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Herz über Kopf

von

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Die Wahrheit

Eigentlich habe ich es immer schon gewusst.

 

Ich hatte keine Ahnung, wie oft ich diesen Satz in den letzten Tagen bereits gelesen hatte. Aber jedes Mal, wenn ich ihn wieder in einem Artikel, einem Blog oder einem Forenbeitrag entdeckte, fragte ich mich: Hätte ich es auch wissen können? Hätte ich es wissen müssen? Hätte ich der Tatsache, dass ich früher schon manchmal mit dem Blick an Bildern von leicht bekleideten Typen hängengeblieben war, mehr Bedeutung beimessen müssen? Hätte es mich stutzig machen müssen, dass mich vor Mia Mädchen noch nie so interessiert hatten, während ich durchaus schon mal dem einen oder anderen Jungen nachgesehen hatte? Hätte ich dieses Gefühl, das ich immer als Bewunderung betitelt hatte, anders einordnen sollen? Hätte ich die Tatsache, dass ich so sehr mit Benedikt hatte befreundet sein wollen, in einem anderen Rahmen sehen müssen? Das Bedürfnis, in seiner Nähe zu sein, als etwas anderes verstehen können?

 

Aber es hat sich so anders angefühlt als mit Mia.

 

Ich hatte immer gedacht, dass das, was ich für sie empfand, doch Verliebtsein sein musste, und ich dementsprechend nicht in ihn verliebt sein konnte. Aus diesem Grund hatte ich mit ihr zusammen sein wollen. Hatte dafür sogar riskiert, mich mit Jo zu verkrachen. Ich hatte mich trotz des Kusses von Benedikt, der sich so unglaublich angefühlt hatte, für sie entschieden. Am Ende sogar mit ihr geschlafen und es gut gefunden.

 

Aber andererseits … mit Benedikt war es besser gewesen. Viel besser. Der Grund dafür lag eigentlich klar auf der Hand, aber ich hatte es einfach nicht sehen wollen. Hatte es darauf geschoben, dass er eben erfahrener war. Dass er wusste, was sich gut anfühlte. Dass er mit seinem Freund bestimmt schon mehr gemacht hatte als Händchen halten. Dass es nur deswegen anders mit ihm gewesen war.

 

Du hast dich selbst belogen.

 

Ich wusste es; hatte es wohl tatsächlich schon die ganze Zeit gewusst. Irgendwo ganz tief in mir drin. Aber nicht mal die Tatsache, dass es in meinen Fantasien immer nur männliche Protagonisten gegeben hatte, hatte mir ausgereicht, um mich zu der Erkenntnis durchzuringen, dass ich tatsächlich schwul war. Ich erinnerte mich daran, als ich das erste Mal in einem Film gesehen hatte, wie zwei Männer sich küssten. Sich anfassten. Mir war heiß und kalt geworden, während ich die beiden beobachtet hatte. An der Stelle, an der die weibliche Darstellerin wieder dazu gekommen war, hatte ich abgeschaltet und mir … was anderes gesucht. Was, was eindeutig weniger Frauen enthielt. Es war dabei geblieben, obwohl ich das andere auch erregend gefunden hatte. Nur halt nicht in dem Maße.

 

Ich dachte an Mia. Daran, wie sehr ich sie mochte. Daran, dass ich sie möglicherweise verlieren würde, wenn ich … wenn ich mein Leben änderte. Wie sie wohl reagierte, wenn ich es ihr sagte? Wäre sie wütend? Enttäuscht? Verletzt? Würde sie denken, dass ich sie die ganze Zeit nur angelogen hatte? Was eigentlich stimmte, aber ich hatte es doch nicht gewusst. Ich hatte es nicht gewusst.

 

Doch, hast du. Du warst nur zu feige, um dazu zu stehen.

 

Und jetzt? Jetzt hatte ich plötzlich das Gefühl, nicht mehr in mein altes Leben zurückzukönnen. Zwar hatte ich mir das vor drei Tagen noch vorgenommen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto unvorstellbarer kam es mir vor. Wie sollte das denn gehen? Ich wusste jetzt, dass ich … auf Männer stand. Zumindest war ich mir dessen ziemlich sicher. Wie sollte ich da noch mit meiner Freundin zusammenbleiben? Sie küssen und berühren. Der Gedanke allein war mir plötzlich vollkommen zuwider. Nicht, weil ich sie nicht attraktiv fand. Im Gegenteil. Aber der Gedanke, sie bewusst anzulügen, sie zu benutzen, obwohl ich wusste, dass sie nicht das war, was ich wollte, ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Ich fand mich selbst zum Kotzen, dass ich das so lange getan hatte. Dass ich ihr das angetan hatte. Ihr und mir.

 

Und Benedikt.

 

Dass ich ihn verloren hatte, obwohl ich ihn hätte haben können, wenn ich nur weniger feige gewesen wäre. Zwar half es nichts, über verschüttete Milch zu klagen, aber der Gedanke drängte sich mir dermaßen auf, dass ich an nichts anderes denken konnte. Ich wollte ihn. Immer noch. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte.

 

 

Ein Klickgeräusch riss mich aus meinen Überlegungen. Ich sah auf und direkt in Ronyas grinsendes Gesicht, die ihr Handy auf mich gerichtet hatte.

 

„Sorry, aber du sahst gerade zu geil aus. Da musste ich einfach abdrücken.“

 

Ich verschob mein Gesicht zu einem leicht schiefen Lächeln. Vermutlich gab ich wirklich ein interessantes Bild ab, wie ich hier in meiner Wikingerkluft – einer schlichten, beigen Tunika mit einem weiten Ausschnitt und einem breiten Ledergürtel, die ich einfach über meine normalen Sachen gezogen hatte – auf dem Sofa im Betreuerheim saß und am Display meines Handys klebte. So zumindest nannte es Annett und stellte in kritischen Tonfall fest, dass ich seit Tagen quasi nichts anderes tat.

 

„Jede freie Minute hängst du vor dem Ding“, sagte sie halb scherzend, halb ernst. „Man könnte glatt denken, dass du süchtig danach bist.“

 

Ein wenig ertappt ließ ich das Gerät sinken. Auf dem Display war immer noch der bedeutungsschwangere Satz zu lesen.

 

„Bin ich gar nicht“, verkündete ich und aktivierte die Tastensperre. Der Bildschirm wurde dunkel und ich legte das Handy demonstrativ auf die Sitzfläche der Couch „Siehst du? Ich kann prima ohne.“

 

„Das sagen alle Süchtigen.“

 

Gelächter wurde angestimmt und ich reagierte darauf, wie so oft, mit einem Lächeln. Es fühlte sich ein wenig an, als würden Bleigewichte an meinen Mundwinkeln hängen und sie permanent wieder nach unten ziehen. Trotzdem schaffte ich es, die Fassade aufrechtzuerhalten, bis die allgemeine Aufmerksamkeit von mir zurück zum Wochenplan wanderte, den die anderen gerade ausarbeiteten. Für heute und morgen stand noch das Wikinger-Projekt auf dem Plan, für dessen verschiedene Stationen die Kinder sich jeden Tag neu entscheiden konnten. Ich war trotz meiner eigenartigen Unterhaltung mit Reike in ihrer Gruppe geblieben, wo wir mit den Kindern Spielzeuge und Gebrauchsgegenstände herstellten. Wir hatten gesägt, geschnitzt, gefeilt und gebohrt und am Ende das Ganze noch bunt bemalt. Heute Nachmittag sollten die Spiele das erste Mal ausprobiert werden und die Kinder waren schon ganz heiß auf eine Runde „Wikinger-Schach“.

 

„Wann machen wir denn die Nachtwanderung?“, fragte Kilian, der sich auf einen der Stühle gelümmelt hatte. Er kaute an einer Lakritzschnecke herum. Die anderen Süßigkeiten der gemeinsamen Naschkiste waren bereits zur Neige gegangen, weswegen mit Sehnsucht die Rückkehr des Einkaufsteams erwartet wurde.

 

„Die hab ich für Samstag eingetragen“, gab Annett zur Auskunft. „Am nächsten Tag machen wir einfach mal einen Tag mit Freispiel und abends Stockbrot und Würstchen grillen am Feuer. Das reicht. Die werden an dem Tag eh knülle sein. Wenn es warm genug ist, können wir ja nachmittags baden gehen.“

 

„Klingt doch nach nem Plan. Darauf genehmige ich mir erst mal ne Cola.“

 

Kilian sprang auf und wäre auf dem Weg zur Küchenecke beinahe in Benedikt hineingerannt, der in diesem Moment zur Tür hereinkam.
 

„Hoppla“, machte er und hielt Kilian gerade noch so von einem Sturz ab. Für einen Moment lagen die beiden sich in den Armen, bevor sie sich lachend wieder voneinander trennten. Mir selbst war bei diesem Anblick jegliches Lachen vergangen. Stattdessen rumorte es in meinem Bauch und ich wusste nicht, ob ich gerne an Kilians Stelle gewesen wäre oder gleich irgendwo ganz anders, wo ich die beiden nicht sehen musste. Ich mochte mich täuschen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass Kilian Benedikt anmachte und dass dieser nur zu gerne darauf einstieg. Auf jeden Fall waren die beiden unzertrennlich und diese Tatsache wurde mit jedem Tag unerträglicher.
 

„Na, habt ihr alles bekommen?“, fragte Ronya, deren Fuß inzwischen schon wieder fast verheilt war. Sie selbst nannte ihre jetzige Fortbewegungsart „Rennhumpeln“ und witzelte stets darüber, dass sie so eigentlich schneller war als vor ihrem Unfall.
 

„Klar“, gab Benedikt zurück und setzte eine große Tüte auf den Tisch, auf die sich die anderen sofort stürzten. Mit Triumphgeheul zog Thies eine Packung Schokopralinen aus der Tüte.
 

„Meine“, rief er, riss die Zellophanhülle von der Packung und stopfte sich gleich zwei der nussgefülten Dinger in den Mund.
 

„Hey, wir wollen auch welche“, beschwerte sich Ronya und angelte nach der Packung, die Thies jedoch einfach hoch in die Luft und somit außerhalb ihrer Reichweite hielt. Sofort hin Ronya an seinem Arm und versuchte, ihn herunterzuziehen.
 

„Nun gib ihr schon endlich ein Küsschen“, meinte Annett augenrollend und zog für sich selbst eine Tüte Weingummischnuller heraus, die sie auch gleich öffnete und sich zwei Stück herausangelte, bevor sie sie zurück auf den Tisch legte, damit sich auch der Rest der Meute bedienen konnte.

 

„Na wie du meinst“, erwiderte Thies mit einem breiten Grinsen und setzte einen dicken Schmatzer auf Ronyas Wange. Die schrie vor Empörung und wurde gleich darauf rot wie ein Feuermelder.
 

„Thies, lass das!“

„Aber du wolltest doch ein Küsschen.“

„Ja, aber doch nicht so eins.“

„Ach nicht? Wie schade.“

 

Thies grinste immer noch und Ronya wurde noch eine Spur röter, bevor sie sich schmollend wieder auf ihren Stuhl setzte.
 

„Die beiden wieder“, seufzte Stephan, der sich bei den Süßigkeiten zurückhielt, dafür aber beim Kaffee immer kräftig zulangte. „Mir scheint, die ersten Kandidaten für die diesjährige Lagerhochzeit stehen bereits fest.“

 

„Nee, danke“, wehrte Ronya mit Händen und Füßen gleichzeitig ab. „Dieses Mal bleibe ich ledig. Vielleicht will ihn ja Reike.“

„Oder eine von meinen Mädels.

„Ach was, die stehen doch alle auf Theo.“
 

Wie auf Kommando drehten sich fast alle Anwesenden zu mir um. Auch Benedikt sah zu mir rüber. Schnell drehte den Kopf weg und wich seinem Blick aus. Stattdessen sah ich in Annetts feixendes Gesicht.
 

„Wir könnten ihn ja zum Bachelor machen, dann müssen sich die Mädels wenigstens anstrengen, um eine Rose von ihm zu bekommen.“

 

Immer noch meinte ich Benedikts Blick auf mir zu spüren. Ich wusste, ich musste jetzt irgendwie reagieren.
 

„Ich … ich hab schon ne Freundin“, meinte ich ein wenig lahm. Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus.

 

„Lagerhochzeit ist doch nur Spaß“, klärte Ronya mich auf. „Das machen wir jedes Jahr. Die Kids lieben es, den ganzen Zauber drumherum zu veranstalten. Die Spiele und so.“

 

„Es gab aber auch schon Tränen, wenn sich ein Junge zwischen zwei Mädchen entscheiden musste“, gab Reike zu bedenken. „Und warum sollen eigentlich immer nur Mädchen und Jungs heiraten? Mädchen und Mädchen oder Junge und Junge ginge doch auch.“

 

Killian verdrehte die Augen.
 

„Jaaa, Reike. Wir wissen, dass deine Mamas sich ganz doll lieb haben.“

 

Reikes braune Augen blitzten empört auf.
 

„Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, dass wir die Regeln einfach ein bisschen lockern sollten. Wenn ein Mädchen lieber ihre beste Freundin heiraten will, dann sollte das möglich sein.“

 

„Dann wird das aber ne Veranstaltung nur für die Mädels. Die Jungs haben mit dem Kram doch eh nicht so viel am Hut“, gab Sönke zu bedenken. Er hatte als Betreuer einer der mittleren Jungengruppe das Zelt mit den zwei größten Raufbolden des Lagers erwischt. Die beiden machten ihm das Leben ziemlich schwer und durften seit dem gestrigen Tag nur noch in getrennte Arbeitsgruppen.
 

„Vielleicht lassen wir die Lagerhochzeit dann dieses Jahr einfach ausfallen“, schlug Stephan vor und erhob sich, um sich noch die letzte Tasse Kaffee unter den Nagel zu reißen. „Lasst uns stattdessen lieber wieder die Pizza-Ralley machen. Ich glaube, das kommt besser an.
 

„Oh ja, gute Idee“ stimmte Kilian sofort zu. „Ich übernehme die Salami-Station.“

„Nur weil du die Kids wieder Schweinchen nachmachen lassen willst.“

„Ja, und? Das ist ja auch witzig.“

 

Die Frotzeleien gingen noch eine Weile hin und her, während man sich nach und nach auf ein Programm für die nächste Woche einigte. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Benedikt, der sich jetzt einen Stuhl herangezogen und sich ein wenig außerhalb der Runde niedergelassen hatte. Im Profil konnte man sein Gesicht nicht so gut erkennen. Trotzdem blieben meine Augen an seinem Mund hängen, den er jetzt öffnete, um eine Getränkeflasche anzusetzen. Sein Adamsapfel bewegte sich im Takt der Schluckbewegungen. Ich fühlte, wie mein Mund trocken wurde. Vielleicht sollte ich auch etwas trinken. Mich hier wegbewegen und aufhören, ihn anzustarren. Irgendwer würde es sonst sehen. Irgendwer würde es bemerken.

 

„Na, wo guckst du denn gerade hin?“

 

Ich zuckte zusammen, als Kilian sich neben mich auf das Sofa fallen ließ. Er grinste mich an und schlug mir mit der Hand auf den Oberschenkel.

 

„Machst du dir etwa immer noch Sorgen, dass Annett die Hühner auf dich hetzt?“

 

In meinem Kopf formte sich das Bild einer kleinen Schar weißer Vögel, bis ich endlich verstand, dass Kilian von den Mädchen aus Annetts Zelt sprach. Ich lächelte ein wenig angestrengt.

 

„Ach, damit komm ich schon klar.“

 

Noch während ich feststellte, dass meine Schlagfertigkeit sich anscheinend auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte, wurde mir bewusst, dass Kilians Hand immer noch auf meinem Bein lag. Ich spürte die Wärme und den Druck, die sich immer tiefer in meine Haut zu fressen schienen. Möglichst unauffällig richtete ich mich auf und entzog ihm dabei die Ablagefläche. Er hatte das entweder nicht bemerkt oder ging so geschickt darüber hinweg, dass es mir nicht auffiel.
 

„Na, dann ist ja gut“, sagte er stattdessen und grinste mich wieder an. „Kann manchmal ganz schön anstrengend sein, wenn sich eines der Kids so auf dich einschießt. Benedikt kann ein Lied davon singen. Er hat ja auch so einen kleinen Verehrer an den Hacken.“

„Ach ja?“

 

Ich hatte schneller geantwortet, als ich eigentlich gewollt hatte. Es klang viel zu interessiert. Betont beiläufig fragte ich deswegen: „Wen meinst du denn?“

 

„Kurt heißt der. Ist bei uns aus dem Zelt. Du kennst den Kleinen doch auch.“

„Klar kenne ich Kurt. Kurt ist cool.“

 

Kilian wollte gerade noch etwas sagen, als jemand zu uns trat. Sein Schatten verdunkelte die Sonne. Als ich aufsah, blickte ich direkt in Benedikts Gesicht.

 

„Sollen wir die Kids langsam mal wieder rauslassen?“, fragte er an Kilian gewandt. Mich beachtete er dabei gar nicht.

 

„Ja, gute Idee. Ist ja schon gleich halb drei. Also auffi geht’s.“

 

Kilian erhob sich. Als Benedikt beiseite trat, um ihn aufstehen zu lassen, berührte er mich aus Versehen am Fuß. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung.

 

„Sorry, ich wollte dir nicht zu nahetreten.“

 

Ich sah ein wenig unsicher zu ihm hoch. In den letzten Tagen waren wir uns mehr oder weniger aus dem Weg gegangen, wenngleich auch nicht mit Absicht. Worte waren zwischen uns nur wenige geflossen.
 

„Das ist schon okay“, sagte ich und versuchte dabei möglichst gleichgültig zu klingen. „Ich … ich hab nichts dagegen. Es ist wirklich kein Problem für mich, wenn du … Also ich wollte damit nur sagen, dass …“

 

Hör auf so rumzustammeln. Du benimmst dich ja wie ein totaler Volltrottel!

 

Kaum hatte ich das gedacht, merkte ich auch schon, wie meine Wangen langsam warm wurden. Ich wusste, dass ich den Blick hätte abwenden müssen oder wenigstens etwas Geistreiches sagen, aber ich konnte nicht. Ich saß da und starrte Benedikt an, der jetzt die Stirn runzelte und sich offenbar auf mein Verhalten keinen Reim machen konnte.

 

„Ist wirklich alles in Ordnung?

„Ja, alles bestens.“

„Na schön. Dann geh ich mal und helfe Kilian.“

„Was dagegen, wenn ich mitkomme?“

 

Wieder war mein Mund schneller gewesen als mein Gehirn. Ich hatte das eigentlich gar nicht sagen wollen, aber der Gedanke, wenigstens noch ein bisschen Zeit mit ihm zu verbringen, erschien mir gerade eine ziemlich gute Idee. Ich sah, wie er zweifelnd das Gesicht verzog, sich dann jedoch einen Ruck gab und einen Schritt zurücktrat, um mir Platz zu machen.
 

„Na, dann los“, sagte er und nickte mit dem Kopf in Richtung Tür. „Wecken wir die Meute.“

 

Das mit dem Wecken war zwar übertrieben, weil die meisten Kinder in der Ruhezeit nicht schliefen, sondern eher ein Buch lasen oder sich leise unterhielten und Spiele spielten, aber einige der jüngeren Kinder hielten tatsächlich noch Mittagsschlaf und die wachzukriegen war manchmal gar nicht so einfach.

 

„Und?“, fragte Benedikt draußen. „Gefällt es dir im Zeltlager?“

 

Ich war ein wenig erstaunt, dass er sich tatsächlich mit mir unterhalten wollte, aber vermutlich war er ebenso um Normalität bemüht wie ich.
 

„Ja, ist schon cool. Mit den Kindern zu arbeiten macht Spaß.“

„Im Ernst? Ich hätte nicht gedacht, dass das was für dich ist.“

„Ich auch nicht.“

 

Ich grinste ihn an und er erwiderte das Grinsen nach einem kurzen Zögern. Ich wusste, dass war nicht viel, aber allein die Möglichkeit, dass wir vielleicht wieder zueinander finden konnten, wenigstens als Freunde, beschleunigte meinen Herzschlag. Ich räusperte mich.
 

„Ist … äh … also ich meine, ist Kilian eigentlich auch … na, du weißt schon.“

 

Ich sah Benedikt bei dieser Frage nicht an. Keine Ahnung, warum ich die jetzt gestellt hatte. Sie war mir irgendwie so in den Sinn gekommen. Ich hörte Benedikt ein wenig angestrengt seufzen.

 

„Warum fragst du? Weil er dich vorhin angefasst hat?“

 

Meine Ohren begannen zu kribbeln. Vermutlich weil das Blut in ihnen zunehmend schneller pulsierte.
 

„Ich glaube nicht“, fuhr er schließlich fort, als ich nicht antwortete. „Der ist einfach nur so ziemlich touchy. Wieso? War dir das unangenehm?“

 

„Ja. Nein! Also ich meine … mir wär’s lieber gewesen, wenn es nicht Kilian gewesen wäre.“

 

In diesem Moment war ich mir sicher, dass meine Ohren glühten wie vollreife Tomaten. Was redete ich denn da bloß?

 

Benedikt gab ein amüsiertes Geräusch von sich.
 

„So? Und wer wäre dir lieber gewesen? Ronya? Reike? Annett? Melina ist auch ganz hübsch.“

„Nein, ich … äh … so hab ich das nicht gemeint.“

 

Jetzt. Jetzt wäre die Gelegenheit, es ihm zu sagen. Ich musste nur den Mund öffnen …

 

„Bemüh dich nicht, Theo. Es ist schon okay. Ich bin nicht mehr sauer.“

 

Jetzt sah ich ihn doch an. Er lächelte. Der Anblick nahm mich vollkommen gefangen. Am liebsten hätte ich ihn die ganze Zeit nur angesehen. Das hieß, nicht nur angesehen. Eigentlich noch mehr. Ich merkte, wie meine Hände begannen zu zittern.

 

„Mir ist inzwischen klar geworden, dass das einfach deine Art ist. Genau wie Kilian eben Leute einfach anfasst. Du kannst gar nicht anders.“ Er verzog kurz den Mund. „Als ich das erkannt hatte, war es auf einmal viel leichter. Ich meine, es ist ja nicht deine Schuld, dass ich die Zeichen falsch interpretiert habe.“
 

„Und wenn nicht?“

 

Der Satz platzte einfach aus mir heraus. Ich musste es ihm sagen. Ich musste.

 

Benedikts Augenbrauen bewegten sich aufeinander zu. „Wie meinst du das?“

 

Ich konnte nicht antworten. Das Zittern aus meinen Händen wanderte höher. Es ließ mich schwitzen und schneller atmen. Lähmte meine Stimmbänder. Verhinderte, dass ich auch nur den Mund öffnete. Dass ich ihn sehen ließ, dass ich doch antworten wollte, aber es einfach nicht fertig brachte. Dass ich einfach nicht aussprechen konnte, dass ich in ihn …

 

Er bemerkte es offenbar trotzdem, denn sein Gesichtsausdruck wurde mit einem Mal ernster.
 

„Hör auf damit.“

„Womit?“

 

Das Wort war mir wie von selbst entschlüpft und ich hätte es am liebsten zurückgeholt, als ich seine Antwort hörte.

 

„Damit mir was vorzuspielen. Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, aber ich will …“

 

Ich ließ ihn nicht ausreden. Stattdessen tat ich das Einzige, was mir in diesem Moment noch einfiel. Das Einzige, zu dem ich überhaupt noch in der Lage war. Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat einen Schritt vor und küsste ihn.
 

Es war nur eine ganz flüchtige Berührung unserer Lippen, kaum mehr als ein kurzes Streifen von Haut auf Haut. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich für einen Moment endlich dort angekommen, wo ich all die Zeit hingewollt hatte. Hier zu ihm. Um ihm endlich zu gestehen, was ich für ihn empfand. Um endlich die Wahrheit zu sagen. Trotzdem zwang ich mich, es schnell wieder zu beenden und aus seiner Reichweite zu treten. Ich wusste, dass es ein Fehler gewesen war, aber in meiner Situation gab es einfach keine Möglichkeit mehr, noch irgendetwas richtig zu machen. Es gab nur noch falsch und weniger falsch. Ich betete, dass das hier das Letztere war.

 

Benedikt regte sich nicht. Er starrte mich nur vollkommen entgeistert an. Bewegte keinen einzigen Muskel, bis er auf einmal blinzelte. Dann jedoch kam plötzlich Leben in ihn.

 

„Sag mal, hast du sie noch alle?“, schnauzte er mich an. „Was sollte das denn?“

„Ich … ich wollte …“

 

Ich schloss für einen Moment die Augen. Trotzdem sah ich ihn immer noch vor mir. Die Art, wie er mich ansah. Es war doch ein Fehler gewesen, ihn zu küssen. Ein Riesenfehler. Aber vielleicht konnte ich wenigstens noch ein winziges Bisschen retten.

 

„Ich wollte nur, dass du weißt, dass es mir auch was bedeutet hat. Und dass ich bereue, dass ich nicht schon früher erkannt habe, dass ich …“

 

Ich schaffte es nicht, es auszusprechen. Stattdessen hob ich den Kopf. Sah ihn an, wie er da vor mir stand und gar nicht wusste, wie ihm geschah. Ich wusste es ja selbst nicht. Die ganze Welt schien sich um mich herum zu drehen und nur er allein war der Punkt, der mich noch davon abhielt, in den wirbelnden Abgrund gezogen zu werden. Ich brauchte ihn so sehr.
 

„Ich bin schwul, Benedikt.“

 

Es war nur ein Flüstern. Meine Stimme war kurz davor zu brechen. Ich fühlte die Tränen, die schon wieder hinter meinen Augen lauerten, aber ich drängte sie erfolgreich zurück. Ich wollte sehen, wie er reagierte.

 

Schweigen erfüllte nach diesem Geständnis die Luft. Ein Schweigen, das niemand von uns mit Worten ersetzen konnte. Weil es keine Worte gab, die ausgedrückt hätten, was wir beide fühlten. Unglaube, Angst, Verzweiflung, Wut, Hoffnung. Ein bunter Mix der unterschiedlichsten Emotionen tobte zwischen uns hin und her und hinterließ doch nur drückende Stille. Eine Stille, die Benedikt schließlich brach.

 

„Das kommt überraschend.“

„Ja.“

„Und wie kommst du darauf?“

 

Ich musste unwillkürlich lachen. Eine Übersprungshandlung. Ich wusste es, aber ich konnte es nicht unterdrücken. Ebenso wie den einzigen Satz, den es darauf zu sagen gab.
 

„Eigentlich habe ich es schon immer gewusst. Aber ich war zu feige, um es mir einzugestehen. Ich hab gedacht, dass es wieder weggeht. Dass es nur eine Phase ist, aber … Es ist nicht wieder weggegangen. Ich bin wirklich schwul.“

 

Es noch einmal auszusprechen, machte es schon ein wenig leichter. Vielleicht brachte es etwas, wenn ich es jeden Tag hundert Mal sagte. Dann würde es vielleicht irgendwann normal werden.

 

Benedikt nickte langsam.
 

„Okay“, sagte er nur und ich musste zugeben, dass ich ein wenig enttäuscht war.
 

„Mehr hast du nicht dazu zu sagen?“

 

Er atmete tief ein. Seufzte leise.
 

„Was willst du denn hören? Herzlichen Glückwunsch? Willkommen im Club? Ich meine, ich freue mich für dich, aber … ich weiß gerade nicht, was ich dazu sagen soll.“

 

Der Blick, der mich aus seinen Augen traf, war traurig. Ein wenig verletzt auch. Ich hatte so viel kaputtgemacht.
 

„Hey“, sagte er plötzlich und trat einen Schritt näher. „Kein Grund zu weinen.“

 

Ich weine doch gar nicht, wollte ich sagen, aber da merkte ich schon, dass ich es doch tat. Träne um Träne quoll aus meinen verräterischen Augen, die mehr von dem zeigten, was in mir vorging, als ich eigentlich wollte. Ich wollte nicht klein sein. Nicht schwach. Nicht bedürftig. Ich wollte stark sein und es wie ein Mann tragen. Mit Fassung. Und Würde.
 

„Es ist okay“, flüsterte Benedikt und seine Arme schlossen sich um mich. In diesem Moment verlor ich die Fassung und begann wirklich zu heulen. Ich krallte mich an ihm fest und schluchzte so sehr, dass das Beben durch meinen ganzen Körper lief und meine Beine beinahe unter mir nachgaben. Eine warme Hand strich über meinen Rücken, während ich mein Gesicht an seiner Schulter vergrub. Ich war so furchtbar. So schwach. So hilflos. Alles nur Fassade und Show mit nichts, aber auch gar nichts dahinter. Ein Trümmer- und Scherbenhaufen, nur aufrecht gehalten von ein paar fadenscheinigen Lügen, die jetzt eine nach der anderen zerrissen wie zu straff gespannte Gitarrensaiten.
 

„Tut mir leid“, murmelte Benedikt. „Ich … das war ganz schön unsensibel von mir. Bestimmt fühlst du dich gerade furchtbar.“

 

Ich wollte ihm widersprechen. Wollte ihm sagen, dass ich klarkam. Dass er sich nicht um mich zu kümmern brauchte. Dass ich es ohne ihn schaffen würde. Aber die Lüge kam mir einfach nicht über die Lippen. Denn ich würde es nicht ohne ihn schaffen. Ich brauchte Hilfe.

 

„Ist alles okay bei euch?“ Annetts Stimme riss mich aus meiner Erstarrung. Schnell machte ich mich aus Benedikts Umarmung los und wischte mir über die Augen, bevor ich meine Brille wieder geraderückte. Annett durfte nicht sehen, dass ich geweint hatte. Durfte nichts hiervon mitbekommen.
 

„Ja, alles in Ordnung“, hörte ich Benedikt über meine Schulter hinweg rufen. „Wir … wir gehen mal ein Stück. Sind nachher wieder da.“
 

Ich weiß nicht, ob Annett noch etwas dagegen einwenden wollte, aber Benedikt ließ sie gar nicht zu Wort kommen. Er wandte sich einfach mir zu und lächelte mich an.

 

„Komm“, sagte er. „Gehen wir spazieren.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  z1ck3
2020-11-08T22:33:41+00:00 08.11.2020 23:33
Oh man nun liefen mir auch die Tränen. Wie furchtbar, dass Theo so über sich selbst denkt. Und wie er sich gerade an Benedikt klammert, wie ein ertrinkender. Ach das bricht mir das herz

Ich frage mich allerdings schon ob Theo noch nie von Bisexulaität gehört hat... Denn er scheint schon in die Richtung zu gehen.
Antwort von:  Maginisha
09.11.2020 16:22
Hey z1ck3!

Jaaa, ich musste auch heulen beim schreiben ;_; Theo ist wirklich gerade ziemlich am Boden zerstört. Mal sehen, ob Benedikt das wieder hinkriegt.

Dass Theo nicht bi ist, sollte diese Kapitel eigentlich gezeigt haben. *denk* Aber wir widmen uns der Frage nochmal, denn die wird Benedikt so oder so ähnlich sicher auch stellen. ;)

Ich danke für den Kommentar!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Ryosae
2020-11-08T20:07:52+00:00 08.11.2020 21:07
So. Viele. Gefühle.
Ich liebe es! 😍

Ach Mensch, hätte Theo eben auch gerne in den Arm genommen. Dieser innere Kampf kannst du so schön beschreiben. Bei Benedikt war es von Anfang an klar das er schwul ist, hier war es ein Prozess es sich einzugestehen.
Vor allem dieser rießen Schritt wo ihm bewusst wird das es doch mehr als nur freundschaftliche Gefühle waren. Das dieser Drang Zeit mit Ben zu verbringen doch tiefere Beweggründe hatte. Schön! >\\<

Finde es aber auch extrem toll das Benedikt so herzlich reagiert, Theo tröstet und ihn versucht jetzt aufzubauen.
Freu mich schon tierisch auf den Spaziergang!! :D

Dieser Kilian.. ist er wirklich nur touchy? Mal sehen ;)
Antwort von:  Maginisha
09.11.2020 16:18
Hallo Ryosae!

Ich muss zugeben, ich musste auch ein bisschen heulen beim Schreiben. Ich habe an anderer Stelle schon jemandem geschrieben, dass im Grunde nur die Wahl blieb, den Damm endlich brechen zu lassen, oder einen dauerhaften Knacks bei Theo zu riskieren, und das wollte ich dann doch nicht. Zumal er ja eigentlich schon mit dem Thema in Berührung gekommen ist. Ohne Benedikt als Katalysator hätte Theo sich allerdings vermutlich noch sehr lange was vorgemacht.

Und Benedikt musste jetzt auch mal über seinen Schatten springen, denn wenn er Theo jetzt wieder den Rücken gekehrt hätte, wäre das mit Sicherheit nicht gut ausgegangen.

Was nur alle mit Kilian haben. :D

Danke für den Kommentar!

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Snowprinces
2020-11-08T19:45:50+00:00 08.11.2020 20:45
Hi

ich hoffe das es mehr zwischen ihnen wird bitteeeee😆
und schönes Kapitel ich hoffe das nächste kommt schnell

Schokolade Kekse und Kakao Rübe schieb
Antwort von:  Maginisha
09.11.2020 16:14
Hey Snowprinces!

Ich fürchte ja, ganz so einfach wird es bei der Vorgeschichte nicht werden, aber wir hoffen mal das Beste. :)

Danke für die Verpflegung und den Kommentar!

Zauberhafte Grüße
Mag


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