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Herz über Kopf

von

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Gemischte Gefühle

In der Nacht erwachte ich mit rasenden Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als würde ein LKW mich überollen. Blind tastete ich im Dunkeln nach meiner Nachttischlampe. Stattdessen trafen meine Finger auf die seidige Oberfläche eines Polyester-Schlafsacks samt des darin befindlichen Körpers. Es dauerte einen Augenblick, bis die Informationen das Schmerzgewitter in meinem Kopf durchdrangen. Das Zeltlager. Ich war im Zeltlager. Meine Brille war … irgendwo. In meiner Tasche. Die Tabletten!

 

Ich fingerte am Reißverschluss der Reisetasche herum. Bekam ihn zu fassen. Zog ihn auf. Wühlte mich durch die Schichten an Kleidung, bis ich am Boden eine Pappschachtel ertastete. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich spürte Übelkeit aufwallen.

 

Durchhalten. Gleich wird es besser.

 

Der Blister wehrte sich. Er knisterte laut in der Stille der Nacht. Die Tablette kam einfach nicht raus. Ich gab ein gequältes Geräusch von mir, nur um im nächsten Moment ängstlich innezuhalten. Hatte mich jemand gehört?

 

Eine neue Welle von Übelkeit rauschte heran. Mageninhalt stieg meine Kehle empor. Ich schluckte, oder besser, ich versuchte zu schlucken. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen.

 

Wasser. Ich brauche Wasser.

 

Wieder kämpfte ich mit einem Reißverschluss, dieses Mal mit dem vom Schlafsack. Meine Beine gehorchte mir nicht. Alles lag wie unter einem roten Nebel verborgen. Ich musste weg vom Zelt, weg von möglichen Zeugen.

 

Endlich öffneten sich die ineinander verhakten Zähne und gaben mich frei. Ich kroch zum Ende der Bettstatt und stolperte nach draußen. Kalte Nachtluft schlug mir entgegen und klärte für einen Augenblick den Schleier vor meinen Augen. Alles lag ruhig da, niemand war aufgewacht. Nur der schmale Mond beleuchtete schwach meine zusammengekrümmte Gestalt, die sich in Richtung Toiletten fortbewegte.

 

Meine Finger krampften sich um die Packung in meiner Hand, als mir erneut schlecht wurde. Plötzlich wusste ich, dass ich es nicht schaffen würde. Der Weg, der vielleicht noch 50 Meter betrug, war zu lang.

 

Mit letzter Kraft stürzte ich an den Zelten vorbei und übergab mich. Heiße, ekelhafte Brühe schwappte meine Kehle hinauf und ergoss sich zwischen die Stängel des Schilfgürtels. Wieder und wieder musste ich würgen, bis ich das Gefühl hatte, buchstäblich mein Innerstes nach außen gekehrt zu haben. Bitterer Speichel tropfte aus meinem Mund und meine Augen schwammen in Tränen. Meine Nase lief. Ich wischte sie ab und auch über meine Lippen. Ich fühlte mich krank, beschmutzt und zerschlagen. Meine Hände zitterten und meine Knie drohten jeden Moment unter mir nachzugeben.

 

„Hey!“

 

Ich erstarrte und drehte mich langsam um. Zwischen den Zelten stand eine kleine, in einen langärmligen Schlafanzug gekleidete Gestalt. Sie sah mich an.

 

„H-hallo“, sagte ich. Meine Stimme klang brüchig. Ich räusperte mich. In meinem Kopf bohrten immer noch die Kopfschmerzen. Die Tabletten lagen irgendwo verloren im Gras.

 

„Hallo“, antwortete die Gestalt.

 

„Ich …“

 

Ich brach ab. Wie sollte ich das erklären? Kalte Angst griff nach mir, als der Junge langsam näherkam. Er stoppte, als seine Füße gegen eine kleine, weiße Schachtel stießen. Bevor ich reagieren konnte, hatte er sie aufgehoben.

 

„Ist das deine?“

 

Meine Gedanken rasten und gleichzeitig war ich nicht in der Lage, einen von ihnen zu fassen zu bekommen. Es war aus. Das Spiel war aus. Jetzt würde alles herauskommen. Der Junge würde es melden, sein Betreuer würde es mitbekommen, dann Wolfgang, Susanne, meine Eltern. Sie würden nicht aufhören zu fragen, bis alles ans Licht kam. Die Lügen, die Kopfschmerzen, die Tabletten, die Sache mit Benedikt. Sie würden alles erfahren und dann … dann …

 

Mein Atem beschleunigte sich und meine Brust wurde eng. Ich wollte weg von hier. Ganz weit weg. Wo mich niemand finden konnte. Gleichzeitig versagte mir mein Körper den Dienst. Denn wo sollte ich hin? Ich konnte mich nicht mehr verstecken. Es sei denn …

 

Ich schluckte. Versuchte mich zu beruhigen. Zu Lächeln.

 

„Ja, das ist meine. Gibst du sie mir zurück?“, fragte ich möglichst freundlich. „Ich stecke sie weg und alles ist wieder in Ordnung.“

 

Der Junge sah unschlüssig auf die Tabletten in seinen Händen. Er machte noch einen Schritt nach vorn, sodass er aus dem Schatten der Zelte heraustrat. Auf die knappe Entfernung konnte ich endlich sein Gesicht ein wenig deutlicher ausmachen. Es war Kurt. Ausgerechnet der kleine Kurt.

 

„Ich weiß nicht“, sagte er langsam. „Kischi hat gesagt, wir müssen alle Medizin abgeben. Er hat mir meine Mückensalbe weggenommen, weil wir die nicht haben dürfen.“

 

In Gedanken verfluchte ich Kilian für seine verdammte Existenz.

 

„Das ist richtig“, sagte ich und lächelte wieder. „Aber das hier ist etwas anderes. Ich brauche sie.“

 

„Weil du krank bist?“

 

Er schielte an mir vorbei in Richtung Schilf.

 

„Ja, ich … ich habe vergessen, meine Medizin zu nehmen. Deswegen war mir schlecht.“

„Der andere Junge musste nach Hause, weil er sich übergeben hat.“

 

Mein Lächeln wurde ein wenig schief.

 

„Ja, aber das war was anderes. Ich bin nicht krank. Ich brauch nur meine Tabletten, dann ist alles wieder gut.“

 

Kurt sah mich ein bisschen zweifelnd an. Der Geschmack in meinem Mund wurde zunehmend unangenehmer und mein Kopf pochte. Ich brauchte jetzt endlich ein Glas Wasser. Wieder zwang ich mich dazu, ein freundliches Gesicht zu machen.

 

„Pass auf, ich sag dir was. Du gehst jetzt wieder in dein Bett und wir vergessen die ganze Sache einfach, ja?“

„Aber …“

„Kein Aber. Du willst doch nicht, dass ich Ärger deswegen kriege, oder?“

„Nein, aber …“

„Na, siehst du. Deswegen ist es ganz wichtig, dass niemand hiervon erfährt. Hast du verstanden? Niemand darf etwas davon erfahren. Das wird unser kleines Geheimnis. Du magst doch Geheimnisse, nicht wahr?“

 

Kurt musterte mich kritisch. Sogar das Pikachu auf seinem Schlafanzug sah nachdenklich aus.

 

Schließlich sagte er mit einem Stirnrunzeln: „Ich weiß nicht. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Geheimnis?“

 

Ich blinzelte ihn überrascht an.

 

„Wie meinst du das?“

„Na, ein gutes Geheimnis ist eins, bei dem man sich freut, es für sich zu behalten. Zum Beispiel ein tolles Geschenk, mit dem man jemanden überraschen will. Ein schlechtes Geheimnis ist eins, was einem Bauchschmerzen macht und dass man nachts nicht schlafen kann. Wenn einem jemand droht, dass was Schlimmes passiert, wenn man es verrät, aber das ist meistens gelogen.“

 

Der kleine Kerl sah mich an und mir wurde bewusst, was ich gerade im Begriff gewesen war zu tun. Ich hatte Kurt dazu bringen wollen, für mich zu lügen. Wie erbärmlich war ich eigentlich?

 

„Du hast recht“, sagte ich langsam und der Kloß in meinem Hals wurde größer. „Es wäre wohl ein schlechtes Geheimnis.“

 

„Dann musst du es jemandem erzählen.“ Kurt sah mich treuherzig an. „Wenn du möchtest, kann ich mitkommen. Wir könnten es Kischi erzählen. Oder Benedikt. Der …“

 

„Nein, nicht Benedikt“, unterbrach ich ihn schnell. „Ich … ich möchte nicht, dass er es weiß. Er mag mich nicht besonders.“

 

„Das ist schade. Ich finde ihn voll nett.“

„Ja, ich auch.“

 

Plötzlich waren da Tränen in meinen Augen, die dort nicht hingehörten. Ich biss mir auf die Lippen und drehte den Kopf weg, aber Kurt hatte es längst gesehen. Er kam einen Schritt auf mich zu und legte die Stirn in Falten.

 

„Bist du traurig, weil Benedikt dich nicht mag?“

 

Ich kämpfte gegen den Drang an, die Nase hochzuziehen. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht hier sitzen und heulen, aber es ließ sich einfach nicht herunterschlucken, egal wie sehr ich es versuchte.

 

„Ja, ein bisschen“, antwortete ich schließlich leise, als ich mir sicher war, dass meine Stimme nicht zittern würde. „Aber das ist Erwachsenenkram. Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“

 

Mit einem Mal spürte ich eine Berührung an meiner Hand. Es war Kurt, der mir die Tablettenpackung hinhielt.

 

„Hier“, sagte er und lächelte aufmunternd. „Du hast doch gesagt, du brauchst deine Medizin. Vielleicht wirst du dann wieder fröhlich.“

 

Ich blickte auf die weiße Packung und wusste, dass es wohl kaum so einfach werden würde.

 

„Und wenn du willst, sage ich auch niemandem etwas hiervon“, meinte Kurt und sah mich weiter mitleidig an.

 

Ich lächelte leicht.

 

„Ich dachte, es ist ein schlechtes Geheimnis.“

„Ja, schon, aber wenn ich dich verrate, dann musst du nach Hause gehen und das ist auch schlecht. Und es ist nicht gelogen.“

 

Ich wollte irgendetwas dazu sagen. Wollte ihm sagen, dass er sich nicht darum kümmern musste. Dass ich groß genug war, um auf mich selbst aufzupassen. Doch die Worte kamen nicht aus meinem Mund. Vielleicht, weil ich Angst hatte vor dem, was daraus folgen würde.

 

„Du musst wieder ins Bett“, sagte ich stattdessen.

 

„Ich weiß“, gab er nur zurück.

 

Er winkte mir und ich sah ihm nach, wie er zwischen den Zelten verschwand. Ich hingegen konnte mich nicht dazu aufraffen, mich zu erheben. Es war, als wäre alle Kraft aus mir gewichen. Am liebsten hätte ich mich hier und jetzt auf den Erdboden gelegt und wäre nie wieder aufgestanden. Einfach verschwinden und nicht mehr da sein. Der Gedanke hatte etwas seltsam Tröstliches. Obwohl ich natürlich nie soweit gegangen wäre, irgendetwas in die Richtung zu unternehmen. Ich war nicht lebensmüde. Andererseits … vielleicht genau das.

 

 

Eine gefühlte Ewigkeit lang saß ich einfach nur im Gras und wartete. Vielleicht darauf, dass jemand kam und mich entdeckte. Das falsche Spiel entlarvte, dass ich die ganze Zeit spielte. Dass irgendwer all dem ein Ende setzte. Doch es kam niemand. Stattdessen begann ich zu merken, wie kalt mir war. Wie die Feuchtigkeit aus dem Gras meine Kleidung durchdrungen hatte. Wie Dreck und sonst noch was an mir klebte und mich in ein jämmerliches Etwas verwandelten.

 

Also stemmte ich mich hoch. Ich schlich zum Zelt zurück, um frische Sachen zu holen, bevor ich mich in den Toiletten umziehen ging. Ich wusch mich, stopfte die beschmutzten Klamotten in eine Plastiktüte und versteckte diese dann in den Mülltonnen hinter dem Haus. Während all dem kam ich mir vor wie jemand, der gerade einen Mord begangen hatte und jetzt die Spuren verwischte.

 

Als ich irgendwann wieder in meinen Schlafsack kroch, musste es schon weit nach Mitternacht sein. Das Letzte, was ich dachte, bevor mich der Schlaf übermannte, war, dass ich gar keine Tablette genommen hatte. Danach wusste ich nichts mehr.

 

 

„Boah, da hat einer hingekotzt.“

„Echt? Zeig mal.“

„Ja, da. Voll eklig.“

„Krass, der hat da voll die Pizza hingelegt.“

 

Die Stimmen der Jungen schwirrten durcheinander und mir ging auf, dass ich bei meiner Tatortsäuberung etwas ganz Entscheidendes übersehen hatte. Ich hatte vergessen, die Leiche wegzuräumen.

 

Sönke kam hinzu und verzog das Gesicht.

 

„Was für ne Sauerei. Wisst ihr, wer das war?“

 

Alle verneinten und auch ich tat so, als sähe ich das Ganze zum ersten Mal. Während Sönke noch versuchte, die Schaulustigen auseinanderzutreiben, drängte sich Wolfgang durch die Menge und besah sich die Bescherung ebenfalls. Er seufzte.

 

„Nach dem Frühstück machen wir Lagerversammlung. Ich will, dass das bis dahin beseitigt ist.

 

„Ich mache das“, sagte ich schnell, bevor sich jemand melden konnte.

 

„Ich hol dir ne Schaufel“, entgegnete Kilian grinsend und ging fröhlich pfeifend von dannen.

 

Ich wollte mich gerade abwenden, als ich einen Blick von Benedikt auffing. Er war gerade erst dazugekommen und wurde von den Kindern brühwarm darüber informiert, was los war. Aufmerksam hörte er ihnen zu und sah dann noch einmal zu mir herüber. Ich tat, als hätte ich es nicht bemerkt, und ging, um Kilian beim Suchen zu helfen. Nur nicht auffallen, nur nichts anmerken lassen.

 

 

Nach dem Frühstück, das wir wie schon das Abendessen alle zusammen im Speiseraum des Küchengebäudes einnahmen, wurden die Anwesenden zum Lagerfeuerplatz gebeten. Es dauerte eine Weile, bis alle Kinder und Betreuer da waren. Als es soweit war, stieg Wolfgang auf einen Holzklotz.

 

„Bitte mal Ruhe, ich habe was Wichtiges zu sagen.“

 

Fast augenblicklich herrschte Stille.

 

„Wie die meisten ja mitbekommen haben, ist heute Nacht offenbar jemand krank geworden oder hat sich zumindest den Magen verdorben. Das kann vorkommen und niemand wird deswegen rummeckern. Allerdings ist es wichtig, dass sich der- oder diejenige meldet, damit sich niemand anstecken kann. Wenn wir hier erst reihenweise anfangen zu spucken, muss das Zeltlager komplett abgebrochen werden. Da wir das nicht wollen, möchten wir noch einmal an denjenigen appellieren, uns Bescheid zu geben damit wir seine Eltern informieren und ihn abholen lassen können.“

 

Ich bemühte mich, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten und schaute mich scheinbar interessiert nach dem Schuldigen um. Dabei bemerkte ich, wie Kurt zwischen den anderen zu mir rübersah. Ich warf ihm einen bittenden Blick zu und er nickte fast unmerklich. Er würde dichthalten.

 

Wolfgang sah sich immer noch unter den Kindern um.

 

„Na gut, wir lassen es erst mal dabei. Wer uns etwas mitteilen möchte, kann das auch später noch unter vier Augen machen. Und seid unbesorgt, wir wollen wirklich nicht schimpfen. Es geht nur darum, dass sonst niemand krank wird.“

 

Wieder brandete Gemurmel auf, doch als sich auch jetzt niemand meldete, löste Wolfgang die Versammlung schließlich auf.

 

„Stephan und Melina, ihr übernehmt bitte die Aufsicht, die anderen kommen nochmal mit ins Betreuerheim. Ich will eben die Dienstpläne mit euch durchgehen, die wir gestern ausgearbeitet haben.“

 

Mit einem sonderbaren Gefühl in der Magengegend folgte ich den anderen den Hügel zum Sportplatz hinauf. Mir behagte es nicht, dass das Ganze solche Wellen geschlagen hatte. Ich hätte mich gerne selbst geohrfeigt, weil ich so dumm gewesen war, nicht alle Spuren zu beseitigen. Doch jetzt war es nicht mehr zu ändern und ich musste zusehen, dass mich niemand erwischte. Denn die Sache jetzt noch zuzugeben war ausgeschlossen. Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren. Außerdem wusste ich ja, dass niemandem eine Gefahr dadurch drohte. Was immer ich hatte, war definitiv nicht ansteckend.

 

„Das war ja nun ein sehr unschöner Einstieg“, begann Wolfgang, nachdem wir uns alle auf unsere Plätze begeben hatten. „Ich möchte, dass ihr die Kinder genau im Auge behaltet. Wenn jemand Anzeichen einer Magen-Darm-Erkrankung zeigt, wird derjenige sofort entsprechend behandelt und wir müssen die Eltern anrufen. Das kann uns hier die ganze Veranstaltung sprengen.“

 

Alle nickten dazu. Auch ich. Alles nur um nicht aufzufallen.

 

„Okay, dann jetzt mal zu etwas Erfreulicherem. Wie ihr seht, habe ich die Dienste auf der Tafel eingeschrieben. Reike und Thies werden vorerst mit den Kindern schnitzen und so weiter. Stephan wird zusammen mit Benedikt die sportlichen Aktivitäten übernehmen. Wenn es zum Schwimmen geht, erhalten sie dabei Unterstützung von Annett und Melina, die sonst mit den Kindern basteln und spielen werden. Sönke und ich werden zusammen mit den Kindern Touren in die Umgebung machen. Kilian, Ronya und Theodor werden als Springer fungieren und sich da nützlich machen, wo Not am Mann ist. Außerdem habt ihr drei diese Woche Schladi. Holt euch die entsprechenden Kinder dazu ran. Die Einteilung hängt neben dem Eingang zum Speisesaal. Noch Fragen?“

 

Mir lag auf der Zunge zu fragen, was den „Schladi“ war, aber ich traute mich nicht so recht. Zumal alle anderen zu wissen schienen, worum es ging. Als wir jedoch wieder nach draußen gingen, nahm ich Ronya beiseite und fragte sie doch danach. Sie grinste.

 

Schladi ist eine Abkürzung für Scheiß-Lager-Dienst. Das heißt wir müssen Tische decken und abräumen, in der Küche beim Vorbereiten helfen und natürlich die Sanitärbereiche säubern.“

„Wir putzen die selber?“

 

Ronya sah mich an und lachte.

 

„Ja, wieso? Hast du noch nie ein Klo geschrubbt?“

„Ähm …“

 

Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Irgendwie hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass es hier womöglich keinen Putzdienst gab. Wieder lachte Ronya.

 

„Ach, keine Bange, ist halb so wild. Erstens haben wir Handschuhe an und zweitens geben sich die Kinder in der Regel mehr Mühe, alles sauber zu hinterlassen, wenn sie selbst fürs Aufräumen zuständig sind. Wer sich natürlich total ekelt, darf dafür eine andere Aufgabe übernehmen.“

 

„Nein, nein, ich schaff das schon“, beeilte ich mich zu versichern und konnte nur innerlich den Kopf schütteln. Gab es heute eigentlich irgendein Fettnäpfchen, das ich ausließ?

 

„Na komm“, meinte Ronya immer noch mit einem fetten Grinsen auf dem Gesicht. „Wir schauen mal, wie viel Andrang beim Basteln ist.“

 

 

Wie sich herausstellte, hatten sich jede Menge Kinder bei Annett und Melina eingefunden. Letztere war eine stille Blonde, die meiner Erinnerung nach Psychologie studierte und aufgrund ihres Nachnamens den Spitznamen „Mel C“ oder „Melzie“ trug. Als wir ankamen, war sie gerade dabei, jede Menge Schächtelchen mit Perlen und Glitzersteinen auf dem Tisch zu verteilen, während Annett die Kinder in Gruppen einteilte.

 

„Ihr könnt euch aussuchen, ob ihr lieber mit mir Papier falten oder mit Melzie Schmuck aus Fimo basteln wollt.“

 

„Muss es denn Schmuck sein?“, fragte einer der wenigen Jungs, die sich hier eingefunden hatten.

 

„Oh, du kannst auch was anderes daraus machen und verzieren. Wenn du möchtest, zeige ich dir, wie man einen Drachen oder andere Tiere daraus formt.“

 

Melina lächelte und der Junge nickte begeistert. Auch seine beiden Begleiter, die erst kritisch geschaut hatten, setzten sich jetzt mit zuversichtlicher Miene an den Tisch.

 

„Können wir wieder so Regenbogenketten machen?“, wollte eines der größeren Mädchen wissen.

 

„Ja, oder Einhörner. Die sind so cool“, stimmte das Mädchen neben ihr zu. „Meine vom letzten Jahr habe ich immer noch.“

 

„Und Ronya soll auch mitmachen“, rief ein drittes begeistert und rückte beiseite, damit ihre geliebte Betreuerin zwischen ihnen Platz hatte.

 

Ich sah entschuldigend in die Runde.

 

„Ich glaube, ich schaue mal, ob ich woanders gebraucht werde.“

 

Danach sah ich zu, dass ich rauskam. Im Vorbeigehen warf ich noch schnell einen Blick auf den Plan. Die großen Jungs aus Stephans und meinem Zelt waren heute für Tischdecken und Co eingetragen. Vermutlich würde es nicht leicht werden, den chaotischen Haufen dazu zu bringen, ihren Dienst abzuleisten. Andererseits hatte ich mitbekommen, dass einige der Jungs schon zum wiederholten Male hier waren und sich untereinander bereits kannten. Also würde es vielleicht doch nicht so schwierig werden. Die Chancen standen 50:50.

 

Da bis zum Mittagessen jedoch noch jede Menge Zeit war, machte ich mich auf den Weg zu Reike und Thies, um dort beim Werken zu helfen. Als ich allerdings in Richtung Lagerfeuerplatz ging, sah ich schon von Weitem, dass sich Kilian dort bereits breit gemacht hatte. Er alberte mit den Kindern herum, während Reike gerade etwas erklärte. Thies stand mit gut zwei Dutzend langen Stöcken in der Hand daneben und wartete auf seinen Einsatz.

 

„Dann bleibt wohl nur noch der Sport“, murmelte ich und seufzte leise. Warum hatte Kilian nicht dort hingehen können? Immerhin war er doch gestern auch gleich beim Fußball dabei gewesen. Ich hatte daher fest damit gerechnet, dass er wieder dabei mitmachen würde.

 

Oben angekommen sah ich jedoch, dass die Kinder heute keine Ballspiele machten. Stattdessen saßen sie in einem großen Kreis auf dem Rasen. Stephan rief gerade einige Zahlen, woraufhin eine Reihe von Kindern aufsprang, einmal rund um den Kreis lief und sich dann wieder an ihren jeweiligen Platz setzte. Wer immer zuerst ankam, erhielt offenbar einen Punkt, denn es gab regelmäßig Applaus, wenn derjenige in mehr oder weniger gewagten Sprüngen wieder zwischen seine Sitznachbarn hechtete. Benedikt stand daneben und hielt eine Liste, in der er den Rundensieger eintrug. Am Ende gewann Finn, einer der Jungs aus meinem Zelt, der nicht nur lange Haare sondern ebenso lange Beine hatte. Unter lautem Gejohle klatschte er mit seinen Kumpanen ab und erhielt von Stephan einen Schokoriegel als Preis.

 

„So, und jetzt machen wir ein neues Spiel“, rief der auch gleich, sobald Finn die Schokolade verdrückt hatte. „Wer von euch kennt Feuer, Wasser, Sturm?“

 

Etliche Hände schossen nach oben. Unter denen, die sich nicht meldeten, entdeckte ich unter anderem Kurt, der beim vorherigen Laufspiel schon keine besonders gute Figur gemacht hatte. Warum er trotzdem bei der Sportgruppe war, war mir ein Rätsel.

 

„Na, da sind ja einige. Für alle anderen Landratten erkläre ich jetzt noch mal die Regeln. Ich bin der Kapitän des Piratenschiffs und alles hört auf mein Kommando. Wenn ich sage 'Zum Schiff' kommt ihr alle zu mir gerannt, wenn ich rufe 'An Land' stellt ihr euch alle links neben mich und bei 'Achtung an Deck' ruft jeder, so laut er kann, 'Aye-Aye Kapitän!' Alles klar soweit?“

 

„Aya-Aye, Kapitän!“, brüllten die Kinder.

 

Es folgten noch eine ganze Reihe weiterer Befehle, bei denen selbst ich Mühe hatte, sie mir zu merken. Eigentlich wäre das ja kein Problem gewesen, wenn nicht Stephan am Ende verkündet hätte, dass die beiden Obermatrosen dabei helfen würden, alles richtig zu machen. Die beiden Obermatrosen waren Benedikt und ich.

 

„Na dann mal los, ihr räudigen Seebären. Derjenige, der als Letzter den Befehl befolgt, lasse ich kielholen! Und jetzt ab in die Wanten mit euch!“

 

Anfangs gab es eine Menge Gerangel und Geschubse, da niemand sich allzu weit vom Kapitän entfernen wollte, um auch ja rechtzeitig anzukommen. Ich selbst wusste nicht so recht, wie ich zwischen den ganzen Kindern herumlaufen sollte, die allesamt kleiner waren als ich. Immer wieder erwischte ich mich dabei, mich nach Benedikt umzusehen, der das genaue Gegenteil zu versuchen schien. Er wich mir aus, wo immer es auch ging. Vermutlich auch um zu verhindern, dass wir bei einer der Partnerbefehle aneinander gerieten. Als ich mich jedoch bei „Mann über Bord“ auf den Boden warf, war der Tritt, den ich daraufhin in meinen Hintern erhielt, definitiv nicht von einem der Kinder.

 

Ich schielte hoch und sah, dass Benedikt mich böse von oben anblitzte. Eigentlich hätte er den Fuß nur vorsichtig aufsetzen sollen. Alles andere war von Stephan bei anderen Mitspielern schon mehrmals abgemahnt worden.

 

„Was soll das?“, wollte ich flüsternd wissen.

 

„Sei froh, dass es nicht 'Ab in den Ausguck' war“, zischte er zurück und ich musste zugeben, dass die Aussicht, ihn auf meinem Rücken sitzen zu haben, gemischte Gefühle in mir auslöste. Lange Zeit, mir das zu überlegen, hatte ich jedoch nicht, denn mit Kranke Möwe“ hatte Stephan bereits das nächste Kommando gegeben, bei dem wir alle wie wild mit Armen und Beinen gleichzeitig in der Luft herumrudern mussten.

 

Ich unterdrückte den Impuls, mich einfach mit einer Entschuldigung aus dem Spiel zu entfernen, und leistete weiter den Anweisungen Folge, aber mit meinen Gedanken war ich ganz woanders. Dass Benedikt mich ignorierte, war eine Sache, aber das gerade war mehr als ein einfaches Ignorieren gewesen. Er hatte mir wehgetan und das mit voller Absicht. Ich wusste nur nicht, warum.

 

„Hey, rudern!“, forderte mich eine helle Stimme auf und ich sah mich unvermittelt einem Mädchen gegenüber, dass seine Füße gegen meine gestellt hatte und mir die Hände herüberreichte, damit ich sie ergriff und wir uns gegenseitig hin und her ziehen konnten. Sie kicherte dabei und ich überlegte krampfhaft, um mich an ihren Namen zu erinnern, aber er wollte mir nicht mehr einfallen. Ich wusste nur noch, dass sie zu den Ältesten und somit in Annetts Zelt gehörte.

 

„So, ihr müden Matrosen, als Nächstes machen wir mal ein bisschen was Ruhigeres, damit ihr verschnaufen könnt. Also los, alle wieder in den Kreis setzen.“

 

„Können wir auch mal Judo lernen?“

 

Die Frage kam von einem der jüngeren Jungs, von den ich vermutete, dass er wohl mit Kurt zusammen in einem Zelt war.

 

„Ja, das wäre super. Benedikt hat erzählt, er kann das.“

 

Dieses Mal war es Kurt selbst, der sich zu Wort meldete. Stephan wandte sich an Benedikt, der ein wenig verlegen lächelte.

 

„Na, wenn ihr wollt, kann ich euch schon mal was zeigen. Aber dafür brauchen wir eigentlich einen weichen Untergrund.“

 

„Wir könnten die Matratzen aus den Zelten holen“, schlug jemand vor.

„Oder Isomatten“, rief jemand anderes.

 

Stephan schüttelte entschieden den Kopf.

 

„Die Matratzen lasst ihr mal schön da, wo sie sind. Wir haben noch ein paar Gymnastikmatten im Betreuerheim, die können wir nehmen.“

 

„Perfekt“, erwiderte Benedikt mit einem Lächeln, das jedoch gefror, als Stephan anfügte:

 

„Am besten zeigst du die Übungen zusammen mit Theo. Der ist etwa gleich groß, das passt doch.“

 

Ein wenig unsicher sah ich Benedikt an. Es stimmte, dass Stephan ihm sowohl in Größe wie auch in Masse überlegen war. Vermutlich wäre es wirklich schwierig gewesen, wenn die beiden zusammen etwas vorgeturnt hätten. Trotzdem behagte mir der Gedanke nicht und Benedikt schien es ebenso zu gehen. Ich konnte quasi schon hören, wie er ablehnte, doch dann sagte er zu meiner Überraschung:

 

„Na klar, das passt bestens. Bei Theodor kann ich euch zeigen, wie man jemanden mal so richtig aufs Kreuz legt.“

 

Das allgemeine Gelächter machte das mulmige Gefühl, das bei dieser Ankündigung in meinem Bauch entstanden war, nicht unbedingt besser. Allerdings konnte ich jetzt schlecht einen Rückzieher machen. Das Einzige, was mir übrig blieb, war zu hoffen, dass Benedikt es bei Worten belassen und nicht etwa Taten folgen lassen würde. Ein ziemlich großer Teil von mir war sich dessen allerdings gar nicht so sicher.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Hey ihr Lieben!

Wie ihr vielleicht gemerkt habt, gab es dieses Mal kein „Vor-dem-Wochenende-Kapitel. Das liegt daran, dass das Leben hier gerade mit Terminen um sich schmeißt und kranke Kinder gab es auch im Dutzend billiger. Umso mehr freue ich mich über die Anzahl an neuen Favos und möchte euch herzlich an Bord begrüßen. Vor uns liegen ein wenig stürmische Gewässer, von daher bitte ich die Anwesenden, eventuell vorhandene Hüte gut festzuhalten und sich nicht zu weit über die Brüstung zu lehnen. :)

Zauberhafte Grüße
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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Ryosae
2020-10-19T14:55:12+00:00 19.10.2020 16:55
Ohh wie witzig ist das denn?! Hoffentlich gehen die 2 auf Tuchfühlung :P
Freu mich jedes Mal wie Bolle wenn ein neues Kapitel hochgeladen wird. Scheint jetzt etwas fahrt aufzunehmen. :D
Bin gespannt wie die Übungsstunde verlaufen wird und ob Benedikt es so übertreibt, dass Theo ernsthaft verletzt wird.
Mal sehen, hoffe natürlich das Ben sanft sein wird.. hihi :)
Antwort von:  Maginisha
19.10.2020 18:15
Hey Ryosae!

Die "Tuchfühlung" war kurzzeitig schon mal als bunte Idee für den ersten Teil in den Raum geworfen, aber es hat sich nicht mehr ergeben. Dafür trat es hier spontan zutage. Ich sage dir, auch kleinste Charaktere können schon ihren eigenen Kopf haben. Furchtbar.

Ich plane auf jeden Fall schon fleißig am "Kampf" herum, es wird aber vermutlich bis zum Wochenende brauchen, bis ich wieder zum Schreiben komme. Mal sehen. Momentan würde es zumindest nicht so gut für Theo aussehen. :D

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  KaffeeFee
2020-10-19T10:25:46+00:00 19.10.2020 12:25
Ich bin Küstenkind. Stürmische Gewässer existieren für mich nicht 😉 ichvhoffe, deinen Lieben geht es bald schon besser!

Oh man... du hast die Migränekopfschmerzen und Symptome echt richtig gut beschrieben. Kam mir alles so bekannt vor... schrecklich...
Zuerst dachte ich "du doofes Kind" doch dann war da nur noch ein awww wie süß! Klein Kurtis Reaktion auf das Geständnis wegen Benedikt war aber auch niedlich... hach ja...

Na, auf das Judo bin ich ja mal gespannt! Ich hab irgendwie das Gefühl, dass Benedikt seinem Ärger ein bisschen Luft machen wird. Das würde für Theo bestimmt etwas schmerzhaft werden.

Bis dahin, koffeeinhaltige Grüße, die KaffeeFee ☕☕
Antwort von:  Maginisha
19.10.2020 15:15
Jo, ich komm auch von da oben wech und die Leute haben ja keine Ahnung von Wetter. Wobei sich das vermutlich die Leute aus Gegenden, wo es Erdbeben und Tornados gibt, auch so denken...

Es freut mich ja, dass die Beschreibung so "echt" war. Allerdings war das jetzt diesbezüglich auch schon ziemlich der Tiefpunkt. (Falls das da draußen jemand liest und sich fragt, ob es noch schlimmer wird: Nein, wird es nicht.)

Theo hat sich vermutlich auch erst ein bisschen in die Hose gemacht, als da auf einmal "der einzige Zeuge" vor ihm stand, aber zum Glück ist Kurt ja kein fieser Möpp. ;)

ICH bin auch auf das Judo auch gespannt. Momentan schäumt Benedikt nämlich gerade ein wenig. (Der Tritt war seine eigene Idee. Ich schwör!) Mal sehen, ob er sich wieder einkriegt, denn eigentlich haben solche Gefühle beim Judo nichts verloren, wie ihm vielleicht ja noch rechtzeitig wieder einfällt. Theo wäre es auf jeden Fall zu wünschen. Der kriegt nämlich sonst die Hucke voll. :D

Ich nehm mir auch mal ein Tässchen Kaffee und danke fürs Feedback!

Zauberhafte Grüße
Mag


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