Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 40: Tabula rasa ----------------------- Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, saß ich auf meinem Stuhl und wusste nicht, was ich jetzt tun sollte. Mein Plan, mein gesamter Plan, war binnen weniger Augenblicke den Bach runtergegangen.   Vielleicht war er von Anfang an zum Scheitern verurteilt.   Es war dumm gewesen, Christopher davon zu erzählen. Noch dazu nach einer durchzechten Nacht, nach der er vermutlich unausgeschlafen und verkatert war. Man hatte es ihm nicht angesehen, aber das musste nichts heißen. Bei ihm sah man so etwas nie.   Ich hätte zuerst mit meiner Mutter sprechen sollen.   Sie hätte mir helfen können, es meinem Vater und meinem Bruder schonend beizubringen. Doch dazu war es jetzt zu spät. Ich hatte es gründlich vermasselt, den Tag verdorben, mein Outing ruiniert. Alles, einfach alles hatte ich in den Sand gesetzt und das nur, weil ich gedacht hatte, dass Christopher mich verstehen würde. Dass er toleranter wäre und nicht so ein …   Homophobes Arschloch.   Ich schrak zusammen, als ich den Gedanken aussprach. War das tatsächlich mein eigener gewesen? Es fühlte sich so an und gleichzeitig, als hätte es jemand anderes getan. Jemand, der sich nicht mit seinem Bruder verstand. Jemand, der Wut empfand. Wut auf jemanden, der ihn im Stich gelassen hatte. Wut, die mit jeder Sekunde heißer brannte. Sie brachte den tiefen See um mich zum Brodeln. Dampfwolken stiegen auf und drohten, den Himmel zu verdunkeln. Wann würde es anfangen zu regnen?   „Theodor!“   Meine Mutter rief von unten nach mir. Heute konnte sie den Spruch, dass sie alles wegwerfen würde, wenn ich nicht gleich käme, nicht bringen. Immerhin saßen mein Vater und mein Bruder bereits am Tisch. Vermutlich hatten sie schon angefangen zu essen. Mein Vater wartete nie auf jemanden. Wenn, dann warteten wir auf ihn. So war es schon immer gewesen.   Sie werden mich nicht vermissen, stellte ich fest und erhob mich im gleichen Moment. Wie von selbst trugen mich meine Füße die Treppe hinunter und in Richtung Haustür. Gerade, als ich meine Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, öffnete sich die Tür zum Esszimmer.   „The … oh, da bist du ja. Komm essen. Es wird kalt.“   „Keinen Hunger“, erwiderte ich und sah sie dabei nicht an. In mir fühlte ich immer noch dieses Brodeln. Es kochte und schäumte, aber meine Mutter war die Falsche, um meine Wut an ihr auszulassen. Sie hatte nichts getan. Das war vielleicht das Problem.   „Wie bitte?“   Ich hörte förmlich, wie Zweifel über ihr Gesicht zogen. Es in ungläubige Falten legten. Sie verstand die Welt nicht mehr.   „Jetzt hör mit dem Unsinn auf, zieh deine Schuhe aus und dann komm zum Essen.“ „Nein.“   Ich drehte den Kopf, um sie anzusehen. Sie sah genauso aus, wie ich es erwartet hatte. Die Haare hochgebunden, die weiße Schürze vor dem streugeblümten Oberteil makellos. Wie aus einem Landhaus-Magazin. Unter ihrem Blick spürte ich die Flammen verlöschen. Schuld kroch meinen Rücken hinauf. Ein bleierner Mantel, der sich schwer und unnachgiebig um meine Schultern legte. Meine Kehle wurde eng. Ich musste hier raus, sonst würde etwas passieren.   „Mama, ich … ich kann nicht bleiben. Tut mir leid.“   Mit Blicken bat ich sie um Verzeihung. Ich wusste, dass sie es nicht verstehen würde. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben. Mehr Mühe, als Christopher und ich verdient hatten. Das tat sie jedes Mal und niemals dankten wir ihr wirklich dafür. Ein paar zerdrückte Blumen zum Muttertag. Das war’s. Ich hatte kein Recht, mich auf ein hohes Ross zu setzen. Ich war ebenso schuldig wie Christopher.   „Was soll denn das? Kommt jetzt endlich zum Essen.“   Die Stimme meines Vaters klang unwirsch. Gleich darauf hörte ich meinen Bruder etwas erwidern. Ich verstand nicht, was er sagte, aber der Ton legte nahe, dass es sich um eine Gehässigkeit auf meine Kosten handelte. Im nächsten Moment hörte man Stühlerücken und Schritte, die sich uns näherten. Mein Vater erschien in der Türöffnung.   „Was ist hier los?“   Ich wusste, dass er die Szene mit einem Blick erfasst hatte. Ich an der Haustür, meine Mutter mit verstörtem Gesicht. Er wusste, was es bedeutete. Trotzdem erwartete er, dass es einer von uns aussprach. Meine Mutter erbarmte sich.   „Theodor will nicht zum Essen bleiben.“   Ein Frevel. Eine Anklage. Gemeinsame Mahlzeiten waren heilig. Wann immer es möglich war, aß unsere Familie zusammen. Meine Eltern fanden das wichtig. Am Tisch wurde gesprochen, gelacht und gestritten. Dieses Mal würde es auf einen Streit hinauslaufen. Ich wusste es und wollte es verhindern.   „Ich … ich kann heute nicht mitessen.“ „Warum nicht?“   Es war tatsächlich eine Frage. Kein „Setz dich jetzt endlich“ oder etwas in der Art, wie ich es erwartet hätte. Stattdessen fragte mein Vater nach meinen Gründen. Nur konnte ich sie ihm nicht nennen. Das war unmöglich.   „Man, ich hab Hunger. Können wir jetzt endlich essen?“, motzte Christopher aus dem Hintergrund. Er klang wie früher.   „Wenn dein Bruder auch kommt“, antwortete meine Mutter. Sie und mein Vater sahen mich immer noch an. Auf dem Gesicht meiner Mutter erschien ein Lächeln. Gezwungen.   „Na komm schon, Theodor. Wir gehen jetzt rein und dann reden wir über alles.“ „Nein.“   Wieder dieses Wort. Es rief das Lächeln zurück und eine Falte auf der Stirn meines Vaters hervor.   „Was ist los?“, wollte er wieder wissen. Ich konnte ihm nicht antworten. Stattdessen hörte man meinen Bruder drinnen im Esszimmer stöhnen.   „Wenn der Spinner meint, dass er nicht dabei sein will, lasst ihn gehen. Ich kann gut ohne ihn essen.“ „Nein.“   Dieses Mal war es meine Mutter, die das Wort aussprach. Sie schüttelte leicht den Kopf.   „Wir essen alle zusammen. Wie eine richtige Familie.“   Ich spürte ein Lachen in mir aufperlen. Eine richtige Familie? Was war denn eine richtige Familie? Eine, in der Blut dicker als Wasser war? Eine, in der alle sich auf einander verlassen konnten? Eine, in der sich alle liebhatten? Vater-Mutter-Kind? Dann war doch alles in Ordnung. Alles war komplett. Das zweite Kind brauchte es doch da nicht mehr. Es störte nur, war nicht normal, gehörte nicht dazu. War ohnehin nur auf die Welt gekommen, damit das erste nicht so alleine war. Weil es doch wichtig war, teilen zu lernen und all der Scheiß. Ich hätte kotzen können vor Höflichkeit.   Noch einmal war Stühlerücken zu hören. Mein Vater trat in den Flur, um Christopher durchzulassen. In dessen Blick stand genervte Ablehnung.   „Setz dich jetzt endlich und hör mit der Scheiße auf.“ „Christopher!“   Der entrüstete Ton meiner Mutter war sicherlich gerechtfertigt. Ebenso wie das rügende Gesicht meines Vaters. Das hier war dabei, alles aus den Fugen zu kippen. Alles über den Haufen zu werfen, was ich kannte und liebte. Liebte ich es?   „Nein“, sagte ich noch einmal. Dieses Mal zu meinem Bruder. Er starrte mich an und ich starrte zurück. Schließlich wandte er den Blick ab.   „Fein“, rief er und warf die Arme in die Luft. „Mach ruhig weiter alles kaputt. Ich schau mir das nicht weiter an. Aber überleg dir gut, was du jetzt sagst.“   Tatsächlich wollte er seine Drohung wahr machen, aber mein Vater vertrat ihm den Weg. Die beiden waren nahezu gleich groß, mein Bruder etwas schmaler und weniger muskulös. Trotzdem hätte er es wohl mit meinem Vater aufnehmen können. Aber er tat es nicht. Er wich zurück, Feindseligkeit und Trotz in seinem Blick.   „Was meinst du damit?“ „Was ist hier los?“   Meine Eltern hatten gleichzeitig gesprochen. Doch während meine Mutter ihre Frage mehr oder weniger in den Raum gestellt hatte, hatte mein Vater Christopher direkt konfrontiert. Er stand ihm gegenüber und die Luft zwischen den beiden wurde mit jedem Atemzug dicker. Schließlich lachte Christopher auf.   „Ach, Theodor hat mir vorhin erzählt, dass er sich von Mia getrennt hat. Absolut idiotisch, wenn du mich fragst. In zwei Wochen sind die beiden wieder zusammen.“   Ich fühlte mich, als wäre mir ein zweischneidiges Schwert die Kehle hinab gerammt worden. Einerseits war ich froh, dass Christopher nicht noch mehr gesagt hatte. Andererseits hatte er kein Recht herauszuposaunen, was ich ihm im Vertrauen erzählt hatte. Er hatte kein Recht dazu!   „Oh, Theodor. Das tut mir so leid.“   Die Stimme meiner Mutter schüttete Balsam und Blumen über mich. Sie verklebten mir Augen und Ohren. Wollten mich blind und taub machen. Stumm war ich ohnehin schon. Die drei Affen, alle vereint in einer Person.   „Warum hast du uns das nicht gesagt?“   Wieder mein Vater. Er fragte mich nach meinen Gründen. Aber ich konnte es ihm doch nicht sagen. Ich konnte nicht. Trotzdem öffnete ich gehorsam den Mund. Irgendetwas musste mir einfallen. Eine Erklärung, die ich mir aus den Rippen schnitt. Aus meinem Herzen. Wenn ich es herausriss und bei Mondenschein auf der Kreuzung hinter dem weißen Stein an der Heide vergrub, würde vielleicht alles wieder gut werden.   „Ich konnte nicht.“   Ich hatte den Satz nur geflüstert. Nichtsdestotrotz rauschte er wie ein heftiger Windstoß durch das ganze Haus und ließ die Türen und Fenster zufliegen.   „Warum nicht?“   Wieder eine direkte Frage an mich. Eine, die nach Antworten verlangte. Die nicht wanken und nicht weichen würde, bis ich mich ihr stellte. Steine schienen an meinen Gliedern zu ziehen. Sie wollten mich in die Knie zwingen, damit ich um Verzeihung bat. Um Verzeihung für meine Sünden.   „Ich … ich wollte euch nicht verletzen.“   Es war nur die halbe Wahrheit, aber sie stimmte immerhin zum Teil. Die andere Hälfte war, dass ich mich selbst hatte schützen wollen. Auch jetzt noch hatte ich das Bedürfnis, mich zu einem Ball zusammenzurollen, um so die Fläche zu verringern, auf die die Schläge treffen konnten. Ich hatte solche Angst. Das Blut rauschte in meinen Ohren.   „Verletzen? Womit denn verletzen?“   Wieder meine Mutter. Der sanfte Engel und mein Vater der brennende Dornbusch. Die Stimme Gottes. Was er sprach, war Gesetz. Daneben verblasste alles andere. Würde mich der Blitz treffen, wenn ich ihm antwortete?   Ich setzte an, etwas zu sagen, doch statt des Blitzes traf mich ein Stein. Einer, den mein Bruder geworfen hatte.   „Er macht sich doch nur wieder wichtig.“   Irritiert war ich kurz davor, mir an die Wange zu fassen um zu sehen, ob ich blutete. Mein Blick glitt von meinem Vater hinüber zu meinem Bruder. Dem guten, dem anständigen Sohn. Dem, der alles richtig machte. Dem Sohn, der nicht schwul war.   „Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“   „Hast du aber“, schnitt Christopher mir das Wort ab. „So wie immer. Du kannst es nicht ertragen, wenn ich besser bin als du. Wenn ich etwas habe, musst du es auch haben. Und wenn du es nicht haben kannst, dann machst du so lange einen Wirbel darum, bis nur noch du im Mittelpunkt stehst und alles andere vergessen wird. Aber ich sage dir jetzt mal was. Du bist nicht der Nabel der Welt. Nicht alles in dieser Familie dreht sich um dich. Sieh das endlich ein.“   „Kinder …“, begann meine Mutter, doch Christopher unterbrach auch sie.   „Ja, alles klar. Jetzt nimmst du ihn wieder in Schutz. Das arme, arme Baby. 'Er kann doch nicht. Er ist nicht wie du.' Wenn du wüsstest, wie recht du damit hast. Aber das soll er euch selber sagen. Ich halte mich da raus.“   Damit verschränkte mein Bruder die Arme vor der Brust und starrte mich finster an. Auch meine Eltern wandten sich jetzt wieder an mich. Ich wollte mich wehren. Wollte schreien, dass Christopher Unrecht hatte. Ich wollte doch gar nicht, dass sich alles um mich drehte. Das war eine Lüge. Eine verdammte Lüge!   „Theodor“, begann mein Vater wieder. „Würdest du mir jetzt endlich eine Antwort darauf geben, was das hier alles zu bedeuten hat? Was hast du angestellt?“   Ein bitteres Auflachen zwängte sich in meinen Mund. Das war so typisch. Wenn es Ärger gab, musste es natürlich meine Schuld sein.   „Ich habe nichts angestellt.“ sagte ich und hob den Kopf. Es war ohnehin nicht mehr zu retten. Meine Eltern würden jetzt keine Ruhe mehr geben. Christopher hatte dafür gesorgt, dass ich mit dem Rücken zur Wand stand. Ich konnte nicht mehr zurück. Also würde ich mich der Reaktion jetzt stellen. Ein für allemal. Damit Schluss mit der Angst war.   „Ich … ich hab mich von Mia getrennt, weil ich mich in jemand anderen verliebt habe.“   Ich hörte Christopher schnauben, doch gleichzeitig sah ich, wie sich mein Vater entspannte.   „Und deswegen so ein Aufstand?“   Er brauchte nicht den Kopf zu schütteln. Ich konnte den Zweifel in seiner Stimme hören. Auch meine Mutter sah nun wieder mitleidig aus.   „Das kommt vor. Es ist natürlich schade, aber deswegen würden wir doch nie …“ „Es ist kein Mädchen.“   Der Satz sorgte dafür, dass Stille einkehrte. Nicht die Art von Stille, die während einer Klausur herrschte, weil alle mit ihren Arbeiten beschäftigt waren. Auch nicht die friedliche Stille eines Sommerabends, in der die Grillen ihr letztes Lied sangen und die Welt zur Ruhe kehrte. Diese Stille hier war wie die Mündung einer geladenen Waffe. Russisches Roulette. Würde beim Abdrücken eine Kugel im Lauf sein oder nicht? Ich ließ es darauf ankommen.   „Was meinst du damit? Ist sie älter als du?“   Meine Mutter. Geradezu bilderbuchmäßig klammerte sie sich an ihre Moralvorstellungen. Wenn es kein Mädchen gewesen war, das mich von Mia weggelockt hatte, dann mit Sicherheit eine Frau. Eine reife, erfahrene Frau, die sich meiner unschuldigen Seele angenommen und mich verführt hatte. Oder vielleicht war ich es auch gewesen, der Trost und anderes bei einer reiferen Frau gesucht hatte. Einer Lehrerin gar. Ja, das wäre in den Augen meiner Mutter sicherlich etwas gewesen, dass die Reaktion meines Bruders rechtfertigen würde. Sie ahnte ja nicht, wie falsch sie lag.   Langsam schüttelte ich den Kopf.   „Er ist nicht älter als ich. Eher noch etwas jünger. Wir gehen zusammen zur Schule.“   Plötzlich war mein Zorn in sich zusammengefallen. Die Erwähnung von Benedikt hatte etwas in mir ausgelöst, das mich von der Front zurücktreten ließ. Ich entspannte meine Fäuste und ließ die Schultern wieder etwas sinken. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr meine Körperhaltung auf einen Kampf ausgerichtet gewesen war. Auf Kampf oder Flucht.   „Sagtest du … er?“   Wieder war es meine Mutter, die nachfragte. Ich wagte nicht, meinen Vater anzusehen. Stumm nickte ich. Ich sah, wie meine Mutter die Hände vor dem Mund schlug, die Augen aufriss und mich anstarrte wie eine Erscheinung. Ich versuchte ein Lächeln.   „Er … er heißt Benedikt. Ich hab dir schon von ihm erzählt.“   Dass das nur so halb stimmte, musste ihr in diesem Moment klar werden. Wahrscheinlich ordnete sie in ihrer Erinnerung gerade all die kleinen Zeichen neu ein. All die Hinweise, die es vielleicht gegeben hatte und die sie großzügig übersehen hatte. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte.   „Das hab ich nicht gewusst.“   Ihre Stimme war nur ein Flüstern, das sich zwischen ihren Fingern hindurch einen Weg bahnte. Zu sehen, wie sehr sie diese Erkenntnis erschütterte, drehte die Klinge in meiner Brust dreimal herum. Wieder hätte ich mich übergeben können. Dieses Mal, weil die Schuld in meinen Eingeweiden rumorte.   „Mama, es tut mir leid. Ich wollte nicht …“   „Hast du aber“, schnitt mein Bruder mir das Wort ab. „Du spielst dich hier auf und machst alle mit diesem Scheiß verrückt. Dabei …“   „Christopher!“   Die Stimme meines Vaters rollte wie der lang erwartete Donnerschlag durch den Raum.   „Mäßige deine Wortwahl. Und unterbrich deinen Bruder nicht, wenn er gerade spricht.“   Christopher, der gescholten den Kopf hätte senken sollen, funkelte meinen Vater wütend an.   „Dann gibst du ihm jetzt auch noch recht?“ „Ich gebe niemandem recht. Aber ich denke, das, was immer es auch ist, nicht wert ist, dass eure Mutter drei Stunden lang umsonst in der Küche gestanden hat. Also lasst uns jetzt alle hineingehen und essen. Danach sehen wir weiter.“   Er wollte sich schon umdrehen, als mein Bruder ihm zuvorkam.   „Na, prima“, fauchte er und lachte hämisch auf. „Geht nur wieder rein und macht einen auf heile Welt. Aber ohne mich. Ich fahre jetzt wieder.“   „Christopher!“   Meine Mutter wollte ihn aufhalten, doch mein Bruder stürmte bereits an ihr vorbei aus der Tür. Als sie ihm folgen wollte, rief mein Vater sie zurück.   „Lass ihn gehen. Wenn er sein Gemüt abgekühlt hat, wird er wiederkommen. Das tun sie immer.“   Mit diesen Worten wandte er sich mir zu. Ich wusste nicht, was gerade in ihm vorging. Sein Gesicht war wie versteinert. Unmöglich abzuschätzen, ob ihn meine Eröffnung getroffen und wie er sie aufgenommen hatte.   „Möchtest du mit uns essen?“   Die Frage brachte mich aus dem Konzept. Gerade noch hatte er angeordnet, dass wir uns alle an den Tisch setzen sollten. Und jetzt fragte er mich, ob ich das überhaupt wollte?   Wahrscheinlich weiß er gerade auch nicht, was er jetzt machen soll.   Zögernd setzte ich zu einer Antwort an.   „Ich … ich weiß nicht. Vielleicht … solltet ihr euch erst mal … alleine darüber unterhalten?“   Ich wusste nicht, ob es das Richtige war, was ich da sagte. Ich konnte mir vorstellen, dass meine Eltern diese Zeit brauchten, um sich selbst zu sortieren. Die Nachricht zu verdauen. Gleichzeitig wollte ich nicht, dass sie sich Vorwürfe machten. Vor allem meine Mutter nicht.   „Aber wenn ihr möchtet, komme ich auch gerne zum Essen.“   Ich ahnte zwar, dass ich nicht einen Bissen hinunterbringen würde, aber ich wollte es wenigstens versuchen.   „Nein, ist schon in Ordnung. Geh ruhig, wenn es das ist, was du willst.“   Für einen Moment war ich in Versuchung, meinem Drang zur Flucht nachzugeben. Einfach wie Christopher das Haus zu verlassen, mein Rad zu nehmen und irgendwo draußen in den Wald zu fahren, wo mich niemand finden würde. Gleichzeitig wusste ich jedoch, dass das das Problem nur verschieben würde. Es würde mir die Angst vor diesem Gespräch nicht nehmen und vielleicht sogar noch schlimmer machen, als sie ohnehin schon war. Hin und her gerissen zwischen den Möglichkeiten, war ich nicht in der Lage, eine von ihnen zu wählen.   Mein Vater, der mein Schweigen offenbar falsch gedeutet hatte, wandte sich von mir ab und ging auf die Tür zur Küche zu.   „Ich muss jetzt was essen“ sagte er und ging hinein, ohne sich noch einmal umzusehen. Jetzt rührte sich auch meine Mutter. Mit ein wenig glasigen Augen trat sie auf mich zu.   „Kommst du mit rein?“   Ich merkte, dass da Hoffnung in ihrer Stimme mitschwang. Hoffnung und Angst. Einen Sohn hatte sie schon verloren.Würde dieser Tag sie auch noch den zweiten kosten.   „Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach“, sagte ich deswegen und meine Mutter nickte, bevor sie meinem Vater folgte und mich allein im Flur zurückließ.   Eine Fliege begann plötzlich am Fenster zu brummen. In der Hitze des sonnigen Tages war sie wohl hineingeflogen und hatte den Ausweg nicht mehr gefunden. Man hätte denken können, es wäre Sonntag, so still war es im Haus. Aber das stimmte nicht, denn heute war erst Samstag. Würde ich Benedikt an diesem Wochenende noch einmal treffen?   Ohne lange darüber nachzudenken, zog ich mein Handy aus der Hosentasche und wählte seine Nummer. Es klingelte nur zweimal, bevor er abnahm.   „Hey! Wie ist es gelaufen?“   Ich lächelte leicht, als ich die Aufregung in seiner Stimme vernahm. Anscheinend hatte er zu Hause gesessen und gewartet, dass ich mich meldete.   „Nicht so gut“, begann ich und trat ins Badezimmer, damit mich meine Eltern nicht hören konnten. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich auf den Rand der Badewanne.   „Mein Bruder ist vollkommen ausgerastet. Er hat mir nicht geglaubt.“ „WAS?“   Benedikt schrie mir förmlich ins Ohr.   „Ist nicht dein Ernst. Und deine Eltern?“   Ich atmete einmal tief durch. Im Spiegel konnte ich mich selbst sehen, wie ich hier saß inmitten dieses geschmackvollen Ensembles. Ein wenig verloren und zerzaust, aber immerhin noch am Leben.   „Weiß nicht.“ „Hast du es ihnen nicht gesagt.“ „Doch. Ich musste.“   Als ich das ausgesprochen hatte, fing ich auf einmal an zu grinsen. Es stimmte zwar, dass ich es nicht ganz freiwillig getan hatte. Aber ich hatte es getan. Tatsächlich. Die Katze war aus dem Sack und stand nun laut maunzend mitten im Zimmer. Möglicherweise entschlossen sich meine Eltern, sie vorerst zu ignorieren, aber sie würde sich das nicht lange gefallen lassen. Dazu war sie viel zu glücklich.   „Ich habe es wirklich geschafft“, flüsterte ich, als würde die Realität zerspringen, wenn ich es zu laut aussprach.   „Das ist toll“, antwortete Benedikt. „Ich bin stolz auf dich.“   Ich weiß nicht, warum meine Augen bei diesen Worten anfingen überzuquellen. Möglicherweise war es nur die Anspannung, die endlich von mir wich, wie ein Eispanzer der im Frühling schmilzt und alles mit sich hinfort spült.   „Oh man, Theo, ich wäre jetzt so gerne bei dir“, sagte Benedikt, als er mich schniefen hörte.   Ich atmete tief ein und wischte die Tränen mit dem Handrücken fort. Ich wusste, dass es vermutlich keine gute Idee war, ihn hierher zu bitten. Ich sollte das hier innerhalb der Familie regeln. Meine Eltern hätten das sicherlich gewollt. Aber ich hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, ihn hier an meiner Seite zu haben.   „Ich wäre auch gerne bei dir. Aber ich glaube, ich sollte erst nochmal mit meinen Eltern reden.“ „Schaffst du das denn?“   Ich zuckte mit den Schultern, obwohl ich wusste, dass er das natürlich nicht sehen konnte.   „Ich werde es wohl schaffen müssen. Außerdem: Was hat Leon gesagt? Sie werden mich wohl kaum in so ein Umerziehungscamp stecken. Und wenn sie mich rauswerfen, kann ich bei Jo pennen.“   „Oder bei mir“, bot Benedikt sofort an. Ich lächelte meinem Spiegelbild zu.   „Das klingt gut“, flüsterte ich jetzt wieder. „Aber erst mal … erst mal schaue ich, ob ich überhaupt unter einer Brücke lande.“   „Okay, mach das“, sagte Benedikt. Er zögerte kurz, bevor er anfügte: „Soll ich heute Abend nochmal anrufen?“   „Das wäre toll.“   Wir verabschiedeten uns und legten gleichzeitig auf. Als ich das Handy sinken ließ, war mir, als wäre es kälter im Raum geworden.   Es ist noch nicht vorbei, sagte ich zur mir selbst, bevor ich mich erhob, das kalte Wasser aufdrehte und es so lange über meine Hände und Arme laufen ließ, bis ich kaum noch Gefühl darin hatte. Danach spritzte ich mir ein wenig Wasser ins Gesicht und trocknete es sorgfältig mit einem der weichen Handtücher ab. Als ich meine Brille wieder aufsetzte und in den Spiegel sah, waren meine Wangen und Augen gerötet und die Haare in meinem Pony waren dunkler vom Wasser.   „Dann mal auf in die zweite Runde“ machte ich mir selber Mut, bevor ich mich vom Waschbeckenrand losriss und langsam in Richtung Küche ging.     Die Tür war nur angelehnt und so konnte ich die Stimmen meiner Eltern hören, die sich leise unterhielten. Meine Mutter schien aufgebracht, mein Vater eher ruhig.   „Wie konnten wir das nicht merken?“, sagte sie jetzt gerade wieder und ich hörte, dass sie den Tränen nahe war. „Der arme Junge. Was haben wir nur falsch gemacht?“   Bevor mein Vater antworten konnte, stieß ich die Tür auf.   „Ihr habt gar nichts falsch gemacht“, rief ich und sah, wie meine Eltern zusammenzuckten. „Es ist niemand schuld daran.“   Meine Mutter verzog den Mund zu einer traurigen Grimasse. In der Hand hielt sie ein Taschentuch. Sie hatte offenbar ebenso geweint wie ich. Mein Vater schien äußerlich ruhig, aber in seinem Blick war ein unsicheres Flackern, das ich dort noch nie gesehen hatte. Es beunruhigte mich.   „Setzt du dich zu uns?“, fragte er, da meine Mutter offenbar nicht dazu in der Lage war.   „Wenn ihr das möchtet“, gab ich zurück und trat einen Schritt in den Raum hinein. Ich nahm mir die Zeit, zuerst noch die Tür zu schließen, bevor ich mich zu meinem üblichen Platz bewegte.   Auf dem Tisch stand das Essen in weißen Porzellanschüsseln. Auf einer Platte lag eine Lammkeule, dazu Bohnenpäckchen mit Speck umwickelt und Reis. Die Soße mit der angeschlagenen Sahne war bereits in sich zusammengefallen und bildete einen unansehnlichen Rand an der Wand der Sauciere. Ein Zeichen dafür, dass sie bereits zu kalt gewesen war, als man sie ausgegossen hatte. Zudem war der Teller meiner Mutter noch unberührt. Mein Vater schien der Einzige zu sein, der etwas gegessen hatte.   „Hast du Hunger? Soll ich dir noch was warm machen?“, fragte meine Mutter und wollte schon aufspringen, als mein Vater sie wieder auf ihren Stuhl zurück drückte.   „Wenn, dann esst ihr beide etwas. Und du bleibst sitzen.“   Er erhob sich und verschwand hinter dem Küchentresen, wo er begann, mit großem Getue herum zu werkeln. Meine Mutter runzelte die Stirn, als die Mikrowelle in Betrieb genommen wurde.   „Hoffentlich hat er nicht keinen Teller mit Goldrand genommen“, murmelte sie und sah mich von unten herauf an. „Die Küche ist nicht gerade sein Spezialgebiet.“   „Ich weiß“, sagte ich mit einem müden Lächeln. Insgesamt ermattet ließ ich mich auf meinen Stuhl sinken. Meine Mutter sah hinab auf ihre Hände. Zwischen ihren Fingern hielt sie immer noch das Taschentuch.   „Du weißt es wahrscheinlich nicht mehr, aber einmal mussten wir sogar die Feuerwehr holen, weil er versucht hat zu kochen.“   Ich lachte auf.   „Im Ernst?“ „Ja. Er hat die Pizza mitsamt der Folie in den Ofen geschoben. Und als er das erste Mal eine Paprika aufschnitt, hat er mich mit großen Augen angesehen und ganz verblüfft gesagt: 'Die ist ja hohl.' Ich hab selten so gelacht.“   Auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht ganz verkneifen, obwohl ich die Geschichte schon kannte. Mein Vater war wirklich keine Leuchte, wenn es um hauswirtschaftliche Dinge ging. Er hatte es nie gelernt.   Wie, um uns zu beweisen, dass wir ihn falsch einschätzten, kam mein Vater in diesem Moment mit zwei Tellern zurück. Darauf das Lamm, Bohnen und Reis. Es war eines der Lieblingsessen meines Bruders. Ich hatte ihn darum betrogen.   „So. Und nun esst, bevor es wieder kalt wird“, sagte mein Vater und klang dabei, als habe er meiner Mutter den Text geklaut. Gehorsam griff ich nach dem Besteck.   Wir begannen zu essen. Schweigend. Mein Vater goss sich noch ein Bier ein. Das zweite, wie die bereits leere Flasche auf dem Tresen verriet. So viel trank er sonst mittags nie. Schon gar nicht an einem Samstag.   Das Essen auf meinem Teller war gut; es schmeckte hervorragend. Trotzdem konnte ich die Mahlzeit nicht wirklich genießen. Ich musste immer an das denken, was danach kommen würde.   Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich hob den Kopf und sah meine Eltern geradeheraus an.   „Wollt ihr nicht mal was sagen?“   Mein Vater sah meine Mutter an und dann wieder zurück zu mir.   „Was möchtest du denn, das wir sagen sollen?“   Ich hob ein wenig die Schultern.   „Ich weiß nicht. Aber nicht nichts.“   Meine Mutter führte einen weiteren Bissen zum Mund, während mein Vater sich räusperte.   „Wir … also wir waren schon sehr überrascht darüber. Du sagst, du kennst diesen Benedikt aus der Schule?“   Noch wusste ich nicht, wo die Reise hingehen sollte. Daher entschloss ich mich, erst einmal abzuwarten und ihre Fragen zu beantworten, so gut ich konnte.   „Ja, wir kennen uns seit der siebten. Ihr wisst schon. Als ich sitzengeblieben bin. Da bin ich in seine Klasse gekommen.“ „Und ist er nett?“   Die Frage meiner Mutter klang ziemlich bemüht, aber ich rechnete es ihr hoch an, dass sie versuchte, so zu tun, als wäre alles normal. Als wäre Benedikt nur ein Mädchen, das ich kennengelernt hatte. Ich hob meine Mundwinkel ein Stück.   „Ja, ist er. Sehr. Wenn ihr möchtet, kann ich ihn ja mal einladen. Dann könnt ihr ihn kennenlernen.“   Ich erkannte sofort, dass ich damit einen Schritt zu weit gegangen war. Die Unsicherheit, die meine Eltern so mühsam vor mir zu verbergen versuchten, trat so deutlich zutage, dass ich selbst davor zurückschreckte. Ich hatte meine Eltern nie so erlebt. Sie wussten immer, was zu tun war.   „Wir können aber auch noch warten“, schob ich daher schnell hinterher. „Ich … also … Benedikt ist toll, aber wir können uns auch weiter bei ihm treffen. Seine Mutter hat bestimmt nichts dagegen.“   „Sie weiß davon?“   Auch ohne sie anzusehen konnte ich erkennen, dass meine Mutter verletzt war. Ich versuchte es erneut mit einem Lächeln.   „Na ja, es hat sich so ergeben. Ich habe bei Benedikt übernachtet, nachdem wir zusammen auf dem CSD waren und als sie am nächsten Morgen nach Hause kam …“   „CSD?“, unterbrach meine Mutter mich. Ihre Stirn lag in nachdenklichen Falten. „Was ist das?“   „Der Christopher Street Day. Eine Demonstration für die Rechte Homosexueller. Und eine große Party. Also beides zusammen. Wir waren zu der Parade in Hamburg.“   Wieder sahen sich meine Eltern an. Jetzt, wo ich es erzählte, hörte es sich tatsächlich so an, als hätte ich jahrelang ein geheimes Doppelleben geführt. Das musste ich aufklären.   „Hört zu, ich … ich weiß das alles selbst noch nicht so lange. Als ich am Anfang der Ferien mit Benedikt zusammen in diesem Zeltlager gelandet bin …“ „Er war auch dort?“   Wieder sah mich meine Mutter ungläubig an. Ich nickte.   „Ja, er … er macht Judo, weißt du. Im Verein. Jemand von da hat ihn gefragt und so sind wir uns im Zeltlager über den Weg gelaufen. Ich … ich hab schon eine ganze Zeit Probleme damit. Also damit, diese Gedanken und Gefühle einzuordnen. Durch ihn hab ich endlich erkannt, was dahintersteckt.“   Noch einmal lächelte ich.   „Ich hab mich in ihn verliebt und er sich in mich. Er war somit auch der Grund, warum ich mit Mia Schluss gemacht habe. Ich hoffe, ihr nehmt ihm das nicht übel.“   Jetzt war es mein Vater, der langsam den Kopf schüttelte.   „Nein, warum sollten wir. Für deine Beziehung mit Mia seid nur ihr beide verantwortlich. Dass du dich von ihr trennst, wenn du Gefühle für jemand anderen hast, spricht für dich.“   Ich wollte schon aufatmen, als er hinzusetzte: „Aber bist du dir wirklich sicher, dass es das wert ist? Mia ist ein hübsches und kluges Mädchen. So eine findest du nicht noch einmal.“   Ich wartete darauf, dass dieser Satz meines Vaters die gleichen Gefühle in mir auslöste, wie Christophers Anschuldigung, aber er tat es nicht. Vielmehr fühlte ich mich fast erleichtert, dass er seine Zweifel aussprach und nicht damit hinter dem Berg hielt.   „Ich bin mir sicher, dass Benedikt das wert ist. Mia ist ohne Frage toll, aber … sie ist nicht das, was ich will.“   Mein Vater nickte bedächtig.   „Aber diesen Benedikt. Den willst du?“, hakte er noch einmal nach.   „Mehr als alles andere.“   Ich hörte, wie er tief einatmete.   „Nun ja, dann können deine Mutter und ich wohl nicht viel dagegen tun. Auch wenn ich mir wünschte, dass es anders wäre. Mit dieser Entscheidung wirst du es nicht leicht haben in der Welt. Freundschaften, Studium, Beruf… all das wird um einiges schwieriger werden, als du es dir vielleicht vorstellst.“   „Ich weiß“, sagte ich, obwohl ich es mir vermutlich nicht ansatzweise vorstellen konnte wie schwierig es wirklich sein konnte. Aber selbst wenn ich es gewusst hätte, hätte ich nicht wieder zurückgewollt.   „Aber wo wir gerade dabei sind. Da ist noch etwas, was ich euch sagen möchte. Nein, eigentlich sind es zwei Dinge.“   Meine Eltern blickten sich an und ich sah, dass ihnen Übles schwante. Also redete ich schnell weiter.   „Wie Mama ja schon weiß, war ich beim Arzt wegen meiner Kopfschmerzen und der Tabletten, die ich dagegen genommen habe. Dir habe ich noch nichts davon erzählt, weil ich erst abwarten wollte, wie die Diagnose lautet. Nun, das Gute zuerst: Ich bin organisch vollkommen gesund.“   Noch einmal musste ich meinem Vater Respekt zollen, denn er reagierte auf die Eröffnung, dass er bei dieser Sache offenbar übergangen worden war, ziemlich gelassen. Vielleicht hatte meine Mutter ihn auch schon vorbereitet. Ich wusste es nicht, aber es war jetzt auch egal. Das dicke Ende sollte ja erst noch kommen.   „Die Ärztin hat gesagt, dass die Ursache für meine Kopfschmerzen wahrscheinlich psychischer Natur sind. Ich denke, dass sie damit recht hat. Deswegen möchte ich eine Therapie machen.“   Noch bevor mein Vater zu Ende Luft geholt hatte, um zu antworten, dass das nicht infrage kam, redete ich schnell weiter.   „Und ich will anfangen, Musik zu machen. Also professionell. Ich schreibe schon seit Jahren selber Songs, ich singe und ich bin gut. Deswegen möchte ich gerne versuchen, damit mein Geld zu verdienen.“   Nach dieser Ansprache klappte ich den Mund zu und sah meine Eltern stillschweigend an. Es war nicht zu übersehen, dass ich sie vollkommen überfahren hatte. Mein Vater fing sich als Erster wieder.   „Dann war dieses Lied, das ich letztens gehört habe, von dir?“   Meine Mutter machte ein erstauntes Gesicht.   „Welches Lied?“   Mein Vater zuckte mit den Schultern und wirkte dabei wie ein ertappter Schuljunge.   „Ich war draußen und wollte mir etwas zu trinken holen. Als ich hereinkam, hörte ich jemanden Klavier spielen. Ich wollte schon reingehen, als Theodor zu singen begann. Ich dachte eigentlich, es wäre irgendetwas Bekanntes, aber anscheinend war es das nicht.“   Ich lächelte leicht und schüttelte den Kopf.   „Nein, das war ein Song, den ich für meinen Freund geschrieben habe. Er bedeutet mir sehr viel.“   Ich ließ offen, ob ich das Lied oder Benedikt damit meinte. Ich sah, wie es hinter der Stirn meines Vaters arbeitete.   „Nein“, sagte er schließlich und zog dabei die Augenbrauen ein wenig zusammen.   „Du bist sicherlich gut, das will ich gar nicht bezweifeln, aber bevor du dich vollkommen ins Unglück stürzt, wirst du zuerst eine anständige Ausbildung machen. Dann kannst du dich meinetwegen in der Musikbranche versuchen, aber keinen Tag früher.“   Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.   „Dann unterstützt ihr mich?“   Mein Vater sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.   „Natürlich unterstützen wir dich. Du magst zwar neuerdings nicht mehr ganz so der Sohn sein, den wir zu kennen dachten, aber du bist immer noch unser Kind.“   Obwohl ich wusste, dass es vermutlich bei meinem Vater nicht gut ankam, stiegen mir in diesem Moment die Tränen in die Augen. Er verzog das Gesicht, bevor er aufstand und die Arme ausbreitete. Ich warf mich hinein, wie ich es seit Jahren nicht mehr getan hatte. Mochte sein, dass das hier albern und kindisch war und dass ich darüber stehen sollte, ob meine Eltern zu meinem Leben Ja sagten oder nicht, aber in diesem Moment war ich einfach nur sehr, sehr froh, dass ich sie hatte. Und dass ich sie behalten würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)