Dead End von Lichtregen (Endeavor x Hawks) ================================================================================ Kapitel 2: Bad Habits --------------------- „Fukuoka, hm?“, brummte Enji und ließ die Hand des anderen los. „Jaah, weißt du, in dieser Provinzbehörde ist mir einfach die Decke auf den Kopf gefallen... Nachdem ich zwei Jahre undercover gearbeitet hatte, wollte ich mal ein bisschen Großstadtluft schnuppern.“ Hawks machte eine Geste, als sei das soeben Gesagte nicht der Rede wert. Enji schnaubte spöttisch. Der Grünschnabel hatte echt einen komischen Sinn für Humor, wenn er die achtgrößte Stadt Japans als Provinz bezeichnete... und seine Leistungen, sollten sie der Wahrheit entsprechen, derart unter den Scheffel stellte. „Du warst als verdeckter Ermittler bei der Yakuza in Fukuoka eingesetzt?“, fragte Enji und zog skeptisch eine Augenbraue hoch. „Überrascht?“ Hawks‘ Zwinkern irritierte Enji, aber er überging dies gekonnt, um seine kurze Verwirrtheit zu überspielen. „Natürlich können nicht viele Polizisten in meinem Alter behaupten, die Yakuza infiltriert und ihr Vertrauen gewonnen zu haben“, plapperte Hawks weiter, zuckte hierbei mit den Schultern. „Aber... ich hab’s überlebt, also kann es nicht die schlechteste Entscheidung meiner Vorgesetzten gewesen sein.“ „In deinem Alter?“ „Will da etwa jemand wissen, wie alt ich bin?“, fragte Hawks neckisch und wackelte dabei mit seinen buschigen Augenbrauen. „Nicht unbedingt, ich habe mich nur –“ „Ich bin 23, Blutgruppe B, Sternzeichen Steinbock“, unterbrach der andere ihn jäh und zählte dabei die drei Eigenschaften an seinen Fingern ab, als ob er sich auf einer Datingplattform anmelden würde. „Und wie alt bist du?“ Enji verspürte die vertraute zornige Hitze in sich aufsteigen. Der Bursche würde es doch tatsächlich noch schaffen, ihn ins Grab zu bringen, wenn er seinen Blutdruck dauerhaft so in die Höhe trieb. „Bei deinem Rang... und den wenigen grauen Haaren in deinem Bart... wirst du wohl um die 45 sein, oder?“, fuhr Hawks, der Enjis funkensprühenden Blick zu ignorieren oder gar nicht wahrzunehmen schien, mit einem Zwinkern fort. Ehe Enji auf diese – beängstigend akkurate, aber auch unverschämte – Schätzung seines Alters eingehen konnte, sprudelte es jedoch schon weiter aus dem anderen hervor: „Ich habe die Polizeiakademie mit der Bestnote abgeschlossen; da wäre jede andere Verwendung meiner Wenigkeit doch glatte Verschwendung, oder?“ Enji, dessen Augenbrauen sich weiter zusammenzogen, blieb skeptisch. „Und was willst du dann in Tokyo?“ „Sagte ich doch bereits, ich will mal über den Tellerrand hinausschauen... und den Profis bei der Arbeit zusehen.“ Enji wusste nicht, ob der andere sich über ihn lustig machte oder dieses Lob ernst meinte. Hawks musste doch bereits über Yagi zu Ohren gekommen sein, dass ihre Ermittlungen aktuell nicht gerade auf fruchtbaren Boden stießen. Schließlich war das der offensichtliche Grund, wieso der Kollege vom weit entfernten Kyushu sie unterstützen sollte. „Bevor wir dir unsere Tricks verraten, wirst du uns erst ein paar deiner zeigen müssen“, konterte Enji grantig. Er hatte Hawks erst vor wenigen Minuten kennengelernt. Doch schon jetzt hatte er das untrügliche Gefühl, dass der andere weder auf den Mund gefallen war noch mit gänzlich offenen Karten spielte. Ob Hawks nur eine große Klappe hatte oder auch etwas dahinter steckte, würde sich erst noch zeigen müssen. Hawks lachte schallend auf und warf dabei seinen Kopf in den Nacken. „Ich sehe, du bist nicht leicht zu beeindrucken, Endeavor-san. Du machst deinem Namen alle Ehre.“ „Und du deinem?“ Hawks blinzelte. Enji hatte ihn mit dieser Frage wohl für einen Moment aus dem Konzept gebracht, aber er fing sich schnell wieder. „Hawks ist mein Spitzname aus der Grundschule“, erklärte Hawks und seine bernsteinfarbenen Augen blitzten dabei schelmisch. „Ich hatte schon immer eine Vorliebe für das Fliegen und da mich einige Klassenkameraden für meine dunklen Stellen um die Augen und meine Frisur – die laut ihren Beleidigungen wie ein gerupftes Huhn aussehe – auslachten, dachte ich... warum den Spieß nicht umdrehen und mich zu etwas Coolem... einem Falken machen?“ Enji ließ das Gefühl nicht los, dass der Jüngere nicht ganz die Wahrheit sagte. Schließlich waren besondere Namen, die an die Tierwelt angelehnt waren, auch bei der Yakuza nicht gerade unüblich und demonstrierten – neben den großflächigen Tätowierungen – Rang und Status des jeweiligen Mitglieds. Dass Hawks schon seit seiner Jugend mit einem für die Arbeit in der Unterwelt geradezu passenden Namen ausgestattet gewesen sein soll, kam ihm merkwürdig vor. „Ziemlich praktisch so ein Name, wenn man bei der Yakuza als verdeckter Ermittler einsteigt...“, forschte Enji nach und die Skepsis in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Nun, als ich undercover ging, musste ich mir einen passenden Yakuza-Namen überlegen, da kam mein alter Spitzname wie gerufen.“ Enji musterte sein grinsendes Gegenüber weiterhin kritisch, war längst nicht überzeugt. Nicht nur, dass der andere ein Geheimnis aus seinem richtigen Namen machte; die Umstände rund um seinen gewählten Namen erschienen ihm ebenso verdächtig. Doch was ersteren anging, würde er noch entsprechende Nachforschungen bei Yagi anstellen – irgendjemand musste immerhin mal ein paar offizielle Dokumente gesehen haben. Und im Übrigen würde er Hawks schon noch auf den Zahn fühlen. Nicht umsonst war er schließlich zum Leiter der Ermittlungen in diesem Kommissariat berufen worden... dessen von Yagi aufgetragenen Pflichten er allmählich auch nachkommen sollte. „Wir machen eben eine kurze Runde über die Etage, damit die anderen Mitglieder des Kommissariats wissen, dass du nicht unberechtigterweise durch unsere Flure läufst. Dein eigenes Büro kannst du dann morgen beziehen; das Büro neben meinem ist frei geworden und wird noch hergerichtet“, kündigte Enji daher nach einem kurzen Moment des Schweigens an und bedeutete mit einem Nicken in Richtung der Bürotür, dass Hawks vorangehen sollte. „Geht klar, Boss“, entgegnete Hawks heiter, machte aber zunächst keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. „Aber sollte ich nicht zuerst etwas über unsere Arbeit erfahren?“ „Über den aktuellen Stand der Ermittlungen werde ich dich später aufklären“, grollte Enji, verärgert darüber, dass der andere seine Vorgehensweise infrage stellte und sich seinem Befehl so offen widersetzte. „Jawohl, Endeavor-san“, erwiderte Hawks zu seiner Verwunderung jedoch zackig und es fehlte nur noch, dass er die Hacken zusammenschlug und salutierte. Hawks ging mit federnden Schritten voran und Enji konnte ein schweres Seufzen nicht unterdrücken, als er hinter sich die Tür schloss. Was hatte Yagi ihm da nur eingebrockt...? Nachdem sie etwa anderthalb Stunden von Büro zu Büro gegangen waren und Hawks sich bei etwa zwei Dritteln der dreißigköpfigen Belegschaft vorgestellt hatte, musste Enji sich widerwillig eingestehen, dass der Neue bei seinen Mitarbeitern deutlich besser ankam, als er erwartet hatte. Die meisten hatten ihn freundlich willkommen geheißen, manche schienen von Hawks‘ aufgeschlossener, fröhlicher Natur und seinen kleinen Späßen sogar schon völlig eingenommen zu sein, denn er hatte bereits mehrere Einladungen zu gemeinsamen Mittagessen erhalten... und das nicht nur von den weiblichen Kollegen. Enji fühlte sich mehr als überflüssig, als Hawks ein ums andere Mal selbst die Initiative ergriff und sich freudestrahlend und händeschüttelnd als neuer Kollege vorstellte. Etwas, wofür Enji, wie er zähneknirschend feststellte, fast schon hatte betteln müssen... Aber als Chef oblag es ihm, obwohl Hawks seiner Anwesenheit nicht bedurfte, um sich gut in Szene zu setzen, den neuen Kollegen herumzuführen. Also kam er, wenn auch widerstrebend, dieser Pflicht nach. Enji klopfte an die nächste Bürotür und trat ein, nachdem er nach wenigen Sekunden des Wartens keine Reaktion von der anderen Seite vernommen hatte. Hawks, der ihm unmittelbar gefolgt war, preschte an ihm vorbei und blieb erst vor dem Schreibtisch stehen, auf dem lediglich ein Berg schwarzen Gestrüpps zu sehen war. „Ich bin Hawks, der neue Kollege aus Fukuoka. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen!“ Der Mann, dem diese freudigen Worte galten, regte sich nicht. Enjis Mundwinkel zuckten ein wenig vor Genugtuung, als er bei einem Blick auf Hawks dessen verwirrten Gesichtsausdruck sah. Der Anblick, der sich ihnen bot, konnte einen beim ersten Mal durchaus überraschen. Doch in Enjis Kommissariat wunderte sich niemand mehr darüber. „Das ist Aizawa Shouta“, bemerkte Enji zu dem Mann, dessen Kopf auf der Tischplatte ruhte und der – dem leichten Schnarchen nach zu urteilen – gerade seinen Mittagsschlaf hielt. „Er kümmert sich unter anderem um die Aktenpflege, wälzt stundenlang Gutachten und Zeugenvernehmungen... Eine – wie er sagt – sehr ermüdende Tätigkeit.“ Hawks starrte Aizawa weiterhin ungläubig an, schien, als sich sein Gesicht plötzlich aufhellte, erst gerade gemerkt zu haben, dass es sich bei dem schwarzen Gestrüpp um die unordentliche Haarpracht eines Menschen handelte. „Ähm, er... schläft? Auf der Arbeit?“ „Ja, aber nicht mehr lange.“ Enji trat näher an den Schreibtisch heran und sagte in donnerndem Befehlston: „Aufwachen, Aizawa, genug geschlafen!“ Das Durcheinander schwarzer Haare bewegte sich leicht, ehe sich langsam ein verschlafenes schwarzes Auge öffnete und auf die beiden Besucher richtete, ohne dass sich der Kopf jedoch vom Schreibtisch hob. „Was gibt‘s?“, nuschelte Aizawa, dessen Wange noch an der Tischplatte klebte. „Wir haben einen neuen Kollegen aus Fukuoka bekommen“, übernahm Enji das Reden, da es Hawks unerwarteterweise noch die Sprache verschlagen zu haben schien. „Hawks hier wird ab heute unser Team verstärken.“ Aizawas sichtbares Auge huschte zu Hawks, während er leicht den Kopf hob, um diesen besser mustern zu können. „Der wird‘s nicht lange machen“, sprach Aizawa träge sein Urteil, legte seinen Kopf wieder auf dem Tisch ab und schloss die Augen. Die Angelegenheit schien damit für ihn erledigt. „Was? Moment, was soll das heißen, ich werd‘s nicht lange machen?“ „Hör nicht auf ihn“, wiegelte Enji ab. „Aizawa vertritt manchmal etwas komische Ansichten...“ „Das hab ich gehört.“ „Denk an die Auswertung der drei neuen Zeugenvernehmungen, die Yamada aufgenommen hat“, überging Enji brummend den Einwurf Aizawas, von dem er keine weitere Wortmeldung zu erwarten hatte, bevor er zu Hawks gewandt meinte: „Wir gehen.“ Mit einem halb entschuldigenden, halb amüsierten Schulterzucken bedeutete er Hawks, ihm zu folgen, und sie verließen gemeinsam das Büro. Enji bemerkte, wie Hawks einen verstohlenen Blick zurück auf Aizawa warf, der es sich erneut auf dem Tisch bequem gemacht hatte. Es war jedenfalls interessant zu sehen, dass selbst Hawks mal die Worte fehlten... Eine weitere halbe Stunde später waren sie wieder zurück in Enjis Büro, wo sich Hawks gleich auf das Sofa der Sitzecke fallen ließ und genüsslich die Beine ausstreckte. „Ich dachte schon, das ganze Händeschütteln ginge nie zu Ende“, stöhnte Hawks und rieb sich theatralisch die rechte Schulter. Enji schnaubte, schien Hawks die ganze Aufmerksamkeit während seiner Vorstellungsrunde doch eher genossen zu haben, als dass sie ihn gestört hätte. Anstatt sich zu dem anderen zu setzen, nahm er seinen Mantel vom Haken und warf ihn sich über. „Du brauchst es dir gar nicht erst bequem zu machen. Wir haben draußen noch einiges zu tun.“ Hawks sprang euphorisch auf. „Wo fahren wir hin?“ „Dir das Revier zeigen“, brummte Enji, von dem plötzlichen Eifer des Jüngeren überrascht. „Und auf dem Weg statten wir noch einem Ort einen Besuch ab, den ich schon seit längerem mal genauer unter die Lupe nehmen wollte.“ Da Hawks bereits den Mund geöffnet hatte, um die naheliegendste Frage zu stellen, kam Enji ihm zuvor und ergänzte: „Um was es sich genau handelt, erkläre ich dir unterwegs.“ Damit gab sich Hawks offenbar zufrieden, denn er schloss den Mund, nickte nur und folgte ihm, zog die Tür hinter ihnen ins Schloss. Nachdem sie die Drehtür in der Eingangshalle durchquert und eine durch Büsche abgetrennte Ecke vor dem Polizeigebäude erreicht hatten, griff Enji in seine Manteltasche, holte eine zerknautschte Schachtel und ein Feuerzeug heraus und steckte sich mit geübten Fingern eine Zigarette zwischen die Lippen. Er klickte mehrmals mit dem Feuerzeug, versuchte, gegen den Wind und Regen, die im Laufe des Nachmittags eingesetzt hatten, die Zigarette anzuzünden, als er ein missbilligendes Schnalzen hinter sich hörte. „Also echt jetzt, du rauchst, Endeavor-san?“, fragte Hawks und hätte nicht empörter klingen können. „Wo wir gerade drei Stockwerke hinabgehetzt sind? Nicht gerade gesund...“ Enjis Augenbraue zuckte gefährlich. Nicht nur, dass der Bursche ihm jegliche Höflichkeiten bei ihrem Kennenlernen verweigert hatte... nun besaß er auch noch die Unverschämtheit, ihn in Gesundheitsfragen zu belehren. Beim fünften Versuch gelang es ihm schließlich, die Zigarette zum Brennen zu bringen. Um das schwache Glimmen nicht ersterben zu lassen, nahm er – wie ein Ertrinkender, der nach Luft schnappte – einen ersten, befriedigenden Zug, inhalierte tief und stieß eine feine graue Rauchwolke aus. Schon besser. „Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten“, grollte Enji, dessen Zorn dank der wohltuenden Nikotindosis schon fast wieder verraucht war. „Du solltest eher an deiner Fitness arbeiten. Nach den paar Treppen bist du ganz schön am Keuchen.“ „Du hast doppelt so lange Beine wie ich! Um mit dir Schritt zu halten, wäre jeder am Keuchen!“, verteidigte sich Hawks beleidigt und zog eine leichte Schnute. „Gewöhn dich dran. Wer nicht mithalten kann, wird zurückgelassen.“ „Ihr habt ja echt harte Regeln hier...“, erwiderte Hawks, auf dessen Gesicht sich jedoch ein Grinsen stahl, während er die Arme hinter dem Kopf verschränkte. „Aber keine Sorge, so leicht wirst du mich nicht los.“ „Darum mache ich mir am allerwenigsten Sorgen...“ Hawks‘ Grinsen wurde noch eine Spur breiter. „Du solltest dir tatsächlich eher Gedanken darüber machen, dass du dein ungesundes Laster loswirst...“ Enji verdrehte innerlich die Augen, sagte jedoch nichts, wohl wissend, dass eine weitere Diskussion darüber nur in einer neuen Woge des Zorns enden würde. So standen sie eine Zeit in stillschweigender Übereinkunft nebeneinander, bis Enji einen letzten Zug an seiner Zigarette nahm, sie ausdrückte und in dem im Raucherbereich aufgestellten Eimer entsorgte. „Ich hole das Auto“, durchbrach Enji das Schweigen und zog den Schlüssel eines Toyota Auris aus seiner Hosentasche. Hawks‘ Blick fiel auf den Schlüssel. „Kein Toyota Crown?“ „Wir sind Kriminalbeamte, keine Streifenpolizei“, knurrte Enji mit einer Spur Arroganz, aber auch Skepsis in der Stimme. Erneut hatte er das Gefühl, dass der andere nicht ganz ehrlich mit ihm war, sich sogar absichtlich dumm stellte. Schließlich müsste jemand, der zwei Jahre unerkannt bei der Yakuza ein- und ausgegangen war, diese Basisgrundlage der Ermittlungstätigkeit mehr als nur vertraut sein. „Natürlich benutzen wir zu Ermittlungszwecken zivile Fahrzeuge. Sonst könnten wir auch direkt mit Blaulicht vorfahren und uns hierdurch zu erkennen geben... Das Gleiche, also Unauffälligkeit, gilt übrigens auch für Kleidung“, fügte Enji mit einem Blick auf Hawks hinzu, wobei er die Stirn in Falten zog. „Was hast du gegen mein Outfit?“, empörte sich Hawks und schaute an sich selbst herunter, drehte sich dabei leicht nach links und rechts, als würde er seine Kleidung das erste Mal sehen. „Sie ist für zivile Kleidung nicht gerade unauffällig.“ Tatsächlich hätte sich Hawks kaum etwas Auffälligeres für eine geheime Ermittlung aussuchen können. Während er selbst selten – so auch heute – ohne Hemd und Stoffhose außer Haus ging und sich so perfekt in die Masse aus anzugtragenden Arbeitnehmern einfügte, trug Hawks eine beige Jacke mit hohem Kragen, die mit weißem Fell an den Innenseiten gefüttert war, und dazu eine löchrige Jeans. „Ich pass schon auf, dass wir deswegen nicht auffliegen“, zwinkerte Hawks. Und für den Moment musste Enji ihm nachgeben, zumal für einen Kleidungswechsel auch keine Zeit mehr blieb, wenn sie noch rechtzeitig an ihrem heutigen Ziel ankommen wollten. „Genug geschwatzt“, brummte er daher nur und marschierte geradewegs auf einen dunkelblauen Kombi zu, der zwischen ein paar schwarz-weißen Streifenwagen geparkt war. Er schloss den Wagen mittels Fernbedienung auf, öffnete die Fahrertür auf der rechten Seite und zwängte sich hinter das Lenkrad. Da sich die Beifahrertür noch nicht geöffnet hatte, blickte sich Enji um und sah Hawks direkt neben ihm stehen. Das freche Grinsen ließ ihn nichts Gutes erahnen. „Kann ich nicht fahren?“ „Nein.“ Soweit kam es noch, dass sich der Bursche als Neuling in der Stadt sofort hinter den Fahrersitz klemmte und er selbst – als dessen Chef – auf den Beifahrersitz verbannt wurde, weshalb er jegliche Diskussion hierüber im Keim erstickte. „Man kann‘s ja mal versuchen...“ Schulterzuckend und sein Schicksal offensichtlich akzeptierend stieg Hawks schließlich auf der linken Seite ein und ließ sich neben ihn auf den Sitz fallen. „Nicht sehr geräumig...“, kommentierte Hawks, der wohl bemerkt hatte, dass Enji mit seinem Kopf bereits fast an die Decke stieß. „Es ist auskömmlich...“ Auch wenn er sich selbst oft genug darüber ärgerte, dass der japanische Fahrzeughersteller es nicht bedacht hatte, seine Autos auch für Menschen mit einer Körpergröße über 1,90 m zu bauen, wollte er dem Neuen nicht die Genugtuung gönnen, schon am ersten Tag an der Tokyoter Polizei einen Makel zu finden. Auf die würde er noch früh genug stoßen... „Und wo geht es jetzt hin?“, fragte Hawks neugierig, fast schon ein bisschen aufgeregt. Enji konnte es ihm nicht verdenken. An seinem ersten Tag bei der Kriminalpolizei im Hauptquartier war er ebenso gespannt und begierig auf das gewesen, was ihn erwarten würde. „Wir fahren zunächst am Hauptbahnhof vorbei... den solltest du kennen. Und dann über Roppongi und Ebisu nach Meguro.“ „Und was machen wir da?“ Enji zögerte kurz, während er den Motor anließ, den Scheibenwischer einstellte und anfuhr. „Während du dir die Gegend einprägst, sollte ich dir zuerst von unserem aktuellen Ermittlungsstand erzählen.“ Hawks setzte sich aufrecht hin. „Ich bin ganz Ohr.“ „Nun, die Grundinformationen über die Yakuza-Gruppierung namens „Die Liga der Schurken“, die sich hier vor einiger Zeit breit gemacht hat, solltest du bereits von Yagi erhalten haben.“ Hawks nickte und er fuhr fort: „Wir hatten bisher schon einige heiße Spuren und Kontakt zu gewissen Mitgliedern aufgenommen, andere wiederum beschattet, und dadurch schon einige Beweise gesammelt, die uns zu den Köpfen der Organisation hätten führen können. Bislang war uns“, gab Enji zähneknirschend zu, „die Liga aber immer dadurch einen Schritt voraus, dass, sobald wir etwas gegen jemanden in der Hand hatten, diese Person verschwunden, getötet oder sonst wie zum Schweigen gebracht worden ist und dadurch jede Fährte in einer Sackgasse endete.“ Enji verstummte, beobachtete Hawks aus den Augenwinkeln, um seine Reaktion zu sehen, während er in die Straße vor dem Hauptbahnhof einbog. Doch Hawks‘ Miene blieb ausdruckslos, allenfalls neugierig, weder zeigte sich Überraschung noch Missbilligung in Anbetracht dieser offenen Worte. Enji verspürte einen Anflug von Respekt dafür für den anderen in sich aufkeimen, dass dieser immerhin so viel Anstand besaß, kein schlechtes Wort über seine neue Dienststelle zu verlieren. „Selbstverständlich haben wir auch schon das ein oder andere Mitglied der Yakuza festgenommen... diese waren aber entweder nur kleine Fische oder wollten trotz einiger Überzeugungsarbeit nicht reden. Unsere letzten handfesten Beweise sind jedenfalls heute Morgen zusammen mit einer Leiche auf dem Grund des Flusses aufgefunden worden. Natürlich gibt es noch weitere Verdachtspersonen“, setzte Enji rasch hinzu, „aber bei denen stehen wir noch relativ am Anfang. Bis wir zum Oyabun vorgedrungen sind und die Yakuza zerschlagen haben, wird es wohl noch –“ Enji blinzelte gegen das Sonnenlicht, das mit einem Mal hinter den Regenwolken hervorgebrochen war. Geblendet von der vom Regenwasser spiegelnden Fahrbahn tastete er nach der Sonnenblende und riss sie mit einem Schwung nach unten. Durch den Ruck fiel ein Stück Papier, das in die Blende eingeklemmt gewesen war, heraus und segelte auf Hawks‘ Schoß. Hawks nahm das Bild in die Hand und drehte es um, betrachtete es für einen kurzen Moment scheinbar nachdenklich. „Ist das deine Familie?“ Enji reagierte blitzschnell und, ohne noch auf den Verkehr zu achten, riss Hawks das Foto aus der Hand. „Gib das her!“ Wütend, dass der andere das Foto gesehen hatte, stopfte er es in das Fach der Fahrertür und blickte starr wieder zurück auf den Verkehr. „Wow, vier Kinder, da war aber einer ganz schön fleißig“, kommentierte Hawks das Foto neckisch und wackelte mit seinen buschigen Augenbrauen. „Wo war denn deine Frau, hat sie das Foto gemacht?“ „Das geht dich nichts an!“ Enji brach der Schweiß aus und er zitterte leicht, sowohl vor Wut als auch vor Furcht. Selbst viele seiner Kollegen, die er seit Jahren kannte, wussten nicht viel über seine familiäre Situation, was auch so bleiben sollte. Da würde er den Teufel tun, einem Grünschnabel, den er erst am heutigen Tag kennengelernt hatte und der weit davon entfernt war, dass er ihm traute, zu erlauben, seine Nase in seine familiären Angelegenheiten zu stecken. Je weniger Hawks über seine Familie wusste, desto besser. Nicht nur zum Schutz seiner Familie... sondern auch zum Schutz seiner selbst. „Hast wohl ein dunkles Geheimnis, was?“, bohrte Hawks zwinkernd weiter nach. „Wenn ich eines hätte, würde ich es bestimmt nicht dir auf die Nase binden“, konterte Enji und hoffte, das unangenehme Thema damit zu beenden. „Sowas kommt selbst in den besten Familien vor“, plapperte der Jüngere jedoch einfach weiter, überging seinen Einwand völlig. „Meine Kindheit war auch nicht rosig... Meine Mutter ist schon gestorben, als ich noch ganz klein war. Und mein Vater... nun, er liebte die Spielautomaten mehr als mich. Ich konnte froh sein, wenn ich zum Geburtstag mehr bekam als ein einzelnes Papiertaschentuch.“ Hawks zuckte die Achseln und setzte eine unbekümmerte Miene auf. Enji betrachtete ihn aufmerksam aus den Augenwinkeln. Sollte das, was der andere gerade gesagt hatte, der Wahrheit entsprechen? Nicht zum ersten Mal an diesem Tag fiel ihm auf, dass er Hawks nicht durchschauen, ihm weder an Gestik noch Mimik ansehen konnte, ob er log oder die Wahrheit sagte. „Viel zu essen gab es zuhause auch nie“, fuhr Hawks fort und setzte dann ein gewinnendes Lächeln auf. „Ich schätze, das ist der Grund dafür, warum ich heute einen so gesunden Appetit habe. Hühnchen ist übrigens mein Lieblingsessen. Ich habe gehört, in Tokyo soll es einen tollen Laden geben, einen echten Geheimtipp!“ Hawks redete noch eine Weile weiter über Essen, während Enji sich allmählich entspannte, da der andere das Thema Familie endlich fallengelassen hatte. Als sie schließlich durch Roppongi fuhren, linker Hand an der weiß-roten Nachbildung des Eiffelturms vorbei, schrie Hawks plötzlich auf und drückte beinahe seine Nase an der Scheibe platt. „Wow, der Tokyo Tower! Der ist ja riesig! Von dort oben hat man bestimmt einen tollen Ausblick über die Stadt!“ „Muss ganz in Ordnung sein...“ „Nur in Ordnung?!“, entgegnete Hawks entrüstet. „Wo kann es eine bessere Aussicht als hier geben?“ „Der Skytree in Asakusa ist der höchste Fernsehturm und das zweithöchste Gebäude der Welt. Ich würde stark annehmen, dass der Ausblick von dort oben noch besser ist.“ „Annehmen? Heißt das, du wohnst hier dein ganzes Leben und warst nicht einmal oben?“ „Nein, sowas intere –“ „Dann müssen wir beide mal zusammen dort hoch! Vielleicht können wir von dort auch den Fuji sehen...“, unterbrach ihn Hawks grinsend und verfiel in schwärmerisches Schweigen. Enji sparte sich eine Antwort und sah Hawks verstohlen aus dem Augenwinkel an. Er wurde aus dem anderen wirklich nicht schlau... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)