Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 4: Kein Zuckerschlecken ------------------------------- „Benedikt.“   Sein Name fiel von meinen Lippen, bevor ich es verhindern konnte. In meinem Kopf waren alle rationalen Gedanken beiseite getreten, um Platz zu machen für eine einzige Frage: Was tat er hier? Warum stand er jetzt dort und ließ irgendwelche Belehrungen von der Frau, bei der es sich vermutlich um seine Mutter handelte, über sich ergehen? Warum war er hier? Ausgerechnet hier?   Kilian stellte sich neben mich und legte den Kopf schief.   „Kennt ihr euch?“ „Wir sind in einer Klasse.“   Oder vielmehr: Wir waren es. Seit in der elften das Kurssystem eingeführt worden war, hatten wir nur noch drei Fächer zusammen. Deutsch, Erdkunde und Geschichte. In allen dreien saßen wir in der Regel an gegenüberliegenden Ecken des Raumes. Er weiter vorne, ich hinten. Das Einzige, was mir damit blieb, war ein sporadischer Blick auf seinen Nacken und ab und an ein beiläufiges Zusammentreffen beim Wechseln der Räume. Davor jedoch hatten wir uns fast genau gegenüber gesessen. Jedes Mal, wenn ich den Kopf gehoben hatte, war er da gewesen. Selbst wenn ich nur irgendetwas von der Tafel abgeschrieben hatte, hatte ich ihn dank der diskussionsfreundlichen U-Form der Sitzordnung mit im Blick gehabt. Dabei hatte ich ihn lange nicht einmal wirklich bemerkt. Bis zu dieser einen Mathestunde …   Auf der Tagesordnung hatten irgendwelche Gleichungen gestanden, die mir einfach nicht in den Kopf gewollt hatten. Die Zahlen waren zunehmend vor meinen Augen verschwommen und ich hatte meine Brille abgenommen, um die Bügel ein bisschen zu weiten. Aus irgendeinem Grund hatte ich dann plötzlich hochgesehen und ihm damit direkt in die Augen. Wie gebannt hatte ich ihn angestarrt und und dabei nicht mehr auf die Brille geachtet. In dem Moment hatte es auch schon geknackt und sie war mittendurch gebrochen. Mir war heiß und kalt geworden und ich hatte damit gerechnet, dass er jeden Moment anfing zu lachen. Aber er hatte es nicht getan. Stattdessen hatte er nach einer gefühlten Ewigkeit die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln gehoben. Ich war so verwirrt gewesen, dass ich noch einmal eine gefühlte Stunde gebraucht hatte, bis ich endlich den Kopf hatte wegdrehen und so tun können, als wäre ich mit meiner Brille beschäftigt. Dabei hatte mir mein Herz bis zum Hals geklopft und ich war nur froh gewesen, dass mich Jo nicht angesprochen hatte, denn in dem Moment hätte ich vermutlich kein vernünftiges Wort herausbekommen. Und ich weiß noch, dass ich gelächelt hatte und nicht einmal gewusst hatte, warum.   Jetzt jedoch lächelte keiner von uns beiden. Im Gegenteil. Als sich unsere Blicke trafen, verfinsterte sich sein Gesicht und ich sah, wie er die Finger fester um den Griff seiner Tasche schloss. Auch ich klammerte mich an den Haltegurt meiner Gitarrenhülle, als wäre sie eine Rettungsleine.   „Kommst du?“, fragte Benedikts Mutter, die von der Stimmungsänderung ihres Sohnes anscheinend nichts mitbekommen hatte.   Er schüttelte kurz den Kopf, bevor er immerhin ein halbes Lächeln zustande brachte.   „Klar, komme.“   Ich war da sehr viel besser als er. Lächeln konnte ich aus dem Stegreif. Man hätte sich daran schneiden können, so gestochen scharf war es manchmal. Noch einfacher war eigentlich nur das coole Pokerface, dass ich jetzt aufsetzte, als Benedikt mit seiner Mutter näherkam.   „Ich hab die Straße erst nicht gefunden. Vielleicht brauche ich wirklich mal so ein Navi“, plapperte sie aufgeregt, während sie sich überall umsah. Sie war geschminkt und trug einen Blazer mit einem bunten Halstuch. Außerdem hochhackige Schuhe. Damit war sie deutlich auffälliger unterwegs als meine Mutter, die nur zu besonderen Gelegenheiten Make-up benutzte und auf eher praktische Kleidung wert legte.   „Jetzt sind wir ja hier“, sagte Benedikt knapp. Sein Gesicht war immer noch wie in Stein gemeißelt.   Susanne wischte das alles mit einer herzlichen Begrüßung vom Tisch. Die Hand von Benedikts Mutter verschwand in ihrer.   „Wir kümmern uns hier schon gut um ihn“, erklärte sie und schien kurz davor, auch Benedikt in eine Umarmung zu ziehen. Zu seinem Glück nahm sie davon Abstand. Seine Mutter hingegen strahlte immer noch.   „Dann mach’s mal gut und hab eine schöne Zeit. Und ruf an, wenn was ist.“ „Mache ich, Mama. Bis dann.“   Damit verabschiedete sich Benedikts Mutter wieder und wir vier blieben allein zurück, während ihr kleines Auto in einer Staubwolke vom Parkplatz rauschte.   Benedikt wich meinem Blick aus und auch ich tat so, als würde ich ihn nicht sehen. Es war besser so, versuchte ich mir zu sagen, obwohl das Kribbeln in meinem Magen etwas anderes behauptete. Die Erkenntnis, dass wir die nächsten drei Wochen miteinander verbringen würden, lauerte irgendwo am Rand meines Bewusstseins, aber ich weigerte mich, mir darüber Gedanken zu machen. Lieber schenkte ich den beiden anderen Anwesenden ein gewinnendes Lächeln.   „Wollen wir dann?“ „Natürlich, die anderen warten sicherlich schon.“   Susanne schob sich mit fröhlicher Zuversicht nach vorn und ich folgte in ihrer Bugwelle, sodass ich Benedikt den Rücken zudrehte. Dabei meinte ich seinen Blick zwischen meinen Rippen zu spüren wie die Spitze eines scharfen Messers, aber auch das bildete ich mir vermutlich nur ein. Immerhin hatte sich Kilian seiner angenommen und redete jetzt auf ihn ein. Offenbar spielte er leidenschaftlich gerne Fußball und hoffte, in Benedikt einen Gleichgesinnten gefunden zu haben.   Er mag aber kein Fußball, dachte ich nur und wunderte mich, dass ich das wusste. Jo spielte Fußball und irgendwann waren er und Benedikt sich wohl schon einmal auf dem Spielfeld begegnet. Insofern hatte Benedikt zumindest irgendwann mal gekickt. Inzwischen jedoch nicht mehr. Woran das wohl lag? Wir hatten nie darüber gesprochen.   „Wir sind da“, verkündete Susanne in diesem Augenblick und ich bemerkte erst jetzt, dass wir eine Anhöhe hinaufgestiegen waren und nun vor einem weiteren Gebäude standen. Es war ein kleines, rotgeklinkertes Häuschen das am Rand einer großen Grasfläche stand. Zwei Torrahmen machten deutlich, dass das hier wohl so was wie ein Sportplatz war. Im Hintergrund waren einige Geräte erkennbar. Ein Spielplatz.   „Hier oben haben die Betreuer ihr Reich. Ihr wohnt zwar mit in den Zelten, aber manchmal braucht man eben einen Ort, wo man mal die Tür hinter sich zumachen kann.“   Sie lachte und wieder lächelte ich. Das tat ich oft, wenn der Tag lang war, wie Kilian es wohl ausgedrückt hätte. Es erleichterte so vieles. Wenn man lächelte, stellte niemand Fragen. Wenn man lächelte, war alles in Ordnung.   Wir betraten das Gebäude durch eine Metalltür. Drinnen erwartete uns ein Raum, der vollgestopft war mit Dingen, Möbeln und Leuten. Es gab links neben der Tür eine winzige Küchenzeile mit Waschbecken, Kaffeemaschine und Wasserkocher. In der Ecke daneben drängten sich zwei altersschwache Sofas, die nicht zusammenpassten. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Schrank, von dem ich vermutete, dass er verschiedene Sportgeräte enthielt. Die restlichen Sachen, die nicht hineingepasst hatten, verteilten sich munter in den Ecken. Da gab es Federballspiele, Softtennisschläger, Tretbretter, einen großen Sack mit Bällen und einen Haufen bunte Kunststoffreifen in verschiedenen Größen. An der letzten Wand hingen schließlich eine vor Fotos und selbst gemalten Bildern überquellende Pinnwand und ein Magnetboard. Letzteres zierte eine Tabelle mit Namen und Spalten, deren Überschriften ich jedoch nicht mehr lesen konnte, weil meine Aufmerksamkeit von der Gruppe von Leuten in Beschlag genommen wurde, die sich in der Mitte des Raumes zu einem Stuhlkreis versammelt hatten. Dazu hatten sie die Stühle genommen, die offenbar sonst zu einer Vierergruppe von einfachen Tischen gehörte, die vor der Pinnwand stand.   „Seht mal, wen ich gefunden habe. Sie liefen einfach draußen herum und suchten ein neues Zuhause“, rief Kilian fröhlich in den Raum, woraufhin ihm Gelächter entgegenschlug. Anscheinend war er der Spaßvogel der Truppe.   Unzählige Augen richteten sich auf mich und ich fühlte das vertraute Engegefühl um meinen Hals. Plötzlich war es wieder wie an dem Tag, an dem ich das erste Mal in Benedikts Klasse gekommen war. Er erinnerte sich vermutlich nicht mehr daran, aber ich wusste noch, wie mir vor Aufregung die Knie geschlottert hatten. Damit niemand etwas davon merkte, hatte ich mich einfach auf dem nächstbesten Stuhl niedergelassen, der mir vor die Nase gekommen war, und eine coole Fassade aufgesetzt. Innerlich hatte ich darauf gewartet, dass irgendwer kam und mir erklärte, dass ich auf seinem Platz saß, aber das war nicht passiert. Stattdessen hatte sich Jo neben mich gesetzt und mich neugierig beäugt.   „Hi, ich bin Jo“, hatte er gesagt.   „Theodor“, hatte ich geantwortet und ihn danach nicht weiter beachtet. Ich weiß bis heute nicht, ob es das war, was ihn dazu veranlasst hatte, mein Freund sein zu wollen, aber ich weiß, dass ich sehr dankbar dafür gewesen war.   Hier jedoch gab es keinen freien Stuhl mehr und so stand ich mit meiner Gitarre und meiner Tasche ein wenig unschlüssig in der Gegend herum, bis eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit langen, braunen Haaren aufstand und zu uns herüberkam.   „Hallo, ich bin Ronya. Wollt ihr euch zu uns setzen?“ „Klar“, antwortete ich und tat so, als wäre das ganz selbstverständlich. Ich stellte die Gitarre in eine Ecke und kam dann zu Ronya zurück, die mir prompt ihren Stuhl anbieten wollte.   „Ach was, das geht schon so“, sagte ich und sah ihr dabei direkt ins Gesicht. Sie erwiderte mein Lächeln wie erwartet und ihre Augen funkelten ein bisschen. Immer noch lächelnd wandte ich mich ab und ging zu der gegenüberliegenden Wand, wo ich mit einem Nicken zwei der dort Sitzenden begrüßte und mich locker gegen den Schrank lehnte. Erleichtert, endlich wieder einen Halt gefunden zu haben, spürte ich auf das kühle Metall, dass ich durch das dünne, weiße Shirt, das ich heute trug, deutlich fühlen konnte. Immer noch auf das Gefühl konzentriert wagte ich einen kurzen Seitenblick zu Benedikt. Der hatte sich ebenfalls seiner Tasche entledigt und sich auf einen der Tische gesetzt. Er sah nicht in meine Richtung.   „So, da wir jetzt ja alle da sind, will ich euch nochmal willkommen heißen“, verkündete jetzt ein Mann, den ich nach kurzem Überlegen als Herrn Tillmann identifizierte. Er war ein wenig kleiner als seine Frau und hatte einen graumelierten Vollbart, einen ziemlich hohen Haaransatz und eine runde Brille. Sein kariertes Hemd steckte in einer Jeans mit dünnem Ledergürtel. „Ich freue mich, dass ihr euch dieses Jahr wieder dazu entschlossen habt, hier teilzunehmen, ganz besonders möchte ich aber unsere beiden Neuzugänge begrüßen, die dieses Jahr zum ersten Mal dabei sind.“   An dieser Stelle machte er eine Pause und Benedikt und ich wurden noch einmal in Augenschein genommen. Ich grüßte mit einem lockeren Winken in die Runde, während er nur verhalten nickte.   „Wie ihr wisst, ist der Hauptgrund für uns, hier zu sein, der gemeinsame Spaß. Das gilt auch für die Betreuer und wenn euch irgendwas auf dem Herzen liegt, könnt ihr gerne zu Susanne oder mir kommen, dann finden wir sicherlich eine Lösung. Mein Name ist übrigens Wolfgang für diejenigen, die das schon wieder vergessen haben.“   „Ach, wir vergessen doch unser Wölfchen nicht“, meinte Kilian grinsend und heulte zur Bekräftigung einmal kurz auf. Allgemeines Lachen setzte ein und auch Wolfgang schmunzelte.   „Das ist, wie ihr sicherlich bereits wisst, unser Kilian. Eine Nervensäge, wie er im Buche steht und schon das dritte Jahr mit dabei. Die meisten von uns kennen sich ja bereits von unserem ersten Treffen vor ein paar Wochen, aber damit auch unsere beiden Neuen wissen, mit wem sie es zu tun haben, stellen wir uns am besten alle nochmal eben kurz vor.“   Die Anwesenden begannen jetzt reihum ihren Namen, ihr Alter und ihren Beruf zu nennen. So erfuhr ich, dass Kilian 21 war und gerade beim Bund als Rettungssanitäter ausgebildet wurde. Aus diesem Grund übernahm er zusammen mit Annett, einer hageren Dunkelhaarigen, die gelernte Krankenschwester war, die medizinische Versorgung. Daneben gab es eine Menge Studenten, einen Mechatroniker und eine Tischlerin. Benedikt und ich waren die einzigen Schüler, wobei es sich so anhörte, als wenn viele in unserem Alter angefangen hätten. Annett beispielsweise war 26 aber bereits das siebte Jahr dabei. Sie war damit sozusagen die Dienstälteste und strahlte eine gewisse Autorität aus, die mich zur Vorsicht gemahnte.   „So, nachdem ihr jetzt also das Team kennt, wollen wir uns mal auf das Programm stürzen. Wir haben wieder viel vorbereitet. Es soll vor allem sportliche Aktivitäten geben. Wir wollen Paddeln, Schwimmen und Surfen gehen, wenn es das Wetter zulässt. Ich werde wieder eine Angelschule anbieten, obendrein soll aber auch kreativ gebastelt werden. Wir wollen Hütten im Wald bauen, eine Nachtwanderung machen und natürlich auch wieder den beliebten Wikinger-Workshop anbieten. Abends wird dann nach dem Essen am Lagerfeuer gesungen und vielleicht auch mal etwas gespielt.“   „Ich wollte wieder was mit Holz machen“, warf Reike, die Tischlerin ein. Sie war mir bereits aufgefallen, weil sie ihre Haare noch kürzer trug als Kilian. Dadurch traten ihre Augen deutlich hervor, sodass sie einen immer sehr aufmerksam zu mustern schien, wenn sie einen ansah. Am auffälligsten war jedoch ihre froschgrüne Lederhose, die sie zusammen mit dem gebatikten Top und den unzähligen Armbändern, die an ihrem linken Arm baumelten, irgendwie alternativ wirken ließ.   „Klar, da finden wir was. Bogen bauen, Schnitzen oder vielleicht ein Insektenhotel wären doch eine nette Idee“, sagte Wolfgang und warf einen Blick in die Runde. „Noch weitere Fragen?“   „Wo schlafen die Neuen?“   Die Wortmeldung war von Kilian gekommen und ich spannte mich unwillkürlich an. Diese Frage war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht auch, weil ich mich schlichtweg weigerte zu begreifen, dass ich die nächsten drei Wochen zusammen mit Benedikt in diesem Zeltlager verbringen würde.   „Wir schauen mal, wie voll die Zelte werden und dann bringen wir sie dort mit unter“, antwortete Wolfgang. „Wenn alle angemeldeten Kinder auch kommen, ist aber eigentlich nur bei den ganz Kleinen oder den ältesten Jungs was frei. „Dann zieht schon mal Hölzchen, wer zu den Kleinen muss. Letztes Jahr hatten wir da einen Bettnässer dabei, das war ordentlich Arbeit.“ „Kilian!“ „Na wieso, stimmt doch.“   Kilian lehnte sich in seinem Stuhl zurück.   „Dazu ist doch der Bereich hier auch da. Ich mag die Kids wirklich unheimlich gerne, aber manchmal können sie einem eben auch auf den Wecker fallen. Da ist es doch besser, wenn man den Frust hier loswird, als ihn an den Zeltgästen auszulassen.“   „Ich gehe gerne zu den Kleinen“, sagte da plötzlich Benedikt und erstaunte damit nicht nur mich. „Ich kann eigentlich ganz gut mit Kindern, glaube ich.“   „Okay, dann kommt unser Singvogel zu den Vorpubertieren. Das wird auch lustig genug.“   Noch während ich überlegte, wie Kilian das gemeint hatte, klatschte Wolfgang bereits in die Hände.   „Dann mal los, wir haben noch einiges auszuladen und vorzubereiten. Susanne wird uns mittags mit belegten Broten bewirten und heute Abend gibt es dann für alle eine leckere Gulaschsuppe.“   Allgemeine Aufbruchstimmung erfasste den Raum. Die Stühle wurden mit einigem Getöse wieder an ihren Platz zurückgeschoben, einige der Leute begannen sich zu unterhalten. Auch Kilian hatte sich erneut Benedikt geschnappt und textete ihn ordentlich zu. Für einen Moment kam ich so dazu, die beiden zu beobachten, bevor Wolfgang auf mich zukam und mich noch einmal persönlich mit Handschlag begrüßte.   „Ist wirklich toll, dass du so kurzfristig einspringen konntest.“ „Na klar, kein Ding. Ich hab ja eh Ferien.“ „Schön, schön, dann holen wir jetzt mal die restlichen Sachen aus dem Auto.“   Ich bot meine Hilfe an und folgte Wolfgang nach draußen. Auf dem Weg kam ich an Benedikt vorbei, der immer noch Ziel von Kilians Redeschwall war. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich sein Kopf bewegte. Ich hingegen hielt meinen Blick stur geradeaus gerichtet und konzentrierte mich darauf, nicht über meine eigenen Füße zu fallen. Wie im Film sah ich mir dabei zu, wie ich den Kastenwagen entlud, Kartons durch die Gegend schleppte, Büchsen und Mehltüten in Schränke stapelte und allgemein das Lager von einem unbelebten Ort in etwas verwandelte, an dem in den nächsten drei Wochen über 70 Personen hausen würden. Auch die Zelte hatte ich schon in Augenschein genommen. Sie standen in einer kleinen Senke auf steinernen Trittplatten. Acht große, weiße Gebilde, mit einem zentralen Holzmast und einem ebensolchen Fußboden. Darauf lagen noch einmal flache, hölzerne Pritschen mit dünnen Matratzen. Jedes Zelt bot etwa Platz für acht bis zehn Personen.   „Jetzt kommt es dir noch groß vor, aber wenn’s regnet und du mit einem nölenden Haufen dort drinnen hockst, wird’s interessant“, unkte Kilian, der wie aus dem Nichts neben mir aufgetaucht war. Er hatte Benedikt im Schlepptau und war offenbar gerade dabei, ihn herumzuführen.   „Willst du mitkommen?“, fragte Kilian mich und ich nickte, obwohl ich genau sah, wie Benedikt das Gesicht verzog. Ich warf ihm einen Blick zu, doch er tat so, als habe er es nicht bemerkt. Stattdessen konzentrierte er sich voll und ganz auf Kilian, der uns jetzt die Waschräume zeigte. Sie waren schon ziemlich in die Jahre gekommen und neben einem Reihenwaschbecken hingen es nur noch drei altersschwache Duschen an der weiß gefliesten Wand.   „Draußen gibt es allerdings auch noch einen Schlauch für ganz hartnäckige Fälle“, meinte Kilian mit einem Grinsen. Ich erwiderte es und tat so, als wäre das witzig, während ich Benedikt dabei im Auge behielt. Der schien zunehmend genervter von dem ganzen Theater, sodass ich Kilian irgendwann unterbrach.   „Ich glaube, wir sollten langsam mal nachsehen, ob es bald was zwischen die Kiemen gibt. Ich hab schon ganz schön Hunger.“   Kilian war sofort Feuer und Flamme.   „Klar, ich frag mal Susanne, wie weit sie mit den Broten ist. Nicht, dass ihr uns noch vom Fleisch fallt.“   Er lachte und winkte und machte sich dann auf den Weg zum Küchengebäude. Benedikt und ich blieben allein zurück.   Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in meinem Kopf herrschte plötzlich vollkommene Leere. Gerade noch hatte ich einen lockeren Spruch auf den Lippen gehabt, aber jetzt kam nur noch Schweigen aus meinem Mund. Benedikt schien es ähnlich zu gehen. Irgendwann räusperte ich mich.   „Ziemlicher Zufall, dass wir uns ausgerechnet hier treffen.“ „Ja, ist es wohl.“   Er sah mich dabei nicht an, sondern richtete den Blick den Hügel hinauf, der hinter den Zelten lag, in denen die Mädchen untergebracht werden würden. Auf der anderen Seite raschelte kurz hinter den Zelten ein breiter Schilfgürtel im Wind und wieder dahinter lag ein Weg, der wohl um den See herum führte.   „Du warst nicht bei der Party am Samstag.“   Ich wusste nicht, warum ich das jetzt sagte. Vielleicht, weil es das Erste war, was mir in den Sinn kam. Ärgerlich biss ich mir auf die Lippen. Ich hatte ihn eigentlich nicht darauf ansprechen wollen, aber nun stand der Satz einmal im Raum und ich konnte ihn nicht wieder zurückholen.   „Das ist richtig“, würgte er das Gespräch quasi schon wieder ab. Trotzdem wollte ich noch nicht aufgeben.   „Warum nicht?“   Er schnaubte belustigt.   „Interessiert dich das wirklich?“ „Ja natürlich.“ „Dann denk mal nach. Welchen Grund könnte ich wohl gehabt haben, ausgerechnet zu deiner Party nicht zu kommen?“   Er hob jetzt den Kopf und sah mich herausfordernd an. Seine dunkelblauen Augen blitzten vor Zorn. Ich schluckte. Wusste nicht, was ich sagen sollte.   „Weißt du was, Theo? Lass mich doch einfach in Ruhe. Dann können wir uns solche Peinlichkeiten wie diese hier nämlich komplett sparen.“   Mit diesen Worten ließ er mich stehen und stapfte in Richtung Küchengebäude davon. Ich stand immer noch da wie vom Donner gerührt und wusste nicht, was ich sagen sollte. Das war nun wirklich denkbar schlecht gelaufen. Noch schlimmer wäre es eigentlich nur gewesen, wenn er mir eine reingehauen hätte.   „Ihr mögt euch wohl nicht besonders?“, fragte da eine Stimme. Es war Ronya, die sich an der Seite des Gebäudes herumdrückte, an der die Toiletten lagen. Sie lächelte ein wenig verlegen.   „Nein, wir … wir kommen klar“, sagte ich schnell und sah zu, dass ich wegkam. Das Problem war nur, dass ich nicht wusste, wohin. Ich war hier eingesperrt für die nächsten drei Wochen und ich wusste jetzt schon, dass das mit Sicherheit kein Zuckerschlecken werden würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)