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Herz über Kopf

von

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Hand in Hand

„Ey Alter, lass das.“

 

„Ich mach doch gar nichts.“
 

„Jungs …“

 

„Ich hab gesagt, du sollst das lassen.“

 

„Jungs!“

 

„Jetzt hör endlich auf mit dem Scheiß.“

 

„Tim!“
 

„Ja, was denn? Ist doch voll schwul, hier nur rumzuliegen.“

 

Ein entnervtes Jungengesicht guckte mich an.

 

„Ich darf zu Hause auch immer aufbleiben“, meldete sich jetzt auch noch Lasse zu Wort und gab damit den Startschuss für einen Schwall an Beteuerungen und Verwünschungen, mit dem die Kids sich über die Ungerechtigkeit der erzwungenen Bettruhe beschwerten. Wer immer auch auf die Idee gekommen war, alle Kinder vor der Nachtwanderung eine Stunde zum „Vorschlafen“ zu schicken, hatte anscheinend nicht miteingerechnet, dass die Zehn- bis Elfjährigen so überhaupt nicht daran dachten, sich still und friedlich in ihre Betten zu legen.

 

Ich zählte nicht mehr bis zehn, sondern entließ meinen Unmut ebenso wie die anderen Zeltinsassen in die Freiheit.

 

„Noah, lass Tim endlich in Ruhe. Und du, Tim, mäßige dich gefälligst in deiner Wortwahl.“

 

Wütend blitzte ich den vorlauten Zwilling an, der offenbar ebenso wie Noah das Ärgern seines Nebenmannes zur einzig möglichen Beschäftigung erkoren hatte und somit das Epizentrum dieses Aufruhrs bildete.

 

„Mäßige dich in deiner Wortwahl“, äffte er mich nach, allerdings nur leise. Das Augenverdrehen, das er dazu machte, war allerdings laut genug.

 

„Es reicht jetzt“, donnerte ich und kam endgültig aus meiner liegenden Position hoch. „Noch ein Mucks von einem von euch und ihr bleibt alle hier. Das gesamte Zelt!“

 

Murrend legten sich die Jungen wieder auf ihre jeweilige Bettstatt und schmollten dort vor sich hin. Zum Glück gab es hier drinnen keinen Rauchmelder, denn der hätte bei der dicken Luft sicherlich schon längst Alarm geschlagen.

 

Wo Stephan bloß bleibt?

 

Solange er nicht da war, hatte ich das Oberkommando über die „Bilgenratten“, wie sie sich genannt hatten. Jedes der Zelte hatte ganz am Anfang einen Gruppennamen bestimmen müssen, und da Stephan so kreative Namensschöpfungen wie „Die Hundehaufen“ oder „Kackedus“ abgelehnt hatte, waren wir irgendwann bei diesem hier gelandet. Wobei ich zugeben musste, dass die Ratte im Matrosenkostüm, die Jasper auf unser Schild gemalt hatte, gar nicht mal schlecht aussah, selbst wenn die anderen gemosert hatten, das sie zu viel Ähnlichkeit mit Hein Blöd hatte.

 

Im Nachhinein wäre es mir lieber gewesen, wenn wir schimpfwortmäßig auf dem Fäkal-Niveau geblieben wären, aber als Finn das erste Mal die frühe Bettgehzeit als „schwul“ bezeichnet hatte, hatte ich ihn dummerweise gefragt, ob er denn überhaupt wisse, was das hieße.
 

„Blöd halt“, hatte er gemeint. „Sagt mein Bruder auch immer, wenn er Hausaufgaben machen muss.“

 

In dem Moment war mir klargeworden, auf was für dünnes Eis ich mich begeben hatte. Einerseits wollte ich es nicht unkommentiert lassen, andererseits war es nicht an mir, die Kinder zu erziehen oder gar aufzuklären. Also verbot ich ihnen das Wort einfach, was natürlich dazu geführt hatte, dass es jetzt erst recht in aller Munde war. Nicht in dem Sinne, in dem es andere gebrauchten, aber der Grundstein war damit alle Mal gelegt.

 

Ich bin so dämlich, dachte ich bei mir und war ehrlich erleichtert, als Stephan endlich zurückkam und wieder das Kommando übernahm.
 

„Alles in Ordnung hier?“, wollte er wissen und musterte mich kritisch.
 

„Ja, alles bestens. Ich geh aber nochmal raus.“

„Gut, aber denk dran, in einer halben Stunde geht’s los.“

„Bis dahin bin ich zurück.“

 

Ich schlüpfte durch die Plane nach draußen und hatte zum ersten Mal seit gefühlten zwei Stunden das Gefühl, frei atmen zu können. Ich wusste, dass es unnötig war, mich so darüber aufzuregen, aber eigentlich war es auch nicht das Wort an sich, das mich so gestört hatte. Es war mehr meine Unfähigkeit, mich in der Situation sinnvoll zu verhalten, die mich so aus der Bahn gebracht hatte.

 

Weil du Schiss hattest, dass sie was merken.
 

Dabei hatte ich doch gedacht, ich wäre jetzt cool damit. Doch diese Coolness reichte anscheinend auch nur bis zu meiner eigenen Nasenspitze. Ich schnaubte und machte mich auf den Weg zum Betreuerheim. Als ich eintrat, erwartete ich allein zu sein, doch an einem der Tische saß zu meinem Erstaunen jemand. Jemand, den ich hier nicht erwartet hatte. Sofort wurden meine Schritte langsamer.
 

„Hey“, machte ich und hob grüßend die Hand. „Stör ich dich?“

 

Benedikt sah von seinem Handy auf und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, warum?“

„Ach, nur so. Wollte nur sichergehen.“

 

Ich schloss die Tür hinter mir und machte dabei etwas langsamer, als ich eigentlich gemusst hätte. Die Gedanken ratterten durch meinen Kopf. Am liebsten hätte ich ihm sofort von dem Vorfall im Zelt erzählt. Vielleicht hatte er eine Idee, wie man mit so was umging. Gleichzeitig wollte ich ihm nicht zu sehr auf die Pelle rücken. Selbst Kilian hatte bereits mit dem ihm eigenen Taktgefühl festgestellt, dass wir in den letzten Tagen häufiger als vorher zusammen abhingen. Meist saßen wir sogar beim Essen an einem Tisch, obwohl ich ja eigentlich zu den „Ratten“ gehört hätte statt zu den „Gummibärchen“, wie sich Benedikts Zelt genannt hatte. Der Einzige, den das so überhaupt nicht störte, war Kurt.

 

„Ich find’s gut, dass ihr wieder miteinander redet“, hatte er dazu zu sagen gehabt. „Meine Mama sagt auch immer zu meinem Papa, dass man über Probleme sprechen muss.“

 

„Und was sagt dein Papa dazu?“, hatte Benedikt schmunzelnd gefragt.
 

„Gar nichts“, hatte der Knirps lapidar geantwortet und noch einmal von seinem Fischstäbchen abgebissen. „Der geht lieber angeln.“

 

Fürs Angeln war es jetzt allerdings etwas spät, daher atmete ich noch einmal tief durch und hoffte, dass man mir nicht ansah, dass mich gerade etwas umtrieb. Leider versagte diese Strategie bei Benedikt vollkommen. Kaum hatte ich mich an den Tisch gesetzt, zog er fragend die Augenbrauen nach oben.
 

„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Keine. Wieso?“

„Na, weil du so guckst.“

 

Ich seufzte.

 

„Ach nichts. Kinder sind anstrengend.“

„Erzähl mir was Neues.“
 

Er grinste und schob mir die Naschkiste rüber, an der er sich offenbar gerade bedient hatte. Ich spähte über den Rand und rümpfte die Nase.

 

„Nur noch Lakritze?“

„Oder diese Gummiteile.“

„Die sind mit Joghurt!“

„Na und?“

„Die schmecken nicht.“

 

Unverrichteter Dinge schob ich die Kiste wieder zurück.
 

„Wer hat das Zeug eigentlich gekauft, wenn es niemand isst?“

„So wie es schmeckt, war das die Betreuergeneration von 2015.“

 

Benedikt grinste und biss noch einmal ein Stück von der Lakritzschnecke ab, die er nach und nach abgerollt hatte.
 

„Nun spuck schon aus, was los ist.“

 

Ich seufzte noch einmal, bevor ich ihm erzählte, was im Zelt passiert war. Als ich geendet hatte, nickte er verständnisvoll.
 

„Ja, das ist ne blöde Situation. Aber wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn du das den Eltern oder Lehrern überlässt, solange nicht jemand direkt angegriffen wird. Zumal wenn sie gar nicht wissen, was es heißt.“

 

Ich nickte, weil ich mir das ja auch schon gedacht hatte, aber Benedikt warf mir trotzdem einen kritischen Blick zu.

 

„Passt dir nicht, oder?“

 

Ich seufzte noch einmal.

 

„Nein, eigentlich nicht. Ich … ich hab irgendwie das Gefühl, dass man da gleich einschreiten sollte, damit sie verstehen, wie verletzend das ist. Wenn das Wort nicht so stigmatisiert würde, könnte es helfen, dass Betroffene eher darüber reden können. Einfach weil es nicht in so einen negativen Kontext gesetzt wird. Das … ich glaube, mir hätte das geholfen.“

 

Ich wandte den Blick ab. Es kam mir komisch vor. Einerseits redete ich so klug daher wie die Infoseiten, die ich in letzter Zeit gelesen hatte. Andererseits fühlte es sich einfach anders an. Oder hatte sich anders angefühlt. Ich wollte nicht wieder dahin zurück, aber ich war mir nicht sicher, ob ich dem Druck von außen gewachsen war.

 

„Dabei hast du mich doch damals schon verteidigt.“

 

Benedikts Feststellung war leidenschaftslos. Lediglich eine Tatsache. Ein Fakt aus unserer gemeinsamen Vergangenheit. Trotzdem erinnerte ich mich sofort wieder an die Zeit, als ein ehemaliger Klassenkamerad Benedikt als bevorzugtes Opfer für seine Mobbingattacken auserkoren hatte. Ich weiß nicht, ob Oliver damals wirklich gewusst hatte, dass Benedikt schwul war, aber er hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihn als „Schwuchtel“ zu bezeichnen oder ihn sonst irgendwie zu drangsalieren. Damals hatte ich mein Möglichstes versucht, um das Unheil von Benedikt fernzuhalten. Hatte ich zumindest gedacht. Heute hatte ich das Gefühl, viel zu wenig getan zu haben. Vielleicht weil ich mich unterbewusst nicht selbst zur Zielscheibe hatte machen wollen.

 

Ich zuckte mit den Schultern.
 

„War vielleicht einfach … ich mochte dich halt.“

 

Immer noch wich ich Benedikts Blick aus. Ich ahnte, dass, wenn ich ihn jetzt ansah, er erkennen würde, wie es um mich bestellt war. Viel zu viele meiner Gedanken kreisten im Moment um ihn. Wenn ich morgens aufstand, war er das Erste, was mir in den Sinn kam, und abends im Zelt malte ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn wir … zusammen wären. Wie es wäre, ihn zu küssen, in seinen Armen zu liegen oder mit ihm zusammen einzuschlafen. Natürlich waren da auch andere Gedanken. Die Erinnerung von seinem Geschmack auf meinen Lippen, seiner Haut unter meinen Fingerkuppen. Das Gefühl seines Körpers über meinem und seiner Lippen an meinem Bauch. Meist stoppte ich meine Vorstellung dort, bevor sie sich zu sehr manifestieren konnte, aber ich hatte schon feststellen müssen, dass Träume sich ungleich schwerer steuern ließen. So langsam wurde es wirklich peinlich, jedem Morgen so steif aufzuwachen. Vielleicht sollte ich bei Gelegenheit mal etwas dagegen tun.
 

„Woran denkst du gerade?“
 

Die Frage katapultierte mich aus meiner Gedankenwelt zurück in die Realität. Ertappt sah ich zu Benedikt hoch. Er grinste.

 

„Ah ja, daran also.“
 

„Gar nicht“, schoss ich zurück und wusste im gleichen Moment, dass ich mich damit erst recht verraten hatte. Unwillkürlich musste ich auch grinsen.

 

Benedikt steckte sich das letzte Stück Lakritzschnecke in den Mund. Mein Blick blieb an seinen Lippen hängen. Wie er jetzt wohl schmeckte? Nach Süßholz mit einer leicht bitteren Note? Vielleicht auch ein wenig salzig. Oder doch eher süß? Ein wenig nach sich selber?

 

Wie von selbst begannen meine Gedanken zu wandern. Ich stellte mir vor, wie ich mich erhob, zu ihm hinüberging und mich auf seinen Schoß gleiten ließ. Seine festen Oberschenkel unter meinen, seine breite Brust direkt vor mir. Ich stellte mir vor, wie ich die Hände in seinen Nacken legte, die Finger in seinen Haaren vergrub und ihn zu mir heranzog. Sein Kopf legte sich leicht schräg und er empfing mich zu einem ersten, vorsichtigen Kuss. Er schmeckte tatsächlich nach Lakritze. Ich roch die Süßigkeit in seinem Atem, der über meine Haut strich. Plötzlich wollte ich mehr davon. Ich presste meine Lippen auf seine und er öffnete bereitwillig den Mund, um meine Zunge willkommen zu heißen. Die erste Berührung sandte einen Stromstoß direkt in meine Lenden und ich seufzte in den Kuss. Das war so gut. So unheimlich gut.

 

Ich rutschte näher und seine Arme schlossen sich um mich. Kräftige Hände fuhren meinen Rücken hinab, während sich unsere Zungen einen ungestümen Ringkampf lieferten. Blut pulsierte in meinem Schritt und ich spürte die deutliche Schwellung unter mir. Mit sanftem Nachdruck lehnte ich mich dagegen und entlockte endlich auch ihm ein Stöhnen. Er biss sanft in meine Unterlippe, saugte sie ein und ließ seine Zunge darüber streichen. Ich keuchte. Mittlerweile war ich vollkommen erregt und der Druck an meiner Vorderseite machte mich schier wahnsinnig. Gleichzeitig spürte ich, wie seine Hände tiefer glitten über meinen Po, wo sie schließlich zu liegen kamen und kräftig zudrückten. Die Sensation der Berührung durchfuhr mich heiß. Ich wollte das hier. Ich wollte ihn. Mehr als alles andere. Wie wild stürzte ich mich in den Kuss und vergaß die Welt um mich herum. Ich wollte ihm nur noch näher sein. Viel näher. Unendlich viel näher.
 

„Theo?“

 

Ich schreckte aus meinem Tagtraum hoch. Im mittlerweile herrschenden Halbdunkel konnte ich Benedikt lächeln sehen.

 

„Alles in Ordnung? Du schienst gerade ziemlich weit weg zu sein.“

 

Das belustigte Funkeln in seinen Augen konnte ich zwar nur erahnen, aber ich wusste, dass es da war. Er wusste, woran ich gedacht hatte, oder? Das war so dumm von mir. Hier vor ihm zu sitzen und mir vorzustellen, wie ich ihm die Klamotten vom Leib riss, war nicht gerade eine meiner geistigen Glanzleistungen. Zumal ich jetzt auch noch sichtbar erregt war. Wenigstens verschwand auch dieser Fakt im gnädigen Zwielicht unter der Tischplatte. Verlegen räusperte ich mich.
 

„Ich musste nur an Oliver denken“, änderte ich abrupt das Thema. „Daran, wie arschig er sich damals verhalten hat. Zum Glück gibt es bei uns nicht so viele dieser Leute.“

„Und trotzdem immer noch genug.“

„Wohl wahr.“

 

Ich fuhr mit dem Finger über die Tischplatte. Wie es wohl war, wenn man „schwul“ den Tag bestritt? Also im vollen Bewusstsein es zu sein. Als ich eine entsprechende Frage stellte, ließ Benedikt geräuschvoll die Luft entweichen.

 

„Na, ich denke, auch nicht anders als jeder andere. Ich meine, du läufst ja nicht durch die Gegend und geierst jedem hübschen Hintern hinterher, den du siehst. Aber ja, manchmal fallen dir schon Sachen auf. Reikes Regenbogenarmband zum Beispiel.“

 

Ich runzelte die Stirn. „Ach echt? Das hab ich gar nicht gesehen.“

 

„Es ist vom letzten CSD. Ich hab die Aufschrift gesehen.“

 

Ich überlegte. Natürlich hatte ich auch schon von den Demonstrationen zum Christopher Street Day gehört. Ich hatte Berichte im Fernsehen darüber gesehen und mir Fotos und Videos im Internet angeschaut.
 

„Hat sie das wegen ihrer Mütter?“

 

Inzwischen hatte selbst ich mitbekommen, dass Reike aus einem reinen Frauenhaushalt stammte.

 

„Auch. Aber sie meinte auch mal zu mir, dass sie wohl pan ist.“

„Sie ist was?“

„Pansexuell.“

 

Ich guckte in dem Moment bestimmt dumm aus der Wäsche. Zum Glück war gerade kein Spiegel in der Nähe.
 

„Und das heißt was? Steht sie auf Flötenspieler oder auf ziegenbeinige Sagengestalten?“

 

Benedikt lachte.
 

„Nein, das heißt, sie steht auf Menschen, egal welches Geschlecht sie haben.“

„Ich dachte, das heißt bi.“

„Nein, denn das bezieht sich nur auf Männer oder Frauen. Pansexuelle können Gefühle für jedes Geschlecht entwickeln. Auch Trangender, Nonbinär, Intersexuell oder was es sonst noch so gibt. Oder besser gesagt, es ist ihnen egal, was für ein Geschlecht ihr Partner hat. Sie lieben denjenigen einfach als Person.“

 

Ich versuchte einen Moment lang, mir das vorzustellen, aber ich kam nicht besonders weit. Benedikt hingegen schien kein Problem damit zu haben. Er wusste all diese Dinge. Ich schwankte zwischen Bewunderung für ihn und der Scham über meine eigene Unzulänglichkeit.

 

Es ist kein Wettbewerb, hörte ich ihn in meinem Kopf plötzlich sagen und musste ein wenig lächeln. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war es okay, wenn ich einfach mein Bestes gab und offen war für das, was auf mich zukam. Ich musste nicht über Grenzen gehen, die mir unangenehm waren. Ich hatte Zeit und auch dafür war Platz genug auf dieser Welt.

 

Du machst mich zu einem verdammt viel besseren Menschen, dachte ich und atmete einmal tief durch, weil ich ihm das nun wirklich nicht sagen konnte. Es hörte sich dämlich an, auch wenn es stimmte. Er hatte mir so viel gegeben, während ich … Ich seufzte innerlich.
 

„Warst du eigentlich auch da?“, fragte ich stattdessen, um nicht schon wieder eine peinliche Stille entstehen zu lassen. „Auf dem CSD meine ich.“

 

Benedikt nickte.
 

„Letztes Jahr das erste Mal. War ganz schön was los. Ich glaube, ich habe noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Vor allem nicht mit so wenig Kleidung am Leib. Es war groß und laut und bunt und verrückt“

 

Er lachte und ich stimmte mit ein. Er wirkte so glücklich, während er davon sprach. Ich konnte ihn mir richtig vorstellen, wie er mit einer Regenbogenflagge auf der Wange mit den anderen feierte. Ausgelassen und frei.

 

„Das würde ich auch gerne mal sehen“, entkam es mir, noch bevor ich richtig darüber nachgedacht hatte.
 

„Wenn du willst, können wir ja mal zusammen hingehen. Am Wochenende nach dem Zeltlager startet das Ganze wieder in Hamburg.“

„Das würdest du machen?“

„Klar, warum nicht?“

 

Ich hätte beinahe gelacht. Ja, warum nicht? Schließlich waren wir beide gay. Und Freunde, soweit ich das beurteilen konnte. Warum sollten wir also nicht zusammen dorthin fahren? War doch das Normalste der Welt.
 

„Find ich gut“, sagte ich und versuchte meine Freude über seine Zusage unter lange eingeübter Coolness zu verbergen. Es gelang nicht so recht, denn das Grinsen, das sich auf meinem Gesicht ausbreiten wollte, kämpfte mit harten Bandagen. Bevor es jedoch die Oberhand gewinnen konnte, stand ich auf und deutete auf das Fenster, hinter dem die Dämmerung bereits in vollem Umfang hereingebrochen war.

 

„Ich glaube, wir müssen so langsam.“

„Ja, wir sollten wohl. Lass uns gleich die Taschenlampen mitnehmen.“

„Wird gemacht.“

 

Ich ließ mir von Benedikt einen Beutel reichen, in der mindestens vier der schweren, an Suchscheinwerfer erinnernden Lampen steckten.

 

„Fehlen nur noch die Hunde“, witzelte ich und versuchte nicht zu deutlich zu erschaudern, als er dicht hinter mir durch die Tür trat. Wir hatten eine Verabredung. Nach dem Zeltlager. Ich konnte es kaum fassen.

 

„Na, komm. Gehen wir“, meinte Benedikt und ging voraus, sodass ich meinen Gesichtszügen endlich freien Lauf lassen konnte. Wir hatten eine Verabredung! Natürlich verkniff ich mir, deswegen in lautes Jubelrufen auszubrechen, und folgte Benedikt lieber den Berg hinab in Richtung der Zelte.

 

 

Am Fuß des Hügels angekommen, auf dem der Sportplatz lag, quoll uns bereits aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. Die Kinder redeten und liefen alle durcheinander, während die Betreuer versuchten, sie in Gruppen einzuteilen, damit nicht jemand auf der Strecke verloren ging.
 

„Sind jetzt alle da?“, fragte Wolfgang, der die Führung des Zugs übernehmen würde, nachdem wir einigermaßen Ordnung in das Chaos gebracht hatten.
 

„Ja, alle anwesend und abgezählt“, bestätigte Sönke.

 

Ronya und Annett hatten sich bereit erklärt, die „Daheimgebliebenen“ zu beaufsichtigen, denn die Nachtwanderung war keine Pflichtveranstaltung. Wer lieber schlafen wollte oder sich im Dunkeln fürchtete, konnte im Lager bleiben. Das waren allerdings die wenigsten. Die meisten der LaKis warteten aufgeregt, dass es endlich losging.

 

„Und denkt dran, nicht zu tief in den Wald gehen“, murmelte Kilian düster dreinblickend in die Runde, „sonst holt euch der böse Wolf.“

 

Im nächsten Moment sprang er mit lautem Gebrüll auf eine Gruppe Mädchen zu, die sofort in ohrenbetäubendes Kreischen ausbrachen und in alle Richtungen davon stürzten.

 

„Mensch Kischi, hör mit dem Mist auf!“, riefen sie aus sicherer Entfernung, doch er lachte nur und setzte Zweien von ihnen nach, die sich umdrehten und ins Dunkel davon rannten.
 

„Keiner entfernt sich zu weit von der Gruppe!“, rief Wolfgang ihm hinterher, bevor er Stephan kopfschüttelnd bat, doch mal nach dem Rechten zu sehen und die drei zurückzuholen.
 

„Ihr zwei bildet die Nachhut“, wies er im nächsten Moment Benedikt und mich an.
 

„Geht klar“, erwiderte Benedikt nur und gab die letzten zwei Taschenlampen an Reike und Thies aus, die in der Mitte den Weg leuchten würden. Zurück blieben ich, Benedikt und die letzte Lampe aus meiner Tasche.

 

„Na dann los. Auf zur Nachtwanderung.“

 

Er grinste mich an und ich grinste zurück, bevor wir uns beide auf den Weg machten, dem lärmenden Trupp zu folgen, der sich jetzt auf einem parallel zur Straße verlaufenden Feldweg in Richtung Wald in Bewegung gesetzt hatte.

 

 

Die Nachtluft wurde, sobald wir das Camp verlassen hatten, zunehmend frischer und ich schloss schon bald den Reißverschluss meiner Jacke, die ich mir vorsichtshalber aus dem Zelt geholt hatte. Auch Benedikt zog den Pullover über, den er mitgebracht hatte. Währenddessen hielt ich die Lampe. Danach trotteten wir weiter immer den Stimmen und Lichtern nach.

 

Um uns herum senkte sich schrittweise die Nacht herab. Die letzten Reste der blassen, noch von der Sonneneinstrahlung orange angehauchten Himmelsfärbung verschwanden und wurden mit jedem Schritt mehr zu einem Tiefen Blau. Alles um uns herum war nur noch scherenschnittartig zu erkennen. Wind kam auf und fuhr mir durch die Haare und unter die Jacke. Ich fröstelte.

 

„Frierst du?“, fragte Benedikt aus der Dunkelheit. Ich schüttelte den Kopf, bis mir aufging, dass er das vermutlich nicht gesehen hatte. Oder doch? Immerhin war ihm aufgefallen, dass ich den freien Arm um mich gelegt hatte.
 

„Ich kann sonst die Lampe nehmen.“

„Nein, nicht notwendig. Mir ist nicht kalt.“

 

Wieder gingen wir ein Stück schweigend nebeneinander her, bis im Schein der Taschenlampe eine kleine Gestalt auftauchte. Sie kam uns entgegen.

 

„Kurt?“

 

Ich leuchtete dem Jungen kurz ins Gesicht, um zu sehen, ob er es wirklich war, senkte dann aber den Lichtkegel, um ihn nicht zu blenden.

 

„Ja, ich hab euch gesucht“, antwortete der Kleine.

„Ach so? Warum das?“

„Weil ich mit euch gehen wollte.“

 

Der Knirps streckte Benedikt die Hand entgegen und der nahm sie in seine rechte, sodass Kurt jetzt zwischen uns ging. Plötzlich spürte ich eine Berührung an meinem linken Arm.

 

„Deine auch“, verlangte Kurt. Ich zögerte kurz, bevor ich ihm ebenfalls meine Hand reichte. Seine kleinen Finger waren warm zwischen meinen und er klammerte sich fest an mich.

 

„Jetzt können wir weiter“, meinte Kurt zuversichtlich. Ich schenkte ihm noch ein Lächeln, bevor wir in noch gemächlicherem Tempo als zuvor weitergingen. So legten wir eine ganze Strecke zurück, bis wir zum Waldrand kamen, wo man die Rufe der restlichen Gruppe zwischen den Bäumen hindurchschallen hörte. Die Schatten hatten sich hier noch einmal tiefer zusammengezogen und der Wind bewegte die Wipfel der Bäume hin und her wie unruhig schlafende Riesen.

 

„Mir ist das zu gruselig“, sagte Kurt plötzlich. Ich spürte den leichten Zug an meiner Hand, als er stehenblieb.
 

„Wir sind doch bei dir“, versuchte Benedikt ihn zu beruhigen.
 

„Ja, aber was, wenn doch Wölfe aus dem Wald kommen? Oder Monster?“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass es Monster gar nicht gab, doch dann sah ich mich um. Die Dunkelheit, die dort zwischen den Bäumen und Sträuchern saß wie ein lauerndes Tier. Die Ungewissheit, was sich darin befand. Es konnte alles sein. Natürlich wusste ich inzwischen, dass dem nicht so war. Ich fürchtete mich nicht mehr davor. Aber ich erinnerte mich daran, wie es war, Angst im Dunkeln zu haben.

 

„Möchtest du lieber zurückgehen?“, fragte ich und machte mich bereits mit dem Gedanken vertraut, die Strecke zum Lager erneut zurücklegen zu müssen. Kurt machte ein entrüstetes Geräusch.
 

„Nein, ich will die Nachtwanderung machen.“

 

„Aber es ist dunkel und wird im Wald noch dunkler werden“, gab ich zu bedenken. Ich hatte mich mittlerweile hingekniet, damit ich ihn besser ansehen konnte. Das hatte ich bei Benedikt beobachtet und festgestellt, dass es mir gefiel, mit den Kindern nicht von oben herab zu reden.

 

Kurt überlegte sichtbar. Er hatte sich halb in Richtung des Lagers gedreht, aber sein Blick wanderte immer wieder zurück zum Wald. Mittlerweile war nur noch das Rauschen des Nachtwindes in den Bäumen war zu hören. Es war, als wären wir gestrandet in einem Meer aus Dunkelheit. Eine kleine, mit drei Leuten besetzte Insel inmitten eines Ozeans. Die letzten Überlebenden belauert von den Bedrohungen der Welt.
 

„Nein“, sagte der kleine Kerl vor mir schließlich fest. Er setzte eine entschlossene Miene auf. „Ich kann das. Und ihr seid ja bei mir. Ich bin nicht alleine.“
 

„Ja, wir sind bei dir und wir gehen auch nicht weg“, versprach ich, bevor ich mich wieder aufrichtete und ihm erneut meine Hand anbot. Er nahm sie und sah zwischen mir und Benedikt hin und her.
 

„Sollen wir?“

 

Wir nickten beide und machten uns nun endlich auf den Weg in den dunklen Wald hinein. Als wir schon ein Stück gegangen waren, drückte ich noch einmal Kurts Finger.
 

„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Benedikt ist ja da und beschützt uns beide.“

„Dich auch?“, fragte Kurt erstaunt.
 

„Ja, mich auch“, sagte ich und lächelte. Ich wusste, dass Benedikt es vermutlich nicht sehen konnte, aber ich verließ mich darauf, dass er es hörte. So gingen wir weiter über den nur spärlich von der Taschenlampe erleuchteten Waldweg, während wir uns an den Händen hielten. Wenn ich mich ein kleines bisschen anstrengte, gelang es mir sogar, mir vorzustellen, dass es Benedikts Hand war, die ich da in meiner hielt. Wenigstens für eine Weile.

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Snowprinces
2020-11-20T16:58:07+00:00 20.11.2020 17:58
Hi

und wieder 2 Schöne Kapitel freue mich auf das nächste

kuscheldecke hinleg plus eine heiße Schokolade

liebe grüße
Antwort von:  Maginisha
21.11.2020 08:31
Hey Snowprinces,

danke für den Kommentar und die Schokolade. :)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-11-19T19:07:17+00:00 19.11.2020 20:07
Nein wie süß ☺

Erstmal danke für den kleinen Fanservice 😉

Freut mich sehr das die Zwei sich nun so gut verstehen und das Theo sich über das Treffen nach dem Camp total freut.
Wie lsnge geht das Camp noch?

Der kleine Kurt ist auch einfach nur zum lieb haben 🥰
Man kann sich ihn als Kind von den Beiden vorstellen hihi 🤭
Ich würde echt gerne mal wieder Benedikts Gedanken lesen und wissen wie er nun darüber denkt, aber hoffentlich wird er es irgendwann mal Theo sagen.
Wie wird die Nachtwanderung werden? Bestimmt gruselig und...romantisch? 😏

Freue mich auf ein weiteres Kapitel!!😊
Antwort von:  Maginisha
20.11.2020 09:45
Hey Ryosae!

Ich hab erst gedacht "Hä, welcher Fanservice?" aber dann habe ich das Kapitel nochmal durchgelesen und verstanden, was du gemeint hast. War an der Stelle vielleicht auch ein bisschen Autoren-Service. ;D

Das Camp geht jetzt noch so ca. 10 Tage. Allzu lange werden wir uns hier allerdings nicht mehr aufhalten, denn ich habe noch einiges geplant und das Zusammentreffen der beiden hier war erst der Anfang. Von daher hatte ich eigentlich gar nicht geplant, noch viel über die Wanderung zu schreiben, auch wenn das anscheinend alle Leser glauben. 🙈​​​​​​​ Na mal sehen, was mir alles noch so einfällt.

Ich danke für den Kommentar und wünsche erst mal ein schönes Wochenende!

Zauberhafte Grüße
Mag


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