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Herz über Kopf

von

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Wolken am Horizont

Der Pfad unter unseren Füßen wurde mit jedem Schritt unwegsamer und die Dunkelheit um uns herum zog sich Stück für Stück weiter zusammen. Je tiefer wir in den Wald kamen, desto schlimmer wurde es. Kein Laut war zu hören außer dem Rauschen des Windes in den Wipfeln. Es war nicht wirklich bedrohlich, aber die anhaltende Stille drückte auf meine Ohren und auf die Stimmung.
 

Irgendwann blieb ich stehen und ließ den Schein der Taschenlampe über die Umgebung wandern. Die Stämme der Bäume leuchteten braun und grün im hellen Licht. Sie standen dicht an dicht. Dazwischen der Waldboden voller Blätter und hier und dort ein querliegender Ast oder ein vereinzelter Busch. Der Weg war mit Gras überwuchert und sah nicht besonders benutzt aus. In einiger Entfernung konnte man den Waldrand erkennen. Von den anderen keine Spur.
 

„Sag mal, kann es sein, dass wir hier falsch sind?“
 

Ich hatte meinen Gedanken kaum ausgesprochen, als auch schon der Griff von Kurts Hand um meine Finger fester wurde.
 

„Heißt das, wir haben uns verlaufen?“
 

„Nein“, hörte ich Benedikts Stimme von Kurts anderer Seite. „Wir sind doch einfach geradeaus gegangen.“
 

„Bist du sicher?“, hakte ich vorsichtig nach. „Vielleicht haben wir ja im Dunkeln die Richtung verloren.“
 

„Quatsch. Das war bestimmt der richtige Weg.“
 

Benedikt klang leicht gereizt. Warum regte er sich denn so auf? Konnte doch mal vorkommen, dass man sich verlief. Als Kurt jedoch neben mir ein leises „Ich hab Angst“ von sich gab, ahnte ich mit einem Mal, warum Benedikt so reagiert hatte. Er wusste vermutlich ebenso wie ich, dass wir hier falsch waren, aber er hatte das vor Kurt nicht zugeben wollen, damit der Kleine nicht durchdrehte.
 

„Benedikt hat bestimmt recht“, versicherte ich Kurt daher schnell. „Wir haben uns nicht verlaufen. Außerdem war ich vor ein paar Tagen mit Reike und den anderen schon mal hier. Der Wald ist nicht so groß. Wir können hier nicht verloren gehen.“
 

Ich hörte, wie der Kleine leise aufatmete, und wünschte mir, ich hätte es ihm gleichtun können. Doch für mich stand jetzt quasi fest, dass wir uns verlaufen hatten. Irgendwo mussten wir falsch abgebogen sein.
 

„Weißt du, ich werde mal kurz ein Stück zurückgehen und sehen, ob ich … ob ich meine Uhr wiederfinde. Sie scheint mir irgendwie runtergefallen zu sein.“
 

Die Lüge war nicht besonders glaubhaft, aber ich spürte, wie Kurt seinen Griff lockerte. Im nächsten Moment knackte es ganz in der Nähe und sofort schlossen sich seine Finger wieder wie ein Schraubstock um meine Hand.
 

„Was war das?“, flüsterte er.
 

„Ein Reh?“, schlug ich vor. In Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was es sein konnte. Wieder knackte es und dieses Mal war das Geräusch schon näher. Jetzt hörte man auch noch ein lautes Schnüffeln und merkwürdiges Schnarren, das von irgendwo neben dem Weg kam. Es klang wie ein sehr großes Tier. Ein Tier, das offenbar keine Angst hatte, dass es irgendjemand hörte. Kurts Hände begannen zu schwitzen.
 

„Ist das ein Wildschwein?“, wisperte ich ebenso leise wie er, vielleicht sogar noch ein wenig leiser. Es gab nicht viele Tiere im Wald, die einem gefährlich werden konnten, aber die hauerbewehrten Rüsseltiere gehörten sicherlich dazu.
 

„Das müsste mehr Lärm machen“, antwortete Benedikt ebenso flüsternd.

„Bist du sicher?“

„Ja, ganz sicher.“
 

Das laute Schnüffeln verharrte jetzt an einem Platz. Man hörte Rascheln und Schnaufen und diese merkwürdigen Grunzlaute, die ziemlich aggressiv klangen. Was immer dort auch unterwegs war, ihm passte etwas ganz und gar nicht. Ich merkte, wie sich auch mir die Nackenhaare aufstellten. Einzig die Tatsache, dass Benedikt immer noch ganz ruhig blieb, hielt mich davon ab, schleunigst den Rückzug anzutreten.
 

„Leuchte mal dort drüben hin“, bat er mich und ich tat ihm den Gefallen. Tatsächlich schien das Schnaufen von irgendwo dort aus dem Unterholz zu kommen. Es raschelte immer noch, allerdings waren im Lichtkegel keine mordlüstern leuchtenden Wildschweinaugen auszumachen. Das war zwar schon mal gut, machte die Geräusche aber nicht weniger merkwürdig.
 

„Ich glaube, ich weiß, was das ist.“
 

Tatsächlich machte Benedikt jetzt einen Schritt nach vorn und winkte mich und Kurt näher heran.
 

„Kommt, schaut es euch an.“
 

Ich fasste Kurts Hand fester und trat mit ihm neben Benedikt. Dem ausgestreckten Arm folgend, senkte ich den Lichtstrahl der Lampe etwas, bis ich endlich die zwei Verursacher des Spektakels entdeckte. Sie waren ziemlich klein und umkreisten einander unablässig. Einer von ihnen verursachte offenbar das Schnüffeln, der andere, der sich nicht beschnüffeln lassen wollte, die komischen Knurrlaute.
 

„Aber das sind ja Igel“, rief Kurt aus. Sofort erstarrten die beiden Stachelkugeln und zwei leuchtende Augenpaare funkelten uns vom Waldboden aus an. Wir rührten uns nicht und im nächsten Moment begannen die beiden wieder mit ihrem komischen Kreisspiel. Einer schnüffelte, einer knurrte. Ratlos blickte ich Benedikt an.
 

„Was machen die da?“
 

Im Lichtschein der Lampe sah ich ihn grinsen.
 

„Wenn ich dir verrate, dass das knurrende Tier das Weibchen ist, weißt du es dann?“
 

Ich überlegte einen Augenblick, bevor mir ein Licht aufging.
 

„Das sollen also mal Igelbabys werden“, bemerkte ich trocken.
 

„Oh, wie süß“, rief Kurt. „Können wir die dann mal angucken?“
 

„Ich fürchte, bis die geboren werden, wird es wohl noch etwas dauern.“
 

Es war nicht schwer, Benedikts Amüsement bei dieser Aussage herauszuhören. Vermutlich bezog sich das darauf, dass die Zeugung eben jener kleinen Igel wohl auch noch etwas auf sich warten lassen würde. Wenigstens wenn das Igelweibchen weiter so rumknurrte und sich mit ihrem Verehrer mitdrehte, um ihm nur ja nicht ihre Hinterseite zu präsentieren. Das Stachelschwein-Lied ergab plötzlich einen ganz neuen Sinn.
 

„Wir sollten die beiden vielleicht nicht mehr weiter stören und langsam wieder zurückgehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die anderen nicht hier vorbeigekommen sind, sonst hätten sich die Igel bestimmt ein anderes Plätzchen gesucht.“
 

„Warum?“, fragte Kurt neugierig.
 

„Das erkläre ich dir, wenn du älter bist.“
 

Als wäre dieser Satz das Stichwort gewesen, hörten wir auf einmal in der Nähe Stimmen und zwischen den Bäumen wurden einzelne Lichter sichtbar. Wir gingen ein Stück des Weges zurück und kamen tatsächlich an einen Abzweig, an dem wir offenbar falsch vom Hauptweg abgebogen waren. Auf diesem kam uns jetzt die Gruppe entgegen.
 

„Sollen wir sie erschrecken?“, fragte Kurt. Durch das Zusammentreffen mit den Igeln hatte sich seine Angst anscheinend vollkommen in Wohlgefallen aufgelöst.
 

„Nein, besser nicht“, antwortete Benedikt. „Lass uns lieber ankündigen, dass wir ihnen entgegenkommen“
 

„Das mache ich“, rief Kurt, machte sich von meiner Hand los und lief dem Rest der Gruppe wild winkend entgegen.
 

„Hey ihr, stellt euch vor, wir haben Igel im Wald gesehen. Erst dachten wir, dass es Wildschweine wären, weil die so laut gegrunzt haben, aber dann …“
 

Der Rest seiner Erzählung ging im lauten Stimmengewirr unter. Jeder wollte jetzt die Igel beobachten, aber Wolfgang verbot den Ausflug in das Paarungsrevier der Tiere.
 

„Wir müssen langsam zurück und außerdem wollen wir sie nicht stören.“
 

Murrend und meckernd, aber immerhin gehorsam setzte die Gruppe sich wieder in Bewegung. Zwischen den Kindern sah ich Kilian auf uns zukommen. Er leuchtete sich selbst mit der Lampe ins Gesicht.
 

„Na, ihr seid mir ja zwei Helden“, rief er und grinste breit. „Macht einfach eure eigene Nachtwanderung.
 

„Tja, wir sind eben immer für eine Überraschung gut.“
 

Mit diesen Worten schloss sich Benedikt der Gruppe der jüngeren Jungen an, die sich bereits zum zweiten Mal von Kurt die Geschichte mit den Igeln erzählen ließen. Ich seufzte leise und schaltete meine Lampe aus. Für einen Augenblick wünschte ich mir, dass wir wieder auf dem einsamen Waldweg wären, aber dann ergab ich mich der Menge und trottete ebenso wie die anderen brav zurück zum Camp.
 

Als wenig später alle Kinder in ihren Schlafsäcken lagen, machte ich mich noch einmal auf, um die Taschenlampen zurück ins Betreuerheim zu bringen. Ein feiner Nieselregen hatte eingesetzt und ich beeilte mich, rasch ins Trockene zu kommen. Im Aufenthaltsraum angekommen verstaute ich die Lampen im Schrank und wollte mich gerade auf den Rückweg machen, als es plötzlich wie aus Eimern zu schütten begann.
 

„Och nee, ernsthaft jetzt?“
 

Missmutig sah ich nach draußen, wo die Wassermassen zur Erde herniederstürzten. Wenn ich jetzt zum Zelt zurücklief, würde ich mit Sicherheit bis auf die Knochen durchnässt werden.
 

„Dann warte ich eben noch ab“, murmelte ich mir selber zu und setzte mich an den Tisch, an dem ich zuvor schon mit Benedikt gesessen hatte. Mein Blick fiel auf die Kiste mit Süßigkeiten. Gedankenverloren zog ich sie heran und betrachtete den Inhalt. Es waren immer noch nur Joghurtgummis und Lakritze darin.
 

„In der Not frisst der Teufel Fliegen.“
 

Ich nahm mir eine Lakritzschnecke und biss hinein. Der süße und gleichzeitig herbe Geschmack breitete sich augenblicklich in meinem Mund aus und ich schloss für einen Moment die Augen, um mir vorzustellen, dass Benedikt genau so geschmeckt hatte. Doch noch während ich versuchte, mir die Stimmung von vorhin noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, schob sich ein anderes Gesicht in meine Gedanken. Mia.
 

Ich seufzte leise.
 

Ich würde es ihr sagen müssen, aber wie? Wie sollte ich ihr beibringen, dass ich auf einmal festgestellt hatte, dass ich auf Männer stand? Dass ich mich gar in einen verliebt hatte? Das war doch der totale Wahnsinn. Sie würde es nicht verstehen. Ich verstand es ja selbst nicht. Wie sollte ich da die passenden Worte finden, um es jemand anderem zu erklären?
 

„Und wenn ich es ihr gar nicht sage, sondern einfach nur mit ihr Schluss mache?“
 

Ich sah auf die angebissene Lakritzschnecke in meiner Hand. Ich wollte den Rest nicht mehr essen, aber konnte ich sie deswegen einfach so in den Müll werfen? Oder musste ich das letzte Stück noch herunterwürgen, obwohl es mir nicht schmeckte? Musste ich nicht dazu stehen, wofür ich mich entschieden hatte?
 

Wie von selbst hob ich die Hand. Ich wollte diese Süßigkeit nicht und alles in mir sträubte sich. Trotzdem führte ich sie immer weiter zum Mund, bis ich mich schließlich selber stoppte.
 

Das macht es doch auch nicht besser.
 

Genervt stand ich auf und warf die halbe Lakritzschnecke in den Mülleimer. Zur Sicherheit schob ich noch ein zerknülltes Taschentuch darüber, damit sie niemand sah und womöglich anfing Fragen zu stellen, wer hier Lebensmittel wegwarf. Weil es immer noch regnete, setzte ich mich danach wieder zurück an den Tisch.
 

Ich zog mein Handy heraus und deaktivierte die Tastensperre. Es war schon kurz nach Mitternacht. Eigentlich höchste Zeit, um ins Bett zu gehen. Stattdessen öffnete ich den Messenger. Schon heute Morgen hatte mir das kleine Symbol neben dem Appzeichen angezeigt, dass ich eine neue Nachricht hatte. Sie war von Mia. Ich hatte sie nicht geöffnet, denn die Vorschau hatte mir bereits verraten, dass sie sich nach dem Besuchstag erkundigen wollte, der übermorgen stattfand. Es war keine weitere dazu gekommen. Das schätzte ich so an Mia. Sie drängelte nie, so wie es einige von Jos Freundinnen immer getan hatten.
 

Ich tippte auf die Nachricht, um sie vollständig anzeigen zu lassen. Nachdenklich betrachtete ich den kleinen Text. Ob ich ihr sagen sollte, dass sie vorbeikommen konnte? Was wohl Benedikt dazu sagen würde? Wieder seufzte ich, bevor ich mich daran machte, eine Antwort zu verfassen.
 

Tut mir leid. Betreuer können keinen Besuch bekommen. Wir sehen uns ja aber bald wieder.
 

Ich klemmte noch ein Herz dahinter und schickte es ab, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Ich wusste, dass es falsch war, aber ich wollte einfach nicht, dass sie sich Sorgen machte. Nicht, während ich hier festsaß. Es wäre genauso unfair gewesen wie alles andere. Und noch hatte ich mehr als die Hälfte der Lagerzeit vor mir. Genug Gelegenheit um mir zu überlegen, was ich Mia sagen wollte. Eine Gnadenfrist für uns beide.
 

Hinter einer guten Ausrede ist genügend Platz für ein Dutzend Feiglinge, hörte ich die Stimme meines Vaters. Ich ignorierte sie. Sie würde mir bei diesem Problem nicht helfen können. Ich steckte das Handy wieder weg und machte mich nun endgültig trotz des immer noch anhaltenden Regens auf den Weg zum Zelt, bevor mich noch jemand suchen kam. Immerhin würde der nächste Morgen nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen.
 

Mit schlechtem Gewissen schlief ich ein und träumte in dieser Nacht von einem Stein, den ich an einer langen Kette hinter mir herzog. Wann immer ich versuchte, mich davon zu befreien, fing der Stein an zu weinen und mich anzuflehen, ihn nicht zu verlassen. Und so zog ich weiter mit ihm durch die Lande, bis mich irgendwann der morgendliche Weckruf aus den Federn scheuchte.
 

Müde und unausgeschlafen reihte ich mich in die Schlange zum Frühstück ein und hoffte, dass man mir die unruhige Nacht nicht allzu sehr ansah. Ich hoffte umsonst, denn kaum war Kilian auf der Bildfläche erschienen, durfte ich mir schon anhören, dass ich aussah wie der Tod auf Latschen.
 

„Haha“, grummelte ich und verzog mich mit meinem Brötchen an einen halbleeren Tisch. Dort frühstückte ich und versuchte, mit dem viel zu dünnen Früchtetee endlich die Spuren der Nacht fortzuspülen. Es half ein Stück weit, sodass ich nach dem Essen dem Tag schon ein wenig zuversichtlicher entgegensah. Leider bestand der Wettergott darauf, mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Er hatte schon wieder die Schleusen geöffnet und tauchte das Lager in nasses Regengrau.
 

„Dann ist heute wohl drinnen spielen angesagt“, frohlockte Kilian und zum ersten Mal war ich ein wenig neidisch auf seine nicht zu erschütternde gute Laune.
 

„Dem kann aber auch gar nichts die Petersilie verhageln“, murrte Melina, bevor sie gähnte und sich mit den Worten „Ich brauch erst mal einen Kaffee“ in Richtung Betreuerheim verabschiedete.
 

Auch ich machte mich nach einem kurzen Abstecher ins Waschhaus auf den Weg zur allmorgendlichen Versammlung. Als ich ankam, saßen die meisten schon auf ihren Plätzen. Statt Shorts und T-Shirts, die in den letzten Tagen neben der Wikingerkluft an der Tagesordnung gewesen waren, herrschten jetzt Jeans und langärmlige Oberteile vor. Nur Kilian war ungeachtet der Temperaturen und des anhaltenden Regens in kurzen Sachen unterwegs.
 

„Ist schließlich Sommer“, verkündete er grinsend und pflanzte sich endlich auf einen Stuhl, damit wir anfangen konnten. Dafür erhob sich Wolfgang und schickte zunächst einmal einen guten Morgen in die Runde, bevor er die Besprechung eröffnete.
 

„Heute ist, wie ihr euch sicherlich schon gedacht habt, Alternativprogramm angesagt. Wenn es bis zum Nachmittag noch aufklart, werden wir heute Abend trotzdem grillen. Ansonsten verschieben wir die Stockbrot-Aktion auf die nächsten Tage, wenn es wieder trockener ist. Noch irgendwelche Fragen?“
 

„Was gibt’s zum Mittagessen?“ Kilian wieder.
 

„Gemüsesuppe“, antwortete Susanne, die heute ausnahmsweise mal früher im Camp war. „Ich brauche aber noch Hilfe beim Schnippeln. Wenn ihr also in den Zelten mal fragen würdet?“
 

„Ich mach auf jeden Fall mit“, bot Benedikt sofort an.
 

„Ich auch“, sagte ich schneller, als ich überlegen konnte. Benedikt warf mir einen amüsierten Blick zu, doch die anderen schienen froh, um die anstehende Arbeit herum gekommen zu sein.
 

„Na los, dann suchen wir uns mal noch ein paar fleißige Helferlein.“

„Geht klar.“
 

Da ich wusste, dass ich bei den Ratten erst gar nicht anzufragen brauchte, wollte ich gerade zu den Zelten der Mädchen gehen, als mir auch schon die drei großen L’s entgegenkamen. Luise, Lotte und Lena, die ältesten Mädchen aus Melinas Gruppe und Rädelsführer der „Honigbienchen“.
 

„Hey Mädels, wir brauchen noch Freiwillige für den Küchendienst. Irgendwer von euch?“
 

„Was müssen wir denn da machen?“, wollte Luise wissen.
 

„Gemüse schnippeln“, gab ich bereitwillig zur Auskunft.
 

„Örgs“, machte Lotte. „Schon wieder Gemüse? Ich glaube, ich brech gleich.“
 

„Das wäre schade, dann würdest du ja heute Abend das Lagerfeuer mit Würstchen und Stockbrot verpassen“, sagte ich übertrieben bedauernd.
 

„Spielst du dann auch wieder Gitarre?“, fragte Lena und strahlte mich unter ihrer braunen Ponyfrisur heraus an.

„Na klar.“

„Dürfen wir uns da auch mal was wünschen?“

„Wenn ihr jetzt beim Gemüseschnippeln helft, vielleicht.“
 

Ich setzte ein gewinnendes Lächeln auf und hatte schon im nächsten Moment drei willige Helferinnen gefunden, die förmlich darauf brannten, ihren Küchendienst abzuleisten. Ihre Freude wurde noch größer, als sie mitbekamen, dass ich auch dabei mitmachen würde. Als Benedikt mir entgegenkam, sah ich deutlich seine Verwunderung. Er hatte lediglich Kurt im Schlepptau.
 

„Du willst wohl deinen Fanclub erweitern?“, fragte er mit einem Kopfnicken auf die drei Mädchen, die bereits zusammen mit Kurt zum Küchengebäude rannten, um nicht allzu sehr durchnässt zu werden.
 

Ich hob lässig die Schultern.
 

„Man muss nehmen, was man kriegen kann.“
 

Er schüttelte den Kopf und dann sahen wir beide zu, dass wir ebenfalls aus dem Regen herauskamen. In der Küche erwartete uns bereits Susanne.
 

„Ah, da seid ihr ja. Ich hab die Kinder schon eingeteilt. Wir haben noch Kartoffeln und Rosenkohl zur Auswahl. Was wollt ihr putzen?“
 

„Rosenkohl“, sagten wir beide gleichzeitig und mussten im nächsten Moment lachen.
 

„Ich lasse ihn dir gerne“, sagte ich, doch Benedikt hob abwehrend die Hände.
 

„Du hast mehr Helfer organisiert, also bekommst du den Rosenkohl.“

„Nein du.“

„Du.“

Susanne lachte. „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, mache ich den Rosenkohl und ihr könnt beide Kartoffeln schälen.“
 

Wieder sahen wir uns an.
 

„Na gut“, sagte Benedikt und schob seine Ärmel nach oben. „Ich schäle, du schneidest.“
 

„Aber nicht vergessen, die Kartoffeln vorher nochmal zu waschen, damit kein Dreck mit reinkommt“, erinnerte Susanne uns, bevor sie sich daran machte, zwei Netze der grünen Röschen in Angriff zu nehmen, die neben Karotten, Paprika, Blumenkohl und grünen Bohnen ihren Weg in die Suppe finden sollten. Kurt, der von Susanne einen Hocker bekommen hatte, damit er an die Arbeitsfläche heranreichte, kämpfte mit einer Zucchini.
 

„Das blöde Ding ist viel zu lang“, meckerte er und sah missmutig auf die zwei ungleich breiten Stücke, die er fabriziert hatte.
 

„Dann schneide sie doch vorher in zwei Hälften und teil sie dann in der Mitte“, schlug Lotte vor, legte ihre Karotte beiseite und nahm Kurt die Zucchini aus der Hand.
 

„Darf ich mal? Siehst du, so. Dann ist es leichter, die einzelnen Hälften zu zerteilen.“
 

„Ui, danke“, sagte Kurt und wollte schon weitermachen, als Lotte nachsichtig lächelnd anfügte:
 

„Kein Problem. Ist doch klar, dass du das nicht weißt. Du bist ja schließlich ein Junge.“
 

Ich sah zu Benedikt rüber, der so eben eine Kartoffel zu Ende geschält hatte und sie ins Waschbecken legen wollte. Er machte eine unbestimmte Geste.
 

„Sind deine Fans“, brummte er so leise, dass die Mädchen es nicht hören konnten.
 

Ich atmete tief durch und wollte gerade anheben, eine Argumentation für „Männer am Herd“ von mir zu geben, als Luise sich bereits in das Gespräch einmischte.
 

„Das ist doch Blödsinn“, erklärte sie eine Paprika zur Bekräftigung schwenkend. „Mein Papa kann viel besser kochen als meine Mama. Dafür kann sie besser backen.“
 

„Genau“, meinte jetzt auch Lena, die sich dem Blumenkohl gewidmet hatte. „Ich will später auch mal einen Mann, der kochen kann. Sonst muss ich das ja alles alleine machen.“
 

„Eine sehr vernünftige Einstellung“, tat Susanne kund, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass Wolfgang zu Hause ebenso wenig in der Küche half wie mein Vater.
 

„Ich will später mal keine Frau“, verkündete jetzt Kurt und bevor ich noch erstaunt die Augenbrauen hochziehen konnte, fuhr er fort: „Ich werde nämlich Eisverkäufer und dann wohne ich im Eiswagen und da ist ja gar kein Platz für eine Frau. Höchstens für einen Hund. Oder einen Hamster.“
 

Ich verkniff mir ein Lachen und wandte mich lieber schnell wieder meinen Kartoffeln zu. Die stapelten sich mittlerweile im Waschbecken und der Haufen, der vor Benedikt gelegen hatte, war auf nur mehr ein Drittel geschrumpft.
 

„Du bist zu langsam“, urteilte er.

„Nein, du zu schnell.“

„Ich kann ja auch kochen“, erwiderte er in süffisantem Tonfall.

„Ah, Touché!“
 

Ich griff mir schauspielernd ans Herz, während er lachte und mich mit einem Stück Kartoffelschale bewarf.
 

„Mach lieber hin, du bist der Letzte.“
 

Ich sah mich um und tatsächlich waren die Kinder schon fertig mit ihren Gemüseportionen. Wie hatte das denn passieren können?
 

„Ich bin in der Küche wohl echt nicht zu gebrauchen“, seufzte ich, bevor ich mich nun endlich an die Kartoffeln machte.
 

„Daran hat sich also nicht viel geändert.“
 

Die beiläufige Bemerkung ließ mich für einen Augenblick stocken. Natürlich wusste ich, worauf Benedikt anspielte. Auf der Klassenfahrt hatten wir auch zusammen gekocht. Er hatte mir geholfen, mein Abendessen zu retten, nachdem Jo und Oliver mich im Stich gelassen hatten. Danach war es zu einer sehr merkwürdigen Szene zwischen uns gekommen und ich meinte noch einmal das Herzklopfen von damals spüren zu können. Wir hatten uns tief in die Augen gesehen, bevor er quasi aus der Küche des Campingplatzes geflüchtet war. Inzwischen ahnte ich, wie er sich dabei gefühlt haben musste. Demjenigen, in den man verliebt war, so nahe zu kommen und trotzdem den Eindruck zu haben, dass mindestens die Entfernung von hier bis zum Mond zwischen einem lag, war nicht besonders angenehm.
 

Ich atmete tief durch und versuchte, das Zittern zu verbergen, das sich meiner Stimme bemächtigen wollte.
 

„Vielleicht bringst du es mir ja mal bei“, sagte ich, während ich nun endlich den Kartoffeln zu leibe rückte und anfing, sie in kleine Stücke zu schneiden.
 

„Was?“

„Na, Kochen.“
 

Benedikt warf mir einen langen Blick zu.
 

„Dein Ernst?“

„Ja, warum nicht? Ich … ich würde das gerne lernen.“
 

Er zögerte einen Augenblick, bevor er nach der nächsten Kartoffel griff.
 

„Du könntest doch auch deine Mutter oder deinen Vater fragen, ob sie es dir zeigen.“
 

Das war nicht direkt eine Absage, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er eigentlich genau das gemeint hatte. Schnell legte ich ein Lächeln auf.
 

„Das ist natürlich auch eine Idee und bestimmt viel sinnvoller.“

„Bestimmt. Ich kann nämlich nur eine Handvoll Gerichte.“

„Das ist eine ganze Handvoll mehr, als ich kann.“
 

Ich grinste und er erwiderte es, aber da war ein kleiner Schatten auf seiner fröhlichen Miene. Einer, der mir nicht gefiel.
 

„Woher kennst du dich eigentlich so gut mit Igeln aus?", fragte ich, während ich scheinbar voll auf meine Arbeit konzentriert war. In Wahrheit sah ich aus den Augenwinkeln zu ihm rüber, um seine Reaktionen zu beobachten.
 

„Igel sind Josies Lieblingstiere.“

„Wer ist Josie?“

„Meine Nichte.“
 

Nichte? Ich staunte nicht schlecht. Das hieß Benedikt war schon Onkel.
 

„Ich wusste gar nicht, dass du Geschwister hast.“
 

Benedikt verzog den Mund.
 

„Doch, habe ich.“

„Bruder oder Schwester?“

„Eine Schwester. Ist aber acht Jahre älter als ich.“
 

„Aha“, machte ich nur in Ermangelung einer passenden Erwiderung. Irgendetwas sagte mir, dass er mir gerade auswich. Aber warum?
 

"Deine kleine Nichte mag also Igel", versuchte ich erneut das Gespräch in Gang zu bringen.
 

„Sie ist ganz wild darauf. Letztens war der Fernseher an und sie hat diese Tiersendung entdeckt. Daher wusste ich das mit den Igeln.“

„Du bist ganz schön schlau.“
 

Er machte eine wegwerfende Geste.
 

„Ich kann mir Sachen einfach gut merken, das ist alles. Es ist Segen und Fluch zugleich.“
 

Ich seufzte.
 

„Für mich klingt das traumhaft. Du musst doch bestimmt kaum lernen.“

„Na ja, es hält sich in Grenzen. Jeder hat halt so seine Stärken. Du kannst dafür Gitarre spielen.“
 

Er musterte mich noch einen Augenblick lag, bevor er sich den letzten Kartoffeln zuwandte. Ich hätte unsere Unterhaltung gerne weitergeführt, aber da die Mädchen mitbekommen hatten, dass es um mein musikalisches Talent ging, wurde ich sofort von ihnen belagert.
 

„Denk dran, dass wir uns jetzt was wünschen dürfen“, erinnerte mich Lena, während sie sich neben meinem Brett auf die Arbeitsfläche stützte. In der Hand hielt sie ein Stück Karotte, das sie aus der Schüssel stibitzt hatte
 

„Nein, das vergesse ich schon nicht.“, sagte ich leichthin und versuchte den Blick zu ignorieren, den mir Benedikt daraufhin zuwarf. „Was wollt ihr denn hören?“
 

„Keine Ahnung, was kannst du denn alles?“

„Oh, das ist ne Menge. Ich überleg mir was, okay?“

„Ja, toll. Danke.“
 

Die Mädchen verabschiedeten sich und nahmen auf dem Weg gleich Kurt mit nach draußen, der ebenfalls einen Haufen geschnittenes Gemüse zurückließ. Als sie draußen waren, hörte ich Benedikt aufatmen.
 

„So schlimm?“, fragte ich.

„Nein, schlimmer“, antwortete er und ich erkannte meine eigenen Worte wieder. Ich lächelte leicht.
 

Benedikt ignorierte es und wandte sich stattdessen an Susanne.
 

„Ich bin mit den Kartoffeln fertig. Brauchst du sonst noch Hilfe?“

„Nein, vielen Dank.“
 

Er wandte sich zum Gehen.
 

„Benedikt, warte mal.“
 

Ich legte die halb geschnittene Kartoffel zur Seite, trocknete mir die Hände ab und stand im nächsten Moment neben ihm.
 

„Bin gleich zurück“, sagte ich zu Susanne, bevor ich Benedikt quasi aus der Tür schob. Draußen atmete ich einmal tief durch, bevor ich ihn geradeheraus ansah.
 

„Wenn ich irgendwas Falsches gesagt habe, tut es mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
 

Er wandte den Kopf ab, bevor er ihn sacht schüttelte.
 

„Nein, schon in Ordnung. Ich … ich sollte einfach nicht so empfindlich sein.“

„Empfindlich?“
 

Er sah mich für einen Moment an, bevor auch er leise lächelte.
 

„Ach nichts, Theo. Es ist wirklich alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken.“
 

Damit verabschiedete er sich und ließ mich ratlos zurück. Er hatte gesagt, ich solle mir keine Gedanken machen, aber mit dieser Aussage hatte er genau das Gegenteil erreicht. Ich verstand nicht, was hier gerade vor sich ging. Im einen Moment war er lustig und wir blödelten herum, im Nächsten ging er wieder auf Distanz, so als hätte er es sich anders überlegt. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber ich hatte auch keine Idee, was ich dagegen tun konnte.
 

Ich werde es einfach abwarten müssen, versuchte ich mich selbst zu beruhigen, aber irgendwie wollte mir das nicht so recht gelingen. Nachdenklich ging ich zurück zu meinen Kartoffeln.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Ryosae
2020-11-23T21:15:06+00:00 23.11.2020 22:15
Ach Theo... merkst du nicht das Benedikt etwas überfordert ist mit dieser neuen Situation?
Vor kurzer Zeit hat er dich gehasst und jetzt... hoffentlich nicht mehr. ;)
Vielleicht verwirrt ihn diese indirekte Offensive von Theo?

Danke das du die Nachtwanderung noch etwas ausgeschmückt hast. Hat mir gut gefallen. :)

Ja die Sache mit Mia wird noch echt unschön werden. Ob er es direkt beenden wird, und ob er zumindest ihr gegenüber zugibt das er schwul ist? Bin gespannt wann dies der Fall sein wird :)
Antwort von:  Maginisha
24.11.2020 08:18
Hey Ryosae!

Tja, du hattest dir ja einen Blick in Benedikts Kopf gewünscht. Da isser nu. ;) So ganz geheuer scheint ihm das mut Theo zumindest nicht zu sein. Mal sehen, was das noch wird.

Eigentlich hatte ich die Wanderung wirklich nur kurz gehalten, aber dann kam doch noch der rettende Einfall. Mein Herz blutet zwar immer etwas, wenn ich längere Teile löschen muss, aber wenn das Ergebnis dann überzeugt, hat es sich ja gelohnt.

Für die Aussprache mit Mia hat Theo sich jetzt noch etwas Zeit erkauft. Aber gibt es eigentlich einen "richtigen" Weg das zu machen? Wir werden auch das erleben.

Vielen Dank für den Kommentar und noch eine schöne Woche!

Zauberhafte Grüße
Mag


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