Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 36: Kleine Schritte --------------------------- Meine Schritte wurden langsamer, während ich über den sorgfältig geharkten Weg auf die Praxis zuging. Immer noch blühten die Rhododendronbüsche, immer noch sah das Gebäude aus wie ein Schuhkarton. Der Unterschied war, dass ich dieses Mal wusste, was mich dort drinnen erwartete. Es war vielleicht eine Lösung für meine Probleme. Oder wenigstens ein Ansatzpunkt dafür. Doch vor diesem Punkt lag noch eine Hürde. Das Gespräch mit der Ärztin. In dem ich dieses Mal wirklich ehrlich sein musste, wenn ich wollte, dass es funktionierte.   Aber ich will das. Ich würde zwar am liebsten rennen, was das Zeug hält, umso schnell wie möglich von hier wegzukommen, aber ich werde trotzdem da reingehen. Weil ich das haben will, was ich dadurch bekommen kann. Ich will mein Leben zurück.   Bei diesem Gedanken konnte ich Benedikts Stimme in meinem Ohr hören.     „Hey Theo“, flüsterte sie mir zu. „Du musst aufstehen. Wir sind eingepennt.“   „Nur noch fünf Minuten“, murmelte ich und rückte näher an den warmen Körper neben mir heran. Ich wollte hier noch nicht weg. „Meine Mutter ist wieder da. Sie kann jeden Moment reinkommen.“   „Du brauchst einen Schlüssel für deine Tür“, murrte ich und zog die Bettdecke ein Stück nach oben. Nur für alle Fälle. Benedikt lachte.   „Ich hätte abgeschlossen, wenn du nicht quasi auf mir geschlafen hättest. Ich wollte dich nicht wecken.“   Jetzt hob ich doch den Kopf. Er sah so zerzaust aus, wie ich mich fühlte. Auf eine gute, vertraute Weise. Allerdings waren meine Augen vermutlich kleiner als seine. Verschlafener. Ich war total weg gewesen. „Ich will nicht nach Hause“. „Dann bleib.“   Ich seufzte.   „Geht nicht. Ich will nicht, dass meine Eltern misstrauisch werden. Außerdem würde meine Mutter darauf bestehen, dass ich dich auch mal einlade, wenn ich schon wieder zum Essen bleibe.“ „Und das willst du nicht?“   Ich überlegte. Das war eine dieser Fragen, auf die man nur eine falsche Antwort geben konnte. Trotzdem musste ich etwas sagen. „Also eigentlich hatte ich ja vor, dich mal einzuladen. Ganz inkognito sozusagen. Aber nachdem ich darüber nachgedacht habe, möchte ich dich nicht mehr einfach so einladen. Ich möchte, dass meine Eltern wissen, was Sache ist, wenn du zu mir kommst. Doch dazu …“   Ich sprach nicht weiter. Er wusste, worum es ging. Dementsprechend bestand seine Antwort aus einem Lächeln. „Verstehe“, sagte er. „Dann treffen wir uns weiter hier. Und in der Schule. Ist doch okay.“   Ich wusste ebenso gut wie er, dass es das nicht war. Dass da keine Grenze sein sollte, die wir einhalten mussten. Trotzdem gab es sie und bisher waren nicht einmal Grenzverhandlungen aufgenommen worden. Das hing alles an mir.   „Bald“, versprach ich ihm und er lächelte, als wäre ihm das egal. So wie er gesagt hatte. Aber das war es nicht und ich wusste es. Ich wusste, was es ihm bedeutete, endlich offiziell mit mir zusammensein zu können. Es nicht mehr verheimlichen zu müssen. Vor niemandem. Wann würde es so weit sein?   „Kann ich mir die Sachen ausborgen?“   Ich wies auf den Haufen seiner Klamotten, die am Boden lagen. „Klar. Ich kann dich ja schlecht nackt nach Hause fahren lassen.“ „Nicht?“   Ich tat erstaunt und er ging grinsend auf das Spiel ein. Die Bettdecke büßte ihren Platz auf unseren Körpern ein und ein hastig herumgedrehter Schlüssel sicherte uns gegen unangenehme Überraschungen. Aber es war nur ein Aufschub gewesen. Eine kurze, wenn auch heftige Ekstase, bevor ich endgültig hatte aufbrechen müssen. Ich war mit schwerem Herzen und schwerem Kopf gefahren. Schwer von all den Dingen, über die ich nachdenken musste. Entscheidungen, die getroffen werden mussten. Eine gewaltige Aufgabe, die mich dazu gebracht hatte, mehr als die Hälfte meines Wochenendes vor dem Computer zu verbringen. Zu lesen. Geschichten von fremden Leuten, die anders waren als meine und ihr doch glichen. Wir alle waren irgendwo auf dem Weg gestrauchelt und nicht wieder auf die Füße gekommen. Einige versuchten noch, das Problem allein in den Griff zu kriegen, andere hatten sich eingestanden, dass sie das nicht hinkriegten, und sich Hilfe gesucht. Professionelle Hilfe. Von Leuten, die sich damit auskannten. Einer von ihnen schrieb dazu: „Klar habe ich meine Freunde, mit denen ich reden kann. Aber es ist nicht das Gleiche. Weil sie einfach zu nah dran sind. Bei einem Therapeuten ist das anders. Da brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du ihm mit deinem ganzen Scheiß kommst. Schließlich ist es sein Job, dir zuzuhören.“   Natürlich gab es auch negative Stimmen. Berichte von inkompetenten Ärzten oder Kliniken, in denen die Leute mit sinnlosen Maßnahmen einfach nur beschäftigt worden waren, ohne wirklich eine Wirkung zu verspüren. Einer sprach sich sogar recht vehement gegen solche Maßnahmen aus, bekam aber viel Kontra von denen, die eine Therapie für sinnvoll hielten. „Vor allem aber muss das ein Arzt vor Ort entscheiden und nicht irgendeine Horde Fremder aus dem Internet“, hatte unter einem seiner Beiträge gestanden. „Wir sind hier alle nicht ausgebildet. Also geh zu einem Fachmann und lass dich da beraten.“   Dieser Post war nicht an mich gerichtet gewesen, aber ich hatte ihn mir trotzdem zu Herzen genommen. Deswegen stand ich jetzt hier vor dem Empfangstresen von Dr. Anders und sah mich der Sprechstundenhilfe gegenüber, die mich erstaunt anblinzelte. „Herr von Hohenstein? Ich habe Sie für heute gar nicht in meinem Kalender.“ „Ja, ich … ich dachte, ich kann vielleicht ohne Termin … ?“   Die junge Frau krauste ein wenig die Nase. „Eigentlich ja nur in dringenden Notfällen, aber ich will mal nicht so sein. Das nächste Mal rufen Sie bitte wieder vorher an, ja?“ „Ja. Natürlich.“   Ich sagte ihr nicht, dass ich nicht angerufen hatte, weil ich mir nicht sicher gewesen war, ob ich in ein paar Tagen noch den Mut aufgebracht hätte zu kommen. Deswegen hatte ich Benedikt auch nichts davon gesagt. Ich hatte mich lediglich nach der vierten Stunde bei meinen Lehrern entschuldigen lassen und war dann gefahren.   Das Wartezimmer war wie immer voll, daher setzte ich mich auf einen freien Stuhl und spielte irgendein sinnloses Spiel auf meinem Handy, bis ich an der Reihe war. Es dauerte noch länger als beim ersten Mal und die reguläre Sprechstunde war längst vorbei, als die Sprechstundenhilfe mich endlich aufrief. Ich war der letzte Patient und in der Praxis herrschte bereits dösige Mittagsruhe. „Frau Doktor kommt dann gleich“, sagte die junge Frau und kehrte anschließend zu ihrem Tresen zurück, hinter dem ein halb aufgegessener Salat auf sie wartete. Mein Magen knurrte, während ich wieder in dem Sprechzimmer mit dem Gummibaum saß. Ich hatte noch nichts gegessen und auch nicht daran gedacht, mir etwas mitzubringen. Das flaue Gefühl in meinem Inneren rührte jedoch nicht nur vom Hunger her und es wurde noch schlimmer, als sich die Tür zum anderen Sprechzimmer endlich öffnete. „Herr von Hohenstein“, begrüßte Dr. Anders mich. Sie marschierte durch den Raum zu ihrem Schreibtischstuhl, ließ sich darauf nieder, faltete die Hände auf dem Tisch vor sich und blickte mich abwartend an. „Was kann ich für Sie tun?“ „Ich … ich bin hier, weil ich vielleicht doch eine Therapie brauche. Ich wollte mich deswegen gerne beraten lassen.“   Sie nickte leicht, während sie ihren Computer zum Leben erweckte und meine Krankenakte aufrief. Ich sah es daran, dass mein Name oben auf der virtuellen Karteikarte stand. Sie klickte ein paar Mal auf der Tastatur herum, bevor sie wieder mir zuwandte. Ihr Oberteil unter dem Kittel war heute taubenblau. „Wenn Sie hierbleiben wollen, wäre es vielleicht gut, wenn ich ein bisschen genauer wüsste, worum es geht. Dass Sie Kopfschmerzen haben und schlecht schlafen, sagten Sie ja bereits. Noch irgendwelche Symptome, von denen ich wissen sollte?“   „Ich … ich weiß nicht so recht, wie ich das beschreiben soll“, antwortete ich und vermied es sie anzusehen. Sie beobachtete mich, ohne dabei angespannt zu wirken. Ich räusperte mich. „Ich … ich komme manchmal einfach mit Dingen nicht klar. Eigentlich ganz banale Situationen, aber ich bin davon von jetzt auf gleich vollkommen überfordert. Alles ist nur noch anstrengend und mühselig. Selbst Dinge, die ich eigentlich mag. Außerdem hatten Sie ja nach Stress gefragt, und … also davon hab ich im Moment eine ganze Menge. Ich hab gerade mit meiner Freundin Schluss gemacht, mich mit meinem besten Freund verkracht, weiß nicht, wie meine berufliche Zukunft aussehen soll, und … und manchmal frage ich mich, ob mein Leben überhaupt noch einen Sinn hat.“   Ich stoppte mich, als ich begriff, was gerade alles aus mir herausgesprudelt war. Schuldbewusst sah ich die Ärztin an. „Das wollen Sie bestimmt alles gar nicht hören.“   „Wenn Sie es mir erzählen wollen, will ich es hören“, antwortete sie und lächelte leicht. Ich sah wieder nach unten auf meine Knie. Das hier war doch schwerer, als ich gedacht hatte. Meine Hände schwitzten und ich überlegte, wie ich sie wohl unauffällig an meiner Hose abwischen konnte, aber da Dr. Anders die Bewegung bestimmt bemerkt hätte, ließ ich es bleiben. „Haben Sie denn jemanden, mit dem sie darüber sprechen können? Ihre Eltern vielleicht?“   Ich schüttelte leicht den Kopf. „Die wissen von all dem nichts.“ „Und warum nicht?“ „Weil … weil ich außerdem seit neuestem einen Freund habe. Einen festen Freund.“   Wieder schielte ich zu der Ärztin nach oben. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Reaktion. Noch bevor ich zu Ende entschieden hatte, ob das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, sagte sie: „Ich nehme an, dass Ihre Eltern von diesem Freund auch nichts wissen.“ „Nein.“ „Mhm.“   Sie lehnte sich jetzt ein wenig in ihrem Stuhl zurück.   „Ich kann mir vorstellen, dass Ihr Weg bis zu diesem Punkt ziemlich schwer war. Aus diesem Grund häufen sich vermutlich auch Ihre Anfälle. Ihre Reserven sind aufgebraucht und Ihr Serotoninhaushalt ist vollkommen aus dem Gleichgewicht. Je nach Schwere der Störung wäre zu überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, hier medikamentös einzugreifen. “   Jetzt hob ich den Kopf. Damit, irgendwelche Pillen schlucken zu müssen, hatte ich nicht gerechnet. Ich war doch gerade hier, weil ich damit aufhören wollte. Dr. Anders hob fragend die Augenbrauen. „Sie sehen nicht sehr begeistert aus.“   Ich biss mir auf die Lippe und sah erneut zu Boden.   „Wissen Sie, ich … ich hab wegen der Kopfschmerzen schon eine Menge Tabletten geschluckt. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn ich jetzt wieder damit anfangen würde. Außerdem … was wären denn das für Medikamente?“   „Das hängt von der Schwere Ihrer Erkrankung ab. Es gibt zum Beispiel Präparate, die stimmungsaufhellend und gleichzeitig beruhigend wirken. Über so ein Medikament, wäre es möglich, Ihren Nachtschlaf zu stabilisieren. Auch die Übelkeit und das Schwindelgefühl sollten darüber in den Griff zu kriegen sein.“   „Ich glaube nicht, dass das notwendig ist“, sagte ich schnell. „Es ist ja nicht so akut.“   Dr. Anders lächelte verschmitzt.   „Nun, offenbar akut genug, dass Sie nicht noch einmal vorher anrufen konnten.“   Der Ton, in dem sie das sagte, machte deutlich, dass es ein Scherz sein sollte. Trotzdem entschuldigte ich mich. „Ich hatte Angst, dass ich sonst doch noch kneifen würde.“   Dr. Anders nickte verstehend.   „Den größten Schritt haben Sie bereits gemacht. Sie haben sich eingestanden, dass Sie Hilfe brauchen. Das ist gut und wir werden sicher eine Lösung finden, die zu Ihnen passt. Ich für meinen Teil würde eine Gesprächs- oder Verhaltenstherapie für sinnvoll erachten. Das sollte Ihnen jedoch der entsprechende Therapeut besser beantworten können.“   Ich atmete innerlich ein wenig auf. Sie hatte ja gesagt, dass ich einen Spezialisten brauchte. Allerdings klang „Therapeut“ etwas freundlicher als „Psychiater“. Weniger nach Irrenarzt.   „Und wie komme ich zu einem Therapeuten?“, fragte ich zögernd.   „Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sie wenden sich entweder direkt an eine Praxis Ihrer Wahl oder ich schreibe Ihnen eine Überweisung. In sogenannten probatorischen Sitzungen, die noch nicht zur Behandlung gehören, können Sie und der Therapeut ausloten, ob die Chemie zwischen Ihnen stimmt. Ist das der Fall, wird ein Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt. Sie sind privat versichert, nicht wahr?“ „Ja, über meine Eltern.“ „Dann sollten Sie in Erfahrung bringen, welche Maßnahmen über Ihre Krankenkasse abgerechnet werden können. Nicht, dass Sie nachher auf der Rechnung sitzenbleiben. Die meisten privaten Krankenversicherungen genehmigen jedoch ein gewisses Stundenkontingent ohne einen speziellen Antrag.“ „Aber ich würde meine Eltern darüber unterrichten müssen, nicht wahr?“ „Wenn Sie die Abrechnung über sie laufen lassen wollen, wird sich das nicht vermeiden lassen.“   Ich schwieg, während ich das Gesagte verarbeitete. Natürlich. Der Therapeut verdiente sein Geld mit den Therapiestunden und das musste irgendwo herkommen. Aus reiner Nächstenliebe half mir niemand. „Es gäbe natürlich noch die Möglichkeit, dass Sie sich gesetzlich krankenversichern.“ „Wie das?“ „Sie müssten eine Arbeitsstelle annehmen.“   Ich lachte auf. „Wie stellen Sie sich das vor? Ich gehe noch zur Schule. Soll ich die jetzt abbrechen und mir stattdessen einen Job suchen?“   Dr. Anders schüttelte lächelnd den Kopf.   „Das wird nicht notwendig sein. Eine Nebentätigkeit wäre ausreichend. Wichtig wäre nur, dass Ihr Verdienst über der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Ist das der Fall, werden Sie versicherungspflichtig und könnten eine Behandlung unabhängig von Ihren Eltern anstreben. Da Sie volljährig sind, benötigen Sie auch keinerlei Einverständniserklärung. Sie sind gesetzlich mündig, entsprechende Verträge einzugehen.“   Ich schluckte. Das war eine Menge Information, aber im Grunde lief es darauf hinaus, dass ich mich sehr würde anstrengen müssen, wenn ich verhindern wollte, dass meine Eltern etwas von der Therapie erfuhren. Ich würde Holger fragen müssen, ob ich mehr Schichten übernehmen konnte, und spätestens mit meinem Ausscheiden aus ihrer Versicherung, würden meine Eltern doch davon Wind bekommen. Es würde also eine weitere Lüge erfordern, um sie zu befrieden. Eine, deren Erfolg sehr infrage stand. Immerhin riskierte man ja nicht unbedingt freiwillig einen besseren Versicherungsschutz. „Alternativ könnten Sie natürlich zunächst einmal eine karitative Beratungsstelle kontaktieren. Das Deutsche Rote Kreuz und ähnliche Einrichtungen bieten psychologische Hilfe in der Regel kostenfrei an. Es gibt dort offene Sprechstunden, in die Sie gehen können. Das würde ich Ihnen ohnehin raten, denn bei guten Therapeuten gibt es oft eine lange Warteliste.“   Ich blickte auf und sah, dass Dr. Anders mich immer noch mit diesem warmen Gesichtsausdruck musterte. Sie meinte es wirklich gut. „Danke“, sagte ich aus einem Gefühl heraus. „Dass Sie mir so viel helfen. Ich … ich weiß das wirklich zu schätzen.“   „Keine Ursache“, gab sie zurück und ihr Lächeln wurde breiter. „Sie sind immerhin mein Patient und ich habe eine Eid geschworen, der mich verpflichtet, Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen zu helfen. Es gibt übrigens auch noch die Möglichkeit, sich an ein Jugendzentrum zu wenden. Auch dort kann man Ihnen sicherlich bezüglich Ihres Problems weiterhelfen.“   Ich legte die Stirn in Falten. „Sagten Sie nicht gerade, dass ich rechtlich gesehen ein Erwachsener bin?“   Sie lächelte wieder. „Das schon. Vor dem Gesetzt sind Sie volljährig, aber Ihre Lebensumstände unterscheiden sich ja nicht unbedingt von denen eines, sagen wir mal, zwei Jahre jüngeren Menschen. Sie leben noch bei Ihren Eltern, haben keine abgeschlossene Berufsausbildung, sind finanziell abhängig. Sollten Sie daran etwas ändern wollen, könnte eine Jugendeinrichtung Sie auf Ihrem Weg unterstützen. Dort weiß man sicherlich auch, wie es um Unterhaltspflichten bestellt ist und was passiert, wenn Sie diesbezüglich rechtliche Schritte einleiten müssen. “   „Äh, ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird“, versicherte ich schnell. Die Ärztin schien zu glauben, dass das Verhältnis zwischen mir und meinen Eltern vollkommen zerrüttet war. Das war es nicht. Es war nur … kompliziert.   „Ich … es ist halt so, dass ich ihnen von all dem hier noch nichts gesagt habe. Weder von dem Befund, noch von meinem Freund noch von sonst irgendwas. Wir sind nicht verstritten oder so. Nur … “   Ich konnte es nicht in Worte fassen. Ich wusste ja selbst nicht, warum ich es meinen Eltern nicht einfach sagte. Sie würden mich deswegen nicht rausschmeißen. Und selbst wenn, hatte Dr. Anders ja gerade gesagt, dass es da Möglichkeiten gab. Möglichkeiten, mein Leben auf die Reihe zu kriegen, auch ohne meine Eltern. Aber … das wollte ich ja gar nicht. Ich wollte doch nur, dass sie …   Ich spürte ein Kribbeln in meiner Nase und meine Augen begannen verräterisch zu brennen. Nein! Ich würde jetzt bestimmt nicht in Tränen ausbrechen. Mitten in dieser Arztpraxis vor dieser fremden Frau. Was sollte sie denn von mir denken? Ich musste mich zusammenreißen.   Um die Fassung wiederzubekommen, holte ich tief Luft, setzte mich gerade hin und räusperte mich. Langsam, sehr langsam, ging das beklemmende Gefühl in meiner Brust zurück und ich konnte wieder freier atmen.   „Sie müssen das wirklich nicht überstürzen.“, sagte Dr. Anders und tat so, als hätte sie meinen peinlichen Anfall nicht bemerkt. „Gehen Sie ruhig noch einmal in sich und fragen Sie sich, wo Ihre Prioritäten im Moment liegen. Vielleicht würde es auch helfen, wenn Sie ein paar Entspannungstechniken lernen. Mentales Selfcoaching sozusagen. Wenn Ihnen so etwas wie Yoga nicht zusagt, gibt es auch noch andere Methoden, sich körperlich und geistig runterzufahren. Ich denke da an Autogenes Training oder Atemtechniken, die Sie relativ leicht erlernen können. Darüber hinaus sollten Sie sich aber wirklich noch einmal überlegen, ob Sie eine medikamentöse Behandlung Ihrer Depression nicht doch in Betracht ziehen.“   Der letzte Satz brachte mich dazu aufzusehen. „Depression? Ist das meine Diagnose?“   Dr. Anders verzog den Mund zu einem schmalen Lächeln.   „Von meinem Standpunkt sieht es ganz danach aus. Wie gesagt, es wäre vielleicht gut, wenn Sie diesbezüglich noch einmal einen Facharzt kontaktieren, aber es spricht auch nichts dagegen, zunächst einmal einen Termin bei einem Therapeuten zu machen und sich dort eine erste Einschätzung zu holen. Ein guter Therapeut wird Ihnen sagen, wenn er sich keine Heilungschancen bei Ihnen verspricht.“ „Und ein schlechter?“   Sie lachte. „Der wird Sie dreimal die Woche zu sich einladen, ohne dass Sie dadurch eine Besserung erfahren. Aber so weit wird es ja hoffentlich nicht kommen.“   Ich lachte ebenfalls, wenngleich auch eher aus Höflichkeit. Die Frage, wie ich denn erkennen sollte, ob ich einen guten oder einen schlechten Therapeuten vor mir hatte, drängte sich mir auf. Vielleicht fand sich ja dazu auch etwas im Internet.   Dr. Anders lehnte sich ein wenig auf ihren Tisch vor und sah mich aufmerksam an. „Wichtig ist auf jeden Fall, dass Sie verstehen, dass es vollkommen in Ordnung ist, wenn Sie sich die Zeit für sich nehmen. Und es ist auch nichts Verwerfliches daran, sich dabei unter die Arme greifen zu lassen. Eine Depression ist eine schwerwiegende Krankheit, die oft mit einem gewissen Ohnmachtsgefühl einhergeht. Aber sie sind nicht ohnmächtig. Sie können lernen, besser damit umzugehen. Sie müssen nicht die Krankheit über Ihr Leben bestimmen lassen, auch wenn Ihnen das vielleicht momentan so vorkommt. Es ist schwierig, keine Frage, aber ich glaube, dass Sie in der Lage sind, das hinzukriegen. Und wir helfen Ihnen dabei. Sie sind nicht allein.“   Ich sah sie an und dann wieder zu Boden. „Sie hören sich ein bisschen an wie mein Freund“, sagte ich leise.   Ich hörte sie lächeln.   „Dann würde ich sagen, dass er ein vernünftiger, junger Mann ist. Hören Sie auf ihn, aber hören Sie vor allem auf Ihr Bauchgefühl. Sie sind hierhergekommen, weil Sie etwas ändern wollen. Das war der erste Schritt, aber es wird nicht von heute auf Morgen passieren. Eine Heilung braucht Zeit. Viel Zeit. Manchmal ein ganzes Leben lang. Das heißt jedoch nicht, dass man es nicht trotzdem genießen kann. Sie sind depressiv, nicht tot. Und so lange das so ist, können Sie auch immer noch etwas erreichen.“   Sie zögerte kurz, bevor sie fragte: „Oder haben Sie die Absicht, Ihr Leben in nächster Zeit zu beenden?“   Ich schüttelte den Kopf und sah mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen auf. „Nein, das habe ich nicht. Ich … ich bin nicht so weit, dass ich sterben möchte. Nur das Leben ist manchmal ein bisschen zu schwierig für mich.“ Sie lächelte und um ihre Augen herum erschienen wieder eine Menge Falten. Lachfalten offenbar. Wie bei meiner Mutter. „Dann sorgen wir dafür, dass Ihnen das Leben in Zukunft ein bisschen weniger schwerfällt.“   Mit diesen Worten erhob sie sich und auch ich stand auf, denn meine Sitzung war offenbar beendet. „Passen Sie auf sich auf“, sagte Dr. Anders noch zum Abschied, nachdem sie mich zur Tür begleitet hatte. „Und gute Besserung erst einmal für Ihre Beschwerden. Sollten Sie weiterhin so unruhige Nächte haben, zögern Sie nicht noch einmal herzukommen. Es besteht wirklich kein Grund, so große Angst vor den Medikamenten zu haben.“   „Danke, das werde ich tun“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich keine Pillen schlucken würde. Es fühlte sich nicht richtig an, das zu tun. Wie Schummeln.   Es gibt keinen Preis dafür, sich das Leben möglichst schwer zu machen, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte das in dem Internetforum gelesen. Der Post war mir vor allem deswegen im Gedächtnis geblieben, weil der entsprechende User auch noch einen anderen Spruch in seiner Signatur gehabt hatte.   There is no way to live a perfect life, but a million ways to live a good one,   Ich wusste nicht, ob ich diese Gelassenheit jemals erreichen konnte. Ob ich diese innere Zufriedenheit und Ausgeglichenheit jemals spüren würde und allein der Gedanken daran, es zu versuchen, ließ mich schon fast wieder den Mut verlieren. Aber unsinnigerweise war das okay. Benedikt hatte es gesagt und die Ärztin ebenfalls. Etwas nicht zu können war okay. Hinzufallen war okay. Man durfte nur nicht vergessen, wieder aufzustehen. Und man konnte um Hilfe bitten, wenn man es nicht allein hinbekam.   Als ich draußen vor der Praxistür stand, schien mir die Mittagssonne mitten ins Gesicht. Sie ließ mich blinzeln und ich spürte förmlich, wie sich kleine Schweißtropfen auf meiner Stirn bildeten. Die Luft war nach den Regenschauern vom Wochenende wieder knallig heiß geworden und vermutlich quollen alle Schwimmbäder über vor Menschen.   Ich war diesen Sommer noch gar nicht baden, fiel mir auf, wenn man mal vom Zeltlager absah. Dabei liebte ich Schwimmen. Ich hatte sogar mal mit Mia zusammen einen kleinen Surfkurs gemacht und mich dabei gar nicht mal so dumm angestellt. Es wäre schön, noch einmal so einen Kurs zu machen. Vielleicht mit Benedikt.   Aber vorher musst du erst noch das mit der Therapie auf die Reihe kriegen.   Ich wusste, was das hieß. Ich würde es meinen Eltern sagen müssen und wenn ich schon einmal dabei war, würde ich ihnen auch von Benedikt erzählen. Es war besser, wenn sie wussten, woran sie waren. Und vielleicht hatte Benedikt ja recht und ich war tatsächlich erleichtert, es endlich hinter mir zu haben. Egal wie sie reagierten.   Am besten rede ich erst mal mit Christopher. Sozusagen als Generalprobe. Wenn er es versteht, kann er mir vielleicht bei dem Gespräch mit Mama und Papa beistehen. Und wenn nicht …   Darüber würde ich mir erst Gedanken machen, wenn es so weit war. Ich verbot mir einfach, an die zweite Möglichkeit zu denken, und versuchte, mich auf die erste zu fokussieren. Es klappte nicht besonders gut, sodass ich schließlich mein Handy herausholte und meinem Bruder eine Nachricht schrieb, in der ich ihm ankündigte, dass ich am Wochenende mit ihm reden musste. Danach löschte ich die Nachricht nur für mich, um nicht in Versuchung zu kommen, sie zurückzuziehen.   Schwer atmend, als hätte ich gerade einen schweren Stein einen Riesenberg hinaufgerollt, lehnte ich mich zurück und schaute ins tiefe Himmelblau. Es war wirklich ein wunderschöner Tag und genau richtig, um etwas zu unternehmen.   Vielleicht sollte ich …   Mein Handy unterbrach meine Überlegungen, ob ich den Nachmittag mit Leon, Phillip und eventuell sogar Benedikt irgendwo an einem Gewässer verbringen sollte, indem es laut und vernehmlich den Empfang einer Nachricht verkündete. Ich entsperrte den Bildschirm in der Annahme, dass sie von Christopher war, aber ich hatte mich geirrt. Die Nachricht war nicht von meinem Bruder. Sie war von Jo. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)