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Dein rettendes Lachen

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Lieder, die darin vorkommen:
‚Revolutionary Etude‘ von Chopin
Zum Lied: https://www.youtube.com/watch?v=g1uLrHq9TDg Komplett anzeigen

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Missverständnis

Es war schon wieder Montag. Ich saß mit meinen Eltern und Alexis am Frühstückstisch und meine Familie unterhielt sich angeregt über den nächsten Sonntag, an dem wir meine Großeltern besuchen wollten. Ich warf ab und an etwas ein, aber meine Gedanken kreisten noch immer um die letzten beiden Tage.
 

Das war ein ziemlich aufregendes Wochenende. Erst erzählte mir Yusei alles über seine Vergangenheit, und dann hielt ich ihn stundenlang im Arm. Es schien mir wie eine kleine Ewigkeit, und doch nur wie ein kurzer Moment. Ich konnte es einfach nicht erklären. Es war ein schönes Gefühl ihn einfach an meiner Seite zu haben und ich freute mich, dass er seine Gefühle zugelassen hatte. Am Sonntag hatte ich ihn beiläufig gefragt, ob er sein Versprechen schon eingehalten hätte. Seine Antwort hatte mich wirklich überrascht. Ich sah noch einmal auf mein Handy und öffnete seine Nachricht.
 

Du hattest recht was den Inhalt betrifft. Aber ich will dir die Überraschung nicht verderben. Hab Geduld.
 

Ich und Geduld? Sehr witzig! Ich platzte fast vor Neugier, und er wollte mir partout nichts sagen. Er schien sich darüber wirklich zu amüsieren. Draußen schüttete es immer noch wie aus Eimern. Da fiel mir etwas ein. Wie kommt er heute überhaupt in die Schule? Mit dem Motorrad kann er ja schlecht fahren. Beim letzten Mal wurde er dadurch krank. Die Stimme meiner Mutter zog mich wieder in die Realität. „So, wir sollten losfahren. Es ist zwar noch ein wenig früh für euch, aber sonst komme ich noch zu spät zur Arbeit.“

„Warum kannst du uns nicht fahren, Papa?“ fragte Alexis.

Er seufzte. „Seit gestern hat das Auto ein paar Macken. Ich arbeite heute von zu Hause aus.“

Diese Antwort musste sie wohl oder übel akzeptieren und so stiegen wir ins Auto. Ich schrieb Yusei noch schnell, wie er denn heute zur Schule kommen wollte. Seine Antwort kam nur einen Augenblick später.
 

Mit dem Bus. Ich stehe schon an der Haltestelle.
 

Ich erinnerte mich an meine Zeit in der Unterstufe. Da waren Alexis und ich auch auf den Bus angewiesen, und der kam sehr unzuverlässig. Deswegen legten unsere Eltern ihre Schichten an solchen Tagen immer so, dass sie uns fahren konnten. Wenn wir nicht gerade Hausarrest hatten, oder solches Wetter war, fuhren wir sonst immer mit dem Fahrrad zur Schule. Unser Schulweg führte geradewegs an der Bushaltestelle vorbei, also sollten wir ihn sehen.

Und da stand er. In seiner Schuluniform, während er gedankenverloren auf seinem Handy tippte. In seiner Hand hatte er einen dunkelblauen Schirm und er trug In-Ear-Kopfhörer. „Hey, da ist Yusei“ sagte ich gespielt überrascht.

„Hm? Tatsächlich“ sagte meine Mutter und hielt am Straßenrand neben ihm, während sie die Scheibe der Beifahrertür runterfuhr. Er zog sich eine Seite der Kopfhörer heraus und blickte unser Auto überrascht an. „Können wir dich mitnehmen?“ fragte meine Mutter mit einem Lächeln. Etwas verwirrt stieg er ein. Alexis und ich begrüßten ihn vom Rücksitz und er drehte sich kurz um und schenkte uns sein schönes Lächeln. Dann drehte er sich zu meiner Mutter.

„Danke, der Bus hatte schon ein paar Minuten Verspätung, ich dachte ich hätte ihn vielleicht verpasst.“

Sie lachte. „Nein, diese Linie ist immer so unzuverlässig. Mit dem Bus zu fahren ist ein bisschen wie Roulette spielen. Manchmal kommt er, manchmal nicht. Wenn du willst, können wir dich bei solchem Wetter immer mitnehmen, es liegt sowieso auf dem Weg.“

„Das wäre wirklich sehr nett, danke“ sagte er kleinlaut. Meine Mutter nickte.

„Hey, was hörst du da eigentlich?“ fragte Alexis neben mir.

Er drehte sich zu ihr um. „Ich weiß nicht, ob du das kennst. ‚Revolutionary Etude‘ von Chopin.“

Sie schüttelte den Kopf und er überreichte ihr seine Kopfhörer, die noch immer mit seinem Handy verbunden waren. Ein Lächeln zierte ihre Lippen. „Hörst du eigentlich nur solche Musik?“

Jetzt war ich auch neugierig und nahm ihr eine Seite des Kopfhörers ab, während Yusei ihr eine Antwort gab. „Nein, natürlich nicht. Aber manchmal habe ich eben Lust auf Klassiker.“ Es war ein recht schnelles Klavierstück. Natürlich. Auch ich fing an zu grinsen. Ich konnte mir mittlerweile gar keine andere Musik vorstellen, die er hörte. Es passte zu ihm.

Als wir ankamen und ins Schulgebäude gingen, funkelte ich Yusei neugierig an. „Und?“

Er schüttelte nur den Kopf und lächelte. „Geduld.“ Der Kerl macht mich fertig.

„Sag mal, Yusei? Warum wolltest du eigentlich so früh in die Schule?“ fragte meine Schwester.

„Ich muss noch mit Direktor Crowler reden, und danach wollte ich Sensei Fontaine noch etwas fragen. Also, bis später!“ Mit diesen Worten lief er rasch die Treppe nach oben und verschwand.

„Eigenartig“ sagte sie und sah mich an. „Weißt du, was los ist?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Mir hat er auch nichts gesagt.“

Ganz so stimmte das nicht. Ich hatte keine Ahnung, was er bei Sensei Fontaine wollte. Anscheinend noch so ein Geheimnis, bei dem ich mich gedulden musste! Aber mit Crowler wollte er vermutlich wegen der Sache mit der Gerichtsverhandlung reden. Da fällt mir ein, dass ich noch gar nicht mit meinen Eltern darüber gesprochen habe. Ob Yusei dabei sein sollte, wenn ich sie frage? Meine Mutter hat ohnehin einen Narren an ihm gefressen. Aber ich will nicht, dass er das Ganze noch mal erklären muss. Er war ja schon beim letzten Mal komplett fertig. Wie viel wusste meine Mutter eigentlich? Ob Yuseis Vater ihr schon alles erzählt hat? Oder zumindest einen Teil? Ganz unwissend war sie ja scheinbar nicht. Ach, keine Ahnung. Vielleicht sollte ich erstmal das in Erfahrung bringen.

Den Rest der Zeit, bis zum Stundenklingeln, schlugen Alexis und ich in der Bibliothek tot. In der dritten Stunde hatten wir Mathe. Mathe an einem Montag! Und außerdem bekamen wir die Klausuren der letzten Woche wieder. Ich hatte eher gemischte Gefühle. Als Sensei Flannigan bei mir ankam, lächelte sie. Warum? „Glückwunsch, Yuki-kun! Anscheinend hast du wirklich gelernt. Du hast fast die volle Punktzahl erreicht.“ Dann ging sie weiter. Meine Mitschüler starrten mich mit offenen Mündern an, und ich war ehrlich gesagt genauso geschockt wie sie aussahen. Das gibt’s nicht! Ich kann mich nicht erinnern, dass ich in Mathe je eine Eins gehabt hätte!

Jim saß auf dem Platz neben mir und lehnte sich zu mir rüber. „Hast du die Lösungen geklaut, oder bist du Jadens intelligenterer Zwilling?“ fragte er amüsiert.

„Sehr witzig!“ murmelte ich und warf ihm einen beleidigten Blick zu. „Ich hab mit Yusei gelernt, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich den Quatsch echt im Kopf behalte!“

„Was auch immer er gemacht hat, Glückwunsch. Vielleicht wirst du ja doch noch zum Streber!“ Er hielt sich die Hand vor den Mund, und versuchte angestrengt ein Lachen zu unterdrücken. Man konnte schon eine Träne in seinem Augenwinkel erkennen. Idiot.

In der Mittagspause rannte ich schnell in das Klassenzimmer der 3C und legte Yusei mit etwas zu viel Schwung meinen Test auf seinen Tisch, sodass es einen Knall gab. Er sah erst kurz auf den Zettel, dann wanderten seine blauen Augen wieder zu mir. Er sah ziemlich verwirrt aus. „Was ist das?“ fragte er.

Ich grinste über beide Ohren. „Das ist dein Werk!“ Er verstand noch immer nicht, worauf ich hinauswollte. Alexis stellte sich hinter ihn und betrachtete über seine Schulter den Test. Dann sah sie mich ungläubig an. „DU hast eine Eins im Mathe-Test?“

„WAS?“ Crow krallte sich den Zettel und starrte auf die Note. Als er sich sicher war, dass das real war, schlug er mir anerkennend gegen die Schulter. „Nich schlecht, Alter! Es geschehen doch noch Wunder! Seit wann verstehst du den Blödsinn eigentlich? Ich hab das bis heute nicht gerafft. Hoffe nur, das kommt nicht in der Abschlussprüfung dran!“

„Yusei hat mir geholfen“ sagte ich nur und strahlte diesen an. „Ich wollte mich bei dir bedanken!“

Er wurde ein wenig rot. „Keine Ursache.“

„Kannst du mir das zufällig auch erklären?“ Yusei blinzelte Crow verwirrt an. Gut, das war jetzt auch eher untypisch für meinen orangehaarigen Freund. Normalerweise hatte er an Mathe genauso wenig Interesse wie ich. Er hoffte einfach, es würde in der Prüfung nicht drankommen, wenn er was nicht verstand. „Naja…“ versuchte er sich zu erklären. „Wenn selbst Jaden das kapiert hat, kannst du das ja ganz gut.“ Wieder ein beleidigter Blick meinerseits. Ich verschränkte die Arme. Für wie dämlich halten die mich eigentlich alle?

„Sicher“ sagte Yusei. „Wir können nach dem Unterricht in die Bibliothek gehen. Das Training muss ja ohnehin ausfallen.“

„WAS?“ platzte es aus mir heraus. Ich sah ihn ungläubig an.

Er nickte. „Ja, bei dem Regen können wir nicht auf den Platz, und in der Halle sind montags um diese Zeit anscheinend der Handball- und der Hockey-Klub. Ich habe schon mit Sensei Ushio geredet.“

Na ganz toll. Meine gute Laune sank. Ich hätte zwar sowieso nicht mitspielen können, aber ich hätte gern zugesehen. Ich konnte es immer noch nicht glauben, welche Fortschritte meine Mannschaft gemacht hatte. Und das alles wegen unseres schwarzhaarigen Neuankömmlings. Jetzt, wo ich so darüber nachdenke… Es hat sich durch ihn wirklich viel verändert. Nicht nur, dass wir durch ihn endlich eine reelle Chance auf die Regionalmeisterschaft hatten. Auch mein Leben hatte sich verändert. Mal ganz abgesehen von diesem Wunder, dass ich mal gut in einem Test in Mathe abgeschnitten hatte. Er ist in gewisser Hinsicht mein bester Freund geworden. Ich fühlte mich so wohl in seiner Nähe. Meine Gedanken kreisten ständig um ihn. Er vertraute mir sogar mehr als den anderen. Sein Schicksal hatte mich ziemlich getroffen, aber es schien ihm wirklich besser zu gehen. Seine ganze Körpersprache hatte sich verändert. Er wirkte offener als vorher. Seltsam. Normalerweise fiel mir sowas eigentlich nicht auf.

„Jaden?“ sagte eine schöne Stimme.

„Hm?“ Ich landete wieder in der Realität. Wer hat mich denn eben angesprochen? Oh nein. Ich hatte es gar nicht mitbekommen, aber ich starrte Yusei anscheinend die ganze Zeit an.

„Ich habe gesagt, ihr könnt das Training auf morgen verschieben, da ist eine halbe Halle frei. Ich muss aber leider arbeiten.“ Ach so. Er hat mich angesprochen. Mir ist nie aufgefallen, dass seine Stimme so schön klingt. Ich muss mich endlich zusammenreißen!

„Sicher! Dann verschieben wir es auf morgen. Ich kann zwar nicht trainieren, aber dann übernehme ich wieder deinen Part“ sagte ich grinsend.

„Na da ist das ja geklärt“ meldete sich Jack zu Wort. „Habt ihr eigentlich das Spiel gestern verfolgt?“ Damit war Alexis raus und wendete sich desinteressiert ab, um zu ihren Freundinnen zu gehen. Auch Yusei stand plötzlich auf.

„Hey, wo willst du denn hin?“ fragte ich verwundert.

„Ich muss noch schnell was erledigen, ich bin gleich wieder da“ antwortete er und ging zur Tür hinaus. Was er wohl wieder vor hat?
 

* Die Sicht von Yusei *
 

Ich hätte mich zwar gerne an dem Gespräch beteiligt, aber ich musste vorher noch etwas mit Carly klären. Ich hätte sie nicht so harsch behandeln dürfen. Jedes Mal, wenn sie mich seitdem sah, mied sie meinen Blick. Sie schämte sich vermutlich immer noch. Vielleicht hat sie jetzt Angst vor mir? Bitte nicht. Ich wollte das einfach nur aus der Welt schaffen. Ich musste auf dem Weg zum Klassenzimmer der 2A kurz nach dem Weg fragen, aber schließlich kam ich an dem Zimmer an.

Als ich in der Tür stand, wuselten die Schüler vollkommen durcheinander in dem Raum herum. Ein paar Jungs versuchten gerade krampfhaft, ihre Papierflieger im Mülleimer zu versenken, an zwei Tischen wurde ein Kartenspiel gespielt. In einer Ecke standen ein paar Mädchen und kicherten aufgeregt durcheinander. Und immer wieder flog Papier durch die Luft. In Form von Fliegern oder zusammengeknüllt. Aber Carly sah ich nicht.

„Hey, Yusei!“

Ich drehte mich um, und sah in bernsteinfarbene Augen, die mich erfreut anstrahlten. „Hallo Aki“ antwortete ich mit einem Lächeln.

„Was verschlägt dich denn hier her?“ Warum nur sah sie so erwartungsvoll aus?

„Ich wollte kurz mit Carly reden, weißt du wo sie ist?“

Die freudige Erwartung wich der Enttäuschung. „Die ist in der Bibliothek und sucht irgendein Buch für ein Referat.“

„Verstehe, danke.“ Ich wandte mich gerade ab zum Gehen, als-

„Warte!“

„Hm?“

„Ich hab noch was für dich!“ Sie huschte schnell ins Zimmer und kam einen Moment später wieder zu mir zurück. Fröhlich, doch auch etwas verlegen, hielt sie mir einen Brief hin. Auf diesem stand in einer wirklich schönen Handschrift mein Name, und eine kleine Schleife war darumgebunden. Sie hatte sich offensichtlich sehr viel Mühe damit gegeben. Ist das etwa? „Nimm schon!“ drängte sie mich mit ihrem schönsten Lächeln und ich konnte ihr nicht widersprechen. Ich nahm ihn an mich, bedankte mich für ihre Hilfe und den Brief, und ging in die Bibliothek. Den Brief steckte ich mir in die Innentasche meiner Jacke. Ich würde ihn später lesen.

An meinem Ziel angekommen, musste ich ein paar Regalreihen absuchen, ehe ich sie fand. Sie versuchte gerade an ein Buch in der oberen Reihe ranzukommen, doch es fehlten einige Zentimeter. „Warte, ich helfe dir“ sagte ich. Sie zuckte zusammen, als sie meine Stimme hörte, und wich einen Schritt zurück. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen, als ich ihre Reaktion sah, und holte das Buch aus dem oberen Fach. „Hier, bitte schön“ sagte ich und reichte es ihr.

Sie nahm es zögerlich an sich. „D-Danke.“

Ich seufzte. Fühlte sie sich wegen mir wirklich so schlecht? „Hör zu, wegen neulich…“

„Es tut mir leid!“ Erstaunt sah ich sie an. Sie hatte das Buch an ihre Brust gepresst und sah mich aus schuldbewussten Augen an. Warum?

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich wollte mich entschuldigen. Ich hätte dich nicht so kalt behandeln dürfen. Normalerweise bin ich gar nicht so drauf. Es war nur…“ Ich suchte nach den richtigen Worten, doch sie kam mir zuvor.

„Ein sensibles Thema.“ Ich nickte und sie fuhr fort. „Es tut mir so leid, wirklich. Ich hätte nicht so neugierig sein sollen. Du hattest jedes Recht dazu, sauer auf mich zu sein. Ich schwöre, ich habe es niemandem erzählt! Wirklich nicht!“ Eine Träne kullerte ihre Wange hinab. Oh nein, bitte nicht weinen! Ich bin so schlecht in solchen Dingen!

„Schon gut!“ sagte ich schnell und etwas verzweifelt. Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. „Ich bin nicht mehr sauer. Das war nur eine Kurzschlussreaktion. Bitte nicht weinen!“ Doch es war schon zu spät. Sie schniefte und es fanden immer mehr Tränen den Weg zu ihrem Kinn. Verdammt, was mache ich denn jetzt?!

Plötzlich kam sie auf mich zu und umarmte mich. Immer wieder wimmerte sie: „Es tut mir so leid.“

Ich tätschelte ihren Kopf, um sie zu beruhigen, aber ich war mit der Situation wirklich überfordert. Keine Ahnung, womit ich gerechnet hatte. Damit jedenfalls nicht! „Hey, zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Es ist okay, wirklich. Hör bitte auf zu weinen.“

„Ich… Ich hab den Artikel gelesen. Auch das Datum. Ich. Ich. Ich weiß, was passiert ist! Es tut mir so leid!“ Moment. Weinte sie etwa wegen des Unfalls? Nicht, weil ich so harsch zu ihr war? Unbewusst fiel mir ein Stein vom Herzen.

Ich strich ihr weiter durch ihr Haar, versuchte sie zu beruhigen, aber es gelang mir nicht allzu gut. „Schon gut“ murmelte ich immer wieder. Langsam wurde sie wieder ruhiger.

„Was zum Teufel?“

Carly löste sich schnell von mir und auch ich fuhr zu der erschrockenen Stimme herum. Jack. Natürlich. Was für ein Timing. Wie soll ich das denn am besten erklären? Ungewöhnlich ruhig sprach er weiter, doch in jedem seiner Worte lag blanker Zorn. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Langsam kam er auf uns zu. „Ich wollte nur zu Carly um sie etwas zu fragen, und wurde von Aki in die Bibliothek geschickt. Und was sehe ich?!“ Er packte mich am Kragen und zog mich näher an sich, doch ich wusste, meine Worte würden ihn nur noch mehr in Rage versetzen. Ich hielt seinem Blick stand. Irgendwie muss ich diese verfahrene Situation doch deeskalieren können.

„Jack!“ flehte Carly, doch er nahm sie gar nicht wahr.

„Rede“ knurrte er wieder in dieser ruhigen, doch bedrohlichen Tonlage.

Es bringt nichts, er wird sich jetzt nicht beruhigen lassen. Ich musste Zeit schinden, damit er etwas runterkommen konnte. „Willst du das wirklich hier klären?“ fragte ich deshalb. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er schien zu überlegen. Dann schubste er mich von sich weg, und ich musste zwei Schritte nach hinten gehen, um mein Gleichgewicht zu halten. Immer noch war mein Blick auf diese kalten, violetten Augen gerichtet.

„Na schön“ sagte er. „Nach dem Unterricht. Hinter der Sporthalle. Und wehe, du kneifst.“

„Werde ich nicht“ sagte ich bestimmt. Jack bedachte seine Freundin noch mit einem Blick und sie nickte verstehend. Dann verschwand er um die Ecke.

Carly drehte sich zu mir. „Entschuldige, er kann manchmal wirklich ein Idiot sein. Aber lass dich nicht auf eine Prügelei mit ihm ein! Er ist wirklich stark!“

Ich schmunzelte. „Nein, keine Angst. Ich will es ihm erklären, aber dafür brauche ich dich. Ich habe das Gefühl, du bist die Einzige, auf die er hören wird. Gib ihm erstmal Zeit sich abzureagieren.“ Sie nickte eifrig und verschwand schnell, um Jack zu folgen. Auch ich machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Auf dem Gang kam mir Jaden entgegen. Als er mich sah, kam er schnellen Schrittes auf mich zu.

„Hey, sag mal, weißt du was plötzlich in Jack gefahren ist? So sauer hab ich ihn das letzte Mal erlebt, als ein neuer Schüler letztes Jahr mal mit Carly geflirtet hat.“

Was für eine Ironie. Ich seufzte und sah in diese kastanienbraunen Seen, die mich immer wieder beruhigten. „Hat dir Alexis von der Sache in der Bibliothek in meiner ersten Woche erzählt?“

„Ja, aber was hat das damit zu tun?“ antwortete er verwundert.

Ich überlegte mir eine Kurzfassung. „Naja, an dem Tag hat Carly den Artikel über…“ Ich musste den Kloß in meinem Hals runterschlucken. „…den Unfall gelesen.“ Erschrocken musterte er mich, als würde er irgendwie jede meiner Gefühlsregungen beobachten wollen. „Jedenfalls habe ich ihr zugeflüstert sie soll kein Wort darüber verlieren, nett ausgedrückt, und eben wollte ich mich entschuldigen. Sie fing an zu weinen und umarmte mich plötzlich, also wollte ich sie irgendwie beruhigen…“

Jaden stöhnte verzweifelt auf. „Lass mich raten: in dem Moment kam Jack um die Ecke.“ Ich nickte. „Man sowas passiert doch eigentlich nur in schlechten Filmen! Kein Wunder, warum er sich so verhält, so ist er eben. Aber der beruhigt sich schon schnell wieder. Geh ihm einfach aus dem Weg.“

„Nein.“

Jaden sah mich verwundert an. „Wie, nein? Was hast du denn vor?“

„Ich will es ihm irgendwie erklären. Carly will mir helfen. Jack sagte, wir treffen uns nach dem Unterricht hinter der Sporthalle. Dort will ich ihm die Sache ruhig erklären.“

„Dir ist bewusst, über wen wir hier reden, ja? Wenn es um seine Freundin geht, lässt er nicht wirklich mit sich reden. Ich komme mit!“

Ich sah ihn verwundert an und schüttelte dann den Kopf. „Schon gut. Wenn du auch noch mitkommst, fühlt er sich erst recht in die Ecke gedrängt. Das würde ihn nur noch wütender machen.“

„Ich komme mit!“ beharrte er weiter.

„Warum?“

„Wenn du ihm die Sache erklären willst, wirst du nicht umhinkommen, ihm wegen dem Artikel aufzuklären. Außerdem sage ich es jetzt zum dritten Mal: Ich lasse dich nicht mehr allein!“

Seine Worte entwaffneten mich. Mir waren die Argumente ausgegangen. Sein Blick war zu entschlossen, als dass ich ihm etwas hätte entgegensetzen können. Er hatte mich. Schon wieder. Ich seufzte. „Na schön, aber halte dich wenigstens im Hintergrund.“ Er grinste mich zufrieden an und nickte. Warum nochmal hatte ich mich dazu breitschlagen lassen?

In den letzten beiden Stunden war Jack wie vom Erdboden verschluckt. Auch Crow sprach mich schon darauf an. Ich sagte ihm, ich müsse noch was mit dem Blondschopf klären, und er soll schon in der Bibliothek auf mich warten. Zum Glück stellte er das nicht in Frage. Er kannte ihn vermutlich gut genug.
 

Es regnete immer noch ziemlich stark. Jaden und ich waren schon am vereinbarten Treffpunkt und standen unter dem Vordach des Hintereingangs, der zum Rasen führte. Von Jack fehlte jede Spur. Carly kam mit ihrem himmelblauen Schirm auf uns zugelaufen. Sie wirkte nervös. „Bist du wirklich sicher, dass du das machen willst? Als er das letzte Mal so sauer war, ließ er sich nur schwer wieder beruhigen.“ Ich nickte. Warum sollte ich jetzt einen Rückzieher machen? Ich hatte nichts falsch gemacht. Auch Carly traf keine Schuld. Es war einfach nur ein unglaublich blödes Missverständnis, und das wollte ich aus der Welt schaffen. Schließlich war er mein Freund. Irgendwie.

„Du hast dir Verstärkung mitgebracht?“

Wir drehten uns um. Da stand er. Schon sein Gesicht war zu Faust geballt. Ich machte einige Schritte auf ihn zu, damit Jaden und Carly hinter mir standen. Er sollte nicht denken, ich würde mich verstecken. Wir standen nur ein paar Meter voneinander entfernt. „Hör zu, ich bin nicht hier, um mich mit dir zu prügeln, verstanden? Ich will nur reden.“

„Warum sollte ich zuhören?“ knurrte er.

„Willst du wirklich vor deiner Freundin eine Schlägerei anzetteln?“

„Lass Carly da gefälligst raus, verstanden?!“ entgegnete er aufgebracht.

Ich hob beschwichtigend die Hände. „Schon gut.“

Er schnaubte, sah kurz zu Carly, die ihn besorgt betrachtete. „Na schön. Warum seid ihr plötzlich so vertraut miteinander?“

Er klang noch immer wütend und seine Hände zitterten vor Anspannung, aber zumindest ging er nicht auf mich los. Ich atmete noch einmal tief durch und achtete darauf, ruhig zu sprechen. „Du hast mich mal gefragt, warum sie sich wegen mir so schlecht fühlt, weißt du das noch?“

„Was hat das bitte damit zu tun, du Mistkerl?!“

„Ganz ruhig, beantworte einfach meine Frage.“

Wieder knurrte er. „Ja, sie war tagelang scheiße drauf deswegen!“

Ich nickte. „Richtig. Sie hat damals einen bestimmten Artikel gelesen, den ich verheimlichen wollte, also habe ich ihr gesagt, sie soll ruhig sein. Ich wollte nicht, dass das irgendjemand zu Gesicht bekommt.“

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Komm zum Punkt!“ Wieder atmete ich tief durch und konnte nicht gleich weitersprechen. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und rief den Artikel auf. Meine Hand zitterte. Mein Herz raste. Mir wurde übel. Mein gesamter Körper spannte sich an. Plötzlich spürte ich eine Berührung an meiner Schulter. Ich brauchte mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer das war. Seine Hand auf meiner Schulter schenkte mir Kraft.

Langsam schien Jack die Geduld zu verlieren. Ich warf ihm das Handy zu und er fing es ohne Probleme auf. „Ließ einfach selbst“ sagte ich leise und hatte die Befürchtung, meine Worte würden vom prasselnden Regen um uns herum verschluckt werden. Doch er schien es verstanden zu haben und richtete seinen Blick auf mein Handy. Die Momente verstrichen. Langsam ging Carly auf ihn zu und blieb nur Zentimeter vor ihm stehen. Sie sah ihn aus traurigen Augen an.

Er schaute auf. „Was hat das zu bedeuten?“ murmelte er an seine Freundin gerichtet. Sie zog ihn etwas an seiner Jacke, damit er auf einer Höhe mit ihr war, und flüsterte ihm etwas zu. Ich war ihr dankbar, dass sie es nicht laut aussprach.

Jack stellte sich wieder aufrecht hin und fixierte mich. Sein Blick war unergründlich. Keine Ahnung, ob die Sache jetzt geklärt, oder er noch sauer war, doch mit seiner nächsten Aktion war alles klar. Er sah Carly liebevoll an und strich ihr kurz übers Haar, ehe er auf mich zu kam. Ich konnte mich nach wie vor nicht bewegen. Er reichte mir mein Handy. Jadens Blick wanderte im Wechsel zwischen mir und Jack.

Der Druck auf meiner Schulter verstärkte sich. Langsam hatte ich wieder die Kontrolle über meinen angespannten Körper und griff nach dem Handy, um es wieder einzustecken. Carly lächelte mir entschuldigend entgegen. Jack drehte sich wieder um und machte ein paar Schritte, ehe er innehielt. „Tut mir leid“ murmelte er und ging weiter.

„Jack?“ Er stoppte und warf mir einen Blick über die Schulter zu. „Tu mir den Gefallen, und behalt es für dich.“

Ein kurzes Nicken und er ging weiter. Carly folgte ihm, und bot ihm einen Platz unter ihrem Schirm an. Man konnte noch den Anfang ihres Gesprächs hören, bevor sie um die Ecke verschwanden. „Ehrlich Jack! Du darfst nicht ständig so überreagieren. Ein wenig Eifersucht ist ja ganz schmeichelhaft, aber das ging zu weit! Wenn du so weiter machst, dann…“ Mehr verstand ich nicht mehr.

Jaden stellte sich plötzlich vor mich und grinste. „Gut gemacht!“

„Was?“

„Naja, du hast dich ziemlich gut gehalten! Und mal unter uns: Das war das erste Mal, dass ich die Worte ‚Tut mir leid‘ von ihm gehört hab!“

Das sprach weniger für mich, als gegen ihn, aber gut. Ich nahm das Kompliment dankend entgegen und ging mit ihm zusammen in die Bibliothek. Da seine Mutter dachte, er hätte noch Fußballtraining, hatte er ohnehin zu viel Zeit. Seine Schwester war noch im Schauspiel-Klub.

„Schon wieder da?“ fragte Crow, als wir bei ihm ankamen.

Jaden nickte grinsend. „Er hat sich schnell wieder eingekriegt.“

„Wir reden hier schon noch von Jack, oder?“

Jadens Grinsen wurde breiter.

Ich räusperte mich, um dieses Thema endlich zu beenden, und schlug Crow vor anzufangen. Er nickte und wir arbeiteten eine ganze Weile an dem Thema. Er hatte größere Probleme damit als Jaden, und mit letzterem hatte ich schon Stunden gesessen. Das wird wohl mehrere Bibliotheksbesuche in Anspruch nehmen.

„Ohje“ sagte ich mit Blick auf die Uhr.

Jaden sah mich überrascht an. „Hast du noch was vor?“

„Ja, ich sollte in zwei Minuten bei Sensei Fontaine sein“ sagte ich und sah Crow an. „Wir müssen hier abbrechen, aber wir machen ein andermal weiter, einverstanden?“

„Schon okay, um ehrlich zu sein, bin ich echt fertig! Ne Pause würde mir ganz guttun.“

Als ich meine Sachen schnell packte, beobachtete mich Jaden. „Sag mal, was willst du um die Uhrzeit eigentlich noch bei ihr?“

Als Antwort schenkte ich ihm jedoch nur ein Lächeln.

Er sah mich mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verzweiflung an. „Lass mich raten: Ich soll Geduld haben!“

Ich nickte immer noch lächelnd und verabschiedete mich, um nicht noch später zu kommen.



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