Herz über Kopf von Maginisha ================================================================================ Kapitel 1: Alles in bester Ordnung ---------------------------------- Er ist nicht da.   Ich wusste nicht, wie der Gedanke es geschafft hatte, an die Oberfläche zu kommen, aber jetzt, wo er einmal da war, schien er nicht wieder verschwinden zu wollen. Er folgte mir, wohin ich auch ging. Er wisperte in mein Ohr, während ich mich mit meinen Freunden unterhielt. Er zupfte an meinem Ärmel, als ich mir etwas zu trinken holte. Er packte mich am Arm und wirbelte mich herum, damit ich endlich die Wahrheit erkannte. Es war wieder einmal Schuljahresabschlussparty und Benedikt war nicht gekommen. Er war einfach nicht gekommen.   Wie von selbst griff meine Hand nach der Flasche mit der klaren Flüssigkeit, die dort so verführerisch zwischen den anderen stand.   „Hey, hier bist du.“   Schnell ließ ich die Flasche wieder los und drehte mich zu Mia herum. Sie stand hinter mir und ihr Gesicht wurde von den flackernden Scheinwerfern beleuchtet, die abwechselnd ihr buntes Licht auf die Tanzfläche streuten. Dieses Mal war wirklich fast der gesamte Jahrgang gekommen. Ich warf einen Blick auf die Menge an Köpfen, die sich auf den hölzernen Dielen drängte, auf denen normalerweise ein Billardtisch, ein Kicker und ein Airhockey standen. Die Geräte waren jetzt an die Seite geschoben und abgedeckt, um Platz für die Party zu schaffen.   Ich verschob mein Gesicht zu einem Lächeln.   „Ich wollte mir gerade was zu trinken holen. Willst du auch?“ Sie lachte und schüttelte den Kopf.   „Nein, ich bin heute der Fahrer. Ich wollte nur mal sehen, wo du bist. Man könnte fast meinen, du versteckst dich vor mir.“   Sie lachte wieder und ich mit, während ich sie in meinen Arm zog und ihr einen Kuss gab. Natürlich versteckte ich mich nicht vor ihr. Das wäre ja lächerlich gewesen. Vor allem, weil sie das beste Mittel gegen die Bilder war, die zunehmend stärker versuchten, sich in mein Bewusstsein zu drängen. Erinnerungen, die mir immer wieder vorgaukelten, zwischen den Leuten doch endlich das ersehnte Gesicht zu sehen. Warum war ich nur so besessen davon, dass er nicht da war? Es konnte schließlich tausend Gründe dafür geben. Wirklich. Es hatte bestimmt nichts mit mir zu tun. Ganz bestimmt nicht. Und selbst wenn, würde das überhaupt nichts ändern. Rein gar nichts.   Ich stürzte mich wieder ins Getümmel. Mischte mich unter die Leute und versuchte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Es gelang mir nicht so recht. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, während ich mit halbem Ohr der Musik oder irgendwelchen Gesprächsfetzen lauschte, die von den Feiernden aus auf mich einströmten. Ich lachte, wenn alle lachten, aber ich war nicht bei der Sache. Vielleicht, weil wieder der Abend der Party war. Dabei wäre heute nichts passiert. Heute hätte ich aufgepasst. Ich hätte mich im Griff gehabt. Es war ja schließlich nicht so, dass ich das vom letzten Jahr wiederholen wollte. Das Ganze war ein Fehler gewesen. Genau das hatte ich ihm auch gesagt, als wir uns nach den Ferien wieder über den Weg gelaufen waren. An jenem Morgen jedoch …     Mein Schädel dröhnte von dem Alkohol, den ich zu schnell und in zu großen Mengen in mich hineingeschüttet hatte, und meine Zunge klebte an meinem Gaumen. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mit der Hand den Sonnenschein abzuwehren, der unerbittlich durch das unverdunkelte Dachfenster hereinschien. Mit der Bewegung kamen zuerst noch mehr Kopfschmerzen und dann die Erinnerungen. Die Erinnerungen daran, was ich getan hatte. Ich hatte … oh nein!   Langsam drehte ich mich herum.   Benedikt lag immer noch fast vollkommen unbekleidet in meinem Bett. Ich konnte wohl von Glück sagen, dass uns so noch niemand gefunden hatte. Lange würde es sicherlich nicht mehr dauern, bis irgendwer an meine Zimmertür klopfte, um mich nach drüben zu scheuchen zum Aufräumen. Immerhin hatten wir Gäste und würden heute noch neue dazu bekommen. Urlauber, die eine der Ferienwohnungen beziehen würden, mit denen meine Eltern ihren Lebensunterhalt verdienten. Vor Jahren hatten sie einen alten Dreiseitenhof gekauft und ihn mit viel Arbeit und Fleiß in ein Oase der Ruhe und Erholung verwandelt. Leider galt das nicht für mich. Spätestens, wenn die Frühstückszeit vorbei war, durfte ich mir sicherlich eine Standpauke anhören, wenn ich dann immer noch im Bett lag. Vor allem, wenn es nicht allein war.   Trotzdem saß ich einfach nur da und sah ihn an.   Ich wusste, dass ich ihn eigentlich hätte wecken müssen, um mit ihm zu klären, was letzte Nacht passiert war. Aber ich konnte nicht. Weil ich keine Erklärung hatte. Zumindest keine, die mir gefiel. Und die, die es gab, war zu … nein. Ich weigerte mich, auch nur darüber nachzudenken. Selbst wenn es erklärt hätte, warum ich mich nicht von seinem Anblick losreißen konnte, wie er da lag, die dunklen Haare vom Schlaf zerwühlt, die vollen Lippen leicht geöffnet, die feinen Wimpernkränze fest aufeinander gelegt, während die Sonne jede einzelne seiner Sommersprossen wachküsste. Wie gerne hätte ich gewartet, bis er die Augen aufschlug und mich ansah. Mich anlächelte. Mich noch einmal in seine Arme zog und küsste. Vielleicht mehr. Ich konnte es fast fühlen. Seine Finger auf meiner Haut, seine Lippen an meinem …   Aber das ging nicht. Ich musste mir schnellstens überlegen, wie ich das wieder geradebiegen konnte. Wenn das herauskam, dass er und ich … Es würde alles verändern. Das durfte nicht passieren. Es durfte einfach nicht passieren.   Benedikt begann sich zu regen und ich bekam plötzlich Panik. Er musste hier weg und zwar schnellstens. Am besten noch bevor jemand mitbekam, dass er überhaupt hier gewesen war. Aber wie?   Mein Blick irrte durch das Zimmer und blieb an der Tür hängen, die zu dem winzigen Badezimmer führte, das meine Eltern hier oben hatten einbauen lassen. Es bot gerade mal Platz für eine Dusche und eine Toilette, aber es war groß genug für eine Person. Groß genug, um sich darin zu verstecken.   Ohne weiter darüber nachzudenken sprang ich auf und huschte zu der hellen Holztür. Ich öffnete sie, schlüpfte hindurch und schloss sie so leise wie möglich wieder. Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf jedes Geräusch, das von der anderen Seite zu mir vordrang. Offenbar wachte Benedikt tatsächlich auf. Ich hörte ihn unwirsch murren. Mein Herz hämmerte wie wild gegen meinen Brustkorb und das Blut rauschte in meinen Ohren. Was würde er tun? Würde er mich suchen? Würde er sich überhaupt noch an letzte Nacht erinnern? Schon im nächsten Moment schalt ich mich selbst einen Dummkopf. Natürlich würde er sich daran erinnern. Der Betrunkenere von uns beiden war definitiv ich gewesen. Ich fühlte meinen Magen gegen die vorangegangenen schnellen Bewegungen und die aufrechte Lage rebellieren. Mit einiger Anstrengung kämpfte ich die aufkommende Übelkeit nieder ebenso wie alles andere. Ohne auch nur zu blinzeln lehnte ich an der Tür. Ich hielt den Atem an. Versuchte mich zu beruhigen. Nur kein verdächtiges Geräusch machen, nur nichts verraten.   Den Lauten nach zu urteilen erhob Benedikt sich jetzt aus dem Bett. Er ging im Zimmer umher. Zog seine Sachen an? Ich hörte das Rascheln von Papier, dann ein reißendes Geräusch. Mein Herz kam ins Stolpern, als sich kurz darauf Schritte der Tür näherten. Die Klinke wurde herunter gedrückt, doch ich hatte in einem Anfall von Geistesgegenwart abgeschlossen. Wie gebannt starrte ich auf das sich bewegende Stück gebürstetes Metall, das jetzt nur Millimeter von meinem Ellenbogen entfernt wieder in seine Ausgangsposition zurückkehrte. Mehr Schritte, dann wurde die Zimmertür geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Jemand lief die Treppen hinunter. Er war gegangen.   Endlich wagte ich wieder zu atmen. In keuchenden Zügen sog ich die Luft ein wie ein Ertrinkender. Meine Beine gaben unter mir nach und ich sackte an der Innenseite der Tür in mich zusammen. Fahrig wischte ich mit der Hand über mein Gesicht. Vergrub die Finger in meinen Haaren. Verdammt! Ich war so ein … so ein Feigling! Ich hatte ihn einfach so gehen lassen. Gleich im nächsten Augenblick machte mein Herz einen panischen Satz, als mir einfiel, dass er womöglich meinen Eltern in die Arme laufen könnte. Wie von Sinnen sprang ich auf die Füße, riss die Badtür und gleich darauf die zum Treppenhaus auf. Ängstlich lauschte ich nach unten. Waren da Stimmen? Jemand, der Benedikt getroffen und ihn gefragt hatte, was er hier tat? Doch da war nichts. Nur das leise Klappen der Eingangstür.   Ich widerstand dem Drang zum Fenster zu laufen um nachzusehen, ob er unbehelligt über den Hof kam. Was, wenn er mich entdeckte? Stattdessen ging ich zum Bett hinüber, ließ mich auf die Kante der Matratze sinken und griff an die Stelle, an der er gerade noch gelegen hatte. Das Laken war noch warm. Fast so, als hätte er einen winzigen Teil von sich hier zurückgelassen. Ich lächelte kurz, bevor ich den Zettel entdeckte, der auf meinem Kopfkissen lag. 'Ruf mich an', stand darauf und eine Handynummer. Ich nahm das kleine Stück Papier, das er von einem meiner Blöcke abgerissen hatte, und sah es lange an. Sehr lange sah ich es an, bevor ich es zusammenknüllte und in den Papierkorb warf.     Ich hatte ihn nie angerufen. An diesem Tag nicht und auch nicht an einem der folgenden 43 Ferientage. Ich weiß nicht, wie oft ich es gewollt hatte. Wie oft ich den Zettel wieder hervorgekramt und bereits die Nummer eingegeben hatte und nur noch auf diese kleine, grüne Taste hätte drücken müssen. Aber dann hatte ich doch jedes Mal wieder den Löschknopf betätigt, um eine Ziffer nach der anderen im Nichts verschwinden zu lassen. Als könnte ich damit ungeschehen machen, was in dieser Nacht passiert war. Ich wünschte, es wäre so einfach gewesen. Aber das war es nicht und das erste Zusammentreffen nach den Ferien war dementsprechend frostig ausgefallen. Irgendwann hatte ich ihn dann um Weihnachten rum doch noch einmal darauf angesprochen. In einer Freistunde hatte er allein in der Pausenhalle gesessen und ich war zu ihm gegangen, um mit ihm zu reden. So wie früher. Wie vor dieser Nacht, in der sich alles verändert hatte. Er hatte mich abblitzen lassen. Ebenso wie die nächsten Male, als ich es versuchte. Irgendwann waren wir wieder zu einer Realität des gegenseitigen Ignorierens zurückgekehrt, aber die Tatsache, dass er heute Abend nicht hier war, sprach eine ganz eigene Sprache. Es war vorbei. Endgültig. Und ich hatte nichts getan, um es zu verhindern.     „Hey, was bist du denn für ne Spaßbremse heute?“ Jo grinste mich an, allem Anschein nach nicht mehr ganz nüchtern. Es war für gewöhnlich nicht so, dass er viel trank. Wenn wir abends zusammen unterwegs waren, hielt er sich meistens zurück. Aber bei Partys wurde Jo zum ausgesprochenen Kampftrinker, der alles vernichtete, was ihm vor die Linse kam, und das war heute offenbar schon so einiges gewesen. „Hattest du nicht langsam genug?“, fragte ich ihn dementsprechend, als er nach genau der Flasche angelte, die auch ich schon im Visier gehabt hatte. „Nö. Muss doch ausnutzen, dass ich wieder ein freier Mann bin.“   Er grinste und ich erinnerte mich. Jo hatte vor etwa einem Monat ein Mädchen in der Disko kennengelernt, nur um sich dann nach zwei Wochen bereits wieder von ihr zu trennen. Angeblich war sie ihm zu anhänglich gewesen. Seitdem feierte er sein Singledasein, so oft er konnte, während er mir ständig vorhielt, dass ich nach zwei Jahren immer noch mit Mia zusammen war. „Dir entgeht was“, behauptete er stets aufs Neue, aber ich wusste, dass er sich irrte. Ich wusste, was ich an Mia hatte. Es gab keine Bessere als sie.   „Gib ma’ die Cola“, befahl er und ich reichte ihm das Gewünschte, das er mit einer großzügigen Menge Korn oder was auch immer versetzte und probierte, bevor er angeekelt das Gesicht verzog.   „Ah fuck! Schmeckt wie Katzenpisse.“ „Dann nimm halt nicht so viel von dem Schnaps.“ „Ich glaube, das war Ouzo“. „Na Mahlzeit!“   Das war eben der Nachteil an einer Buddelparty. Manche brachten das mit, was zu Hause wegmusste, weil es keiner trank. Irgendwer hatte zu so einer Veranstaltung mal Heidelbeerschnaps mitgebracht, der wie Motoröl geschmeckt hatte. Mia hatte die Flasche nach den ersten Schlucken großzügig entsorgt, bevor Jo sich das Gesöff hatte „schön trinken“ können. Zuzutrauen wäre es ihm nämlich gewesen.   „Aber ernsthaft mal, du bist heute so schräg drauf. Hast du dein Zeugnis vergeigt?“   Ich schüttelte den Kopf. „Nein, es war ganz okay.“ „Dann bleibst du uns also noch erhalten.“ „Sieht so aus.“   Jo reckte die Daumen nach oben und grinste.   „Prima. Und womit feiern wir das?“ „Also ich weiß ja nicht, was du gerade machst, aber ich feiere bereits.“   Er verdrehte die Augen. „Nee, das mein ich nicht. Nicht so ne lahme Scheunenfete. Ich meine ne richtige Party. Mit Weibern und so.“ „Ach, so betrunken bist du schon.“   Wenn Jo zu tief ins Glas geschaut hatte, hatte er die unangenehme Angewohnheit, so ziemlich alles anzugraben, was nicht bei drei auf dem Baum war. Unnötig zu erwähnen, dass die meisten Mädchen davon nicht eben begeistert waren, weil … nun ja. Es gab halt intelligentere Anmachsprüche als „Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick oder soll ich nochmal reinkommen?“ Dabei war er eigentlich kein schlechter Kerl. Man musste ihn nur von den Spirituosen fernhalten. Wobei ich ihm da sicherlich keine Moralpredigten halten durfte …   Entsprechend entrüstet sah er mich an.   „Quatsch, ich bin nicht betrunken. Siehst du, ich treffe noch meine Nase.“ Sprach’s und piekte sich bei dem Versuch, mir das zu beweisen, fast den Finger ins Auge. Ich hielt ihn auf, bevor wir noch den Notarzt rufen mussten. Er grinste mich an und schlang den Arm um meine Schultern. „Also was nun? Machen wir einen drauf? Am besten da, wo auch richtig was los ist. Ne Woche Malle oder so.“ „Dein Ernst?“ „Warum denn nicht? Sind doch jetzt beide volljährig.“   Tatsächlich war ich das sogar schon bedeutend länger als er. Im Juni letzten Jahres war es soweit gewesen. Ich war 18 geworden. Ein Umstand, der natürlich damit gefeiert werden musste, dass ich uns zum allerersten Mal allein mit dem Auto meiner Mutter in die nächstgelegene Disko kutschieren konnte. Keine vier Wochen später hatte ich das erste Mal mit Mia geschlafen. Es war schön gewesen und es hatte geholfen, die Bilder in meinem Kopf zu übermalen. Die Bilder, die bereits wieder versuchten, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, obwohl ich doch nun wirklich alles tat, um sie zu ignorieren.   „Also was nun?“, maulte Jo mit einer leichten Anisnote im Atem. „Kriegst du die Woche frei?“   Ich seufzte.   „Ich fürchte, aus deinen Urlaubsplänen wird nichts.“ „Ach komm schon, T! Deine Eltern können nicht erwarten, dass du die ganzen Ferien über arbeitest. Dafür habt ihr Angestellte. Und Holger kommt auch mal eine Woche lang ohne uns aus.“   Er spielte damit auf den Betreiber des Sportgeschäfts an, in dem wir uns beide nebenbei etwas dazuverdienten. Anfangs hatte auch noch Benedikt dort gearbeitet, aber seit Mia und ich zusammen waren …   Ich schüttelte unwirsch den Kopf und fokussierte mich wieder auf das gerade stattfindende Gespräch.   „Das ist es ja gar nicht“, erklärte ich. „Du weißt, das mein Bruder über die Ferien herkommt um zu helfen. Aber erstens habe ich eine Freundin, wenn ich dich erinnern darf ...“ „Ja ja.“ „Und zweitens hab ich bereits was anderes vor. Ich bin nämlich ab nächstem Donnerstag für drei Wochen als Hilfsbetreuer in einem Ferien-Zeltlager tätig.“   Jos Gesicht als dumm zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres gewesen. „Zeltlager? Davon hast du ja noch gar nichts erzählt. Wie bist du denn dazu gekommen?“ „Meine Eltern …“   Ich beendete die Erklärung an dieser Stelle, denn Jo konnte sich sicherlich denken, was das hieß. Meine Eltern kannten jeden, den man in so einer kleinen Gemeinde und darüber hinaus kennen konnte. Bürgermeister, Stadträte, Landräte, Kirchenvorsteher, Gemeinderatsmitglieder, Vereinsleiter, Geschäftsinhaber, Bauernverbandsvorstände, Innungsmeister. Wer immer auch Rang und Namen hatte, war im Bekanntenkreis meiner Eltern vertreten. Doch wer um Gefallen bitten wollte, musste bekanntlich auch welche gewähren, oder wie mein Vater es immer ausdrückte: Man konnte nie früh genug damit anfangen, soziales Kapital anzuhäufen. Er war diesbezüglich ziemlich fleißig gewesen.   Jo stöhnte gequält auf.   „Oh man, und du hast nicht Nein gesagt?“ „So schlimm wird es schon nicht werden. Die brauchten wen, der Gitarre spielen kann.“ „Gibt’s wenigstens ordentlich Kohle dafür?“ „Nein, ist ehrenamtlich.“ „Dreck.“   Jo klopfte mir mitleidig auf die Schulter. „Komm, Junge, darauf trinken wir einen.“   Ich zögerte nur ganz kurz, bevor ich nachgab. „Na los, schenk ein.“   Ich sah zu, wie er zwei Gläser mit deutlich zu viel Alkohol und zu wenig Mischung befüllte. Na egal, sei’s drum. Dann würde ich den Abend eben volltrunken beenden. Immer noch besser als dauernd diesen dämlichen Gedanken zuzuhören, die mich an Dinge erinnerten, die ich lieber vergessen wollte. Also nicht lang schnacken, Kopf in Nacken. Irgendwann schmeckte bestimmt sogar Ouzo mit Cola gut.   Mit steigendem Pegel wurde es leichter, nicht mehr an ihn zu denken. Stattdessen feierte ich. Ließ es krachen. Riss dumme Witze und gab irgendwelche Anekdoten zum Besten. Meistens über unsere Mitschüler, die gerade nicht anwesend waren. Die sorgten bekanntlich für die beste Unterhaltung. Danach spielte ich irgendein albernes Trinkspiel mit und ließ mich am Ende sogar von Mia auf die Tanzfläche ziehen. Dort angekommen fing ich sofort an, meine Hände über ihren Körper wandern zu lassen, während ich nicht an ihn dachte und daran, wo er jetzt wohl gerade war, was er dort tat und mit wem. Ob er wohl auch gerade in irgendeiner Disko unterwegs war? Womöglich in Begleitung? Ob sie miteinander tanzten? Sich küssten. Sich aneinander rieben und … „Theo! Nicht hier!“   Ich erwachte wie aus einem Traum. Mia sah mich vorwurfsvoll an, während sie meine Hand wieder in ungefährliche Regionen schob. Zum Glück war es dunkel und niemand hatte etwas davon gesehen. Ich zog sie wieder an mich. „Tut mir leid“, murmelte ich und küsste sie auf den Hals. „Ich war nur so …“   Ich sprach nicht weiter. Vermutlich konnte sie spüren, was ich meinte. Immerhin tanzten wir eng genug dafür. „Ach, Theo“, seufzte sie.   Ob sie wusste, dass nur sie und er mich so nannten? Alle anderen sagten T – ausgesprochen wie der englische Buchstabe – oder eben Theodor, so wie meine gesamte Familie. Nur die beiden benutzten diese Abkürzung. Eigentlich komisch.   „Was ist denn jetzt so lustig?“   Ich zuckte mit den Schultern. Schließlich konnte ich ihr ja schlecht sagen, was mir gerade durch den Kopf gegangen war. Stattdessen setzte ich mein Lächeln auf. Das, das sie alle kriegte. Ich wusste, dass es funktionierte. Manchmal sogar bei Mia. „Ich wäre jetzt gerne mit dir allein“, flüsterte ich ihr ins Ohr. „Was hältst du davon?“ „Und deine Eltern?“ „Die merken bestimmt nichts. Sind früh schlafen gegangen.“ „Aber du bist der Gastgeber.“ „Ach, die kommen mal ne halbe Stunde ohne uns aus. Oder willst du nicht?“   Ich sah genau, dass sie nicht wollte, und für einen Augenblick bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich wollte sie ganz bestimmt zu nichts zwingen. Aber ich brauchte sie jetzt. Ich musste diese Bilder aus meinem Kopf bekommen. „Komm schon, Mia. Bitte. Nur ein bisschen. Wir gehen in den Garten.“   Sie lächelte. „Na schön.“   Als sie meine Hand ergriff und mir zur Treppe folgte, war es nicht schwer, mir vorzustellen, das sie jemand anderes wäre, aber ich schob den Gedanken entschieden beiseite. Das hier war Mia. Meine Freundin. Ich liebte sie und sie mich. Alles war gut.   „Hey, wo wollt ihr denn hin?“   Jo winkte mir mit einer Flasche. Es war die mit dem Ouzo.   „Sind gleich zurück“ rief ich und er grinste von einem Ohr zum anderen.   „Tu nichts, was ich nicht auch tun würde.“ „Ich werd mir Mühe geben. Mia weiß schließlich, was gut ist.“ „Theo!“   Mia knuffte mich und ich brachte mich unter falschem Wehgeschrei nach unten in Sicherheit, wo sie mich kurz darauf fand. Hand in Hand gingen wir in Richtung Garten. An der Hollywood-Schaukel angekommen, ließ ich mich darauf fallen und zog sie mit mir. Lachend kam sie auf meinem Schoß zu sitzen. „Na du hast es ja heute eilig.“ „Wenn ich zu dir will doch immer.“   Sie lachte wieder, während ich erneut begann, sie zu küssen. Schon im nächsten Moment erwiderte sie meine Küsse jedoch bereits voller Leidenschaft und als meine Hand unter ihr T-Shirt wanderte, ließ sie es willig geschehen. Ich konzentrierte mich auf das Gefühl unter meinen Fingern und drängte alles andere beiseite. Nur noch Mia sollte es geben. Nur noch sie. Ihre Brustwarzen wurden hart unter meinen Liebkosungen. Ich spürte es deutlich durch den seidenweichen Stoff ihres BHs. Bei mir hingegen …   Sie hörte auf, mich zu küssen. „Was ist los? Stimmt was nicht?“   „Nein, alles okay“, log ich und versuchte wieder, sie zu küssen. Ärgerlich entwand sie sich meinem Griff.   „Theo, lüg mich nicht an. Du hast irgendwas.“   Ich seufzte. Zog meine Hand unter ihrem Shirt hervor und legte den Arm um sie und meinen Kopf an ihre Schulter. „Tut mir leid“, murmelte ich schon wieder. „Ich … keine Ahnung. Muss zu viel getrunken haben.“ „Deswegen bist du so mies drauf?“   Ich schluckte und erschrak innerlich. Sie war schon die zweite, die das heute bemerkt hatte. Einigen Leuten war es schwerer etwas vorzumachen als anderen.   „Es ist nichts.“ „Theo!“ Sie schob mich von sich und sah mich ernst an. Ich konnte ihr Gesicht schemenhaft im spärlichen Mondlicht erkennen. Damals war es heller gewesen. Ich erinnerte mich an sein Gesicht.   „Also entweder du sagst mir jetzt, was los ist, oder ich gehe.“ „Es ist nichts“, wiederholte ich stoisch. „Ich hab nur zu viel getrunken.“   Sie seufzte und ihre Züge wurden weicher. „Ach Theo“, sagte sie und strich mit der Hand durch meine Haare. „Du weißt, das du mir alles erzählen kannst.“   Ja, das wusste ich. Mia wusste mehr von mir also so manch anderer. Sie wusste von den Alpträumen, die ich manchmal hatte und für die ich mich eigentlich schon zu groß fand. Von den Songs, die ich heimlich schrieb und nie jemandem zeigte, und von den Kopfschmerzen, die ich auch jetzt schon wieder herannahen fühlte. Meist traten sie abends auf, manchmal sogar nachts so wie beim ersten Mal, als Mia es mitbekommen hatte. Es fühlte sich an, als würde mein Kopf langsam aber sicher von einem Schraubstock zermalmt werden. Meinen Eltern hatte ich nichts davon erzählt, sondern mir stattdessen heimlich Tabletten besorgt. In letzter Zeit waren die Anfälle häufiger geworden und ich hatte ein paar Mal die Apotheke gewechselt, damit niemand Fragen stellte. Bei meiner Familie konnte man nie wissen.   „Theo?“   Ich schreckte hoch und merkte, dass ich schon wieder gedanklich abgeschweift war. Noch etwas, was momentan immer öfter passierte. Wahrscheinlich war mein Kopf einfach zu voll von all dem Zeug, das wir für die Prüfungen hatten lernen müssen. Ich brauchte dringend Ferien.   „Soll ich die anderen heimschicken?“   Mia musterte mich ernst und in ihrem Gesicht stand Sorge. Schnell setzte ich ein optimistisches Lächeln auf. Ein Gewinnerlächeln. „Nein, das ist nicht notwendig. Ich hab wirklich nur ein bisschen viel getrunken. Lass uns noch eine Weile hier sitzenbleiben und frische Luft schnappen, dann geht es bestimmt wieder.“   „Okay“, sagte sie und klang dabei wenig überzeugt.   Sie lehnte sich an mich und fuhr mir weiter sanft durch die Haare. Die Berührung fühlte sich gut an. Ich schloss die Augen und versuchte die Frage beiseitezuschieben, wie es sich wohl angefühlt hätte, wenn jemand anderes an ihrer Stelle gewesen wäre. Schließlich war Mia meine Freundin und solange ich sie hatte, war alles in bester Ordnung. In absolut allerbester Ordnung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)