Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 34: Here I am. (I never really had a choice.) ----------------------------------------------------- Devlins Wohngegend lag etwas westlich der Innenstadt von Domino und war innerhalb von fünfzehn Minuten erreicht. Seto schaltete den Motor aus, nahm den Block vom Beifahrersitz und ging zügigen Schrittes die Straße hinunter zu Devlins Adresse – einem Mehrfamilienhaus neuerer Bauart mit fünf Etagen, dessen Eingangsbereich etwas zurückgesetzt von der Straße in einem kleinen Innenhof lag. Devlins Name an der Klingel war schnell gefunden. Er drückte den Knopf, es knackte leise im Lautsprecher der Gegensprechanlage. Die Arme vor der Brust verschränkt, mit dem Dino-Block in der rechten Hand, tippte Seto ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und wartete. Nichts passierte. Die Gegensprechanlage blieb still. Er klingelte noch einmal. Wartete. Eine Minute. Zwei. Wieder nichts. Hatte dieser Typ noch nicht mal den Anstand, da zu sein, wenn man etwas von ihm wollte?! Dabei war es mittlerweile schon 21 Uhr! Sein verfluchter Laden sollte seit mindestens einer Stunde zu sein! Mit einem frustrierten Schnauben löste Seto die Verschränkung seiner Arme, wandte sich ab und lief in dem kleinen Hof auf und ab. Er war extra bis hierher gefahren, Aufgeben war keine Option! Was konnte er no– … Beinahe hätte er sich bei seiner nächsten Kehrtwende die Hand vor die Stirn geschlagen. Natürlich, der Briefkasten! Leider war das Ringbuch etwas zu breit für den Briefschlitz, sodass Seto mehrmals ansetzen musste, bis er es halbschräg irgendwie hindurchgefädelt hatte. Schon nach wenigen Zentimetern rutschte der Block jedoch nicht weiter in den metallenen Kasten hinein. Die Zähne fest aufeinander gepresst, drückte Seto erst mit einer, dann schließlich mit beiden Händen immer stärker, die Seiten und die dicke Pappe des Hardcovers schnitten in seine Handflächen, die Ringe der Bindung ratschten an der Innenseite des Briefkastens entlang. Ihm entfuhr ein leises Ächzen, Schweißtropfen begannen sich auf seiner Stirn und seinem Rücken zu bilden, während er mit einigem Kraftaufwand an dem sich zunehmend verkeilenden Block ruckelte. Das Klappern der Briefkastentür hallte unnatürlich laut in dem kleinen, gepflasterten Innenhof wider. Egal! Er würde diesen Block jetzt loswerden und wenn eine alte Dame oder sonst irgendjemand auf die dumme Idee kam, ihn dafür anzuschnauzen, dann würde er oder sie schon eine Antwort bekommen! Die hatten doch alle keine Ahnung! Nach ein paar weiteren Minuten gewaltsamen Biegens, Brechens und Stopfens ließ Seto endlich ab. Nur noch etwa fünf Zentimeter des Ringbuchs schauten aus dem Briefschlitz heraus, so gut wie kein Ring war mehr gerade, die Kanten des Covers so abgewetzt, dass das weiße Untermaterial hervorschaute. Sämtliche Ecken waren eingedrückt und mehrere neue, tiefe Kratzer und Dellen zierten die Oberfläche. Schwer atmend betrachtete Seto seine nun leeren Hände; seine Handballen pulsierten noch immer ganz leicht nach, dort, wo sie den Block gedrückt und geschoben hatten. Erschöpft ließ er sich auf die Treppenstufen des Hauseingangs sinken. Er hatte es geschafft! Er war diesen vermaledeiten Block los! Endlich! Die Hitze und Anspannung in seinem Körper ließen allmählich nach, das wilde Rauschen seines Blutes nahm ab, die blinde Wut, die seinen Blick und seine Gedanken vernebelt hatte, verzog sich. Er atmete mehrmals tief ein und aus, stützte die Ellenbogen auf die Knie und massierte seine noch immer leicht feuchte Stirn. Aus dem Augenwinkel sah er noch einmal zum Briefkasten. Ein paar auf den Kopf gestellte Triceratops leuchteten im Licht der schwachen Hofbeleuchtung und mussten den Blick jedes Vorbeigehenden unweigerlich auf sich lenken. Mit beiden Händen rieb er sich einmal über das Gesicht und starrte hinauf in den schwarzen, wolkenverhangenen Nachthimmel. Welcher Teufel hatte ihn da gerade nur geritten? Warum zur Hölle war er überhaupt hierher gekommen?! … Um Devlin den Block zu geben und damit die Klassenfahrt vollends aus seinem Leben zu streichen, natürlich! Wie aus Protest hörte sein Herz einfach nicht auf, von innen gegen seinen Brustkorb zu hämmern. Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Er schluckte. Wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist … Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Leise seufzend erhob er sich, warf noch einen letzten Blick auf den Briefkasten und machte sich schließlich auf den Weg zurück zum Auto. Beide Hände fest um das Lenkrad des schwarzen Mercedes geschlossen fuhr Seto durch die Dunkelheit, ohne wirklich zu wissen, wohin eigentlich: Vielleicht nach Hause, vielleicht in die Firma ... Jetzt, um halb zehn abends, traten die meisten Restaurant-Besucher den Heimweg an und überließen die Gehwege der Innenstadt bunten Grüppchen junger Partygänger, die die Bars und vermutlich später auch die diversen Clubs bevölkern würden. Die Lichter der Ampeln und Leuchtreklamen zogen vorbei, ihre Reflexionen in den Schaufensterscheiben der Läden und Geschäfte verschwammen im Rückspiegel zu einem diffusen, vielfarbigen Leuchten. Einem spontanen Bedürfnis folgend öffnete er das Seitenfenster einen Spalt. Kühle Herbstluft wirbelte durch seine Haare, füllte mit jedem Atemzug seine Lungen, die Straße vor ihm war lang und weitestgehend frei, die Ampeln wechselten fast zeitgleich auf grün. Er trat auf das Gaspedal, der Wagen beschleunigte, das Rauschen des Fahrtwinds wurde lauter. Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Wenn sein merkwürdiger Ausbruch eben eines gezeigt hatte, dann dass Devlin damit wahrscheinlich gar nicht so unrecht hatte. Und alle außer ihm selbst schienen es schon längst zu wissen. Warum hast du die Entwürfe wirklich neu gemacht? Nicht wegen der Umsätze, so viel war klar. An die hatte er in der Nacht von Sonntag auf Montag (und auch danach) wahrlich keinen einzigen Gedanken verschwendet. … Dann eben Mokuba. Natürlich, warum auch sonst?! Wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist … Wobei … bei näherer Betrachtung war Mokuba nur der Auslöser gewesen, der Stein, der alles ins Rollen gebracht hatte. Für eine Sekunde begegneten ihm seine Augen im Rückspiegel, bevor er den Blick wieder nach vorn auf die wenig befahrene Straße richtete. Wenn du zur Abwechslung mal ganz ehrlich zu dir bist … Der wahre Grund, aus dem er die Entwürfe neu gemacht hatte … … war Devlin gewesen. Die Leidenschaft für seine Erfindung, die seiner eigenen in nichts nachstand. Das Leuchten in den grünen Augen. Dieses verfluchte Lächeln, das verlässlich dafür sorgte, dass merkwürdige Dinge in ihm vorgingen, dass er Aussetzer hatte, nicht mehr wie gewohnt funktionierte, weil es seinen Geist komplett einnahm. War er tatsächlich naiv genug gewesen, zu glauben, dass sich daran etwas ändern würde, wenn er nur den Dino-Block loswürde?! Eine rote Ampel zwang ihn zum Abbremsen und schließlich zum Stillstand. Durch das offene Seitenfenster drang ein Gewirr von entfernten Stimmen, Gelächter, Lichter, Musik. Er wandte den Kopf, um die Quelle auszumachen, und ließ ihn gleich darauf nach hinten an die Kopfstütze fallen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Auf der anderen Straßenseite, hell erleuchtet und augenscheinlich noch geöffnet, befand sich der Black Clown. Seto konnte sich ein leises Aufstöhnen nicht verkneifen. Ernsthaft?! Nun, das erklärte zumindest, warum Devlin nicht zu Hause gewesen war, um die Retoure seines dämlichen Geschenks persönl– … Seine Augen weiteten sich in einer plötzlichen, alarmierenden Erkenntnis. War es etwa das, worum es bei der hirnrissigen Aktion gerade eben eigentlich gegangen war? Darum, Devlin zu sehen?! Die Wärme in seinen Augen? Sein Lächeln? Seine Stimme zu hören? Sich mit ihm auszutauschen? Der Vorstellung etwas entgegenzusetzen, ihn vielleicht schon bald nicht mehr sehen zu können? Die Ampel schaltete auf Grün, doch Seto rührte sich nicht, sein Fuß schwebte regungslos über dem Gaspedal. Noch einmal sah er hinüber zu dem Ladeneingang. Einige Leute in seinem Alter, oder nur wenig älter, saßen mit Getränken auf den Treppenstufen, unterhielten sich, lachten. … darum bedeutete in meinem Fall in Versuchung kommen, und mochte sie noch so gering sein, ihr unterliegen.¹ Ein lautes Hupen hinter ihm ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Ohne weiter nachzudenken, setzte er den Blinker und bog in die nächste Seitenstraße ein. Der weitläufige Ladenraum des Black Clown war so voll mit Menschen, dass Seto sich regelrecht weiter hinein schieben musste. Noch im Eingangsbereich zog er seinen Mantel aus; die Wärme war geradezu erdrückend, ebenso wie die Lautstärke. Zum Glück war er einigermaßen unauffällig gekleidet, andernfalls wäre das hier wohl ein einziges Desaster geworden. Aber glücklicherweise schienen die Besucher von Was-auch-immer-Devlin-hier-veranstaltete zu sehr mit sich selbst und den gebotenen Spiel- und Essens-Möglichkeiten beschäftigt, um von ihm Notiz zu nehmen. Er sah sich um. Viele hohe und halbhohe Regale bestimmten den Raum, von oben bis unten gefüllt mit unterschiedlichsten Brett-, Karten und Tabletop-Spielen und immer wieder unterbrochen von Vitrinen voll bemalter Miniaturen, seltener Sammelkarten oder aufwändig gestalteter Deluxe-Versionen. Gar nicht mal so schlecht, Devlin schien sich hier wirklich etwas aufgebaut zu haben … Letzterer war nirgends zu sehen, aber vielleicht war das auch ganz gut so. Was hätte er auch sagen sollen? Er wusste ja nicht einmal selbst so genau, was das hier eigentlich werden sollte. Eine große Vitrine in der Ecke erregte Setos Aufmerksamkeit und er drückte sich an ein paar lauthals lachenden Jungen vorbei dorthin. In dem Glaskasten waren drei verschiedene Varianten der aktuellen Duel Disk Generation ausgestellt; rechts daneben ein Schild, das den baldigen Release der neuen Generation ankündigte. Schon in weniger als vier Wochen würde sie, nach fast zwei Jahren anstrengender und fordernder Entwicklungszeit, vermutlich ebenfalls hier liegen … „Bist du mit der Präsentation zufrieden?“ Er fuhr herum und begegnete schelmisch funkelnden, grünen Augen, die ihn sofort und mühelos in ihren Bann zogen. „Hätte ich gewusst, dass du persönlich zur Inspektion kommst, hätte ich die Vitrine nochmal sauber gemacht. Sie zieht immer besonders viele Finger- und Nasenabdrücke an.“ Auf Devlins Lippen lag ein leichtes Schmunzeln, das Setos Herz höher schlagen ließ. Himmel, was machte er hier eigentlich?! Seine Finger wurden feucht und schnell vergrub er sie im Stoff seines Mantels, den er über dem Arm trug. „Hast du immer so lange offen?“ Gott, was für eine dämliche Frage! Was stimmte denn nicht mit ihm?! Doch Devlin schien sich nicht daran zu stören und schüttelte den Kopf. „Nur am zweiten Freitag im Monat, zur ‚Game Night‘.“ Mit einer Handbewegung bedeutete er Seto ihm zu folgen und dirigierte ihn durch die vielen Menschen weiter in den Laden hinein. „Dort drüben gibt es Essen und Getränke, da hinten können die Leute an den Tischen ausgewählte Brettspiele ausprobieren.“ Sie erreichten eine Treppe, die hinunter in die Untergeschosse führte, und stiegen hinab. Zwei Absätze weiter unten blieb Devlin stehen und deutete auf einen großen Raum, der sich hinter einer weit geöffneten, schweren Doppeltür erstreckte. „Hier kann man DDM spielen und noch eine Etage weiter unten ist die Duel Monsters Arena.“ „Die, die du erneuern willst?“, fragte Seto reflexhaft in Anknüpfung an ihr Gespräch auf dem Rasen der Jugendherberge. „Ganz genau!“, bestätigte Devlin grinsend und führte ihn geradewegs in den effektvoll beleuchteten Raum mit der DDM-Arena. Ein Stück links von der Tür lehnte Devlin sich an die Wand und fast schon automatisch tat Seto es ihm gleich. Auch hier herrschte reger Betrieb, wenn auch nicht ganz so viel wie oben. Trotzdem fielen sie nicht weiter auf; alle Anwesenden schienen nur Augen für das laufende Spiel und die beinahe raumhohen, lebensechten Hologramme zu haben, sodass ihnen niemand größere (oder auch nur irgendeine) Beachtung schenkte. „Wie du siehst, ist das Konzept ein ziemlicher Erfolg, der Laden ist eigentlich jedes Mal brechend voll“, fuhr Devlin halb mit Blick auf die gerade laufende DDM-Partie, halb an ihn gewandt fort, „Es ist eben etwas Besonderes – ein Anlass, du weißt schon, etwas, das sich einprägt. Siehst du zum Beispiel die beiden da drüben?“ Der vertraute Duft von Zitrone und Meer stieg in Setos Nase, als Devlin den Kopf ein wenig zu ihm neigte und unauffällig auf einen vielleicht 16-jährigen Jungen deutete, der gerade darauf zu warten schien, als nächstes spielen zu können. An ihn geschmiegt stand ein Mädchen und hielt seine Hand. Setos Puls beschleunigte sich. „Die beiden haben ein Date“, erläuterte Devlin leise und sein Atem streifte dabei ganz leicht Setos Wange, „Er glaubt, er kann sie beeindrucken, wenn er gleich ein Spiel gewinnt; sie freut sich einfach mit ihm zusammen zu sein und eine gute Zeit zu haben, mehr nicht. Aber wenn er in ein paar Wochen Geburtstag hat, wird sie daran denken, dass er Spiele mag und sich an den tollen Abend erinnern, den sie hier hatten, und wird sein Geschenk hier kaufen und nicht irgendwo im Internet.“ Seto versuchte die leichte Gänsehaut zu ignorieren, die auf seinen Armen entstand. „Clever.“ Ein paar Minuten lang standen sie einfach nur da, nebeneinander, mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt und beobachteten schweigend das Geschehen. Der Junge, der bis gerade eben noch gespielt hatte, hatte mittlerweile gegen seinen Kumpel gewonnen und stieg mit stolz geschwellter Brust und einem breiten Grinsen im Gesicht von der Arena. Einige der wartenden Zuschauer klatschten, sein Gegner klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und auch seine anderen Freunde gratulierten ihm begeistert. „Mokuba war gestern hier“, brach Devlin wie aus dem Nichts das Schweigen, als der Applaus verklungen war. Um ein Haar wäre Seto zusammengezuckt. „Ich weiß“, war alles, was ihm zur Antwort einfiel. „Ich hab kurz zugesehen, er hat ein echtes Talent für DDM. Muss in der Familie liegen.“ Ein sanftes Lächeln umspielte Devlins Lippen, die grünen Augen schauten kurz zu ihm, dann wieder weit weg ins Leere. Setos Herz pochte, das Blut rauschte in seinen Ohren, seine Lippen schienen sich völlig ohne sein Zutun zu bewegen und Worte zu formen: „Ich … hab es nicht wegen der potentiellen Umsatzverluste getan.“ Devlin nickte; ein trauriger Schleier huschte durch seinen Blick. „Sondern für ihn, ich weiß.“ Nicht nur. Seto hatte den Mund schon geöffnet, doch anstatt die Worte auszusprechen, schloss er ihn wieder. Ein nagendes Gefühl erfasste sein Herz, das Gefühl einer entgangenen Chance oder eines verpassten Moments, doch er schob es beiseite und sprach einfach weiter: „Er … hat mir am Sonntag von seinem ersten Besuch hier erzählt. Zu sagen, er wäre begeistert gewesen, wäre noch untertrieben.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Devlins Lächeln größer wurde. In seinem gesamten Oberkörper schien es zu flattern und zu kribbeln. „Das hat mich in der Tat zum Nachdenken gebracht, vor allem angesichts der … vorangegangenen Ereignisse.“ Er atmete gedehnt aus. „Es ist wirklich ein hervorragendes Spiel. Und wäre es meine Erfindung, wäre eine Lüge vermutlich noch das Geringste gewesen, was ich getan hätte.“ Devlin schmunzelte. „Das haben wir dann wohl gemeinsam.“ Nicht nur das. Wieder sprach Seto den Gedanken nicht laut aus, sondern schwieg, genau wie Devlin. Zum ersten Mal an diesem Tag schien sein Kopf zur Ruhe, sein Gedankenkarussel zum Stillstand zu kommen. Angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Mit Devlin zusammen zu sein, war so … einfach: Devlin stellte keine Fragen, gab ihm keine ungebetenen Ratschläge, was er zu tun oder zu lassen hatte. Zweifellos konnte sich Devlin den Mund fusselig reden, wenn er wollte, aber er hatte auch ein untrügliches Gespür dafür, wann es besser war, einfach die Klappe zu halten. Seto wagte einen vorsichtigen Blick zur Seite. Devlin machte keine Anstalten sich von der Stelle zu bewegen. Musste er sich nicht eigentlich irgendwann wieder um seine Kunden kümmern? Ach, egal. Duke rührte sich nicht. Eigentlich hätte er schon längst wieder hochgehen müssen, aber andererseits … es war fast zehn und damit ohnehin nur noch eine Stunde bis die Game Night endete. Der Betrieb ließ bereits nach, die anderen würden schon klarkommen. Kaiba war hier. Alles andere war egal. Vorhin, als er durch die Regalreihen gegangen war und die vertraute Gestalt vor der Vitrine mit den Duel Disks hatte stehen sehen, hatte er kaum seinen Augen getraut. Fragen waren wie Blitze durch seinen Kopf geschossen: Was wollte Kaiba hier? Wer oder was hatte ihn dazu gebracht herzukommen? Was hatte das alles zu bedeuten? War Kaiba nicht heute Mittag noch regelrecht vor ihm geflüchtet? Bis zu diesem Zeitpunkt hätte Duke noch steif und fest behauptet, dass Schrödingers Katze am letzten Tag der Klassenfahrt gestorben war und keine Chance mehr auf Rettung hatte. Aber jetzt? Kaibas Anwesenheit änderte die Lage, so viel war klar, aber solange weiterhin niemand etwas sagte, würde er es nie endgültig herausfinden. Allerdings würde er sehr vorsichtig vorgehen müssen, andernfalls bestand das hohe Risiko, dass Kaiba erneut die Flucht ergriff – wie ein wildes Tier im Wald, das man verscheuchte, wenn man sich zu schnell näherte oder zu laut auftrat. Nun, ein wenig war Kaiba ja eben schon selbst mit der Wahrheit herausgerückt, vielleicht konnte (oder sollte?) er ihm auch noch ein wenig entgegenkommen … nur womit? Das Wichtigste wusste Kaiba ja im Grunde bereits … außer vielleicht … „Die Zeichnung heute in der Schule–“ „Ich weiß“, stoppte Kaiba ihn leise, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Die blauen Augen waren, ebenso wie seine eigenen, starr nach vorne gerichtet, die Geräusche der Arena, das diffuse Geschnatter und Gemurmel der anderen Menschen fast völlig in den Hintergrund getreten – so als stünden sie nicht gerade in einem überfüllten Spieleladen in der Innenstadt von Domino, sondern lägen wieder ganz allein nebeneinander im Bett einer mittelmäßigen Jugendherberge in Nagano und starrten an die Zimmerdecke, weil es das Akzeptieren und Aussprechen der Wahrheit so viel einfacher machte. Duke schluckte. Sollte er weitermachen? Noch hatte Kaiba nicht das Weite gesucht … und von selbst würde er vermutlich nicht darauf zu sprechen kommen … Er rückte ein kleines Stück weiter nach rechts, näher an Kaiba heran. Nicht nur, weil er so leiser sprechen konnte, sondern auch, weil es, wenn das hier nach hinten losging, gut und gerne seine letzte Chance sein konnte, ihm noch einmal so nahe zu kommen. Sein Herz raste. „In dem Block war eine ganz ähnliche Zeichnung.“ Neben ihm blieb es still. Kaiba sagte nichts, rührte sich jedoch auch nicht von der Stelle, wich ihm nicht aus. Eine Spannung schien von seinem Körper auszugehen, die Luft zwischen ihnen zu knistern. Einige weitere, unendlich lange Sekunden später entließ Kaiba ein leises Schnauben und sah auf den Boden. „Du hast sie noch?“ Sein Tonfall war weder drohend noch gefährlich, sondern überraschend neutral. Duke schüttelte den Kopf. „Sie ist im Regen auf der Heimfahrt durchgeweicht und zerrissen.“ Er biss sich leicht auf die Unterlippe. „Was ich sehr schade fand, ich … hätte sie gerne aufgehoben.“ Die Worte wogen so viel schwerer als ihr Inhalt. Ja, oberflächlich mochte es um die Zeichnung gehen, aber eigentlich … auch nicht. Nicht nur. Kaiba lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Was würden deine kleinen Freunde wohl dazu sagen?“ Hinter der Frage steckte mehr als die sarkastische Bemerkung, die man auf den ersten Blick erkannte. Sie war eine Art Test, das war Duke instinktiv klar. Nach allem, was die vergangene Woche ihn äußerst eindrücklich gelehrt hatte und was jetzt, hier, in diesem Moment, auf dem Spiel stand, war die Antwort jedoch denkbar einfach. Er zuckte mit den Schultern. „Was spielt es für eine Rolle? Versteh mich nicht falsch, sie sind meine Freunde, ich mag sie sehr und ich vertraue ihnen wirklich, aber … manche Dinge gehen sie einfach nichts an.“ Kaiba nickte, seine Mundwinkel zuckten minimal nach oben. „Zum Beispiel, warum du dich nicht mehr schminkst?“ Das entlockte auch Duke ein schmales Lächeln. „Zum Beispiel. Danke übrigens nochmal!“ „Wofür denn nun schon wieder?“ „Das, was du letzte Woche gesagt hast. Über die Narbe und … meinen Vater. Letzten Endes war es das, was mich zum Umdenken gebracht hat. Es ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.“ Vorsichtig sah er aus dem Augenwinkel zu Kaiba. „Wie so vieles.“ Es war kaum mehr als ein Flüstern gewesen, aber Kaiba hatte es mit Sicherheit gehört, so wie er seine Augenlider einmal schwer zu- und wieder aufschlug. Eine hochriskante Aussage, ohne Zweifel – Worte ließen sich nicht wieder einfangen, ließen alles zu real werden. Aber das war es nun einmal, und jetzt, hier, in diesem Moment, hatte Kaiba den Eindruck gemacht, als würde ihn das gar nicht mehr so sehr stören. Dukes Herzschlag beschleunigte sich alarmiert, als Kaiba sich neben ihm bewegte, der Stoff des Mantels in seinen Armen leise raschelte. War er etwa doch zu weit gegangen?! Würde Kaiba wieder fliehen – vor ihm, vor der Wahrheit? Eine Berührung an seiner Schulter, ganz leicht nur, aber unzweifelhaft da, schickte ein Kribbeln durch seinen gesamten Arm. Kaiba hatte lediglich seine Position ein wenig geändert und – bewusst oder unbewusst? – die letzten Zentimeter zwischen ihnen überwunden. Ihre Oberarme berührten sich und Duke wäre es nicht einmal im Traum eingefallen zurückzuweichen. Eine wohlige Wärme breitete sich ausgehend von seinem Arm in seinem gesamten Körper aus. Er hatte es ausgesprochen; zwar nicht direkt, aber Kaiba hatte verstanden. Und trotzdem war er noch hier. Kaiba war immer noch hier! Alles andere war egal. Hätte man Seto gefragt, was in den vergangenen Minuten auf dem DDM-Spielfeld passiert war, wer am Zug war oder wie es stand, er hätte es nicht sagen können. Niemand von ihnen bewegte sich auch nur einen Millimeter. Ein wildes, aber diesmal unzweifelhaft angenehmes Flattern hatte ihn erfasst und eine Leichtigkeit und merkwürdige Klarheit mit sich gebracht, die er seit über einer Woche nicht mehr gefühlt hatte. Der Junge von vorhin hatte seine Partie anscheinend gewonnen, denn kaum, dass er von der Arena hinuntergestiegen war, fiel ihm seine Freundin um den Hals und küsste ihn stürmisch. Devlin schien es ebenfalls zu beobachten und lächelte versunken. Hand in Hand ging das Pärchen an ihnen vorbei nach oben. Seit seiner Ankunft hatte Seto nicht einen einzigen Gedanken an die Zeit verschwendet, doch entging ihm keineswegs, wie sich der Raum allmählich immer weiter leerte und ein Grüppchen nach dem anderen ging, bis nur noch er und Devlin übrig waren. Seine Eingeweide zogen sich zusammen, als schließlich geschah, was er wohl unbewusst schon lange befürchtet hatte: Devlin löste die Verschränkung seiner Arme und stieß sich von der Wand ab. „Ich muss jetzt schließen.“ Die Wärme der Berührung verflüchtigte sich rasend schnell und Seto war, als würde er aus einer tiefen Trance gerissen. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit warf er einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk: 22:58 Uhr. Wann war es so spät geworden? War er wirklich fast anderthalb Stunden hier gewesen? Ohne ein weiteres Wort, nur mit einem letzten, zaghaften Lächeln verschwand Devlin und ging nach oben. Seto hingegen verharrte noch einen Moment, bevor er sich ebenfalls von der Wand löste. Gedankenverloren trat er an die DDM-Arena, ließ seinen Blick über die Terminals und das Spielfeld schweifen und strich mit der Hand über das kalte Metall der Spielfeldumrandung. War es ein Fehler gewesen, herzukommen? Er schüttelte leicht den Kopf. Nein. Nein, war es nicht. Er atmete noch einmal tief ein und aus, dann wandte er sich von der Arena ab und stieg ebenfalls die Treppen nach oben in den mittlerweile ausgestorbenen Ladenraum. Die Luft war nach wie vor stickig und viel zu warm, wie immer, wenn sich eine große Zahl von Menschen über längere Zeit auf zu kleinem Raum aufgehalten hatte. Devlin stand hinter dem Verkaufstresen und löschte die Lichter, bis nur noch die dezente Schaufensterbeleuchtung übrig blieb. War wirklich niemand anderes mehr da? Wo waren Devlins Mitarbeiter? „Meine Leute habe ich schon nach Hause geschickt. Es war auch für sie ein langer Tag.“ Seto nickte unwillkürlich (War er wirklich so durchschaubar geworden?), zog seinen Mantel über und schritt durch die Regale hinweg nach vorn in Richtung Ausgang. Zum zweiten Mal an diesem Tag bohrte sich Devlins Blick unnachgiebig in seinen Rücken. Frische, kühle Luft drang hinein, als er die schwere Glastür aufdrückte und in die mit farbigen Lichtern durchsetzte Schwärze der Nacht hinaustrat. Devlin war ihm gefolgt und blieb im Türrahmen stehen. Es hätte so einfach sein sollen: Eine letzte Verabschiedung, umdrehen, gehen – soweit die Theorie. Doch ein unsichtbarer Widerstand hielt Seto beharrlich an Ort und Stelle fest. Ein Windstoß erfasste Devlins Haare und wehte ein paar der weich-glänzenden, schwarzen Strähnen in dessen Gesicht. Beiläufig strich er sie sich aus der Stirn und sah Seto tief in die Augen. „Du … müsstest nicht gehen.“ Setos Kehle schnürte sich zu. Er schluckte. „Bis Montag“, hörte er eine Stimme sagen, und erkannte erst mit ein wenig Verzögerung, dass es seine eigene gewesen war. Devlin nickte, ein trauriges, aber verständnisvolles Lächeln auf den Lippen. „Bis Montag.“ Seto erwiderte das Nicken, bevor er sich schließlich umdrehte und zügig auf den Weg zum Auto machte. Die Temperaturen waren noch einmal merklich gesunken, ein starker Höhenwind peitschte die Wolken mit ungewöhnlich hoher Geschwindigkeit über den Nachthimmel und riss sie dabei immer wieder auseinander, sodass man – selten genug für eine Großstadt wie Domino – ab und an ein paar schwach leuchtende Sterne erkennen konnte. Seto vergrub die Hände in den Manteltaschen und zog den dicken Wollstoff enger um sich. Die verbliebenen Blätter an den Ästen der Bäume rauschten im Wind, während herabgefallenes Laub zwischen seinen Füßen und Beinen hindurch über den Gehweg wirbelte. In der Ferne konnte er den Wagen schon sehen, zog den Autoschlüssel aus der Manteltasche und drückte den Knopf, um aufzuschließen. Unablässig wie die Wolken oben am Himmel zogen die vergangenen gut anderthalb Stunden noch einmal an seinem geistigen Auge vorüber. Er hatte Dinge gesagt, die er eigentlich nicht hatte sagen wollen, und so vieles nicht gesagt, das er hatte sagen wollen … oder hätte sagen sollen? Seine rechte Hand schloss sich um den kalten Griff der Autotür. Nicht zu fassen, Joey hatte Recht! Du hast Angst! Er hielt inne. Neunzig Minuten lang hatte er einfach nur neben Devlin gestanden … und hätte das problemlos weiter tun können, wenn nicht sein Verstand sich eingeschaltet hätte, als Devlin schließen musste. Und wieder war da diese unfassbare Wärme in Devlins Blick gewesen. Verständnis. Keine Nachfrage, kein ‚Warum nicht?‘, kein Vorwurf. Devlin wollte, dass er blieb. Und er … Wenn du mal ganz ehrlich zu dir bist … Er wollte es auch. Seine linke Hand krampfte sich fester um den Autoschlüssel. Warum zur Hölle tat er es dann nicht einfach?! Wenn dir ma wirklich jemand nahe kommt, dann haut’er doch sofort wieder ab! Weil er dann ganz schnell merkt, was für’n kaputtes Arschloch dein verrückter Stiefvater aus dir gemach’ hat un was für’n trauriges Lebn du eign’lich führst! Tze, an Wheelers dämlicher Theorie war jedenfalls so ziemlich alles falsch – wie nicht anders zu erwarten. Natürlich war sein Leben nicht traurig! Hektisch, stressig, anstrengend, ja, aber auch enorm erfüllend! Niemand verstand das besser als Devlin. Und was die Vater-Sache anging … wie sollte Devlin ihn da verurteilen, wo er doch das Zeichen seiner ganz eigenen Geschichte offen im Gesicht trug? … weil dein Leben so viel einfacher und unkomplizierter ist, wenn dir niemand zu nahe kommt! Weil du dich dann nicht ernsthaft mit dem auseinandersetzen musst, was in dir vorgeht, sondern einfach weiter funktionieren kannst! Ja, sicherlich, so hatte er gedacht. Doch die Realität sah anders aus. Je weiter er Devlin von sich wegstieß, desto weniger schien er zu funktionieren. Erst jetzt, in den letzten Minuten, einfach schweigend neben Devlin, hatte er sich zum ersten Mal wieder ruhig und irgendwie … ausgeglichen gefühlt. Musste man die Logik also tatsächlich umkehren? Konnte er vielleicht nur dann wieder funktionieren, wenn er endlich seinen Widerstand, seine Kontrolle aufgab?! Und … wäre das wirklich so schlimm? Devlin hatte diese Momente, dieses Wissen, zu keinem Zeitpunkt ausgenutzt, hatte niemandem von der Sache am See erzählt oder allem anderen, was zwischen ihnen passiert war: seinen Freunden nicht, Mokuba nicht, … Außerdem: War es nicht irgendwie auch … angenehm gewesen, hin und wieder die Kontrolle abzugeben? Vor allem an jemanden, der – anders als Wheeler beim Orientierungslauf – tatsächlich wusste, was er tat? Doch war dabei immer auch etwas anderes an die Oberfläche gespült worden; ein beklemmendes, erstickendes Gefühl, das sich mal mehr, mal weniger stark in sein Bewusstsein gedrängt hatte … Tatsächlich … Angst. Angst sich nicht mehr zu kennen, sich nicht mehr auf sich selbst verlassen zu können. Angst, jemand anderes zu werden, genau wie Dr. Jekyll – ein Mr. Hyde, von dem es kein Zurück mehr gab. … aber das hier war kein Buch, sondern das echte Leben. Sein Griff um den Autoschlüssel lockerte sich. Er war kein Charakter in irgendeiner Geschichte, war weder Mr. Hyde noch Dr. Jekyll. Er war Seto Kaiba und würde das auch bleiben – ein bisschen anders vielleicht, aber nicht zwangsläufig schlechter. Wenn du mal ganz ehrlich zu dir bist … Devlin hatte recht: Da war eine Verbindung zwischen ihnen und sie war weit mehr als nur körperlich. Devlin erwartete nichts von ihm, vor allem keine Geständnisse, drängte ihn zu nichts. Himmel, Devlin hatte ja nicht einmal gefragt, warum er heute Abend überhaupt hergekommen war! Wie von allein wanderte sein linker Daumen langsam in Richtung des Knopfes mit dem verriegelten Schloss. … vielleicht, weil Devlin schon geahnt hatte, dass er es nicht einmal selbst wusste. Nun, ich trage mich mit dem Gedanken, den jungen Devlin zurück nach Amerika zu locken. Aber Verbindung hin oder her – was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Devlin würde schon bald weg sein und vielleicht nicht mehr zurückkehren. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er zog leicht am Griff der Autotür. Allerdings … … bis dahin waren es noch mindestens sechs Monate. Sechs lange Monate. Sein kleiner Finger ließ los. Sechs Monate, in denen es unmöglich so weitergehen konnte! Sein Ringfinger ebenfalls. Wenn diese Klassenfahrt eines gezeigt hatte, dann dass Gozaburo (wieder einmal) falsch gelegen hatte: Es gab sehr wohl so etwas wie Fehler! In Bezug auf Devlin hatte er schon einmal einen gemacht. Und irgendwie fühlte sich das hier – hier draußen in der Kälte zu stehen, statt in der Wärme des Ladens neben Devlin – gerade wie der nächste an. Der Griff der Autotür schnappte zurück, als Seto ihn endgültig losließ und auf dem Absatz kehrtmachte. Noch im Gehen schloss er den Wagen wieder ab und ließ den Autoschlüssel zurück in seine Manteltasche gleiten. Mit jedem Schritt wurde er schneller, bis er tatsächlich rannte. Duke stand schon auf den Treppenstufen, um nach oben in sein Büro zu gehen, da brachte ihn ein plötzlicher Impuls dazu, sich noch einmal umzudrehen – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie im schummrigen Licht der Straßen- und Schaufensterbeleuchtung eine vertraute Gestalt vor der gläsernen Ladentür auftauchte. Sein Herz machte einen Sprung. Noch bevor Kaiba die Hand zum Klopfen heben konnte, rannte Duke schon vorbei an den Tischen und durch die Regalreihen zurück zur Tür. Mit schwitzigen, leicht zitternden Fingern kramte er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel und wiederholte die schon tausendfach ausgeführten Handgriffe trotz des Sturms, der in ihm tobte, mit schlafwandlerischer Sicherheit. Der beißende Wind von draußen ließ eine Gänsehaut auf seinen Armen entstehen, als er schließlich leicht außer Atem die Tür öffnete. „Hast du was vergessen?“ Wieder war es kaum mehr als ein Flüstern, zweifelnd, ungläubig. Die blauen Augen sahen ihn unverwandt an, das indirekte Licht der Schaufenster spielte in ihnen wie Mondlicht auf den Wellen des Meeres. „Nein.“ Kaiba schluckte. „Ich meine … ja, ich–“ Duke entließ ein kurzes Schnauben und schüttelte leicht den Kopf. „Halt die Klappe!“ Blitzschnell packte er das Revers des beigen Mantels, zog sich halb auf die Zehenspitzen und verschloss Kaibas Lippen mit seinen. Alles in Seto schien zu explodieren. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, erwiderte er den überfallartigen, alles andere als zurückhaltenden Kuss und legte all das hinein, was er eigentlich hatte sagen, aber vielleicht niemals wirklich würde aussprechen können. Worte wurden ohnehin überbewertet. Seine Finger krallten sich in den schwarzen Stoff von Devlins Sweatshirt, zogen ihn noch näher heran, falls das überhaupt möglich war, und schoben ihn gleichzeitig nach hinten zurück in den Laden. Mit einem gedämpften ‚Klack’ fiel die schwere Glastür hinter ihnen ins Schloss und ließ sie die restliche Welt außerhalb vollständig vergessen. Kaum, dass Kaibas weiche Lippen anfingen, sich gegen seine zu bewegen, ließ die Anspannung in Dukes gesamtem Körper schlagartig nach. Seine Hände lösten sich von Kaibas Mantel und strichen stattdessen genüsslich über den Stoff des schwarzen Rollkragen-Shirts, das jenen unfassbar anziehenden Körper verbarg, den er, seit er ihn in der U-Bahn von Nagano zum ersten Mal unabsichtlich berührt hatte, nicht mehr hatte vergessen können. Mit einem Mal war alles wieder da – noch tausendmal intensiver als an dem viel zu kurzen, folgenreichen Nachmittag in der Jugendherberge: Kaibas kühle Hand, die sein Gesicht umfasste und sich über seinen Hals weiter nach hinten in seinen Nacken schob, Kaibas Lippen, von denen die Kälte der Herbstnacht längst verschwunden war, der Duft des Parfüms, der ihn wie ein betörender Nebel einhüllte und ihm die Sinne raubte. Auf der Suche nach noch mehr Nähe, mehr Wärme wanderten seine Hände begierig unter den Wollmantel und dessen seidig-weiches Innenfutter. Sie hatten jedes Gefühl für ihre Umgebung verloren, stolperten wie im Rausch immer weiter nach hinten, bis Dukes Rücken auf die Kante eines Regals traf. Der sanfte Aufprall brachte es für eine Sekunde gefährlich zum Wackeln, doch es folgten lediglich ein paar dumpfe Geräusche, als zwei oder drei schwere Pen & Paper-Regelwerke in ihrem Fächern umfielen. Ebenso gut hätte das ganze Regal umkippen und in einer fatalen Kettenreaktion den halben Laden in Schutt und Asche legen können – jetzt und hier wäre es Duke vermutlich herzlich egal gewesen. Seine rechte Hand vergrub sich tief in Kaibas weichen Haaren, ihre Zungen trafen sich, er schloss die Augen und ergab sich völlig in die Schwerelosigkeit und Euphorie des Augenblicks. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sie fast zeitgleich den Kontakt ihrer Lippen, nicht jedoch ihre Hände und Arme vom Körper des Anderen. Kaibas Gesicht, heiß, fast fiebrig, ebenso wie sein eigenes, war noch immer ganz nah, ihr flacher, abgehackter Atem vermischte sich zu einem. „Willst du mit zu mir kommen?“, hauchte Duke in das Halbdunkel des leeren Ladens. Keine Antwort, nur weiterhin leises, schnelles Ein- und Ausatmen in der Stille. Dukes Endorphinrausch versiegte; die aufgekratzte Leichtigkeit der letzten Minuten wurde verdrängt von der klammen Befürchtung, wieder einmal zu schnell vorgeprescht zu sein. Hatte er den Bogen überspannt? Besann sich Kaiba gleich eines Besseren und würde wieder die Flucht ergreifen? Er kniff die Augen zusammen, ließ die Schultern sinken und entließ ein leises Seufzen. „Aber wenn du ni–“ „Mein Auto steht um die Ecke.“ Sofort riss Duke die Augen wieder auf und für den Bruchteil einer Sekunde erwog er ernsthaft, Kaiba zu bitten, den Satz noch einmal zu wiederholen. Aber da gab es nichts falsch zu verstehen und er hatte es sich mit Sicherheit auch nicht eingebildet. Die erstickende Enge in seiner Brust löste sich auf und seine Mundwinkel strebten unaufhaltsam nach oben. Kaum etwas in seinem Leben hatte ihn je so viel Überwindung gekostet, wie sich in diesem Moment von Kaiba zu lösen, aber es nützte nichts; seine Jacke und sein Rucksack, in dem sich auch der Wohnungsschlüssel befand, waren noch oben. „Warte hier, ich hol nur noch schnell meine Sachen!“ Seine Hand drückte noch einmal sanft Kaibas Schulter, so als müsste er sich versichern, dass es sich nicht doch um ein Traumgebilde oder eine Halluzination handelte, die verpuffte, sobald er nicht mehr hinsah. „Geh bloß nicht weg! Ich warne dich!“ „Jetzt mach schon!“ Der halb ungeduldige, halb amüsierte Unterton in Kaibas Stimme zusammen mit der zarten Andeutung eines Schmunzelns auf dessen Lippen war Beruhigung genug und so sprintete Duke, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen nach oben in sein Büro. Kaibas Auto stand tatsächlich zwei-, vielleicht dreihundert Meter entfernt in der nächsten Seitenstraße. Duke hatte den Reißverschluss seines Parkas nicht geschlossen; der kräftige, schneidende Herbstwind und die Kälte der Nacht kümmerten ihn nicht im Mindesten. Wärme schwappte, ausgehend von seinem Herzen, in immer neuen Wellen durch seinen gesamten Körper, von den Zehenspitzen bis zum Haaransatz. Jedes Mal, wenn er zu Kaiba sah, der einen Meter vor ihm lief, fühlte er sich leicht, taumelnd, fast ein wenig schwindelig, als würde er statt durch das nächtliche Domino durch eine phantastische Traumwelt spazieren. Die Fahrt in dem edlen, schwarzen Mercedes – dem äußeren Erscheinungsbild und dem Geruch im Innern nach zu urteilen noch recht neu – verlief schweigend. Auch wenn um diese Zeit kaum noch Verkehr auf den Straßen war, schien Kaiba vollkommen auf das Lenken des Wagens konzentriert. Vermutlich hatte er sich die Adresse von Roland geben lassen, denn er fragte kein einziges Mal nach und nahm an jeder Kreuzung verlässlich die richtige Abzweigung. Ein kleines Stück von Dukes Wohnung entfernt parkte er schließlich den Wagen in der ersten freien Lücke. Sie stiegen aus und wieder ging Kaiba vorneweg, genau in die richtige Richtung. War er vielleicht schon einmal hier gewesen? Anders war das doch kaum zu erklären … Ein neuerlicher Windstoß fegte durch die Straße, raschelte durch die Hecken und dünnen Bäumchen in den Vorgärten. Wieder vergrub Seto seine Hände in den Taschen seines Mantels – nicht etwa, weil sie sonst kalt geworden wären, sondern vielmehr, um seine Finger dazu zu zwingen, wenigstens für ein paar Minuten still zu halten, jetzt wo das Lenkrad diese Aufgabe nicht mehr übernahm. In der Sekunde als die sanfte Vibration des Motors aufgehört und er den Schlüssel aus der Zündung gezogen hatte, hatte er sich kurz ernsthaft die Frage gestellt, wie genau sie eigentlich hierher gekommen waren. Er selbst hatte jedenfalls keinerlei Erinnerung an die erst vor wenigen Sekunden beendete Fahrt. Wie in einer Dauerschleife hatte sein Gehirn ihm die Ereignisse der letzten halben Stunde wieder und wieder vorgespielt, ohne dass seine körperliche und mentale Reaktion darauf in irgendeiner Weise nachzulassen schien. Dass er nicht unzählige Verkehrsregeln gebrochen oder versehentlich jemanden oder etwas umgefahren hatte, grenzte beinahe an ein Wunder. Auch die kühle Nachtluft trug nicht maßgeblich dazu bei, dass sein Kopf klarer wurde, ganz im Gegenteil. Wie berauscht schwebte er über den Gehweg und die Vorstellung, dass gleich in Devlins Wohnung mehr von dem auf ihn wartete, was sie vor wenigen Minuten im Laden begonnen hatten, trieb ihn nur noch schneller voran. Erst eine sanfte Berührung an seinem Arm brachte ihn dazu, seinen Schritt minimal zu verlangsamen. Devlin hatte zu ihm aufgeschlossen und ging so eng neben ihm, dass sich einmal mehr ihre Schultern berührten, wodurch sich das erwartungsvolle, vorfreudige Kribbeln überall in seinem Körper nur noch verstärkte. Der Anblick des kleinen Innenhofes setzte dem jedoch ein jähes Ende. Ein kalter Schauer vertrieb die überschäumende Wärme in seinem Innern und von einer Sekunde auf die nächste war Seto wieder annähernd vollständig ausgenüchtert. Die weit aufstehende Briefkastenklappe war schon von weitem zu erkennen und je näher sie dem Hauseingang kamen, auch die schwach daraus hervorleuchtenden orangenen Flecken. Seto schluckte. Wie sollte er Devlin das bitte erklären?! Vielleicht … vielleicht konnte er es noch irgendwie vertuschen, sodass Devlin erst morgen darauf stieß? So unauffällig wie möglich löste er den Kontakt ihrer Oberarme und ließ sich ein wenig zurückfallen, um ganz beiläufig an Devlins rechte Seite zu gelangen und sich, an der Haustür angekommen, mehr oder weniger direkt vor den verräterischen Briefkasten zu stellen. Immerhin, noch schien Devlin nichts gemerkt zu haben! Der war viel zu sehr damit beschäftigt in den Untiefen seines Rucksacks zu kramen, um den Schlüssel zu finden. Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi in die Länge, während Devlin wühlte und wühlte. Stocksteif stand Seto da und wagte es kaum zu atmen, um die Aufmerksamkeit seines Begleiters nicht doch durch irgendein unbedachtes Geräusch oder eine Bewegung auf sich und die physische Manifestation seiner Wut und seines verzweifelten, letzten Endes vergeblichen Kampfes mit sich selbst zu lenken, die er hinter sich verbarg. Endlich vernahm er das erlösende Klimpern, Devlin drehte den Schlüssel im Schloss und hielt ihm auffordernd die schwere Haustür auf. Verdammt! Spätestens jetzt würde er sich bewegen müssen! Aber vielleicht konnte er ja … Bevor Seto vom Briefkasten weg- und auf die geöffnete Tür zutrat, suchten seine Augen die seines Begleiters. Ganz wie erhofft fing Devlin seinen Blick auf und die unbändige, ehrliche Zuneigung in seinen smaragdgrünen Augen ließ Seto fast vergessen, dass er gerade einen Plan verfolgte. Geschafft! Er stand im Hausflur und Devlin hatte nichts bemerkt! Mit sich selbst und seiner zugegeben rudimentären Verschleierungstaktik mehr als zufrieden drehte Seto sich noch einmal um. … und erstarrte. Devlin ließ die Tür nicht zufallen, sondern hielt sie noch immer fest, seine Augenbrauen wanderten fragend nach oben, er deutete auf den Briefkasten, sein Mund öffnete sich– „Frag nicht!“, presste Seto halblaut hervor und schüttelte dezent den Kopf. Devlin stockte, doch schließlich schloss er den Mund wieder und ließ die Haustür los. Mit einem vielsagenden, ahnungsvollen Lächeln auf den Lippen ergriff er stattdessen Setos Hand und zog ihn mit sich nach oben. Bereitwillig überließ Seto ihm die Führung, während sich der Knoten in seiner Magengegend langsam auflöste. Früher oder später würde er wohl auch mit der Wahrheit über den Dino-Block und den Briefkasten herausrücken – nicht weil Devlin ihn danach fragte oder darauf drängte, sondern einfach, weil er es wollte. Aber nicht mehr heute. Für heute war alles gesagt. Außerdem … Worte wurden ohnehin überbewertet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)