Common Ground von DuchessOfBoredom ================================================================================ Kapitel 20: Fight or flight? (Or what?) --------------------------------------- Duke hatte fast das Gefühl, er könne durch die Dunkelheit und beinahe unnatürliche Stille sein Herz schlagen hören. So starr und bewegungslos wie möglich lag er unter seiner Decke und spürte, wie die Hitze der Erregung aus seinem Körper wich und die Härte in seinem Schritt nur quälend langsam zurückging. Auch seine Atmung kam immer mehr zur Ruhe, ganz im Gegensatz zu seinem Kopf, in dem Fragen wirr und zusammenhanglos umher rasten, auf der verzweifelten Suche nach Antworten, die er (noch) nicht geben konnte. Antworten darauf, was gerade eigentlich passiert war, was das bedeutete, für ihn, für Kaiba, für sie, wie er Kaiba jetzt begegnen sollte und wie es weitergehen würde. Könnte? Sollte?! Ob es weitergehen würde. (Könnte? Sollte?) Ob er überhaupt wollte, dass es weitergehen würde. (Könnte? Sollte?) … Wann er endlich der geistigen und körperlichen Erschöpfung erlegen und über seinen kreisenden Gedanken eingeschlafen war, wusste er im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Nur, dass das Klimpergeräusch von Kaibas Wecker viel zu früh an seine Ohren drang. Er drehte sich noch einmal auf die rechte Seite und wollte gerade vorsichtig die Augen öffnen, da spürte er die Bewegung auf der anderen Seite des Bettes und augenblicklich überschwemmten ihn die Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Nacht, die der Schlaf ihn für kurze Zeit so gnädig hatte vergessen lassen. Um den Eindruck zu erwecken, als würde er noch schlafen, ließ er die Augen geschlossen, konnte sich jedoch nicht zurückhalten, hin und wieder kurz zu blinzeln. Kaiba stand mit dem Rücken zu ihm vor seinem Koffer, in der Hand zusammengeknüllt das T-Shirt, das er gestern Abend angehabt hatte. Ursprünglich. Bevor Duke angefangen hatte, es von seinem Körper zu schieben, die nackte Haut freizulegen und zu berühren … schnell stoppte er den unvermeidlichen Strom seiner Gedanken und öffnete die Augen, in der Hoffnung, dass die sichtbare Realität die Bilder zumindest für den Moment verdrängen würde. Vergeblich, denn so sah er gerade noch, wie der Brünette sich ins Bad aufmachte: mit nacktem Oberkörper und unordentlichen Haaren, deren duftende Weichheit Duke sofort wieder an seinen Fingern fühlen konnte. Kaum war die Badtür abgeschlossen worden, drehte Duke sich auf den Rücken, entließ einen tiefen Seufzer und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Erschrocken hielt er mitten in der Bewegung inne, in der reflexhaften Angst, gerade seinen Kajal verwischt zu haben, bevor ihm wieder einfiel, dass er ja gerade gar keinen trug. Damit lässt du überhaupt nichts hinter dir. Gott! Wie viel Stoff zum Nachdenken konnte einem ein einziger Abend eigentlich geben? Am liebsten wollte er seinen Kopf sofort zum Schweigen bringen oder sich in einen leeren Raum einsperren, wo ihn niemand stören, ablenken, vollquatschen, auf einen Ausflug schleifen oder völlig unerwartet berühren würde, um sich in Ruhe zu sortieren. Da beides leider Gottes nicht möglich sein würde, zwang er sich schließlich mit einem neuerlichen Seufzen dazu aufzustehen. Seine offenen Haare kitzelten leicht seine bloßen Schultern, als er sich aufsetzte, und sein Blick fiel auf sein eigenes T-Shirt, das zwischen dem Bett und seiner Tasche auf dem Boden lag. Wo er es gestern hingeworfen hatte, nachdem Kaiba … argh! Er streckte sich ein wenig, um es aufzuheben, und starrte das Kleidungsstück in seinen Händen noch ein paar Sekunden lang gedankenverloren an, bevor er sich leicht widerstrebend erhob und aus seiner Tasche die Klamotten für den heutigen Tag heraussuchte. Beim Zähneputzen betrachtete Seto sein Gesicht im Spiegel etwas genauer, nur um festzustellen, dass man ihm zumindest ansatzweise ansehen konnte, wie spät und unruhig er geschlafen hatte. Aber war das ein Wunder, nach allem, was gestern Abend passiert war? Den überraschenden Enthüllungen, seinem kurzen Aussetzer und … allem danach. Sofort setzte er dem Strom der Erinnerungen ein Ende, beugte sich übers Waschbecken, spuckte und spülte den Mund aus. Danach entkleidete er sich, nahm seine Waschutensilien und ging unter die Dusche. Warum konnte man das alles nicht einfach abspülen und alles wäre wieder wie vorher? Nicht so kompliziert, so seltsam, so unangenehm. Diese Ratlosigkeit und Unsicherheit waren einfach unerträglich. Er stellte das Wasser ab und griff zum Duschgel, um sich einzuseifen. Routiniert glitten seine Hände über seinen Oberkörper, seine Arme, seine Schultern und schickten seine Gedanken wie von selbst erneut auf Reisen. Auf einmal waren es nicht mehr seine eigenen, sondern Dukes Hände, die ihn berührten, fordernd über seinen Körper strichen, sich in seinen Rücken gruben. Seine Bewegungen verlangsamten und intensivierten sich, Erregung flammte von Neuem in ihm auf, während seine Hände an seinem Oberkörper entlang immer weiter nach unten wanderten. Erst die zunehmende Hitze und das kurze Zucken in seiner Körpermitte brachten ihn wieder zu sich und augenblicklich stoppte er sich. Himmel, was war nur in ihn gefahren?! Hastig beendete er den Duschvorgang, trocknete sich ab und zog sich an. Nur durch Zufall bemerkte er bei seinem letzten Blick in den Spiegel das Schildchen, das vorne unterhalb seines Hemdkragens hervorblitzte. Mit einem abgrundtiefen Seufzen trat er vom Waschbecken weg, zog den dunkelblauen Kaschmir-Pullover noch einmal aus und richtig herum wieder an, bevor er sich zum zweiten Mal die Haare kämmte und das Bad mit einem letzten Kopfschütteln über sich selbst wieder verließ. Duke schreckte zusammen und sein Herzschlag beschleunigte sich blitzartig, als die Badtür aufging und Kaiba heraustrat. Nur für eine Millisekunde trafen sich ihre Blicke, doch der Brünette wandte sich umgehend wieder ab und ging zielstrebig auf sein Nachtschränkchen und seinen Koffer zu. Auch Duke konnte den Blickkontakt gar nicht schnell genug wieder abbrechen und flüchtete sich vor der Fortsetzung ihres peinlichen Schweigens ins Badezimmer. Irgendwann würden sie über das reden müssen, was passiert war, das war ihm nur zu bewusst. Aber wer sagte denn, dass das unbedingt jetzt sein musste?! Sie würden vermutlich beide noch ein wenig brauchen, um das zu verarbeiten, und die erste wirklich ausgiebige Gelegenheit für ein Gespräch würde es ohnehin erst heute Abend geben. Nachdem Duke in Rekordgeschwindigkeit geduscht, sich die Haare geföhnt und sich angezogen hatte, sah er in den leicht beschlagenen Spiegel. In gewohnter Manier wanderte seine Hand als erstes zum Haargummi und er band sich die Haare zusammen. Normalerweise war danach der Kajal an der Reihe, doch er zögerte und legte stattdessen zuerst seinen Schmuck an. Konnte er nach allem, was Kaiba gestern gesagt hatte, die Narbe wirklich weiter verstecken? Mit diesem kleinen, schwarzen Strich gibst du ihm immer neue Macht über dich und dein Leben. Der Griff nach dem schwarzen Stift fühlte sich falsch an – mindestens so falsch, wie es sich gestern noch angefühlt hatte, ohne den Kajalstrich aus dem Bad zu gehen. Im Grunde spielst du ihm nur in die Hände. Was ein paar Worte doch ausmachen konnten! Aber mal ehrlich, wie würde der Tag ablaufen, wenn er wirklich so, wie er war, hinunter ginge? Als erstes würden seine Freunde fragen, ob er vergessen habe, sich zu schminken, er würde sagen ‚Nein.‘ und spätestens dann würden sie genauer hinsehen und zum ersten Mal die Narbe sehen. Wenn sie ihn nicht sofort danach fragen würden, dann auf jeden Fall später in einer ruhigen Minute. Bis dahin gäbe es nur verstohlene Blicke. Nicht nur von ihnen, auch von allen anderen, dazu vermutlich leises Getuschel, vor allem von den Mädchen, die ihn anhimmelten. Alle würden sich fragen, was sich auf einmal geändert hatte und was mit ihm los war. Die anderen sind doch völlig egal; das geht niemanden etwas an! Am Ende hast ganz allein du die Macht, zu entscheiden, ob und wie du antwortest. Natürlich musste er sich niemandem erklären. Im Grunde seines Herzens hatte er das auch schon gewusst, er hatte es Joey am Ende der Wanderung ja sogar noch selbst gesagt: Er war niemandem – auch nicht seinen Freunden – in irgendeiner Form Rechenschaft schuldig. Aber in Verbindung mit … der anderen Sache war diese zusätzliche Konfrontation gerade einfach zu viel. Erstmal musste er die Sache mit Kaiba klären, dann konnte er die nächste Front aufmachen. Mit dem vertrauten leisen Ploppen zog er die Kappe des Kajalstiftes ab. Als Duke aus dem Bad trat, hatte der Brünette das Zimmer wieder einmal bereits verlassen. Offensichtlich schien Kaiba das mit dem Darüberreden genau so zu sehen wie er selbst. Sehr gut. Nachdem er noch seinen Anhänger umgelegt und seinen Rucksack für den Ausflug gepackt hatte, machte er sich samt seiner Sachen auf den Weg nach unten in den Speisesaal. „Und stell dir mal vor, was danach noch gelaufen sein muss!“ Tristans Stimme klang hörbar aufgeregt, als Duke seinen Rucksack auf dem Boden abstellte und sich zu ihm und den anderen gesellte. Offenbar waren sie so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie ihn gar nicht gleich bemerkten. Tea schüttelte angewidert den Kopf. „Urgh, das will ich mir gar nicht vorstellen!“ „Ich meine, die haben hundertpro rumgeknutscht und wollten definitiv noch mehr machen!“ Dukes Augen weiteten sich und sein Puls ging sprunghaft nach oben. Was?! Wie?! Die anderen konnten doch nicht …! „Ja, sie waren schon kurz davor!“, fügte Joey hinzu und nahm einen Schluck Saft. Oder etwa doch?! Wie war das möglich? Duke brach der Schweiß aus. „Also ich hab nichts mitbekommen, ich hab schon geschlafen.“, warf Yugi schulterzuckend ein. Mit einer Geste seiner Hand verstärkte Joey noch einmal jedes Wort: „Mitten. auf. dem. Gang, Yugi!“ Duke atmete kaum hörbar aus und musste aufpassen, nicht laut über sich selbst zu lachen. Natürlich, es ging um Frau Kobayashi und Herrn Takeda! Ein kurzer Schauer überlief ihn, als er realisierte, was da gestern eigentlich auf dem Flur gesagt worden war, denn das hatte er anscheinend noch gar nicht bewusst verarbeitet. Dafür war er zu sehr mit anderen (wobei, offenkundig gar nicht so anderen) Dingen beschäftigt gewesen. Unwillkürlich musste Duke schlucken. Was wohl geschehen wäre, wenn die beiden Lehrer nicht so einen Krach gemacht hätten? Wie weit wären sie noch gegangen, bevor einer von ihnen die Reißleine gezogen hätte? „Alter, habt ihr das bei euch da hinten gestern auch gehört mit Kobayashi-sensei?“, wurde er von Joey aus seinen Gedanken gerissen. Duke nickte, noch immer halb abwesend. „Mhm.“ Nur äußerst widerstrebend ließ sich sein Gehirn davon überzeugen, ihm den Moment nicht zu lebhaft wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Hitze, ihr Kuss, Kaibas Körper an seinem und das kurze Aufstöhnen, als … stopp! Schnell warf er einen ausweichenden Blick über seine Schulter zur Durchreiche, stellte fest, dass gerade kein Schüler – insbesondere kein koffeinsüchtiger Firmenchef – dort war und stand eilig noch einmal auf, um sich einen Kaffee zu holen. An ihrem Tisch waren bereits Wetten darauf abgeschlossen worden, ob Frau Kobayashi es noch zum Frühstück schaffen würde, doch in beinahe allerletzter Minute tauchte sie tatsächlich im Speisesaal auf. Mit auffällig gesenktem Kopf und einer Sonnenbrille im Gesicht ging sie zur Durchreiche und erbat sich anscheinend ebenfalls einen Kaffee. „Na, die hat auf jeden Fall nen ordentlichen Kater, das wird ein toller Ausflug heute!“, lachte Joey und selbst die eher zurückhaltenden Mitglieder ihres Freundeskreises konnten sich ein amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen. Nachdem die Lehrerin offenbar nur mit äußerstem Widerstreben ein paar Bissen hinuntergewürgt hatte, gab sie wesentlich verhaltener als sonst das Signal zum Aufbruch. Wie bereits zur Wanderung würden sie auch heute wieder mit dem Reisebus unterwegs sein. Setos Erfahrungen der letzten Tage zufolge platzierte sich der Kindergarten immer relativ weit hinten, sodass er dieses Mal extra früh einstieg und sich einen Platz vorne in der dritten Reihe sicherte. Für den Moment wollte er Devlin einfach nur so weit von sich entfernt haben wie irgend möglich, schien das doch aktuell die einzige wirkungsvolle Maßnahme zu sein, um seinen Hormonhaushalt weitestgehend in Schach zu halten. Tasche und Mantel legte er auf dem Sitz neben sich ab und machte es sich so bequem, wie es in diesem anstrengenden Gefährt eben ging. Mit verschränkten Armen saß er da und trommelte unruhig mit dem rechten Fuß auf den Linoleumboden unter sich. Himmel, er musste noch nicht einmal sehen, dass der Kindergarten einstieg – er konnte Wheelers und Taylors lautstarker Unterhaltung draußen bereits von seinem Platz aus besser folgen, als ihm jemals lieb sein konnte. Einer nach dem anderen erklommen die Freunde in der Tat nur wenige Sekunden später die Busstufen neben dem Fahrersitz und schoben sich auch an seinem Platz vorbei. Seto drehte sich bewusst weg und starrte nur stoisch aus dem Fenster, in dem Versuch, seinen temporären Zimmergenossen auf diese Weise nicht sehen zu müssen. Doch wieder einmal war es die unnachgiebige Physik, die das erfolgreich verhinderte. Zwar konnte er den Schwarzhaarigen selbst in der Tat nicht sehen, aber sehr wohl dessen geisterhaft durchscheinendes Spiegelbild in der Glasscheibe. Augenblicklich machte sein Herz einen kurzen Sprung und das mittlerweile schon vertraute Kribbeln in seinem Magen hob von Neuem an. Ganz wie von selbst blieb Setos Blick an der Spiegelung hängen und seine Augen folgten ihr aufmerksam weiter nach hinten, so lange, wie es die Gesetze der Reflexion zuließen. Hm, Devlin war einfach gerade durchgegangen und hatte weder nach links, noch nach rechts geschaut – auf jeden Fall hatte er keine sichtbare Reaktion gezeigt, als er an ihm vorbeigekommen war. Ärger begann in Seto hochzuköcheln. Nicht zu fassen! Dieser Typ zeigte nicht die kleinste Regung, während bei ihm alleine schon der schwache Luftzug der Bewegung ausgereicht hatte, dass sich seine Nackenhärchen aufstellten. Aber gut, vielleicht – nein ganz wahrscheinlich sogar – verfolgte Devlin die gleiche Strategie wie er, die in der Hauptsache vorsah, auf Abstand zu gehen, bis man sich über die nächsten Schritte besser im Klaren war. Am Ende war das Erlebnis vermutlich auch für ihn kein ganz alltägliches gewesen. Aber auch das konnte genauso gut nur eine fromme Hoffnung sein, wer konnte das bei einem derart … umtriebigen Menschen wie Devlin schon sagen. Er kannte ihn ja auch nur oberflächlich. Das bin ich. Einfach so. Ohne Makeup, ohne Frisur, ohne Schnickschnack. Ich nehme an, du machst das wegen der Narbe? Ich hab sie von meinem Vater. Unbewusst schüttelte Seto den Kopf. Trotzdem, wer wusste schon, was Devlin sonst noch in diesem Bereich getrieben hatte, so wie er sich immer gab. Umso ärgerlicher war es, dass er selbst sich so hatte gehen lassen. So mussten sich Leute fühlen, wenn sie zu viel getrunken und dann im Rausch unmögliche Dinge getan hatten. Als hätte sie sich durch seine Gedanken angesprochen gefühlt, erhob sich in diesem Moment Frau Kobayashi – noch immer mit der Sonnenbrille auf der Nase – und riss Seto aus seinen ziellosen Grübeleien. Sie signalisierte dem Fahrer, der den Motor bereits gestartet hatte, noch einen Moment zu warten, vermutlich, um ihre obligatorische Ansprache noch ohne die Einwirkung moderater Fliehkräfte und schaukelnder Bewegungen zu halten. Alles andere hätte in ihrem momentanen Zustand wohl unschöne Konsequenzen gehabt, wie Seto mit einer Mischung aus Amüsement und Ekel ob der Vorstellung, was da gestern Abend zwischen den Lehrern passiert war, dachte. „So, meine Damen und Herren!“, begann sie mit belegter Stimme und räusperte sich noch einmal; ihre für gewöhnlich sprühende Motivation wollte jedoch noch nicht so recht aufkommen. „Heute tauchen wir ein in die spannende Welt der Samurai! Wir besuchen die Stadt Matsushiro am östlichen Rand von Nagano gelegen, die einst vom mächtigen Samurai-Clan der Sanada beherrscht wurde. Freuen Sie sich auf viele original erhaltene oder rekonstruierte Gebäude, wie die Festung, die Fürstenresidenz, und den Chokokuji-Tempel. Dazu besuchen wir das angeschlossene Museum, wo wir viel von der Originalausstattung der entsprechenden Häuser sehen können, und dazu natürlich Schwerter, Rüstungen und weiteres historisches Gerät. Ich wünsche uns allen viel Spaß auf dieser kleinen Zeitreise!“ Schon wollte sie sich wieder auf ihren Platz in der ersten Reihe hinter dem Fahrer setzen, da stand sie doch noch einmal auf, drehte sich zu ihren Schülern um und ruckelte verlegen ihre Sonnenbrille zurecht. „Ach, und eine Bitte noch: Wie Sie vielleicht bemerkt haben, bin ich heute … nicht ganz auf der Höhe. Ich wäre Ihnen daher sehr verbunden, wenn Sie vor allem hier im Bus ihre Lautstärke etwas drosseln könnten! Vielen Dank!“ An der Erfüllbarkeit dieses Wunsches hegte Seto für seinen Teil doch starke Zweifel. Die Lehrerin setzte sich wieder hin und der Bus sich endlich in Bewegung. Langsam zuckelten sie die links und rechts bewaldeten Serpentinen zur Stadt hinunter, während die Morgensonne durch die teils schon entlaubten, teils noch bunten Baumkronen brach, und für einen Moment versank Seto in dem Anblick. Eigentlich hatte er weiter an den Entwürfen feilen wollen, doch die Straße und der schwankende Bus machten die jetzt noch nötige feine Detailarbeit wohl zu einem Ding der Unmöglichkeit. So kramte er in seiner Tasche nach seinen Kopfhörern und verband sie mit seinem ansonsten nutzlosen, aber heute zumindest wieder vollständig aufgeladenen Telefon. Während ihn die Töne umfingen und erst die herbstliche Landschaft, dann die hektische Stadt an ihm vorbeizogen, wanderten seine Gedanken erneut ganz von allein zu ihrem momentan alles überlagernden Dauer-Thema und immer wieder schossen unkontrolliert einzelne Bilder und Szenen der letzten Nacht in seinen Kopf. Etwas Vergleichbares hatte er bisher noch nicht erlebt und man konnte sagen, was man wollte, aber auf diese Erfahrung hatte der Biologie-Unterricht ihn definitiv nicht ausreichend vorbereitet. Inhaltlich, bezogen auf die physischen Reaktionen vielleicht, aber nicht auf … den ganzen Rest. Auf die Intensität der Gefühle, darauf, dass sich sein klarer Verstand fast vollständig ausschaltete und er sich komplett vergaß. Das war ein wirklicher Totalausfall gewesen. Der ultimative Kontrollverlust. Zu so etwas kam es also, wenn man sich zu sehr „darauf einließ“: Mr. Hyde – genau wie im Buch. Zwar ohne das gelegentliche Blutbad, aber trotzdem. Gleich, es war vorbei und würde nicht noch einmal passieren. Heute Nachmittag oder heute Abend würden sie darüber reden und er diesem so merkwürdigen wie sinnlosen Spiel ein Ende setzen. Das peinliche Schweigen und die seltsame Atmosphäre zwischen ihnen würden ein für alle Mal vorbei sein und alles wäre wieder wie vorher (zumindest im Rahmen der Möglichkeiten), wofür Devlin vermutlich auch nur dankbar wäre. Überhaupt Devlin! Der war wahrscheinlich das größte Rätsel an der ganzen Sache! Hatte Seto nicht gestern noch konstatiert, dass kaum jemand so eindeutig auf Mädchen stand wie der Schwarzhaarige? Aber was war das dann letzte Nacht gewesen? Nicht nur hatte Devlin ihn nicht gestoppt und abgewiesen, nein, er hatte mitgemacht! (Und das nach Setos zugegeben laienhafter Einschätzung sogar äußerst engagiert.) Genau betrachtet hatte er die Sache eigentlich sogar angefangen! Devlin hatte ihn geküsst, nicht umgekehrt. Hieß das etwa … ? Vielleicht hatte Devlin ihn vorher im Laufe des Tages tatsächlich mit Absicht berührt, war ihm absichtlich nahe gekommen. Hatte Devlin am Ende gar einen Plan verfolgt? Und er war darauf hereingefallen, so wie beim Schachspiel? Falls ja, was bezweckte Devlin damit? Andererseits (seine innere Stimme hörte sich auf einmal verdächtig nach seinem Bruder an): Musste wirklich immer hinter allem ein Plan stecken? Konnte es nicht einfach nur bedeuten, dass Devlin unter der gleichen … unerfreulichen Disposition litt wie er? Dann wäre das Ganze vielleicht ja doch weit weniger aussichtslos als gedacht … Wieder war es, als würde Setos Brust von einem äußerst lebhaften Schwarm Fluginsekten erfüllt und der Hauch eines Lächelns stahl sich unwillkürlich auf seine Lippen. Beendet werden musste die Sache natürlich trotzdem. ... Oder? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)