtet wurden und DDM damit praktisch dem Untergang geweiht gewesen war? „Danach sind die Entwürfe leider durch eine … Verkettung unglücklicher Umstände … verloren gegangen.“ „Hä?!“ Duke nickte nur langsam, ohne den Satz weiter auszuführen oder näher zu erläutern. „‚Verloren gegangen’?! ‚Verkettung unglücklicher Umstände‘?! Was soll das heißen?“ „Das …,“ Duke zögerte und fing an, den zerknitterten Bogen mit den Aufklebern auf der Tischkante glatt zu streichen, „solltest du wohl besser deinen Bruder fragen.“ Mokubas Augenbrauen zogen sich zusammen. Schnell fuhr Duke fort, um die Schwere zu überspielen, die in seiner Stimme gelegen hatte. „Wie auch immer, jedenfalls … muss er am Sonntag die Entwürfe nochmal neu ausgearbeitet haben, denn am Montagmorgen stand auf einmal euer Assistent, ähm–“ „Roland?“ „Ja, genau! – mit einem USB-Stick vor meiner Tür und ich konnte alles vor dem Industrial Illusions Vorstand präsentieren.“ „Hm, ja, jetzt ergibt das alles auch etwas mehr Sinn“, sinnierte Mokuba, „Ich hatte Seto am Sonntag beim Abendessen erzählt, dass wir letzte Woche hier waren und wie viel Spaß mir DDM gemacht hat. Seine Reaktion darauf war rückblickend doch irgendwie … auffällig.“ Dukes Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, doch mit aller Kraft gelang es ihm trotzdem ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. „Dann ist das wohl schon die ganze Erklärung.“ „Scheint so,“ stimmte Mokuba noch immer gedankenverloren zu, „Und sonst ist echt nichts weiter passiert?“ „Mh-mhm“, bestätigte Duke noch einmal mit einem Kopfschütteln und bemüht neutralem Gesichtsausdruck. „Na gut, dann hast du mir auf jeden Fall schon mal sehr geholfen. Danke dir!“ Mokuba erhob sich und schob seinen Stuhl zurück an den Tisch. „Und wir kommen auf jeden Fall wieder, DDM ist echt richtig stark! Ganz ehrlich, – und sag das bloß niemals Seto! –“, er hielt die Hand vor den Mund, als würde er Duke ein Geheimnis anvertrauen, „mir gefällt es besser als Duel Monsters!“ „Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher!“, gab Duke nur grinsend zurück, erwiderte Mokubas Winken zum Abschied und sah ihm nach, bis sich die gläserne Ladentür hinter dem Jungen geschlossen hatte. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit war der Laden bereits menschenleer, sodass Duke ein wenig mit dem Stuhl nach hinten rücken und seinen Kopf ganz ungeniert auf den hölzernen Rand des Spieltisches fallen lassen konnte. So war es also gewesen. Mokuba hatte erzählt, wie viel Spaß ihm DDM gemacht hatte, Kaiba hatte ein schlechtes Gewissen bekommen und die Entwürfe neu gemacht. Und die Umsätze? Die hatten mit Sicherheit auch keine kleine Rolle in dieser Rettungsaktion gespielt, immerhin hatte nicht nur Kaiba selbst, sondern auch Max sofort diesen Punkt ins Spiel gebracht. Mokuba und die Umsätze, die Umsätze und Mokuba. Das war alles. Kapitel 33: You wanna leave it. (But you can’t forget about it.) ---------------------------------------------------------------- Nach einer weiteren Nacht unruhigen Schlafs, gespickt mit kruden Träumen, in denen die Gestalten von Fujiwara-san, Serenity Wheeler und natürlich wieder einmal Devlin die prominentesten Rollen eingenommen hatten, saß Seto bereits eine Viertelstunde früher als sonst in seiner Schuluniform mit einem Kaffee und der Zeitung am Küchentisch. Selten, eigentlich noch nie, hatte er sich so sehr auf das Wochenende gefreut wie an diesem Freitag, auch wenn ‚Wochenende‘ für ihn keineswegs gleichbedeutend mit ‚nicht arbeiten’ war. Allerdings bedeutete es sehr wohl, dass er Devlin zwei Tage lang nicht sehen und damit hoffentlich auch nicht mehr permanent an das denken musste, was er gestern nie gehört hatte und das nach wie vor jedes Mal dieses enervierende Flattern in seiner Magengegend auslöste. „Morgen, Seto!“ Ein Stuhl wurde nach hinten und dann wieder an den Tisch gerückt; Mokuba hatte sich mit seinen Cornflakes und einem Glas Orangensaft zu ihm an den Tisch gesetzt. Seto sah nur kurz von der Zeitung auf. „Morgen.“ „Wie war das Geschäftsessen gestern?“ „Nicht der Rede wert“, antwortete er mehr der Zeitung als seinem Bruder. Was würde es nützen, Mokuba davon zu erzählen, wie frustrierend es war, wenn einen alte, dicke Männer mit viel Einfluss einfach nicht ernst nehmen wollten, nur weil man in ihren Augen noch ein naseweiser Teenager war, der bestimmte universelle Lebenserfahrungen noch nicht gemacht hatte (und vielleicht auch gar nicht machen wollte)? Das würde er noch früh genug selbst lernen, und je später er das tat, desto besser. Glücklicherweise hakte Mokuba nicht weiter nach, sondern wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Ein paar Minuten lang hörte Seto nur das Knuspern von Cornflakes und gelegentliches Saft-Schlürfen. Der Leitartikel im Wirtschaftsteil war sehr interessant und forderte seine Aufmerksamkeit, dennoch wurde er das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ein kurzer Blick über den Rand der Zeitung bestätigte, dass Mokuba ihn irgendwie forschend zu mustern schien. Hatte er etwas auf dem Herzen? Nun, wenn ihn etwas so sehr beschäftigte, würde er schon irgendwann den Mund aufmachen. Nach weiteren drei Minuten – Seto hatte den Leitartikel soeben beendet – war es schließlich so weit: „Sag mal, Seto, willst du mich denn gar nicht fragen, wie es gestern im Black Clown war?“ Seto entließ ein leises Seufzen und senkte die Zeitung. „Wie war es gestern im Black Clown?“, fragte er wunschgemäß, gab sich dabei jedoch keinerlei Mühe, den Trotz in seiner Stimme zu verbergen. „Sehr cool, ich hab wieder alle meine Spiele gewonnen! Ich glaube ich hab den Dreh langsam echt raus!“ Mit einem beiläufigen Nicken schlug Seto die nächste Seite des Wirtschaftsteils auf. „Und auch sehr … aufschlussreich.“ Seto hielt inne. Er legte die Zeitung zur Seite, um seinen Bruder erstmals richtig anzusehen, und griff nach seiner Kaffeetasse. „Inwiefern?“ „Seto, mal ganz ehrlich …“ Mokuba ließ seinen Löffel in die leere Schüssel fallen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte seine Finger ineinander. „Was ist da eigentlich wirklich zwischen dir und Duke gelaufen auf der Klassenfahrt?“ Ohne einen Schluck genommen zu haben, stellte Seto die Kaffeetasse etwas zu kraftvoll wieder ab, sodass die braune Flüssigkeit über den Rand schwappte und einen dunklen Ring auf dem hellen Holz des Tisches hinterließ. „Bitte?!“ „Da du mir ja keine Antwort geben wolltest, hab ich gestern einfach Duke gefragt, ob er mir sagen kann, was deine seltsame Bemerkung von letztens zu bedeuten hatte.“ Setos Augen verengten sich. „Wie zum Teufel kommst du auf die Idee, dass–“ „Oh, komm schon, wenn es um DDM geht, dann gibt es keine Chance, dass Duke nicht Bescheid weiß, noch dazu, wenn ihr im selben Zimmer wart!“ „Und? Was hat er gesagt?“, erkundigte sich Seto im vergeblichen Versuch mehr gleichgültig als gereizt zu klingen. „Warum hast du ihm geholfen?“ Natürlich gab Mokuba ihm nicht einfach eine Antwort, sondern stellte eine Gegenfrage! Seto atmete gedehnt aus, hielt dem ernsten und unangenehm bohrenden Blick seines Bruders (Woher hatte der Junge das nur?) aber problemlos stand. „Ich fand seine Idee einer DDM-Duel Disk eben nicht schlecht. Außerdem war ich nach deiner kleinen ‚Aktion‘ dankbar, überhaupt irgendetwas Sinnvolles zu tun zu haben!“ „Und die genauen Hintergründe–“ „Hat er mir verschwiegen, hat er dir das auch gesagt?!“ Setos Stimme hatte sich mehr gehoben, als ihm lieb gewesen wäre, und das kurze Zucken von Mokubas Mundwinkeln ließ es ihn sofort bereuen. „Ja, das hat er. Aber auch, dass er dir später die Wahrheit gesagt hat. Was er mir allerdings nicht erzählen wollte, war, was genau danach passiert ist …“ … wenn es dein jämmerliches Spiel dann noch gibt! „Sehr richtig, denn das geht dich auch nichts an!“ Energisch schlug Seto die Zeitung zu, trank seinen Kaffee in einem Zug aus und erhob sich. „Los jetzt, wir müssen zur Schule!“ Sichtlich genervt – es war dasselbe Gesicht, das er auch dann immer zog, wenn man ihm sagte, dass er für irgendetwas, das ihn brennend interessierte, noch zu jung war – schnappte sich Mokuba seinen Rucksack und trottete widerwillig in den Flur. Japanisch war definitiv nicht die beste erste Stunde, wenn man nicht besonders gut geschlafen und noch viel zu wenig Kaffee getrunken hatte. Frau Yamamura schrieb nicht mit der Kreide an die Tafel, sie quietschte, und setzte jeden Punkt mit besonders viel Nachdruck, sodass Duke sich am liebsten permanent die Ohren zugehalten hätte. Nichtsdestotrotz sollte er wohl besser anfangen, sich ebenfalls Notizen machen, denn der Stoff war laut Yamamura-sensei klausurrelevant. Er zog seinen Collegeblock zu sich heran und wollte eine neue Seite aufblättern, blieb jedoch unwillkürlich bei den Notizen aus der gestrigen Geschichtsstunde hängen. Vorsichtig fuhr er mit dem Finger ein paar der Bleistiftlinien seines kleinen ‚Kunstwerkes‘ in der unteren rechten Ecke nach. So langsam würde er sich wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen müssen, dass Das mit uns genauso Geschichte war, wie die Dinge, die er weiter oben zur Schlacht von Kawanakajima notiert hatte. Er hatte sein Möglichstes versucht, Kaiba unmissverständlich klar zu machen, wie er die Dinge sah, viel mehr konnte er nicht tun. Den Rest des Weges musste Kaiba gehen, und wenn der nicht wollte, dann ging es nun einmal nicht. Ihm selbst blieb eigentlich nur noch übrig zu retten, was zu retten war, und das war primär die DDM-Duel Disk. Ein leises Schnauben entwich ihm. Erst hatte Kaiba damit nichts mehr zu tun haben wollen, dann hatte er die Entwürfe doch neu gemacht – zwar in der Hauptsache für seinen kleinen Bruder und seine Firma, doch das Endergebnis zählte. Aber was bedeutete das nun für seine Mitwirkung an der tatsächlichen Verwirklichung dieser Ideen? Max jedenfalls schien zu erwarten, dass Kaiba daran weiterarbeitete und zwar in enger Abstimmung mit ihm als dem Designer des Spiels. Wenn Max nun aber mit Kaiba telefonierte und Kaiba ihm sagte, dass er keineswegs beabsichtigte, das auch tatsächlich zu tun … wie stand er, Duke, denn dann vor dem Vorstand, und vor allem vor Max da?! Wenn er jemanden um keinen Preis der Welt enttäuschen wollte, dann war es der Mann, der mehr für ihn und sein Spiel getan hatte, als jeder andere! Von den Mitgliedern des Vorstandes ganz zu schweigen, die ihm aufgrund seiner Jugend ohnehin schon immer eine gehörige Portion Skepsis entgegengebracht hatten. Hätte er Max letztens am Telefon doch die Wahrheit sagen sollen? Nun, nicht zwingend, denn die Wahrheit war nun mal, dass er absolut keine Ahnung hatte. Es nützte alles nichts, er musste noch einmal mit Kaiba reden, so unangenehm es auch werden würde. Dann konnte er Max notfalls immer noch anrufen und zumindest versuchen, ihm die Situation irgendwie zu erklären. Mit einem kaum sichtbaren Nicken zu sich selbst schlug Duke die nächste leere Seite auf und begann abzuschreiben, was Yamamura-sensei in den vergangenen Minuten an der Tafel produziert hatte. Wann immer die Lehrerin zu einer ausschweifenderen Erklärung ansetzte, wanderten seine Gedanken trotzdem ganz automatisch zurück zu der Zeichnung auf der vorherigen Seite. Ein ums andere Mal hob er die Ecke des Blocks vorsichtig an und betrachtete sie, ließ sich für ein paar Sekunden von den Erinnerungen an die weichen, haselnussbraunen Haare, den Sturm in den ozeanblauen Augen, die mal fordernden, mal zärtlichen Berührungen mitreißen, ohne an all das zu denken, was danach passiert war. Erst die Pausenklingel holte ihn schlagartig zurück ins Hier und Jetzt. Es hatte doch alles keinen Zweck! Er blätterte die Seite noch einmal richtig auf, riss die untere rechte Ecke mit der Zeichnung heraus und ließ sie beim Verlassen des Raumes in Richtung Toiletten beiläufig in den Mülleimer nahe der Tür fallen. Ungeachtet der lauteren Geräuschkulisse um ihn herum arbeitete Seto in der Pause nahtlos weiter – oder unternahm zumindest den Versuch. Seine Mitschülerinnen und Mitschüler standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich, aßen, schrieben Hausaufgaben ab oder legten bereits das Material für die nächste Stunde zurecht. Zu Setos Leidwesen hatte sich der Kindergarten in dieser Pause dafür entschieden, Wheelers Tisch als Treffpunkt zu nutzen, der bedauerlicherweise nicht so weit weg von seinem eigenen Tisch war, wie er das gerne gehabt hätte. Immerhin war Devlin gerade nicht bei ihnen; nur die anderen Mitglieder von Mutos kleiner Weltenrettertruppe sprachen viel zu lebhaft miteinander. „Ffaut ma’, waff iff gefunden hab’, Leute!“, platzte Joey, den letzten Bissen eines Schokoriegels kauend, so lauthals in das Gespräch seiner Freunde hinein, dass nicht einmal Seto in der Lage war, es zu ignorieren. „Joey, wie oft soll ich dir noch sagen–“ Gardners Augenrollen war praktisch zu hören. „Ja doch!“ Schnell schluckte Wheeler hinunter und wedelte mit einem Fetzen Papier. „Schaut mal, was ich gefunden hab!“ „Hast du das etwa aus dem Müll gezogen?!“ „Ja, und?! War doch nur Papier drin!“ Wieder deutete Wheeler grinsend auf den Zettel in seiner Hand. „Ein kleines Fanart von Kaiba!“ Setos Kopf zuckte leicht nach oben. „Wow, sieht ja gar nicht schlecht aus!“, kommentierte Muto. „Ja, richtig stark!“, pflichtete Gardner ihm bei und entließ ein langgezogenes Seufzen, „Wenn mich mal jemand einfach so zeichnen würde …“ „Ich kann’s gerne mal versuchen!“, warf Taylor grinsend ein. „Danke, ich verzichte!“ „Bestimmt von jemandem aus seinem dämlichen Fanclub!“, nahm Wheeler den Gesprächsfaden wieder auf, „Hier ist sogar noch ein kleines bisschen Handschrift!“ Er kniff die Augen zusammen, offenbar in der irrigen Annahme, die Schrift so besser identifizieren zu können. „Joey! Was soll das?!“ Gardner verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte missbilligend den Kopf. „Mann, reg’ dich mal ab! Mich interessiert doch nur, wer so verrückt ist, sowas zu machen! Also von jemandem wie Kaiba! Die kann doch nicht mehr alle Tassen im Schrank haben!“ „Joey, also ehrlich! Für seine Gefühle kann niemand etwas! Wenn du dich mal in Gott-weiß-wen verliebst, würdest du auch nicht wollen, dass sich jemand so darüber auslässt!“ Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Setos Kiefer verkrampfte sich, seine rechte Hand ballte sich unwillkürlich zur Faust. „Irgendwie kommt mir die Schrift bekannt vor … aber ich komm einfach nicht drauf …“ Dieser …! Geräuschvoll klappte Seto seinen Laptop zu und stand auf. Mit zwei Schritten war er bei Wheeler angekommen und riss ihm wortlos den Zettel aus der Hand. „Hey, was soll das, Geldsack?!“ Ja, das war er, ganz eindeutig. An seinem Tisch hier im Klassenzimmer, den Kopf aufgestützt und an seinem Laptop vorbei in die Leere der ihn umgebenden Kästchen starrend. Seine Augen stachen ganz besonders heraus – wer auch immer das hier gezeichnet hatte, schien darauf Wert gelegt zu haben. Und diese Perspektive … „Hey Leute, was–“ Seto hob den Blick und zog scharf die Luft ein. Devlin war wieder hereingekommen und etwa zwei Meter von ihm und seinen Freunden entfernt wie angewurzelt stehen geblieben. Seine Augen weiteten sich, kaum länger als eine Millisekunde, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Ruckartig wandte Seto den Kopf und sah Joey durchdringend an. „Hör auf deine kleinen Freunde, Wheeler! Von wem auch immer das hier ist, es geht dich einen feuchten Dreck an!“ Noch während er sprach, zerriss er die ohnehin schon kleine Zeichnung, einmal, zweimal, dreimal, ging zum Mülleimer und warf die Schnipsel hinein. Als er an seinen Platz zurückkehrte und den Laptop wieder aufklappte, hatte der Kindergarten seine Sprache noch immer nicht wiedergefunden. Die Stunde hatte kaum begonnen, da war sie auch schon wieder zu Ende. Ihr Inhalt war nahezu vollständig an Duke vorbeigezogen, so als hätte der Lehrer eine Sprache gesprochen, die er nicht verstand. Während alle ihre Sachen zusammenpackten, um zur Mittagspause hinunter auf den Schulhof zu gehen, ließ auch Duke das Lehrbuch und den Collegeblock in seinen Rucksack gleiten und warf dabei einen verstohlenen Blick über seine Schulter. Kaiba war bereits aufgestanden und verließ das Klassenzimmer, seine lederne Tasche in der Hand. Er wusste es! Mit Sicherheit! Kaiba wusste, dass die Zeichnung von ihm war! Duke schluckte und musste gegen den Impuls ankämpfen sich mit beiden Händen wieder und wieder übers Gesicht zu fahren. Da verließ man einmal für drei Minuten den Raum! Am liebsten wäre er vorhin einfach im Boden versunken. Ja, er hatte Kaiba bereits am Montag klar gemacht, wie er zu der ganzen Geschichte stand, und dass er Dem mit uns gerne noch eine Chance gegeben hätte. Kaiba hatte dem jedoch eine klare Absage erteilt und erwartete nun sicherlich, dass das Thema für ihn damit ebenfalls erledigt war. Tja, war es aber nun einmal nicht! Konnte ja nicht jeder so unbeteiligt über allem stehen wie der feine Herr! Aber … tat Kaiba das tatsächlich? Immerhin hatte er ihn da vorhin gewissermaßen verteidigt …  … aber auch die Zeichnung zerrissen … Ach, eigentlich spielte es ja auch gar keine Rolle! Es blieb dabei, er musste mit Kaiba sprechen und die Sache von eben würde dabei kein Thema sein! Die Bank ganz hinten auf dem Schulhof zwischen zwei hohen, mittlerweile halb entlaubten Bäumen gehörte schon so fest zu Seto, dass zumindest in den großen Hofpausen niemand anderes auf den Gedanken kam, sich dort hinzusetzen. Sein Blick war fest auf den Bildschirm geheftet, seine Hände lagen auf der Tastatur, bereit weitere Buchstaben zu tippen, sodass ein außenstehender Beobachter durchaus auf den Gedanken hätte kommen können, dass er tatsächlich arbeitete. Doch seine Finger bewegten sich schon seit einigen Minuten nicht mehr und auch sein Geist hätte nicht weiter weg vom Strategie-Update für die KC-Vertriebsmannschaft sein können. Devlins entsetzter Blick angesichts der Erkenntnis, dass ausgerechnet er es war, der dieses Stück Papier in Händen hielt … Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Setos Eingeweide verknoteten sich. Mit dieser Zeichnung waren, noch verstärkt durch Gardners Geschwafel über Gefühle, Devlins Worte von gestern schlagartig zur sichtbaren Realität geworden. Verdammt! Fast schon gewaltsam ging sein rechter kleiner Finger wieder und wieder auf die Return-Taste nieder, um seinen letzten, auf halber Strecke abgebrochenen Satz komplett wieder zu löschen. Das musste doch endlich mal ein Ende haben! So konnte es n–… Das Laub auf dem Boden knisterte auffällig regelmäßig. Jemand kam näher. Bevor Seto ganz begriffen hatte oder es verhindern konnte, raschelte Kleidung direkt neben ihm. Sein Blick huschte nach rechts. Sämtliche seiner Muskeln schienen sich anzuspannen und zu verkrampfen, als würde seinen unerwarteten Besucher ein gefährliches Kraftfeld umgeben, in das er unweigerlich hineingezogen würde, sobald er sich bewusst oder unbewusst auch nur einen Millimeter darauf zu bewegte. „Was willst du, Devlin?“, presste Seto mühsam hervor und hielt den Blick weiter fest auf seinen Bildschirm geheftet. „Entschuldige die Störung, Kaiba, aber ich muss leider noch eine Sache mit dir besprechen.“ Mit einem kurzen Augenrollen sperrte Seto den Bildschirm, sah aber weiter demonstrativ an Devlin vorbei geradeaus. Nicht, dass Devlin ihn tatsächlich beim Arbeiten unterbrochen hätte, aber der Eindruck zählte! „Hat Pegasus dich schon angerufen?“ Devlins Stimme klang ungewohnt kraftlos, doch Seto verbat sich weiterhin jegliche Form von Blickkontakt. „Nein.“ „Dann wird er das sicherlich im Laufe der nächsten Tage noch tun.“ Devlin entließ ein kaum hörbares Seufzen, stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel und knetete seine Hände. „Es ist so, er … er erwartet, dass ich die weitere Entwicklung der DDM-Duel Disk eng begleite und ich … kann es mir im Moment noch weniger sonst leisten, vor ihm, aber vor allem dem Vorstand blöd dazustehen.“ Seto überlief ein Schauer, als die grünen Augen ihn streiften und dann hastig wieder zum laubbedeckten Boden zurückkehrten. Devlins linke Hand ballte sich zur Faust, als er fortfuhr: „Die haben mich noch nie sonderlich ernst genommen und das ist meine Chance denen zu beweisen, dass ich auch liefern kann!“ … der junge Mr. Kaiba … in Ihrem Alter … Unwillkürlich entfuhr Seto ein leises, abfälliges Schnauben. Ja, mit Sicherheit gab es im Vorstand von Industrial Illusions ähnliche Exemplare. „Also, was ich damit sagen will: Könntest du mich bitte über die Fortschritte bei den Vertragsverhandlungen und an der DDM-Duel Disk auf dem Laufenden halten?“ Als er nicht sofort reagierte, atmete Devlin gedehnt aus und machte Anstalten wieder aufzustehen. „Aber wenn du nichts mehr damit zu tun haben willst, dann–“ „Ich gebe dir Bescheid, sobald der Vertrag unterschrieben ist. Und auch, wenn ich den ersten Prototypen fertig habe.“ Die Worte flossen ganz wie von selbst aus Setos Mund. Mit großen Augen ließ sich Devlin zurück auf die Bank sinken. „Verstehe ich das richtig: Du wirst doch selbst an der Duel Disk weiterarbeiten?!“ Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß Seto seine Vorsicht und sah hinüber zu Devlin. „Das tue ich schon.“ Die grünen Augen leuchteten auf, Devlins Mund öffnete sich, so als würde er eigentlich fünf weitere Fragen stellen wollen, doch stattdessen schloss er ihn wieder und … lächelte. „Danke!“ Ach, und Kaiba? … Danke! Déjà-vu. Der Wind frischte auf, spielte mit Devlins Haaren, wehte ihren angenehm leichten, fruchtigen Duft in Setos Nase. Seine Kehle schnürte sich zu, sein Herz schlug schnell und hart gegen seinen Brustkorb. Devlin hier, neben ihm, so nahe, mit diesem Lächeln, das … das war so nicht vorgesehen! Ganz und gar nicht! Er … er musste hier weg! Abrupt wandte Seto sich ab, klappte wortlos seinen Laptop zu, schnappte sich seine Tasche und entfernte sich zügigen Schrittes von der Bank in Richtung des Schulgebäudes, gerade so schnell, dass es noch nicht unter ‚rennen‘ fiel. Erst als er die Treppen schon erreicht hatte, läutete die Klingel das offizielle Ende der Pause ein. Von einem Moment auf den nächsten fand sich Duke allein auf der Bank wieder. Er sah Kaiba nach, bis die Schultür hinter ihm zugefallen war, und schüttelte leicht den Kopf. Die sanfte Brise rauschte in seinen Ohren, herbstliche Kälte zog in seinen Nacken und ließ ihn frösteln. Eigentlich war ihr Gespräch doch ganz normal und … zivilisiert verlaufen – wenn auch ein bisschen wortkarg auf Kaibas Seite, aber das war ja nichts neues. Sollte er sich darüber nicht eigentlich freuen? Immerhin ging ihre Zusammenarbeit weiter, Kaiba arbeitete bereits am Prototypen für die DDM-Duel Disk, Pegasus Erwartungen würden erfüllt werden! Allerdings schien Kaiba darüber hinaus tatsächlich nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen, wie sein überstürzter Abgang eben nur zu deutlich gezeigt hatte – als hätte er soeben erfahren, dass Duke an irgendeiner seltenen, hochansteckenden Krankheit litt. Und die Sache mit der Zeichnung vorhin hatte dabei mit Sicherheit auch nicht wirklich geholfen. Sein Herz zog sich zusammen. Noch immer schwebte ein Hauch von Kaibas Parfüm in der Luft um ihn herum und ließ ihn noch einen Moment an Ort und Stelle verharren. Als es klingelte, erhob er sich schließlich mit einem tiefen Seufzen und folgte der verblassenden Duftspur ebenfalls zurück ins Schulgebäude. Devlins irritierter Blick, der sich durch seinen Rücken in sein Innerstes bohrte, verfolgte Seto noch den ganzen restlichen Schultag. War es denn wirklich schon so weit gekommen, dass Flucht das einzige Mittel darstellte, das ihm noch zur Verfügung stand?! In der Firma war er jedenfalls mehr als dankbar für die vielen Termine, die ihm keine Zeit ließen, weiter über Devlins Worte, Devlins Lächeln oder den Eindruck, den sein spontaner Abgang bei Devlin hinterlassen haben musste, nachzudenken. Und außerdem: Mindestens für die nächsten zwei Tage würde er rein gar nichts von Devlin sehen oder hören – zum ersten Mal seit dem Beginn der Klassenfahrt vor knapp zwei Wochen! Das musste es sein, was alle Welt so an den Konzepten ‚Wochenende‘ und ‚Urlaub‘ schätzte! Rechtzeitig zum Abendessen war Seto zurück in der Villa und saß sogar noch vor Mokuba am gedeckten Tisch – etwas, das so selten vorkam, dass es fast schon als Novum gelten konnte und seinen kleinen Bruder, der heute morgen auf der gesamten Fahrt zur Schule geschmollt hatte, hoffentlich wieder ein wenig besänftigen würde. Umso irritierender war es daher, dass Mokuba, als er endlich ebenfalls das Esszimmer betrat, einen prall gefüllten Rucksack auf dem Stuhl neben sich abstellte und seine pünktliche Anwesenheit nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn zu würdigen schien. Offenbar hatte Mokuba seine Verwirrung registriert. „Ich übernachte doch heute bei Hiro, schon vergessen?! Damit wir morgen früh gleich ganz zeitig mit seinen Eltern in das neue große Spaßbad am Stadtrand fahren können.“ Ach ja, richtig! Der seit Wochen geplante Ausflug mit seinem besten Freund und dessen Eltern! Na, dann würde Roland wohl morgen Badehosen einpa– „Und denk’ nicht mal daran, Roland hinter mir her zu schicken! Das ist echt mega-peinlich jedes Mal!“ Seto rollte nur mit den Augen und kam nicht umhin, sich ertappt zu fühlen. Wie machte der Junge das nur?! Einige Minuten lang aßen sie in Stille, bis Mokuba endlich das zunehmend unangenehme Schweigen brach. „Seto?“ Er erwiderte den Blick seines Bruders mit vorsichtiger Skepsis, denn dessen Tonfall ließ nichts Gutes vermuten. „Was ist denn nun eigentlich wirklich mit deinen ersten Entwürfen passiert?“ Seto entließ ein leises Seufzen, legte sein Besteck ab und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. „Ich sagte doch bereits, das geht dich nichts an!“ „Tja, ich möchte es aber wissen und ich werde so lange weiterfragen, bis du oder Duke mir eine Antwort gebt! Irgendwann wird einer von euch beiden schon einknicken! Also, was ist mit den Entwürfen passiert, Seto?“ Ohne seinen Bruder anzusehen, griff Seto wieder nach seiner Gabel. „Ich möchte nicht dar–“ „Was ist mit den Entwürfen passiert?“ Mokubas Stimme wurde eindringlicher und die grauen Augen starrten ihn fest und entschieden an. Seto schob sich einen weiteren Bissen Essen in den Mund und kaute in aller Seelenruhe. „Was ist mit den Entwürfen passiert?“ Er schluckte hinunter, setze Messer und Gabel neu an. „Was ist mit den Entwürfen passiert, Seto?“ Seine Finger schlossen sich fester um die Griffe des Bestecks. Ärger begann in seiner Kehle hochzuzüngeln. „Was ist mit den Entwürfen passiert?“ Warum konnte Mokuba ihn nicht einfach in Ruhe lassen?! Er wollte diese ganze Geschichte doch einfach nur vergessen! „Was ist mit den Entwürfen passiert?“ Seine Lippen pressten fest aufeinander, während er zunehmend hektisch ein besonders widerspenstiges, sehniges Stück Fleisch auf seinem Teller schnitt. „Was ist mit den Entw–“ Laut und metallisch klirrend knallte Seto das Besteck neben seinen Teller auf den Tisch. „Wheeler!“ Mokuba zuckte sichtlich zusammen. „W-was?!“ „Wheeler ist passiert!“ „Wie–“ „Er hat sie ins Feuer geworfen! Bist du jetzt zufrieden?!“ „I-ins Feuer?! Du meinst das Lagerfeuer an eurem letzten Abend? Aber wusste Joey denn gar nicht, dass–?“ Wieder brach Mokuba mitten im Satz ab und seine Augen weiteten sich. „Natürlich wusste er es nicht!“ Kopfschüttelnd legte auch er sein Besteck aus den Händen und sah Seto durchdringend an. „Lass mich raten, du hättest es ihm sagen können, hast es aber nicht getan?“ Seto verschränkte die Arme vor der Brust und wich dem vorwurfsvollen Blick seines kleinen Bruders aus. Eine Antwort war wohl nicht notwendig, Mokuba würde sein Schweigen auch so richtig deuten. „Okay, also ich fasse mal kurz zusammen und du sagst mir, ob ich das richtig verstanden habe: Du hast bereitwillig zugelassen, dass die Pläne für die DDM-Duel Disk in Flammen aufgehen, obwohl du wusstest, dass sie das Einzige sind, was DDM retten kann?! Weil du beleidigt und sauer warst, dass Duke dich angelogen hat und Joey dir wahrscheinlich zufällig gerade mal wieder blöd gekommen ist?!“ Mit viel Phantasie, die Mokuba zweifelsohne hatte, konnte man das vorsichtige Neigen von Setos Kopf als Nicken interpretieren. „Meinst du nicht, dass das vielleicht etwas überzogen war?!“ „Nein, das meine ich nicht!“ Setos Faust sauste auf den Tisch, sodass die Teller und das Besteck darauf schepperten. „Und damit ist dieser Punkt jetzt endgültig beendet!“ Mehr würde – konnte – er dazu auch nicht sagen. Von dem, was sonst noch vorgefallen war, hatte Mokuba keine Ahnung und dabei würde es auch schön bleiben! Er war ohnehin noch etwas zu jung für … diese Art von Dingen. Mokuba atmete einmal gedehnt aus und nahm sein Besteck wieder auf. „Na gut, von mir aus! Aber dann verrat mir wenigstens noch, warum du die Entwürfe später neu gemacht hast!“ „Ich bitte dich, das muss dir doch längst klar sein!“ „Ich würde es aber gerne nochmal von dir hören!“ „Du hast erzählt, wie viel Spaß dir DDM gemacht hat.“ Er führte den Satz nicht weiter, Mokuba sollte sich den Rest denken können. „Außerdem wollte ich die Umsätze durch DDM ungern aufgeben.“ „Oh bitte, Seto, ich kenne die aktuellen Zahlen! So sehr fallen die DDM-Arenen nun echt nicht ins Gewicht! Also, warum hast du die Entwürfe wirklich neu gemacht?“ „Hab ich das nicht eben gesagt?! Deinetwegen und wegen der Umsätze!“ „Sonst nichts?“ „Sonst nichts!“ „Wirklich n–“ „Mokuba!“ Der Stuhl quietschte über den Boden, als Seto auffuhr, die Hände auf den Tisch stützte und seinen Bruder drohend anfunkelte. „Wenn du jetzt nicht sofort aufhörst, sehe ich mich wohl oder übel gezwungen, deine Strafe für die Laptop-Aktion so zu verhängen, wie ich sie mir an Tag Zwei der Klassenfahrt ausgedacht habe, und glaub mir, wenn ich dir sage, dass das nicht in deinem Interesse ist! Und jetzt beantwortest du mir gefälligst mal eine Frage: Warum um alles in der Welt interessiert dich das überhaupt so sehr?!“ Mokubas bis hierhin noch selbstbewusster Blick fiel in sich zusammen und er sah zerknirscht nach unten – ein Ausdruck, der sofort ein schmerzhaftes Ziehen in Setos Brust auslöste. Als würde sämtliche Luft aus ihm herausgelassen, ließ er sich wieder zurück auf seinen Stuhl fallen, ohne den Blick von seinem kleinen Bruder zu lösen. „Ich dachte–“ Mokuba stockte und setzte noch einmal neu an, „Nun ja, ich hatte gehofft, Duke und du, ihr …“ Er schluckte und drehte das Besteck ruhelos zwischen seinen Fingern hin und her. „… ihr habt euch vielleicht angefreundet.“ Seto verkniff sich ein entrüstetes Schnauben und entschiedenes Kopfschütteln und wartete einfach nur darauf, dass sein kleiner Bruder weitersprach, denn ganz offensichtlich schien es ihm damit wirklich ernst zu sein. „Weißt du, wie Hiro und ich Freunde geworden sind?“ Er schüttelte den Kopf. Falls Mokuba es irgendwann einmal erzählt hatte, hatte er entweder nicht richtig zugehört oder es vergessen. Kurz wanderte sein Blick zu seinem noch immer nicht geleerten Teller, doch jeglicher Rest von Appetit war ihm vergangen. „Auf unserer ersten Klassenfahrt waren wir zusammen in einem Zimmer. Wir waren bis spät in die Nacht auf, haben über alles mögliche geredet und hatten eine richtig gute Zeit zusammen. Er … er versteht mich einfach, weißt du? Und ich bin mir sicher, er würde mir bei allem helfen, und ich ihm auch. Für ihn würde ich auch eine Nacht oder mehr durchmachen, wenn es um etwas geht, das ihm wirklich wichtig ist! Und vielleicht … vielleicht hab ich mir einfach gewünscht, dass du auch mal so jemanden hast.“ Seto atmete gedehnt aus. „Dann war das also auch der Grund für die Sache mit dem Laptop und dem Telefon?“ Mokuba zuckte nur mit den Schultern und nickte schließlich leicht. Setos Muskeln entspannten sich, sein Gesicht wurde weicher, doch bevor er etwas sagen konnte, betrat Roland die Küche. „Können wir, Master Mokuba?“ „Ja, ich komme!“ Mokuba sprang auf und warf sich den Rucksack über die Schulter; die trübe Stimmung war bereits wieder aus seinem Gesicht gewichen. „Naja, sei’s drum, ich bin jedenfalls echt froh, dass du Duke geholfen hast, egal aus welchem Grund. Und Hiro auch, der ist nämlich schon genau so ein großer DDM-Fan wie ich!“ Mokuba umrundete den Tisch und drückte ihn noch einmal kurz zum Abschied. Mit einem kaum merklichen Kopfschütteln erwiderte Seto die Umarmung und konnte es nicht lassen, einmal durch Mokubas Haar zu wuscheln. „Viel Spaß, kleiner Bruder!“ „Hey, lass das!“, protestierte Mokuba lachend. Er strich sich die Haare wieder aus dem Gesicht, winkte noch einmal und verließ gemeinsam mit Roland das Esszimmer. Die schwere Verbindungstür zur Garage fiel nur wenig später geräuschvoll ins Schloss und Seto blieb noch für einen Moment in der Stille sitzen. Dann stand er auf, stellte das Geschirr auf dem Küchentresen ab und ging nach oben in sein Arbeitszimmer. Schwerfällig ließ Seto sich in seinen Bürostuhl fallen und starrte gedankenverloren auf den Bildschirm des Laptops, der noch damit beschäftigt war, die zuletzt verwendeten Programme und Dateien zu laden. Natürlich wollte Mokuba immer nur das Beste für ihn, auch wenn ihre jeweiligen Definitionen davon, was das genau war, manchmal doch sehr weit auseinander gingen. Er sich mit Devlin anfreunden?! Einem Mitglied des Kindergartens?! Ernsthaft?! Nun gut, wenn man seine kleinen Freunde und alles wegstrich, was während der Klassenfahrt in kommunikativer und jeglicher anderer Hinsicht schief gelaufen war … … dann war Devlin eigentlich gar nicht so verkehrt. Außerdem war Devlin tatsächlich der wahrscheinlich einzige Mensch da draußen, der in der Lage war, gewisse Aspekte seines Lebens zu verstehen: Den Stress und den Druck der Verantwortung, die ständigen Auseinandersetzungen mit den Fujiwara-sans dieser Welt, den konstanten Kampf um Respekt und Anerkennung, nur weil man den Altersdurchschnitt in nahezu jedem Raum, den man betrat, signifikant nach unten zog … den Drang, die eigenen Träume und Ideen zu verwirklichen – trotz aller dieser Konsequenzen – und das unglaubliche, niemals abstumpfende Gefühl, wenn es gelang … Das Klingeln seines Handys unterbrach seine ziellosen Gedanken und nach einem kurzen Blick auf das Display hob er genervt ab. „So spät noch am Arbeiten, Pegasus?“ Blechernes Lachen drang aus dem Hörer. „Ob du es glaubst oder nicht, dasselbe hat Duke auch gesagt, als ich letztens mit ihm telefoniert habe! Ihr Jungs kennt eure Zeitzonen!“ Ein kurzer Stich durchfuhr Seto. „Aber was soll ich sagen, mittlerweile ist auch hier schon Freitag, ich habe ein gutes Glas Wein in der Hand und einen neuen Drachen vor mir auf der Staffelei, da kann man schon mal ein bisschen die Zeit vergessen! Und beim Blick auf den Drachen schoss mir doch just in den Sinn, dass ich auch noch einmal mit dir sprechen wollte.“ „Dann komm gefälligst zum Punkt!“ „Ja doch, warum denn immer gleich so ungeduldig?! Wie du dir sicher denken kannst, geht es um die DDM-Duel Disk.“ Seto rieb sich die Stirn. Gut, das war in der Tat zu erwarten gewesen. „Wirklich eine hervorragende Arbeit, Kaiba-Boy, einfach grandios!“ Es gelang Seto nur knapp ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Wie oft hatte er Pegasus schon gesagt, er solle das gefälligst lassen?! Schnell schob er den Gedanken jedoch beiseite, denn Pegasus sprudelte einfach weiter, sodass Seto sich kurzerhand einen Zettel und einem Kugelschreiber schnappte, um die wichtigsten Punkte zu notieren. „… Den Vertrag über die offizielle Auftragsvergabe an Kaiba Corp. bereitet meine Rechtsabteilung gerade vor; ich sende ihn dir zu, sobald er mir vorliegt und ich unterschrieben habe. Die finale Abnahme des Designs lege ich ganz in Dukes Hände. Viel scheint an dieser Front ja gar nicht mehr zu tun zu sein, aber er ist vor Ort, was die Abstimmung sicher erleichtert, außerdem ist er der Designer des Spiels und damit der Experte.“ „Mhm“, stimmte Seto zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spielte gedankenverloren mit dem Kugelschreiber in seiner Hand. „In aller Ernsthaftigkeit, mein lieber Kaiba, ich muss mich wirklich bei dir bedanken! Ich bin von Dungeon Dice Monsters extrem überzeugt, ebenso wie vom jungen Devlin. Wenn er so weitermacht, hat er noch eine glänzende Zukunft vor sich und es hätte mir wahrlich das Herz gebrochen, ihn so früh schon scheitern zu sehen. Also: Danke für deine Unterstützung!“ Fast schon zwanghaft klickte Seto wieder und wieder die Mine des Kugelschreibers hinaus und wieder hinein. „Es bringt mir nun mal Umsatz.“ „Natürlich, natürlich! Sag, wann endet eigentlich offiziell euer Schuljahr?“ Setos Daumen hielt still, das Klicken stoppte. „Ende März. Warum?“ „Nun, ich trage mich mit dem Gedanken, den jungen Devlin zurück nach Amerika zu locken. Vielleicht erst einmal nur für ein paar Monate, im Rahmen eines großzügig bezahlten Praktikums, aber natürlich in der Hoffnung, dass er auf den Geschmack kommt und sich entschließt dauerhaft zu bleiben.“ Klackernd fiel der Kugelschreiber aus Setos Hand hinunter auf die Schreibtischplatte und rollte leise weiter über die Kante. „Ein derart helles Köpfchen und so leidenschaftlich bei der Sache, ich wäre dumm, mir dieses Talent nicht zu sichern! Das bleibt aber unter uns, mein Lieber, wir wollen doch dem guten Duke die Überraschung nicht verderben, nicht wahr?“ „Selbstverständlich!“, presste Seto widerwillig hervor, während er nach unten gebeugt am Boden nach dem heruntergefallenen Kugelschreiber suchte. „Wunderbar, wunderbar! Nun, dann möchte ich dich auch nicht weiter aufhalten, immerhin ist bei dir bereits Freitagabend und junge Leute wie du sollten um diese Zeit Besseres zu tun haben, als über irgendwelche Verträge und Lieferzeiten zu verhandeln! Mach den Computer aus, geh raus, triff dich mit anderen Menschen, hab Spaß! Diese einmalige Zeit bekommst du so nie wieder! Glaub mir, ich weiß wov–“ „Auf Wiederhören, Pegasus!“, würgte Seto ihn ab, legte auf und knallte das Smartphone auf die Tischplatte. Warum nur hatten in letzter Zeit ständig Leute das unerklärliche Bedürfnis, ihm zu sagen, wie jemand in seinem Alter zu sein und zu leben hatte?! Er musste und würde nichts dergleichen tun! Weder würde er ‚rausgehen und sich mit anderen Menschen treffen‘, noch ein Mädchen oder sonst irgendwen ‚mit anderen Augen sehen‘! Er brauchte das alles nicht, hatte es nie gebraucht und so würde es auch bleiben! … ich hatte gehofft, Duke und du, ihr … habt euch vielleicht angefreundet. Nein, hatten sie nicht! Ende! Devlin war ja wohl ohnehin bald in Amerika, was bei genauerer Betrachtung die Lösung aller seiner Probleme war! Also: Viel Spaß, gute Reise, auf nimmer Wiedersehen! Auf der Suche nach etwas, das er schon wieder vergessen hatte, riss Seto eine Schublade seines Schreibtisches nach der anderen auf. Beim Blick in die unterste zuckte er unwillkürlich zusammen: Orangene Triceratops grinsten ihm mit ihren winzigen Strich-Mündern und treudoofen Knopfaugen entgegen. Was machte dieses verdammte Ding überhaupt noch hier?! Er zerrte den Block heraus und schloss die Schublade mit einem unsanften Tritt. Er musste dieses Teil endlich loswerden! Er würde es endlich loswerden! Mokuba konnte er es nicht geben, so lädiert wie es aussah; in den Müll werfen funktionierte aus irgendwelchen irrationalen Gründen ebenfalls nicht … dann blieb doch eigentlich nur noch eines: Rückabwicklung! Er würde zu Devlin gehen, ihm seinen hässlichen Dino-Block in die Hand drücken und damit endgültig alles aus seinem Leben und seinen Gedanken löschen, was geschehen war! Außerdem besaß Devlin ja bereits den passenden Stift! Ohne überhaupt einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, klappte Seto den Laptop wieder zu, marschierte die Treppen nach unten in den Flur, zog sich den kurzen, beigefarbenen Mantel über, der noch immer in der Garderobe hing, und griff sich mehr oder weniger zufällig einen der diversen Autoschlüssel vom Schlüsselbrett. Kapitel 34: Here I am. (I never really had a choice.) ----------------------------------------------------- Devlins Wohngegend lag etwas westlich der Innenstadt von Domino und war innerhalb von fünfzehn Minuten erreicht. Seto schaltete den Motor aus, nahm den Block vom Beifahrersitz und ging zügigen Schrittes die Straße hinunter zu Devlins Adresse – einem Mehrfamilienhaus neuerer Bauart mit fünf Etagen, dessen Eingangsbereich etwas zurückgesetzt von der Straße in einem kleinen Innenhof lag. Devlins Name an der Klingel war schnell gefunden. Er drückte den Knopf, es knackte leise im Lautsprecher der Gegensprechanlage. Die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Dino-Block in der rechten Hand, tippte Seto ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und wartete. Nichts passierte. Die Gegensprechanlage blieb still. Er klingelte noch einmal. Wartete. Eine Minute. Zwei. Wieder nichts. Hatte dieser Typ noch nicht mal den Anstand, da zu sein, wenn man etwas von ihm wollte?! Dabei war es mittlerweile schon 21 Uhr! Sein verfluchter Laden sollte seit mindestens einer Stunde zu sein! Mit einem frustrierten Schnauben löste Seto die Verschränkung seiner Arme, wandte sich ab und lief in dem kleinen Hof auf und ab. Er war extra bis hierher gefahren, Aufgeben war keine Option! Was konnte er no– … Beinahe hätte er sich bei seiner nächsten Kehrtwende die Hand vor die Stirn geschlagen. Natürlich, der Briefkasten! Leider war das Ringbuch etwas zu breit für den Briefschlitz, sodass Seto mehrmals ansetzen musste, bis er es halbschräg irgendwie hindurchgefädelt hatte. Schon nach wenigen Zentimetern rutschte der Block jedoch nicht weiter in den metallenen Kasten hinein. Die Zähne fest aufeinander gepresst, drückte Seto erst mit einer, dann schließlich mit beiden Händen immer stärker, die Seiten und die dicke Pappe des Hardcovers schnitten in seine Handflächen, die Ringe der Bindung ratschten an der Innenseite des Briefkastens entlang. Ihm entfuhr ein leises Ächzen, Schweißtropfen begannen sich auf seiner Stirn und seinem Rücken zu bilden, während er mit einigem Kraftaufwand an dem sich zunehmend verkeilenden Block ruckelte. Das Klappern der Briefkastentür hallte unnatürlich laut in dem kleinen, gepflasterten Innenhof wider. Egal! Er würde diesen Block jetzt loswerden und wenn eine alte Dame oder sonst irgendjemand auf die dumme Idee kam, ihn dafür anzuschnauzen, dann würde er oder sie schon eine Antwort bekommen! Die hatten doch alle keine Ahnung! Nach ein paar weiteren Minuten gewaltsamen Biegens, Brechens und Stopfens ließ Seto endlich ab. Nur noch etwa fünf Zentimeter des Ringbuchs schauten aus dem Briefschlitz heraus, so gut wie kein Ring war mehr gerade, die Kanten des Covers so abgewetzt, dass das weiße Untermaterial hervorschaute. Sämtliche Ecken waren eingedrückt und mehrere neue, tiefe Kratzer und Dellen zierten die Oberfläche. Schwer atmend betrachtete Seto seine nun leeren Hände; seine Handballen pulsierten noch immer ganz leicht nach, dort, wo sie den Block gedrückt und geschoben hatten. Erschöpft ließ er sich auf die Treppenstufen des Hauseingangs sinken. Er hatte es geschafft! Er war diesen vermaledeiten Block los! Endlich! Die Hitze und Anspannung in seinem Körper ließen allmählich nach, das wilde Rauschen seines Blutes nahm ab, die blinde Wut, die seinen Blick und seine Gedanken vernebelt hatte, verzog sich. Er atmete mehrmals tief ein und aus, stützte die Ellenbogen auf die Knie und massierte seine noch immer leicht feuchte Stirn. Aus dem Augenwinkel sah er noch einmal zum Briefkasten. Ein paar auf den Kopf gestellte Triceratops leuchteten im Licht der schwachen Hofbeleuchtung und mussten den Blick jedes Vorbeigehenden unweigerlich auf sich lenken. Mit beiden Händen rieb er sich einmal über das Gesicht und starrte hinauf in den schwarzen, wolkenverhangenen Nachthimmel. Welcher Teufel hatte ihn da gerade nur geritten? Warum zur Hölle war er überhaupt hierher gekommen?! … Um Devlin den Block zu geben und damit die Klassenfahrt vollends aus seinem Leben zu streichen, natürlich! Wie aus Protest hörte sein Herz einfach nicht auf, von innen gegen seinen Brustkorb zu hämmern. Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Er schluckte. Wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist … Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Leise seufzend erhob er sich, warf noch einen letzten Blick auf den Briefkasten und machte sich schließlich auf den Weg zurück zum Auto. Beide Hände fest um das Lenkrad des schwarzen Mercedes geschlossen fuhr Seto durch die Dunkelheit, ohne wirklich zu wissen, wohin eigentlich: Vielleicht nach Hause, vielleicht in die Firma ... Jetzt, um halb zehn abends, traten die meisten Restaurant-Besucher den Heimweg an und überließen die Gehwege der Innenstadt bunten Grüppchen junger Partygänger, die die Bars und vermutlich später auch die diversen Clubs bevölkern würden. Die Lichter der Ampeln und Leuchtreklamen zogen vorbei, ihre Reflexionen in den Schaufensterscheiben der Läden und Geschäfte verschwammen im Rückspiegel zu einem diffusen, vielfarbigen Leuchten. Einem spontanen Bedürfnis folgend öffnete er das Seitenfenster einen Spalt. Kühle Herbstluft wirbelte durch seine Haare, füllte mit jedem Atemzug seine Lungen, die Straße vor ihm war lang und weitestgehend frei, die Ampeln wechselten fast zeitgleich auf grün. Er trat auf das Gaspedal, der Wagen beschleunigte, das Rauschen des Fahrtwinds wurde lauter. Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Wenn sein merkwürdiger Ausbruch eben eines gezeigt hatte, dann dass Devlin damit wahrscheinlich gar nicht so unrecht hatte. Und alle außer ihm selbst schienen es schon längst zu wissen. Warum hast du die Entwürfe wirklich neu gemacht? Nicht wegen der Umsätze, so viel war klar. An die hatte er in der Nacht von Sonntag auf Montag (und auch danach) wahrlich keinen einzigen Gedanken verschwendet. … Dann eben Mokuba. Natürlich, warum auch sonst?! Wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist … Wobei … bei näherer Betrachtung war Mokuba nur der Auslöser gewesen, der Stein, der alles ins Rollen gebracht hatte. Für eine Sekunde begegneten ihm seine Augen im Rückspiegel, bevor er den Blick wieder nach vorn auf die wenig befahrene Straße richtete. Wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist … Der wahre Grund, aus dem er die Entwürfe neu gemacht hatte … … war Devlin gewesen. Die Leidenschaft für seine Erfindung, die seiner eigenen in nichts nachstand. Das Leuchten in den grünen Augen. Dieses verfluchte Lächeln, das verlässlich dafür sorgte, dass merkwürdige Dinge in ihm vorgingen, dass er Aussetzer hatte, nicht mehr wie gewohnt funktionierte, weil es seinen Geist komplett einnahm. War er tatsächlich naiv genug gewesen, zu glauben, dass sich daran etwas ändern würde, wenn er nur den Dino-Block loswürde?! Eine rote Ampel zwang ihn zum Abbremsen und schließlich zum Stillstand. Durch das offene Seitenfenster drang ein Gewirr von entfernten Stimmen, Gelächter, Lichter, Musik. Er wandte den Kopf, um die Quelle auszumachen, und ließ ihn gleich darauf nach hinten an die Kopfstütze fallen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Auf der anderen Straßenseite, hell erleuchtet und augenscheinlich noch geöffnet, befand sich der Black Clown. Seto konnte sich ein leises Aufstöhnen nicht verkneifen. Ernsthaft?! Nun, das erklärte zumindest, warum Devlin nicht zu Hause gewesen war, um die Retoure seines dämlichen Geschenks persönl– … Seine Augen weiteten sich in einer plötzlichen, alarmierenden Erkenntnis. War es etwa das, worum es bei der hirnrissigen Aktion gerade eben eigentlich gegangen war? Darum, Devlin zu sehen?! Die Wärme in seinen Augen? Sein Lächeln? Seine Stimme zu hören? Sich mit ihm auszutauschen? Der Vorstellung etwas entgegenzusetzen, ihn vielleicht schon bald nicht mehr sehen zu können? Die Ampel schaltete auf Grün, doch Seto rührte sich nicht, sein Fuß schwebte regungslos über dem Gaspedal. Noch einmal sah er hinüber zu dem Ladeneingang. Einige Leute in seinem Alter, oder nur wenig älter, saßen mit Getränken auf den Treppenstufen, unterhielten sich, lachten. … darum bedeutete in meinem Fall in Versuchung kommen, und mochte sie noch so gering sein, ihr unterliegen.¹ Ein lautes Hupen hinter ihm ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Ohne weiter nachzudenken, setzte er den Blinker und bog in die nächste Seitenstraße ein. Der weitläufige Ladenraum des Black Clown war so voll mit Menschen, dass Seto sich regelrecht weiter hinein schieben musste. Noch im Eingangsbereich zog er seinen Mantel aus; die Wärme war geradezu erdrückend, ebenso wie die Lautstärke. Zum Glück war er einigermaßen unauffällig gekleidet, andernfalls wäre das hier wohl ein einziges Desaster geworden. Aber glücklicherweise schienen die Besucher von Was-auch-immer-Devlin-hier-veranstaltete zu sehr mit sich selbst und den gebotenen Spiel- und Essens-Möglichkeiten beschäftigt, um von ihm Notiz zu nehmen. Er sah sich um. Viele hohe und halbhohe Regale bestimmten den Raum, von oben bis unten gefüllt mit unterschiedlichsten Brett-, Karten und Tabletop-Spielen und immer wieder unterbrochen von Vitrinen voll bemalter Miniaturen, seltener Sammelkarten oder aufwändig gestalteter Deluxe-Versionen. Gar nicht mal so schlecht, Devlin schien sich hier wirklich etwas aufgebaut zu haben … Letzterer war nirgends zu sehen, aber vielleicht war das auch ganz gut so. Was hätte er auch sagen sollen? Er wusste ja nicht einmal selbst so genau, was das hier eigentlich werden sollte. Eine große Vitrine in der Ecke erregte Setos Aufmerksamkeit und er drückte sich an ein paar lauthals lachenden Jungen vorbei dorthin. In dem Glaskasten waren drei verschiedene Varianten der aktuellen Duel Disk Generation ausgestellt; rechts daneben ein Schild, das den baldigen Release der neuen Generation ankündigte. Schon in weniger als vier Wochen würde sie, nach fast zwei Jahren anstrengender und fordernder Entwicklungszeit, vermutlich ebenfalls hier liegen … „Bist du mit der Präsentation zufrieden?“ Er fuhr herum und begegnete schelmisch funkelnden, grünen Augen, die ihn sofort und mühelos in ihren Bann zogen. „Hätte ich gewusst, dass du persönlich zur Inspektion kommst, hätte ich die Vitrine nochmal sauber gemacht. Sie zieht immer besonders viele Finger- und Nasenabdrücke an.“ Auf Devlins Lippen lag ein leichtes Schmunzeln, das Setos Herz höher schlagen ließ. Himmel, was machte er hier eigentlich?! Seine Finger wurden feucht und schnell vergrub er sie im Stoff seines Mantels, den er über dem Arm trug. „Hast du immer so lange offen?“ Gott, was für eine dämliche Frage! Was stimmte denn nicht mit ihm?! Doch Devlin schien sich nicht daran zu stören und schüttelte den Kopf. „Nur am zweiten Freitag im Monat, zur ‚Game Night‘.“ Mit einer Handbewegung bedeutete er Seto ihm zu folgen und dirigierte ihn durch die vielen Menschen weiter in den Laden hinein. „Dort drüben gibt es Essen und Getränke, da hinten können die Leute an den Tischen ausgewählte Brettspiele ausprobieren.“ Sie erreichten eine Treppe, die hinunter in die Untergeschosse führte, und stiegen hinab. Zwei Absätze weiter unten blieb Devlin stehen und deutete auf einen großen Raum, der sich hinter einer weit geöffneten, schweren Doppeltür erstreckte. „Hier kann man DDM spielen und noch eine Etage weiter unten ist die Duel Monsters Arena.“ „Die, die du erneuern willst?“, fragte Seto reflexhaft in Anknüpfung an ihr Gespräch auf dem Rasen der Jugendherberge. „Ganz genau!“, bestätigte Devlin grinsend und führte ihn geradewegs in den effektvoll beleuchteten Raum mit der DDM-Arena. Ein Stück links von der Tür lehnte Devlin sich an die Wand und fast schon automatisch tat Seto es ihm gleich. Auch hier herrschte reger Betrieb, wenn auch nicht ganz so viel wie oben. Trotzdem fielen sie nicht weiter auf; alle Anwesenden schienen nur Augen für das laufende Spiel und die beinahe raumhohen, lebensechten Hologramme zu haben, sodass ihnen niemand größere (oder auch nur irgendeine) Beachtung schenkte. „Wie du siehst, ist das Konzept ein ziemlicher Erfolg, der Laden ist eigentlich jedes Mal brechend voll“, fuhr Devlin halb mit Blick auf die gerade laufende DDM-Partie, halb an ihn gewandt fort, „Es ist eben etwas Besonderes – ein Anlass, du weißt schon, etwas, das sich einprägt. Siehst du zum Beispiel die beiden da drüben?“ Der vertraute Duft von Zitrone und Meer stieg in Setos Nase, als Devlin den Kopf ein wenig zu ihm neigte und unauffällig auf einen vielleicht 16-jährigen Jungen deutete, der gerade darauf zu warten schien, als nächstes spielen zu können. An ihn geschmiegt stand ein Mädchen und hielt seine Hand. Setos Puls beschleunigte sich. „Die beiden haben ein Date“, erläuterte Devlin leise und sein Atem streifte dabei ganz leicht Setos Wange, „Er glaubt, er kann sie beeindrucken, wenn er gleich ein Spiel gewinnt; sie freut sich einfach mit ihm zusammen zu sein und eine gute Zeit zu haben, mehr nicht. Aber wenn er in ein paar Wochen Geburtstag hat, wird sie daran denken, dass er Spiele mag und sich an den tollen Abend erinnern, den sie hier hatten, und wird sein Geschenk hier kaufen und nicht irgendwo im Internet.“ Seto versuchte die leichte Gänsehaut zu ignorieren, die auf seinen Armen entstand. „Clever.“ Ein paar Minuten lang standen sie einfach nur da, nebeneinander, mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt und beobachteten schweigend das Geschehen. Der Junge, der bis gerade eben noch gespielt hatte, hatte mittlerweile gegen seinen Kumpel gewonnen und stieg mit stolz geschwellter Brust und einem breiten Grinsen im Gesicht von der Arena. Einige der wartenden Zuschauer klatschten, sein Gegner klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und auch seine anderen Freunde gratulierten ihm begeistert. „Mokuba war gestern hier“, brach Devlin wie aus dem Nichts das Schweigen, als der Applaus verklungen war. Um ein Haar wäre Seto zusammengezuckt. „Ich weiß“, war alles, was ihm zur Antwort einfiel. „Ich hab kurz zugesehen, er hat ein echtes Talent für DDM. Muss in der Familie liegen.“ Ein sanftes Lächeln umspielte Devlins Lippen, die grünen Augen schauten kurz zu ihm, dann wieder weit weg ins Leere. Setos Herz pochte, das Blut rauschte in seinen Ohren, seine Lippen schienen sich völlig ohne sein Zutun zu bewegen und Worte zu formen: „Ich … hab es nicht wegen der potentiellen Umsatzverluste getan.“ Devlin nickte; ein trauriger Schleier huschte durch seinen Blick. „Sondern für ihn, ich weiß.“ Nicht nur. Seto hatte den Mund schon geöffnet, doch anstatt die Worte auszusprechen, schloss er ihn wieder. Ein nagendes Gefühl erfasste sein Herz, das Gefühl einer entgangenen Chance oder eines verpassten Moments, doch er schob es beiseite und sprach einfach weiter: „Er … hat mir am Sonntag von seinem ersten Besuch hier erzählt. Zu sagen, er wäre begeistert gewesen, wäre noch untertrieben.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Devlins Lächeln größer wurde. In seinem gesamten Oberkörper schien es zu flattern und zu kribbeln. „Das hat mich in der Tat zum Nachdenken gebracht, vor allem angesichts der … vorangegangenen Ereignisse.“ Er atmete gedehnt aus. „Es ist wirklich ein hervorragendes Spiel. Und wäre es meine Erfindung, wäre eine Lüge vermutlich noch das Geringste gewesen, was ich getan hätte.“ Devlin schmunzelte. „Das haben wir dann wohl gemeinsam.“ Nicht nur das. Wieder sprach Seto den Gedanken nicht laut aus, sondern schwieg, genau wie Devlin. Zum ersten Mal an diesem Tag schien sein Kopf zur Ruhe, sein Gedankenkarussel zum Stillstand zu kommen. Angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Mit Devlin zusammen zu sein, war so … einfach: Devlin stellte keine Fragen, gab ihm keine ungebetenen Ratschläge, was er zu tun oder zu lassen hatte. Zweifellos konnte sich Devlin den Mund fusselig reden, wenn er wollte, aber er hatte auch ein untrügliches Gespür dafür, wann es besser war, einfach die Klappe zu halten. Seto wagte einen vorsichtigen Blick zur Seite. Devlin machte keine Anstalten sich von der Stelle zu bewegen. Musste er sich nicht eigentlich irgendwann wieder um seine Kunden kümmern? Ach, egal. Duke rührte sich nicht. Eigentlich hätte er schon längst wieder hochgehen müssen, aber andererseits … es war fast zehn und damit ohnehin nur noch eine Stunde bis die Game Night endete. Der Betrieb ließ bereits nach, die anderen würden schon klarkommen. Kaiba war hier. Alles andere war egal. Vorhin, als er durch die Regalreihen gegangen war und die vertraute Gestalt vor der Vitrine mit den Duel Disks hatte stehen sehen, hatte er kaum seinen Augen getraut. Fragen waren wie Blitze durch seinen Kopf geschossen: Was wollte Kaiba hier? Wer oder was hatte ihn dazu gebracht herzukommen? Was hatte das alles zu bedeuten? War Kaiba nicht heute Mittag noch regelrecht vor ihm geflüchtet? Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Duke noch steif und fest behauptet, dass Schrödingers Katze am letzten Tag der Klassenfahrt gestorben war und keine Chance mehr auf Rettung hatte. Aber jetzt? Kaibas Anwesenheit änderte die Lage, so viel war klar, aber solange weiterhin niemand etwas sagte, würde er es nie endgültig herausfinden. Allerdings würde er sehr vorsichtig vorgehen müssen, andernfalls bestand das hohe Risiko, dass Kaiba erneut die Flucht ergriff – wie ein wildes Tier im Wald, das man verscheuchte, wenn man sich zu schnell näherte oder zu laut auftrat. Nun, ein wenig war Kaiba ja eben schon selbst mit der Wahrheit herausgerückt, vielleicht konnte (oder sollte?) er ihm auch noch ein wenig entgegenkommen … nur womit? Das Wichtigste wusste Kaiba ja im Grunde bereits … außer vielleicht … „Die Zeichnung heute in der Schule–“ „Ich weiß“, stoppte Kaiba ihn leise, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Die blauen Augen waren, ebenso wie seine eigenen, starr nach vorne gerichtet, die Geräusche der Arena, das diffuse Geschnatter und Gemurmel der anderen Menschen fast völlig in den Hintergrund getreten – so als stünden sie nicht gerade in einem überfüllten Spieleladen in der Innenstadt von Domino, sondern lägen wieder ganz allein nebeneinander im Bett einer mittelmäßigen Jugendherberge in Nagano und starrten an die Zimmerdecke, weil es das Akzeptieren und Aussprechen der Wahrheit so viel einfacher machte. Duke schluckte. Sollte er weitermachen? Noch hatte Kaiba nicht das Weite gesucht … und von selbst würde er vermutlich nicht darauf zu sprechen kommen … Er rückte ein kleines Stück weiter nach rechts, näher an Kaiba heran. Nicht nur, weil er so leiser sprechen konnte, sondern auch, weil es, wenn das hier nach hinten losging, gut und gerne seine letzte Chance sein konnte, ihm noch einmal so nahe zu kommen. Sein Herz raste. „In dem Block war eine ganz ähnliche Zeichnung.“ Neben ihm blieb es still. Kaiba sagte nichts, rührte sich jedoch auch nicht von der Stelle, wich ihm nicht aus. Eine Spannung schien von seinem Körper auszugehen, die Luft zwischen ihnen zu knistern. Einige weitere, unendlich lange Sekunden später entließ Kaiba ein leises Schnauben und sah auf den Boden. „Du hast sie noch?“ Sein Tonfall war weder drohend noch gefährlich, sondern überraschend neutral. Duke schüttelte den Kopf. „Sie ist im Regen auf der Heimfahrt durchgeweicht und zerrissen.“ Er biss sich leicht auf die Unterlippe. „Was ich sehr schade fand, ich … hätte sie gerne aufgehoben.“ Die Worte wogen so viel schwerer als ihr Inhalt. Ja, oberflächlich mochte es um die Zeichnung gehen, aber eigentlich … auch nicht. Nicht nur. Kaiba lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Was würden deine kleinen Freunde wohl dazu sagen?“ Hinter der Frage steckte mehr als die sarkastische Bemerkung, die man auf den ersten Blick erkannte. Sie war eine Art Test, das war Duke instinktiv klar. Nach allem, was die vergangene Woche ihn äußerst eindrücklich gelehrt hatte und was jetzt, hier, in diesem Moment, auf dem Spiel stand, war die Antwort jedoch denkbar einfach. Er zuckte mit den Schultern. „Was spielt es für eine Rolle? Versteh mich nicht falsch, sie sind meine Freunde, ich mag sie sehr und ich vertraue ihnen wirklich, aber … manche Dinge gehen sie einfach nichts an.“ Kaiba nickte, seine Mundwinkel zuckten minimal nach oben. „Zum Beispiel, warum du dich nicht mehr schminkst?“ Das entlockte auch Duke ein schmales Lächeln. „Zum Beispiel. Danke übrigens nochmal!“ „Wofür denn nun schon wieder?“ „Das, was du letzte Woche gesagt hast. Über die Narbe und … meinen Vater. Letzten Endes war es das, was mich zum Umdenken gebracht hat. Es ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.“ Vorsichtig sah er aus dem Augenwinkel zu Kaiba. „Wie so vieles.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern gewesen, aber Kaiba hatte es mit Sicherheit gehört, so wie er seine Augenlider einmal schwer zu- und wieder aufschlug. Eine hochriskante Aussage, ohne Zweifel – Worte ließen sich nicht wieder einfangen, ließen alles zu real werden. Aber das war es nun einmal, und jetzt, hier, in diesem Moment, hatte Kaiba den Eindruck gemacht, als würde ihn das gar nicht mehr so sehr stören. Dukes Herzschlag beschleunigte sich alarmiert, als Kaiba sich neben ihm bewegte, der Stoff des Mantels in seinen Armen leise raschelte. War er etwa doch zu weit gegangen?! Würde Kaiba wieder fliehen – vor ihm, vor der Wahrheit? Eine Berührung an seiner Schulter, ganz leicht nur, aber unzweifelhaft da, schickte ein Kribbeln durch seinen gesamten Arm. Kaiba hatte lediglich seine Position ein wenig geändert und – bewusst oder unbewusst? – die letzten Zentimeter zwischen ihnen überwunden. Ihre Oberarme berührten sich und Duke wäre es nicht einmal im Traum eingefallen zurückzuweichen. Eine wohlige Wärme breitete sich ausgehend von seinem Arm in seinem gesamten Körper aus. Er hatte es ausgesprochen; zwar nicht direkt, aber Kaiba hatte verstanden. Und trotzdem war er noch hier. Kaiba war immer noch hier! Alles andere war egal. Hätte man Seto gefragt, was in den vergangenen Minuten auf dem DDM-Spielfeld passiert war, wer am Zug war oder wie es stand, er hätte es nicht sagen können. Niemand von ihnen bewegte sich auch nur einen Millimeter. Ein wildes, aber diesmal unzweifelhaft angenehmes Flattern hatte ihn erfasst und eine Leichtigkeit und merkwürdige Klarheit mit sich gebracht, die er seit über einer Woche nicht mehr gefühlt hatte. Der Junge von vorhin hatte seine Partie anscheinend gewonnen, denn kaum, dass er von der Arena hinuntergestiegen war, fiel ihm seine Freundin um den Hals und küsste ihn stürmisch. Devlin schien es ebenfalls zu beobachten und lächelte versunken. Hand in Hand ging das Pärchen an ihnen vorbei nach oben. Seit seiner Ankunft hatte Seto nicht einen einzigen Gedanken an die Zeit verschwendet, doch entging ihm keineswegs, wie sich der Raum allmählich immer weiter leerte und ein Grüppchen nach dem anderen ging, bis nur noch er und Devlin übrig waren. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, als schließlich geschah, was er wohl unbewusst schon lange befürchtet hatte: Devlin löste die Verschränkung seiner Arme und stieß sich von der Wand ab. „Ich muss jetzt schließen.“ Die Wärme der Berührung verflüchtigte sich rasend schnell und Seto war, als würde er aus einer tiefen Trance gerissen. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit warf er einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk: 22:58 Uhr. Wann war es so spät geworden? War er wirklich fast anderthalb Stunden hier gewesen? Ohne ein weiteres Wort, nur mit einem letzten, zaghaften Lächeln verschwand Devlin und ging nach oben. Seto hingegen verharrte noch einen Moment, bevor er sich ebenfalls von der Wand löste. Gedankenverloren trat er an die DDM-Arena, ließ seinen Blick über die Terminals und das Spielfeld schweifen und strich mit der Hand über das kalte Metall der Spielfeldumrandung. War es ein Fehler gewesen, herzukommen? Er schüttelte leicht den Kopf. Nein. Nein, war es nicht. Er atmete noch einmal tief ein und aus, dann wandte er sich von der Arena ab und stieg ebenfalls die Treppen nach oben in den mittlerweile ausgestorbenen Ladenraum. Die Luft war nach wie vor stickig und viel zu warm, wie immer, wenn sich eine große Zahl von Menschen über längere Zeit auf zu kleinem Raum aufgehalten hatte. Devlin stand hinter dem Verkaufstresen und löschte die Lichter, bis nur noch die dezente Schaufensterbeleuchtung übrig blieb. War wirklich niemand anderes mehr da? Wo waren Devlins Mitarbeiter? „Meine Leute habe ich schon nach Hause geschickt. Es war auch für sie ein langer Tag.“ Seto nickte unwillkürlich (War er wirklich so durchschaubar geworden?), zog seinen Mantel über und schritt durch die Regale hinweg nach vorn in Richtung Ausgang. Zum zweiten Mal an diesem Tag bohrte sich Devlins Blick unnachgiebig in seinen Rücken. Frische, kühle Luft drang hinein, als er die schwere Glastür aufdrückte und in die mit farbigen Lichtern durchsetzte Schwärze der Nacht hinaustrat. Devlin war ihm gefolgt und blieb im Türrahmen stehen. Es hätte so einfach sein sollen: Eine letzte Verabschiedung, umdrehen, gehen – soweit die Theorie. Doch ein unsichtbarer Widerstand hielt Seto beharrlich an Ort und Stelle fest. Ein Windstoß erfasste Devlins Haare und wehte ein paar der weich-glänzenden, schwarzen Strähnen in dessen Gesicht. Beiläufig strich er sie sich aus der Stirn und sah Seto tief in die Augen. „Du … müsstest nicht gehen.“ Setos Kehle schnürte sich zu. Er schluckte. „Bis Montag“, hörte er eine Stimme sagen, und erkannte erst mit ein wenig Verzögerung, dass es seine eigene gewesen war. Devlin nickte, ein trauriges, aber verständnisvolles Lächeln auf den Lippen. „Bis Montag.“ Seto erwiderte das Nicken, bevor er sich schließlich umdrehte und zügig auf den Weg zum Auto machte. Die Temperaturen waren noch einmal merklich gesunken, ein starker Höhenwind peitschte die Wolken mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit über den Nachthimmel und riss sie dabei immer wieder auseinander, sodass man – selten genug für eine Großstadt wie Domino – ab und an ein paar schwach leuchtende Sterne erkennen konnte. Seto vergrub die Hände in den Manteltaschen und zog den dicken Wollstoff enger um sich. Die verbliebenen Blätter an den Ästen der Bäume rauschten im Wind, während herabgefallenes Laub zwischen seinen Füßen und Beinen hindurch über den Gehweg wirbelte. In der Ferne konnte er den Wagen schon sehen, zog den Autoschlüssel aus der Manteltasche und drückte den Knopf, um aufzuschließen. Unablässig wie die Wolken oben am Himmel zogen die vergangenen gut anderthalb Stunden noch einmal an seinem geistigen Auge vorüber. Er hatte Dinge gesagt, die er eigentlich nicht hatte sagen wollen, und so vieles nicht gesagt, das er hatte sagen wollen … oder hätte sagen sollen? Seine rechte Hand schloss sich um den kalten Griff der Autotür. Nicht zu fassen, Joey hatte Recht! Du hast Angst! Er hielt inne. Neunzig Minuten lang hatte er einfach nur neben Devlin gestanden … und hätte das problemlos weiter tun können, wenn nicht sein Verstand sich eingeschaltet hätte, als Devlin schließen musste. Und wieder war da diese unfassbare Wärme in Devlins Blick gewesen. Verständnis. Keine Nachfrage, kein ‚Warum nicht?‘, kein Vorwurf. Devlin wollte, dass er blieb. Und er … Wenn du mal ganz ehrlich zu dir bist … Er wollte es auch. Seine linke Hand krampfte sich fester um den Autoschlüssel. Warum zur Hölle tat er es dann nicht einfach?! Wenn dir ma wirklich jemand nahe kommt, dann haut’er doch sofort wieder ab! Weil er dann ganz schnell merkt, was für’n kaputtes Arschloch dein verrückter Stiefvater aus dir gemach’ hat un was für’n trauriges Lebn du eign’lich führst! Tze, an Wheelers dämlicher Theorie war jedenfalls so ziemlich alles falsch – wie nicht anders zu erwarten. Natürlich war sein Leben nicht traurig! Hektisch, stressig, anstrengend, ja, aber auch enorm erfüllend! Niemand verstand das besser als Devlin. Und was die Vater-Sache anging … wie sollte Devlin ihn da verurteilen, wo er doch das Zeichen seiner ganz eigenen Geschichte offen im Gesicht trug? … weil dein Leben so viel einfacher und unkomplizierter ist, wenn dir niemand zu nahe kommt! Weil du dich dann nicht ernsthaft mit dem auseinandersetzen musst, was in dir vorgeht, sondern einfach weiter funktionieren kannst! Ja, sicherlich, so hatte er gedacht. Doch die Realität sah anders aus. Je weiter er Devlin von sich wegstieß, desto weniger schien er zu funktionieren. Erst jetzt, in den letzten Minuten, einfach schweigend neben Devlin, hatte er sich zum ersten Mal wieder ruhig und irgendwie … ausgeglichen gefühlt. Musste man die Logik also tatsächlich umkehren? Konnte er vielleicht nur dann wieder funktionieren, wenn er endlich seinen Widerstand, seine Kontrolle aufgab?! Und … wäre das wirklich so schlimm? Devlin hatte diese Momente, dieses Wissen, zu keinem Zeitpunkt ausgenutzt, hatte niemandem von der Sache am See erzählt oder allem anderen, was zwischen ihnen passiert war: seinen Freunden nicht, Mokuba nicht, … Außerdem: War es nicht irgendwie auch … angenehm gewesen, hin und wieder die Kontrolle abzugeben? Vor allem an jemanden, der – anders als Wheeler beim Orientierungslauf – tatsächlich wusste, was er tat? Doch war dabei immer auch etwas anderes an die Oberfläche gespült worden; ein beklemmendes, erstickendes Gefühl, das sich mal mehr, mal weniger stark in sein Bewusstsein gedrängt hatte … Tatsächlich … Angst. Angst sich nicht mehr zu kennen, sich nicht mehr auf sich selbst verlassen zu können. Angst, jemand anderes zu werden, genau wie Dr. Jekyll – ein Mr. Hyde, von dem es kein Zurück mehr gab. … aber das hier war kein Buch, sondern das echte Leben. Sein Griff um den Autoschlüssel lockerte sich. Er war kein Charakter in irgendeiner Geschichte, war weder Mr. Hyde noch Dr. Jekyll. Er war Seto Kaiba und würde das auch bleiben – ein bisschen anders vielleicht, aber nicht zwangsläufig schlechter. Wenn du mal ganz ehrlich zu dir bist … Devlin hatte recht: Da war eine Verbindung zwischen ihnen und sie war weit mehr als nur körperlich. Devlin erwartete nichts von ihm, vor allem keine Geständnisse, drängte ihn zu nichts. Himmel, Devlin hatte ja nicht einmal gefragt, warum er heute Abend überhaupt hergekommen war! Wie von allein wanderte sein linker Daumen langsam in Richtung des Knopfes mit dem verriegelten Schloss. … vielleicht, weil Devlin schon geahnt hatte, dass er es nicht einmal selbst wusste. Nun, ich trage mich mit dem Gedanken, den jungen Devlin zurück nach Amerika zu locken. Aber Verbindung hin oder her – was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Devlin würde schon bald weg sein und vielleicht nicht mehr zurückkehren. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er zog leicht am Griff der Autotür. Allerdings … … bis dahin waren es noch mindestens sechs Monate. Sechs lange Monate. Sein kleiner Finger ließ los. Sechs Monate, in denen es unmöglich so weitergehen konnte! Sein Ringfinger ebenfalls. Wenn diese Klassenfahrt eines gezeigt hatte, dann dass Gozaburo (wieder einmal) falsch gelegen hatte: Es gab sehr wohl so etwas wie Fehler! In Bezug auf Devlin hatte er schon einmal einen gemacht. Und irgendwie fühlte sich das hier – hier draußen in der Kälte zu stehen, statt in der Wärme des Ladens neben Devlin – gerade wie der nächste an. Der Griff der Autotür schnappte zurück, als Seto ihn endgültig losließ und auf dem Absatz kehrtmachte. Noch im Gehen schloss er den Wagen wieder ab und ließ den Autoschlüssel zurück in seine Manteltasche gleiten. Mit jedem Schritt wurde er schneller, bis er tatsächlich rannte. Duke stand schon auf den Treppenstufen, um nach oben in sein Büro zu gehen, da brachte ihn ein plötzlicher Impuls dazu, sich noch einmal umzudrehen – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie im schummrigen Licht der Straßen- und Schaufensterbeleuchtung eine vertraute Gestalt vor der gläsernen Ladentür auftauchte. Sein Herz machte einen Sprung. Noch bevor Kaiba die Hand zum Klopfen heben konnte, rannte Duke schon vorbei an den Tischen und durch die Regalreihen zurück zur Tür. Mit schwitzigen, leicht zitternden Fingern kramte er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel und wiederholte die schon tausendfach ausgeführten Handgriffe trotz des Sturms, der in ihm tobte, mit schlafwandlerischer Sicherheit. Der beißende Wind von draußen ließ eine Gänsehaut auf seinen Armen entstehen, als er schließlich leicht außer Atem die Tür öffnete. „Hast du was vergessen?“ Wieder war es kaum mehr als ein Flüstern, zweifelnd, ungläubig. Die blauen Augen sahen ihn unverwandt an, das indirekte Licht der Schaufenster spielte in ihnen wie Mondlicht auf den Wellen des Meeres. „Nein.“ Kaiba schluckte. „Ich meine … ja, ich–“ Duke entließ ein kurzes Schnauben und schüttelte leicht den Kopf. „Halt die Klappe!“ Blitzschnell packte er das Revers des beigen Mantels, zog sich halb auf die Zehenspitzen und verschloss Kaibas Lippen mit seinen. Alles in Seto schien zu explodieren. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, erwiderte er den überfallartigen, alles andere als zurückhaltenden Kuss und legte all das hinein, was er eigentlich hatte sagen, aber vielleicht niemals wirklich würde aussprechen können. Worte wurden ohnehin überbewertet. Seine Finger krallten sich in den schwarzen Stoff von Devlins Sweatshirt, zogen ihn noch näher heran, falls das überhaupt möglich war, und schoben ihn gleichzeitig nach hinten zurück in den Laden. Mit einem gedämpften ‚Klack’ fiel die schwere Glastür hinter ihnen ins Schloss und ließ sie die restliche Welt außerhalb vollständig vergessen. Kaum, dass Kaibas weiche Lippen anfingen, sich gegen seine zu bewegen, ließ die Anspannung in Dukes gesamtem Körper schlagartig nach. Seine Hände lösten sich von Kaibas Mantel und strichen stattdessen genüsslich über den Stoff des schwarzen Rollkragen-Shirts, das jenen unfassbar anziehenden Körper verbarg, den er, seit er ihn in der U-Bahn von Nagano zum ersten Mal unabsichtlich berührt hatte, nicht mehr hatte vergessen können. Mit einem Mal war alles wieder da – noch tausendmal intensiver als an dem viel zu kurzen, folgenreichen Nachmittag in der Jugendherberge: Kaibas kühle Hand, die sein Gesicht umfasste und sich über seinen Hals weiter nach hinten in seinen Nacken schob, Kaibas Lippen, von denen die Kälte der Herbstnacht längst verschwunden war, der Duft des Parfüms, der ihn wie ein betörender Nebel einhüllte und ihm die Sinne raubte. Auf der Suche nach noch mehr Nähe, mehr Wärme wanderten seine Hände begierig unter den Wollmantel und dessen seidig-weiches Innenfutter. Sie hatten jedes Gefühl für ihre Umgebung verloren, stolperten wie im Rausch immer weiter nach hinten, bis Dukes Rücken auf die Kante eines Regals traf. Der sanfte Aufprall brachte es für eine Sekunde gefährlich zum Wackeln, doch es folgten lediglich ein paar dumpfe Geräusche, als zwei oder drei schwere Pen & Paper-Regelwerke in ihrem Fächern umfielen. Ebenso gut hätte das ganze Regal umkippen und in einer fatalen Kettenreaktion den halben Laden in Schutt und Asche legen können – jetzt und hier wäre es Duke vermutlich herzlich egal gewesen. Seine rechte Hand vergrub sich tief in Kaibas weichen Haaren, ihre Zungen trafen sich, er schloss die Augen und ergab sich völlig in die Schwerelosigkeit und Euphorie des Augenblicks. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sie fast zeitgleich den Kontakt ihrer Lippen, nicht jedoch ihre Hände und Arme vom Körper des Anderen. Kaibas Gesicht, heiß, fast fiebrig, ebenso wie sein eigenes, war noch immer ganz nah, ihr flacher, abgehackter Atem vermischte sich zu einem. „Willst du mit zu mir kommen?“, hauchte Duke in das Halbdunkel des leeren Ladens. Keine Antwort, nur weiterhin leises, schnelles Ein- und Ausatmen in der Stille. Dukes Endorphinrausch versiegte; die aufgekratzte Leichtigkeit der letzten Minuten wurde verdrängt von der klammen Befürchtung, wieder einmal zu schnell vorgeprescht zu sein. Hatte er den Bogen überspannt? Besann sich Kaiba gleich eines Besseren und würde wieder die Flucht ergreifen? Er kniff die Augen zusammen, ließ die Schultern sinken und entließ ein leises Seufzen. „Aber wenn du ni–“ „Mein Auto steht um die Ecke.“ Sofort riss Duke die Augen wieder auf und für den Bruchteil einer Sekunde erwog er ernsthaft, Kaiba zu bitten, den Satz noch einmal zu wiederholen. Aber da gab es nichts falsch zu verstehen und er hatte es sich mit Sicherheit auch nicht eingebildet. Die erstickende Enge in seiner Brust löste sich auf und seine Mundwinkel strebten unaufhaltsam nach oben. Kaum etwas in seinem Leben hatte ihn je so viel Überwindung gekostet, wie sich in diesem Moment von Kaiba zu lösen, aber es nützte nichts; seine Jacke und sein Rucksack, in dem sich auch der Wohnungsschlüssel befand, waren noch oben. „Warte hier, ich hol nur noch schnell meine Sachen!“ Seine Hand drückte noch einmal sanft Kaibas Schulter, so als müsste er sich versichern, dass es sich nicht doch um ein Traumgebilde oder eine Halluzination handelte, die verpuffte, sobald er nicht mehr hinsah. „Geh bloß nicht weg! Ich warne dich!“ „Jetzt mach schon!“ Der halb ungeduldige, halb amüsierte Unterton in Kaibas Stimme zusammen mit der zarten Andeutung eines Schmunzelns auf dessen Lippen war Beruhigung genug und so sprintete Duke, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen nach oben in sein Büro. Kaibas Auto stand tatsächlich zwei-, vielleicht dreihundert Meter entfernt in der nächsten Seitenstraße. Duke hatte den Reißverschluss seines Parkas nicht geschlossen; der kräftige, schneidende Herbstwind und die Kälte der Nacht kümmerten ihn nicht im Mindesten. Wärme schwappte, ausgehend von seinem Herzen, in immer neuen Wellen durch seinen gesamten Körper, von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz. Jedes Mal, wenn er zu Kaiba sah, der einen Meter vor ihm lief, fühlte er sich leicht, taumelnd, fast ein wenig schwindelig, als würde er statt durch das nächtliche Domino durch eine phantastische Traumwelt spazieren. Die Fahrt in dem edlen, schwarzen Mercedes – dem äußeren Erscheinungsbild und dem Geruch im Innern nach zu urteilen noch recht neu – verlief schweigend. Auch wenn um diese Zeit kaum noch Verkehr auf den Straßen war, schien Kaiba vollkommen auf das Lenken des Wagens konzentriert. Vermutlich hatte er sich die Adresse von Roland geben lassen, denn er fragte kein einziges Mal nach und nahm an jeder Kreuzung verlässlich die richtige Abzweigung. Ein kleines Stück von Dukes Wohnung entfernt parkte er schließlich den Wagen in der ersten freien Lücke. Sie stiegen aus und wieder ging Kaiba vorneweg, genau in die richtige Richtung. War er vielleicht schon einmal hier gewesen? Anders war das doch kaum zu erklären … Ein neuerlicher Windstoß fegte durch die Straße, raschelte durch die Hecken und dünnen Bäumchen in den Vorgärten. Wieder vergrub Seto seine Hände in den Taschen seines Mantels – nicht etwa, weil sie sonst kalt geworden wären, sondern vielmehr, um seine Finger dazu zu zwingen, wenigstens für ein paar Minuten still zu halten, jetzt wo das Lenkrad diese Aufgabe nicht mehr übernahm. In der Sekunde als die sanfte Vibration des Motors aufgehört und er den Schlüssel aus der Zündung gezogen hatte, hatte er sich kurz ernsthaft die Frage gestellt, wie genau sie eigentlich hierher gekommen waren. Er selbst hatte jedenfalls keinerlei Erinnerung an die erst vor wenigen Sekunden beendete Fahrt. Wie in einer Dauerschleife hatte sein Gehirn ihm die Ereignisse der letzten halben Stunde wieder und wieder vorgespielt, ohne dass seine körperliche und mentale Reaktion darauf in irgendeiner Weise nachzulassen schien. Dass er nicht unzählige Verkehrsregeln gebrochen oder versehentlich jemanden oder etwas umgefahren hatte, grenzte beinahe an ein Wunder. Auch die kühle Nachtluft trug nicht maßgeblich dazu bei, dass sein Kopf klarer wurde, ganz im Gegenteil. Wie berauscht schwebte er über den Gehweg und die Vorstellung, dass gleich in Devlins Wohnung mehr von dem auf ihn wartete, was sie vor wenigen Minuten im Laden begonnen hatten, trieb ihn nur noch schneller voran. Erst eine sanfte Berührung an seinem Arm brachte ihn dazu, seinen Schritt minimal zu verlangsamen. Devlin hatte zu ihm aufgeschlossen und ging so eng neben ihm, dass sich einmal mehr ihre Schultern berührten, wodurch sich das erwartungsvolle, vorfreudige Kribbeln überall in seinem Körper nur noch verstärkte. Der Anblick des kleinen Innenhofes setzte dem jedoch ein jähes Ende. Ein kalter Schauer vertrieb die überschäumende Wärme in seinem Innern und von einer Sekunde auf die nächste war Seto wieder annähernd vollständig ausgenüchtert. Die weit aufstehende Briefkastenklappe war schon von weitem zu erkennen und je näher sie dem Hauseingang kamen, auch die schwach daraus hervorleuchtenden orangenen Flecken. Seto schluckte. Wie sollte er Devlin das bitte erklären?! Vielleicht … vielleicht konnte er es noch irgendwie vertuschen, sodass Devlin erst morgen darauf stieß? So unauffällig wie möglich löste er den Kontakt ihrer Oberarme und ließ sich ein wenig zurückfallen, um ganz beiläufig an Devlins rechte Seite zu gelangen und sich, an der Haustür angekommen, mehr oder weniger direkt vor den verräterischen Briefkasten zu stellen. Immerhin, noch schien Devlin nichts gemerkt zu haben! Der war viel zu sehr damit beschäftigt in den Untiefen seines Rucksacks zu kramen, um den Schlüssel zu finden. Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi in die Länge, während Devlin wühlte und wühlte. Stocksteif stand Seto da und wagte es kaum zu atmen, um die Aufmerksamkeit seines Begleiters nicht doch durch irgendein unbedachtes Geräusch oder eine Bewegung auf sich und die physische Manifestation seiner Wut und seines verzweifelten, letzten Endes vergeblichen Kampfes mit sich selbst zu lenken, die er hinter sich verbarg. Endlich vernahm er das erlösende Klimpern, Devlin drehte den Schlüssel im Schloss und hielt ihm auffordernd die schwere Haustür auf. Verdammt! Spätestens jetzt würde er sich bewegen müssen! Aber vielleicht konnte er ja … Bevor Seto vom Briefkasten weg- und auf die geöffnete Tür zutrat, suchten seine Augen die seines Begleiters. Ganz wie erhofft fing Devlin seinen Blick auf und die unbändige, ehrliche Zuneigung in seinen smaragdgrünen Augen ließ Seto fast vergessen, dass er gerade einen Plan verfolgte. Geschafft! Er stand im Hausflur und Devlin hatte nichts bemerkt! Mit sich selbst und seiner zugegeben rudimentären Verschleierungstaktik mehr als zufrieden drehte Seto sich noch einmal um. … und erstarrte. Devlin ließ die Tür nicht zufallen, sondern hielt sie noch immer fest, seine Augenbrauen wanderten fragend nach oben, er deutete auf den Briefkasten, sein Mund öffnete sich– „Frag nicht!“, presste Seto halblaut hervor und schüttelte dezent den Kopf. Devlin stockte, doch schließlich schloss er den Mund wieder und ließ die Haustür los. Mit einem vielsagenden, ahnungsvollen Lächeln auf den Lippen ergriff er stattdessen Setos Hand und zog ihn mit sich nach oben. Bereitwillig überließ Seto ihm die Führung, während sich der Knoten in seiner Magengegend langsam auflöste. Früher oder später würde er wohl auch mit der Wahrheit über den Dino-Block und den Briefkasten herausrücken – nicht weil Devlin ihn danach fragte oder darauf drängte, sondern einfach, weil er es wollte. Aber nicht mehr heute. Für heute war alles gesagt. Außerdem … Worte wurden ohnehin überbewertet. Kapitel 35: Be where you are. ----------------------------- „Aber Seto, heute ist der erste Dezember! Mein Konsolenverbot ist offiziell zu Ende!“ „Du hast es ganze sechs Wochen ohne Computerspiele ausgehalten, da wirst du es doch wohl noch einen Tag länger schaffen! Roland wird heute sehr eingespannt sein!“ Seine aktuelle Aufgabe – die Limousine möglichst effizient durch den sich langsam ausdünnenden morgendlichen Berufsverkehr zu steuern, erst zu Mokubas Schule, dann in die Firma – würde dabei nur der Anfang sein. „Er soll mir einfach sagen, wo er die Konsolen weggeschlossen hat und dann hole ich sie mir eben selbst wieder und baue sie auf! Mal davon abgesehen, dass die Aktion echt voll unnötig war! Ich bin schon groß, ich hätte mich auch so an das Verbot gehalten!“ „Anderthalb Monate lang? Das wage ich doch stark zu bezweifeln! Statt mir zu widersprechen, solltest du dich lieber glücklich schätzen, dass es nur sechs Wochen geworden sind und nicht, wie ursprünglich angedacht, bis zu deiner Volljährigkeit!“ Seto blieb vollkommen ernst und verzog keine Miene, obwohl er durchaus mit einiger Befriedigung zur Kenntnis nahm, wie sein kleiner Bruder schluckte und zerknirscht den Blick senkte. „Okay, ich hab nichts gesagt.“ Da die Diskussion damit endlich beendet schien, zog Seto sein Smartphone aus der Anzugtasche und aktivierte das Display. Ein schneller Blick auf die Uhr: 9:15 Uhr. Wunderbar, sie lagen perfekt in der Zeit! Er drückte auf das Symbol mit dem Telefonhörer und wählte die Nummer seines Pressesprechers über den Nummernblock. Vor ein oder zwei Wochen hatte er endlich eine ruhige Minute gefunden, um sich die Durchwahlen seiner wichtigsten Mitarbeiter einzuprägen und übte sie nun, wann immer Zeit und Gelegenheit es hergaben. Was auch geschehen mochte, eine weitere Situation wie auf der Klassenfahrt galt es um jeden Preis zu vermeiden – nicht immer musste ja sein kleiner Bruder dahinter stecken. Es tutete, einmal, zweimal, dann wurde abgenommen und Seto kam ohne Umschweife zur Sache. „Guten Morgen Otaka, ist alles bereit?“ „Ah, guten Morgen Mr. Kaiba! Ja, die Bühne steht und die Technik funktioniert. Wie ich höre, hat sich Mr. Pegasus soeben vom Hotel auf den Weg gemacht; Mr. Devlin ist bereits eingetroffen.“ In Setos Magengegend begann es zu kribbeln. „Sehr gut! In spätestens fünfzehn Minuten bin ich ebenfalls da.“ Er legte auf, verstaute das Telefon wieder in der Innentasche seines Jacketts und ließ sich tiefer in die dunklen Lederpolster sinken. Nach dem überaus erfolgreichen Release der neuen Duel Disk-Generation Ende Oktober hatte er sich umgehend in die weitere Arbeit an der DDM-Duel Disk gestürzt, damit deren Release noch rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft stattfinden konnte. Die heutige Pressekonferenz und die kommenden Wochen würden nun zeigen, ob sich der zusätzliche Aufwand gelohnt hatte. Nachdem sie Mokuba wie geplant abgesetzt hatten (seine ersten zwei Stunden waren aufgrund einer Krankheitswelle unter den Lehrern heute ausgefallen), stoppte Roland den Wagen nur wenig später hinter dem KC-Gebäude. Da die Pressekonferenz im Foyer stattfinden würde, war der Hintereingang für den heutigen Tag auch zum Mitarbeitereingang umfunktioniert worden. Schon an der Tür wurde Seto von Otaka-san in Empfang genommen, der ihn zügig zu einem kleinen Seitenraum hinter der riesigen Bühne geleitete und dabei beinahe mantraartig den Ablauf wiederholte: „Also, um Punkt zehn Uhr starten wir den Film, danach eröffne ich die Pressekonferenz, rufe Sie nacheinander auf die Bühne und stelle Sie dabei kurz vor. Wenn Sie dann Ihre Plätze eingeno–“ „Das ist nicht meine erste Pressekonferenz!“, unterbrach Seto ihn mit warnendem Unterton. Trotz seiner verhältnismäßig guten Laune war seine Geduld doch durchaus begrenzt. „Natürlich, natürlich, entschuldigen Sie, Mr. Kaiba! Also dann, da wären wir! Sie hören ja, wenn ich Sie ankündige.“ Während die Tür des kleinen Meetingraums leise hinter Otaka-san zufiel, schloss Seto kurz die Augen und atmete einmal tief durch. So anstrengend der Mann zeitweise sein konnte, als Pressesprecher machte er nun einmal unbestritten einen exzellenten Job. Als er die Augen wieder aufschlug, wurde sein Blick sofort und geradezu magnetisch von der einzigen anderen Person im Raum angezogen, die in einem der Polsterstühle am Tisch saß und soeben ihre Kaffeetasse wieder abstellte. Auch nach beinahe drei Monaten und obwohl er ihn beinahe jeden Tag in der Schule sah, hatte die Intensität seiner unmittelbaren, körperlichen Reaktion, jenes aufgeregten, ja euphorischen Flatterns in seiner Brust, das sich umgehend auch auf den Rest seines Körpers ausdehnte, kein bisschen abgenommen. Devlin – Duke – legte nun auch das Smartphone aus der Hand, erhob sich und trat, ein warmes Lächeln auf den unwiderstehlichen Lippen und die Hände locker in den Hosentaschen vergraben, auf ihn zu. Dem heutigen Anlass angemessen trug er einen schmal geschnittenen, schwarzen Anzug mit Weste und schwarzem Hemd sowie eine dunkelgrüne Krawatte, die die Farbe seiner Augen auf geradezu verbotene Weise betonte. Hätten sie mehr als knapp dreißig Minuten zur Verfügung gehabt, Seto hätte kurzerhand die Tür verriegelt und sofort begonnen, nacheinander jedes einzelne der genannten Kleidungsstücke genüsslich wieder von Dukes Körper zu entfernen. Als hätte er Setos Gedanken gelesen, verwandelte sich Dukes sanftes Lächeln in ein schmutziges Grinsen. Schon öffnete er den Mund, zweifellos für einen passenden Kommentar, doch im letzten Moment stockte er und seine Augenbrauen zuckten nach oben. „Was?“, fragte Seto ein wenig konsterniert. „Also wenn du so rausgehst, wird ‚Mr. Kaiba, wie sehen Sie denn aus?‘ die erste Frage sein, die dir gestellt wird!“ Der frische Duft der seidig-weichen, schwarzen Haare stieg in Setos Nase, als Duke unmittelbar vor ihm stand und ihm mit zwei, drei geübten Handgriffen erst die Krawatte, dann das Einstecktuch richtete. Er leistete keinerlei Widerstand, sondern ließ es einfach geschehen. Wenn er eines in den letzten drei Monaten gelernt hatte, dann dass Duke schon wusste, was er tat – sehr gut sogar. „So, schon besser!“ Statt von ihm abzulassen, verharrten Dukes Hände auf Setos Brust, die smaragdgrünen Augen hielten seinen Blick gefangen, sodass Seto sich unmöglich länger zurückhalten konnte. Er beugte den Kopf leicht nach unten und verschloss die Lippen seines – Ja, was eigentlich? Ach, egal! – mit seinen eigenen. Warm und weich waren sie, der Geschmack des Kaffees war noch nicht ganz von ihnen verschwunden, sodass Seto unwillkürlich ein kaum hörbares, zufriedenes Brummen entfuhr. Ihm entging nicht, wie Dukes Mundwinkel amüsiert nach oben zuckten, und machte sich daran, umgehend wieder die angemessene Ernsthaftigkeit einzufordern, indem er mit der Zunge fordernd über Dukes Lippen strich und seine Arme fest um Dukes Taille schlang, um ihn kraftvoll an sich zu pressen. Ohne Umschweife wurde ihm Einlass gewährt, während Dukes Finger weiter nach oben in seinen Nacken wanderten und sich kaum weniger nachdrücklich in den Haaren seines Hinterkopfs vergruben. Kurz bevor Seto alles um sich herum vergessen konnte – eine verlässliche, in Situationen wie dieser aber nicht unbedingt ungefährliche Folge dieser Art von Interaktion – drangen gedämpfte Stimmen durch die Tür, die immer näher kamen. „Mehr dann morgen Abend?“, raunte Duke ihm leise und ungemein verführerisch ins Ohr, Seto nickte nur knapp, löste die Arme und ließ ihn mit äußerstem Widerwillen ziehen, auch wenn es nur ein paar Meter zurück zum Tisch und der Kaffeetasse waren. Gerade als Seto seine Haare wieder geordnet und den noch immer korrekten Sitz von Krawatte und Einstecktuch überprüft hatte, flog schwungvoll die Tür auf und Maximillion Pegasus betrat mit gewohnt großen Gesten den Raum. Wie immer, wenn er es mit Pegasus zu tun hatte, egal ob schriftlich, telefonisch oder persönlich, musste er sich zusammenreißen, seine Abneigung nicht zu sehr durchscheinen zu lassen, auch wenn sich Pegasus Verhalten in den letzten Jahren zugegeben sehr zum Besseren gewandelt hatte – von ein paar unausstehlichen Marotten einmal abgesehen, die der Mann vermutlich niemals ablegen würde. „Boys, there you are!“ Strahlend ergriff Pegasus Setos Hand und schüttelte sie energisch, dann wandte er sich Duke zu, dem er mit einem vertrauensvollen Nicken und etwas ernsthafterem Blick die Hand drückte. Im Gegensatz zu ihm schien Duke sich wirklich zu freuen, Pegasus zu sehen und verwickelte ihn sogleich in ein angeregtes Gespräch – immerhin, so blieb es Seto erspart, sich ausführlicher als unbedingt nötig mit Pegasus unterhalten zu müssen. Außerdem konnte er so weiterhin ganz beiläufig und unauffällig Duke beobachten; eine Beschäftigung, die er in den vergangenen Monaten sehr zu schätzen gelernt hatte, weil sie ihn immer wieder neue, interessante Details entdecken ließ: In diesem speziellen Fall, wie ungemein schnell und absolut mühelos Duke in seine (erste) Muttersprache wechselte und wie sich dabei nicht nur sein Tonfall, sondern auch seine Mimik und Gestik ganz subtil veränderten. „Wie läuft eigentlich dein Laden?“, erkundigte sich Pegasus nach dem üblichen Smalltalk, der Amerikanern wie ihm und Duke (Halb-Amerikaner!) an jedem Ort und zu jeder Tages- und Nachtzeit so unfassbar leicht zu fallen schien. „Wunderbar, ich kann mich nicht beklagen!“ Unbewusst richtete sich Duke ein wenig mehr auf und ein stolzes Funkeln trat in seine Augen. „Tatsächlich habe ich gerade vor zwei Wochen eine neue Duel Monsters-Arena angeschafft. Wir haben live gestreamt, wie Yugi und Joey sie einweihen und danach war sie direkt für den gesamten Monat ausgebucht!“ Seto entwich ein leises Schnauben. Tze, wie einfach die Leute zu begeistern waren! Nicht, dass er es Duke erzählt hätte, aber für ein paar Minuten hatte er tatsächlich ebenfalls eingeschaltet und zugesehen – freilich nicht wegen des Duells (dessen Ausgang absolut vorhersehbar gewesen und auch genau so eingetreten war) oder um zu sehen, ob die Arena auch funktionierte, sondern vielmehr um– Beinahe wäre Seto zusammengezuckt, als in dieser Sekunde, und damit pünktlich um zehn Uhr, die Musik draußen im Foyer losdonnerte. Duke und Pegasus unterbrachen ihr Gespräch und sahen ebenfalls auf, letzterer grinste verwegen und klatschte einmal in die Hände. „Showtime, boys!“ Seto war jegliche Form von Lampenfieber schon immer fremd gewesen und so blieb er für die Dauer des kleinen Films, den Otaka-san angekündigt hatte, weiter seelenruhig an der Tür stehen. Schließlich verklang auch der letzte Ton der bombastischen Musik, auf die eine sekundenlange Stille folgte, bevor ein kurzer Applaus erahnen ließ, dass vermutlich jeder einzelne der hundertfünfzig Sitzplätze besetzt war. Otaka-sans durch ein Mikrofon verstärkte Stimme war durch die Tür gut zu hören; er begrüßte die Teilnehmer und bedankte sich herzlich für das zahlreiche Erscheinen. Mit einem Kopfnicken bedeutete Seto Duke und Pegasus, dass sie langsam, aber sicher aus dem Raum und in Richtung Bühne gehen sollten. Leise arbeiteten sie sich die wenigen Meter durch das Halbdunkel des von dem riesigen Aufbau verschatteten hinteren Foyerbereichs und blieben an der kleinen Treppe stehen, die hinauf zur Bühne führte. „Ihre Fragen werden heute beantwortet von: Seto Kaiba, CEO der Kaiba Corporation und hauptverantwortlich für Design und Produktion der DDM-Duel Disk, …“ Mit zügigen Schritten betrat Seto die hell erleuchtete Bühne und ging hinter Otaka-san vorbei zielstrebig auf das Sprecherpult ganz am Ende zu. Von hier oben hatte er erstmals einen guten Überblick über die Lage: In der Tat waren die Stühle bis auf den letzten Platz besetzt. Ein paar der Journalisten kamen ihm bekannt vor; womöglich hatten sie ihn schon einmal interviewt. Ansonsten sagte ihm ein Großteil der Gesichter rein gar nichts, aber solange sie positive Nachrichten über die Firma verbreiteten und kostenlose Werbung für ihn machten, interessierten ihn diese Schreiberlinge ohnehin nicht sonderlich. Einige schienen nicht einmal mehr einen Sitzplatz bekommen zu haben, sondern mussten sich damit begnügen hinter den Stuhlreihen zu stehen, gemeinsam mit einigen KC-Mitarbeitern aus der PR-Abteilung. Vorne und an den Seiten standen oder knieten zusätzlich noch an die zwanzig Fotografen und hielten ihre großen Kameras bereit. „… des Weiteren Duke Devlin, Designer von Dungeon Dice Monsters, Ideen-Geber für die DDM-Duel Disk und ebenfalls maßgeblich an der Entwicklung beteiligt, …“ Genau wie das Publikum und Otaka-san sah nun auch Seto zu dem Treppenaufgang, über den Duke auf die Bühne kam. Mit einer Ausstrahlung, als hätte er noch nie etwas anderes getan, nickte Duke dem Heer von Journalisten einmal freundlich zu und stellte sich hinter dem mittleren Pult auf. Als sich kaum eine Sekunde lang ihre Blicke streiften, wurde Dukes Lächeln noch ein ganz klein wenig größer – so unscheinbar, dass es wohl niemandem außer Seto auffiel –, und die Welle aus Wärme und Leichtigkeit, die ihn daraufhin wie aus dem Nichts erfasste, war so stark, dass sie für ein paar Sekunden sämtliche äußeren Eindrücke verdrängte und er nur noch am Rande wahrnahm, wie auch Pegasus die Bühne betrat. Es war nicht Dukes erste Pressekonferenz, trotzdem klopfte sein Herz ungewohnt schnell gegen seinen Brustkorb und seine Hände hielten die Kanten des schmalen Pults fest umklammert. „Bitteschön“, rief der Pressesprecher die erste Journalistin auf, die sich erhob und nach kurzer Nennung ihres Namens und der Zeitung, für die sie schrieb, prompt ihre Frage stellte: „Wie kam es zu der Idee einer Duel Disk für Dungeon Dice Monsters?“ Duke musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sowohl Max als auch Seto einen auffordernden Blick in seine Richtung warfen, denn natürlich war es an ihm, diese Frage zu beantworten. Lange hatte er im Vorfeld über das ‚Wie?‘ gegrübelt und sich letzten Endes für eine grobe, aber zweifelsohne zutreffende Vereinfachung entschieden: „Ganz typisch, würde ich sagen: Ein zufälliger Satz in einem Gespräch, der auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Wissen Sie, vor ein paar Monaten habe ich viel darüber nachgedacht, wie sich das Dungeon Dice Monsters-Erlebnis noch verbessern lässt, als sich meine Freunde eines Morgens über die vielen Vorteile der Duel Disk unterhalten haben.“ Das Sprechen selbst, sowie die automatische Erinnerung an jenen erlösenden (und folgenreichen) Moment auf der Klassenfahrt, die sich irgendwie schon so weit weg anfühlte, obwohl sie doch erst knappe drei Monate her war, brachten seine verkrampften Finger dazu sich nach und nach ein wenig zu lockern. „Ich wusste sofort, dass das meine Lösung sein musste, denn es war glasklar, dass Dungeon Dice Monsters, anders als Duel Monsters, von diesen Vorzügen noch nicht profitierte. Danach war der Weg zu Mr. Kaiba nicht weit – im übertragenen, wie im wörtlichen Sinn.“ Wenn die Leute wüssten, wie kurz der Weg tatsächlich gewesen war  … Der Gedanke ließ ein Schmunzeln um Dukes Lippen spielen, das er jedoch, ebenso wie einen verschwörerischen Seitenblick in Setos Richtung, gerade noch so unterdrücken konnte. Schon im Klassenzimmer musste er sich den Reflex zu seinem … zu Seto zu sehen, regelmäßig verbieten, aber hier wäre es ein noch größeres Ding der Unmöglichkeit gewesen. Neugierige Oberschüler waren das eine, ein Raum voller Journalisten und Kameras das Andere. Mit einem knappen Dank setzte sich die Reporterin wieder, während der nächste bereits sprach. „Mr. Kaiba, warum ein Release so kurz nach der neuen Duel Monsters-Duel Disk?“ Dankenswerterweise hatte ihm der Journalist mit dieser Frage endlich einen Grund gegeben Seto anzuschauen – wenn auch ganz neutral beobachtend und ohne jede Spur von Vertraulichkeit. Wie nicht anders zu erwarten, war Seto die Ruhe und Beherrschtheit in Person. Aufrecht und sicher stand er hinter seinem Pult, als könnte ihn nichts aus der Bahn werfen, und sah dabei gleichzeitig in seinem königsblauen Businessanzug absolut umwerfend aus. „Nachdem Mr. Devlin auf mich zugekommen war, nahm die Idee sehr schnell Gestalt an. Um die positiven Effekte für alle Seiten zu maximieren, war es unabdingbar, das Weihnachtsgeschäft nicht zu verpassen. Mit diesem Ziel im Blick haben sämtliche Beteiligten sehr fokussiert an dem Projekt gearbeitet.“ Wieder musste Duke seine Mundwinkel davon abhalten nach oben zu zucken. Oh ja, vor allem die Zusammenarbeit zwischen Seto und ihm war äußerst fokussiert gewesen – mehrmals in der Woche, bis tief in die Nacht … ohne, dass es irgendjemand hinterfragt hatte. Jetzt, wo der offensichtliche Grund (oder die Ausrede?) dafür wegfiel, würden sie in dieser Hinsicht wohl kreativer werden müssen … „Darüber hinaus wissen wir durch Marktforschung und gezielte Datenerhebung unsererseits und natürlich auch seitens Industrial Illusions, dass die beiden Spiele leicht unterschiedliche Zielgruppen ansprechen. Natürlich gibt es sehr viele Menschen, die beide gleichermaßen schätzen, aber die meisten haben doch eine klare Präferenz – wir erwarten daher auch keine Kannibalisierungseffekte.“ Der Reporter nickte und nahm wieder Platz, während Otaka-san schon auf den nächsten deutete. „Mr. Pegasus, wie sind Ihre weiteren Pläne für Dungeon Dice Monsters und die Zusammenarbeit mit der Kaiba Corporation?“ Pegasus ließ sich einen Moment Zeit und strich mit der Hand durch die Spitzen seiner Haare, bevor er zu sprechen begann: „Mit der Kaiba Corporation verbindet uns nun schon seit einigen Jahren eine enge und vertrauensvolle Partnerschaft, von der beide Seiten nur profitieren. Daher wird unsere Zusammenarbeit selbstverständlich weiterhin so intensiv bleiben, wie sie immer war. Was Dungeon Dice Monsters betrifft“, an dieser Stelle warf er einen kurzen Blick zu Duke und lächelte, „wusste ich vom ersten Moment an, dass es eine fantastische Ergänzung für unser Portfolio sein würde. Es konnte bereits und wird auch weiterhin eine äußerst solide Spielerbasis aufbauen, für die wir – natürlich allen voran Mr. Devlin – kontinuierlich Erweiterungen entwickeln und anbieten werden.“ An dieser Stelle gab es keine Notwendigkeit mehr für Duke sein Lächeln zurückzuhalten; ihm war, als sei er spontan um ein paar Zentimeter gewachsen. Wenn sein Vater nur sehen könnte, wie weit ihn dieser angebliche ‚Kinderkram‘ gebracht hatte! „Damit ist unsere Zeit für heute um, vielen Dank für das lebhafte Interesse!“, erklärte Otaka-san etwa fünfzehn Minuten und eine Vielzahl von Fragen später den offiziellen Teil der Pressekonferenz für beendet. „Jetzt gibt es noch die Gelegenheit für Fotos und nebenan in unserem Caféteria-Bereich ein kleines Buffet mit Snacks und Getränken. Anschließend haben Sie dann, nach einem kurzen Umbau, hier im Foyer die Möglichkeit, die DDM-Duel Disk einmal selbst anzusehen und auszuprobieren.“ Zu mehr als einem leisen Durchatmen kam Duke nicht, bevor Otaka-san Seto, Pegasus und ihm bedeutete, nach vorn an den Rand der Bühne zu treten. Ein schwarz gekleideter Mitarbeiter mit Headset brachte eine nagelneu glänzende DDM-Duel Disk auf die Bühne, die Seto und er halten sollten, während Pegasus mittig hinter ihnen positioniert wurde. Das kalte Metall des Gehäuses lag ungewohnt schwer in Dukes noch immer ein wenig feuchten Händen. Bilder begannen wie Blitze durch seinen Kopf zu zucken: Wie ihm die Duel Disk aus den Fingern glitt. Wie auch Seto nicht schnell genug reagieren konnte. Wie die Duel Disk zu Boden– Setos Hand bewegte sich ein Stück auf seine zu und die leichte, aber dennoch unglaublich beruhigende Wärme, die sie ausstrahlte, vertrieb auf einen Schlag sämtliche Befürchtungen. Wie ein Film, der zurückgespult wurde, liefen nun stattdessen die Ereignisse, die ihn hierher gebracht hatten, noch einmal vor seinem geistigen Auge ab: Kummer und Freude, Alpträume und Tagträume, Trauer und Ekstase, Kämpfe und Küsse. Jedes einzelne, positiv wie negativ, war es absolut wert gewesen, um jetzt hier neben Seto auf der Bühne zu stehen und ihr gemeinsames Projekt erstmals der Welt zu präsentieren. Und vielleicht sogar noch mehr für das, was die Welt nicht zu sehen bekam. Eine Hand wurde kraftvoll von hinten auf seine Schulter gelegt und ein vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel bestätigte Dukes intuitive Vermutung: Pegasus andere Hand lag bereits auf Setos Schulter. Dessen Gesichtszüge versteinerten augenblicklich und ein kurzer Ruck ging durch die Duel Disk, als Setos Hände merklich verkrampften. Dazu, etwas gegen den unfreiwilligen Kontakt zu unternehmen, kam er jedoch nicht mehr, denn in dieser Sekunde begannen aus allen Richtungen Auslöser zu klicken und blendend helle Lichter zu blitzen. Mitgefühl und Schadenfreude fochten einen ungleichen Kampf in Duke aus, den die Schadenfreude schnell und sehr eindeutig für sich entschied. Mit aller Kraft und Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte, musste er sich dazu zwingen, nicht zu kichern und sein Grinsen weiterhin professionell und fotogerecht zu halten. Wenige Minuten nach der Foto-Tortur standen sie gemeinsam etwas abseits in der Caféteria der Kaiba Corporation, um, auf Pegasus Vorschlag hin, mit einem Glas Champagner anzustoßen. Seto hatte den Vorschlag nur deshalb akzeptiert, weil sie alle drei bei einem Anlass wie diesem unter besonders genauer Beobachtung standen und es darum unumgänglich war, eine gewisse Harmonie nach außen zu transportieren – derselbe Grund, aus dem er unmöglich Pegasus Hand hatte wegschlagen oder sich angemessen darüber beschweren können, obwohl die Geste und die absolute Unverfrorenheit, mit der sie ausgeführt worden war, noch immer blanke Wut in ihm hochkochen ließen. In keinster Weise war er Pegasus Schützling und legte auch keinerlei Wert darauf von irgendjemandem so wahrgenommen zu werden! „Ach, Duke, mein Lieber!“, begann letzterer und ließ Seto damit unfreiwillig ebenfalls aufhorchen, „Wenn du nachher noch Zeit hast, würde ich mich freuen, wenn du mich zum Lunch begleitest. Es gibt ein paar Dinge, die ich gerne mit dir besprechen möchte und das natürlich bevorzugt persönlich, wenn wir schon einmal die Gelegenheit haben.“ Setos Augenbrauen zuckten nach oben. Oh nein, er wollte doch nicht etwa …? Nun, ich trage mich mit dem Gedanken, den jungen Devlin zurück nach Amerika zu locken. Knappe drei Monate hatte Seto es geschafft, diese unselige Praktikumsgeschichte auszublenden, und jetzt fiel diesem– „Na klar, kein Problem, ich bin ohnehin für den gesamten Vormittag freigestellt!“, hörte er Duke freimütig antworten und sein ganzes Inneres zog sich mit einem Mal zusammen. Was, wenn Duke …? Ach, wem machte er etwas vor, natürlich würde Duke, er musste einfach! Wahrscheinlich würde er sogar … aber was wurde dann aus … „Sir, entschuldigen Sie?“, sprach jemand Pegasus von der Seite an und unterbrach damit auch Setos sich unerbittlich weiter schraubende Gedankenspirale. „Ja, Croquet, was ist denn? Sie sehen doch, ich unterhalte mich!“ „Sir, schlechte Nachrichten: Ihr Flug heute Nachmittag wurde leider gecancelt. Wenn wir sofort aufbrechen, könnten wir noch den früheren Flug erwischen. Ich habe bereits vorsorglich entsprechend umgebucht.“ Sichtlich zähneknirschend nickte Pegasus, trank seinen Champagner in einem Zug aus und stellte das leere Glas auf einen der Stehtische. „Nun, du hast es ja gehört, mein Lieber“, wandte er sich erneut an Duke, „Sieht so aus, als müssten wir unser kleines Lunchdate wohl auf ein andermal verschieben!“ Seto konnte ein kaum hörbares, erleichtertes Ausatmen nicht völlig unterdrücken. Ja, aufgeschoben war nicht aufgehoben, irgendwann würde er – würden sie – sich wohl oder übel damit auseinandersetzen müssen, aber je später, desto besser! „Kaiba-Boy, es war mir wie immer eine Freude!“, verabschiedete sich Pegasus von ihm und das plötzliche Gefühl der Erlösung ließ Seto sogar kurzzeitig seinen Ärger über diese unselige Form der Anrede vergessen. „Sicher.“ Seto sagte nichts weiter, sondern erwiderte lediglich den kräftigen Händedruck. Pegasus nickte ihm noch einmal zu, dann schüttelte er auch Duke zum Abschied die Hand. „Duke, mein Bester, wir hören uns!“ Dessen Verabschiedung fiel um einiges herzlicher aus als seine eigene zuvor, und Seto entging keineswegs, wie Pegasus andere Hand dabei vertraulich auf Dukes Oberarm ruhte. Zu leise, als dass Seto etwas hätte verstehen können, tauschten die beiden noch ein paar Worte aus, bis Croquet erneut zögerlich an Pegasus herantrat. „Sir, wir müssen jetzt wirklich–“ „Ja doch, ich komme ja schon!“, fauchte Pegasus zurück und machte sich schließlich, gemeinsam mit seinem altgedienten Assistenten und der Handvoll weiterer Mitarbeiter, die ihn begleitet hatten, auf den Weg in Richtung Hinterausgang. „Hm, schade!“ Duke sah ihnen nach und drehte dabei gedankenverloren das Champagner-Glas in seinen Händen. „Ich frage mich, was er noch so wichtiges mit mir besprechen wollte …“ „Du wirst es schon noch früh genug erfahren!“, antwortete Seto ein wenig zu schnell und konnte nur hoffen, dass seinem sonst so überaus aufmerksamen Gegenüber der Hauch von Bitterkeit entgangen war. „Vermutlich.“ Duke zuckte leicht mit den Schultern und sah zu ihm auf. „Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als unseren Erfolg alleine zu feiern!“ Ein Lächeln – dieses Lächeln – trat auf Dukes Lippen und fegte mit einem Schlag alle Gedanken an Pegasus, das Praktikum, überhaupt alles, was nicht genau hier und jetzt war, ihm gegenüber stand und Duke Devlin hieß, davon. Für einen Moment war Seto so in den Anblick versunken, dass er überhaupt nicht registrierte wie Duke ihm das Champagner-Glas entgegen hielt. Erst das gedämpfte, warme Lachen, zusammen mit dem sichtlich belustigten Funkeln in den grünen Augen, brachte Seto wieder zu sich und er ließ sein eigenes Glas sanft gegen Dukes klingen. Am darauffolgenden Montag in der ersten Pause hatte Yugi Duke und die anderen zu sich an den Tisch gerufen. „Schaut mal, Leute!“ Er zog eine gefaltete Zeitungsseite aus seinem Rucksack und breitete sie zwischen ihnen auf dem Tisch aus. „Sie haben einen großen Artikel zu der Pressekonferenz am Freitag gebracht! Sogar mit Bild!“ „Oh, wie cool!“ So schnell wie Tea den Artikel zu sich drehte, hatte Duke gar nichts erkennen können. Über ihre Schulter hinweg betrachtete auch Tristan das Foto und nickte anerkennend in seine Richtung. „Siehst echt klasse aus, Mann!“ „Danke!“, antwortete Duke mit einem reflexhaften Grinsen, obwohl er bis jetzt weder das Bild noch den Artikel wirklich zu Gesicht bekommen hatte. Joey hinter ihm entließ ein tiefes Seufzen und klopfte ihm auf die Schulter. „Alter, ich bin echt tierisch froh, dass das alles nochmal gut gegangen ist! Wenn ich echt dran schuld gewesen wäre, dass dein Spiel den Bach runter–“ „Selbst wenn, wäre es nicht wirklich deine Schuld gewesen!“, unterbrach Duke ihn entschieden, „Und außerdem ist ja alles gut gegangen, also kein Grund sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen!“ „Ich weiß ja nicht, wie es bei dir aussieht“, schaltete sich Yugi wieder ein und sah zu ihm auf, „aber Großvater sagt, wir haben im Laden über das Wochenende auffällig viele DDM-Sets verkauft!“ „Ja, das haben meine Leute mir auch schon gesagt.“ „Großartig, ich freu mich ja so für dich!“ Das Lächeln auf Yugis Gesicht wurde noch größer. „Ich – wir alle – haben immer an dich geglaubt!“ „Ja, das habt ihr“, nickte Duke und kam wieder einmal zu der Erkenntnis, dass er, egal wie viele Zweifel er selbst haben mochte, seinen Freunden und allen voran Yugi in diesen Dingen einfach blind vertrauen sollte. Anscheinend hatte er wirklich eine ganz besondere Beziehung zum Schicksal … Als es zum Ende der Pause klingelte, schob Yugi ihm die Seite mit dem Artikel über den Tisch. „Hier, behalt sie gerne!“ Mit einem geflüsterten „Danke!“ huschte Duke schnell an seinen Platz zurück, während ein Räuspern aus Richtung des Lehrertisches auch das letzte Gemurmel im Klassenzimmer ersterben ließ. Er sah nach vorn zur Tafel und seine Augen weiteten sich ungläubig, ebenso wie die der meisten seiner Mitschüler: Ein älterer Mann in Hemd und altmodisch gemustertem Pullunder stand vor ihnen und blickte nüchtern in die Klasse. „Guten Tag, meine Herrschaften, mein Name ist Takeda und ich habe heute das Vergnügen, Yamamura-san zu vertreten.“ „Hey, Moment mal, sind Sie nicht–“, stammelte Joey einfach wild drauflos und deutete dabei leicht mit dem Finger auf ihn. „Ah ja, ich sehe, Sie haben mich nicht vergessen!“ Herr Takeda lächelte und schob seine Brille nach oben. „ Ja, nach dem Zusammentreffen mit Tomik–, ich meine natürlich, Kobayashi-san, habe ich mich entschieden meine Tätigkeit an der Privatschule zu beenden und …“, er räusperte sich, „das öffentliche Schulsystem besser kennen zu lernen.“ „Soso, das öffentliche Schulsystem …“, kommentierte Joey halblaut und nickte demonstrativ, sodass Duke, ebenso wie Tristan und einige andere Mitschüler, halberstickt losprusteten. Tea hatte es, genau wie ihre vielsagenden Blicke, bemerkt und verdrehte nur tadelnd die Augen. Die Stunde begann und Takeda-sensei glitt alsbald in einen nicht enden wollenden Monolog über Shakespeare ab, sodass Duke es für ungefährlich hielt, sich noch einmal der Zeitung zuzuwenden. Ganz langsam, geradezu im Zeitlupentempo, zog er sie zu sich heran und überflog den äußerst wohlwollenden Artikel, bevor er seine Aufmerksamkeit ganz dem Foto widmete. Er biss sich leicht auf die Unterlippe. Wie sie so da standen und gemeinsam die DDM-Duel Disk in den Händen hielten – links er selbst, genau wie jetzt kaum in der Lage sein Grinsen zu bändigen, rechts Seto, aufs Äußerste bemüht, weder Pegasus noch sonst irgendwen mit seinem Blick zu töten, sondern weiterhin möglichst neutral in die Kameras zu schauen … … Ja, sie sahen wirklich gut aus zusammen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)