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Herz über Kopf

von

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Aller Anfang ist schwer

Wikinger-Schach wurde in Mannschaften von bis zu sechs Spielern gespielt, die sich an den schmalen Seiten eines fünf mal acht Meter betragenden Spielfeldes gegenüberstanden. Das Ziel des Spiels bestand im Wesentlichen daraus, mit runden Wurfhölzern auf die eckige Klötze, die sogenannten Kubbs, der Gegenmannschaft zu zielen, um diese zum Umfallen zu bringen. Gelang das in einem Zug, durfte nach dem König, dem größten, in der Mitte des Feld stehenden Klotz geworfen werden. Andernfalls wurde die umgefallenen Kubbs wieder ins Spiel gebracht, dienten dieses Mal jedoch als Hindernis für die Gegenmannschaft, die diese erst aus dem Weg räumen musste, bevor sie die feindlichen Kubbs angreifen durfte. Am Schluss siegte die Mannschaft, die zuerst den König zu Fall brachte.

 

Ich war ebenso wie Reike in eine der Mannschaften eingeteilt worden und bemühte mich, nicht allzu offensichtlich besser zu werfen als die Kinder. In der ersten Runde hatte ich mich noch richtig angestrengt, aber als mir klar wurde, dass die Kinder nicht so zielsicher waren wie ich, nahm ich mich doch lieber etwas zurück. Es gab mir Zeit, meinen Blick ab und an zu der zweiten, auf dem Sportplatz anwesenden Gruppe schweifen zu lassen. Dort konnte ich Benedikt und Stephan dabei zusehen, wie sie mit den Kindern ein Tauziehen veranstalteten. Vorher hatten sie schon Speerwerfen und Bogenschießen geübt, alles unter dem Deckmantel des „Wikingerlebens“. Dementsprechend waren auch fast alle Kinder verkleidet; die Jungs mit ähnlichen Tuniken wie ich, die Mädchen mit wadenlangen Kleidern und schürzenähnlichen Leibchen, die von einem Gürtel zusammengehalten wurden. Die meisten trugen dabei auch noch Kopftücher. Es gab allerdings auch einige Mädchen, die darauf bestanden hatten, lieber ebenfalls eine Tunika überzuziehen.

 

„In den Kleidern kann man ja gar nicht laufen“, hatten sie gemeint und anstandslos ebenfalls die männlichen Trachten ausgehändigt bekommen. Ich fragte mich, ob es andersherum auch so ausgesehen hätte.

 

„Theo, du bist dran?“, ermahnte mich da auf einmal Reike. Ich hatte mal wieder meinen Einsatz verpasst.

 

„Tut mir leid“, murmelte ich und warf mit meinem Wurfholz nach einem der Klötze, die auf der generischen Grundlinie standen. Ich verfehlte ihn knapp und überließ meinen Platz dem nächsten Spieler.

 

Als ich nach hinten trat, traf mich Reikes wachsamer Blick.

 

„Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so zerstreut.“

 

Schnell setzte ich ein Lächeln auf.

 

„Ja, alles in Ordnung. Es ist nur … ich habe gerade darüber nachgedacht, wie wir wohl reagiert hätten, wenn einer der Jungen lieber ein Kleid angezogen hätte.“

 

Reike sah mich zuerst ein wenig erstaunt an, doch dann lächelte sie.

 

„Das ist eine gute Frage. Ich hätte ihm das Kleid sicherlich ausgehändigt, aber ich könnte mir vorstellen, dass er dafür von den anderen ausgelacht worden wäre. Was schade ist, denn jeder sollte das Recht haben, das zu tun, was ihn glücklich macht, unabhängig von seiner Herkunft, Hautfarbe oder seinem Geschlecht.“

 

Ich lachte auf.

 

„Du klingst wie ein Gesetzestext.“

„Nun, als Frau in einem Beruf, der über Generationen hinweg von Männern dominiert wurde, lernt man so einiges. Da musst du immer wieder beweisen, dass du genauso gut, wenn nicht sogar besser bist als deine männlichen Kollegen. Zum Glück ändert sich das immer mehr. Man darf auf das Geschwätz der anderen einfach nicht so viel geben.“

 

Sie lächelte, aber als ich den Ausdruck in ihren Augen sah, diesen leichten Schleier von Traurigkeit, ahnte ich, dass hinter dieser Einstellung ein weiter Weg lag. Eine ganze Menge Schweiß und Tränen. Tage, an denen man am liebsten aufgeben würde. Alles hinschmeißen und sich einen einfacheren Beruf suchen. Einen, von dem die Gesellschaft dachte, dass er sich „für eine Frau gehörte“, was immer das auch hieß. Aber Reike hatte nicht aufgegeben. Sie hatte sich durchgebissen und ihren Traum wahrgemacht.

 

„Ich finde es toll, dass du Tischlerin bist“, sagte ich und nach einem kurzen Zögern, vertiefte sich ihr Lächeln.

 

„Und ich bin froh, dass du dich auf den Weg gemacht hast.“

 

Ich wollte sie noch fragen, wie sie das meinte, aber dann war sie auf einmal dran mit Werfen und der Moment verging, ohne dass ich den Mund aufgemacht hatte. Aber vielleicht musste ich das auch nicht. Vielleicht reichte es, wenn ich ihr Lob einfach annahm. Zwar hatte ich das Gefühl, dass ich noch lange nicht genug getan hatte, und dass das, was ich getan hatte, bei Weitem nicht perfekt gewesen war, aber es stimmte. Ich war auf dem Weg und zum ersten Mal fühlte ich in mir Hoffnung aufsteigen. Die Hoffnung, dass dieser Weg tatsächlich auf ein gutes Ziel zuführen würde, selbst wenn die Zeit bis dahin lang und die Strecke beschwerlich werden würde. Für diesen Moment hatte ich das Gefühl, dass ich es schaffen konnte. Das alles irgendwann gut werden würde.

 

 

Manchmal steht man am Abgrund

Sieht den Ausweg nicht mehr

Das Leben scheint trostlos

Man fühlt sich einsam und leer

Dann überlegt man zu springen

Es zu Ende zu bringen

Doch was soll das bringen

Man kommt dem Glück so nicht näher

 

Darum komm weg von der Kante

Tritt einen Schritt zurück

Überleg noch mal richtig

Wäre das nicht verrückt

Denn wenn du nicht mehr da bist

Kein Wort von dir mehr wahr ist

Und es allen klar ist

Dass es dich nicht mehr gibt

 

Dann kannst du's nicht mehr ändern

Dann bleibt alles, wie es ist

Dann wird die Welt ein kleines bisschen weniger bunt

Weil du weggegangen bist

 

Es gibt so viele da draußen

Denen es genauso geht wie dir

Die sich Tag für Tag fragen

Warum bin ich eigentlich noch hier

Doch jeder von ihnen

Ist wichtig und wir lieben

Einfach jeden von ihnen

Deswegen glaube mir

 

Zusammen werden wir es ändern

Dann bleibt nichts mehr, wie es ist

Dann wird die Welt wieder ein kleines bisschen bunter

Weil du hier geblieben bist

 

Gib mir deine Hand, Freund

Ich halte sie fest für dich

Zusammen werden wir es schaffen

Verlass dich einfach auf mich

Ich gehe nicht fort hier

Bleib für immer bei dir

Doch bitte versprich mir

Dass du weitermachst für mich

 

Denn sonst kannst du's nicht mehr ändern

Dann bleibt alles, wie es ist

Dann wird die Welt ein kleines bisschen weniger bunt

Weil du weggegangen bist

 

Aber zusammen können wir es ändern

Dann bleibt nichts mehr, wie es ist

Dann wird die Welt wieder ein kleines bisschen bunter

Weil du hier geblieben bist

 

 

Mit meinen Gedanken immer noch bei den Lyrics und dem festen Vorsatz, mir nachher noch ein Stück Papier zu suchen, um sie aufzuschreiben, betrat ich die Waschräume. Der Tag hatte seine Spuren hinterlassen und ich wollte die Gelegenheit nutzen, dass die meisten gerade beim Essen saßen, um mich in Ruhe zu duschen. Kaum hatte ich jedoch den hinteren Bereich betreten, in dem die Duschen lagen, wäre ich beinahe wieder rückwärts rausgestolpert. Der Raum war nicht leer und ich hatte aufgrund der baulichen Gegebenheiten einen hervorragenden Ausblick auf den splitterfasernackten Körper, der unter einer der kalkbedeckten Brausen stand. Mit breitem Grinsen hieß mich der Duschende willkommen, während er Seife auf seinem Körper verteilte.

 

„Hey, Theo, willst du auch duschen?“

 

Ich schluckte und nickte, bevor ich hastig den Blick abwandte und mit Handtuch und Waschzeug an den Rand des Raums flüchtete, in dem die Waschbecken untergebracht waren. Kilian. Ausgerechnet er. Warum nur? Warum? Und warum hatte ich nicht behauptet, mir nur die Zähne putzen zu wollen. Jetzt musste ich das Ausziehen so lange herauszögern, bis er fertig war. Hoffentlich merkte er das nicht.

 

Das Rauschen des Wasser übertönte zum Glück meinen pochenden Herzschlag, während ich mit leicht zittrigen Fingern in meinem Kulturbeutel herumkramte, als würde ich dort etwas suchen. Meine Brille beschlug, also setzte ich sie ab. So verhinderte ich wenigstens das Schlimmste. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?

 

Das Geräusch der Dusche verstummte und kurz darauf hörte ich patschende Schritte auf den weißen Fliesen, die langsam näherkamen. Ich war immer noch angezogen.

 

„Ich dachte, du wolltest duschen.“

 

Kilian stand jetzt kurz hinter mir. Den Geräuschen oder besser deren Fehlen nach zu urteilen tat er auch nichts anderes. Er starrte mich einfach nur an, während das Wasser seinen Körper herabrann. Der immer noch nackt war und nicht unbedingt schlecht gebaut. Keine gute Situation.

 

„Ja, ich … ich hab noch mein Duschgel gesucht.“

„Das steht doch da.“

 

Mein Blick richtete sich auf die blaue Flasche, die genau neben mir auf dem Waschtisch stand. Natürlich. Was für eine dumme Ausrede. Jetzt wurde es langsam peinlich.

 

„Ach, danke. Ich seh ja ohne Brille fast nichts.“

 

Für einen Moment krallte ich mich noch an meinem Handtuch fest, bevor ich langsam meine Finger einen nach dem anderen entspannte. Ich musste jetzt anfangen, mich auszuziehen, sonst …

 

„Sag mal, ist dir das unangenehm?“

 

Volltreffer. Ich spürte, wie ich rot anlief. Zum Glück waren die Spiegel vor mir ebenfalls beschlagen, sodass er das nicht sehen konnte. Jetzt nur nicht umdrehen.

 

„Nein, warum?“

„Na, weil du dich immer noch nicht ausgezogen hast.“

 

Ich spürte seinen Blick in meinem Nacken und wusste, dass ich jetzt irgendwie reagieren musste. Wahrscheinlich sollte ich einfach an etwas anderes denken und mich nicht darum kümmern. Es war ja nicht so, dass er wusste, dass ich schwul war. Und ich würde seinetwegen sicherlich keine körperlichen Anzeichen irgendwelcher Erregung bekommen. Also war es albern, mich davor zu fürchten, neben ihm zu duschen. Absolut dämlich. Nur weil ich mal kurz … hingesehen hatte. Aber das wusste er ja nicht. Außerdem war es keine Absicht gewesen. Es war nur sehr auffällig, dass er eben sehr … gut bestückt war.

 

Ich hörte ihn hinter mir schnauben, bevor seine Schritte an mir vorbeiliefen, sodass ich bei einem Seitenblick mit der Aussicht auf seinen Hintern belohnt wurde. Er griff nach einem Handtuch.

 

„Ach, vielleicht bist du ja auch nur ein bisschen prüde. Aber du brauchst keine Angst haben. Ich guck dir schon nichts ab.“

„Danke.“

 

Innerlich schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Jetzt hielt er mich auch noch für verklemmt. Konnte es noch schlimmer werden?

 

„Mein Kumpel hat da echt schon Dinge erlebt, das geht auf keine Kuhhaut. Da weigern sich echt welche von den Kameraden mit ihm zu duschen, nur weil er schwul ist. Absoluter Schwachsinn, wenn du mich fragst. Als wenn der sich an jedem hässlichen Vogel aufgeilen würde, der ihm vor die Flinte kommt. Also echt.“

 

Ich blinzelte verblüfft und wusste nicht recht, ob ich lachen oder weinen sollte. Die Situation

wurde immer surrealer. Ich räusperte mich.

 

„Ich hätte da kein Problem damit“, sagte ich mit leicht belegter Stimme und fing nun doch endlich an, mich auszuziehen. Erst einmal die Socken und Hose. Das war ungefährlich, solange ich die Unterwäsche noch anließ.

 

„Macht ja auch gar keinen Sinn. Zumal einem schon nicht der Schwanz abfällt, nur weil da mal einer hinguckt. Ich war schon oft genug FKK unterwegs und da ist bisher alles am rechten Fleck geblieben.“

 

Er begann jetzt sich abzutrocken und zeigte dabei so gar keine Hemmungen, wie ich feststellen durfte. Das Handtuch berührte immer nur die notwendigsten Stellen. Davon aber auch wirklich alle.

 

„Klar war das in der Pubertät auch mal peinlich. Ich weiß noch, wie ich mal in der Schule beim Schwimmen einen Ständer gekriegt hab in der Dusche. Das lag garantiert auch nicht an den Typen um mich herum. Kann halt mal vorkommen, wenn man so im Saft steht. Solange man sein Ding nicht andern unter die Nase hält, ist doch alles paletti.“

 

Er lachte und ich wünschte mir irgendein Loch, in dem ich verschwinden konnte. Gleichzeitig merkte ich, wie langsam die Anspannung von mir abfiel. Kilian war cool damit, dass sein Kumpel schwul war. Er fand auch nichts dabei, neben ihm oder irgendeinem anderen Kerl zu duschen. Ich hatte mir also vollkommen umsonst einen Kopf gemacht. Nur sein Gelaber über Ständer unter der Dusche hätte ich echt nicht gebraucht.

 

„Tja, ist schon nicht einfach, ein Mann zu sein“, bemerkte ich scherzend und zog mir auch noch das T-Shirt über den Kopf.

 

Kilian lachte und begann jetzt endlich, sich etwas anzuziehen, während ich nur noch in meiner Unterhose vor ihm stand. In dem Moment stellte ich fest, dass ich mich vielleicht in Kilian getäuscht hatte. Sicherlich, seine Art war anstrengend und wir würden wohl niemals allerbeste Freunde werden, aber im Grunde genommen war er ein anständiger Kerl. Ein anständiger Kerl mit Goofy-Boxershorts. Ich unterdrückte in Grinsen.

 

„Was?“, wollte er wissen, aber ich schüttelte nur den Kopf.

„Nichts, ich geh dann mal duschen.“

 

Ohne ihn noch weiter zu beachten, entledigte ich mich auch noch des letzten Stoffstückes und schnappte mir mein Duschgel, um mich nun endlich unter die Brause zu stellen. Während das warme Wasser auf meinem Kopf niederrauschte, schloss ich für einen Moment die Augen. Es stimmte schon, unter dem Wasserstrahl zu stehen war absolut angenehm. Ich hörte, wie Kilian mir eine Verabschiedung zurief und dann offenbar nach draußen verschwand. Ich war allein.

 

Allein, aber nicht einsam.
 

Der Gedanke ließ ein kleines Lächeln auf mein Gesicht wandern. Wie lange war es her, dass es sich so angefühlt hatte? Sicherlich, wenn ich mich mit meinen Freunden traf, war ich auch nicht allein, doch gleichzeitig war da immer diese unsichtbare Mauer, die mich von ihnen trennte. Ein Teil von mir, den ich verstecken musste. Den ich niemand sehen lassen durfte. Sätze, die ich nicht aussprach, um mich nicht zu verraten. Bemerkungen, die ich zurückhielt, um mich nicht verdächtig zu machen. Dinge, die ich nicht tat, damit keiner auf dumme Gedanken kam. Doch jetzt gab es einen Platz dafür. Jemanden, mit dem ich auch Sachen teilen konnte, die ich sonst niemandem erzählte. Ich war nicht mehr allein.

 

Dieses Gefühl verflüchtigte sich allerdings ein wenig, als ich nach einer halben Ewigkeit endlich die Dusche verließ und nach einem Blick auf die Uhr feststellte, dass die Abendbrotzeit schon vergangen war. In Windeseile zog ich mich an und stürzte in Richtung Speisesaal. Dort waren gerade die Mädchen, die heute Schladi hatten, dabei, die Tische abzuwischen. Von Essen keine Spur mehr.

 

Als ich wie ein begossener Pudel vor den leeren Tafeln stand, entdeckte mich Susanne.
 

„Ah, Theo, wo kommst du denn her? Ich habe dich beim Abendessen vermisst.“

„Ich war duschen und habe die Zeit vergessen. Krieg ich noch was?“

 

Ich setzte einen Hundeblick auf und Susanne, die erst versucht hatte, mich streng anzuschauen, lachte über das ganze Gesicht.
 

„Na schön, setz dich da hin, ich bring dir gleich was. Soll niemand sagen, dass ich hier jemanden verhungern lasse. Aber wehe, du erzählst das herum, dann bekommst du hiermit eins übergebraten.“

 

Sie drohte mit mit einer Schöpfkelle und machte sich dann daran, in der Küche herumzuwerkeln. Keine fünf Minuten später stand ein Riesenteller Rührei und zwei dick mit Butter beschmierte Brote vor mir. Ich stöhnte.
 

„Wer soll denn das alles essen?“

„Na du“, meinte Susanne mit einem Grinsen. „Du bist ja schon ganz abgemagert. Junge Kerle wie du müssen ordentlich essen.“

 

Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass ich überhaupt nicht zu dünn war, aber dann fiel mir ein, dass ich heute Morgen schon festgestellt hatte, dass meine Hose ein wenig lockerer saß. Das lag vielleicht daran, dass ich in letzter Zeit keinen rechten Appetit gehabt hatte. Jetzt jedoch knurrte mein Magen und verlangte mit Nachdruck nach Nahrung.

 

„Na, dann mal los“, murmelte ich und begann, den Berg zu vernichten. Ich bemühte mich wirklich redlich, aber nach der halben Portion war endgültig Schluss. Ich war pappsatt.

 

„Susanne, ich kann nicht mehr, auch wenn es wirklich köstlich war.“

 

Sie grinste und ihre runden Wangen glänzten rot.
 

„Freut mich, dass es dir geschmeckt hat. Aber so ein Ei in die Pfanne zu hauen ist ja nun wirklich keine Kunst. Das könntest du auch selber machen.“

„Ich hab aber noch nie gekocht.“
 

„Nicht?“ Susanne zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. „Na, da wird es aber höchste Zeit. Du willst dich doch später nicht von Fertiggerichten ernähren müssen. Und mit Freunden zu kochen kann so viel Spaß machen. Ich bin ja der Meinung, so was sollte Schulfach sein und nicht dieser ganze Blödsinn, den sie euch da beibringen. Wenn die Menschen sich vernünftig ernähren, würden die Krankenkassen viel Geld sparen.“

 

„Und die Fitnessstudios pleite gehen.“

 

Ich grinste und Susanne lachte, bevor sie mit den Resten meiner Mahlzeit wieder in der Küche verschwand. Während ich sie dort hantieren hörte, dachte ich daran, dass ich früher gerne beim Kochen geholfen hatte. Irgendwann hatte ich damit aufgehört. Warum wusste ich nicht mehr, aber eigentlich fiel mir kein rechter Grund ein, warum ich nicht kochen lernen sollte.

 

Außer die blöden Bemerkungen von Christopher.

 

Und plötzlich wusste ich es wieder. Die vielen Gelegenheiten, in denen mein Bruder mich aufgezogen hatte. Mich getriezt hatte, weil ich „Mädchenkram“ mochte. Weil ich lieber unserer Mutter im Haus half, anstatt draußen unserem Vater zur Hand zu gehen. Natürlich war ich auch durch Pfützen gesprungen, hatte an Schneeballschlachten teilgenommen und war mehr als einmal mit aufgeschlagenen Knien nach Haus gekommen. Aber irgendwie war das immer das Gefühl geblieben, dass ich der Kleine war. Dass, was immer ich tat, weniger wert war.

 

Irgendwie bescheuert, dachte ich bei mir und befand, dass ich mir wohl ein dickeres Fell würde zulegen müssen. Ein bisschen mehr so wie Reike werden, wenn ich mich nicht auf ewig verstecken wollte. Denn das ich das nicht wollte, das wusste ich jetzt mit immerhin achtzigprozentiger Sicherheit. Ich wusste nur noch nicht so recht, wie ich das anstellen sollte.

 

 

Als ich kurze Zeit darauf mit meiner Gitarre am Lagerplatz ankam, waren noch nicht viele Kinder da. Die meisten von ihnen bevölkerten wohl noch die Waschräume und ich war froh darum, das Ganze schon hinter mir zu haben. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich jedoch Benedikt, der sich unweit seines üblichen Sitzplatzes auf einer Bank niedergelassen hatte und in die Flammen des Lagerfeuer starrte, das heute von Melina bewacht wurde. Ich grüßte sie, lehnte mein Instrument gegen einen der Stühle und schlenderte dann zu Benedikt hinüber. Als er mich bemerkte, hob er den Kopf.
 

„Hey“, rief er und lächelte. „Du siehst besser aus.“

 

„Tja, bin frisch geduscht und hatte ein halbes Dutzend Eier zum Abendbrot. Das muss einen ja wieder aufrichten.“

 

„Hört, hört“, spottete er und rutschte dann ein Stück zur Seite, damit ich neben ihm Platz fand.

 

Ein wenig zögernd setzte ich mich, während er wieder nach vorne sah.
 

„Und sonst?“, meinte er leise. „Auch wieder alles okay?“

 

Ich schob die Mundwinkel nach oben.

 

„Ja, besser. Danke nochmal.“

„Keine Ursache.“
 

Er sah mich kurz an und dann wieder in die Flammen. Schweigen breitete sich aus und ich überlegte. Sollte ich ihm das von Kilian erzählten? Warum eigentlich nicht?

 

Beton lässig lehnte ich mich ebenfalls nach vorne.
 

„Sag mal, warst du schon mal mit Kilian duschen?“

 

Ich erntete einen scheelen Seitenblick.
 

„Nein, wieso?“

„Na weil … weil ich vorhin reingeplatzt bin, als er unter der Dusche stand.“

 

Benedikts Lippen kräuselten sich amüsiert. „Und?“

 

„Na ja … es gab da Dinge, die einfach nicht zu übersehen waren.“

 

Er lachte auf. „So schlimm?“

 

„Schlimmer“, erwiderte ich mit Grabesstimme. „Jedes Pferd würde vor Neid erblassen.“

 

Einen Moment lang sah er mich noch verdutzt an, dann prustete er plötzlich los. Er lachte so laut, dass Melina uns einen irritierten Blick zuwarf und auch einige der Kinder zu uns rübersahen. Ich bemühte mich, ernst zu bleiben, aber Benedikts Lachen war so ansteckend, dass ich ebenfalls anfing zu grinsen.

 

Als wir uns endlich wieder beruhigt hatte, schüttelte Benedikt immer noch schmunzelnd den Kopf.

 

„Oh man, Theo. Dafür, dass du so lange gebraucht hast, bist du jetzt ja mit Feuereifer dabei.“

 

„Was denn?“, gab ich gespielt empört. „Ist ja nicht so, dass ich hinsehen wollte. Das war wie ein Unfall. Da hättest du auch geguckt.“

 

„Aber hundertpro.“

 

Der Satz kam mit solcher Überzeugung und dabei grinste er immer noch, sodass ich unwillkürlich auch lächeln musste. Ein Teil von mir wollte immer noch darauf bestehen, dass es falsch war, was ich getan hatte. Aber der andere deutete mit ausgestrecktem Arm auf Benedikt und verlangte zu wissen, warum es denn falsch sein sollte, wenn es für ihn offenbar okay war. Er musste schließlich wissen, wie es ging. Ich räusperte mich.
 

„Machst du … also machst du das eigentlich öfter? Hingucken meine ich.“

 

Er zuckte mit den Achseln.
 

„Na ja, in der Regel nicht. Bin ja kein Spanner. Aber bei so offensichtlichen Tatsachen. Da kann man schon mal einen Blick riskieren. Oder auch zwei, wenn nötig.“

 

Seine Augen funkelten mich belustigt an und dann zwinkerte er mir doch tatsächlich zu. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich behauptet, dass er mit mir flirtete. Aber natürlich war das Schwachsinn, denn schließlich hatten wir das geklärt. Wir hatten es geklärt! Trotzdem war da diese Frage, die sich mir förmlich aufdrängte und noch bevor ich wusste, was ich wirklich tat, hatte ich sie auch schon gestellt.

 

„Hast du bei mir auch schon mal geguckt?“

 

Sofort zog sich Benedikts Gesichtsausdruck etwas zu.
 

„Warum fragst du das?“

„Ach, nur so. Aus reiner Neugierde.“

 

Er atmete tief ein und aus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
 

„Ich würde wohl lügen, wenn ich Nein sagen würde. Aber ich hab nicht mit Absicht gespannt.“

„Weiß ich doch. Wollt’s nur wissen.“

 

Dass mir bei dem Gedanken ein kleiner, nicht unangenehmer Schauer über den Rücken rieselte, musste ich ihm ja nicht verraten. Allein die Vorstellung, dass er mich beobachtet und sich dabei womöglich ausgemalt hatte, mich zu küssen oder mehr, ließ das Blut in meinen Adern schneller kreisen. Es fühlte sich aufregend an. Ein bisschen verboten. So wie nachts im Freibad über den Zaun zu klettern. Man wusste, dass man es nicht tun sollte, aber trotzdem konnte man einfach nicht widerstehen.

 

Plötzlich wurde mir bewusst, wie dicht wir nebeneinander saßen. Ich hätte meine Hand nur ein kleines Stückchen ausstrecken müssen, um seine Finger zu berühren, die er neben sich auf die Bank gestützt hatte. Wie es sich wohl anfühlte, seine Hand zu halten?

 

Mein Blick wanderte höher, an seinem Körper entlang zu seinem Gesicht. Er schaute geradewegs nach vorn in die Flammen und der Abendwind spielte mit den dunklen Strähnen, die ihm in die Stirn fielen. Er sah gut aus. Gelöst, entspannt und mit sich im Reinen. Nicht so wie ich, der immer noch nicht so richtig wusste, was er wollte. Aber vielleicht war auch das okay. Vielleicht würde ich eben ein bisschen rumprobieren müssen, um zu sehen, welcher Schuh mir passte. Aber wenn ich es herausgefunden hatte, würde vielleicht endlich das Gefühl verschwinden, meinen Leben hinterherzurennen, ohne wirklich mit ihm Schritt halten zu können.

 

Benedikt wandte mir plötzlich den Kopf zu und sah mich fragend an.
 

„Ist was?“

 

Ich lächelte leicht und schüttelte den Kopf.
 

„Nein, es ist nichts. Ich … ich muss aber langsam mal nach vorne gehen.“

„Ja, das musst du wohl.“

 

Für einen flüchtigen Moment berührten sich unsere Blicke und ich hätte schwören können, dass da Bedauern in seinem lag. Wenigstens ein ganz kleines bisschen. Aber vielleicht hatte ich mir das auch nur eingebildet.
 

„Ich geh dann mal.“

„Okay.“

„Jetzt wirklich.“

„Ja, hab ich verstanden.“

„Ich …“

 

Er lachte. „Theo, jetzt geh endlich. Wir sehen uns doch morgen wieder.“

 

Ich biss mir auf die Lippen, um nicht das „Versprochen?“ herausrutschen zu lassen, dass mir bereits auf der Zunge lag. Stattdessen rettete ich mich in ein Grinsen.

 

„Na schön. Aber heute Abend spiel ich das Stachelschweinlied nur für dich.“

 

Er grinste nun ebenfalls und senkte ein wenig den Kopf, um meinem Blick auszuweichen.
 

„Dann gib dir aber mal richtig Mühe.“

„Für dich doch immer.“
 

Die Worte waren schneller aus meinem Mund, als ich sie zurückhalten konnte. Mein Atem stockte, als er mich wieder ansah. Da war Misstrauen in seinem Blick, aber auch noch etwas anderes. Etwas, dass mir Hoffnung machte. Bevor ich jedoch etwas Dummes dazu bemerken konnte, wandte ich mich lieber schnell ab, stand auf und stakste zu meinem Platz zurück. Dort saß ich mit klopfendem Herzen und konnte nur hoffen, dass mich niemand ansprach, bevor ich mich wieder beruhigt hatte. Denn in diesem Moment ließ es sich nicht mehr leugnen. Ich war in Benedikt verliebt und es würde verdammt schwierig werden, nur mit ihm befreundet zu sein.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  z1ck3
2020-11-15T23:05:38+00:00 16.11.2020 00:05
Der Liedtext hat direkt an meinem schwarzen Herzen gerüttelt. Wirklich schön, ich hoffe Theo hat dran gedacht ihn aufzuschreiben.

Jetzt muss ich erstmal über Theos und Benedikts frozelein fangirlen xD
Antwort von:  Maginisha
16.11.2020 06:36
Guten Morgen z1ck3!

Es freut mich sehr, dass dir der Text gefallen hat und Theo hat ihn bestimmt aufgeschrieben. Es wurde ja nun auch wirklich höchste Zeit für ein paar Lichtblicke.
Ich bin ja immer kurz davor, noch eine Triggerwarnung dranzuschreiben, aber irgendwie weigere ich mich wohl noch, das Thema so wichtig zu nehmen/werden zu lassen. Aber vielleicht sollte ich doch noch mal darauf rumdenken.

Zum Fangirlen hast du hoffentlich bald noch mehr Gelegenheit. :D

Zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  z1ck3
16.11.2020 10:54
Yeayyy hört sich gut an, ich freue mich :)
Von:  Ryosae
2020-11-15T13:26:47+00:00 15.11.2020 14:26
Wieso Kilian, wieso?! xD
Das Typ macht mich noch fertig! Jeder normale Mensch wäre einfach nach der Begrüßung aus der Dusche gegangen und hätte nichts gesagt. Einfach nichts. Nur der macht das nicht. Wie kann man nur so scheiß offen und aufdringlich sein? xDDD

Die kleineren Flirtereien zwischen unseren Lieblingsprotagonisten sind so süß :)
Mal sehen was daraus wird! :D
Antwort von:  Maginisha
15.11.2020 18:05
Wieso? Weil er's kann. :D

Hab grad schon mal mit jemandem gesprochen und wir stellten beide fest: Es gibt einfach so Leute mit Null Respekt für persönliche Grenzen. Oder Schamgefühl. Oder so. Musste direkt hier dran denken: https://www.youtube.com/watch?v=eViQ_pFN6UA

Aber Flirten? Benedikt würde das weit von sich weisen. Obwohl Theo schon süß ist, wie er sich da so freut, dass er endlich mal mit wem über nackte Männer reden kann. :D

Ich bastele schon an der Fortsetzung!


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