Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 32: Trying to decide. (If I’ll bother with you.) -------------------------------------------------------- Geschichte war für Duke mit Abstand das langweiligste Schulfach und wer auf den Gedanken gekommen war, es ausgerechnet als erste Stunde am Donnerstagmorgen anzusetzen, aus seiner Sicht ein absoluter Vollidiot. Kobayashi-sensei hatte die Klassenfahrt noch einmal aufgegriffen und zu einem ausgedehnten Vortrag über die Schlacht von Kawanakajima angesetzt, die sie dank des Wettbewerbs mit der Privatschulklasse nicht im Zuge eines Ausfluges hatten abhandeln können. Als er den Kopf auf seiner linken Hand aufstützte, fiel sein Blick auf sein geöffnetes Stiftetäschchen. Grell-orangene Triceratops leuchteten daraus hervor. Gedankenverloren zog er den Dino-Bleistift heraus und drehte ihn zwischen seinen Fingern hin und her. Falls du lieber den Stegosaurus gehabt hättest, muss ich dich leider enttäuschen. Wieder stahl sich ein schmales Grinsen auf seine Lippen. Kaiba hatte ihm den Stift überlassen – warum? War es ihm schlicht egal oder hatte es etwas zu bedeuten? Und wenn es etwas zu bedeuten hatte – was? Wollte Kaiba den Stift loswerden? Das Letzte, das ihn noch an die Klassenfahrt und alles, was dort passiert war, erinnerte? Behalt ihn. Kaibas Stimme war ruhig gewesen, sein Blick weniger kühl als üblich. Eine Haltung der absoluten Abneigung sah definitiv anders aus. Es hatte mehr von einem … Friedensangebot gehabt. Ein verräterisches Kribbeln breitete sich in seiner Magengrube aus. Eine ganze Woche lang hatte Kaiba diesen Stift in der Hand gehalten und damit mehr als nur die Duel Disk-Entwürfe gezeichnet … Vorsichtig ließ er seinen Ellenbogen auf der Schulbank noch etwas weiter nach links gleiten und spähte aus dem Augenwinkel nach hinten. Kaiba hatte ebenfalls den Kopf aufgestützt, auf Daumen-, Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand, und starrte mit leerem Blick halb am Bildschirm seines Laptops vorbei. Die Finger seiner linken Hand tippten rastlos auf der Tischplatte; er schien weder ganz bei seiner Arbeit noch beim Unterricht zu sein. Wie von selbst wanderte Dukes Hand mit dem Dino-Bleistift zur unteren rechten Ecke seines College-Blocks und begann Striche aufs Papier zu setzen. Erst nach ungefähr drei Minuten versonnenen In-die-Leere-Starrens ertappte sich Seto und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Langsam aber sicher wurden diese Konzentrationsschwierigkeiten wirklich zu einem Problem! Weder war er bei seiner Umsatzauswertung vorangekommen, noch hatte er Kobayashi-sensei zugehört, was aber vernachlässigbar war, solange sie ihn nicht überraschend aufrief. Schon gestern Nachmittag hatte er der Telefonkonferenz mit den Leitern der Fabrikstandorte kaum folgen können, immer wieder waren seine Gedanken zur vorangegangenen Nacht, zur Sport- und zur Biologiestunde zurückgekehrt, als wären sie in einer Art Teufelskreis gefangen. Nachdem der Termin endlich zu Ende gewesen war, hatte er das eigentlich geplante ruhige Studieren der restlichen in seiner Abwesenheit aufgelaufenen Unterlagen verschoben (Was brachte es, wenn er sich keine zwei Sätze lang konzentrieren konnte?), seine Sekretärin beauftragt, alle Anrufer zu vertrösten und sich nach unten in die Labors verabschiedet. Nichts half ihm besser, seinen Gedanken zu entfliehen, als seinen Händen etwas ausreichend anspruchsvolles zu tun zu geben. So hatte er der Einfachheit halber begonnen, den ersten Prototyp für die DDM-Duel Disk zu konzipieren und vorzubereiten – nicht, weil es mit Devlin zu tun hatte, sondern viel mehr … aus der Not heraus, denn er hatte keinerlei Bedürfnis gehabt mit den Ingenieuren zu interagieren, die an den anderen aktuellen Projekten arbeiteten. Sollte es denn jetzt wirklich immer so weitergehen? So lange, bis die Schule zu Ende war und er Devlin nicht mehr beinahe jeden Tag sehen musste? Ein gutes halbes Jahr lang? Unmöglich! Aber was konnte er tun? Die Schule wechseln? War für die Kürze der Zeit den Aufwand nicht wert. Die Klasse wechseln? Dann würde er Devlin in der Schule allenfalls gelegentlich sehen. Allerdings hätte er in beiden Fällen dank der DDM-Duel Disk nach wie vor außerhalb der Schule mit Devlin zu tun – was sich aber in Grenzen halten würde … Ganz automatisch war sein Blick seinen Gedanken gefolgt. Devlin saß konzentriert über seinen Schreibblock gebeugt und … Moment, war das der Dino-Bleistift in seiner Hand? Setos Mundwinkel zuckten bedrohlich, doch er konnte sie gerade eben noch im Zaum halten. Plötzlich drehte Devlin den Kopf leicht nach hinten. Setos Atem stockte, sein Herz schien kurz auszusetzen. Umgehend richtete er den Blick wieder auf den Laptopbildschirm und entließ die zurückgehaltene Luft aus seinen Lungen. Das war knapp gewesen! Vielleicht sollte er die Idee mit dem Klassenwechsel doch noch nicht ganz verwerfen … Mit dem Klingeln zum Ende der Stunde warf Duke noch einmal einen letzten Blick auf das Papier und das Ergebnis der vergangenen zwanzig Minuten, bevor er seinen Schreibblock hektisch zuklappte. Das hier musste – durfte! – niemand von den anderen sehen, allen voran nicht Joey! Nachdem er eingepackt hatte, folgte Duke seinen Freunden durch das Gewimmel des Gangs ins nächste Klassenzimmer, als er auf einmal auf halber Strecke am Ärmel seiner Uniformjacke festgehalten und fast schon ruckartig beiseite an eines der Fenster gezogen wurde. „Wir müssen reden!“ Joey ließ seinen Ärmel wieder los und sah ihn mit ungewöhnlich ernster Miene an. „Oh oh, willst jetzt etwa mit mir Schluss machen?“, erwiderte Duke amüsiert, doch Joeys Züge blieben vollkommen versteinert. „Ich hab mit Serenity gesprochen. Warum bist du auf einmal so komisch zu ihr, Alter?“ Dukes Lachen erstarb, sein Magen zog sich zusammen. „‚Komisch‘?! Inwiefern?“, fragte er nur scheinbar ahnungslos nach. „Als ihr am Dienstag telefoniert habt, hatte sie das Gefühl, dass du sie abgewimmelt hast! Du würdest ihr ausweichen, hat sie gesagt, und du reagierst nicht auf ihre Nachrichten!“ Es gelang ihm nicht, Joeys vorwurfsvollem Blick standzuhalten. „Ich bin nicht ‚komisch‘ zu ihr, ich hab nur gerade extrem viel zu tun!“ „So viel, dass du nicht mal die dreißig Sekunden hast, um auf eine verdammte Nachricht zu antworten?!“ Duke vergrub die Hände in den Hosentaschen und entließ ein langgezogenes Seufzen. Warum konnte nicht einmal alles so laufen, wie er es wollte? „Ich hab ihr doch gesagt, dass es eine sehr stressige Zeit für mich wird und dass–“ „Mir ist scheißegal, was du gesagt oder gemeint hast!“, fiel ihm Joey harsch ins Wort, „Fakt ist: Serenity macht sich echt Gedanken deswegen, also rede gefälligst mit ihr!“ Das gefährliche Funkeln in Joeys Blick ließ keinen Zweifel daran, dass Duke der Aufforderung besser nachkam, war ihm doch nur zu bewusst, dass Joey nicht nur in der Lage, sondern, wenn es um das Glück seiner kleinen Schwester ging, auch durchaus bereit wäre, ihm sämtliche Knochen zu brechen. „Schon gut, schon gut! Ich rede nochmal mit ihr!“ „Sehr schön! Sie will mich heute Nachmittag von der Schule abholen, da kannst du gleich loslegen!“ Wie immer, wenn ein langer Schultag endlich zu Ende ging, strömten Schüler aus sämtlichen Klassenzimmern durch die Gänge zu den Treppen, um schnellstmöglich nach unten und aus dem Schulgebäude zu kommen. Wie ebenfalls üblich, zückte Seto noch im Gehen sein Telefon, um zu überprüfen, ob Nachrichten oder wichtige E-Mails eingetroffen waren, die Einfluss auf seine weitere Tagesplanung haben konnten. Hm, vier Anrufe in Abwesenheit von Sakano-san? Eigentlich wussten doch alle seine direkten Mitarbeiter – und sein CMO zählte zweifelsfrei dazu –, dass er um diese Zeit noch im Unterricht saß … vermutlich war etwas wirklich dringend. An einem geöffneten Fenster auf dem Treppenabsatz zum zweiten Stock blieb er stehen und tippte auf die Nummer, um zurückzurufen. Wiederholtes Tuten, niemand nahm ab. Wie er so etwas leiden konnte! Erst war immer alles ganz dringend, und dann … Beiläufig warf er einen Blick nach draußen auf den Hof. Wie von allein fanden seine Augen in der Menge der Schüler jenen ganz bestimmten schwarzen Haarschopf mit dem roten Haarband. Der Kindergarten, einschließlich Devlin, hatte gerade das Gebäude verlassen, da kam ihnen ein Mädchen in fremder Schuluniform regelrecht in die Arme gelaufen. Beim genaueren Hinsehen erkannte er Wheelers Schwester, die nun von allen Seiten freudestrahlend begrüßt wurde. Das monotone Tuten hörte endlich auf und Sakano-sans verlegene Stimme tönte blechern aus dem Hörer. „Ah, Mr. Kaiba, entschuldigen Sie, ich habe–“ Ein demonstratives Räuspern von Seto gemahnte ihn, doch bitte zum Punkt zu kommen. „Nun, wie dem auch sei, danke für Ihren schnellen Rückruf, es geht um folgendes …“ Während ihm Sakano-san den Grund für seine mehrfachen Anrufe auseinandersetzte, stieg Seto die bereits fast gänzlich ausgestorbenen Treppen weiter nach unten. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock stoppte er erneut – Sakano-san war bei einem besonders kritischen Punkt angelangt. Auch hier stand das Fenster offen und ließ eine kühle Herbstbrise hinein, die leicht durch seine Haare wehte. Er hatte die Hand schon am Fenstergriff, um es zu schließen, doch im letzten Moment hielt er inne. Devlin näherte sich den Fahrradständern unterhalb des Fensters, und zwar nicht allein: Die kleine Wheeler folgte ihm auf dem Fuße. Setos Augen verengten sich. Machte Devlin jetzt etwa einfach da weiter, wo er vor der Klassenfahrt aufgehört hatte?! Dieser … „Mr. Kaiba? Haben Sie meine Frage gehört?“ Mit einem leichten Kopfschütteln wandte er sich vom Fenster ab. „Bitte wiederholen Sie sie noch einmal, ich war kurz abgelenkt.“ Seto beantwortete die Frage mit einer Gegenfrage und wieder hatte Sakano-san zu einer ausschweifenden Antwort ausgeholt, als von draußen Devlins Stimme an sein Ohr drang: „Ich schließe nur noch schnell mein Fahrrad ab, dann reden wir, okay?“ Eine gewisse Schwere und Ernsthaftigkeit lag darin, dabei sprach er, wie ein kurzer Seitenblick bestätigte, noch immer mit Wheelers Schwester. Ungewöhnlich. Verdächtig schnell wandte Devlin sich von ihr ab und begann, mit seinem Fahrradschloss zu hantieren. Auch Serenitys Blick war ernster als sonst. Was ging da vor sich? „Mr. Kaiba? Mr. Kaiba, was halten Sie von dem Vorschlag?“, kam es hörbar irritiert vom anderen Ende der Leitung. Seto entließ ein leises Seufzen und traf schließlich im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung. „Ich muss auflegen, ich rufe später zurück!“ Mit der Schulter an die Wand neben dem Fenster gelehnt tat er so, als würde er auf sein Telefon schauen, bis auch noch zwei letzte Nachzügler ihn passiert hatten, während seine eigentliche Aufmerksamkeit natürlich dem galt, was sich unter ihm auf dem Hof abspielte. Die kleine Wheeler hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Devlin an, als hätte er ihrem idiotischen Bruder seinen Schwarzen Rotaugendrachen geklaut. „Also, jetzt mal raus mit der Sprache: Warum gehst du mir aus dem Weg? Hab ich was Falsches gesagt oder gemacht?“ „Was?“ Devlin beugte sich wieder nach oben, das offene Fahrradschloss in der Hand und schüttelte vehement den Kopf. „Nein, nein, absolut nicht! Wie gesagt, ich hab einfach echt viel um die Ohren zur Zeit.“ Mit hektischen Bewegungen packte Devlin das Fahrradschloss in seinen Rucksack und zog sein Fahrrad aus dem Fahrradständer. Tze, das mit dem Lügen hatte er schon einmal besser hinbekommen … Serenity schien es ebenfalls bemerkt zu haben und funkelte ihn sichtlich verärgert an. „Wow! Also ehrlich gesagt, nach allem, was wir zusammen erlebt haben, bin ich ein bisschen enttäuscht von dir!“ Devlin hielt inne und bewegte sich nicht, sein Gesichtsausdruck war von oben nicht wirklich zu erkennen. „Warum spielst du mir etwas vor, Duke? Wir sind doch Freunde! Also, was ist wirklich los?“ „Ich–“, hob er an, als wolle er noch einmal widersprechen, doch ihr strenger Blick brachte ihn dazu, sich stattdessen mit einem leisen Seufzen halb auf die Stange seines Fahrrads zu lehnen, eine Hand fest auf dem Lenker, die andere auf den Sattel gestützt. „Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Die Dinge haben sich … geändert.“ Skeptisch zog sie die Augenbrauen zusammen. „Die Dinge?“ „Mein Blickwinkel, meine … Ansichten dazu, wie ich mich bisher verhalten habe.“ „Also hast du dich geändert.“ Der Ärger in ihren Augen machte einer sichtbaren Neugier Platz. Devlin fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ja, schon … irgendwie.“ „Trägst du darum auch kein Make-Up mehr? Das ist mir gleich aufgefallen.“ „Mhm.“ „Steht dir!“, gab sie mit einem leicht verlegenen Lächeln zurück, das Devlin erwiderte. „Danke!“ Für einen Moment herrschte Schweigen. Ein säuerliches Gefühl stieg in Setos Kehle auf. Wie sie da standen und sich dämlich angrinsten! Was fand Devlin nur an … „Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“ Serenitys Blick wurde erneut ernst, wieder verschränkte sie die Arme vor der Brust und trat noch einen Schritt näher auf Devlin zu. Der kniff die Augen zusammen und atmete schwer aus. „Mir ist klar geworden, dass …“ Auf der Suche nach den richtigen Worten wanderte Devlins Blick nach oben, genau in Richtung des Fensters, an dem Seto stand. Er reagierte blitzschnell und trat einen Schritt zur Seite. Devlin wandte sich wieder Serenity zu, er schien ihn nicht entdeckt zu haben. Zum Glück! „Ich war nicht wirklich ehrlich zu euch – zu dir –, weil … ich auch nicht ehrlich zu mir selbst war. Und du, du … verdienst jemanden, der es wirklich ehrlich mit dir meint!“ Devlin nickte schmunzelnd in Richtung des Schultors, wo, wie Seto feststellte, als er vorsichtig wieder etwas näher ans Fenster trat, der Rest des Kindergartens versammelt war und sich unterhielt. Devlins Bemerkung konnte sich eigentlich nur auf Taylor beziehen, der an der kleinen Wheeler immer ein mindestens ebenso großes, wenn nicht größeres Interesse gezeigt hatte als Devlin selbst. „Ich wollte dich eben einfach nicht enttäuschen.“ Verwundert legte Serenity den Kopf schief. „Mich enttäuschen? Inwiefern?“ „Naja, du hast dir ja vielleicht Hoffnungen gemacht und–“ „Hoffnungen? Was für Hoffnungen?“ Ihre Augen wurden größer. „Moment, solche Hoffnungen?!“ Sie schüttelte den Kopf und nahm eine Hand vor den Mund, doch schließlich hörte auch Seto das Kichern, das sie mit aller Kraft zu unterdrücken versuchte. „Keine Sorge, die hatte ich nicht! Nie! Zu keinem Zeitpunkt! Wirklich nicht!“ „Schon gut, schon gut, ich hab’s ja verstanden!“ Devlins sichtliche Verstimmung entlockte Seto ein minimales Schmunzeln. „Entschuldige!“ Ihr Kichern verwandelte sich in ein sanftes Lächeln. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass du dir darüber keine Gedanken zu machen brauchst.“ Devlin entließ ein leises Schnauben und nickte nur. „Jetzt, wo das geklärt ist:“, fuhr Serenity fort, „Woher der Sinneswandel? Was kann denn in einer Woche alles passieren, dass–“ Sie unterbrach sich; ihre Augen blitzten auf, so als sei ihr gerade eine Idee gekommen. Die gespannte Stille war fast körperlich spürbar, da begann das Handy in Setos Hosentasche laut zu klingeln. In Windeseile zog er es hervor und drückte den Anrufer weg, ohne überhaupt einen Blick auf das Display geworfen zu haben. Hatte man es unten gehört? Anscheinend nicht, denn noch immer, und damit fast schon unangenehm lange, musterte die kleine Wheeler Devlin durchdringend. „Du hast dich verliebt, oder? So richtig?“ Seto zog scharf die Luft ein. Devlin wich ihrem Blick aus und klopfte gedankenverloren mit der rechten Hand auf seinen Fahrradsattel. Setos Herzschlag beschleunigte sich und hämmerte laut in seinen Ohren. Ein zaghaftes Lächeln umspielte Devlins Lippen, als er den Blick wieder hob und mit den Schultern zuckte. „Irgendwie schon.“ Seto biss sich auf die Unterlippe. Er hatte alle Mühe seine Mundwinkel unten zu halten und das mittelgroße Feuerwerk, das augenblicklich in seiner Magengegend losging, angemessen zu ignorieren. Serenity sprang leicht nach oben und klatschte in die Hände. „Oh, das freut mich ja so für dich, ehrlich!“ Devlin schüttelte den Kopf; das Lächeln auf seinen Lippen war bereits wieder verschwunden. „Ach, wahrscheinlich wird sowieso nichts daraus werden.“ „Aber warum das denn?“ „Weil…“, Devlin seufzte einmal tief und ließ seine Hand schwer auf den Fahrradsattel fallen, „wir nun mal sind, wie wir sind.“ „Das heißt?“ „Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, wenn du mich fragst.“ „Zumindest habt ihr schon mal was gemeinsam.“ Devlin entwich ein bitteres Schnauben. „Vielleicht zu viel.“ Ein Stich durchfuhr Setos Herz. Nach ein paar quälenden Sekunden der Stille richtete Devlin sich auf und griff sein Fahrrad am Lenker. „Weißt du schon, was du nach der Schule machen willst?“, fragte er Serenity nun wieder schmunzelnd, „Du könntest Psychologin werden … oder zur Kriminalpolizei gehen. Auf jeden Fall weißt du, wie man Leute zum Reden bringt!“ „Hm, gar keine schlechte Idee!“, stimmte sie mit einem leisen Kichern zu und machte wie er Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Im letzten Moment jedoch blieb sie noch einmal stehen und legte Devlin sanft eine Hand auf die Wange. „Gib nicht so schnell auf, hörst du? Das passt nicht zu dir! Außerdem sind Menschen immer für Überraschungen gut!“ Und da war es wieder: dieses absolut entwaffnende Lächeln, zusammen mit jener unglaublichen Wärme in Devlins smaragdgrünen Augen. Aus dem mittelgroßen wurde ein gewaltiges Feuerwerk, das sich von Neuem mit ungeahnter Vehemenz in Setos Bewusstsein drängte. In einer fließenden Bewegung nahm Devlin Serenitys Hand von seiner Wange und deutete einen Handkuss an, der sie unwillkürlich erröten und Seto nur mit den Augen rollen ließ. Zum Abschied winkte Serenity noch einmal und lief dann in Richtung Schultor davon. Devlin blieb noch einen Moment stehen und atmete einmal tief durch. Dann schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr los. Als er außer Sichtweite war, trat Seto vom Fenster weg und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken. Die Worte hallten in seinem Kopf nach, wieder und wieder und wieder und wieder und wieder … Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Das erneute Klingeln seines Telefons riss ihn schließlich aus der Dauerschleife. Mit einem gedehnten Ausatmen stieß er sich von der Wand ab und strich auf dem Display nach rechts. Erst in der Limousine, auf halbem Weg nach Hause legte Seto endlich auf und ließ das Smartphone in die Tasche seiner Schuluniform gleiten. Erschöpft ließ er den Kopf nach hinten fallen und schloss die Augen. Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, diesem Gespräch zu lauschen? Warum hatte er nicht einfach das Fenster geschlossen oder war irgendwo anders hingegangen, um sich voll und ganz auf das Telefonat zu konzentrieren? Dann hätte er all das nicht gehört und könnte einfach weiter durch sein Leben gehen, als wäre (fast) nichts gewesen! … Ja, vermutlich war genau das die beste Lösung: Einfach so tun, als habe er das alles nie gehört – vielleicht würde er es ja irgendwann sogar tatsächlich glauben. Irgendwann musste dieser ganze Devlin-Wahnsinn doch ein Ende haben! Im Unterricht hatte es, abgesehen von dem einen, kleinen schwachen Moment heute Morgen in Geschichte, doch auch ganz gut funktioniert – und war es da nicht auch viel mehr der Dino-Bleistift gewesen, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte? Egal, er sollte einfach keinen Gedanken mehr an diese Sache und an Devlin verschwenden und sich stattdessen auf die wirklich wichtigen Dinge fokussieren! Zu Hause schnell seine Schulsachen auspacken, sich umziehen, noch ein paar Termine in der Firma und dann – als leidiger Abschluss – noch das Essen mit einigen wichtigen Geschäftspartnern. Auf letzteres könnte er zwar gut und gerne verzichten, aber wenigstens hatte er es heute Abend endlich hinter sich. In der Villa angekommen, ging Seto zielstrebig nach oben in sein Arbeitszimmer und begann seine Schulbücher aus der Tasche zu räumen. Als es vorsichtig an der Tür klopfte, sah er auf. „Ja, bitte?“ Mokuba streckte vorsichtig seinen Kopf herein. „Wann fährst du wieder los?“ Seto sah auf seine Uhr. „In einer Viertelstunde. Warum?“ „Super, dann könnte ich eigentlich gleich mitfahren! Roland kann dich an der Firma absetzen und mich danach schnell zum Black Clown fahren.“ „Zum Black Clown?“ Es gelang Seto nicht ganz, den gereizten Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. Mokuba trat nun ganz herein und kam zu ihm an den Schreibtisch. „Ja, ich hab dir doch erzählt, dass wir nochmal Dungeon Dice Monsters spielen gehen wollten – und bevor du fragst: Ja, ich habe meine Hausaufgaben schon gemacht!“ „Hm.“ „Außerdem ist Duke ja jetzt wieder da – ich wollte ihm doch noch persönlich sagen, wie gut das Spiel ist. Du solltest es auch mal ausprobieren, es würde dir bestimmt gefallen!“ Unwillkürlich knallte Seto das Mathebuch, das er gerade in der Hand hatte, stärker auf den Schreibtisch. „Möglicherweise.“ Es war gut. Eine gelungene Verbindung aus Glücks-, Strategie- und Taktik-Elementen. Sehr abwechslungsreich. „Und Duke würde sich bestimmt tierisch freuen, wenn du sagst, dass es dir auch gefällt!“ Jetzt, wo Sie einmal Dungeon Dice Monsters ausprobiert haben, Mr. Kaiba, und offenkundig auf den Geschmack gekommen sind, wollen Sie überhaupt jemals wieder Duel Monsters spielen? „Seto?“ Erst die Erwähnung seines Namens brachte ihn wieder vollständig zurück ins Hier und Jetzt. „Ich hab dich was gefragt.“ „Was?“ „Was hast du eigentlich gemeint, als du am Montag gesagt hast, du hättest dafür gesorgt, dass ich weiter DDM spielen kann?“ Die Antwort, die ihm eigentlich auf der Zunge lag, war harsch und er konnte sich gerade noch zurückhalten sie auch so zu äußern. Ein beleidigter Mokuba war das Letzte, das er jetzt gebrauchen konnte. Stattdessen warf er ihm einen Blick irgendwo zwischen Ungeduld und leichtem Ärger zu. „Mokuba, wie du siehst, habe ich hier zu tun und muss mich noch umziehen, also–“ „Okay, okay, ich lass dich ja schon in Ruhe! Bis gleich, ich warte unten!“ Duke stand vor einem Regal mit Brettspielen und ließ seinen Blick über die verschiedenen Packungen und Schriftzüge schweifen. Welche davon hatte er noch nie zur Game Night zum Ausprobieren angeboten? Natürlich würde es morgen Abend wie jedes Mal auch ein paar gut laufende Klassiker geben, aber ein wichtiger, wenn nicht gar der hauptsächliche, Sinn der Veranstaltung bestand natürlich darin, seine bestehende und potentielle Kundschaft mit immer neuen Eindrücken (und Kaufanreizen!) zu versorgen … Als er von hinten angetippt wurde, schrak er unwillkürlich zusammen und fuhr herum. Ein bekanntes Gesicht, umrahmt von schwarzen Haaren, mit fröhlich glänzenden, grauen Augen sah ihm entgegen. Sein Puls schnellte hoch. Mit Kaibas kleinem Bruder hatte er nun wirklich nicht gerechnet. „Mokuba, hi, was machst du denn hier?“ „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken! Ich bin mit Freunden hier, wir wollen nochmal Dungeon Dice Monsters spielen.“ Er deutete auf eine Gruppe von drei anderen Jungs in seinem Alter, die gerade an der Kasse standen. „Nochmal?“ „Ja, wir waren letzte Woche schon mal hier, um es auszuprobieren. Es hat echt mega-viel Spaß gemacht! Ich wollte dir das auch unbedingt persönlich sagen, aber letzte Woche warst du ja nicht da.“ „Stimmt.“ Mit einiger Anstrengung gelang es Duke, trotz der unfreiwillig heraufbeschworenen Erinnerungen ein Lächeln auf seine Lippen zu zwingen. „Schön, dass es euch gefällt! Ich freue mich immer riesig, wenn jemand DDM neu für sich entdeckt! Dann mal viel Erfolg!“ „Danke!“ Schon wollte Mokuba wieder zu seinen Freunden gehen, doch mitten in der Bewegung hielt er inne und drehte sich noch einmal herum. Dukes Augenbrauen wanderten fragend nach oben. „Kann ich dir noch irgendwie helfen?“ „Ja … ja, ich glaube schon“, begann Mokuba und Duke hielt unwillkürlich hielt Duke den Atem an. „Es geht um–“ „Mokuba, kommst du jetzt endlich?“, rief einer von Mokubas Freunden aus Richtung des Treppenabgangs hinunter zur DDM-Arena. Auch der Rest schien bereits ungeduldig zu warten. „Ach, vergiss es!“, schüttelte Mokuba mit einem kaum merklichen Seufzen den Kopf, „Na dann, wir sehen uns!“ Schon war er verschwunden und Duke sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie die vier Jungs aufgeregt schnatternd zur DDM-Arena hinunter stiegen. Im Lager des Black Clown, ganz unten im Keller des Gebäudes, befanden sich noch einige Stühle, die nach oben geholt werden mussten, sodass um jeden der vorbereiteten Spieletische Platz für ausreichend Spieler und neugierige Zuschauer war. Im ersten Untergeschoss, wo sich die DDM-Arena befand, blitzte und knallte es, sodass Duke auf dem Weg nach unten seine Neugier nicht im Zaum halten konnte und einen Moment im Türrahmen stehen blieb, um zuzusehen. Mokuba hatte offenbar gerade ein Monster seines Gegners zerstört und war soeben im Begriff, letzterem mit seinem eigenen Monster den zweiten Lebenspunkt abzuziehen. Auch der Blick auf die Größe und Verteilung der Dungeons machte unmissverständlich klar, dass er das Spiel klar dominierte. Eigentlich kein Wunder, auch Kaiba hatte unglaublich schnell gelernt und sofort begriffen, worauf es bei DDM ankam. Ich denke, so viel kann ich sagen: Ich werde wohl in nächster Zeit aus beruflichen Gründen häufiger Dungeon Dice Monsters spielen als Duel Monsters. Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen. Damit hatte es sich wohl auch erledigt. Ob Kaiba, nach allem, was passiert war, überhaupt jemals wieder einen DDM-Würfel in die Hand nehmen würde? Vermutlich nicht. Was hatte Mokuba wohl vorhin noch von ihm gewollt? Sein Zögern und der merkwürdige Ausdruck in seinen Augen konnten eigentlich nur bedeuten, dass es nicht um DDM oder irgendetwas ähnlich banales gehen konnte – dann hätte Mokuba einfach rundheraus gefragt. Ob es etwas mit seinem Bruder zu tun hatte? Vielleicht. Vermutlich. Wahrscheinlich. So, wie er ihn kannte, hatte Kaiba weder seinem kleinen Bruder, noch einer anderen Menschenseele gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verloren, was vergangene Woche wirklich zwischen ihnen passiert war. Das war vollkommen ausgeschlossen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er wohl am liebsten ein undurchdringliches Tuch des Schweigens über sämtliche Erlebnisse und Details der vergangenen Woche gelegt. Aber vielleicht hatte Mokuba ja trotzdem etwas bemerkt? Benahm sich Kaiba anders als sonst oder hatte eine unbedachte Bemerkung gemacht? Denn, dass Kaiba noch nicht wieder ganz derselbe war wie vor der Klassenfahrt, das war ganz offensichtlich, zumindest für ihn selbst, der die ganze Geschichte unmittelbar miterlebt hatte. Vielleicht konnte Kaiba seine Gefühle (ja, Gefühle!) genauso wenig einfach abschütteln wie er selbst? (Beweisstück A: das Basketball-Spiel, Beweisstück B: die Sache mit dem Stift, …) Vielleicht hatte Kaiba die Entwürfe ja doch nicht nur wegen ‚der Umsätze‘ neu gemacht? Vielleicht steckte ja doch mehr dahinter? Vielleicht hatte Kaiba ja doch eingesehen, dass er einen Fehler gemacht hatte? Immerhin hatte es bei ihrem klärenden Gespräch (wenn man seinen Monolog in dem leeren Klassenzimmer denn so nennen wollte) so gewirkt, als glaubte Kaiba ihm, dass er es ernst gemeint hatte … zumindest hatte er ihm dieses Mal nicht widersprochen, seine Motive nicht in Frage gestellt … … Vielleicht … ganz vielleicht hatte Serenity ja recht und es war doch noch nicht alles verloren? Ein winziges Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich endlich wieder auf sein eigentliches Vorhaben besann und weiter nach unten in den Keller ging. Unauffällig schob Seto die Manschette seines Hemdes ein paar Millimeter nach oben, um einen schnellen Blick auf seine Uhr zu werfen. 19:30 Uhr. Seit einer halben Stunde saßen sie nun schon in diesem stickigen Nebenraum eines der besten Restaurants der Stadt: sein COO, sein VP Procurement & Production, sein CIO, sowie sein VP Product & Design, dazu die Geschäftsführer der drei mit Abstand wichtigsten Zulieferbetriebe der Kaiba Corporation. Nicht nur sollte es um die Verhandlung von besseren Einkaufskonditionen gehen, sondern auch um die Frage, welche neuen Technologien die drei Firmen in Zukunft zur Verfügung stellen könnten und wie eine vertiefte Kooperation in der technologischen Forschung aussehen könnte. So sehr Seto sie auch hasste, leider waren derartige Geschäftsessen eine Notwendigkeit, vor der er sich nicht drücken konnte. Bei Meetings in seinem Büro war immerhin sichergestellt, dass es ausschließlich um die wirklich wichtigen, das heißt die geschäftlichen, Themen ging – ganz im Gegensatz zur etwas formloseren Atmosphäre in einem Restaurant, wo sehr zu seinem Leidwesen immer wieder kleine Subkonversationen aufkamen, für deren eher privatere Inhalte Seto keinerlei Interesse hegte, vermittelten sie ihm doch nur zu häufig, dass er trotz aller seiner Bemühungen möglichst erwachsen aufzutreten, in einer völlig anderen Lebenswelt zu Hause war als seine in der Regel wesentlich älteren Geschäftspartner. Das ursprünglich doch recht interessante Gespräch über verbesserte Projektionstechnologien war mit dem Eintreffen der Vorspeise leider in die besagte Richtung abgebogen und Seto bedauerte es zutiefst, dass er Fujiwara-san, dem Geschäftsführer der Firma, die den Großteil der in den Duel Disks und Arenen verbauten Sensortechnologie produzierte – einem Mann etwa Mitte fünfzig, mit grauen Haaren und etwas größerer Körperfülle –, unmöglich in aller Öffentlichkeit den Mund verbieten konnte. „… und ich sage Ihnen, meine Frau kommt aus Shikoku, die macht ein Fischgericht mit Nudeln, das haut jeden um!“ Fujiwara-san nahm einen weiteren Schluck Sake und stellte den Becher (es war bereits sein dritter) geräuschvoll wieder ab. „Das lieben sogar die Kinder!“ Seto hörte nur noch mit einem halben Ohr zu und konzentrierte sich stattdessen mehr darauf, die kleine Portion in irgendeiner mysteriösen, dunklen Soße ertränkter Nudeln zu essen, ohne seine Kleidung in Mitleidenschaft zu ziehen. „Ach, ich dachte Ihre Frau käme aus Nagano?“, erkundigte sich Fujiwara-sans Tischnachbar, Geschäftsführer eines Herstellers von Spezialgläsern. Beim letzten Wort zuckten Setos Augenbrauen unwillkürlich nach oben, sein Griff um die Stäbchen lockerte sich und einige der Nudeln, die er soeben zum Mund hatte führen wollen, fielen mit einem leisen ‚Platsch’ zurück in die Schüssel. Schnell und möglichst unauffällig sah er sich um. Zum Glück schien die kleine Ungeschicklichkeit niemandem aufgefallen und sein Anzug und seine Krawatte verschont geblieben zu sein. Natürlich war das nur ein Zufall und hatte nichts mit dem zu tun, was gesagt worden war! Und selbst wenn, er war nun mal vor kaum einer Woche dort gewesen, da war es doch wohl kein Wunder, dass der Name der Stadt ihn ungewollt aufhorchen ließ, oder?! „Nagano?“ Fujiwara-san runzelte die Stirn, doch dann hellte sich seine Miene auf. „Oh, ich verstehe! Sie reden von Hinako! Nein, wir sind schon seit zwei Jahren geschieden. Ich rede von meiner jetzigen Frau – wir haben letztes Jahr geheiratet.“ „Ach was, meinen Glückwunsch!“, warf sein COO von der Seite ein. „Ja, ich kann es manchmal selber kaum fassen: Schon drei Jahre zusammen und noch immer so verliebt wie am ersten Tag!“ Du hast dich verliebt, oder? So richtig? Irgendwie schon. „Moment, drei Jahre? Aber das heißt ja, dass–“ „Ja, Hinako und ich, wir hatten beide unsere kleinen Geheimnisse, wenn Sie verstehen“, lachte Fujiwara-san anzüglich, stieß seinen Tischnachbar leicht mit dem Ellenbogen an und schob sich noch eine Portion Nudeln in den Mund. Wir haben beide ein kleines Problem mit der Wahrheit. Sie uns einzugestehen und dann auch damit rauszurücken. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, wenn du mich fragst. „Trotzdem habe ich ziemlich lange gebraucht, bis ich endlich eingesehen habe, dass es Yumi ist, die ich wirklich liebe, und die Ehe mit Hinako beenden muss. Und ich sage Ihnen, wenn ich dadurch eine Sache gelernt habe, dann dass man das Glück beim Schopf packen und festhalten muss, wenn es einem über den Weg läuft, sonst ist es schneller weg, als man gucken kann! Im Nachhinein betrachtet war es die ganzen Scherereien mit der Scheidung und den Kindern und so weiter jedenfalls mehr als wert. Glauben Sie mir, es gibt Tage, da fühle ich mich immer noch wie ein bis über beide Ohren verliebter Teenager!“ Sämtliche Mitarbeiter der KC zogen scharf die Luft ein und lenkten Setos Aufmerksamkeit dadurch ebenfalls wieder aktiv auf das Gespräch. „Oh, ich vergaß, wir haben ja noch einen am Tisch!“, lachte Fujiwara-san dröhnend, „Aber was soll’s, der junge Mr. Kaiba wird das alles sicherlich noch früh genug selbst kennen lernen, nicht wahr? In Ihrem Alter geht es doch erst so richtig los, dass man das eine oder andere Mädchen mit ganz anderen Augen sieht!“ Auf welche der Damen haben Sie denn ein Auge geworfen? Seto spürte wie Wut in ihm hochzukochen begann, sagte jedoch nichts, sondern bedachte seinen Geschäftspartner nur mit einem Blick, der bei seinen eigenen Mitarbeitern dazu angetan war, einen spontanen Fluchtreflex auszulösen. Bei Fujiwara-san hingegen schien er lediglich dafür zu sorgen, dass das breite Grinsen auf dessen vom Alkohol geröteten Gesicht zu einem leichten Schmunzeln wurde. „Jaja, ich verstehe schon!“, winkte er ab, „Mein 17-Jähriger hasst es auch, wenn ich vor anderen über so etwas rede! Entschuldigen Sie! Das gehört ja auch eigentlich gar nicht hier her, nicht wahr?“ „Sehr richtig!“ Setos Tonfall hätte den Sake in den Gläsern der erwachsenen Männer am Tisch gefrieren lassen können. Bevor das Gespräch noch einmal in Fahrt kommen konnte, wurden dankenswerterweise endlich auch die Hauptspeisen serviert – ein Schritt näher in Richtung Ende dieses Alptraums! Duke war gerade damit beschäftigt, mit Hilfe von kleinen Klebeetiketten festzulegen, welches seiner zuvor ausgewählten Spiele morgen Abend auf welchem Tisch gespielt werden sollte, als Mokuba und seine Freunde wieder nach oben kamen. Mokubas Freunde verabschiedeten sich und gingen zielstrebig zur Tür, Mokuba hingegen blieb noch zurück und sah sich suchend im Raum um. Kaum hatte er Duke erspäht, kam er auch schon strahlend auf ihn zugelaufen. „Na, wie war’s?“, fragte Duke bemüht beiläufig und zog einen weiteren der beschrifteten Aufkleber vom Trägerpapier ab. „Super! Ich hab alle meine Spiele gewonnen!“ Mokubas ehrliche Freude ließ wie von allein auch sein eigenes Lächeln größer werden. „Dachte ich mir schon! Ich hab vorhin kurz zugesehen; du scheinst ein echtes Händchen für DDM zu haben. Muss in der Fam-“ Schnell brach er ab. „Was?“ „Ach nichts.“ Dukes Eingeweide verknoteten sich. Als könnte Mokuba seine Unsicherheit riechen, musterten die grauen Augen ihn nun umso eindringlicher. „Sag mal, … Seto und du, habt ihr euch eigentlich gut verstanden in eurem gemeinsamen Zimmer?“ Als würde er aus einer Starre erwachen, umrundete Duke schnell den Tisch, um das Etikett, das noch immer an seinem Finger klebte, an der Seite des Tisches anzubringen. Vermutlich hatte Mokuba seinem großen Bruder selbst diese simple Tatsache förmlich aus der Nase ziehen müssen. Also, schön unspezifisch bleiben und nicht schon wieder zu viel ausplaudern! „Ähm, ja, schon. So weit es eben geht.“ Mokuba vergrub die Hände in den Hosentaschen, sah zu Boden und wippte leicht auf seinen Fußballen vor und zurück. Enttäuschung legte sich wie ein Schleier über sein Gesicht und schlug sich auch in seiner Stimme nieder. „Und, wenn überhaupt, habt ihr vermutlich nur über Geschäftliches geredet, stimmt’s?“ „Nun ja, …“ Wie bei meinem kleinen Bruder – immer Haare im Gesicht. „… ja.“ Duke zuckte mit den Schultern. „Du kennst doch deinen Bruder.“ Mokubas Augen blitzten auf und seine Mundwinkel zuckten fast schon triumphierend nach oben. Duke runzelte die Stirn und konnte die Schweißtropfen förmlich fühlen, die sich auf ihr bildeten. Wieso wurde er das Gefühl nicht los, gerade blindlings in eine Falle getappt zu sein? „Prima! Dann kannst du mir doch mit Sicherheit eine Sache erklären:“, sprudelte Mokuba weiter, als habe er diese Wendung tatsächlich von langer Hand geplant, „Weißt du, Seto hat nämlich am Sonntag noch die ganze Nacht durchgearbeitet. Und als ich ihn morgens gefragt habe, was er gemacht hat, da sagte er nur, er hätte ‚dafür gesorgt, dass ich weiter DDM spielen kann‘. Du hast also nicht zufällig eine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?“ Schach Matt. Dukes Hände wurden schwitzig. Er legte den Bogen mit den beschreibbaren Aufklebern beiseite, den er, ohne es wirklich zu merken, halb zerknüllt hatte. Das Verweigern einer Aussage stellte an diesem Punkt keine Alternative mehr dar, das machte Mokubas Gesichtsausdruck nur zu deutlich. So unähnlich sie im ersten Augenblick auch scheinen mochten, in Momenten wie diesen war die Verwandtschaft der beiden Kaiba-Brüder unmöglich zu leugnen. Mit einem gedehnten Ausatmen ließ er sich auf einen der Stühle sinken. „Okay, es war so …“ Die zentralen Ereignisse waren schnell in groben Zügen geschildert: Das Telefonat mit Pegasus vor der Abfahrt, seine Idee, der Kauf des Blocks (natürlich ohne Erwähnung der Dinos), Kaibas Zustimmung die DDM-Duel Disk tatsächlich zu konzipieren. An dieser Stelle schien Mokuba stutzig zu werden und strich sich nachdenklich mit zwei Fingern über das Kinn. „Verstehe ich das richtig? Er hat dir geholfen, obwohl dein Spiel drohte eingestellt zu werden? Aus rein wirtschaftlicher Sicht ist das mindestens fragwürdig!“ Dukes Augenbrauen waren wohl unwillkürlich nach oben geschnellt, sodass er sich beeilte, fortzufahren, „Sorry, was ich damit sagen will: So etwas sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich!“ Duke schluckte. „Dieses … winzige Detail habe ich, nun ja, sagen wir“, er biss sich leicht auf die Unterlippe, „anfangs ausgelassen.“ „Oh!“ Mokubas Augen wurden groß. „Dein Bruder hat natürlich absolut großartige Entwürfe ausgearbeitet, aber irgendwann kam der Punkt, da–“ „Da musstest du ihm die Wahrheit sagen.“ „Ja.“ Für einen Moment starrte Duke versonnen ins Leere, dann wandte er sich wieder Mokuba zu und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Du kannst dir sicher vorstellen, wie das gelaufen ist.“ „Seto muss stinksauer gewesen sein!“, nickte Mokuba langsam und ließ sich ebenfalls auf einen der Stühle ihm gegenüber nieder. Duke entwich ein leises Schnauben. „Ich hab mich natürlich entschuldigt und versucht ihm meine Zwangslage zu erklären, in der Hoffnung, dass er es verstehen würde.“ „Und?“ Er schüttelte nur den Kopf. „Verstehe. Und wie ging es dann weiter?“ Als er den Blick wieder hob, wurde Duke mit grauen Augen konfrontiert, die ihn erwartungsvoll und mit ungeteilter Aufmerksamkeit ansahen. Wie sollte er es nur ausdrücken? Wie sollte er Mokuba erklären, dass sein so abgöttisch verehrter Bruder dafür gesorgt oder zumindest billigend in Kauf genommen hatte, dass die Entwürfe vernichtet wurden und DDM damit praktisch dem Untergang geweiht gewesen war? „Danach sind die Entwürfe leider durch eine … Verkettung unglücklicher Umstände … verloren gegangen.“ „Hä?!“ Duke nickte nur langsam, ohne den Satz weiter auszuführen oder näher zu erläutern. „‚Verloren gegangen’?! ‚Verkettung unglücklicher Umstände‘?! Was soll das heißen?“ „Das …,“ Duke zögerte und fing an, den zerknitterten Bogen mit den Aufklebern auf der Tischkante glatt zu streichen, „solltest du wohl besser deinen Bruder fragen.“ Mokubas Augenbrauen zogen sich zusammen. Schnell fuhr Duke fort, um die Schwere zu überspielen, die in seiner Stimme gelegen hatte. „Wie auch immer, jedenfalls … muss er am Sonntag die Entwürfe nochmal neu ausgearbeitet haben, denn am Montagmorgen stand auf einmal euer Assistent, ähm–“ „Roland?“ „Ja, genau! – mit einem USB-Stick vor meiner Tür und ich konnte alles vor dem Industrial Illusions Vorstand präsentieren.“ „Hm, ja, jetzt ergibt das alles auch etwas mehr Sinn“, sinnierte Mokuba, „Ich hatte Seto am Sonntag beim Abendessen erzählt, dass wir letzte Woche hier waren und wie viel Spaß mir DDM gemacht hat. Seine Reaktion darauf war rückblickend doch irgendwie … auffällig.“ Dukes Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, doch mit aller Kraft gelang es ihm trotzdem ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. „Dann ist das wohl schon die ganze Erklärung.“ „Scheint so,“ stimmte Mokuba noch immer gedankenverloren zu, „Und sonst ist echt nichts weiter passiert?“ „Mh-mhm“, bestätigte Duke noch einmal mit einem Kopfschütteln und bemüht neutralem Gesichtsausdruck. „Na gut, dann hast du mir auf jeden Fall schon mal sehr geholfen. Danke dir!“ Mokuba erhob sich und schob seinen Stuhl zurück an den Tisch. „Und wir kommen auf jeden Fall wieder, DDM ist echt richtig stark! Ganz ehrlich, – und sag das bloß niemals Seto! –“, er hielt die Hand vor den Mund, als würde er Duke ein Geheimnis anvertrauen, „mir gefällt es besser als Duel Monsters!“ „Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher!“, gab Duke nur grinsend zurück, erwiderte Mokubas Winken zum Abschied und sah ihm nach, bis sich die gläserne Ladentür hinter dem Jungen geschlossen hatte. Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit war der Laden bereits menschenleer, sodass Duke ein wenig mit dem Stuhl nach hinten rücken und seinen Kopf ganz ungeniert auf den hölzernen Rand des Spieltisches fallen lassen konnte. So war es also gewesen. Mokuba hatte erzählt, wie viel Spaß ihm DDM gemacht hatte, Kaiba hatte ein schlechtes Gewissen bekommen und die Entwürfe neu gemacht. Und die Umsätze? Die hatten mit Sicherheit auch keine kleine Rolle in dieser Rettungsaktion gespielt, immerhin hatte nicht nur Kaiba selbst, sondern auch Max sofort diesen Punkt ins Spiel gebracht. Mokuba und die Umsätze, die Umsätze und Mokuba. 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