Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 8: Ehrliche Fragen... ----------------------------- In den nächsten Stunden legte ich mich richtig ins Zeug. Ich half bei den Vorbereitungen zum Mittagessen, trommelte die Kinder zusammen und übernahm sogar das Abspülen, obwohl ich diese Aufgabe eigentlich nicht besonders leiden konnte. Allerdings war ich so wild entschlossen, von jetzt an alles besser zu machen, dass ich mich selbst vorantrieb, um dem auch wirklich gerecht zu werden. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, neben mir zu stehen und mir dabei zuzusehen, wie ich mich abmühte, ohne wirklich ein Ergebnis zu erzielen. Denn all diese Tätigkeiten dienten eigentlich nur dazu, mich von dem abzulenken, was mich wirklich beschäftigte.   Was machst du da eigentlich, fragte ich mich, als ich mich doch tatsächlich bereiterklärte, am Nachmittag beim Ausflug an den Strand mitzukommen. Ronya hatte beim Mittagessen gesagt, dass sie dorthin mitgehen würde und ich hatte mich spontan angeschlossen. Dass Benedikt ebenfalls dort sein würde, hatte ich vollkommen vergessen. Stephan hingegen war recht begeistert.   „Die sind am Anfang immer wie die Wilden. Je mehr, desto besser“, lautete sein Urteil, als ich zusammen mit den drei Frauen am Strand auftauchte. „Gehst du mit rein?“   Ich öffnete gerade den Mund um zu antworten, als mir eines der Mädchen, die mit uns hergekommen waren, eine gelbe Flasche unter die Nase hielt.   „Hey, Theo, cremst du mir mal den Rücken ein?“ „Oh ja! Mir bitte auch“, rief eine andere.   Ich starrte völlig verständnislos auf die Flasche und dann auf die kleine Blonde, die mich mit großen Augen anstrahlte. Sie trug einen türkisen Bikini mit einem Schmetterlingsmuster, dessen pinke Träger sich im Nacken überkreuzten. Mein erster Gedanke war, dass sie so wenigstens nicht herunterrutschen konnten.   „Papperlapapp, wenn überhaupt hilft Theo drüben bei den Jungs. Außerdem könnt ihr euch gegenseitig eincremen“, unterbrach Annett das Ganze kurzerhand und scheuchte mich rüber zu dem wilden Haufen, der sich schon zur Hälfte im Wasser befand. Noch einmal fragte Stephan mich, ob ich mit reingehen wollte.   Ein kurzer Blick zum See zeigte mir, dass Benedikt bereits dort war. Die Jungs, die nicht unter wildem Gejohle von dem umgestürzten Baum aus ins Wasser sprangen, bemühten sich gerade, ihn unterzutauchen, aber er wehrte sich tapfer. Es gab jede Menge Gekreisch und Gelächter. Ich wäre gerne dabei gewesen. Aber da da immer noch diese ungeklärte Sache zwischen uns stand, wusste ich nicht, wie er reagieren würde, wenn ich einfach so neben ihm auftauchte. Also schüttelte ich den Kopf.   „Ich überwache lieber vom Ufer aus, dass niemand absäuft.“   „Ist recht“, antwortete Stephan mit einem Nicken, bevor er sich sein Shirt über den Kopf zog und sich ebenfalls mit in die Fluten stürzte.   Ich blieb am Strand zurück und sah mich um. An der Seite entdeckte ich eine bekannte, kleine Gestalt, die sich zu meinem Erstaunen nicht aus- sondern anzog. Nach einem kurzen Zögern ging ich rüber zu Kurt und sprach ihn an.   „Was machst du denn da?“ „Ich zieh meine Badesachen an.“   Kurts Tonfalls machte deutlich, dass er meine Frage für ziemlich dumm hielt. Ich jedoch fand sie anhand des langärmligen Oberteils und der fast bis zu den Knien gehenden Hose nicht unangebracht.   „Das ist gegen die Sonne“, erklärte er, bevor er sich auch noch eine Kappe mit einem großen Schirm und einem Nackenschutz aufsetzte, der ihn aussehen ließ, als wolle er jeden Moment zu einer Tropen-Expedition aufbrechen. Als ich dachte, dass er nun endlich fertig war, kramte er jedoch tatsächlich noch eine Tube Sonnencreme heraus und begann, den kläglichen Rest seines Körpers, der nicht von Stoff bedeckt war, noch mit einer zähflüssigen, weißen Masse einzureiben. Am Ende sah er aus wie ein Dschungelforscher-Gespenst. Ich unterdrückte ein Grinsen.   „Willst du wirklich so ins Wasser?“ „Ja, warum?“   Er war anscheinend nicht auf die Idee gekommen, dass ihn dieser Aufzug zur Zielscheibe des allgemeinen Spotts machen würde. Ich hingegen war mir sicher, dass, wenn die anderen Jungs ihn so sahen, er sicherlich mehr Zeit unter als über der Wasseroberfläche verbringen würde. Unter anderem deswegen, weil ich jemand gewesen war, der in ihrem Alter genau das mit ihm gemacht hätte. Inzwischen wusste ich zwar, dass das dämlich war, aber das machte die Gefahr für Kurt nicht weniger real.   „Na ja, wenn deine Mütze im Wasser landet, könnte sie verloren gehen. Es ist ziemlich voll, der Grund aufgewühlt. Die findest du da nie wieder.“   Kurt runzelte nachdenklich die Stirn.   „Das ist wahr. Meine Mutter wäre bestimmt nicht begeistert. Sie hat mir die Mütze extra für die Fahrt gekauft.“ „Dann lass sie doch bei mir. Ich passe auf sie auf.“ „Okay.“   Er nahm die Mütze ab und gab sie mir.   „Und das Shirt? Meinst du nicht, dass du das auch ausziehen solltest?“ „Nein, auf keinen Fall. Dann muss ich nämlich den ganzen Oberkörper mit Sonnencreme einschmieren und ich hasse das. Die klebt immer so scheußlich.“ „Wie wäre es, wenn ich dir für das nächste Mal eine andere besorge? Eine, die nicht so klebt.“   Er überlegte kurz, dann nickte er.   „Das wäre prima.“   Sein kleines Geistergesicht grinste mich noch einmal an, bevor er in Windeseile zum Strand lief und ebenso wie die anderen lostobte. Irgendwie war das komisch. Ich hatte erwartet, dass er sich zurückhaltender gab, aber bis auf das Shirt sah er genau aus wie alle anderen. Ich beobachtete, wie er sich auf Benedikt stürzte und ein kleines Lächeln erschien auf meinem Gesicht, als ich sah, dass der den kleinen Fratz hochnahm und rückwärts ins Wasser warf.   Jetzt wäre die Mütze spätestens weg gewesen, dachte ich und drehte den hellblauen Stoff nachdenklich in den Händen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätte sie ihm jemand wiedergegeben, statt damit Ball zu spielen, wie ich gedacht hatte. Vielleicht wäre gar nichts Schlimmes passiert, wenn er einfach so geblieben wäre.   Das Problem ist nur, dass man das vorher nie wissen kann.   Bei dem Gedanken war da wieder dieses Gefühl in meinem Magen. Als hätte ich einen Stein verschluckt. Am Mittagessen, das schon eine ganze Weile zurücklag, konnte es nicht liegen. Eher an den Überlegungen, die ich die ganze Zeit vor mir herschob.   Die Sache mit Benedikt machte mir zu schaffen. Im ersten Moment hatte ich gedacht, dass es leicht sein würde, mich bei ihm zu entschuldigen. Ich würde ihm sagen, dass ich erkannt hatte, dass es absolut arschig gewesen war, ihn nicht anzurufen, um das mit ihm zu klären. Das war wohl der größte Fehler gewesen oder zumindest der, der am ehesten abzuwenden gewesen wäre. Wenn ich der ganzen Wahrheit die Ehre gegeben hätte, wäre wohl auch die Flucht am Morgen oder überhaupt die ganze Aktion total dämlich gewesen. Ich wusstep nicht, was ich mir dabei gedacht hatte. Vermutlich nicht viel und das war das Problem. Ich hatte mir keine Gedanken um die möglichen Folgen gemacht und hatte einfach getan, was mir als Erstes in den Sinn gekommen war. Wohin das geführt hatte, sah man ja jetzt. Was immer mich dazu gebracht hatte, Benedikt an dem Abend nicht sofort rauszuschmeißen oder zumindest in eines der Gästezimmer umzusiedeln, ich hätte es besser unter Kontrolle haben müssen. Dann wäre das alles nicht passiert.   Kaum hatte ich diesen Gedankengang beendet, kamen mir jedoch bereits Zweifel. Mal angenommen, er akzeptierte meine Entschuldigung. Was dann? Im ersten Moment hatte sich das so vielversprechend angehört, aber beim zweiten Darübernachdenken, erschien mir das Ganze nicht mehr so klar. Wie sollte es denn danach weitergehen? Doch auch nicht viel anders als zuvor. Momentan dachte er, dass ich ein Arschloch war, und hinterher wusste er, dass ich diese Meinung teilte. Warum um alles in der Welt sollte er sich deswegen mit mir abgeben wollen? Nur weil ich es zugab? Waren wir nicht beide besser dran, wenn ich uns das ganze peinliche Prozedere ersparte und alles so blieb, wie es jetzt war?   Das hast du schon mal versucht und es hat nicht geklappt.   Aber warum? Warum konnte ich es nicht einfach gut sein lassen? Warum machte ich mir immer noch so einen Kopf darum, was er von mir dachte? Er war doch nur irgendein Typ aus meinem Jahrgang. Also klar, ich fand ihn schon ziemlich cool. Ich war gerne mit ihm zusammen. Gewesen. Denn seit dem das mit uns passiert war, hatten wir ja keine Zeit mehr miteinander verbracht. Vorher hatten wir wenigstens noch ab und an mal miteinander geredet. Es hatte Tage gegeben, da hatte ich in irgendeiner langweiligen Stunde gesessen und immer wieder sehnsüchtig auf die Uhr geschaut, weil ich darauf gewartet hatte, ihn in der großen Pause wiederzusehen. Manchmal hatte ich auch Umwege durch das Schulhaus genommen, weil ich gewusst hatte, dass er in einen bestimmten Raum zum Unterricht musste und wir uns so über den Weg laufen würden. An anderen Tagen hatte ich mich entweder beeilt oder getrödelt, weil ich mir Chancen ausgerechnet hatte, ihm im Fahrradkeller zu begegnen. Nicht zu oft. Nicht so, dass es auffiel. Aber manchmal hatte ich wegen irgendetwas einfach an ihn denken müssen. Meine Ausreden, warum ich ihn angesprochen hatte, waren vermutlich ein wenig durchschaubar gewesen. Benedikt war schließlich nicht dumm. Aber ich hatte einfach ein bisschen Zeit mit ihm verbringen wollen. Hatte mich versichern wollen, dass trotz Mia alles okay zwischen uns war. Und bis zu diesem Abend war es das auch noch gewesen. Bis ich alles kaputt gemacht hatte.   Meine Hände sind kalt, dein Blick ist es auch Wellen schlagen immer höher gegen meinen Bauch Das Wasser steigt an, bald ertränkt es mich Ich vermisse dich   Worte verbarrikadieren sich in meinem Mund Verbiegen sich und brechen, werden hart statt rund Bleiben stecken, kommen nicht raus, sie ersticken mich Ich vermisse dich   Gib mir noch ein bisschen Zeit, gib mir eine Chance Lass mich irgendetwas tun, damit das mit uns Noch nicht zu Ende ist, noch ein bisschen weiterlebt Bevor es fällt und geht   Damals wusste ich noch nicht, was mir wichtig ist Hab nicht ernst genug genommen, dass nur du es bist Ich habe dich verletzt, hab dir wehgetan Die Anklage steht mir an   Wenn ich nur irgendwie könnte, wäre ich wieder da Als das „Uns“ noch existierte, als ich glücklich war Wir würden lachen und du wärst ein Freund für mich Ich vermisse dich   Gib mir noch ein bisschen Zeit, gib mir eine Chance Lass mich irgendetwas tun, damit das mit uns Noch nicht zu Ende ist, noch ein bisschen weiterlebt Bevor es fällt und geht   Gib mir noch ein bisschen Zeit, gib mir eine Chance Lass mich irgendetwas tun, damit das mit uns wieder zu dem wird, was es einmal war Denn jetzt seh ich klar   Dass ich ehrlich sein muss für das, was ich will Dass die Welt sich weiterdreht, nur ich stehe still Ich komme nicht vom Fleck, entferne mich von dir Bitte bleib bei mir   Ich hatte die Worte nur in meinem Kopf, aber als hätte er sie gehört, drehte Benedikt in diesem Moment den Kopf in Richtung Strand. Unsere Blicke begegneten sich und hielten sich einen Augenblick lang fest. Es war flüchtig, nur ein winziges Zögern, bevor er sich abwandte. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Da war noch etwas zwischen uns. Etwas, dass vielleicht noch nicht tot und gestorben war. Etwas, dass ich wiederbeleben konnte, wenn ich mich nur genug anstrengte. Wenn ich endlich herausfand, was ich sagen oder tun musste, damit er mir verzieh.   Aber was?   Was war es, dass es wieder gut machen würde? Was wollte er hören? Er hatte die Frage doch nicht einfach so gestellt. Es musste irgendetwas geben, das ich tun konnte. Es musste einfach.   Vielleicht sollte ich es tatsächlich mal mit Singen probieren.   Der Gedanke war einerseits lächerlich, aber andererseits vielleicht das Einzige, was tatsächlich noch etwas bewegen konnte. Wenn ich sang, wurde es leichter, Dinge auszudrücken, die sonst nicht über meine Lippen kamen. Doch ihm ein Lied vorzutragen, in dem ich offen zugab, dass ich etwas für ihn empfand …   Ich keuchte auf, als der Gedanke einfach so durch meinen Kopf stolperte. Dass ich … was? Mein Herz klopfte so laut, dass ich die Befürchtung hatte, damit den Schlagrhythmus eines Wikingerbootes bestimmen zu können. Fast hätte ich den Kopf geschüttelt. Das konnte nicht sein. Ich … also ich war doch nicht … Er war ein Kerl. Ich war doch auf gar keinen Fall in ihn … Das konnte nicht sein. Ich hatte doch Mia. Ich hatte eine Freundin. Ich war nicht … anders. Nein, auf gar keinen Fall.   „Nur weil er ein bisschen anders ist ...“   Die Stimme meiner Mutter.   „Du bist eben anders.“   Mein Vater.   „Manchmal bist du ganz schön schräg.“   Christopher.   „Du bist so anders als die anderen.“   Mia.   Und dann war da auf einmal Jos wutverzerrtes Gesicht vor mir. Jo, der mich anschrie.   „Weil er eine scheißschwule Schwuchtel ist!“   Das kalte Entsetzen, das mich damals gepackt hatte, legte sich erneut über mich. Nie hatte ich gedacht, dass mein bester Freund so reagieren würde. Allein der Gedanke, was er sagen würde, wenn er es erfuhr, ließ mich beinahe zusammenbrechen. Ich fühlte die Kopfschmerzen herannahen, noch bevor ich sie wirklich spürte. Vor meinen Augen flimmerte es.   Das war zu viel. Einfach viel zu viel. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich den Gedanken wieder in die Kiste hätte zurückstopfen können, aus der er hervorgequollen war. Doch die Kiste war randvoll gefüllt. Mit all den Bildern, den Erinnerungen, den Dingen, die ich mir ausgemalt hatte, den Fantasien, den heimlichen Blicken, den noch heimlicheren Internetsuchen, den zusammengeknüllten Taschentüchern, den unterdrückten Seufzern und Sehnsüchten. All das hatte ich so lange zurückgehalten, wie ich konnte, doch jetzt war kein Platz mehr auf meinem geheimen Speicher. Ich würde die Flut nicht mehr aufhalten können. Sie würde hervorbrechen und mich unter sich begraben. Ich würde untergehen und mich verlieren. Alles, was mich ausmachte, würde verschwinden und jemanden zurücklassen, den ich nicht kannte. Den niemand mehr wollte.   Erneut ächzte ich lautlos. Die Welt um mich herum schien sich zu drehen. Ich konnte das nicht. Ich durfte das nicht zulassen. Ich musste mich zusammenreißen. Musste es hinkriegen. Irgendwie.   „Theo?“   Ich schrak zusammen, als Annett mich ansprach. Sie sah besorgt aus.   „Geht es dir gut? Du bist so blass.“ „Ich …“   Ich überlegte zu lügen. Es abzustreiten. In meinem Kopf pochte es.   „Ich hab ziemliche Kopfschmerzen.“ „Von der Sonne?“   Annett runzelte die Stirn.   „Vielleicht solltest du dich lieber hinlegen.“ „Ja, vielleicht.“ „Und trink was.“ „Ja, mache ich.“ „Ich sehe nachher mal nach dir.“   Mir lag auf der Zunge zu sagen, dass das nicht notwendig war, doch dann nickte ich nur dankbar, bevor ich mich umdrehte und langsam die Böschung hinaufstieg. Hinter mir hörte ich das fröhliche Gelächter der Kinder. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder zurückgegangen. Aber so, wie ich jetzt gerade drauf war,wäre ich wohl ohnehin keine große Hilfe gewesen. War es da nicht wirklich besser, wenn ich mich erst mal ausruhte? Nur ein kleines bisschen. Danach würde es wieder gehen. Ganz bestimmt.   Wie in Trance ging ich zu den Zelten zurück. Wieder war ich ganz allein hier, doch dieses Mal war ich nicht auf der Flucht. Ich wusste, mir selbst würde ich nicht entkommen können. Stattdessen nahm ich, nachdem ich mich hingelegt hatte, mein Handy zur Hand. Ich wartete, bis es hochgefahren war, und betrachtete dann nachdenklich das Display.   Auf dem Sperrbildschirm war ein Foto von Mia und mir. Ein Schnappschuss, den Mia mir dorthin gespeichert hatte. Ganz kurz leuchtete mir das Bild noch entgegen, bevor das Display dunkel wurde. Ich tippte kurz mit dem Finger dagegen, um das Bild zurückzuholen. Es war aus dem letzten Sommer von meiner Geburtstagsfeier. Ich hatte Mia im Arm und wir grinsten beide in die Kamera. Sie hatte an dem Tag ein weißes Kleid getragen. Eigentlich viel zu fein für das einfache Kaffeetrinken, das meine Eltern an dem Tag veranstaltet hatten. Da ich abends noch mit meinen Freunden feiern wollte und nun wirklich schon zu alt war für irgendwelche Geburtstagskuchen, hatten wir einfach nur unsere normale Nachmittagsmahlzeit nach draußen verlegt und Mia war vorbeigekommen, um den Tag mit mir zu verbringen.   Ich wusste noch, wie verführerisch sie mich danach angelächelt hatte. Wie ich ihr später im Zimmer die Träger des Kleides abgestreift und sie geküsst hatte. Wie wir kurz darauf miteinander im Bett gelegen hatten und ich sie gefragt hatte, ob sie das tun würde. Das, was er getan hatte. Sie hatte mir meinen Wunsch erfüllt. Zum Geburtstag. Ich hatte versucht, mich darin fallen zu lassen, doch es war nicht das Gleiche gewesen. Ich hatte dabei die ganze Zeit an ihn denken müssen und das Ganze nach einer Weile mit irgendeiner netten Ausrede beendet. Ich war mir so dämlich vorgekommen.   Aber das kann ich ihm nicht sagen, dachte ich und drehte mich auf den Rücken, um blicklos gegen das Dach des Zeltes zu starren. Es wäre Mia gegenüber nicht fair gewesen. Denn ich war gern mit ihr zusammen. Ich liebte sie. Und die Tatsache, dass ich manchmal davon träumte, mit jemand anderem ins Bett zu gehen, machte mich doch nicht zu einem Betrüger.   Noch während ich das dachte, wusste ich, dass es nicht stimmte. Mia und ich waren ein Paar gewesen, als das mit Benedikt passiert war. Im Grunde genommen hatte ich sie also schon betrogen. Nur einmal zwar und ich hatte es bitter bereut, aber das machte es nicht weniger falsch.   Ich presste die Hände gegen meine Augen und stöhnte.   „Ich bin so ein furchtbarer Mensch.“   Leider erhob niemand Einwände dagegen und so verbrachte ich die Zeit damit, einfach nur dazuliegen und mir auszumalen, wie mein Gespräch mit Benedikt wohl verlaufen würde, bis ich irgendwann die anderen vom See zurückkommen hörte, weil es Zeit fürs Abendessen wurde.     Zusammen mit einem Haufen fröhlich durcheinanderredender Kinder saß ich kurz darauf an einem der mit Broten, Belag und frischem Gemüse gedeckten Achter-Tische. Es gab reichlich Gesprächsstoff zwischen den verschiedenen Vormittags-Gruppen, aber alle waren sich einig, dass das Baden am Nachmittag am besten gewesen war. Während das Gespräch zu irgendwelchen Fortnite-Skins wechselte, richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf Benedikt, der zwei Tische weiter mit dem Rücken zu mir saß und aß. Ich wollte den Zeitpunkt nicht verpassen, an dem er damit fertig war. Im Gegensatz zu mir schien er einen guten Appetit zu haben und langte bereits das dritte Mal zu, während ich immer noch meine erste Brotscheibe auf dem Teller hatte, von der ich nicht einmal abgebissen hatte. „Isst du gar nichts?“, fragte mich Tim, einer der Zwillinge aus meinem Zelt.   „Ich hab heute keinen so großen Hunger“, meinte ich abwesend und nahm mir alibimäßig ein Stück Gurke, bevor ich mich wieder ans Beobachten machte. Ich musste nicht mehr lange warten, bis Benedikt sich erhob. Er trug seinen Teller in den vorderen Teil des Raumes, wo hinter einer breiten Durchreiche der Küchenbereich lag. Ordnungsgemäß legte er das Besteck in den einen, Glas und Teller in die beiden anderen Plastikkörbe.   „Ich bin gleich wieder da“, erklärte ich und erhob mich, um ihm zu folgen. Kurz hinter dem Eingang fing ich ihn ab.   „Äh, Benedikt? Hast du wohl einen Augenblick Zeit für mich?“   Er sah nicht begeistert aus, blieb aber immerhin stehen.   „Was gibt es denn?“ „Es geht um das von heute Vormittag.“   Sofort wurde sein Gesicht finsterer.   „Muss das jetzt sein? Ich wollte eigentlich noch duschen gehen.“   Einen Moment lang war ich in Versuchung, ihm zu sagen, dass ich noch warten konnte – ein paar Tage oder Wochen, wenn es sein musste – aber dann gab ich mir selbst einen Ruck.   „Ich würde gerne jetzt mit dir reden. Es dauert auch nicht lange.“   Er sah zur Seite; schien zu überlegen, bevor er nickte.   „Na gut. Aber mach’s kurz, ja?“   Ich versprach, ihn nicht lange aufzuhalten, und er folgte mir, als ich den Weg zum Parkplatz einschlug. Die meisten Kinder waren noch beim Essen oder in den Zelten, sodass hier wenig Betrieb herrschte. Bei dem großen Stein angekommen, auf dem Reike gestern gesessen hatte, hielt ich an und drehte mich zu ihm herum.   „Also schön. Ich höre?“, sagte er immer noch abweisend.   „Ich … also du hast mich heute gefragt, was genau mir leidtut. Und eigentlich kann ich dir das immer noch nicht sagen.“   Er gab so etwas wie ein „War ja klar“ von sich und machte Anstalten sich umzudrehen.   „Bitte warte“, sagte ich schnell. „Ich habe das nicht gesagt, weil mir nichts eingefallen ist, sondern weil ich nicht weiß, was von dem, was ich gemacht habe, eigentlich das Schlimmste ist. Als ich dich in meinem Bett gefunden habe, ist irgendeine Sicherung bei mir durchgebrannt. Das will ich jetzt nicht als Entschuldigung nehmen, denn ich hätte das trotzdem nicht tun sollen. Die Situation ausnutzen, meine ich. Auch wenn ich dank meines Alkoholpegels vielleicht nicht mehr so ganz zurechnungsfähig war. Und dann hätte ich mich am nächsten Tag nicht so wegschleichen dürfen. Und ich hätte dich anrufen müssen. Aber ich war so … verwirrt. Und ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Deswegen habe ich es immer wieder vor mir hergeschoben, bis es irgendwann zu spät war. Aus diesem Grund denke ich, dass es fast das Schlimmste war, dass ich dich in dem Glauben gelassen habe, dass ich dich nicht anrufen wollte. Denn das wollte ich. Ich hab’s nur einfach nicht hinbekommen.“   Benedikt hatte das Gesicht abgewandt, sodass ich nicht sehen konnte, wie meine Entschuldigung bei ihm angekommen war. Ich presste die Fingernägel in meine Handflächen und wartete. Darauf, dass er irgendetwas tat oder erwiderte. Aber er sagte nichts.   Irgendwann räusperte ich mich.   „Die Tabletten hab ich übrigens weggeworfen. Da kann also nichts mehr passieren.“   Es dauerte noch einen Augenblick, dann nickte er langsam.   „Das ist gut. Für Kinder kann das echt gefährlich werden.“ „Ich glaube nicht, dass die jemand mit Bonbons verwechselt hätte …“   Er fuhr herum.   „Es war aber eine Anweisung und du hast dich nicht dran gehalten. Du glaubst immer, dass für dich die Spielregeln nicht gelten, dabei bist du auch nur ein Mensch wie alle anderen.“   Ich schluckte. Er sah so wütend aus.   „Ja, ich weiß“, erwiderte ich leise. „Eigentlich bin ich sogar ein ziemlich furchtbarer Mensch. Ich habe mich dir gegenüber wie der totale Arsch verhalten und das tut mir leid.“   Er atmete tief durch.   „War das alles oder kommt da noch mehr?“   Ich zog den Kopf zwischen die Schultern.   „Nein, das war alles.“   Enttäuscht biss ich mir auf die Innenseite der Wange. Ich hatte irgendwie gedacht, dass es besser laufen würde. Aber vielleicht war das hier das Beste, was ich bekommen konnte. Das Beste, was ich verdient hatte.   „Ich geh dann mal wieder.“   Er wandte sich zum Gehen, um mich wieder stehen zu lassen, doch dieses Mal hielt ich ihn zurück. Meine Hand prickelte, wo sie seinen Arm berührte. Ich hatte ganz automatisch nach ihm gegriffen. Als mir das auffiel, ließ ich ihn los und sah ihn unsicher an.   „Würdest du mir noch eine Frage beantworten?“   Er seufzte.   „Wenn es sein muss.“   Ich leckte mir über die Lippen. Das hier hatte ich nicht geplant, aber wenn schon alles zum Teufel ging, dann wenigstens richtig. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Also öffnete ich den Mund und stellte die Frage, die mir gerade erst in den Kopf gekommen war. Ich musste es einfach wissen.   „Warum bist du damals in meinem Zimmer gewesen?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)