Dein rettendes Lachen von stardustrose ================================================================================ Kapitel 10: Wir sind nicht allein --------------------------------- Ich starrte den kleinen Papierstapel in meiner Hand an, den mir Jadens Mutter überreicht hatte, dann sah ich wieder zu seinem Vater. Was hat er eben gesagt? Ich konnte mich nicht rühren. „Und?“ fragte Jaden grinsend. Sein Vater hat mir tatsächlich vorgeschlagen, mich beim Gericht als vorläufiger Vormund zu begleiten. Weder ich noch mein Vater, hatten daran gedacht, dass das nötig wäre. Schließlich war ich schon 18. Er und Jaden würden mich begleiten. Ich wäre nicht allein. Ich würde im Gerichtssaal nicht die ganze Zeit allein neben einem Fremden sitzen müssen. Herr Yuki ergriff wieder das Wort. „Du musst dich natürlich nicht sofort entscheiden. Lass dir Zeit und denk noch einmal darüber nach, schließlich-“ „Ja“ unterbrach ich ihn. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Das war das Beste, was mir in dieser Situation passieren konnte. Er lächelte. „Na dann muss ich mich nur noch mit dem Staatsanwalt unterhalten, und wir müssen uns nach einer Unterkunft umsehen.“ „Was das angeht… Ich habe vor einigen Tagen einen Brief bekommen, von einem alten Freund meiner Eltern. Er hat von der Gerichtsverhandlung gehört, es stand wohl in der Zeitung. Er hat mir angeboten in der Zeit bei ihm unterzukommen. Ich glaube er hat nichts dagegen, wenn ihr auch mitkommt.“ „Sehr cool! Dann ist doch alles geklärt, oder?“ sagte Jaden fröhlich. Ich lächelte „Ja.“ „Sehr schön!“ freute sich seine Mutter. „Dann rede ich morgen mit eurem Direktor. Willst du nicht gleich zum Essen bleiben, Yusei?“ Ich stimmte zu, nachdem Jaden mich mit seinem Blick weichgeklopft hatte. So verbrachte ich den Abend also im Hause Yuki. Am nächsten Tag fuhr ich nach der Schule zu meinem Vater ins Krankenhaus. Am Telefon sagten sie mir in den letzten Tagen immer wieder, er wolle keinen Besuch. Auch Jadens Mutter machte sich langsam Sorgen, aber da sie keine Angehörige war, konnten ihr die Ärzte nichts erzählen. Warum nur will er niemanden mehr an sich heranlassen? An der Rezeption musste ich eine Weile warten, ehe der behandelnde Arzt meines Vaters Zeit für mich hatte. Ich nutzte die Wartezeit, um mir einige Videos der Spiele unserer Gegner im ersten Qualifikationsspiel anzusehen. „Sind Sie Yusei Fudo?“ fragte mich eine tiefe Stimme. Ich blickte auf und sah einen älteren Mann mit Kittel, und einem Klemmbrett in der Hand. Ich nickte und er bedeutete mir, ihm zu folgen. In seinem Büro angekommen, setzte ich mich auf einen freien Stuhl vor seinem Schreibtisch. Als er auf seinem Stuhl Platz nahm, seufzte er schwer. „Na schön, ich kann mir schon vorstellen, warum Sie gekommen sind. Es geht um die Verweigerung Ihres Vaters, Besuche anzunehmen, nicht?“ Wieder nickte ich. „Wir wissen leider auch nicht, warum er sich so verändert hat. Er spricht nicht mal mehr mit den Ärzten. Wenn das so weiter geht, wird er nicht, wie geplant, in drei Wochen entlassen. Wir müssten die Dosis seiner Medikamente erhöhen, und ihn für mindestens einen weiteren Monat stationär behandeln.“ „WAS?“ fragte ich entsetzt. Meine Finger krallten sich in die Armlehnen des Stuhls. Noch länger? Ich wollte doch nur, dass er wieder nach Hause kommt. Der Arzt sah mich mitfühlend an. „Ist seit dem letzten Samstag irgendetwas passiert?“ fragte er. Natürlich. Sachis Geburtstag. Aber warum zieht er sich noch immer zurück? „Naja…“ setzte ich an. Es war noch immer schwer für mich, diese Worte auszusprechen, aber ich wollte, dass es meinem Vater wieder gut geht. Ich wollte, dass er wieder der Alte wird, also atmete ich tief durch und sprach leise weiter. „Letzten Samstag wäre der Geburtstermin meiner Schwester gewesen…“ Der Arzt sah mich fragend an. Hat mein Vater nie davon gesprochen, als er mit dem Therapeuten geredet hat? „Meine Mutter war schwanger, als sie starb“ wisperte ich, als er noch immer schwieg. Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und legte die Finger aneinander. Eine Weile lang überlegte er. „Das ändert natürlich die Situation.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte ich verwirrt. „Bisher haben wir angenommen, die einzige Person, die er verloren hat, wäre seine Frau gewesen. Er oder Frau Yuki haben nie eine ungeborene Tochter erwähnt. Das ändert den Therapieansatz. Wenn man bedenkt, dass er nur knapp zwei Wochen nach deren Tod wieder auf einer Kinderstation angefangen hat… Das hat vermutlich etwas in ihm ausgelöst. Dazu kommt noch sein Rückzug. Ich kann Sie leider nicht zu Ihrem Vater lassen, ohne dessen Zustimmung. Ich hoffe, Sie verstehen das. Aber ich werde Sie auf dem Laufenden halten, sollte sich sein Zustand bessern. Wir werden ab morgen etwas anderes ausprobieren.“ Zu Hause angekommen, rief ich Jadens Mutter an und erzählte ihr davon, schließlich machte auch sie sich Sorgen. Von Sachi wusste sie scheinbar nichts. Sie war ziemlich geschockt, als ich sie davon in Kenntnis setzte. Zwei Tage darauf, am Samstag, kam der erlösende Anruf vom Krankenhaus. Ich durfte ihn am nächsten Tag besuchen. * Die Sicht von Hakase * Die Stationsschwestern haben mich letztendlich doch überredet, mit meinem Sohn zu sprechen. Ich konnte ihn nicht ewig ausschließen. Würde er mir vergeben können? Ich fühlte mich wie betäubt. Sie hatten meine Medikamente verändert, und ich war wie in einer Schicht aus Watte gefangen. Ich nahm die Worte wahr, die die Ärzte und Schwestern sagten, aber sie drangen nicht zu mir hindurch. Ich sah alles wie durch einen Nebel und bemerkte nicht einmal, wie jemand das Zimmer betrat. Eine vertraute Stimme, eine Berührung auf meinem Arm. Mein verschleierter Blick folgte den Reizen und ich sah meinen Sohn neben mir sitzen. Langsam klarte sich meine Sicht auf und ich hörte seine Worte. „So kann es nicht weitergehen“ sagte er und sah mir entschlossen in die Augen. Er hat sich verändert. Oder bilde ich mir das nur ein? Wann hat sich dieser Ausdruck in seinem Gesicht so verändert? „Du musst endlich darüber reden“ sprach er weiter und fixierte mich noch immer mit diesem Feuer in seinen Augen. Er hatte Recht. Das wusste ich. Aber ich konnte es einfach nicht. Ich hatte eine Mauer um mich herum errichtet, wollte es nicht wahrhaben. Aber ihre Abwesenheit belehrte mich jeden Tag aufs Neue eines Besseren. Er nahm seine Hand von meinem Arm und kramte in seiner Tasche. Dann legte er ein Buch auf meinen Schoß. Meine Augen weiteten sich. Ich rührte mich nicht. Starrte nur das Buch vor mir an. „Willst du wirklich enden, wie er?“ fragte er mich. In seiner Stimme schwang Sorge und Trauer. Noch einmal las ich die Widmung, die ich meiner Liebsten geschrieben habe. Zum ersten Jahrestag an meine geliebte Miako. In ewiger Liebe, dein Hakase. Ich habe es ihr in meinem dritten Jahr an der Universität geschenkt. Wir besuchten nicht dieselben Kurse. Ich habe sie bei einer Feier kennen gelernt. Sie studierte Musik, ich hatte einen Aufbaukurs in Medizin. Wir kamen aus unterschiedlichen Welten, und hatten uns doch gefunden. Ich nahm das Buch in meine Hand und strich über den Einband. Sie war mein Schicksal, da war ich mir sicher. Ich lebte nur für sie. Für unsere kleine Familie. Wann nur, habe ich vergessen, dass auch Yusei dazugehört? Mein nunmehr einziges Kind. Ich sollte doch für ihn da sein, nicht andersherum. Wieder sah ich ihn an. Schuldbewusst. Die Mauer, die ich errichtet hatte, begann zu bröckeln. „Er hatte nach dem Tod von Ophelia niemanden mehr, und wurde wahnsinnig. Aber du hast mich. Naomi macht sich auch Sorgen um dich. Selbst Herr Kazuki hat mich gefragt, wie er dir helfen kann. Du musst nur endlich anfangen, mit jemandem darüber zu sprechen… Selbst, wenn es schwerfällt. Glaub mir, ich weiß wie sehr es weh tut, aber… Ich will dich nicht auch noch verlieren!“ Sein schmerzerfülltes Gesicht brach mir das Herz. „Ich vermisse sie doch auch“ wisperte er. Endlich fand auch ich meine Stimme wieder. „Das weiß ich doch“ flüsterte ich. Ich hatte ihm die Situation unnötig schwerer gemacht, hatte mich in Selbstmitleid gebadet. Ich war kein Vater mehr. Ich hatte ihn ausgeschlossen. Meinen einzigen Sohn. „Es tut mir leid…“ sagte ich leise und verstummte. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich schämte mich. Nach einiger Zeit holte er noch etwas aus seiner Tasche und drückte es in meine Hand, hielt es aber noch verborgen. Es war weich. „Ich habe genauso viel verloren, wie du. Aber wenn du jetzt aufgibst, dann enttäuschst du damit nicht nur mich! Sie sind immer noch bei uns…“ Er nahm seine Hand von meiner. Zum Vorschein kam das kleine, rosa Küken, dass ich für Sachi zur Geburt gekauft hatte. Mein kleines Mädchen, unser Wunder. Ich werde sie nie aufwachsen sehen. Meine Hände klammerten sich daran fest. „Sie sind tot“ sagte er plötzlich und ich zuckte zusammen. „Aber sie sind immer bei uns, das habe ich gelernt. Weißt du, mir hat jemand gesagt, wir wären nicht allein. Und er hat recht. Du hast mich. Und du hast die Erinnerungen an sie. Aber das Leben geht trotz alldem weiter. Wir können sie nicht mehr zurückholen, aber für sie weiterleben, meinst du nicht?“ Wann nur, wurde er so erwachsen? Ich betrachtete das kleine Plüschtier in meiner Hand. Kann ich wirklich damit weiterleben? Will ich ein Leben, ohne sie an meiner Seite? Ich konnte es mir einfach nicht mehr vorstellen. Da öffnete sich wieder die Tür und eine der Krankenschwestern betrat den Raum. „Es tut mir wirklich leid, aber die Besuchszeit für Herr Fudo ist vorbei. Ich muss Sie bitten, sich zu verabschieden.“ Mein Sohn nickte und stand auf. Bevor er jedoch ging, drehte er sich noch einmal zu mir und blickte mir in die Augen. „Bitte, tu es für mich“ sagte er und drehte sich um. Dann verschwand er. * Die Sicht von Yusei * Ich wusste nicht, ob ich meinem Vater mit unserem Gespräch geholfen hatte, oder ob ich alles nur verschlimmerte. Ich lehnte mich ziemlich weit aus dem Fenster, als ich ihm meine Meinung sagte. Aber ich musste es ihm sagen. Ich erzählte Jaden davon, und er bekräftigte mich darin, dass es das Richtige war. Das gab mir Kraft. Das Qualifikationsspiel am Dienstag hatten wir leider verloren. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren, und verpatzte einige Torchancen. Ich entschuldigte mich bei meinem Team, aber sie nahmen es mir nicht übel. Sie sagten, wir hätten ziemlich starke Gegner gehabt, und es wäre nicht die letzte Chance gewesen, um in die Regionals zu kommen. Zwei Spiele hatten wir noch, und ich schwor mir selbst, bei denen mein Bestes zu geben. Den Rest der Woche verbrachte ich nach der Schule häufig mit Jadens Vater und den Vorbereitungen für den Gerichtsprozess. Herr Yuki hatte mit dem Staatsanwalt geredet. Ich würde während des Prozesses neben ihm sitzen müssen, da ich ein Angehöriger des… Opfers war. Aber er versicherte mir, dass er bei mir sein würde. Jaden konnte auf den Bänken Platz nehmen, wo sich schon einige Journalisten angemeldet hatten. Ich sollte mich darauf vorbereiten, dass einige Bilder des Unfalls gezeigt werden würden. Er sagte auch, sollte das passieren, müsste ich nicht hinsehen. Ehrlich gesagt, wüsste ich auch nicht, ob ich das ertragen würde. Ich wusste auch nicht, wie ich auf den Mörder meiner Mutter reagieren würde. In meinen Augen war er ein Monster. Wenn ich nicht bei Jaden zu Hause war, verbrachte ich den Rest der Zeit bei mir, und bereitete die Überraschung vor. Ich freute mich schon darauf, Jadens Gesicht zu sehen. Er platzte fast vor Neugier, was den Inhalt des Umschlags betraf, aber ich ließ ihn zappeln. Wenn ich ehrlich war, machte es ein wenig Spaß, ihn so zu sehen. Aber ich war selbst schon ganz gespannt, wie er reagieren würde. Der Tag der Gerichtsverhandlung rückte näher. Am Samstagabend, nach der Arbeit, schrieb ich Jaden eine Nachricht. Hast du Zeit? Ich würde dir gern etwas zeigen. Kaum zehn Minuten später klingelte es an meiner Tür. Überrascht öffnete ich diese, und sah Jaden vor mir, der ziemlich außer Atem war. „Ich hab… eine Stunde“ sagte er, und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. „Du hättest dich nicht so beeilen müssen. Was hast du denn noch vor?“ fragte ich amüsiert und bat ihn herein. „Naja, ich muss noch packen, und weil wir so früh losfahren, da-“ Als er sich umsah, verstummte er, dann blickte er mir überrascht in die Augen. „Was ist denn hier passiert?“ Ich lächelte. „Ich habe ausgepackt.“ Er war seit der Sache vor zwei Wochen, bei der ich ihm alles erzählte, nicht mehr in meinem Haus. Ich erkannte, dass es sinnlos war, alles was mich an die Zeit vor dem Unfall erinnerte, wegzuschließen. „Crow hat mir geholfen die Möbel aus der Garage zu verrücken, weil er mir wegen der Nachhilfe dankbar war. Er hat auch Jack mit ins Boot geholt. Willst du dich erst noch umsehen?“ Er nickte aufgeregt, und seine kastanienbraunen Augen funkelten. Ich freute mich über seine Reaktion. Im Flur stand jetzt eine Kommode, auf der zwei Familienfotos aufgestellt waren. Das eine zeigte uns drei, als meine Mutter schwanger war, das andere war ein Foto von uns an meinem ersten Schultag. Auch an den Wänden hatte ich Bilder aufgehängt, so, wie sie auch in unserem alten Haus hingen. Jaden grinste, als er sie betrachtete, und auch ich lächelte, als ich ihn dabei beobachtete. Die Garage war jetzt leer, bis auf mein Motorrad und einigen, mit Werkzeug und Kartons gefüllten, Regalen, sowie einer Werkbank, die vorher zugestellt war. Auch die Küche war jetzt wohnlicher gestaltet. In der Vitrine im Wohnzimmer standen einige Andenken von vergangenen Reisen, und ein paar Auszeichnungen meiner Mutter. Auch die Regale waren mit Büchern und Fotoalben gefüllt. „Was ist das denn?“ fragte er und deutete auf ein Gerät, dass auf einer weiteren Kommode stand. Ich lachte. „Kennst du keine Plattenspieler?“ Er verzog das Gesicht. „Doch, aus dem Geschichtsunterricht. Ich wusste nicht, dass es sowas noch gibt.“ „Ja, mein Vater ist ziemlich altmodisch. Er sagt immer, dass nichts an den Klang von Vinyl kommt.“ Jaden stand plötzlich neben mir, und sah sich einige Alben früherer Künstler an. „Beatles, The Rolling Stones, Bob Dylan. Die sagen mir zwar was, aber wer von den Beiden hat sowas eigentlich gehört?“ „Mein Vater. Ich muss aber zugeben, dass sich einiges davon ganz gut anhört. Hier“ sagte ich und zog ein Album mit dem Titel ‚Appetite for Destruction‘ raus, um es ihm zu reichen. Er besah es sich von allen Seiten und sah wieder zu dem Plattenspieler, dann zu mir. „Und… wie macht man das jetzt?“ „Du musst nur die Platte rausholen, auflegen und dann ganz vorsichtig die Nadel darauflegen. Und dann drückst du nur noch auf den Knopf und das Gerät startet.“ Den Teil mit der Nadel bekam er nicht ganz hin, also half ich ihm. Man konnte ihm ansehen, dass er kein sehr großer Fan davon war, aber er sagte, schlecht fände er es nicht. „Aber was davon soll jetzt besser klingen, als eine Musikdatei auf ordentlichen Boxen abzuspielen?“ fragte er mich, als ich alles wieder wegpackte. „Vinyl hat eine ganz andere Klangdynamik. Dadurch, dass das Tonsignal nicht erst in Datenpakete zerhackt wird, sind die Lautstärkeunterschiede größer, damit wird die Musik lebhafter.“ Sein verwirrter Blick brachte mich zum Lachen. Wie erkläre ich es am besten? „Mein Vater hat mal gesagt, ein Plattenspieler ist wie ein Kamin. Den nutzt zwar niemand mehr zum Heizen, aber er verbreitet Behaglichkeit und Atmosphäre.“ „Okay. Naja, ist ganz schick. Aber ich werde wohl kein Fan. Außerdem würden mir diese Platten zu viel Platz wegnehmen.“ Ich grinste in mich hinein und winkte ihn ins Odergeschoss. Als wir die Treppe nach oben gingen, wollte er auch mein Zimmer sehen. Er trat ein, sah sich um und blieb mit seinem Blick an der Pinnwand über meinem Schreibtisch hängen. Dort hingen einige Fotos meiner alten Freunde. „Cool, ihr habt die Regionals gewonnen?“ fragte er erstaunt. Ich nickte. „Ja, vor zwei Jahren. Danach bin ich Teamkapitän geworden. Das ist ein Foto auf der Siegesfeier“ sagte ich und zeigte auf das Bild mit meiner alten Mannschaft. Ich und Kalin hoben den Pokal nach oben. „Und wer ist das?“ fragte er dann und deutete auf ein Foto mit mir und einem Jungen in meinem Alter. Er war etwas größer und hatte silbergraue Haare, die er offen trug und ihm bis zum Schüsselbein reichten. „Das ist Kalin“ sagte ich. „Er war mein bester Freund in Osaka. Im Moment haben wir nicht sehr viel Kontakt, aber er will sich morgen mit mir treffen. Wenn du Lust hast-“ Ich verstummte, als ich sein Grinsen sah. Das war wohl ein Ja. „Du musst mir eine kleine Stadtführung geben!“ sagte er begeistert. Damit hatte ich wohl keine große Wahl und lächelte ihn an. „Klar, aber ich werde wohl kurz mit ihm allein sprechen müssen. Ich hoffe, das ist okay für dich.“ Er nickte und betrachtete eine Zeit lang wieder die Pinnwand. Ich sah ihn dabei an, betrachtete seine Gesichtszüge. Doch dann riss er mich wieder aus meiner Träumerei. „Wer ist das Mädchen dort?“ Ich folgte seinem Blick und sah ein Foto, das mich und ein etwa gleichaltriges Mädchen zeigte. Zu diesem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt. Sie hatte lange, blonde Haare und einen Pony. Dazu smaragdgrüne Augen und sie trug, so wie ich, die Schuluniform meiner alten Schule. „Sherry“ sagte ich. „Auf dem Foto waren wir gerade ein paar Wochen zusammen.“ „Was?“ fragte er überrascht und sah mich an. „Ähm. Ja, ich war etwas länger als zwei Jahre mit ihr in einer Beziehung, warum?“ fragte ich verwirrt. Ich konnte es mir nicht erklären, aber er wirkte irgendwie enttäuscht. „Nicht so wichtig“ sagte er, doch sein Blick war unergründlich. „War es das, was du mir zeigen wolltest? Also die Einrichtung mein ich.“ „Nein, das nicht. Komm, ich zeig’s dir.“ Ich drehte mich um und ging aus dem Zimmer, dabei bedeutete ich Jaden mir zu folgen. Wir gingen nur einen Raum weiter. Ich war etwas nervös und öffnete die Tür, dann trat ich beiseite. Als Jaden den Raum betrat, wurden seine Augen größer. Ich lächelte. Sein Anblick nahm mir die Nervosität. „Wow“ sagte er leise. „Was hast du denn aus dem Zimmer hier gemacht?“ Noch immer mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sah ich mich um. Unser Klavier stand jetzt an der gegenüberliegenden Wand. Vorher war es mit einem Laken abgedeckt. Mein Vater hatte es einfach in diesem Raum verstaut und wir haben das Zimmer nie wieder betreten. Vor dem dunkelbraunen Klavier stand eine kleine Bank. Links und rechts waren Regale mit etlichen Büchern. Sie gehörten alle meiner Mutter. An der rechten Wand standen ein kleines Schreibpult und ein Stuhl. Die Wände waren voll mit Auszeichnungen. An der Linken waren Fenster, die das warme Licht der Abendsonne in den Raum warfen. Ich ging zum Schreibpult und antwortete währenddessen. „So ähnlich sah es bei uns zu Hause in Osaka aus. Das war das Arbeitszimmer meiner Mutter. Dorthin zog sie sich zurück, wenn sie übte, oder wenn sie neue Stücke komponierte.“ Ich nahm mir ein handgebundenes Heft vom Tisch und hielt es fest. Dann drehte ich mich wieder zu Jaden und mein Lächeln intensivierte sich. „Heute nutze ich es.“ Überrascht musterte er mich. „Heißt das...“ Ich nickte und überreichte ihm das Heft. „Das… war das letzte Geschenk meiner Mutter.“ Wieder wurden seine Augen größer. Er nahm es an sich und blätterte darin herum. Zum Vorschein kamen handgeschriebene Notenblätter, fein säuberlich zusammengeheftet, in einer filigranen Schrift. Während er vor sich hinblätterte, erklärte ich weiter. „Deswegen war ich vor einiger Zeit auch bei Sensei Fontaine. Sie bot mir in meiner ersten Woche ihre Hilfe an, sollte ich wieder Klavier spielen wollen. Sie kannte meine Mutter und mich schon von früher, ich habe mich nur nicht an sie erinnert. Dieses Instrument ist wahnsinnig schwer zu stimmen, also war sie hier, und hat mir den Gefallen getan.“ Er lachte. „Verstehe. Aber hier…“ er hob das Heft etwas an „Kapiere ich rein gar nichts. Spielst du es mir vor?“ Ich nickte, nahm ihm das Heft ab, und setzte mich auf die kleine Bank. Jaden nahm neben mir Platz. Ich öffnete es und legte es auf der dafür vorgesehenen Ablage ab. „Weißt du, es sind einige neue Stücke für das nächste Konzert darin, aber eines kannte ich schon sehr lang…“ Meine Wangen wurden ganz warm. „Sie wollte unser Lied in das nächste Konzert aufnehmen. Darum habe ich sie schon oft gebeten, aber sie wollte es nie in meiner Abwesenheit spielen. Dabei hat sie mir selbst einmal gesagt ‚Wenn du es spielst, bin ich bei dir‘. Und genau das habe ich eine Weile vergessen. Durch die Musik ist sie bei mir. Selbst jetzt.“ Ich spürte Jadens Blick auf mir ruhen, aber ich wollte ihm jetzt nicht in die Augen sehen. Ich wusste nicht, wie ich reagieren würde. Also klappte ich den Deckel nach oben, um die Klaviertasten freizulegen und schloss meine Augen. Ich spielte die ersten Noten, und es war, als hätte ich nie aufgehört. Wie von selbst wanderten meine Finger über die Tasten und spielten diese warme Melodie. In diesem Lied steckte immer noch so viel Liebe. Für dieses Lied, unser Lied, brauchte ich keine Notenblätter. Ich spielte es seit 13 Jahren und liebte es damals, wie heute. Als der letzte Ton durch den Raum hallte, war ich erfüllt von einem Gefühl der Geborgenheit und öffnete meine Augen. „Das…“ flüsterte Jaden. Ich sah ihn an, und entdeckte überraschenderweise Tränen in seinen Augen. Er lächelte plötzlich, und der Ausdruck in seinem Gesicht war warm und herzlich. „Das war wirklich schön.“ Die Hitze schoss mir abermals ins Gesicht und ich wandte den Blick ab, lächelte aber ebenfalls. „Danke“ sagte ich und sah wieder zu dem Heft. Mein Herz schlug in einem wilden Tempo gegen meine Rippen. „Willst du... eines ihrer neuen Lieder hören? Ich habe angefangen, sie zu üben“ fragte ich und musterte ihn wieder. Er grinste. „Na klar!“ Ein Lächeln stahl sich erneut auf meine Lippen und ich begann zu spielen. Die Melodie war sanft wie ein Sommerregen, im nächsten Moment aber kraftvoll wie ein Sturm. Sie beflügelte die Seele und erdete den Geist. Ich legte all meine Gefühle in dieses Lied, und die Melodie riss mich mit sich. Ich spürte Jadens Kopf an meiner Schulter und mein Herz machte wieder einen Satz. Ich war verliebt, das konnte ich nicht länger abstreiten. Diese Erkenntnis erfüllte mich schlagartig mit Glück und Melancholie zugleich. Ich war verliebt, und er würde meine Gefühle vermutlich nie erwidern. Die letzten, sanften Klänge erfüllten den Raum und meine Hände verharrten in ihrer Position, lagen hauchzart auf den Tasten des Instruments. Eine kleine Ewigkeit saßen wir nur da, und die einzigen Geräusche, die ich hörte, waren mein Atem und mein schnell pochendes Herz. Jaden nahm seinen Kopf wieder von meiner Schulter und lächelte glücklich. Auch ich erwiderte es und betrachtete diese warmen, endlos tiefen Augen meines Gegenübers. Sie zogen mich in ihren Bann. Ich bemerkte nicht, dass ich mich näher zu ihm beugte. Langsam kam auch er mir näher und schloss seine Augen. Unsere Gesichter waren sich ganz nah. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren, ehe ich es begreifen konnte. Mein Herz schlug schneller als je zuvor. Seine Lippen nur wenige Zentimeter von meinen entfernt. Ein Kribbeln durchzog meinen gesamten Körper, die Luft schien wie elektrisiert. Auch ich schloss langsam meine Augen… * Die Sicht von Jaden * Wir standen in seinem Zimmer und ich betrachtete die vielen Fotos aus seiner früheren Heimatstadt. Es war, als würde ich die für ihn wichtigsten Augenblicke in seinem Leben vor mir sehen. Mein Blick verharrte sehr lange auf einer wirklich schönen, blonden, jungen Frau, die neben ihm stand. Sie hielt seine Hand und sah glücklich aus. Yusei war auf dem Bild noch jünger als heute. Auch er wirkte zufrieden. „Wer ist das Mädchen dort?“ fragte ich ihn. Als er mir sagte, das wäre seine Ex-Freundin, war ich ziemlich überrascht. Warum eigentlich? Sie war wahnsinnig hübsch, hatte einen tollen Körper und schien auf dem Foto ein wirklich fröhliches Gemüt zu haben. Yusei sah selbst verdammt gut aus, hatte einen trainierten Körper, war klug, freundlich, hilfsbereit. Er könnte vermutlich jede Frau haben. Warum wurmt mich das so sehr? Er war ein Mann, so wie ich. Es würde an ein Wunder grenzen, würde er ebenso für mich fühlen. Ich gab mich mit der Gewissheit zufrieden, dass er mein Freund war, mein bester Freund. Als wir in den nächsten Raum gingen, weiteten sich meine Augen. Als ich das letzte Mal hier drin war, war er fast leer. „Wow“ murmelte ich. „Was hast du denn aus dem Zimmer hier gemacht?“ Jetzt war alles liebevoll eingerichtet worden. Die Atmosphäre hier drin war unheimlich schön. Der Blickfang des Raumes war das dunkelbraune Klavier. Es gehörte seiner Mutter. Als er mir aber sagte, dass er es jetzt nutzen würde, schaute ich ihn vollkommen überrascht an. Er wirkte wahnsinnig glücklich. „Heißt das...“ Er spielt wieder? Als hätte er meinen Gedanken gehört, nickte er, und überreichte mir ein gebundenes Heft. „Das… war das letzte Geschenk meiner Mutter.“ Meine Augen wurden wieder größer. Das war also in diesem Umschlag. Das hatte seine Mutter ihm vor ihrem Tod unbedingt geben wollen. Zögerlich nahm ich es an mich und schlug es auf. Ich hatte Angst, etwas zu beschädigen. Am Rand der Seiten standen hier und da einige Notizen. Die Noten selbst kapierte ich nicht. Ich konnte zwar Noten lesen, zumindest teilweise, aber hier waren zum Teil mehrere Noten übereinandergeschrieben und scheinbar wahllos irgendwelche Striche und Zeichen eingebaut. Doch meine Augen blieben an einem Wort hängen, während Yusei etwas davon erzählte, dass Sensei Fontaine ihm geholfen hatte. Hier war eine Überschrift über einem der Notenblätter. Es war Yuseis Name. Ob das das Lied seiner Mutter ist? Das, was sie ihm als Kind geschrieben hat? Ich lachte. „Verstehe. Aber hier…“ Ich hob das Heft etwas an und deutete auf die Noten. „Kapiere ich rein gar nichts. Spielst du es mir vor?“ Er nickte, und nahm das Heft wieder an sich. Dann ging er zu der kleinen Bank vor dem Klavier und setzte sich. Ich folgte ihm, und beobachtete, wie er das Heft auf eine Art Ablage stellte. „Weißt du, es sind einige neue Stücke für das nächste Konzert darin, aber eines kannte ich schon sehr lang…“ Auf seine Wangen legte sich wieder dieser rote Schimmer. „Sie wollte unser Lied in das nächste Konzert aufnehmen. Darum habe ich sie schon oft gebeten, aber sie wollte es nie in meiner Abwesenheit spielen. Dabei hat sie mir selbst einmal gesagt ‚Wenn du es spielst, bin ich bei dir‘. Und genau das habe ich eine Weile vergessen. Durch die Musik ist sie bei mir. Selbst jetzt.“ Seine Augen waren weiter auf das Heft vor ihm gerichtet, aber er schien es nicht zu sehen. Er war in seinen Erinnerungen. Ich lächelte. Hat er gelernt, damit abzuschließen? Zumindest war es ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt kann ich das Lied ja doch noch hören. Er öffnete eine Klappe, und zum Vorschein kamen die Tasten des Klaviers. Er schloss seine Augen, und spielte. Es war so ganz anders, als die Musik nur auf seinem Fernseher zu hören. Ich saß neben ihm und spürte die Vibration jedes einzelnen Tons in meinem gesamten Körper. Auf meiner Haut breitete sich eine Gänsehaut aus. Die Melodie begann sehr traurig, wurde dann aber heiterer. Es war wirklich, als wären alle Sorgen nur für diesen einen Moment weggewischt. Yusei wirkte wie in Trance, als ich ihn beobachtete. Seine Finger flogen über die Tasten des Instruments, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Es war unglaublich. In diesem Moment war er wie ein anderer Mensch. Gelassen, friedlich… Über alle Maße glücklich. Dass das so etwas in ihm auslösen konnte, rührte mich. Ich bemerkte kaum, dass die Musik endete, und auch meine tränenverschleierten Augen ignorierte ich. Dieser selige Ausdruck in seinem Gesicht. Wie gern sah ich ihn so glücklich. Wie gern würde ich ihn so glücklich machen, wenn er es nicht war. „Das…“ flüsterte ich. „Das war wirklich schön.“ Er sah mich an, mit diesen tiefblauen Augen, und musterte mich. Ich konnte nicht anders als zu lächeln. Er wurde rot, und wich meinem Blick aus, aber auch er schenkte mir sein schönes Lächeln. „Danke“ sagte er. „Willst du... eines ihrer neuen Lieder hören? Ich habe angefangen, sie zu üben.“ Ich brauchte nicht lange nach einer Antwort zu suchen und grinste. „Na klar!“ Wieder stahl sich dieser schöne Ausdruck in sein Gesicht und er fing erneut an zu spielen. Dieses Lied war anders. Es war beruhigend und trotzdem kraftvoll. Es war wunderschön. Ich lehnte mich an seine Schulter und genoss den Augenblick. Ich wollte, dass er nie vorüberging. Da waren nur er und ich. Und die Musik, die ihn so glücklich machte. Nichts liebte ich in der letzten Zeit mehr, als ihn glücklich zu sehen. Es bescherte mir ein wohliges Gefühl. Mein Herz schlug schneller, wenn ich daran dachte. An ihn dachte. Ob er auch so empfand? Ob ich ihn auch so glücklich machen konnte? Aber wie sollte ich das schon schaffen… Als das Lied endete, saßen wir noch eine Weile in der Stille des Moments. Ich hörte sein Herz schlagen, und es schlug im selben, aufgeregten Tempo, wie mein eigenes. Ich lächelte. Ich wünschte nur, ich könnte in ihm dieses Herzklopfen verursachen, wie die Musik, die er so liebte. Ich nahm meinen Kopf von seiner Schulter und betrachtete ihn. Diese endlos tiefen, blauen Augen. Sie funkelten mir entgegen. Wie kann eine so kalte Farbe nur so eine Wärme ausstrahlen? Er fesselte mich mit seinem Blick, und kam mir immer näher. Mein Herz schlug schneller. So schnell, dass ich dachte es würde zerplatzen. Ich schaltete meinen Verstand aus, und gab mich ganz dem Moment hin. Langsam senkten sich meine Lider und auch ich kam ihm näher. In mir breitete sich eine wohlige Wärme aus. Er war meinem Gesicht so nah, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Es bescherte mir eine Gänsehaut. Ich konnte schon die Wärme seiner Haut spüren, obwohl ich sie noch nicht berührte, und dann… … durchschnitt ein lautes Geräusch die Stille. Ich erschreckte mich fast zu Tode und sprang auf. Auch Yusei stand schnell auf und war nun einige Schritte von mir entfernt. Mein Gesicht fühlte sich an, als wäre es feuerrot. Ich sah mich um. Was zur Hölle war das für ein Geräusch? Es hörte auch nicht auf. Dann endlich begriff ich es. Es war mein Handy. Schnell zog ich es aus meiner Hosentasche und nahm ab. „Äh… Hallo?“ sagte ich und ging ein paar Schritte zur Tür. „Jaden? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Ich sagte in einer Stunde… Wo bist du denn?“ sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Was? Ich sah auf das Display meines Telefons. Meine Mutter. Und ich war tatsächlich schon fast 30 Minuten drüber. Ach verdammt. „Entschuldige, ich mach mich gleich auf den Weg“ sagte ich und legte auf. Ich seufzte, dann fiel mir wieder ein, was ich beinahe getan hätte und mein Gesicht fing erneut Feuer. „Ich. Äh. Also, das war meine Mutter“ stammelte ich. War meine Stimme schon immer so hoch? „I-Ich sollte. Naja. Wir sehen uns morgen, ja?“ Yusei nickte, stand aber mit dem Rücken zu mir. Ich war ehrlich gesagt froh darüber, denn so konnte er mein Gesicht nicht sehen. Diese Situation war mehr als seltsam… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)