Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 35: Einfach schwimmen ----------------------------- „Brauchst du noch irgendwas?“   Benedikt stand vor mir und sah mich fragend an. Ich saß mit angewinkelten Beinen auf seinem Bett. Um meine Schultern lag ein Handtuch und der Rest von mir steckte in trockenen Klamotten, die wir seinem Kleiderschrank entliehen hatten.   „Nein, alles okay“, sagte ich und so fühlte es sich auch an. Wie ein Regenschauer, der vorbeigegangen war. Ich hatte es auf die andere Seite des Flusses geschafft. Nun stand ich am Ufer und fragte mich, warum ich mich eigentlich so angestellt hatte.   Warum hab ich nicht einfach die Klappe gehalten? Es sind meine Probleme, nicht seine. Ich muss allein damit fertig werden.   „Gut, dann …“   Benedikt blies die Backen auf und fuhr sich durch die feuchten Haare, bevor er sich kurzerhand zu mir aufs Bett setzte. Auch er hatte sich umgezogen und trug jetzt T-Shirt und Jogginghose.   „Willst du mir nun erzählen, was los ist?“   Natürlich musste er diese Frage stellen. Aber sollte ich das wirklich tun? Ich hatte mir vorgenommen, ehrlich zu ihm zu sein. Er verdiente, dass ich das war. Aber würde ich ihn damit nicht nur belasten? Andererseits war es für Bedenken dieser Art inzwischen ohnehin viel zu spät. Wenn ich jetzt nichts sagte, würde er sich nur Sorgen machen. Also musste ich versuchen, es ihm zu erklären. Irgendwie.   Mein Blick fiel auf die Bettdecke, auf der ich saß. Es war immer noch die gleiche Bettwäsche wie am Wochenende. Farbkleckse in verschiedenen Blautönen, die eine Art Fischgrätmuster bildeten. Es gab meinen Augen etwas zu tun, während ich mich daran machte, das Unerklärbare in Worte zu fassen.   „Also erst mal möchte ich, dass du weißt, dass es mir gut geht. Na ja, nicht gut, aber … ich hab nicht vor, mir was anzutun oder so. Ich hab auch nicht wirklich drüber nachgedacht. Es ist nur …“   Ich unterbrach mich und suchte nach Worten. Wie sollte ich ihm diese Gelähmtheit erklären? Das Gefühl, das alles, was man tat, am Ende vollkommen bedeutungslos war. Das ich kämpfte und kämpfte und doch immer nur noch schneller zu versinken schien. Sinken …   „Es … es fühlt sich an, als wäre man ein Passagier auf der Titanic. Natürlich unternimmst du alles, um nicht im eiskalten Wasser zu landen. Aber es ist, als würdest du versuchen, diesen verdammten Eisberg mit bloßen Händen wegzuschieben. Du weißt, das er am Ende gewinnen wird. Trotzdem machst du weiter und weiter in der Hoffnung, dass doch noch alles gut ausgeht. Aber mit jedem Atemzug, mit jeder Schwimmbewegung, kriecht die Kälte weiter in deine Knochen und du fragst dich, ob es nicht besser wäre aufzugeben. Einfach loszulassen und zu versinken. Um die Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen. Um endlich Ruhe zu haben.“   Nachdem ich geendet hatte, herrschte Schweigen. Es war hereingeschlichen wie ein kalter Lufthauch, weil irgendwer ein Fenster offen gelassen hatte. Ich fröstelte. Benedikt hatte es ebenfalls die Sprache verschlagen. Er kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.   „Weißt du …“, sagte er plötzlich und schreckte mich damit aus meinen Gedanken hoch, „ich hab mal ein Video gesehen. Darin hieß es, dass Rose und Jack am Ende von 'Titanic' beide hätten überleben können.“   Ich blinzelte und er grinste ein bisschen.   „Du weißt schon. Der Film mit Leonardo DiCaprio über die Titanic. Rose wird am Ende gerettet, weil sie auf einer Holztür liegt, während er neben ihr erfriert, weil er nicht aus dem Wasser rauskommt. Anfangs hatten sie mal probiert, beide auf die Tür zu kommen, es dann aber gelassen, damit sie nicht untergeht. Die Leute in dem Video haben ausprobiert, dass es aber gegangen wäre, wenn sie Jacks Schwimmweste unter die Tür gebunden hätten. Wegen des Auftriebs, verstehst du.“   Ich wusste nicht, ob das ein Scherz sein sollte, aber – so bescheuert er auch war – mir gefiel der Gedanke. Ich versuchte ein Lächeln.   „Tja, nur hatte Jack leider keine Ahnung von Physik.“   Benedikt lachte leise.   „Dann ist es ja gut, dass du einen Freund hast, der Physik-Leistungskurs hat.“   Er rückte näher und legte den Kopf auf meine Schulter.   „Was du mir da erzählt hast, hört sich echt anstrengend an. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, so durch den Tag zu gehen. Aber … wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann werde ich es tun. Versprochen.“   Ich lehnte meinen Kopf gegen seinen.   „Danke. Aber ich weiß eigentlich auch nicht genau, was ich brauche.“ „Mhm.“   Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: „Und wenn du nochmal mit der Ärztin redest? Vielleicht weiß sie, was zu tun ist.“   Ich atmete tief ein. Der Vorschlag war sicherlich klug, aber …   „Sie hat gesagt, dass ich eine Therapie machen sollte. Du weißt schon. Beim Psychiater auf die Couch und so. Mal alles rauslassen, was mir so durch den Kopf geht.“   Benedikt zögerte kurz, bevor er antwortete.   „Und du willst das nicht?“   Ich verzog das Gesicht. Natürlich wollte ich das nicht. Ich war doch nicht verrückt. Oder doch?   „Ich weiß nicht. Es fühlt sich komisch an, zu sagen 'Ich brauch eine Therapie'. Ich bin doch nicht krank.“ „Und was ist mit den Kopfschmerzen?“   Ich stutzte, als mir auffiel, dass er recht hatte. Ich hatte nicht einfach nur ein paar psychische Probleme. Ich war nicht nur ein bisschen zu dumm, um mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich hatte körperliche Symptome. Ich hatte Schmerzen. Das musste doch ausreichen, um eine Behandlung zu rechtfertigen.   „Und wie sage ich das meinen Eltern?“   Die Frage war so leise, dass es mir fast vorkam, als hätte ich sie nur gedacht. Offenbar hatte ich sie jedoch ausgesprochen, denn Benedikt hob jetzt den Kopf und sah mich an.   „Das ist ein Problem, oder?“   Ich nickte und sah nach unten. Wenn ich ihnen erzählte, dass ich eine Therapie bräuchte, würden sie wissen wollen, wieso. Sie würden auch das mit mir und Benedikt erfahren. Erfahren müssen. Es machte mir Angst.   „Was denkst du, wie sie reagieren werden?“   Fast hätte ich gelacht. Das war eines meiner liebsten Gedankenspielchen. Eines von vielen, die ich ganz mit mir allein spielte. Gefangen in meinem eigenen Kopf, in dem das Wasser immer höher stieg.   „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht genau. Ich denke fast, dass meine Mutter damit klarkäme. Obwohl das sicherlich nicht so das ist, was sie sich für mich erhofft hat. Ich denke, sie würde sich Sorgen machen. Dass ich unglücklich werde oder einsam mein Leben verbringe oder mich mit irgendwas anstecke.“ „Und dein Vater?“   Ich atmete noch einmal tief durch. Das war die schwierigere Frage und ich hatte immer noch keine Antwort darauf gefunden.   „Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung, wie er über Homosexualität denkt. Das Thema kam einfach nie auf den Tisch. Es ist jetzt nicht so, dass meine Familie besonders religiös wäre. Aber es war immer klar, dass zu einer Familie Vater, Mutter, Kind gehören. Oder halt zwei Kinder, so wie bei uns. Über etwas anderes wurde nie gesprochen.“   Benedikt nickte verstehend.   „Und was ist mit deinem Bruder?“   Ich senkte wieder den Blick.   „Ich weiß es nicht“, sagte ich jetzt schon zum dritten Mal. „Ich … wir hatten früher ein gutes Verhältnis. So gut es eben sein kann, wenn sich der kleine immer an den großen Bruder dranhängt. Ich war jedes Mal so stolz, wenn ich mit ihm und seinen Freunden losziehen durfte. Aber mit der Zeit wurde das anders. Ich fand eigene Freunde und hing dann mit denen ab. Er begann sich für Mädchen zu interessieren und ich war einfach noch nicht so weit. Hab ich mir damals zumindest eingeredet. Jetzt ist er ausgezogen und ich höre kaum noch was von ihm. Er ist zu sehr mit seinem Studium beschäftigt, um sich bei mir zu melden.“   Diesen Fakt auszusprechen, tat mehr weh, als ich gedacht hatte. Ich hatte mir manchmal so sehr gewünscht, mit Christopher sprechen zu können. Ihm davon erzählen zu können, dass ich … nun ja. Aber ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass der Zeitpunkt falsch war. Dass er Wichtigeres zu tun hatte und ich damit sowieso alles nur verderben würde. Also hatte ich geschwiegen, um ihn nicht noch weiter von mir fortzutreiben.   „Was denkst du denn eigentlich, wie es dir gehen wird, wenn du es deiner Familie gesagt hast?“   Irritiert über die Frage hob ich den Kopf.   „Wie meinst du das?“   Benedikt lächelte ein wenig verschmitzt.   „Na ja, du hast dir offenbar schon jede Menge Gedanken darüber gemacht, was die anderen Leute wohl davon halten werden. Wie sie reagieren und so weiter und so weiter. Aber hast du dir eigentlich auch schon mal Gedanken darüber gemacht, was das Outing für dich bedeutet?“   Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten. Das hieß, ich wollte es, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich sagen sollte. Denn Benedikt hatte recht. Ich hatte mir wirklich noch nie Gedanken darüber gemacht. Ein bisschen unsicher sah ich ihn an.   „Ich weiß es nicht“, gestand ich.   Aus Benedikts Lächeln wurde ein Schmunzeln.   „Das dachte ich mir fast. Hab ich damals auch nicht gemacht. Ich hab mir zwar tausend Horrorszenarien ausgemalt, wie mich meine Mutter in Schimpf und Schande vom Hof jagt, aber was ich durch das Outing gewinnen würde, war mir nicht klar.“ „Und was war es?“   Ich war jetzt wirklich neugierig, was er wohl antworten würde. Er wirkte ein wenig verlegen und vermied es, mich anzusehen.   „Ich hab mir, wie gesagt, nicht allzu viele Gedanken über das Danach gemacht. Ich wollte nur einfach nicht mehr in dieses Netz aus Lügen und Verstecken zurück, in dem ich mich mehr und mehr verfangen hatte. Deswegen hab ich Anlauf genommen und bin einfach abgesprungen, ohne zu sehen, wo ich landen würde. Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich vermutlich ungefähr nichts antworten können.“   Er grinste mich ein bisschen an und ich verstand, was er mir sagen wollte.   „Erst hinterher hab ich gemerkt, wie befreiend das Ganze für mich war. Gut, ich hatte natürlich Glück, dass meine Mutter recht cool damit umgegangen ist, aber allein nicht mehr Angst vor so einem diffusen 'Was wäre wenn' haben zu müssen, hat mir eine riesige Last von den Schultern genommen. Endlich konnte ich aufhören, mir darüber Gedanken zu machen, was wohl passiert, wenn ich mich oute. Einfach weil ich es schon getan hatte. Außerdem ist es einfach so viel besser, genervt reagieren zu können, wenn mich meine Mutter fragt, ob denn dieser oder jener Junge nicht was für mich wäre, als wenn sie das Gleiche bei einem Mädchen tun würde. Ich muss da nichts mehr verstecken. Ich muss keine Angst haben, mich zu verraten. Klar, jetzt kann es mir passieren, dass mir einer deswegen dumm kommt so wie die Typen am Bahnhof letzte Woche. Aber … das ist immer noch was anderes, weil man denen dann entgegentreten kann, statt einfach nur den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass einen nicht wirklich jemand für schwul hält. Mir hat das auf jeden Fall eine Menge Auftrieb verschafft.“   Auftrieb. Da war es wieder, dieses Wort. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Archimedes, eine Goldkrone und eine Badewanne im Unterricht zu diesem Thema eine Rolle gespielt hatten, aber es war einfach schon zu lange her. Aber was es bedeutete, das wusste ich. Es bedeutete, nicht unterzugehen.   „Das hört sich wirklich toll an“, sagte ich langsam. „Aber …“   Er unterbrach mich, bevor ich meine Einwände vorbringen konnte.   „Ich weiß, ich weiß. Ich kann dir natürlich nicht versprechen, dass es dir ebenso gehen wird. Immerhin haben wir ja an Jo gesehen, dass so ein Outing auch ziemlich nach hinten losgehen kann. Und ich wüsste auch nicht, was ich gemacht hätte, wenn meine Mutter mich damals blöd dafür angemacht hätte. Wenn sie mir tagtäglich damit in den Ohren liegen würde, was für ein schrecklicher Sohn ich doch bin und dass sie nie, nie, nie wieder in diesem Leben glücklich werden kann und all so ein Mist. Aber … ich weiß, dass du nicht allein bist. Du hast mich und Leon und Phillip. Du hast Mia und vielleicht sieht ja sogar Jo irgendwann ein, dass sein homophobes Gesülze eigentlich nur heiße Luft ist. Und du hast auf dem CSD gesehen, dass es da draußen noch jede Menge andere Leute gibt, denen es genauso geht wie dir. Und nicht nur deswegen, weil sie schwul oder lesbisch oder was auch immer sind. Es gibt auch ne Menge, die daran oder an anderen Dingen schwer zu knabbern haben. Die so weit in diesem ganzen Mist drin stecken, dass sie da alleine nicht mehr rauskommen. Und das ist okay. Es ist okay, sich Hilfe zu holen. Es ist okay, Angst zu haben. Aber ich würde es wirklich, wirklich schade finden, wenn du sie weiter dein Leben bestimmen lässt. Denn es ist dein Leben. Und ich würde dir gerne dabei helfen, es zurückzubekommen.“   Als er diese Ansprache beendet hatte, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste, dass er es gut meinte, aber …   Benedikt sah mich an und zog die Nase kraus.   „Hab ich dich jetzt unter Druck gesetzt? Tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich … ich wollte dir einfach nur sagen, dass ich da bin, wenn du mich brauchst.“   Ich spürte, wie sich das beklemmende Gefühl in meiner Brust langsam wieder verringerte. Denn ja, Benedikts Aktivismus hatte mich tatsächlich ein wenig eingeschüchtert. Ich wusste, dass er recht hatte, aber ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie ich das schaffen sollte.   Benedikt sah mich immer noch an wie ein Dackel. Also versuchte ich mich an einem Lächeln.   „Danke. Ich … ich weiß das zu schätzen.“   Er schob seine Mundwinkel ebenfalls etwas nach oben.   „Du musst nicht so tun, als wenn es okay war. Wenn ich was falsch mache oder dich nerve, dann sag mir das ruhig. Ich bin schließlich auch kein Experte.“   Experte. So wie ein Psychiater. Der kannte sich doch damit aus, was anderen Leuten im Kopf vorging.   „Meinst du, ich sollte nochmal zum Arzt gehen?“   Benedikt zuckte leicht mit den Schultern.   „Also wenn du nicht willst, kann ich das verstehen. Aber wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass es gut wäre, sich mal von einem Profi beraten zu lassen. Jemand, der dir Werkzeuge an die Hand geben kann, mit denen du dich aus den eisigen Fluten auf diese Tür hieven kannst. Damit du nicht untergehst.“   Das, was er sagte, klang tatsächlich ziemlich vernünftig. Es änderte jedoch nichts daran, dass ich einfach furchtbare Angst davor hatte, was passieren würde, wenn ich es tat. Ich hatte Angst vor der Reaktion meiner Eltern und der meines Bruders. Aber andererseits hatte Benedikt gesagt, dass ich nicht allein war. Dass er und die anderen da wären, um mir zu helfen.   „Ich glaube, ich muss mir das erst nochmal in Ruhe überlegen.“   Benedikt schien erst noch etwas sagen zu wollen, doch dann nickte er nur.   „Okay. Ich glaube, das reicht auch erst mal für heute. Hast du Hunger? Ich hab Pizza da.“   Er wackelte mit den Augenbrauen, sodass ich automatisch anfing zu lachen.   „Aber nur, wenn sie ohne Ananas ist.“   Benedikt schob die Unterlippe vor.   „Och man. Ananas-Pizza ist lecker. Ich versteh gar nicht, warum alle immer die arme Ananas mobben. Sie ist so lieb und süß und passt einfach hervorragend zu …“   „Vanilleeis!“, fiel ich ihm ins Wort. Er schien darüber nachzudenken, dann schüttelte er sich.   „Nee, geht gar nicht. Zu Vanilleeis gehen höchstens warme Himbeeren.“ „Nicht Kirschen?“ „Ja, schon auch. Aber Himbeeren sind leckerer. Und am allerbesten sind frische Erdbeeren.“   Er sah mich an und begann zu grinsen. Fragend hob ich die Augenbrauen.   „Was?“ „Och nichts.“   Sein Grinsen war jetzt so breit, das es keinen Lügendetektor brauchte um zu sehen, dass er flunkerte.   „Na los, spuck schon aus.“   Er biss sich auf die Lippen und versuchte krampfhaft, mich nicht anzusehen. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn zu packen und aufs Bett zu werfen. Als er unter mir lag, fragte ich noch einmal:   „An was hast du gerade gedacht.“ „Willst du das wirklich wissen?“ „Ja!“ „An Erdbeeren mit Schlagsahne.“ „Ja und?“ „Auf dir.“   Ich blinzelte verblüfft, was er dazu nutzte, mich nun meinerseits auf den Rücken zu befördern und sich auf mir niederzulassen. Er stützte seine Hände rechts und links neben meinem Kopfes ab und sah mir direkt in die Augen.   „Bitte versteh das nicht falsch. Ich meine, du hast mir hier gerade dein Herz ausgeschüttet und ich komme dir mit so was, aber … ich finde dich halt wahnsinnig verführerisch.“   Er küsste mich sanft auf die Lippen.   „Und sexy.“   Er küsste mich noch einmal.   „Und ich würde dir jetzt wirklich gerne … ein bisschen den Kopf frei machen. Was sagst du dazu?“   Die Frage brachte mich von der ersten Stufe der Leiter, die ich gerade schon angefangen hatte hinaufzuklettern, wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Es fühlte sich nicht richtig an, jetzt Sex zu haben. Benedikt, der meinen Stimmungswechsel bemerkt hatte, lächelte sanft.   „Wir können auch einfach einen Film gucken und Pizza essen. Oder was anderes, wenn du magst.“   Ich zögerte. Was wollte ich jetzt? Was brauchte ich?   „Ich könnte dich auch einfach ein bisschen massieren. Ohne Hintergedanken natürlich.   Als ich daran dachte, womit die Massage das letzte Mal geendet hatte, lief ein Kribbeln meine Wirbelsäule hinab.   „Ja. Ja, das würde ich toll finden.“   Ich entledigte mich meiner Brille und gleich noch des Shirts, das ich vor gut einer halben Stunde erst angezogen hatte, bevor ich mich auf dem Bett ausstreckte und mich darauf vorbereitete, mich zu entspannen. Ich fühlte Benedikts Gewicht auf meinen Beinen und gleich darauf seine Hände, die über meinen Rücken glitten.   „Du sagst Bescheid, wenn du keine Lust mehr hast?“, fragte er und ich brummte nur zustimmend. Mich von hier wegzubewegen war so in etwa das Letzte, an was ich gerade dachte. Dazu fühlten sich die Streicheleinheiten, die er mir gerade verpasste, viel zu gut an.   Von Mia hättest du dich nie so massieren lassen, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte nicht an sie denken wollen, aber jetzt, wo ich es tat, fiel mir die Situation in der Schule wieder ein.   „Meinst du, ich sollte es in der Schule erzählen?“   Benedikts Bewegungen wurden ein wenig langsamer.   „Wie kommst du darauf?“   Ich biss mir auf die Lippen. Das war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Andererseits …   „Wegen Mia. Die anderen reden über sie und es kursieren ziemlich fiese Gerüchte. Ich würde das gern unterbinden.“   Benedikt dachte einen Augenblick lang nach, bevor er antwortete.   „Also ich denke, dass es dich durchaus ehrt, dass du das machen willst, aber ich halte es für falsch. Diesen Schritt solltest du machen, weil du es willst. Nicht für andere.“   Ich schnaufte und versuchte, mich wieder auf die Massage einzulassen. Trotzdem ging mir das Problem nicht aus dem Kopf. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, den Bogen zu überspannen, wenn ich jetzt ausgerechnet mit Benedikt darüber sprach. Gleichzeitig war er der Einzige, mit dem ich es tun konnte. Egal, was ich tat, es war verkehrt.   Auch Benedikt schien zu merken, dass mich das Thema noch beschäftigte. Er strich mir sanft über den Rücken und lehnte sich dann nach vorn. Ich fühlte seinen Körper an meinem. Er umfing mich wie ein warmer Mantel. „Ist nicht einfach, mhm?“, murmelte er in mein Ohr und platzierte einen kleinen Kuss auf meiner Schulter. Ich atmete einmal tief durch.   „Nein, ist es nicht. Ich … ich hab das Gefühl, dass es meine Schuld ist, dass es ihr so dreckig geht. Es … es sind ja nicht nur die anderen. Ich frage mich, ob sie nicht vielleicht doch manchmal denkt, dass ich ihr nur was vorgemacht habe. Oder dass es an ihr gelegen hat, dass ich …“   Ich sprach nicht weiter. Ich wusste ja, dass es Schwachsinn war. Aber ich kam einfach nicht gegen diese Gedanken an.   Benedikt erhob sich wieder und machte sich daran, die Massage fortzusetzen. Eine Weile lang sagte er gar nichts, aber die Stimmung war eindeutig ruiniert. Ich hatte sie ruiniert.   „Möchtest du, dass ich gehe?“   Ich musste das einfach fragen. Benedikts Antwort bestand aus einem verblüfften Laut.   „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ „Na weil ich hier liege und von meiner Exfreundin rede, während du …“   Ich verstummte, aber Benedikt machte sich auch nicht die Mühe, auf das Ende des Satzes zu warten.   „Quatsch. Wenn dir das hilft, ist das okay. Wenn du möchtest, kann ich ja mal was von meinem Ex erzählen. Wir waren zwar nicht so lange zusammen wie du und Mia, aber …“   Er unterbrach sich und ich war eigentlich recht froh darum. Wahrscheinlich war der Typ längst nicht so verkorkst gewesen wie ich. Ich fragte mich allerdings …   „Warum hast du mit ihm Schluss gemacht?“   Benedikt hörte auf, mich zu massieren. Er seufzte.   „Also wenn du es genau wissen willst: Es war deinetwegen. Ich konnte einfach nicht mit ihm zusammenbleiben, nachdem ich realisiert hatte, dass ich immer noch in dich verknallt war.“   Er beugte sich zu mir runter und küsste meinen Nacken.   „Aber das ist schon so lange her. Er hat inzwischen längst eine neue Beziehung und ich auch. Also wer weiß, wozu es gut war. Das Leben geht nun einmal keine geraden Wege. Manchmal macht es Kurven und bewegt sich im Kreis und manchmal ist die Straße verdammt holprig, aber das heißt nicht, dass man es nicht trotzdem genießen kann.“   Ich lächelte und fühlte mich gleichzeitig klein und unbedeutend.   „Du bist ziemlich weise“, sagte ich, weil mir kein besseres Wort dafür einfiel.   „Weise?“ Benedikt lachte. „Das hört sich an, als wäre ich 102 und hätte einen langen, weißen Bart.“   Ich grinste, während er begann, an meiner Ohrmuschel herumzuknabbern.   „Nein, das meine ich nicht. Aber du hast oft so tiefe Gedanken.“   Benedikt ließ von meinem Ohr ab. Ich hörte ihn über mir schlucken.   „Das ist ein tolles Kompliment“, sagte er leise. „Ich … ich weiß gerade gar nicht, wie ich das finden soll. Ich hab das Gefühl, dem gar nicht zu entsprechen.“   Ich drehte den Kopf ein wenig, um ihn anzusehen. Er schaute zurück und unsere Blicke verhakten sich ineinander. Da war wieder dieses Gefühl in meiner Brust. Das gute Gefühl. Das Gefühl, als müsste ich ihn festhalten und nie wieder loslassen. Es zerrte so heftig an mir, dass ich mich aufrichtete und unter ihm drehte, bis ich ihn ansehen konnte.   „Küss mich“, forderte ich ihn auf. In seinen Augen glomm etwas auf, das mich innerlich erschauern und nahezu platzen ließ.   „Mit dem größten Vergnügen“, antwortete er und beugte sich zu mir herab, um meine Lippen mit einem Kuss zu versiegeln. Vielleicht würden wir jetzt doch noch zu dem Teil der Unterhaltung mit den Erdbeeren und der Schlagsahne kommen. Nur ohne Erdbeeren. Und ohne Sahne.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)