Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 31: Stolz und Vorurteil ------------------------------- Ein Klavier wurde angeschlagen und Andrew Taggart begann zu singen.   I'm from the east side of America Where we choose pride over character   Seine Stimme hallte von den Wänden des Fahrradkellers wieder und für einen Moment war ich versucht, ihn zu ignorieren. Dann aber zog ich mein Handy doch aus der Tasche. Auf dem Display stand Benedikts Name. Ich nahm ab. „Ja?“ „Mensch, Theo! Wo bist du denn? Wir suchen dich schon überall.“   „Wer ist 'wir'?“, wollte ich wissen. Meine Stimme klang rau und kratzig. „Na, ich und Mia. Sie hat mir alles erzählt.“ „Was?“ Vor Schreck wäre mir fast mein Handy aus der Hand gefallen. „Aber warum?“   Am anderen Ende hörte ich Benedikt lachen. „Na ja. Wahrscheinlich dachte sie, dass es eine gute Idee ist, nachdem Jo auf mich losgegangen ist, als wäre ich der Leibhaftige persönlich. Er hat mich angeschrien, dass das alles meine Schuld wäre und ich gefälligst meine dreckigen Hände von dir lassen sollte. Leon und Phillip sind dazwischen gegangen und dann kam auch schon Herr Messner und hat die drei mitgenommen. Danach ist Mia zu mir gekommen und hat mir die ganze Geschichte erzählt.“   Ich kniff die Augen zusammen und presste die Lippen aufeinander. Verdammt! Jetzt hatte ichmit meiner dämlichen Aktion auch noch Benedikt mit reingezogen. Dabei hatte ich mich extra bemüht, Jo seinen Namen nicht zu nennen. Ich war so unfähig! „Ich … ich hab gedacht, dass du sauer bist“, sagte ich zögernd. „Wegen Mia.“   Ich konnte Benedikt am anderen Ende seufzen hören. „Quatsch. Es war zwar komisch, euch zusammen zu sehen, aber ich vertraue dir. Das hab ich doch schon mal gesagt. Ich hatte sogar überlegt, zu euch runterzukommen, aber als Jo dann aufgekreuzt ist, dachte ich, dass ich mich mal lieber verziehe, bevor es noch hässlich wird. Hat wohl nicht so funktioniert.“   Ich lachte leicht und fuhr mir mit der freien Hand durch die Haare. „Nein, hat es nicht.“   Benedikt seufzte wieder, dieses Mal weicher. Liebevoller.   „Du bist ein Esel, Theo. Was hast du denn gedacht, was passiert, wenn du Jo das mal eben so zwischen Tür und Angel vor den Latz knallst? Dass er einen Freudentanz aufführt? Wohl kaum. Das muss man mit mehr Fingerspitzengefühl machen. Grad bei jemand wie ihm.“   Ich wollte dagegen aufbegehren. Wollte sagen, dass ich das doch nur wegen Mia gemacht hatte. Aber es stimmte nicht. Wenn ich ehrlich war, hatte ich es für mich gemacht. Weil ich das Gefühl nicht ertragen konnte, an ihrem Unglück Schuld zu sein. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, was es für die anderen bedeutete. Ich war und blieb eben ein Egoist. „Und wo bist du nun?“, fragte Benedikt noch einmal. „Im Fahrradkeller.“ „Wolltest du etwa wieder mal abhauen?“   Ich hätte es verneinen können, aber es wäre nur eine weitere Lüge gewesen. Also nickte ich, bis mir auffiel, dass Benedikt das ja nicht sehen konnte. Ich holte tief Luft. „Ja, wollte ich. Ich wollte abhauen und nie wieder zurückkommen.“   Ich verschwieg, wie genau ich das gemeint hatte. Und natürlich verstand Benedikt es falsch. „Du wolltest auswandern? Wohin denn? Kanada?“   Er lachte erneut, aber ich stellte es mir für einen Moment vor. Mit ihm zusammen einfach abzuhauen. Dorthin wo es nur Schnee, Elche und ab und an ein einsames Blockhaus gab. Weit weg von all der Scheiße hier. Benedikt konnte doch Französisch, also mussten wir uns darüber auch keine Sorgen machen. Es wäre perfekt. „Warum nicht?“, sagte ich deswegen und wartete seine Antwort ab, die jedoch nur aus einem weiteren Lachen bestand. Ich verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. Er hatte ja recht. Es war eine dumme Idee. Ungefähr so dumm wie die, sich im Fahrradkeller zu verstecken, wo mich bei nächstbester Gelegenheit jemand entdecken würde. „Ich mach mich wohl besser auf den Weg, was?“, fragte ich in der Hoffnung, Benedikt würde sagen, dass ich bleiben konnte, wo ich bin. Vielleicht fand er die Idee ja doch nicht so dumm.   „Ja, solltest du“, antwortete er jedoch. „Wir sind in der letzten Umkleide. Ich warte auf dich.“   Damit legte er auf.   Ich ließ mein Handy sinken. Wie es aussah, war meine Gnadenfrist zu Ende. Das Leben hatte an meine Tür geklopft und ich hatte geantwortet. Jetzt musste ich mich den Konsequenzen stellen.     Ich sah nicht nach oben, nachdem ich den Pausenhof überquert und das Schulgebäude wieder betreten hatte. Dort, nur eine Treppe höher, lag der Ort, an dem ich meine Freundschaft mit Jo mal eben so in die Tonne getreten hatte. Wenn ich jetzt so darüber nachdachte, konnte ich wirklich nur den Kopf darüber schütteln. Es war unbedacht gewesen. Geradezu leichtsinnig. Fast so als wollte ich, dass es schiefging. War ich etwa schon so weit, dass ich mich selbst manipulierte?   Ich verschob die Klärung dieser Frage auf später und konzentrierte mich stattdessen darauf, die lange Treppe zur Turnhalle hinabzusteigen. Dabei betete ich im Stillen, dass mich keiner der Lehrer im Vorraum erwischte. Ich hatte jedoch Glück und erreichte unbehelligt den Gang, in dem die Eingänge zu den Umkleiden lagen. An der letzten Tür angekommen atmete ich noch einmal tief durch, bevor ich vorsichtig klopfte. Sofort wurde mir geöffnet und ich blickte in Benedikts besorgtes Gesicht. „Da bist du ja endlich. Wir haben schon gedacht, dir sei was passiert.“   „Wir“ das hieß in dem Fall er, Mia und – wie ich zu meinem Erstaunen feststellen musste – auch Leon und Phillip. Wie sie es geschafft hatten, sich aus Herrn Messners Unterricht zu schleichen, fragte ich lieber nicht. Als ich die Kabine betrat, standen die beiden auf. „Hey, T, alles klar bei dir?“   Leon wirkte recht relaxt, während Phillip in meine Richtung und dann wieder zu Boden blickte. Ich versuchte ein Lächeln. Es geriet reichlich schief. „Ja, alles bestens.“   „Ich …“, begann Leon und räusperte sich. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich finde, dass Jo ne Meise hat. Mir ist dass vollkommen egal, weißt du.“   „Ja, mir auch“, beeilte sich Phillip ebenfalls zu versichern. Er sah dabei nur kurz in meine Richtung, bevor er meinem Blick wieder auswich. „Danke. Das bedeutet mir wirklich viel.“   Leon nickte mir zu. „Also, wenn ihr mal Probleme habt, du oder Mia oder du auch, dann … dann sagt einfach Bescheid, okay?“   Seine letzten Worte hatte er an Benedikt gerichtet. Anscheinend war ihm klar, wie das Ganze zusammenhing. Trotzdem musste ich wissen, was uns verraten hatte. Als ich Leon danach fragte, lachte er. „Ach, na ja. Von Benedikt hieß es ja immer mal wieder, dass er vom anderen Ufer ist. Und dass du ihn gern hast, war ebenfalls nicht ganz unauffällig. Ich bin vielleicht nicht gerade der große Redenschwinger, aber das heißt ja nicht, dass ich auf der Wurstsuppe hergeschwommen bin, wie meine Oma immer so schön sagt. Außerdem wäre Mia wohl kaum zu ihm gegangen, wenn es nicht so wäre. Deine Nummer hätte sie schließlich auch von einem von uns bekommen können.“   Jetzt war es an Mia, betreten dreinzuschauen. Zerknirscht sah sie mich an. „Sorry, daran hab ich nicht gedacht.“   Ich schüttelte den Kopf. „Ist okay. Ich … ich bin froh, dass es jetzt raus ist. Ich hatte ja nicht vor, mich auf ewig zu verstecken.“   Obwohl ich das gerade gesagt hatte, war mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass die Geschichte auf diese Weise ans Licht gekommen war. Ich hatte mich zwar bei Jo nicht unbedingt geschickt angestellt. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn die Leute es in Zukunft von mir persönlich erfuhren und nicht über irgendwelche Gerüchte in der Pausenhalle.   Ich wandte mich an Leon. „Meinst du, Jo erzählt es rum?“   Leon zuckte mit den Achseln.   „Weiß nicht. Er … er hat eigentlich nicht gesagt, worum es genau ging, bis Phillip und ich ihn direkt danach gefragt haben. Hat ein paar ziemlich unschöne Sachen gesagt, aber … ich glaube nicht, dass er euch wirklich schaden will. Er ist einfach gerade total überfordert und beißt wild um sich. Du kennst das doch von ihm.“   Ich nickte und wollte es glauben. Ich wollte glauben, dass Jo nicht hinging und jedem, der es hören wollte, auf die Nase band, warum er vorhin so ausgerastet war. Nicht nur, weil es das für mich und Benedikt einfacher machte, sondern auch, weil das bedeutete, dass meine Freundschaft mit Jo vielleicht noch eine Chance hatte.   „Na ja, ich denke, wir sollten mal wieder“, meinte Leon und wies mit dem Daumen Richtung Tür. „Ich hab erzählt, Phillip hätte Nasenbluten, aber wenn wir nicht langsam wieder antanzen, wird Herr Messner noch misstrauisch. Ihr kommt klar?“   Mia, Benedikt und ich nickten unisono. „Na dann, man sieht sich.“   Leon und Phillip trollten sich und ließen Benedikt, Mia und mich allein zurück. In dem Moment, als sich die Tür hinter den beiden schloss, wurde mir bewusst, wie seltsam das war.   „Tja …“, begann ich und wusste nicht recht, was ich jetzt sagen sollte. „Ich … ich hab da wohl ziemlichen Mist gebaut.“   „Ach, Schwamm drüber. Jo kriegt sich schon wieder ein“, meinte Benedikt jovial.   Mia hingegen musterte mich aufmerksam.   „Wie geht es dir?“, fragte sie.   „Mir? Mir geht’s gut“, antwortete ich, ohne lange zu überlegen. Die Wahrheit konnte ich ihr nicht auch noch zumuten.   Benedikt sah Mia an und dann wieder mich. „Gibt es da irgendwas, das ich wissen sollte?“   Ich erkannte genau, dass Mia eigentlich etwas sagen wollte, dann aber doch den Mund zu einem schmalen Strich zusammenpresste. „Ich … ich sollte vielleicht gehen“, meinte sie plötzlich und lachte ein bisschen zu künstlich. „Nicht, dass mich noch einer in der Jungsumkleide erwischt. Das kommt vermutlich nicht so gut.“   „Mia!“   Ich wollte sie aufhalten, aber sie wehrte mich mit dem ausgestreckten Arm ab, sodass ich stehenblieb und zuließ, dass sie den Abstand zwischen uns wieder vergrößerte. Ich war immer noch der Falsche, um ihr zu helfen.   „Ist schon gut, Theo“, sagte sie leise. „Ich komme klar.“   Ich wusste, dass sie log. Aber vielleicht gab es etwas, dass ich tun konnte. „Du … du könntest es Anne erzählen“, bot ich an. „Dann weiß sie, was los ist, und ihr könntet … reden.“   Mias Augen weiteten sich ein Stück. „Meinst du das ernst?“ „Ja, sicher. Ich … es ist nur fair, jetzt wo Leon und Phillip es auch wissen. Du musst da nicht alleine durch.“   Jo ließ ich bei dieser Aufzählung aus. Dass er es wusste, war nicht unbedingt das, was man unter hilfreich verstand.   „Okay“, sagte Mia und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Sie hat zwar akzeptiert, dass ich nicht darüber sprechen will, aber …“   „Aber du würdest gerne“, meinte ich. „Ich verstehe das.“   Mia lächelte noch einmal kurz, bevor sie mir zunickte und mit einem kurzen Blick auf Benedikt endgültig die Tür hinter sich schloss. Als sie weg war, hörte ich Benedikt tief durchatmen.   „Ist nicht einfach, oder?“   Er taxierte mich, als wolle er abschätzen, wie es mir ging. Genau das, was Mia auch gerade hatte wissen wollen. Das Problem daran war, dass ich das nicht so recht wusste. In mir drin herrschte ein dermaßenes Chaos, dass ich die Emotionen nicht klar voneinander trennen konnte. Am liebsten hätte ich den ganzen Klumpen so weit wie nur möglich von mir weggeschoben. Gerade, als ich das gedacht hatte, kam mir ein Satz aus einem Song in den Sinn.   But I learned from my dad that it's good to have feelings   Wie sehr ich mir wünschte, dass ich in diesem Moment hätte singen können. Klarheit in das Ganze bringen. Aber ich konnte nicht. Der Vogel im goldenen Käfig war stumm geworden und ließ traurig die Flügel hängen.   Benedikt schien zu spüren, dass mir gerade die Worte fehlten. Er kam zu mir und nahm mich in den Arm. Seine Nähe vertrieb die trüben Gedanken ein wenig. Ich lehnte mich an ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter.   „Du bist nicht allein“, sagte er nahe an meinem Ohr. „Ich weiß, manchmal hat man das Gefühl, alles mit sich selbst ausmachen zu müssen. Aber du musst das ebenso wenig wie Mia oder sonst irgendwer. Du hast mich und Anton, Phillip und Leon. Und wenn du …“   Ich unterbrach ihn, bevor er weiterreden konnte. „Anton mag mich nicht“, sagte ich anklagend und hörte mich dabei an wie ein Vierjähriger, der das Spielzeug, das er im Schaufenster gesehen hatte, nicht bekam.   „Wie kommst du denn darauf?“ „Na, weil … du hast es doch auch gemerkt. Du hast dich bei mir dafür entschuldigt.“   Benedikt lachte auf.   „Ja, aber doch nur, weil ich Anton von dir erzählt hab. Ich … na ja. Bei irgendwem musste ich doch ein bisschen rumschwärmen. Ich dachte, du wärst deswegen sauer.“   Benedikt legte den Kopf ein wenig schief und sah mich treuherzig an. Ich spürte ein Lächeln an meinen Mundwinkeln zupfen. „Du hast ihm von mir vorgeschwärmt?“, musste ich trotzdem nachbohren.   Ein leichter Rotschimmer überzog die Haut zwischen Benedikts Sommersprossen. Er senkte den Blick. „Das hört sich an, als wäre ich ein durchgeknallter Groupie. Ich meine, ich hab ja keine Poster von dir an die Wand gehängt oder so.“   Der Ton, in dem er das sagte, legte nahe, dass er das durchaus in Erwägung gezogen hatte. Ich grinste.   „Hättest du denn gerne welche?“, stichelte ich weiter. Jetzt sah er mich wieder geradeheraus an. „Nein“, sagte er bestimmt. „Denn inzwischen brauche ich das ja nicht mehr. Jetzt kann ich das Original haben.“   Er lehnte sich vor und ich kam ihm das letzte Stück entgegen, um unsere Lippen zusammen zubringen. Es war ein keuscher Kuss, nur Lippen, keine Zunge oder irgendwas. Trotzdem fühlte ich Begierde in mir aufwallen. Das und noch etwas anderes. Es zog und zerrte an meinem Brustkorb und ließ mich meine Arme nur umso fester um ihn schließen. „Was machst du heute Nachmittag?“, fragte ich, nachdem wir den Kuss beendet hatten. „Weiß nicht. Noch hab ich nichts vor.“   Das Funkeln in seinen Augen zeigte mir, dass er an das Gleiche dachte wie ich. Das und die Tatsache, dass er mich noch einmal küsste und gegen meine Lippen murmelte, dass seine Mutter am Nachmittag nicht zu Hause war. Ein Kribbeln lief meine Wirbelsäule entlang. „Dann ist das hier eine Einladung?“, fragte ich noch einmal nach.   „Ist es“, bestätigte er. „Ich … ich würde gerne ein bisschen Zeit mit dir allein verbringen.“   Das Kribbeln verstärkte sich und ich wusste, dass ich mich jetzt von ihm trennen musste, wenn ich nicht riskieren wollte, dass man mir meine Erregung ansah. Trotzdem blieb ich noch einen winzigen Augenblick. „Ich freu mich drauf“, sagte ich, bevor ich ihm noch einen Kuss auf die Lippen hauchte und mich dann von ihm löste. Er räusperte sich und trat einen Schritt zurück, nur um sich im nächsten Moment zu richten. Ich beobachtete es mit leichter Schadenfreude. „Brauchst gar nicht so blöd zu grinsen“, murrte Benedikt, als er meinen Blick bemerkte. „Ich hab immerhin nur ne Turnhose an. Die versteckt mal genau nichts.“   In diese Moment hörte man die Klingel das Ende der Sportstunde verkünden. Benedikt fluchte leise. „Na, das wird wohl ne Eintragung geben.“ Er sah zur Tür. „Vielleicht verschwindest du lieber. Wenn wir dummes Gerede verhindern wollen, wäre es besser, wenn man uns nicht zusammen sieht.“   Ich nickte, obwohl es mir schwerfiel. Als ich gerade an der Tür angekommen war, rief Benedikt mich noch einmal zurück. Er lächelte. „Und mach dir keine Sorgen wegen Anton. Ich hab ja gesagt, er ist ein bisschen speziell. Aber er meint es nicht böse. Es ist nur … manchmal ist es ein bisschen als würdest du dich mit Data unterhalten. Nur dass Anton nicht einmal versucht, hinter das Gehheimnis menschlichen Humors zu kommen.“   Ich lachte auf. „Okay, ich werd’s mir merken.“   Damit machte ich, dass ich wegkam, bevor mich unser Sportlehrer doch noch erwischte. Wenn er fragte, würde ich sagen, dass ich Kopfschmerzen gehabt hatte. Das war ja nicht einmal unbedingt gelogen.   Während ich die Treppen hinaufstieg, musste ich daran denken, dass übermorgen der Arzttermin war. Inzwischen hatte ich noch viel weniger Lust hinzugehen als bisher. Aber es musste wohl sein. Immerhin konnte ich meine Eltern damit erst einmal ein bisschen beschäftigen. Je nachdem, was für eine Diagnose der Arzt stellte, konnte ich das ja vielleicht als Erklärung für mein „merkwürdiges“ Verhalten hernehmen. Natürlich wollte ich nicht ewig damit hinterm Berg halten, dass meine Interessen sich in eine andere Richtung entwickelt hatten, als sie erwartet hatten. Aber … es hetzte mich ja niemand. Ich hatte meine Freunde, die hinter mir standen, und vielleicht würde ich es ja sogar hinkriegen, das mit Jo zu klären. Bis dahin war es sicherlich nicht notwendig, die Dinge zu überstürzen.   Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.   Ich rollte innerlich mit den Augen, als mir einer der Lieblingssprüche meiner Mutter durch den Kopf ging. Sie hatte sicherlich recht, aber ich konnte nicht an so vielen Fronten gleichzeitig kämpfen. Ich konnte nicht.     Wie schwer es werden würde, zeigte sich gleich in der nächsten Stunde.   Im Bio-LK saß Jo normalerweise wie in eigentlich allen Stunden neben mir. Jetzt jedoch hatte er sich in die letzte Reihe verzogen, wo er sehr beschäftigt tat und auch nicht aufblickte, als ich den Raum betrat. Der Platz neben mir blieb somit leer, bis Leon sich erbarmte und zusammen mit Phillip zu mir aufrutschte. So war Jos Fehlen nicht mehr ganz so offensichtlich, aber als ich am Ende der Stunde die finstere Miene, mit der er mich und die anderen bedachte, wusste ich, das Vorsicht angebracht war.   „Das mit Jo gefällt mir nicht“, sagte ich zu Leon. Wir hatten uns in der zweiten großen Pause in eine Ecke verzogen und beobachteten von dort aus die Lage. „Wenn er jetzt ganz alleine steht, wird er vielleicht etwas Unbedachtes tun.“   Wie mich vor der ganzen Schule zu outen, zum Beispiel. Wenn er das tat, wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Ich wollte nicht, dass es auf diese Weise herauskam. Aber ich wollte es auch nicht verleugnen, wenn es dazu kommen sollte. Wie ich es auch drehte und wendete, beide Möglichkeiten waren gleich bescheiden. „Es sei denn, du kommst ihm zuvor“, meinte Leon, als ich meine Bedenken äußerte. „Viel zu verlieren hast du ja nicht.“   „Nicht?“, fragte ich lachend.   „Nein, was auch?“, fragte er zurück. „Die Leute mögen dich. Sie werden nicht damit aufhören, nur weil du auf einmal einen Freund hast. Du bist doch immer noch der gleichen Mensch.“   Ich antwortete nicht darauf. Stattdessen ließ ich meinen Blick über die Menge schweifen. Ob Leon recht hatte? Ob die meisten wirklich so reagieren würden? „Und was, wenn es noch mehr so Idioten gibt wie Jo?“, warf Phillip ein. „Ich … ich mein, ich kann ihn irgendwo ein Stück weit verstehen.“   Als ich ihn fragend ansah, drehte er den Kopf unbehaglich zur Seite. „Nun schau nicht so. Ich find’s halt auch irgendwie merkwürdig, mir das vorzustellen. Knutscht du jetzt echt mit Benedikt rum?“ „Äh …“ Die Frage hatte ich so nicht erwartet. „Ja?“   „Das ist komisch“, beharrte Phillip. „Warum?“, wollte Leon wissen. „Nur weil du mit niemandem rumknutschst?“ „Nee, weil … weil’s halt zwei Kerle sind. Das will doch keiner sehen.“ „Och, weiß nicht. Kerle, die auf Kerle stehen, finden das bestimmt heiß. Und einige Weiber steh’n da auch drauf, hab ich gehört.“   Während Leon grinste, bekam Phillip so rote Ohren, dass er glatt als Notbeleuchtung hätte durchgehen können. Als ich ihn fragend ansah, fing er an herumzustottern. „Ich … also … ich hab nur was bei Sina im Zimmer gesucht. Und da hatte sie so … Hefte. Mit zwei Kerlen, die miteinander rumgemacht haben. Das … also, das war halt echt nicht meins.“   Während Leon in wieherndes Gelächter ausbrach, verzog ich meinen Mund zu einem leichten Lächeln. „Ist okay. Ich werde Rücksicht nehmen und meinem Freund nicht direkt vor deinen Augen die Zunge in den Hals stecken.“   „Lalala, ich kann dich gar nicht hören“, rief Phillip und stopfte sich demonstrativ die Finger in die Ohren. Ich grinste weiter, obwohl die ganze Kabbelei einen bitteren Beigeschmack hatte. Keiner meiner Freunde wäre auf die Idee gekommen, das zu verlangen, wenn ich mit einem Mädchen zusammen gewesen wäre. Aber das mit Benedikt, das musste versteckt werden. Etwas in mir sträubte sich dagegen. Es sollte egal sein, wen ich küsste.   Ich sagte jedoch nichts. Wohl auch, weil mir klar war, dass es einigen gehen würde wie Phillip. Theoretisch hatte er nichts dagegen. Er wollte tolerant sein. Gleichzeitig sträubte sich etwas in ihm, auch den Rest, der damit zusammenhing, zu akzeptieren. Dabei hätte er sich auch darüber bei einem Mädchen in meinen Armen nie Gedanken gemacht. Es stimmte wohl, was Hendrik gesagt hatte. Sobald die Leute Bescheid wussten, machten sie sich unweigerlich Gedanken darüber, was bei dir im Bett abging. Wie bei Tieren im Zoo.   Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich wieder darauf, was wirklich war. Immerhin bemühte Phillip sich und das war mehr, als mein sogenannter bester Freund zustande gebracht hatte. Dabei drängte sich mir unwillkürlich die Frage auf, was wohl passieren würde, wenn ich mich öffentlich zu meiner Orientierung bekannte. Würde Phillip dann bleiben oder würde er gehen?   Vermutlich weiß er das selber nicht, dachte ich, während ich mit zusammen den anderen in Richtung Matheraum ging. Noch zwei Stunden. Zwei Stunden, in denen Jo nicht neben mir sitzen würde. In denen ich fragenden Blicken oder weniger subtilen Zettelchen ausgesetzt sein würde, die wissen wollten, ob es Ärger im Paradies gab. Es war fast, als wäre über das Zerwürfnis zwischen mir und Jo, die Sache mit Mia in Vergessenheit geraten. Und da ich schon das zweite Mal an einer „Trennung“ beteiligt war, begannen die Leute sich zu fragen, ob nicht doch ich der Schuldige an all dem war. Ich konnte es ihnen nicht verdenken.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)