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Herz über Kopf

von

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Verplant

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Es war fast so wie früher, als Christopher noch zu Hause gewohnt hatte. Wir halfen beide auf dem Hof, hingen abends zusammen ab. Meinetwegen hätte es ewig so weitergehen können. Einen Tag vor meiner Abreise rief jedoch Holger morgens überraschend an und fragte, ob ich noch vorbeikommen und ein paar Stunden im Geschäft helfen konnte, weil so viel zu tun war. Ich sagte zu, nachdem ich meinen Vater gefragt hatte, ob er noch Hilfe bräuchte.
 

„Geh ruhig“, meinte der jedoch nur. „Ich hab ja Christopher. Wir schaffen das schon.“

 

Nachdem ich noch schnell meiner Mutter Bescheid gegeben hatte, dass es mittags später werden würde, machte ich mich auf den Weg zum Stall. Mein Mountainbike trug immer noch die Spuren der letzten Tour. Ich hatte vergessen, es zu reinigen.
 

Gedankenverloren kratzte ich einen der Schlammspritzer ab. Der Waldweg war noch feucht gewesen und ich hatte die Bodenbeschaffenheit an einer Stelle falsch eingeschätzt. Hatte mich fast hingelegt und wäre um ein Haar die Böschung hinunter gerauscht. Am Ende war es mit einer gehörigen Portion Dreck und einem noch größeren Schrecken relativ glimpflich abgegangen. Ich erinnerte mich an das Adrenalin, das durch meine Adern geflossen war, als ich an diesem Abgrund gestanden hatte. Und an das Gefühl, als ich mir vorgestellt hatte, wenn mir wirklich etwas passiert wäre.
 

„Ein gebrochener Arm hätte sich bei den Klausuren bestimmt nicht gut gemacht“, murmelte ich, bevor ich mich endlich auf den Weg machte, damit ich nicht zu spät kam. Den Gedanken, dass der Arm mich allerdings vor jeder Menge anderer Arbeit bewahrt hätte, schob ich ganz weit weg. Es war verlockend, sich das vorzustellen, aber die Schmerzen und der ganz andere Mist, der damit zusammengehangen hätte, wären es nicht wert gewesen. Bestimmt nicht.

 

 

Als ich gegen halb zwei nach Hause kam, wartete meine Mutter schon mit dem Essen.

 

„Du kannst gleich die anderen holen. Dein Vater ist noch draußen und Christopher dürfte in seinem Zimmer sein.

„Ist gut“, entgegnete ich und wollte mich schon umdrehen, als meine Mutter noch anfügte: „Und Mia hat angerufen. Du sollst sie zurückrufen.“

 

Ich runzelte die Stirn. Warum hatte sie mir keine Nachricht geschrieben? Noch während ich darüber grübelte, fiel es mir ein. Ich hatte mein Handy liegenlassen, als ich zu Holger gefahren war.

 

„Okay, mache ich.“
 

Ich verließ die Küche und ging zuerst hoch in mein Zimmer. Tatsächlich zeigte mein Handy mehrere Nachrichten und zwei Anrufe. Alle von Mia. Sie wollte wissen, ob wir uns heute noch treffen konnten, bevor ich die nächsten Wochen weg war. Ich überlegte. Eigentlich hätte ich meine Sachen packen müssen und dann hatte ich eigentlich den Abend noch Christopher verbringen wollen. Immerhin würde der nach meiner Rückkehr schon längst zu seinem tollen Praktikum aufgebrochen sein und es stand in den Sternen, wann ich ihn das nächste Mal zu Gesicht bekam. Aber Mia war meine Freundin. Natürlich wollte sie mich noch einmal sehen.
 

Noch bevor ich eine Entscheidung getroffen hatte, rief meinen Mutter von unten, dass wir endlich kommen sollten, bevor sie alles auf den Kompost warf. Ich rief zurück, dass ich sofort da wäre, und klopfte zur Sicherheit noch an Christophers Zimmertür, für den Fall, dass er sie nicht gehört hatte. Von drinnen kam nur ein „Komme gleich“ und ich widerstand der Versuchung auf ihn zu warten, sondern ging stattdessen schon mal nach unten. Zum Glück öffnete auch mein Vater in diesem Moment die Haustür und ersparte es mir so, noch einmal nach ihm zu sehen. In diesem Moment kam auch Christopher die Treppe heruntergepoltert, sodass er noch vor mir im Esszimmer war.

 

„Was gibt’s denn?“, wollte er wissen.

„Löffelsches Bohnen.“

 

Ich grinste ein bisschen. Das erklärte den Geruch von gebratenem Speck, der trotz der neuen Dunstabzugshaube überall in der Luft hing. Man hätte fast auf die Idee kommen können, dass das Absicht war. Den Eintopf mit saurer Sahne hatte meine Mutter irgendwann mal in ihr Repertoire aufgenommen, weil es mit die einzige Möglichkeit gewesen war, meinen Bruder und mich dazu zu bekommen, Gemüse und speziell grüne Bohnen zu essen. Das Rezept hatte sie von meiner Tante bekommen, die irgendwo im Rheinland wohnte. Seitdem gab es das Gericht im Sommer regelmäßig.
 

„Mahlzeit“, rief mein Vater, als er hereinkam. „Ich hab einen Riesenhunger. Was gibt’s denn?“

„Immer noch Bohnen“, antwortete meine Mutter lachend. „Wenn das mit der Fragerei so weitergeht, hänge ich draußen bald ein Schild an die Tür.“

„Was niemand sehen würde, weil die eh immer offensteht“, gab mein Bruder zurück und schöpfte sich von dem Eintopf auf den Teller.

„Weil ihr sie nie zumacht. Man könnte wirklich denken, wir hätten Säcke vor den Türen. Theodor, würdest du bitte?“

 

Mir lag auf der Zunge, dass mein Vater schließlich als letztes reingekommen war, aber natürlich sagte ich nichts, sondern stand nur auf, um die Tür zu schließen. Danach begannen wir zu essen.

 

„Ich brauche euch beide heute Nachmittag nochmal“, meinte mein Vater, nachdem sich die Teller das erste Mal geleert hatten. „Im Garten hinten soll nächste Woche eine Sauna aufgebaut werden, aber dafür muss der Fliederbusch weg.“

 

„Ausgerechnet der Flieder“, seufzte meine Mutter, obwohl ich wusste, dass sie bereits darüber gesprochen hatten.

 

„Wäre dir der Apfelbaum lieber?“, fragte mein Vater zurück.

 

„Nein, aber du weißt, dass ich Flieder liebe.“

„Für eine andere Stelle müssten wir aber den Anschluss verlegen und den halben Garten umgraben. Dann hätten wir auch nichts gekonnt.“
 

Christopher, der sich gerade noch einmal nachgenommen hatte, meinte beiläufig: „Ich bin übrigens heute noch mit Nils und Basti verabredet. Die beiden sind über die Ferien auch zu Hause und wir wollen abends was unternehmen.“

 

„Ach, schön, was wollt ihr denn machen?“

„Weiß nicht. Kino vielleicht. Mal sehen.“

 

Der Löffel, den ich gerade zum Mund hatte führen wollen, blieb auf halbem Wege in der Luft stehen. Christopher war verabredet? Ausgerechnet heute?
 

„Theodor? Ist was nicht in Ordnung?“

 

Dem wachsamen Blick meiner Mutter war mein Zögern nicht entgangen.
 

„Nein, alles bestens. Hatte nur ein Pfefferkorn zwischen den Zähnen“, log ich, ohne lange darüber nachzudenken.

 

Schnell steckte ich den Eintopf in den Mund, obwohl mir der Appetit gerade gründlich vergangen war. Warum hatte mein Bruder sich denn ausgerechnet für heute verabredet. Er hätte doch morgen etwas mit seinen Freunden unternehmen können. Warum an unserem letzten, gemeinsamen Abend?

 

Ich warf einen verstohlenen Blick zu ihm rüber. Wahrscheinlich hatte er gar nicht mehr dran gedacht, dass ich morgen nicht mehr da sein würde. Oder es war ihm egal gewesen. Wahrscheinlich hätte ich fragen können, ob ich mitkommen konnte, aber ich wusste jetzt schon, dass die drei sich die ganze Zeit über ihre Studiengänge austauschen würden. Da wäre ich ohnehin nur das fünfte Rad am Wagen.
 

„Ich treffe mich vielleicht mit Mia.“

„Ah, kommt sie her?“

„Nein, ich fahre hin.“
 

Es hatte sich so eingespielt, dass ich meistens zu Mia fuhr, da ihre Eltern ihr nur ungern ihr neues Auto gaben. Da ich meist mit dem Rad fuhr, war ich da unabhängiger und auch nicht viel langsamer als sie, wenn sie den Umweg über die großen Straßen nahm. Dass ich heute schon einmal in der Stadt gewesen war, war natürlich ungünstig, aber nicht zu ändern. Ich hätte eben an mein Handy denken müssen.

 

Gleich nach dem Essen nahm ich es daher zur Hand und rief bei ihr an.
 

„Hey“, meinte sie, als sie gleich nach dem zweiten Klingeln abnahm, und ich konnte förmlich durch Telefon sehen, wie sie dabei lächelte. „Ich hab versucht, dich zu erreichen.“

„Ich war heute noch bei Holger zum Arbeiten.“

„Ach so.“

 

Mia hatte mich schon oft genug im Geschäft abgeholt und kannte den langjährigen Bekannten meiner Eltern inzwischen gut genug, um von ihm ebenfalls das Du angeboten bekommen zu haben. Wobei Holger damit ohnehin sehr freigiebig war.
 

„Ich wollte eigentlich fragen, ob du heute Nachmittag Zeit hast.“

„Nein, leider nicht. Mein Vater braucht mich im Garten.“

„Oh, das ist schlecht. Ich wollte dich heute eigentlich gerne noch sehen.“

„Was ist denn mit heute Abend?“

„Ich bin doch mit meiner Mutter im Theater. Hast du das vergessen?“

 

Jetzt, wo sie es sagte, fiel es mir wieder ein, dass sie so etwas erwähnt hatte. Irgendein französisches Stück. Ich selbst konnte kein Französisch abgesehen von den paar Brocken, die mir Mia inzwischen beigebracht hatte. Stattdessen hatte ich mein Gehirn mit Lateinvokabeln füllen dürfen.

 

„Theo? Bist du noch dran?“

„Ja, ich … ich hab nur nachgedacht. Das ist doof, dass wir uns so lange nicht sehen.“

„Ja, wenn du heute Nachmittag nicht kannst, ist das wohl leider so.“

 

Ich biss mir auf die Lippe. Natürlich hätte ich meinem Vater sagen können, dass ich zu Mia musste. Er würde den Busch sicherlich auch nur mit Christopher abgeholzt bekommen. Aber wenn ich mit der Ausrede kam, dass ich stattdessen meine Freundin besuchen wollte, würde es sicherlich eine entsprechende Bemerkung kommen, selbst wenn er es mir sicherlich nicht verbieten würde.
 

„Vielleicht kannst du mich ja mal im Zeltlager besuchen kommen.“

„Ist das denn erlaubt?“

„Keine Ahnung, ich frag einfach mal.“

„Das wäre super.“
 

Wieder hörte ich sie lächeln und kam mir plötzlich schäbig vor, dass ich nicht die Eier in der Hose hatte, meinem Vater eine Absage zu erteilen. Das hier war immerhin Mia.
 

„Ich vermisse dich jetzt schon“, sagte sie und dieses Mal lächelte ich. Es tat gut, das zu hören.

„Ich dich auch“, antwortete ich und wollte noch mehr sagen, als in diesem Moment schon mein Vater nach mir rief.

„Du, ich muss Schluss machen. Ich ruf dich heute Abend nochmal an.“

„Ich bin doch im Theater.“

„Dann danach?“

„Das wird aber spät.“

„Macht nichts. Schick mir einfach eine Nachricht.“

„Okay.“

 

Ich legte auf und sah zu, dass ich nach unten kam, damit mein Vater nicht warten musste. Man hätte denken können, dass ich mich auf die Arbeit freute. Dabei hatte mein Vater schon gedroht, dass wir den Bereich würden weitläufig umgraben müssen, um alle Wurzelausleger zu entfernen. Im Grunde wäre es schlauer gewesen, das bereits im Frühjahr zu erledigen, wenn die Erde vom Regen aufgeweicht war, weil die schützenden Blätter fehlten, aber meine Mutter hatte darauf bestanden, erst noch die Blüte abzuwarten. Jetzt würde es umso schwerer werden.

 

„Auf in den Kampf“, machte ich mir selbst Mut und straffte die Schultern. Dieser Busch würde mich bestimmt nicht kleinkriegen.

 

 

Tatsächlich gewannen wir die Schlacht schneller, als ich gedacht hatte. Es war gerade mal kurz nach vier, als mein Vater meinte, dass es für heute genug sei. Schwitzend stützte ich mich auf meinen Spaten.

 

„Bist du sicher? Du hast doch gesagt, es müsste alles raus.“

 

Mein Bruder lachte.
 

„Du hast wohl noch nicht genug?“

„Doch, aber …“

„Na dann frag doch nicht so viel. Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.“

 

Auch mein Vater verzog den Mund zu einem Lächeln.

 

„Na haut schon ab, ihr beide. Ihr habt ja schließlich auch Ferien. Den Rest schaffe ich schon alleine.“

 

Während mein Bruder zusah, dass er wegkam, zögerte ich immer noch. Der Grund dafür war simpel. Ich wusste nicht, wo ich hinsollte. Natürlich hätte ich mich jetzt beeilen und noch schnell duschen können, um dann doch noch zu Mia zu fahren. Zwei Stunden oder so hätten wir sicherlich gehabt, bevor sie sich fürs Theater fertigmachen musste. Aber wollte ich das? Eigentlich tat mir alles weh und ich sehnte mich nur noch nach meinem Bett.
 

„Was ist los? Stimmt was nicht?“

 

Mein Vater hatte meine Unentschlossenheit anscheinend bemerkt. Er musterte mich aufmerksam.
 

„Nein, alles in Ordnung“, versicherte ich schnell. „Ich hab nur … ach egal. Bin dann mal weg.“

 

Ich legte den Spaten beiseite und machte, dass ich auch wegkam, bevor ihm noch etwas einfiel, was ich erledigen konnte.

 

Müde und abgekämpft machte ich mich an den Anstieg zu meinem Zimmer. Auf dem ersten Treppenabsatz angekommen blieb ich stehen und sah zu der Tür, hinter der Christophers Zimmer lag. Einst hatte ich mein Zimmer, das direkt hinter seinem lag, auch stets durch diese Tür betreten müssen. Ein Umstand, der oft genug zu Streit geführt hatte, bis meine Eltern sich endlich hatten erweichen lassen, den Dachboden auszubauen. Da wir den Ausbau in Eigenarbeit ausgeführt hatte, hatte es ziemlich lange gedauert. Jetzt war das Zimmer fertig und mein Bruder wohnte nur noch an den Wochenenden hier.
 

„Dafür hast du mehr Platz“, sagte ich zu mir selbst und machte mich daran, auch noch die letzte Treppe zu bewältigen. Mit einem tiefen Atemzug schloss ich die Tür hinter mir. Mein eigenes Reich. Als ich noch mit Christopher zusammengewohnt hatte, hatte ich es manchmal kaum erwarten können, endlich die Tür hinter mir schließen zu können, um ihn draußen zu halten. Ihm war es nicht anders ergangen, wenn ich mich mal wieder ungefragt an seinen Sachen bedient und beispielsweise seine CDs ausgeliehenen und dann vollkommen falsch wieder einsortiert hatte. Wenn überhaupt. Jetzt war die Hälfte des Regals an der Wand leer und die zurückgebliebenen Reste entsprachen weder seinem noch meinem Musikgeschmack. Knochenreste einer Beziehung.

 

Während ich an der Tür stand, wurde ich mir bewusst, dass ich klebte. Und stank vermutlich. Ich gehörte unter eine Dusche. Musste mir den Dreck runterwaschen. Gleichzeitig konnte ich nicht verhindern, dass bei dem Gedanken an meinen Körper, der in der Sonne gearbeitet, noch ganz andere Bilder in den Kopf stiegen. Bilder, die meinen Mund trocken werden ließen.

 

„Ich hätte zu Mia fahren sollen“, murmelte ich und dachte daran, wie lange es wohl her war, dass wir miteinander geschlafen hatten. In letzter Zeit hatten wir mehr miteinander gelernt als gekuschelt. Klausurstoff abgefragt statt uns zu küssen. Und wenn ich allein gewesen war, hatte mein Anschauungsmaterial anders ausgesehen, als es sollte. Da hatte es harte Muskeln gegeben statt weicher Kurven, flache Bäuche statt wohlgerundeter Hintern. Allein wenn ich an das Bild dachte, wo der eine Junge seinen Kopf im Schoß seines Bildpartners gehabt hatte, musste ich schlucken. Man hatte nichts gesehen. Es war eine künstlerische Abbildung gewesen, die alles der Fantasie des Betrachters überlassen hatte. Das Problem war, dass meine Fantasie überhaupt keine Schwierigkeiten damit hatte, es sich vorzustellen. Weil ich wusste, wie es sich anfühlte.
 

„Das hat nichts zu bedeuten“, flüsterte ich in die Stille meines Zimmers hinein. Es war niemand da außer mir, der es hören konnte, und doch musste ich es laut aussprechen. Damit ich es nicht vergaß. Es hatte nichts zu bedeuten. Rein gar nichts.

 

 

Am nächsten Morgen erwachte ich viel zu früh. Ich hatte bis spät in die Nacht wachgelegen und noch an dem Song geschrieben, dessen Text ich am Wochenende verfasst hatte. Dabei hatte ich sogar vergessen, Mia anzurufen, weil ich die Benachrichtigungen auf lautlos gestellt hatte, damit mich nicht ständig das Gepiepse dieser dummen Messenger-Gruppe nervte, in der ich nur war, weil es dazu gehörte. Natürlich machte ich mit. Schickte Bilder mit halbnackten Frauen und lustigen Sprüchen herum und kommentierte fleißig, was meine Freunde so posteten. Manches war ja auch wirklich witzig, aber wenn ich arbeitete, konnte ich das nicht brauchen. Zumal ich schon zwei spontane Einladungen für den Abend ausgeschlagen hatte und mit Recht behaupten können wollte, die anderen nicht gesehen zu haben. Nur, dass ich so leider auch Mias Nachricht, dass sie jetzt wieder zu Hause war, verpasst hatte. Ich schickte ihr eine Entschuldigung und versprach sie anzurufen, sobald ich konnte. Dann machte ich mich auf den Weg nach unten.
 

Die Küche war leer, aber auf dem Tisch standen noch die Reste des Frühstücksgeschirrs. Das meiner Eltern war bereits abgeräumt, meines und das von Christopher waren noch unberührt. Mein Bruders war gestern spät nach Haus gekommen. Ich hatte es gehört, als er die Treppe hochgekommen war. Einen Augenblick hatte ich innegehalten um zu hören, ob er wohl noch zu mir hochkam, aber kurz nachdem das Wasserrauschen im Bad verstummt war, hatte ich nur noch das abschließende Klappen seiner Zimmertür gehört. Danach war nichts mehr gekommen.

 

Ich sah das Brötchen an, das einsam in dem mit Stoff ausgeschlagenen Brotkörbchen lag. Ein Brötchen, nicht zwei. Wahrscheinlich, weil meine Mutter damit rechnete, dass Christopher erst aufstand, wenn die Frühstückszeit für die Gäste schon vorbei war. Dann würde sie die Reste von drüben mitbringen.

 

Ich ignorierte den gedeckten Tisch und holte mir eine Schüssel und die Schachtel mit den Cornflakes aus dem Schrank. Gleich darauf verzog ich das Gesicht. Die Dinger waren pappig geworden, weil die Tüte schon zu lange offen war. Für einen Moment überlegte ich, ob ich rübergehen und mir noch welche vom Buffet holen sollte, aber der Gedanke, an den Gästen vorbei zu müssen, gefiel mir nicht. Ich sah bestimme furchtbar aus. Zumindest fühlte ich mich so. Außerdem musste ich auch noch meine Tasche packen.

 

Als hätte sie das gehört, kam meine Mutter plötzlich herein. Als sie mich sah, lächelte sie.
 

„Na, Schlafmütze. Endlich wach?“

„Mhm“, brummte ich nur.

„Hast du deine Tasche schon gepackt?“

„Ja, fast“, schwindelte ich ohne rot zu werden.

„Gut. Denk dran, dass die Tillmanns dich um halb zehn abholen.“

„Ich hab doch gesagt, ich kann auch mit dem Rad fahren.

„Das will ich aber nicht. Mit der Tasche und der Gitarre auf dem Ding ist das viel zu unsicher.“

 

Ich verkniff mir ein Augenrollen. Im Grunde hatte sie ja recht. Zudem hätte ich mit dem Rad noch früher losgemusst.
 

„Also, ich muss wieder rüber. Nimm dir ruhig was von den Erdbeeren, die im Kühlschrank stehen. Die sind noch von gestern und müssen gegessen werden.“

„Ist gut.“

 

Ich tat so, als würde ich an den Kühlschrank gehen, doch sobald sie aus der Tür war, ließ ich den Griff wieder los. Ich mochte Erdbeeren, das wusste sie. Aber Christopher war verrückt nach den Dingern. Ich würde sie für ihn stehen lassen, wenn er denn irgendwann mal aufstand. Stattdessen stellte ich meine Schüssel und den Löffel in die Spülmaschine, nachdem ich die restlichen Cornflakes entsorgt hatte, und ging wieder nach oben, um endlich meine Tasche für das Zeltlager zusammenzupacken. Ich war kaum fertig, als unten die Tür aufging.
 

„Theodor, dein Taxi ist da“, rief mein Vater nach oben.

„Ich komme“, rief ich zurück und griff nach meiner Tasche und der Gitarre, die ich wohlweislich als Erstes verpackt hatte. Als ich an Christophers Tür vorbeikam, wurde ich ganz kurz langsamer. Irgendwie erwartete ich, dass sie sich öffnen und er mich noch verabschieden würde, aber es tat sich nichts, und als mein Vater ein zweites Mal rief, drehte ich mich um und lief schnell den Rest der Treppe hinunter. Wenn er nicht wollte, dann eben nicht. Ich würde ihm nicht nachlaufen.

 

Auf dem Hof erwartete mich bereits eine kleine Menschenansammlung, die rund um den grauen Kastenwagen stand. Die hinteren Türen waren geöffnet und Frau Tillmann die neben dem Auto stand, winkte mich gleich in ihre Richtung. Sie war schwerlich zu übersehen, denn sie war eine sehr große Frau, sowohl in der Höhe, wie auch in der Breite. Dazu kleidete sie sie in wallende Röcke mit langen, schlabberigen Blusen oder Pullovern darüber, die sie noch enormer wirken ließen. Ihr Händedruck war jedoch warm und vertrauenerweckend und ihre freundlichen Augen funkelten unternehmungslustig, als sie mich in Augenschein nahm.
 

„Hallo Theodor! Meine Güte, bist du groß geworden. Ich freue mich ja so, dass du Zeit für uns hast.“

„Hallo Frau Tillmann.“

„Ach bitte, sag doch Susanne zu mir. Die Kinder nennen mich alle so.“

 

Ich überlegte noch, ob ich jetzt beleidigt sein sollte, weil sie mich offenbar auch zu den „Kindern“ zählte, aber da sah sie schon an die zierliche Uhr an ihrem Handgelenk.
 

„Oh, so spät schon? Wir müssen uns sputen. Um zehn ist Betreuerversammlung. Die Zelte sind bereits aufgebaut, aber wir wollen noch einmal alles durchgehen, bevor heute Nachmittag die Kinder kommen.“

 

Ich nickte und verstaute meine Reisetaschen auf der Ladefläche zwischen Vorräten und anderer Campingausrüstung. Die Gitarre nahm ich vorsichtshalber mit nach vorn, damit sie nicht zu Schaden kam.

 

„Alles Gute und melde dich mal“, sagte mein Vater und auch meine Mutter ließ sich eine Verabschiedung nicht nehmen. Sie drückte und küsste mich. Als ich gerade ins Auto steigen wollte, ging die Haustür auf und mein Bruder kam heraus.
 

„Hab verschlafen“, erklärte er, bevor er mich ebenfalls verabschiedete und sich dann gähnend wieder ins Haus trollte. Ich sah ihn im Rückspiegel zusammen mit dem immer kleiner werdenden Haus.

 

„Und?“, fragte Susanne und drehte gleichzeitig das Radio an. „Freust du dich schon?“

 

„Ja sicher“, antwortete ich pflichtschuldig. Eigentlich wusste ich gar nicht so recht, was mich eigentlich erwartete.

 

„Du wirst sehen, das Team ist total nett. Die meisten sind schon mehrere Jahre dabei, aber ab und an brauchen wir frisches Blut.“ Sie lachte und ihr Doppelkinn wackelte dabei. „Ich bin in der Regel fürs Kochen zuständig, während mein Mann die Leitung und Koordination übernimmt. Dazu gibt es für jedes Zelt einen festen Betreuer und zwei Springer. Das werden du und noch ein Junge in deinem Alter sein. Ich glaube, den hat jemand über seinen Sportverein organisiert. Es gibt insgesamt acht Zelte, vier für die Jungs, vier für die Mädchen. Die Kinder werden jeweils nach Altersstufen verteilt, also im Prinzip so wie in den vier Grundschulklassen, nur dass bei uns niemand sitzenbleibt.“

 

Sie lachte und ich fiel mit ein, während ich versuchte, mir das alles zu merken. Sie zählte noch die Betreuer auf, die alle zwischen 20 und 30 Jahren waren und anscheinend fast alle irgendwas mit irgendwelchen gemeinnützigen Vereinen wie Jugendfeuerwehr oder ähnlichem zu tun hatten.
 

„Die meisten sind allerdings dabei, weil sie als Kinder selbst schon im Ferienlager waren und jetzt mal die andere Seite kennenlernen wollten. Du wirst sehen, das wird richtig toll.“

 

Ich lächelte und versuchte das leicht unwohle Gefühl zu ignorieren, das sich in meiner Magengrube gebildet hatte. In eine Gruppe zu kommen, die sich schon kannte, fiel mir zwar meist nicht besonders schwer, aber die Vorstellung sorgte trotzdem für ein leises Unwohlsein, das noch stieg, als der Lagerplatz schließlich in Sicht kam.

 

Unter großen Bäumen war zunächst ein weitläufiger Parkplatz angelegt, dessen Kiesel langsam aber sicher und dem durchwuchernden Grün verschwanden. Gleich daran anschließend sah ich ein niedriges Gebäude mit einem grasgrünen Dach und ebensolchen Türen und Fenstern.
 

„Das ist unser Service-Gebäude wie es so schön heißt. Dort sind die Küche, der Speiseraum sowie die Toiletten und Duschen. Wenn es regnet, basteln und spielen wir dort drinnen auch mit den Kindern. Und wir singen natürlich.“

 

Sie lachte wieder und ihr gesamtes Gesicht bebte dabei. Der Anblick lenkte mich für einen Augenblick so ab, dass ich vergaß mich umzusehen. So bemerkte ich erst zu spät, dass ein junger Mann auf uns zukam. Er war groß und dünn und hatte raspelkurz geschnittene, blonde Haare.
 

„Ah, Susanne, da seid ihr ja. Ihr seid fast die Letzten.“

„Nur fast? Na, das wundert mich. Theodor, das ist Kilian.“

 

Der Kerl hielt mir die Hand hin.

 

„Sag einfach Kischi, das machen die anderen auch. Ist Theo für dich okay? An Theodor bricht man sich ja die Zunge, besonders wenn man so flink damit unterwegs ist wie ich. Ich rede nämlich unheimlich viel und das nicht nur, wenn der Tag lang ist.“

 

Er lachte laut auf.

 

„Äh, ja“, erwiderte ich und fühlte mich ein bisschen überfahren. Dann jedoch riss ich mich zusammen und erwiderte seinen Händedruck ebenso kräftig wie er. Er grinste und wies auf mein Instrument.

 

„Du bist also der Musiker, dann fehlt uns nur noch der Sportler.“

 

„Was für Sport macht der eigentlich?“, fragte Susanne nach, während sie ihre ebenfalls enorme Beuteltasche hinter dem Sitz hervorholte.

 

„Judo, glaube ich. Ich hab jedenfalls so was läuten hören.“

 

In diesem Moment fuhr hinter uns ein kleines, rotes Auto auf den Parkplatz. Es hielt ein wenig schief unter einem der Bäume und der Motor erstarb mit einem unguten Geräusch. Der Fahrer hatte den Motor abgewürgt.
 

„Oh weh, Frau am Steuer“, witzelte Kilian und bekam gleich von Susanne eine Rüffel, den er jedoch nur mit einem Grinsen quittierte.

 

Tatsächlich stieg jetzt eine blonde Frau aus dem Auto, die sich suchend umsah und, als sie uns entdeckte, in unsere Richtung rief: „Sind wir hier richtig zum Zeltlager?“

 

„Ja!“, rief Susanne zurück und ging kurzerhand auf die fremde Frau zu.
 

„Oh, Gott sei Dank“, sagte diese jetzt, bevor sie ins Innere verkündete: „Na los, du kannst aussteigen. Wir sind da.“

 

Neugierig versuchte ich an Susanne vorbeizusehen, wer da wohl aus dem Wagen stieg. Im nächsten Moment setzte mein Herz einen Schlag aus. Das konnte unmöglich wahr sein. Vielleicht irrte ich mich oder ich musste mal wieder zum Augenarzt, denn meine Sinne zeigten mir ganz deutlich, dass der Jemand, der da aus der Beifahrertür kletterte, mir ohne jeden Zweifel bekannt war. Er hatte mich offenbar noch nicht bemerkt, aber ich erkannte ihn selbst auf die Entfernung. Ich hätte ihn aus hunderten wiedererkannt, wenn es hätte sein müssen. Denn dort neben dem Auto, mit seiner Sporttasche in der Hand, stand niemand anderer als Benedikt.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  chaos-kao
2021-02-03T02:55:10+00:00 03.02.2021 03:55
Ich hatte es ja gehofft und war mir bei der Andeutung mit dem Jungen in Theos Alter ziemlich sicher, dass es sich dabei um unseren liebsten Benedikt handeln wird <3
Antwort von:  Maginisha
03.02.2021 08:59
Na wie du nur darauf kamst. ;D
Von:  Snowprinces
2020-10-07T06:26:41+00:00 07.10.2020 08:26
Hey Schöne Kapitel ich freue mich auf das nächste und gespannt wie es weiter geht

Kaffee und waffeln hinstell

liebe grüße
Antwort von:  Maginisha
07.10.2020 10:31
Ah, das freut mich und Waffeln gegen ja immer. ^__^

Zauberhafte Grüße
Mag

Von:  Ryosae
2020-10-06T22:45:55+00:00 07.10.2020 00:45
Ohne Witz ich musste Löffelches Bohnen 3x lesen um wirklich sicher zu sein, dass dort wirklich steht, was ich in meinem Hirn denke. 😂
Komme selbst aus Rheinland-Pfalz xDD

Theos Bruder scheint ein ganz wichtiger Bezugspunkt zu sein, schade das er in dieser Hinsicht kurz vor seiner Reise enttäuscht wurde. :(

Aber jetzt gehts weiter mit Benedor!! :D (Benedikt und Theodor fusioniert haha ich Witzbold 😅)
Freue mich so auf die Reaktion, und klar war die Mutti wieder spät dran :P

Antwort von:  Maginisha
07.10.2020 10:30
Haha, das war dann ja eine lustige Überraschung. ^__^
Bei mir hat das als Kind funktioniert, vielleicht sollte ich dabei unseren auch mal ausprobieren. ;D

Mit großen Brüdern scheint das so eine Sache zu sein. Die merken manchmal anscheinend gar nichts von ihrem Glück.

Benedor? *rofl* Ja, sehr schön. Ich hatte auch schon Theben als Vorschlag vorliegen. *g*

Und natürlich ist Benedikts Mutter spät dran. Gut aufgepasst. ;)

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  KaffeeFee
2020-10-06T06:45:18+00:00 06.10.2020 08:45
Ahhhh *quietsch* was für eine Begegnung! xD ich kann mir den Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen!

Es war mal wieder ein schöner Einblick in die Familie! Der Papa ist ja gar nicht so, wie auf dem ersten Blick gedacht ;) und Respekt an Theo, wie rücksichtsvoll er ist! Meine Geschwister hätten die Erdbeeren knallhart aufgegessen, damit ich auch ja nichts abbekomme... hätte ich aber auch gemacht xD Theo muss seinen Bruder wirklcih innig lieben. Find ich schön.

Die Susanne find ich super! Ich glaub, die ist lustig. Ohhh, bitte lass mich und die anderen Leser nicht zu lange warten! Ich muss unbedingt wissen, wie Benedikt reagiert! *hibbelig auf udn ab hüpf* <-- das ist Frühsport!

bis dahin, koffeinhaltige Grüße und eine Kanne Kaffee, die KaffeeFee
Antwort von:  Maginisha
06.10.2020 14:17
Hey KaffeeFee!

Was hattest du denn gedacht, wie der Vater ist bzw. was denkst du jetzt? (Würde mich echt mal interessieren, wie er denn so rüberkommt.)

Das mit den Erdbeeren...tja, ist wohl tagesformabhängig. Es gibt definitiv Tage, an denen Theo sie allein gegessen hätte. :D

Susanne ist tatsächlich ne lustige Frau. So eine richtig gute Seele, die da mit Leib und Seele dabei ist.

Ich werde mich natürlich bemühen, so bald wie möglich weiterzuschreiben. Momentan trubelt das RL ein wenig und ich muss auch erst noch ein bisschen Gefühl für Theo bekommen. Benedikt war mir da eindeutig näher. :D Aber ich werde ja doch nicht die Finger davon lassen können, also kommt bestimmt bald Nachschub.

Bis dahin erst mal zauberhafte Grüße
Mag
Antwort von:  KaffeeFee
06.10.2020 14:28
mein Eindruck vom Vater war eher so, dass er sehr reserviert ist Theo gegenüber, immer auf das Ansehen des Hofes bedacht (was natürlich ncihts schlechtes ist!) und dass er Christopher beforzugt behandelt. Kann aber auch sein, dass ich das so interpretiert habe, weil Theo es ein bisschen hat durchscheinen lassen, dass sein Bruder in seinen Augen immer die Nummer eins war
Antwort von:  Maginisha
06.10.2020 16:27
Mhm, ich verstehe. Ja, das spielt natürlich alles mit rein (Der Hof ist ja beispielsweise die Einnahmequelle der Familie), wobei das mit der Bevorzugung sicherlich auch ein Stück weit im Auge des Betrachters liegt. Aber Eltern sind eben auch nur Menschen. ^_~


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