Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 27: Verliebte Jungs --------------------------- Sonnenschein spitzte durch die winzigen Löcher in den Lamellen der Jalousien. Er ließ mich wissen, dass es bereits später Morgen oder früher Vormittag sein musste. Genau wusste ich es nicht, denn es befand sich keine Uhr im Zimmer. So schwebte ich in einem fast schon zeitlosen Nirwana aus Ruhe und den gleichmäßigen Atemzügen der Person, die neben mir lag. Geweckt worden war ich durch das Geräusch seines Handys, das irgendwo zwischen unseren Sachen auf dem Fußboden lag. Es hatte geklingelt, war aber bald wieder verstummt. Danach hatte ein einzelner Ton den Erhalt einer Nachricht angekündigt. Benedikt hatte von all dem nichts mitbekommen. Er schlummerte immer noch friedlich auf dem blau gemusterten Kissen. Wie wir uns auf diesem knappen Meter, den er sein Bett nannte, hatten arrangieren können, war mir zwar vollkommen unverständlich, doch vermutlich waren wir beide nach dem gestrigen Tag schlichtweg wie ausgeknipst gewesen. Ich hatte in dieser Nacht sogar geträumt, auch wenn ich jetzt nicht mehr wusste, worum es in dem Traum gegangen war. Ich wusste nur noch, dass er da gewesen war.   Das um mich herum war jedoch kein Traum. Es war echt, obwohl ich das immer noch nicht so recht glauben konnte. Wir hatten tatsächlich miteinander geschlafen. Beim ersten Date, wenn man so wollte. Vielleicht hätte ich mich bemühen müssen, das falsch zu finden. Aber ich konnte nicht. Dazu hatte es sich zu gut angefühlt. Zu richtig. Und irgendetwas sagte mir, dass es ihm ebenso gegangen war. Immerhin war er es gewesen, der es zuerst vorgeschlagen hatte. Der mich bei der Hand genommen und mich geführt hatte. Der mir so sehr vertraut hatte, dass er sich mir hingegeben hatte. Ohne Reue. Ohne Scham. Ohne etwas dafür zu verlangen. Und ich? Ich hatte genommen, was er mir anzubieten hatte. Wie ein Schwamm hatte ich aufgesogen, was ich mir so lange verwehrt hatte, und jetzt konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder darauf zu verzichten. Ich wollte mehr. Unendlich viel mehr.   Ich stoppte meine Gedanken, denn die körperliche Reaktion auf die Erinnerungen ließ nicht lange auf sich warten. Das wiederum wäre mir unangenehm gewesen, wenn er in diesem Moment aufgewacht wäre. Ich wollte nicht, dass er dachte, dass ich nur deswegen mit ihm zusammen war. Obwohl ich ihn begehrte, wie man so schön sagte. Aber es war mehr. Viel mehr. Viel mehr als es eigentlich hätte sein dürfen nach so kurzer Zeit. Und doch … Da war so vieles an ihm, was ich mochte. Sein Lachen, sein Humor, seine Art Dinge auszudrücken, sodass man sie verstand. Eine Fähigkeit, die mir oft genug abging. Ich hatte diese Gedanken, aber sie blieben bei mir, während er in die Welt hinausging oder wartete, dass sie zu ihm kam, um sie zu erstaunen. Da war so viel Wärme in ihm. So viel Tiefe. Ein ganzer Ozean, in dem ich mich verlieren konnte und der mich trotzdem auffing und mich sicher trug. Weit über die Grenzen dessen hinaus, was ich kannte. Es hätte mir Angst machen können. Vielleicht sogar müssen. Aber ich fühlte keine Angst. Nur Geborgenheit. Und Sicherheit.   Benedikt bewegte sich und seufzte im Schlaf. Ein kleiner, unschuldiger Laut, der jedoch seine Wirkung auf mich nicht verfehlte. Meine Fingerspitzen begannen zu kribbeln. Ich wollte ihn wieder berühren. Ich wollte … noch einmal mit ihm schlafen. Noch einmal dieses Gefühl haben, mit ihm vereint zu sein. Mich noch einmal versichern, ob er mir auch wirklich vertraute, und ihm zeigen, dass ich es wert war. Aber bevor wir das konnten, war es definitiv angebracht, dass ich mich erhob und das Badezimmer aufsuchte.   Vorsichtig zog ich meine Beine zurück, die immer noch halb mit seinen verschränkt waren. Ich wollte nicht, dass er aufwachte, bevor ich zurück war. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich, immer darauf achtend, ob sich sein Atemrhythmus veränderte, seine Augenlider zu zucken begannen. Aber ich hatte Glück. Er wachte nicht auf. Auch nicht, als ich mich auf das Bett kniete und vorsichtig über ihn hinweg stieg. Ich setzte meine Füße zwischen das Chaos auf den graumelierten Schlingenteppich und schlich leise zur Tür. Ich legte beide Hände an das Holz und hielt den Atem an, als ich die Türklinke herunterdrückte. Wieder war keine Reaktion zu vernehmen, sodass ich die Tür schließlich öffnete und leise hindurchschlüpfte. Draußen auf dem Flur wurde mir bewusst, wie warm es im Zimmer gewesen war und wie verbraucht die Luft. Vermutlich lag es daran, dass die Sonne bereits mit voller Wucht gegen die dunklen Rollos knallte. Es musste wirklich schon längst Zeit zum Aufstehen sein.   Ich verschob die Frage nach der Uhrzeit auf später und suchte zunächst das Bad auf. Nachdem ich mich erleichtert und mir die Hände gewaschen hatte, spritzte ich mir ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht. Es klärte die letzten Reste der Müdigkeit und ließ mich wach in den Spiegel blicken. Sah ich irgendwie anders aus als gestern? Älter? Gereifter? Nein, eigentlich nicht. Maximal ein wenig unausgeschlafen.   Vielleicht sollte ich duschen, überlegte ich, während ich mir das Gesicht abtrocknete. Doch noch während ich darüber nachdachte, hörte ich ein Geräusch. Es kam von irgendwo hinter meinem Rücken und somit aus Richtung …   Der Haustür! Scheiße!   Ich griff meine Brille von der Ablage und setzte sie auf. Meine Sicht wurde klarer, aber die Geräusche kamen immer noch eindeutig aus der falschen Richtung. Ein Schlüssel klirrte, als er irgendwo abgelegt wurde, und Schritte klapperten auf den Fliesen. Schritte von hochhackigen Schuhen. Schritte, die näherkamen!   Die Klinke des Badezimmers wurde heruntergedrückt und dann …   „Oh.“   Die Frau in der Türöffnung blieb stehen und sah mich an, als wäre ich das achte Weltwunder. Vielleicht auch das neunte oder zehnte. Es war zumindest unübersehbar, dass sie nicht mit mir gerechnet hatte. „Verzeihung“, sagte sie und schloss die Tür schnell wieder. Mein Herz hämmerte in meiner Brust und ich hätte beinahe gelacht. Das war Benedikts Mutter gewesen. Was machte die denn jetzt schon hier?   Der Anruf, schoss es mir durch den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie Benedikt Bescheid geben wollen, dass sie früher kam. Und jetzt hatten wir den Salat. Ich unterdrückte erneut einen Fluch. Jetzt nur nicht in Panik geraten. Ich musste cool bleiben, die Sache herunterspielen. Und ich musste Benedikt wecken. Ganz dringend. Aber dazu musste ich hier erst einmal raus und ich trug nicht mehr als meine Unterhose. Warum hatte ich nur mein T-Shirt liegen lassen? Oder meine Hose! So konnte ich doch niemandem unter die Augen treten. Was machte das denn für einen Eindruck? Benedikts Mutter würde mich hassen, noch bevor sie mich auch nur ansatzweise kennengelenrt hatte. Mein Blick irrte hilflos umher und blieb an dem Handtuch hängen, das ich gestern zu Boden geworfen hatte. Ja, das müsste gehen. Schnell hob ich es auf und legte es mir um den Hals. So bedeckte ich wenigstens einen Teil meiner Blöße, ohne allzu offensichtlich zu sein. Um es wirklich echt aussehen zu lassen, ließ ich kurz das Wasser laufen und befeuchtete noch meine Haare, als hätte ich geduscht. Dabei konnte ich nur denken, dass es gut war, dass ich wenigstens nicht tatsächlich unter der Dusche gestanden hatte, als sie reinkam. Warum hatte ich auch nicht abgeschlossen?   Egal jetzt. Du musst da raus, sonst wird es komisch.   Ich atmete noch einmal tief durch und öffnete dann die Badezimmertür. Draußen konnte ich hören, dass Benedikts Mutter sich in der Küche befinden musste. Ich blieb stehen und lauschte. Sollte ich jetzt wirklich dort hingehen und sie begrüßen? Oder sollte ich einfach wieder in Benedikts Zimmer verschwinden und hoffen, dass ich mich nachher irgendwie an ihr vorbeischmuggeln konnte?   Nein. Du sagst wenigstens Hallo, beschloss ich und tappte auf nackten Sohlen in Richtung Küche. Am Tresen, der diese genau wie bei uns zu Hause vom Essbereich abtrennte, blieb ich stehen und räusperte mich. Benedikts Mutter, die gerade Teewasser aufsetzte, drehte sich zu mir um.   „Guten Morgen, Frau Dorn“, sagte ich, um ihr gleich zu signalisieren, dass ich wusste, wer sie war. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich …“   Ich stockte und wusste nicht, wie ich den Satz zu Ende bringen sollte. Ehe mir allerdings etwas eingefallen war, winkte sie schon ab. „Ach, keine Ursache. Ich müsste mich bei dir entschuldigen. Oder bei Ihnen? Ich weiß nicht genau.“   Sie lachte noch einmal eine Spur zu gewollt. Ihre Hände krampften sich um den Griff des Wasserkochers. Offenbar war ihr die Sache ebenso unangenehm wie mir und das obwohl sie voll geschminkt und zurechtgemacht vor mir stand, während ich nur Shorts und ein Handtuch trug. „Ich, äh … nein. Du ist vollkommen okay. Ich bin … ein Mitschüler von Benedikt.“ Das war erst mal nicht falsch. Um es amtlich zu machen, streckte ich meine Hand aus. „Theodor von Hohenstein. Freut mich, Sie kennenzulernen.“   Benedikts Mutter nahm meine Hand und schüttelte sie. Dabei schien sie nachzudenken, wo sie meinen Namen schon einmal gehört hatte. Als es ihr einfiel, verbreiterte sich ihr Lächeln. „Ach, ich erinnere mich. Benedikt hat schon mal von dir erzählt. Euch gehört dieses Landgut, nicht wahr?“   Ich lächelte ebenfalls, erstarrte jedoch innerlich zu Eis. Was hatte er ihr gesagt? Sicherlich nicht, dass wir beide … oder doch?   „Ich … äh … ich werde ihn mal wecken gehen“, sagte ich und nickte ihr noch einmal zu. „Ja sicher. Sag ihm, dass er sich nicht zu beeilen braucht. Der Mann meiner Kollegin hat uns abgeholt, deswegen brauchte ich nicht mit der Bahn zu fahren. Ich hab ihn angerufen, aber er hat nicht gehört.“   Ich nickte und lächelte noch einmal und sah dann zu, dass ich wegkam. Als ich Benedikts Zimmertür öffnete, blinzelte er mir schlaftrunken entgegen. „Morgen“, sagte er mit einem verhaltenen Gähnen und lächelte. Für einen Augenblick vergaß ich alles um mich herum, sogar die Begegnung mit seiner Mutter. Leider holte mich die Realität viel zu schnell wieder ein, als sie mir nachrief, ob wir frühstücken wollten. Benedikt riss die Augen auf und ich lächelte ein wenig schief. „Äh, ja. Deine Mutter ist wieder da. Sie kam ins Badezimmer, als ich gerade …“   Benedikt stöhnte und ließ sich auf sein Kissen fallen. „Sag mir bitte, dass du nicht nackt warst.“ „Nein, aber fast.“   Er stöhnte noch einmal und zog sich die Decke über den Kopf. Als ich näher ans Bett herantrat und versuchte, sie von seinem Gesicht zu ziehen, hielt er sie eisern fest. „Ich bin nicht da. Ich bin krank. Oder gestorben. Oder ausgewandert. Nach Timbuktu. Oder Usbekistan. Je nachdem, was weiter weg ist.“   „Timbuktu“, antwortete ich automatisch. „Das liegt in Afrika in der Nähe des Niger.“   „Aha“, machte Benedikt nur und sein Tonfall zeigte mir mehr als deutlich, wie sehr ihn das gerade nicht interessierte. Ich musste ein bisschen grinsen. Noch einmal zog ich an der Decke. „Hey, das Schlimmste haben wir hinter uns.“ „Glaubst du! Du kennst meine Mutter nicht.“ „Wieso? Was könnte passieren?“   Bewegung kam in den Deckenberg. Benedikt kam wieder zum Vorschein mit rotem Gesicht und völlig verstrubbelten Haaren. Seine Augen funkelten böse. „Sie wird dich ausfragen. Ganz sicher. Sie wird lauter furchtbar peinliche Fragen stellen und ich werde daneben sitzen und tausend kleine Tode sterben. Bei jeder einzelnen.“   Immer noch lachend zog ich die Augenbrauen hoch. „Woher willst du das wissen?“   Er sah mich an, als hätte ich ihn gerade gefragt, ob sich die Erde wirklich um die Sonne dreht.   „Ich kenne sie seit meiner Geburt. Ich weiß, wovon ich spreche.“   Mit noch einem Stöhnen ließ er sich wieder in das Kissen sinken, vielleicht in der Hoffnung, dass es sich auftun und ihn verschlingen würde. Ich konnte es ihm ein Stück weit nachempfinden. „Du bist ja nicht alleine“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Er öffnete wieder ein Auge und sah mich an. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Stimmt. Du bist noch da.“ „Wo sollte ich sonst sein?“ „Weiß nicht.“   Er griff mit einer Hand nach mir, schielte dann jedoch an mir vorbei zur Tür. „Hast du abgeschlossen?“ „Nein, sollte ich?“   Er überlegte, dann schüttelte er den Kopf. „Nee, ist okay. Obwohl ich schon Lust gehabt hätte.“   Er lächelte jetzt wieder und strich mir mit der Hand über die Brust und weiter in Richtung Bauch. Ich fing seine Hand ab, bevor es gefährlich werden konnte. „Deine Mutter“, erinnerte ich ihn. Er verdrehte die Augen. „Ja, ja. Warum ist sie überhaupt schon da? Sie wollte doch erst in …“, er angelte nach seinem Handy und rief die Uhr auf, „drei Stunden am Bahnhof sein.“ „Der Mann ihrer Kollegin hat die beiden am Flughafen abgeholt.“ „Na, was für ein Glück.“   Wieder konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich wusste ja gar nicht, dass du fließend Sarkastisch sprichst.“ „Jahaa. Ich arbeite nebenbei noch an meinem Zynisch und Sardonisch. Nur dieses fiese Gelächter will mir einfach nicht so recht gelingen. Es ist wirklich tragisch.“   Er seufzte übertrieben schwer und blickte melancholisch in die Gegend, bis er sich nicht mehr beherrschen konnte und zu grinsen begann. Ich erwiderte es und beugte mich vor, um ihn zu küssen. „Halt, Moment!“, rief er und langte nach seinem Wasserglas, aus dem er einen großen Schluck nahm und sich lange und gründlich den Mund ausspülte, bevor er es wieder zurückstellte und mich breit anlächelte. „So, jetzt bin ich bereit.“   Ich schüttelte leicht den Kopf, bevor ich mich vorbeugte und seine Lippen ganz kurz mit meinen berührte. Als ich mich wieder zurückziehen wollte, murrte er. „Was denn? Dafür hätte ich mich nicht vorbereiten müssen.“   Sein Blick rutschte ein paar Mal von meinem rechten zu meinem linken Auge und wieder zurück, bevor er auf einmal zugriff und mir die Brille von der Nase hob. Er faltete sie zusammen und legte sie auf den Bücherstapel, der neben dem Bett lag. Danach schlang er die Arme um meinen Hals. „Küss mich“, verlangte er und ich fühlte mich an die letzte Nacht erinnert, in der ich es gewesen war, der diese Worte ausgesprochen hatte. Trotzdem kam ich seiner Bitte gerne nach und küsste ihn erneut. Unsere Lippen trafen sich und kurz darauf unsere Zungen. Wieder brummte Benedikt, dieses Mal wohliger. „Mhm, daran könnte ich mich echt gewöhnen.“   Er öffnete die Augen und sah mich an. Auf diese Entfernung fiel es mir nicht schwer auch noch die kleinste Kleinigkeit in seinem Gesicht zu erkennen. Die breiten Sommersprossen, die sich fast ausschließlich auf seiner Nase befanden, die vollen Lippen und natürlich diese tiefen, blauen Augen, die mich aufzusaugen und in die Tiefe zu ziehen schienen. Die weißen Sprenkel darin wie Schaumkronen auf einem aufgewühlten Meer. Wenn ich hätte wählen müssen, hätte ich gesagt, dass Benedikt mich an den Herbst erinnerte. Mit seinen Stürmen und bunten Blättern. Mit Regen und Sonnenschein und Tagen, bei denen man nicht so recht wusste, was einen erwartete. Aber eines war gewiss: Es wurde niemals langweilig. Ich lächelte bei dem Gedanken. „Was?“, wollte er wissen und zog mich zu sich aufs Bett. „Was ist so lustig?“ „Nichts.“ „Lügner.“   Ich atmete tief ein.   „Es ist albern, deswegen möchte ich es dir nicht sagen.“ „Ist es was Versautes?“ „Nein. Eher was Lyrisches.“ Er lächelte wieder. Seine Finger strichen durch meine Haare. Dann runzelte er die Stirn. „Hast du geduscht?“   Ich lachte. „Nein, ich hab nur so getan, um deine Mutter zu täuschen. Ich wollte nicht in Unterwäsche vor ihr stehen, ohne dafür eine gescheite Erklärung parat zu haben.“   Die Erwähnung seiner Erziehungsberechtigten ließ Benedikt erneut aufstöhnen. „Ach ja, da war ja was.“ Er seufzte. „Na, hilft wohl nichts, irgendwann ist immer das erste Mal.“   Ich horchte auf. „Das erste Mal? Das erste Mal wofür?“ „Dass sie einen meiner Freunde trifft. Also … äh … das klang jetzt irgendwie komisch. Es waren ja nicht so viele.“   Ich blinzelte und wusste nicht, worauf genau sich mein Herzklopfen gerade bezog. Darauf, dass er mich seinen Freund genannt hatte, oder darauf, dass ich anscheinend der Erste war, den er seiner Mutter vorstellte. Ich räusperte mich. „Dann hat sie … noch nie einen deiner Exfreunde getroffen?“   Er schnaubte und sah mich mit gerunzelten Brauen an. „Nein, das war …“   Er überlegte kurz, bevor er weitersprach.   „Also gut, eigentlich sollte man mit seinem Neuen ja nicht über seine Verflossenen reden, aber wenn du nun so danach fragst: Mit Zweien war ich zusammen, als ich noch nicht geoutet war. Das war … Es hat sich nicht ergeben, dass sie einen von ihnen kennengelernt hat. Und der dritte … also das war mehr so eine Art One-Night-Stand. Bei der zweiten Verabredung hat er mir klipp und klar gesagt, dass ich nicht der Einzige sein werde, mit dem er sich trifft. Da hab ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Hab ihn nie wieder gesehen.“   Er klang fast ein wenig resigniert, als er das sagte. Das gefiel mir nicht. Ich streckte die Hand nach ihm aus. „Vergiss den Kerl. Er hat ja keine Ahnung, was er verpasst.“   Ein kleines Grinsen schlich sich auf Benedikts Gesicht. „Tja, ist wohl so. Seit dem bin ich vorsichtiger geworden, was Herzensangelegenheiten angeht.“   Bei diesen Worten sah er mir tief in die Augen und ich wusste, was das bedeutete. Es war ein erneutes Geständnis. Eine Versicherung, dass er es ernst mit mir meinte. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Es erschien mir einfach noch zu früh, um irgendwelche Versprechungen zu machen. Obwohl mein Herz danach schrie, genau das zu tun. Statt etwas zu sagen, küsste ich ihn. „Wir sollten deine Mutter nicht warten lassen“, sagte ich und hoffte, dass er es nicht falsch verstand. Dass sein messerscharfer Geist durchblickte, was gerade in mir vorging. Und tatsächlich nickte er nur.   „Hast recht. Dann mal auf in den Kampf.“   Ich wartete noch ab, bis Benedikt aus dem Badezimmer zurückkam und sich ebenfalls angezogen hatte, bevor ich mich erhob und mit ihm zur Tür ging. Dort angekommen blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu mir herum. „Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?“   Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du?“   Er zuckte minimal mit den Achseln und blickte mich ein wenig unbehaglich an. „Na ja. Du weißt schon. Meine Mutter und so. Wenn sie mitkriegt, dass du …“   Er sprach nicht weiter, aber ich wusste natürlich, was er meinte. Ich versuchte, das schlechte Gefühl, das mir diese Offenlegung hätte machen müssen, hervorzurufen, aber es gelang mir nicht. Ein wenig verlegen schob ich einen Mundwinkel nach oben.   „Ich hab mir gar keine Gedanken darüber gemacht.“   Benedikt schaute mich einen Augenblick lang mit offenem Mund an, bevor er kopfschüttelnd lachte. „Du bist unglaublich, weißt du das?“ „Warum?“ „Na, weil …“ Er schnaufte und raufte sich die Haare.   „Also zuerst versteckst du dich zwei Jahre lang in deinem Schrank und jetzt, wo du einmal ins Licht getreten bist, bewegst du dich darin wie ein Fisch im Wasser. Als hättest du nie was anderes gemacht. Und du merkst es nicht einmal. Ich hab gedacht, ich seh nicht richtig, als du dir gestern einfach so das Tuch um den Hals gebunden hast. Und jetzt? Jetzt bleibst du bei der Aussicht, mit meiner Mutter zusammenzutreffen, absolut cool. Ich … ich halte das einfach nicht aus. Du schaffst mich, Theo. Ja wirklich.“ Er wollte sich umdrehen und gehen, aber ich griff nach seinem Arm und zog ihn noch einmal an mich. Meine Stirn berührte seine. „Ich hatte einen guten Lehrmeister“, flüsterte ich „Du bist derjenige, der unglaublich ist. Ich bin so froh, dass du mir noch eine Chance gegeben hast.“   Danach küsste ich ihn und er lächelte, bevor er leise sagte, dass es jetzt Zeit wäre. Ich nickte und wir gingen gemeinsam nach vorne, wo seine Mutter bereits den Frühstückstisch gedeckt hatte. Dabei hatte sie sich sichtlich Mühe gegeben. Selbst den Aufschnitt, der aus nicht viel mehr als drei schon etwas angetrockneten Scheiben Salami und einer halben Diät-Leberwurst bestand, hatte sie auf extra Teller gelegt. Die Gedecke waren mit farblich passenden Platzdeckchen und Servietten in dicken, silbernen Ringen versehen. Neben jedem Teller stand zudem ein Glas mit Orangensaft. Man hätte denken können, man befinde sich auf einem Staatsbankett. Nur die ordensgeschmückten Gäste fehlten. „Hey ihr beiden“, rief Benedikts Mutter fröhlich. „Der Tee ist schon fertig, aber ich kann auch noch Kaffee kochen, wenn jemand möchte.“   Da ich mir denken konnte, dass die implizierte Frage sich an mich richtete, schüttelte ich den Kopf. „Ich nehme gerne einen Tee.“ „Gut, dann lasst uns essen.“   Wir setzten uns; Benedikt und ich an gegenüberliegenden Plätzen mit seiner Mutter an der Stirnseite. Sie lächelte breit mit ihrem rot geschminkten Mund. „Viel ist ja nicht da. Mein lieber Sohn hat nämlich vergessen einzukaufen“, entschuldigte sie sich, kaum dass ich meinen Stuhl zurechtgerückt hatte. Benedikt rollte übertrieben stark mit den Augen.   „Ja, tut mir leid. Auch dass ich dich nicht abgeholt habe. Ich hab die Nachricht verschlafen.“ „Ach, das macht doch nichts. Sabines Mann war gestern in der Gegend, um seine Schwester zu besuchen und hat dann einfach bei ihr übernachtet. War gar kein Problem.“   Ich wartete, ob sie eine Bemerkung darüber machen würde, dass ich ja die Nacht auch hier verbracht hatte, aber sie sagte nichts. Stattdessen plapperte sie während des Essens fröhlich vor sich hin und erzählte von dem wunderbaren Strand, dem grässlichen Hotel und den grandiosen Ausflügen, die sie mit ihrer Kollegin zusammen gemacht hatte. „Wir haben uns nach drei Tagen ein Auto gemietet, weil die Busverbindungen so furchtbar waren, und dann sind wir einfach drauf los gefahren. Einmal haben wir eine wunderbar einsame Bucht mit einem süßen, kleinen Hotel entdeckt. 'Villa Rosa' hieß es und lag direkt am azurblauen Wasser zwischen diesen malerischen Felshängen. Wir haben schon gesagt, wenn wir das nächste Mal nach Mallorca fahren, buchen wir uns dort ein Zimmer. Es war wirklich ganz zauberhaft.“   Sie lachte und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Ihr Lippenstift hinterließ einen Abdruck auf dem Tassenrand.   „Es ist wirklich ein Jammer, dass du nicht mitgekommen bist“, sagte sie danach zu Benedikt. „Obwohl ich so natürlich auch ziemlich viel Spaß hatte“   Er seufzte. „In meinem Alter fährt man aber nicht mehr mit seiner Mutter in den Urlaub.“ „Ach was, du hättest ja ohne mich zum Strand gehen können. Da gab es ein paar wirklich nette Jungs. Die hätten dir bestimmt gefallen.“ „Mama!“   Ich sah, wie Benedikt leicht rot um die Nase wurde und seine Mutter wütend anblitzte, bevor sein Blick in meine Richtung huschte. Ich tat, als hätte ich nichts gehört und betrachtete interessiert die Krümel auf meinem ansonsten leeren Teller. Benedikts Mutter hingegen schlug sich die Hand vor den Mund.   „Oh weh, das tut mir leid. Ich dachte, er weiß, dass du …“ Sie blickte von Benedikt und mir und wieder zurück. „Ich wollte dich nicht aus Versehen outen. So sagt man doch, oder?“   Benedikt atmete angestrengt und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.   „Ja, Mama. Und du hast mich nicht geoutet. Theo weiß Bescheid.“ Er warf ihr bei diesen Worten einen langen Blick zu. Sie sah ihn zunächst verständnislos an, als es ihr anscheinend zu dämmern begann, was hier gerade abging. Vor Schreck blieb ihr glatt der Mund offenstehen. „Aber … aber du hast doch gesagt, er sei nicht …“   Benedikt zuckte mit den Schultern. „Hab mich geirrt.“ „Oh.“   Sie nahm mich noch einmal in Augenschein und ich lächelte schwach, als mir klar wurde, dass sie überhaupt nicht gewusst hatte, warum ich hier übernachtet hatte. Das hieß, wenn ich einfach gegangen wäre, wäre es nie zu dieser Szene gekommen und sie hätte es zumindest an diesem Tag nicht erfahren. Aber andererseits war ich froh, dass es jetzt heraus war. Nicht auszudenken, wenn sie vielleicht irgendwann mal reingeplatzt wäre, wenn wir … Nein, ich stellte es mir lieber nicht vor.   Benedikts Mutter schien mit der Situation ebenso überfordert wie ich und selbst Benedikt wusste anscheinend gerade nicht, was er jetzt sagen sollte. Schließlich atmete er tief durch. „Ich … es tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe. Das mit Theos Übernachtung war eine … recht spontane Entscheidung. Ich … ich hatte noch keine Gelegenheit, mir darüber Gedanken zu machen, dass du vielleicht was dagegen haben könntest.“   „Dagegen?“ Benedikts Mutter blinzelte überrascht. „Aber Schatz, ich hab doch nichts dagegen. Obwohl … na ja. Es wäre schon gut, wenn ihr mich in Zukunft vorwarnen würdet. Und die Badezimmertür abschließen wäre auch ganz nett.“   Dieses Mal war ich es, dem das Blut ins Gesicht schoss. Meine Wangen wurden merklich wärmer. „Ich werde mich bemühen“, sagte ich möglichst neutral. „Aber so langsam sollte ich vielleicht aufbrechen.“   „Ich bring dich noch raus.“   Benedikt schob hastig den Stuhl zurück und im nächsten Augenblick mich in Richtung Ausgang. Erst, als die Windfangtür sich hinter uns schloss, atmete er wieder auf. Er sah mich an und grinste er ein bisschen. „Sorry, das war …“   „Ziemlich schräg?“, bot ich an.   „Ja“, bestätigte er lachend. „Ich hab echt nicht gedacht, dass sie so cool damit ist. Wahrscheinlich darf ich mir gleich noch was anhören, wenn du weg bist:“   Er schwieg, während ich mir die Schuhe anzog. Danach zog er mich an sich und in eine Umarmung. „Am liebsten wäre mir, wenn du gar nicht gehen würdest.“   Ich lächelte.   „Ich will auch nicht, aber ich muss. Meine Eltern warten bestimmt schon auf mich.“   Er nickte. „Was hast du ihnen eigentlich erzählt, wo du bist?“   Benedikt wusste, dass ich meinen Eltern eine Nachricht geschrieben hatte auf dem Weg hierher. Ich hatte ihm nicht gesagt, was darin gestanden hatte. Nur, dass sie Bescheid wussten, dass ich über Nacht wegblieb. Ich atmete einmal tief durch. „Sie denken, dass ich bei Mia bin“, sagte ich wahrheitsgemäß. Sofort versteifte er sich in meinen Armen. Ich redete schnell weiter. „Es ist nicht, wie du jetzt denkst. Sie … sie hat mir angeboten, mich Jo gegenüber zu decken, weil der mich zu irgendeiner Party mitschleppen wollte. Und da habe ich der Einfachheit halber meinen Eltern das Gleiche erzählt. Ich wollte dich nicht verschweigen. Es war nur …“   Ich verstummte, weil ich nicht wusste, wie ich das weiter erklären sollte. Als ich diese Ausrede erfunden hatte, war die Lage zwischen uns ja noch eine ganz andere gewesen. Und wäre es nur um meine Eltern gegangen, hätte ich ihnen bestimmt erzählt, dass ich mit einem Freund weggehen wollte. Nur unter diesen Umständen …   „Ist schon okay. Ich versteh das.“   Benedikt wollte sich von mir losmachen, aber ich hielt ihn fest und zog ihn näher. „Hey, ich … ich will das mit dir. Wirklich. Es ist nur …“ Ich atmete erneut tief durch. „Ich hab mir einfach noch keine Gedanken darüber gemacht, wie ich es meinen Eltern sage. Oder meinem Bruder oder Jo oder sonst irgendwem. Aber ich werde es tun. Das verspreche ich dir. Weil … weil du nämlich das Beste bist, was mir je passiert ist. Und ich will, dass alle Welt das weiß.“   Seine Lippen, die er gerade noch zusammengepresst hatte, verzogen sich zu einem kleinen Lächeln. „Wirklich?“ „Wirklich.“   Ich zog ihn noch einmal an mich und küsste ihn. Ganz sanft und vorsichtig, als würde sonst das zarte Gebilde zwischen uns zerbrechen, das ich gerade schon bis in die Grundfesten erschüttert hatte. „Ich will mit dir zusammen sein.“   Er schloss die Augen und küsste mich noch einmal. „Ich auch“, wisperte er so leise, dass ich es fast nicht hören konnte. „Ich auch.“   Danach küsste er mich noch einmal und ich wusste, dass das hier der Beginn von etwas wirklich Gutem war. Ich wusste zwar noch nicht, wie ich es anstellen würde, aber ich wusste, dass ich ihn nie wieder loslassen würde. Trotzdem musste es irgendwann sein. Wir verabschiedeten uns unter vielen Küssen, bis ich mich schließlich herumdrehte und anfing, den weißen Kiesweg entlangzulaufen. Ich kam drei Schritte weit, ehe ich stehenblieb. Mir fiel nämlich auf, dass mir etwas sehr Wichtiges entfallen war. Als ich mich umdrehte, sah Benedikt mich zunächst verständnislos an, bevor er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. „Wir sind so dämlich.“ „Kein Widerspruch.“ „Dein Rad steht immer noch am Bahnhof.“ „Exakt.“   Ich grinste und er ebenfalls, bevor er seiner Mutter über die Schulter zurief, dass er mich eben zum Bahnhof bringen würde. Dann schlüpfte er in seine Schuhe, schnappte sich den Schlüssel und zog die Haustür hinter sich zu. „Und ich dachte schon, ich hätte dein dummes Gesicht heute zum letzten Mal gesehen.“ „Ah, das tut mir jetzt aber leid für dich, dass ich dich noch weiter belästigen muss.“ „Mir auch.“   Er grinste und nahm meine Hand, bevor wie beide wie zwei Irre den Weg hinab rannten und dabei lachten und lachten und lachten. Die Nachbarn, wenn sie es denn gesehen hätten, hätten bestimmt gedacht, dass wir verrückt waren. Aber das waren wir nicht. Nur wahnsinnig verliebt. Alle beide. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)