Zum Inhalt der Seite

Rescue me

When a dragon saves a puppy - Seto x Joey
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Sooo, es ist endlich Mittwoch und ich habe einiges wieder gut zu machen, hm? >.< Ich hoffe, das ist ein guter, erster Schritt in die richtige Richtung :D

Weil es im Text ein Mal erwähnt wird: Die Golden Week ist vom 29. April bis 5. Mai.

~~~~

Musikinspiration für dieses Kapitel:

Setos POV:

Echo - Jason Walker

Spotify: https://open.spotify.com/track/7v5s7YFXrwzytRan0HtZGb?si=P95NJgYxT_SDxizKhVf47w
YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=pxpLxb5jHO0

Hello, hello
Anybody out there? Cause I don't hear a sound
Alone, alone
I don't really know where the world is but I miss it now

Listen, listen
I would take a whisper if that's all you had to give
But it isn't, isn't
You could come and save me and try to chase the crazy right out of my head

Cause my echo, echo
Is the only voice coming back
Shadow, shadow
Is the only friend that I have

I don't wanna be island
I just wanna feel alive and
Get to see your face again


Für alles danach:

I Still Love You - Josh Jenkins

Spotify: https://open.spotify.com/track/2Zcz1ZFy0JlGVX0oXn7vE7?si=YMfIwbciT8eXDhEpmTfjmw
YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=3M73Ymvq6Bg

We both said some things we didn't mean
We took our cheap shots, didn't we?
You grabbed your coat and keys and said
"I think I need to leave right now"
Ooh, ooh, you're kinda talking crazy
Oh, oh-oh, don't want to lose you baby

I close my eyes and see your face
Can feel your touch, can almost taste
Lie to myself that I'm okay
But the thought of you, it stops me
Ooh, ooh, frozen are the words
Heavy from the hurt
Oh, your love, I can't pretend
I need to tell ya

I still love you, darling
With every inch of my heart
Even when (I) don't want to
I still love you
I still love you, darling
I live and die by your side
Even when (I) don't want to
I still love you
Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Rescue me... maybe

Als sein Wecker klingelte, war Seto schon wach. Schlaf war etwas, das er in den letzten Tagen nicht zu seinen treuen Begleitern zählen konnte. Meist lag er nachts einfach reglos im Bett und dachte an das, was er verloren hatte. Das Bett fühlte sich ohne Joey so leer an, und dasselbe Gefühl machte sich auch in seinem Herzen breit.

 

Er hatte alle Tränen geweint, von denen er niemals gedacht hatte, dass er sie überhaupt in sich trug. Aber davon war nichts mehr übrig. Schwermütig erhob er sich aus dem Bett und ging zu seinem Ankleidezimmer. Er hatte in letzter Zeit nicht mehr so genau darauf geachtet, wie er sich kleidete, weil ihm das einfach so unwichtig erschien. Also zog er sich irgendwas an und ging kurz ins Bad, um sich zumindest das Gesicht zu waschen. Die Reflexion im Spiegel machte offensichtlich, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Seine Augenringe fielen tief in seine Wangen und er war blass. Das Blau in seinen Augen hatte jeglichen Glanz verloren. Er ertrug seinen Anblick nicht, weil er sich selbst dafür verabscheute, was er Joey angetan hatte. Er wandte seinen Blick wieder ab und machte sich auf den Weg zum Esszimmer.

 

Mokuba wartete bereits auf ihn und begrüßte ihn mit einem sorgenvollen Blick. Er setzte sich auf seinen üblichen Platz und sah zu dem Stuhl rüber, der noch vor einer Woche dem blonden Wirbelwind in seinem Leben gehört hatte und nun leer war. Wenn er ehrlich war, würde dieser Stuhl für immer ihm gehören und er würde niemals wieder jemand anderes dort sitzen lassen.

 

Wie aktuell üblich, rümpfte er nur die Nase, als ihm das Essen serviert wurde. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr wirklich etwas gegessen. Seinen Kaffee rührte er ebenfalls nicht an, weil er ihn viel zu sehr daran erinnerte, wie gleich sich Joey und er waren, wenn es um ihre Kaffeepräferenzen ging. Die Zeit beim Frühstück verbrachte er oft damit, auf Joeys Platz zu starren und sich vorzustellen, er wäre hier und würde mit seinem Grinsen den gesamten Raum erhellen.

 

Als er merkte, dass Mokuba mit seinem Frühstück fertig war, erhob er sich und machte sich auf den Weg zur Limousine. Seine Gesichtszüge waren völlig emotionslos, was für jeden, der ihn nicht so gut kannte wie Joey, nichts Außergewöhnliches war. Wenigstens fiel er jetzt nicht noch zusätzlich auf. Auch der Sitz im Wagen neben ihm blieb frei. Er schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie sich ihre Fingerspitzen durchgängig während der Fahrt berührt hatten, wie sie sich noch ein letztes Mal küssten, bevor sie in den Schulalltag starteten. Seto musste schmerzhaft aufstöhnen. Es waren immer die gleichen Erinnerungen, die ihn verfolgten, die alltäglichen Momente mit seinem Hündchen, die noch vor kurzer Zeit zu ihrem gewohnten Leben dazu gehörten und die er doch nicht genug zu schätzen gewusst hatte.

 

Die Limousine kam zum Stehen und ihm wurde die Tür aufgehalten, damit er aussteigen konnte. Es war ein sonniger Tag, und durch den Schlafmangel war das fast unerträglich für ihn, weshalb er sich angewöhnt hatte, eine Sonnenbrille zu tragen. Dann konnte man zumindest auch seine tiefen Augenringe nicht mehr so stark erkennen. Müßig setzte er sich in Bewegung, um in die Klasse zu gehen – ein erneuter Tag, den er ohne den Blonden verbringen würde, und damit ein weiterer Tag in einer langen Liste von Tagen, die ihm absolut sinnlos erschienen.

 

So ganz stimmte das natürlich nicht, denn auch Joey ging zur Schule, sie waren ja sogar in derselben Klasse. Aber er ignorierte ihn gekonnt, genauso wie der Rest des ‚Kindergartens‘, und genau das war auch das Problem. Mit wüsten Beschuldigungen, Beschimpfungen, Beleidigungen, ja selbst mit roher Gewalt hätte er umgehen können, aber einfach links liegen gelassen zu werden und so zu tun, als existierte er gar nicht mehr, das traf ihn am meisten. Mit dieser Situation konnte er gar nicht umgehen. 

 

Er hielt sich im Hintergrund, und wann immer er konnte, flüchtete er aus dem Klassenzimmer. Er ertrug Joeys Bild nicht. Von seinem sonst so energiegeladenen Hündchen war nicht mehr als ein Häufchen Elend übrig geblieben. Er hatte ihn die letzte Woche nicht ein einziges Mal lachen sehen, und er wusste, das war seine Schuld. Er hatte ihm die Lebensgeister ausgesagt, und der Hass auf sich selbst wurde nur noch stärker.

 

Und als er da so auf seinem Stuhl saß, in ihrem Klassenzimmer, und den Blonden so lethargisch weiter vorn sitzen sah, da wusste er, dass er alles tun würde, um ihn wieder glücklich zu sehen, ihm das Lachen zurückzugeben. Und wenn das nur ohne ihn ging, dann musste er das akzeptieren. Dieser Gedanke ließ jede einzelne Faser seines Körpers schmerzen, aber er würde einfach alles für ihn tun.

 

Es war erst die zweite Schulstunde des Tages, aber Seto konnte nicht mehr. Er musste hier raus, bevor er noch vor der ganzen Schulklasse zusammenbrach. Die Schmach würde er sich gern ersparen wollen. Also packte er seine Tasche und stand mitten im Unterricht auf, machte Anstalten, den Klassenraum zu verlassen. Das führte offensichtlich zu einiger Verwirrung, nicht nur von Seiten der Schüler, sondern auch ihrer Lehrerin. 

 

„Mr. Kaiba, darf ich fragen, wo Sie hinwollen?“, fragte sie ihn und er blieb für eine Sekunde an der Tür stehen, die Hand schon an der Klinke, die Sonnenbrille in der freien Hand. Er drehte sich so, dass er Joey aus dem Augenwinkel heraus sehen konnte, aber unauffällig genug, damit niemand sonst es merkte – und erkannte, wie dieser gedankenverloren aus dem Fenster sah und ihn keines Blickes würdigte. Er seufzte, setzte sich die Sonnenbrille auf und verließ den Raum, ohne die Frage der Lehrerin zu beantworten. Gerade rechtzeitig, bevor sich eine einsame Träne den Weg über seine Wange bahnen konnte.

 

In der Villa angekommen, war er unschlüssig, wo er hingehen sollte. Es gab keinen Ort, der ihn nicht an Joey erinnerte. Überall war seine Präsenz noch zu spüren, auch wenn er schon seit einer Woche weg war. Schlussendlich war es auch egal, wohin er gehen würde. Er wäre dumm zu glauben, er könnte den Gedanken an diese goldbraunen Augen einfach abschütteln, nur weil er an einem Ort war, der noch nicht von Joey berührt worden war. Also entschied er sich für sein Büro, auch wenn er die meisten seiner Aufgaben der letzten Woche delegiert hatte. Er gab nur ungern die Kontrolle ab, insbesondere, was seine Firma betraf, aber er hatte das Gefühl, in diesem Zustand einfach nicht zurechnungsfähig zu sein. Sich jetzt mit Geschäftspartnern oder Anwärtern dafür zu treffen, wäre absurd und würde nur mehr Fragen aufwerfen, als es zu Lösungen führen würde.

 

Er erwachte erst wieder aus seinem Dämmerzustand, als er merkte, dass die Sonne längst untergegangen war. Wie spät war es wohl jetzt? Hatte Mokuba schon zu Abend gegessen? Nicht, dass er selbst viel runterbekommen hätte, aber Mokuba war noch im Wachstum, es war wichtig, dass er genug aß. Was ihn selbst betraf, so war es ihm gerade ziemlich egal, ob das langfristige Folgen haben würde. Er konnte momentan sowieso nicht weiter denken als bis zur nächsten Stunde, und immer wieder quälte ihn dieselbe Frage: Wie sollte er es nur schaffen, bis dahin zu überleben, ohne Joeys Stimme zu hören?

 

Als das Licht eingeschaltet wurde, musste Seto sich schützend die Hände vor die Augen halten, damit sie sich langsam an die plötzliche Helligkeit gewöhnen konnten. „Hier steckst du, Seto“, hörte er Mokuba anklagend sagen. Er hatte schon seinen Schlafpyjama an. So spät war es also schon?

 

„Mokuba, du solltest doch schon längst im Bett sein.“ Mehr fiel ihm nicht ein, und das war ein einigermaßen unverfänglicher Satz, doch seinen Bruder schien das nicht zufriedenzustellen. Er sah, wie der Kleinere die Augenbrauen wütend zusammenzog und mit energischen Schritten auf ihn zu stampfte.

 

Er stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab und fragte ihn zu ihm vorgelehnt: „Hast du was gegessen, Seto?“

 

Mal überlegen, hatte er? Wenn er schon darüber nachdenken musste, war es wohl ziemlich unwahrscheinlich. „Ich glaube nicht, nein“, antwortete er wahrheitsgemäß, was ihm einen erneuten bösen Kaiba-Blick des Jüngeren einbrachte.

 

Plötzlich hob Mokuba beide Hände an, nur um sie anschließend mit voller Wucht zurück auf den Schreibtisch zu befördern und mit erhobener Stimme von sich zu geben: „So kann es nicht weitergehen, Seto! Du siehst beschissen aus, und das ist noch maßlos untertrieben.“

 

Seto sah seinem Bruder ausdruckslos in die Augen und zuckte mit den Schultern. „Habe ich denn eine Wahl? Ich habe nicht das Gefühl, irgendwas tun zu können. Er wird nicht wieder zu mir zurückkehren, Mokuba.“ Seto spürte, wie seine Augen wieder leicht feucht wurden, aber er schaffte es gerade noch so, die aufsteigenden Tränen wieder versiegen zu lassen.

 

„Ist das so? Hast du es denn die letzte Woche überhaupt versucht?“

 

„An dem Abend, an dem er gegangen ist, ja. Und er hat mir klar gemacht, dass er mich hasst.“ Die Erinnerung daran brachte auch den ganzen Schmerz zurück, und es fiel ihm schwer, das auszuhalten.

 

„Und danach? Mann, Seto, du gibst doch sonst nicht so leicht auf! Was ist nur los mit dir?!“

 

Er betrachtete Mokuba nun etwas genauer. Er war wirklich richtig wütend geworden, und ganz unrecht hatte er mit dem, was er sagte auch nicht. Aber dennoch hatte Seto das erdrückende Gefühl, dass es sowieso aussichtslos war, was immer er auch versuchen würde.

 

Erschöpft seufzte er auf. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich sehe einfach nichts, was erfolgversprechend wäre.“

 

Mokuba setzte sich auf den ‚Besucherstuhl‘ vor seinem Schreibtisch und verschränkte die Arme vor dem Körper. Man konnte ihm ansehen, dass er scharf nachdachte. Doch dann schien ihm eine Idee zu kommen.

 

„Das ist jetzt nicht wahnsinnig konkret, aber ich glaube, du musst etwas für ihn tun, das du sonst für noch niemanden getan hast. Nicht mal für mich. Irgendwas, das ihm noch ein Stück mehr von dir offenbart, etwas, das er noch nicht von dir kennt oder weiß. Zumindest aus meiner Sicht könnte das ein sehr guter Beweis dafür sein, dass du es wirklich ernst meinst. Weil du dich damit ja auch angreifbar machen würdest, was im krassen Gegensatz zu deinem eigentlichen Plan stehen würde.“

 

„Und was soll das sein? Er kennt mich besser als jeder andere Mensch, Mokuba. Er kennt schon Seiten an mir, die du nicht kennst.“ Er war erstaunt über seine eigenen Worte – hatte er seinen Bruder damit verletzt? Doch dieser schien noch immer eher an einer Lösung zu feilen als das jetzt persönlich zu nehmen. War das nicht auch irgendwie logisch, dass Geschwister einen anders kannten als der Partner, und andersherum?

 

Seine Augen schweiften ab und glitten nun unfokussiert durch den Raum. Plötzlich traf sein Blick auf seinen Schreibtischkalender, und als er den roten Kreis um den nächsten Samstag erkannte, hatte er eine Idee.

 

Sein kleiner Bruder hatte das wohl mitbekommen und ihm das im Gesicht ablesen können. Doch statt Fragen darüber zu stellen, welcher Einfall Seto gekommen war, nickte er ihm nur zu und fragte dann: „Was kann ich tun?“

 

Das war eine ausgezeichnete Frage, denn um diese Idee auch wirklich in die Tat umzusetzen, mussten sie Joey dazu kriegen, dass der in ein Auto mit ihm stieg und sich von ihm stundenlang durchs Land fahren ließ. Aber es war ein erster Anhaltspunkt, und zum ersten Mal seit einer Woche hatte er das Gefühl, wieder ein ganz kleines bisschen Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Und er hatte Hoffnung, darauf, dass er diese goldenen Augen noch mal sehen durfte und dann vielleicht alles gut werden würde – oder er für immer untergehen würde.

 

~~~~

 

Auch jetzt noch verfolgten seine eisblauen Augen Joey, wohin er auch ging, ob Seto nun anwesend war oder nicht. Seit Seto vor zwei Tagen mitten in einer Schulstunde das Klassenzimmer verlassen hatte, war es sogar noch schlimmer geworden. Wie sehr er auch versuchte, sich dagegen zu sträuben – er vermisste ihn. Oder besser gesagt, er vermisste die Version, die er ihm vorgespielt hatte, bevor er aufgeflogen war.

 

Als Joey Yugi die Situation erklärt hatte, hatte dieser sehr viel Verständnis gezeigt und ihm angeboten, so lange zu bleiben wie er wollte, und Joey hatte es dankend angenommen, schon aufgrund mangelnder Alternativen. Die letzte Woche war hart für ihn gewesen und er hatte sich sehr zurückgezogen, vor seinen Freunden und vor so ziemlich allem und jedem in der restlichen Welt da draußen. Heute Abend wäre das erste Mal, dass er wieder im Café arbeiten gehen würde, aber er hatte nur eine kurze Schicht und wäre für das Abendessen bei den Mutos wieder zurück. Das wäre der erste Abend, wo er sich der Außenwelt wieder ein bisschen öffnen würde, auch wenn er sich innerlich tot fühlte.

 

Er war immer wieder erstaunt darüber, wie wenig er gerade tun konnte, ohne an den Brünetten zu denken. Er bekam kaum etwas zu Essen runter, weil er sich daran erinnert fühlte, wie sie immer zusammen gegessen hatten. Kaffee hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr angerührt, aus so ziemlich demselben Grund. Und trotz der Tatsache, dass er hier bei Yugi das Gästezimmer bewohnte, das absolut nichts gemein hatte mit seinem Apartment bei den Kaibas, fühlte sich das Bett, in dem er schlief, kalt an ohne seinen Drachen an seiner Seite.

 

Seufzend stand er aus dem Bett auf und machte sich bereit für einen erneuten Schultag, der ihm wahnsinnig nutzlos vorkam. Er hatte nichts mehr, worauf er sich freuen konnte, und seit Seto nun wohl auch beschlossen hatte, nicht mehr zur Schule zu kommen, fühlt es sich nur noch sinnbefreiter an. Wenigstens stand die Golden Week bevor, sodass sie ab morgen für einige Tage schulfrei hatten. Auch wenn er überhaupt nicht wusste, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Vielleicht würde er um eine Extraschicht im Café bitten, damit er wenigstens irgendwas zu tun hatte.

 

Am Nachmittag begann seine Schicht im Café und er versuchte mit aller Kraft, zumindest den Ansatz eines Lächelns hervorzubringen, aber wenn er seinen Kollegen so ins Gesicht sah, konnte er nur stark vermuten, dass ihm das wenig gelang. Wie automatisiert ging er seiner Arbeit nach, musste aber feststellen, wie sehr das an seinen Kräften zehrte, und dabei waren seine Energiereserven doch schon vollständig aufgebraucht.

 

Er konnte es einfach nicht verleugnen, so sehr er es auch versuchte. Seto fehlte ihm. Noch immer klammerte sich ein Teil von ihm an die Hoffnung, dass er den wahren Seto Kaiba gesehen hatte und dass seine Worte wahr waren, die er gesagt hatte, als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Obwohl Joey in ihrer Beziehung schon oft Tränen vergossen hatte, so hatte er Seto selbst noch nie weinen sehen, und er konnte sich auch kaum vorstellen, dass andere das von sich behaupten könnten. Wahrscheinlich hatte er selbst vor Mokuba nur selten geweint, wenn überhaupt. War das ein Zeichen dafür, dass Seto ihm schlussendlich doch die ganze Wahrheit eröffnet hatte?

 

Es war der schwerste Abend in seinem gesamten Leben gewesen, als er ihn verlassen hatte. Während seiner letzten Worte an ihn konnte er den Schmerz überall fühlen, und diesen nicht nach außen dringen zu lassen, kostete ihn seine gesamte, verbleibende Kraft. Kaum hatte er die Villa verlassen, war er auf dem Boden zusammengebrochen und hatte allen Tränen freien Lauf gelassen, die er so krampfhaft unterdrückt hatte. Selbst jetzt noch, nur bei der Erinnerung daran, zitterte er am ganzen Leib. Er war der Sinn in seinem Leben gewesen, und nun war er fort.

 

Der andere Teil von Joey verurteilte sich selbst aufs Äußerste dafür, dass er noch immer hoffte, zu glauben wagte, was Seto ihm erzählt hatte. Dass er ihm seine erneuten Lügenmärchen abkaufte. Er war offensichtlich nicht mehr ganz bei Trost. Wer auch nur ein Fünkchen Intelligenz besaß, würde nach so einem großen Betrug keinen Gedanken mehr an so einen Verräter verschwenden.

 

Joey seufzte hörbar auf. Er konnte es einfach nicht verhindern, beide Seiten – die der Hoffnung und die der Verachtung für Seto – existierten in ihm und kämpften eine erbitterte Schlacht. Allerdings stand der Gewinner noch nicht fest.

 

Die Glocke an der Tür, die einen neuen Kunden ankündigte, wenn dieser das Café betrat, klingelte, und Joey drehte sich um, um den Neuankömmling wie gewohnt höflich zu begrüßen. „Willko...“ Weiter kam er nicht, als er sah, wer da gerade reinspaziert war. Was wollte Mokuba denn hier?

 

Für einige Sekunden sahen sie sich nur in die Augen, dann kam Mokuba auf ihn zu und begann das Gespräch, während er die Sorgenfalten in seinem Gesicht nicht verbergen konnte. „Hey, Joey, entschuldige, dass ich hier einfach unangekündigt bei deiner Arbeit auftauche. Hättest du nach Feierabend Zeit, um zu reden?“

 

Joey war ein wenig überfordert mit der Situation und sein Blick glitt nach draußen. „Keine Sorge, er ist nicht hier“, ergänzte Mokuba, und Joey konnte ein verständnisvolles Lächeln bei dem Kleineren entdecken. Er seufzte und knickte ein. Ein Gespräch mit Mokuba würde er schon irgendwie überleben. Außerdem war er ein Kaiba – er würde ihm dieses Gespräch womöglich sowieso einfach aufdrängen.

 

Um 18.30 Uhr machte Joey Schluss und trat hinaus in den Abend, wo Mokuba schon auf ihn wartete. Sie nickten sich zur erneuten Begrüßung zu und liefen zunächst einige Meter schweigend nebeneinander, irrten einfach zusammen durch die Straßen der Stadt.

 

Joey steckte seine Hände in seine Jackentaschen und schaute auf in den Himmel, dann fragte er: „Hast du es gewusst?“ Mokuba würde nicht nachfragen müssen, worum es hier ging, der Blonde hielt ihn für clever genug, das auch so zu verstehen. Er wurde nicht enttäuscht, denn der jüngere Kaiba-Bruder konnte ihm folgen.

 

Er hörte Mokuba ein Mal tief durchatmen, bevor er sagte: „Ja, ich habe es gewusst. Von Anfang an, ehrlich gesagt. Da habe ich Seto noch versucht, von dem Plan abzubringen, aber er war sehr überzeugt davon gewesen, zumindest ganz zu Beginn. Das hat sich dann ziemlich schnell geändert.“

 

Joey wusste nicht so richtig, was er mit diesem Wissen nun anfangen sollte. Dass Mokuba es gewusst, es aber nicht für nötig erachtet hatte, ihn einzuweihen, schmerzte ihn, sehr sogar. Er hatte auch ihm vertraut und hatte nun das Gefühl, von beiden Kaibas reingelegt worden zu sein.

 

Das konnte man ihm wohl offensichtlich sehr deutlich im Gesicht ablesen, und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Mokuba ihn intensiv von der Seite beobachtete und eine Reaktion abwartete. Dann wandte er seinen Blick wieder ab und fing erneut an zu reden.

 

„Und als ihr mir dann offiziell von eurer Beziehung erzählt habt, da habe ich Seto damit konfrontiert. Habe ihm vorgeworfen, dass er dich nur verletzen will und sein Plan dann ja jetzt aufgegangen war. Du hättest seinen Blick sehen sollen, Joey. Ich hab‘ ihn ehrlich gesagt noch nie so fassungslos erlebt.“

 

Fassungslos? Wieso denn das? Joey ärgerte sich über sich selbst, aber er hatte es in seinem Leben nur selten geschafft, dass sein Verstand über seine Neugierde siegte, und auch in diesem Fall konnte sein Kopf keinen Punkt erzielen. Fragend sah er Mokuba an, der verstand und weiter erzählte.

 

„Er hatte mir dann erklärt, dass er schon sehr lange nicht mehr an diesen Plan gedacht hatte. Er hatte es mir nicht in aller Deutlichkeit so gesagt, vielleicht war er sich dessen damals selbst noch nicht bewusst, aber es war ganz offensichtlich, wie verliebt er in dich war. Das ist er noch. Er ist absolut vernarrt in dich. Er isst nichts, rührt nicht mal mehr seinen Kaffee an, und schlafen tut er augenscheinlich auch überhaupt nicht.“

 

Joey konnte die aufrichtige Sorge für seinen großen Bruder deutlich in seinem Gesicht ablesen. Erstaunlich eigentlich, wie sehr sich ihre Gewohnheiten ähnelten, selbst jetzt noch, wo sie doch gar nicht mehr zusammen waren. Sie gingen mit dem Kummer wohl ziemlich gleich um, das war schon fast unheimlich. Ein wohliger Schauer überkam Joey, den er innerlich verfluchte, aber doch nicht aufhalten konnte.

 

Offensichtlich hatte Mokuba aber noch etwas mehr dazu zu sagen. „Ganz ehrlich, Joey, dieser Plan war von vorne bis hinten dämlich, und das habe ich ihm auch mehrmals gesagt. Und ich glaube, das hatte er auch ziemlich schnell erkannt. Er hatte mir damals erklärt, dass euer Trip ans Meer alles verändert hat und ihm danach der Plan oder der Deal ziemlich egal war. Er wollte einfach nur bei dir sein. Auch das hat sich nicht verändert.“

 

„Ach so? Und warum kommt er dann seit Tagen nicht zur Schule?“, fragte Joey und regte sich augenblicklich darüber auf, wie unübersehbar er seine Neugier zur Schau stellte. Und konnte er da ein leichtes Schmunzeln auf Mokubas Lippen erkennen?

 

„Er hat mir gesagt, dass er dich nicht unglücklich machen will und das Gefühl hat, dass er der Grund ist, warum du nicht mehr lachst. Er ist der Meinung, dass, wenn er nicht da ist, du vielleicht mal wieder lachen kannst.“

 

Mokuba blieb seufzend stehen und blickte ihm nun direkt ins Gesicht. „Joey, er hasst sich für das, was er dir angetan hat. Weil er nicht offen und ehrlich damit umgegangen ist. Er kann sich kaum noch im Spiegel anschauen. Ich erkenne ihn nicht wieder, so wie jetzt habe ich ihn noch nie erlebt. Und ganz ehrlich, ich habe nur meine Klappe gehalten, weil er mir damals nach eurem ‚Outing‘ vor mir, wenn man das so nennen will, wirklich absolut glaubhaft darlegen konnte, wie ernst er es mit dir meint.“

 

Der Blonde war verwirrt – konnte er Mokuba glauben, oder lief er damit schnurstracks in die nächste Falle? Vielleicht hing Mokuba da auch irgendwie mit drin? Er war ja schließlich auch ein Kaiba, vielleicht steckte den beiden das irgendwie in den Genen, so abgrundtief skrupellos zu sein.

 

„Joey?“ Oh, er musste wohl gerade gedankenverloren in die Gegend geschaut haben. Er sah Mokuba wieder an, und sein besorgter Gesichtsausdruck feierte ebenfalls ein erfolgreiches Comeback.

 

„Hör zu, weswegen ich eigentlich gekommen bin: Ich möchte dich bitten, dich mit Seto zu treffen. Er will dir wirklich beweisen, wie ernst es ihm ist. Und wenn du danach trotzdem nichts mehr mit ihm zu tun haben willst, wird er es akzeptieren. Aber gib ihm diese eine Chance, Joey. Er weiß selbst, dass er sie nicht verdient hat, aber er will es versuchen.“

 

Joey sah Mokuba für einige Sekunden still an. Dann stöhnte er hörbar auf. „Kann ich es mir überlegen?“ Der Kleinere nickte. „Natürlich. Meine Nummer hast du? Seto hat mir nicht genau gesagt, was er vorhat, aber er meinte, es wäre wichtig, dass ihr euch diesen Samstag trefft. Ich will keinen unnötigen Druck machen, aber vielleicht schaffst du es ja, mir morgen eine Rückmeldung zu geben? Ich weiß nicht, ob er was vorbereiten muss oder so. Ich kann natürlich absolut nachvollziehen, dass du eine Nacht darüber schlafen willst.“

 

„In Ordnung, Mokuba. Ich melde mich morgen bei dir, ja? Ich... muss jetzt in diese Richtung.“

 

Mokuba schenkte ihm zum Abschied ein freundliches Lächeln, dann war er verschwunden. Und Joey hatte keine Ahnung, was er tun sollte.

 

Zurück bei den Mutos, fand er Yugi im Esszimmer vor. Hatte er mit dem Abendessen auf ihn gewartet?

 

„Entschuldige, dass ich so spät bin, Yugi.“

 

„Kein Problem, war viel los?“ Zwei neugierige Augen waren auf ihn gerichtet. Vielleicht konnte er ihm bei der Entscheidungsfindung helfen?

 

„Ja, na ja, das auch, aber eigentlich war es, weil... ich hab‘ Mokuba getroffen.“

 

Yugi zog überrascht die Augenbrauen nach oben. „Mokuba? Wie ist das denn gekommen?“

 

Joey zog sich die Jacke aus und hängte sie über seinen Stuhl, dann ließ er sich mit einem lauten Seufzer neben Yugi nieder. „Er kam zu mir ins Café. Will, dass ich mich mit Seto treffe. Am Samstag. Scheint irgendwas Besonderes mit dem Tag auf sich zu haben, aber Mokuba konnte mir auch nichts Genaueres sagen.“

 

Yugi nickte. „Verstehe. Und willst du ihn sehen?“

 

Der Blonde legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, massierte sich für einige Sekunden den Punkt zwischen den Augenbrauen. Dann erwiderte er: „Das ist die große eine Million Dollar Frage.“

 

Yugi schien mit sich zu ringen, schien hin- und hergerissen, wie er am ehesten reagieren sollte, aber was Joey im Moment am meisten brauchte, war vollkommene Offenheit. Er hatte keine Lust, sein Leben noch komplizierter werden zu lassen, als es eh schon war, wollte klare Antworten, selbst auf die Gefahr hin, dass sie wehtun könnten.

 

„Spuck’s aus, Yugi. Was denkst du?“

 

„Ich denke, du solltest es tun. Ich hab‘ dich doch die letzten Tage gesehen, Joey. Dir geht es überhaupt nicht gut, und wenn ich Kaiba richtig analysiert habe, kann man auch nicht behaupten, dass es ihm wahnsinnig viel besser damit geht. Ich glaube, er hat sich während und durch eure Beziehung sehr verändert, genauso wie du. Und ja, vielleicht hatte er am Anfang wirklich sowas Fieses geplant, aber wenn man euch beobachtet hat, dann war es nicht schwer, zu erkennen, dass es echt war. Und bevor du jetzt was sagst, natürlich habt ihr versucht, das vor allen zu verbergen, aber vor seinen besten Freunden klappt das eben nicht ganz so gut. Zumindest für mich war es sehr offensichtlich, wie vernarrt ihr ineinander wart.“

 

Lächelnd zwinkerte Yugi ihm zu und Joey errötete leicht. Sie waren also so ein offenes Buch für seine Freunde gewesen? Trotz allem, was sein Freund ihm da gerade gesagt hatte, die Unsicherheit blieb. Er legte seine Arme vor sich ab und bettete seinen Kopf darauf.

 

„Wovor hast du Angst, Joey?“

 

„Dass ich ihm glaube. Und das alles dann irgendwann noch mal passiert. Ich will mich nicht in irgendwelchen Lügenmärchen wiederfinden. Das, was ich für ihn fühle, ist echt, Yug.“

 

Als er Yugi wieder ins Gesicht blickte, erkannte er ein wissendes Lächeln und war sofort verwirrt. Yugi lachte kurz auf, dann sagte er: „Du hast im Präsens gesprochen. ‚Was du für ihn fühlst‘ anstatt ‚was du für ihn gefühlt hast‘. Tu es, Joey. Meine Intuition sagt mir, dass es ihm genauso gehen wird.“

 

Auf Yugis Bauchgefühl konnte man sich normalerweise gut verlassen, ob im Duell oder im Alltag war eigentlich nebensächlich. Außerdem hatte er recht - seine Gefühle für Seto waren immer noch da, auch wenn sein Vertrauen gelitten hatte. Das mochte dämlich sein, nach allem, was Seto ihm angetan hatte, aber er konnte es eben nicht verhindern. Liebe verschwand nicht einfach sang- und klanglos.

 

„Du liebst ihn sehr, oder?“, fragte Yugi und Joey musste den Blick abwenden, weil er schon wieder spürte, wie ihm die ersten Tränen in die Augen schossen.

 

Er nickte zögerlich. „Ja, sehr. Mehr als mir manchmal lieb ist.“ Da spürte er eine Hand auf seinem Rücken, und als er erneut in Yugis Gesicht sah, konnte er ein aufmunterndes Lächeln wahrnehmen. Sein Freund nickte ihm zu und signalisierte ihm, dass er die richtige Entscheidung treffen würde.

 

Er holte sein Handy raus und überlegte kurz, ob er Mokuba schreiben sollte, entschied sich dann aber um. Sie mussten das zwischen sich klären, Mokuba hatte sich bestimmt nur eingeschaltet, weil er niemals eingelenkt hätte, wenn Seto direkt auf ihn zugegangen wäre. Also tippte er eine Nachricht und schickte sie sogleich ab.

 

‚Ich treffe dich Samstag. Sag mir, wann und wo.‘

 

Joey seufzte – jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Yugi recht behalten und er seine Entscheidung nicht bereuen würde.

 

Die Zeit bis Samstag verging wie im Schneckentempo. Freitag Nacht machte Joey fast kein Auge zu. Er war nervös, Seto wiederzusehen. So aufgeregt war er noch nie gewesen, wenn sie sich getroffen hatten. Er wusste, dieses Treffen würde final darüber entscheiden, wie es zwischen ihnen weitergehen würde – beziehungsweise, ob es überhaupt eine Zukunft für sie gäbe. Und genau das machte ihm Angst.

 

Sein Wecker klingelte um 6 Uhr morgens. Seto hatte ihm mitgeteilt, dass er ihn mit dem Auto bei Yugi abholen und es eine längere Fahrt werden würde, hatte aber nicht konkretisiert, wohin genau es gehen sollte, was dazu führte, dass Joey nur noch unruhiger wurde.

 

Er stand sofort auf, zog sich nach einer kurzen Katzenwäsche an und machte sich leise aus dem Haus. Zu so einer frühen Uhrzeit war noch niemand wach, also gab er sich alle Mühe, niemanden zu wecken.

 

Natürlich war er viel zu früh dran, und als er die Haustür nach draußen zur Straße öffnete, hatte er erwartet, noch niemanden sonst anzutreffen – aber da hatte er offensichtlich den Braunhaarigen unterschätzt, der mit dem Rücken zu Joey gewandt an das Auto gelehnt war. Es war noch nicht ganz hell, daher konnte Joey auch aus der Distanz gut erkennen, dass er auf sein aufleuchtendes Handydisplay sah und wild darauf herumtippte. Wohl mal wieder ein inkompetenter Mitarbeiter in der Firma? Er benötigte alles, was von seiner Selbstkontrolle noch übrig war, um darüber nicht zu schmunzeln. Das kam ihm so absurd vor, aber er konnte nichts dagegen tun.

 

Mit seinen Händen in den Jackentaschen stieg er die Treppen runter und stand nun auf dem Gehweg, direkt vor dem Auto. In diesem Moment hob auch Seto den Kopf, und für wenige Augenblicke sahen sie sich einfach nur in die Augen, keiner sagte ein Wort. Joey brach das Schweigen zuerst. 

 

„Hi, Seto.“

 

Er konnte sehen, wie Setos Augen sich augenblicklich weiteten. Ah, ja, als sie zuletzt miteinander gesprochen hatten, da hatte er ihn ja wieder bei seinem Nachnamen genannt. Es kam ihm vor, als wäre das schon Jahrhunderte her, und er hatte es ja auch nur gemacht, weil er wusste, dass es ihn verletzen würde. Innerlich seufzte Joey auf – machte ihn das nicht auch irgendwie zu einem schlechten Menschen, wenn er ihm absichtlich Schmerzen zufügen wollte?

 

„Hi, Hündchen“, erwiderte Seto mit sanfter, flüsternder Stimme. Joeys Herz setzte einen Schlag aus. Ja, er konnte es versuchen zu leugnen, aber es war sinnlos – er hatte ihn vermisst, sehr sogar.

 

Noch einmal atmete der Blonde tief durch, dann stieg er auf der Beifahrerseite ein und Seto nahm auf dem Fahrersitz platz. Die Atmosphäre war immer noch unbehaglich, und Joey wusste einfach nicht so recht, was er sagen sollte. Dann betrachtete er Seto von der Seite, als dieser sich anschnallte und den Motor startete.

 

„Du siehst echt furchtbar aus, Seto“, stellte Joey fest und konnte sich ein leises Lachen einfach nicht verkneifen. Vermutlich sah er selbst auch nicht gerade topfit aus.

 

Der Braunhaarige lächelte leicht, als er ihn mit diesen intensiv blauen Augen anschaute und erwiderte: „Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir behaupten, Joey.“ Was...? Joey war sich sehr wohl bewusst, dass er sich die letzten zwei Wochen mehr schlecht als recht ernährt und weniger Stunden Schlaf gefunden hatte, als eigentlich gesund, aber Seto fand ihn immer noch... schön? Sie waren noch gar nicht losgefahren und Joeys Herz schlug ihm schon bis zum Hals.

 

„Tut gut, dich lachen zu hören, Hündchen“, ergänzte der Größere noch, während er das Auto ausparkte und sie losfuhren. Joey spürte, wie er ein wenig anfing, zu zittern – vor Freude? Er stellte es nun schon zum wiederholten Male fest, wie sehr er ihm gefehlt hatte. Er hoffte so sehr, dass er heute die Bestätigung bekommen würde, die er brauchte, dass sie beide noch eine Chance haben würden – ansonsten würde ihn das brechen, dessen war er sich sicher. Trotz allem durfte er sich da jetzt nicht Hals über Kopf reinstürzen, er musste vorsichtig sein, nicht, dass er am Ende doch nur wieder gnadenlos manipuliert wurde.

 

„Wohin fahren wir?“, fragte Joey nun neugierig, angestachelt von den offenen Worten von Seto, die ihm den Mut gaben, die Konversation aufrecht zu erhalten.

 

„Das wirst du sehen, wenn wir da sind. Ich sage nur so viel – es wird eine ziemlich lange Fahrt. Wir fahren in die Nähe von Nagano, in die Berge. Das wird ungefähr drei Stunden dauern, also wenn du etwas schlafen willst, mach das gern.“

 

Schlafen? Als ob daran jetzt zu denken wäre! Joey sah sich im Auto um und konnte auf der Rückbank etwas entdecken, was seine Neugierde – mal wieder – vollkommen geweckt hatte.

 

„Sind das Blumen?“

 

Setos Blick blieb weiter auf der Straße, aber er konnte ihn nicken sehen. „Ja, aber keine Sorge, die sind nicht für dich. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ich dich mit einem einfachen Blumenstrauß überzeugen kann, zu mir zurückzukommen.“ Ein leichtes Lächeln legte sich über seine Lippen. Joey wurde noch wahnsinnig von seinen eigenen Gefühlen! Er fand ihn einfach wunderschön, wenn er so lächelte, für ihn. Auch wenn er das einfach nicht mehr wollte, er war machtlos.

 

„Und für wen sind die dann?“

 

„Auch das wirst du sehen, wenn wir da sind. Ich weiß, dass das jetzt vermutlich total dämlich klingt, aber – vertrau mir.“

 

Ja, ein bisschen bescheuert klang das schon, da musste er Seto zustimmen. Aber irgendwas musste aus dem Größeren doch rauszukriegen sein!

 

„Kannst du mir nicht irgendeinen Anhaltspunkt geben? Irgendeine Information, mit der ich was anfangen kann?“

 

„Neugierig wie eh und je, hm?“ Seto lachte. „Also, das Einzige, was ich jetzt schon bereit bin, dazu zu sagen, ist, warum wir dort hinfahren. Mokuba hat mich auf die Idee gebracht, ehrlich gesagt, aber auch er weiß nicht, wohin wir fahren. Er hat den Vorschlag gemacht, dass ich etwas mit dir teile, was ich sonst mit noch niemandem geteilt habe. Und das habe ich nicht, noch nicht mal mit Mokuba. In noch keinem Jahr, seitdem...“

 

„Seitdem?“ Joey war jetzt noch verwirrter als vorher.

 

„Tut mir leid, vermutlich werfe ich mehr Fragen auf, als ich beantworte, oder? Du wirst alles verstehen, sobald wir da sind.“

 

Joey seufzte auf. Mehr würde er nicht aus ihm rausbekommen, dafür kannte er ihn mittlerweile gut genug. Er lehnte seinen Kopf an die Fensterscheibe und sah zu, wie die Sonne langsam aufstieg und den neuen Tag ankündigte, während Seto sie gekonnt aus der Stadt rausbeförderte.

 

„Hey, Joey, aufwachen, wir sind da.“ Er spürte eine Hand an seiner Wange, und noch immer im Halbschlaf drückte er sich der Berührung entgegen. Als er die Augen öffnete, war Setos Gesicht nahe seinem, und diese blauen Augen machten ihn jetzt schon total wahnsinnig. Setos Blick war so sanft, dass er seinen nicht abwenden konnte. Erstaunlich, dass er überhaupt hatte schlafen können, vermutlich hatte er gerade mehr Stunden Schlaf bekommen als die letzten paar Nächte zusammen. Aber allein, dass Seto da war, beruhigte ihn oft so ungemein, dass er schnell einschlief. Joey seufzte. Er hatte sich vorgenommen, möglichst neutral an das Treffen ranzugehen, aber hier lief mal überhaupt nichts nach Plan.

 

Joey konnte sehen, wie Sehnsucht in Setos Augen aufblitzte, aber er hielt sich zurück. Beide stiegen aus und Joey wurde von kühler Bergluft begrüßt, und die Aussicht war atemberaubend. Als er sich zu Seto umdrehte, sah er, dass er ihn unablässig beobachtete, ihm aber Zeit gab, sich umzuschauen.

 

Und während er genau das tat, holte Seto die Blumen von der Rückbank und einen großen Rucksack aus dem Kofferraum, den er sich auf den Rücken schnallte.

 

„Was ist da drin?“, fragte Joey interessiert, aber Seto lächelte nur als Erwiderung. Dann machten sie sich los und liefen einen schmalen Kiesweg entlang. Joey stellte fest, wie rein und klar die Bergluft war, wenn auch kühler als in der Stadt, und auch der Himmel trug mehr Wolken, aber das sollte ihm nur recht sein. Er hatte sich extra eine etwas dickere Jacke angezogen – ablegen konnte man ja immer was, aber frieren wollte er nicht unbedingt, und da er nicht gewusst hatte, wohin genau sie fahren würden, hatte er sich für alle Eventualitäten gewappnet.

 

Plötzlich entdeckte Joey etwas aus der Ferne. War das... ein Friedhof?

 

„Seto? Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ Der Größere, der ein paar Schritte vor ihm gelaufen war, drehte sich zu ihm um und nickte ihm bestätigend zu. Also setzte auch Joey den Marsch fort, konnte sich aber noch immer keinen Reim darauf machen, warum sie hier waren.

 

Doch Seto schien genau zu wissen, wohin sie gehen mussten. Zielstrebig steuerte er sie beide über den Friedhof, bis er gefunden zu haben schien, wonach er gesucht hatte. Sie blieben vor einem größeren Grab stehen, das sehr gut gepflegt wurde. Es gab zwei Grabsteine aus schwarzem Marmor und die Grabfläche war wunderschön bepflanzt worden. An der Seite stand eine Vase, die Seto in die Hand nahm und offensichtlich nach einem Wasserhahn Ausschau hielt, als ein älterer Mann auf ihn zukam.

 

„Guten Morgen, Mr. Kaiba. Schön, Sie wiederzusehen. So schnell vergeht das Jahr, was?“ Seto drehte sich zu dem Mann um, der augenscheinlich der Friedhofswärter war, und begrüßte ihn ebenfalls mit einem, zumindest für Kaiba-Verhältnisse, freundlichen Nicken.

 

„Macht es Ihnen etwas aus, dafür zu sorgen, dass wir ungestört sind?“, bat Seto. Der Friedhofswärter legte den Kopf schief und grinste. „Selbstverständlich. Lassen Sie mich das mit dem Wasser machen.“ Dann entfernte er sich kurzzeitig, nur um Seto wenig später die Vase mit frisch befülltem Wasser zu überreichen, der dann die mitgebrachten Blumen reinstellte und die Vase zurück an ihren Platz brachte.

 

Dann kramte er eine Decke aus seinem Rucksack, die er vor das Grab legte, auf ein Stück freie Wiese. Er bedeutete Joey, sich zu setzen, der noch immer nur Bahnhof verstand. Aber er konnte irgendwie fühlen, dass das für Seto bedeutsam war, also passte er sich seinem Tempo an. Er würde es schon früh genug verstehen.

 

Sie nahmen auf der Decke Platz und es herrschte einen Moment Stille. Joey versuchte, irgendwie aus Setos Blick schlau zu werden, aber er hatte eine undurchdringliche Miene aufgesetzt und starrte auf die beiden Gräber vor ihm, so als ob er nicht wusste, wie er anfangen sollte. Dann atmete er tief durch und begann zu sprechen, und schon nach seinen ersten Worten verschlug es Joey den Atem.

 

„Hi, Mum, hi, Dad.“

 

Joeys Augen weiteten sich gefühlt ins Unermessliche. Mum? Dad? Seine... richtigen Eltern?

 

Setos Miene wurde weicher, als er Joeys Hand nahm, aber seinen Blick noch immer nach vorn gerichtet hatte. Joey war so perplex, dass er überhaupt nicht reagieren konnte. Er ließ es einfach geschehen.

 

„Ich bin heute das erste Mal nicht allein hier. Na, wer von euch hätte gedacht, dass das mal passieren würde?“ Seto lachte so warm, dass Joeys Herz einen Sprung machte.

 

„Das hier ist Joey. Ich glaube, ich habe euch irgendwann schon mal von ihm erzählt. Wir sind Klassenkameraden, und früher ging er mir ganz schön auf den Geist. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie sehr.“

 

„Hey!“, rief Joey aus einem Impuls heraus und hatte das Gefühl, damit eine intime Konversation gestört zu haben. Aber als Seto ihn dann für einen Moment ansah, mit diesem unheimlich liebevollen Blick, da schmolz er dahin und konnte nicht anders, als den Händedruck nun auch zu erwidern. Er konnte das Erstaunen darüber in Setos Augen aufflackern sehen, dann verstärkte der Braunhaarige den Händedruck noch etwas und behielt sein Lächeln bei.

 

„Wie auch immer, das hat sich verändert. Sehr. Mum, Dad, ich liebe ihn. Mehr als ich je irgendwas oder irgendwen geliebt habe.“

 

Seto richtete seinen Blick nun vollständig auf Joey, während er die nächsten Worte an seine verstorbenen Eltern richtete. „Ich habe viele Fehler gemacht, und vermutlich werden noch sehr viele mehr folgen. Er ist die erste Person, bei der ich so fühle, wie ich es tue, und er wird die Letzte sein. Ich werde jeden Tag dafür kämpfen, seine Liebe zu verdienen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich will für ihn der Mensch sein, der es wert ist, von ihm geliebt zu werden. Und dafür tue ich alles.“

 

Joeys Augen weiteten sich und er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Diese ganze Situation war so surreal und doch zeitgleich so atemberaubend schön. Seto nahm Joeys Hand und führte seinen Handrücken an seine Lippen, gab ihr einen ganz zärtlichen Kuss, und Joey hatte das Gefühl, dass sein Herz gleich explodieren würde.

 

Eine Weile lang saßen sie schweigend zusammen, noch immer Hand in Hand. Seto schien hier keine Angst zu haben, beobachtet zu werden, aber der Friedhofswächter hatte ja auch gesagt, dass er ihnen Ruhe verschaffen würde. Dieser war selbst auch nirgends zu sehen, außerdem war es noch immer früh am Morgen.

 

Joey gingen eine Million verschiedene Fragen durch den Kopf, und er wusste nicht so recht, wo er anfangen sollte. Da kam ihm Seto zuvor.

 

„Meine Eltern sind gestorben, als ich neun war, da war Mokuba gerade mal vier. Er kann sich nicht gut an sie erinnern, ich hingegen schon. Von Gozaburo adoptiert wurden wir, als ich zwölf war.“

 

Joey hatte sehr lange darauf gewartet, mehr über das Leben vor Setos Adoption zu erfahren, und sein Wunsch schien heute in Erfüllung zu gehen. Schon jetzt spürte er Dankbarkeit in sich aufkommen, die all die Wut und Verzweiflung der letzten zwei Wochen vollkommen zunichtemachte.

 

„Erzählst du mir von ihnen?“, fragte er vorsichtig und nahm nun auch Setos zweite Hand in sein.

 

Seto lächelte leicht und Joey konnte sehen, dass er gedanklich in Erinnerungen abschweifte, als er anfing, zu erzählen.

 

„Ihre Namen waren Riku und Yui Kojima. Bevor wir adoptiert wurden, hieß ich also Seto Kojima. Meine Mum war Lehrerin für Mathematik an einer Oberschule, mein Dad war promovierter Physiker.“

 

„Oh, also wurde dir deine Intelligenz tatsächlich schon in die Wiege gelegt.“ Ups, hatte er das gerade laut gesagt? Setos Grinsen nach zu urteilen war das der Fall, was Joey ein wenig erröten ließ.

 

„Vielleicht, das hatte aber nicht nur gute Seiten. Manchmal waren sie totale Dickschädel und einfach zu verkopft. Von ihrer Arbeit her waren sie es nicht anders gewohnt, als logisch zu denken.“

 

„Ja, da erkenne ich weitere Parallelen“, warf Joey grinsend ein, dieses Mal aber mit voller Absicht, und Seto erwiderte es.

 

„Wobei meine Mum als Lehrerin noch etwas sozialer ausgerichtet war. Sie war unglaublich fürsorglich, manchmal auch überfürsorglich, aber welches Kind würde das wohl nicht über seine Mutter sagen. Zumindest habe ich das immer angenommen, auch wenn ich keine Vergleichswerte habe. Sie war der emotionale Teil meiner Eltern, während mein Dad noch stärker rational dachte. Das heißt, wenn man was Süßes wollte, ging man am besten zu Mum.“ 

 

Joey bedachte Seto mit einem liebevollen Lächeln. Er spürte, wie die Seite in ihm, die Seto verachten wollte, langsam zur Startlinie zurückgedrängt wurde. Es sah alles danach aus, als würde sie den Kampf verlieren, aber noch war dieser nicht vorbei, die Stimme in Joeys Kopf, die ihn warnen wollte, nicht alles zu glauben, was er hörte, war noch immer da.

 

Dennoch – Joey konnte nicht anders und rückte näher an Seto heran. „Das klingt, als wären sie zwei wunderbare Menschen gewesen und als hätten sie euch sehr gut behandelt.“

 

Seto nickte. „Das haben sie, und das waren sie. Bis sie plötzlich nicht mehr da waren.“ Er nahm zur Kenntnis, dass Seto versuchte, es zu verstecken, aber die Traurigkeit in seiner Stimme und seinen Augen war nicht zu übersehen, zumindest nicht für Joey. Der Blonde rutschte noch ein wenig näher, sodass sich nun auch ihre Beine berührten. Er wollte die Frage nicht laut aussprechen, die ihm auf der Zunge lag, weil er Angst hatte, er würde damit zu weit gehen, aber Seto schien ihn wie so oft auch ohne Worte zu verstehen.

 

„Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben. Eigentlich ein ziemlich klassischer Fall. Ein Betrunkener ist ihnen in die Seite reingefahren und sie sind von der Fahrbahn abgekommen, haben sich einige Male überschlagen und hatten keine Chance. Sie alle drei nicht.“

 

Seto schien sich im ersten Moment gar nicht darüber bewusst zu sein, was er da gerade gesagt hatte. Erst, als er Joeys Blick sah, der ihn nicht nur sorgenvoll, sondern auch mit Fragezeichen in den Augen betrachtete, realisierte er wohl, dass er da eine wichtige Sache noch nicht erklärt hatte.

 

„Meine Mum war hochschwanger. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, war es nicht mehr lang bis zum Geburtstermin, maximal einige wenige Wochen. Es sollte ein Mädchen werden, aber auch sie hat es nicht überlebt.“ Joey verstärkte den Händedruck, bevor er fragte: „Wie war ihr Name?“

 

Überrascht blickte Seto auf. „Ist das wichtig?“

 

Daraufhin nickte der Blonde energisch. „Natürlich. Sie war deine Schwester, oder? Nur, weil sie noch nicht geboren war, heißt das ja nicht, dass sie nicht existiert hat.“ Seto schien zunächst sprachlos zu sein. Dann hob er eine Hand an Joeys Wange und streichelte sie sanft, und es lag so viel Zuneigung in der Berührung, dass Joey alles davon in sich aufsaugte. Ein Teil von ihm wollte sie wegschlagen, sich distanzieren, um sich selbst zu schützen, aber so, wie Seto sich gerade, metaphorisch gesprochen, nackt machte, so fielen auch in langsamen Schritten Joeys Mauern in sich zusammen.

 

„Sakura. Ihr Name war Sakura.“ Joey schloss die Augen und erlaubte sich, das Gefühl seiner warmen Hand auf seiner Wange zu genießen, zumindest für einen kurzen Augenblick. Dann drückte er seine eigene Hand dagegen, öffnete die Augen wieder und sagte behutsam lächelnd: „Wunderschön.“ Und Joey konnte nicht sagen, ob er damit ausschließlich den Namen oder auch Seto gemeint hatte.

 

Plötzlich zog Seto ihn in eine Umarmung, schlang seine Arme fest um ihn, sodass Joey nun zur Hälfte auf seinem Schoß saß, sein Kopf an Setos Brust, dessen Herz er heftig dahinter schlagen hören konnte. Sein eigenes würde da auf jeden Fall auch mithalten können.

 

Ohne sich voneinander zu lösen, fragte Joey: „Und warum liegen deine Eltern hier auf genau diesem Friedhof begraben?“

 

Seto lockerte die Umarmung ein wenig und strich Joey sanft eine Haarsträhne hinters Ohr. „Weil wir hier in der Nähe gewohnt haben. Ich bin hier aufgewachsen, bis sie gestorben sind und wir in ein Waisenhaus weiter weg von zuhause kamen.“

 

„Und warum war es so wichtig, dass wir heute fahren?“

 

„Weil es ihr Todestag ist, auf den Tag genau. Ich komme jedes Jahr hierher. Allerdings immer allein. Es wusste auch niemand, nicht mal Mokuba, dass ich das jedes Jahr mache, wenn man mal vom Friedhofswärter absieht. Aber heute hat sich das geändert. Wie so vieles, seit du in meinem Leben bist.“

 

Dann legte Seto seine Stirn an die von Joey und sie saßen einfach für einige Minuten schweigend beieinander, hingen ihren Gedanken nach. Joey konnte nicht glauben, was Seto da gerade mit ihm geteilt hatte. Es war wieder etwas, das er niemandem sonst bisher anvertraut hatte, und Joey fühlte sich nicht zum ersten Mal besonders und wertvoll. Und Joey spürte, wie nun auch der klägliche Rest der Stimme in seinem Kopf versiegte, die ihm zurief, er könnte Seto nicht vertrauen. Der Braunhaarige hatte ihm seine ganze Welt zu Füßen gelegt mit dem, was er ihm heute alles erzählt hatte. Und wenn Seto ihn wieder und wieder verletzen würde, dann musste Joey das Risiko eingehen. Vielleicht war es auch gerade diese bittersüße Koexistenz von Schmerz und Liebe, die ihre Beziehung erst so intensiv machte. Was immer es war – es gab kein Zurück mehr. Er brauchte ihn, wie er nichts anderes brauchte.

 

Seto löste sich von ihm und sagte: „Ich habe noch etwas, das ich dir zeigen will. Es ist sogar ein Geschenk, wenn du es denn haben willst.“ Joeys Neugierde wurde sofort wieder getriggert und er war gespannt darauf, was Seto vorhatte. Er holte sein Telefon raus und Kopfhörer, von denen sie sich jeweils einen in ihre Ohren steckten.

 

„Was du gleich sehen wirst, ist ein Video, das ich erst kürzlich habe digitalisieren lassen.“ Und schon als Seto das Video startete, bekam Joey feuchte Augen – es zeigte den kleinen Seto, wie er glückselig im Haus herum hüpfte.

 

„Mama, Mama, guck mal, ich kann einen Handstand!“

 

„Pass auf, mein Schatz, nicht, dass du dir noch weh tust.“

 

„Wenn ich groß bin, dann werde ich Weltmeister im Handstand!“

 

„Seto, wenn du groß bist, kannst du alles werden, was du willst.“

 

Der kleine Seto rannte freudestrahlend auf seine Mama zu und umarmte sie innig, und in der letzten Szene des Videos verkündete er: „Dann will ich mal so toll werden wie du, Mama.“

 

Seto schaltete das Video aus und entfernte die Kopfhörer wieder aus ihren Ohren. Joey hatte seine Stimme noch nicht wiedergefunden, spürte aber die heißen Tränen in sich aufsteigen, und schon kurze Zeit später bahnten sie sich ihren Weg in die Freiheit. Der Braunhaarige streichelte ihm sanft über die Wange, um sie wieder zu trocknen, aber das war zwecklos, weil die alten Tränen sofort durch neue ersetzt wurden.

 

„Das war wenige Wochen vor ihrem Tod. Sie haben viele solcher Videos gemacht, aber das hier ist mir besonders in Erinnerung geblieben, daher habe ich bei der Digitalisierung hiermit angefangen. Ich weiß nur nicht, ob ich das erreicht habe, was ich werden wollte. Meine Mum war eine ganz wunderbare Frau, und ich habe gerade das Gefühl, niemals ein so guter und reiner Mensch wie sie sein zu können.“

 

Joey spürte, dass er noch mehr sagen wollte, hinderte ihn aber daran, weil er ihm schwungvoll und schluchzend um den Hals fiel.

 

„Danke, Seto. Dass du mir all das heute gezeigt hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet. Ich...“

 

Seto hob Joeys Kopf an. „Ich liebe dich, Joey, das tue ich wirklich. Ich will keine Geheimnisse mehr vor dir haben, will, dass du alles von mir weißt. Und ich will, dass du der Einzige bist, der alle meine Seiten kennt. Weil du der Einzige bist, dem ich sie zeigen will.“ Er stockte kurz, dann ergänzte er: „Dich so zu verletzen, war der größte Fehler meines Lebens. Ich werde mich dafür niemals genug bei dir entschuldigen können, aber ich werde es versuchen, jeden Tag. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht schon viel früher von dem Plan erzählt habe, aber noch viel mehr tut es mir leid, dass ich überhaupt so ein Arsch gewesen bin und diesen Plan erst aufgestellt habe. Das war mehr als nur dumm, das weiß ich jetzt, aber ich habe mich verändert und weiß jetzt, wer ich bin und wer ich für dich sein will. Ich kann und will dich nicht noch mal verlieren, Joey. Du bist alles für mich, und noch viel mehr. Ich sage es dir, so oft du es hören willst: Ich liebe dich, mehr als Worte beschreiben könnten. Bitte, komm zu mir zurück, mein Hündchen.“

 

Joey sah ihm tief in die Augen und musste mit seiner Fassung ringen. Alles in ihm wollte sich einfach in seine Arme stürzen und sich von ihm auffangen lassen, immer und immer wieder. Aber er zögerte, war für einen Moment in Gedanken, und Seto sah ihn ängstlich an.

 

Ach, scheiß drauf. Wenn er fallen würde, würde er fallen – aber er konnte einfach nicht mehr. Die letzten zwei Wochen hatten ihm gezeigt, dass ein Leben ohne Seto absolut keinen Sinn hatte, und heute hatte der Brünette ihm mehr gegeben, als er es sich jemals hätte wünschen können. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich so angreifbar machen würde, wenn er noch immer nur seine eigenen, wirtschaftlichen Interessen im Blick hätte. Das Video von gerade eben war der letzte Beweis dafür, dass das hier echt war. Und wenn er ihm so in die Augen sah, da überkam ihn diese Sicherheit, dass er ihn wirklich kannte. Alles, was er tun konnte, war hoffen, dass er ihn nicht nochmal so verletzen würde.

 

Dann ließ Joey los und ließ den Worten einfach freien Lauf. „Du hast mir weh getan, Seto, sehr. So sehr, dass ich nicht wusste, ob ich mir das alles nur eingebildet habe. Ob die Seite wirklich echt ist, die du in den letzten Monaten von dir preisgegeben hast. Aber heute, da sehe ich es ganz deutlich. Ich sehe dich. Der Mensch, der du wirklich bist. Seto, ich kannte deine Eltern zwar nicht, aber ich bin mir mehr als sicher, sie wären sehr stolz auf dich.“

 

Der Blonde nahm noch einen tiefen Atemzug, dann erklärte er: „Natürlich komme ich zu dir zurück. Ich könnte auch gar nicht anders. Du wirst mir Zeit geben müssen, das Vertrauen wieder aufzubauen, und vielleicht werden wir noch viele solcher dummen Probleme bekämpfen müssen. Aber ich will nicht ohne dich leben. Die letzten zwei Wochen waren die schlimmsten in meinem gesamten Leben. Das schaffe ich nicht noch mal.“

 

Joey nahm Setos Gesicht in beide Hände, sah ihm intensiv in die Augen und sagte: „Ich liebe dich, Seto. Mehr als du dir vorstellen kannst.“ Und dann küssten sie sich, vereinigten ihre Lippen zu einer, die viel zu lange getrennt voneinander gewesen waren. Joey konnte ihre Liebe überall in seinem Körper spüren, alles kribbelte und er verlor jegliches Raum-Zeit-Gefühl. Er stöhnte leicht in ihren Kuss hinein, als er Setos Hände an seinem Rücken spürte, um ihre Vereinigung noch zu intensivieren. Es war ein sehr zärtlicher Kuss, der für Joey die Welt bedeutete, weil er jetzt mit vollkommener Sicherheit wusste: Er gehörte zu Seto, voll und ganz, mit allem, was er hatte. Und er würde nie wieder von ihm loskommen, selbst dann nicht, wenn er es wirklich wollte.

 

Für einen kurzen Augenblick gingen sie auseinander. Nun war es Seto, der Joeys Gesicht in beide Hände nahm, und der Blonde konnte sehen, wie dem Größeren eine einsame Träne über die Wange lief. „Gott, ich bin so glücklich, Joey. So unendlich glücklich.“ Sanft lächelnd wischte Joey ihm die Träne weg und sagte: „Ich auch, mein Drache.“ Dann zog er ihn erneut in einen Kuss, umarmte seinen Nacken und zog ihn noch enger an sich, um ihn so nah wie möglich bei sich zu spüren.

 

Als sie sich schlussendlich wieder voneinander lösten und mit verklärtem Blick betrachteten, da wusste er, dass es niemals einfach werden würde und noch viele Herausforderungen auf sie warten würden. Aber was immer auch kommen mochte, er würde ihn immer lieben – weil er nicht anders konnte.

 

„Wir sollten langsam wieder zurückfahren, aber bevor wir gehen, würde ich gern noch was machen.“ Seto erhob sich und holte etwas aus dem Rucksack, das Joey sofort als den Ordner identifizierte, mit dem dieses ganze Drama überhaupt erst begonnen hatte. Auch Joey stand nun auf und beobachtete jeden Schritt seines Drachen. Dieser holte neben dem Ordner noch eine kleine Schüssel hervor, sowie ein Feuerzeug. Er stellte die Schüssel auf den steinernen Gehweg und riss mit viel Energie die erste Seite aus dem Ordner, die, die seinen ursprünglichen Plan beinhaltete. Er zerknüllte den Zettel, und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, zündete er diesen in der kleinen, offensichtlich hitzebeständigen Schale an, bis nur wenige Sekunden später nur noch ein kleiner Aschehaufen daran erinnerte, was mal auf diesem Zettel gestanden hatte.

 

Seto wollte mit der nächsten Seite fortfahren, doch Joey hielt ihn ab. „Warte! Das sind doch jetzt alles Seiten mit Fotos, oder? Vielleicht kann man da ja noch was draus machen. Die müssen wir nicht unbedingt verbrennen.“

 

Unschlüssig schaute Seto den Blonden an. „Bist du sicher, Joey?“ Joey nickte. „Absolut. Lass uns ein Erinnerungsalbum daraus machen.“

 

Seto zog Joey daraufhin eng an sich. „Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich dich liebe?“ Erneut küssten sie sich zärtlich, und das Lächeln der beiden war auch noch in ihrem Kuss zu spüren.

 

Als sie wieder voneinander abließen, ergänzte Seto: „Aber lass uns wenigstens den Ordner wegwerfen, ja? Auf dem Weg nach draußen habe ich Mülltonnen gesehen, da schmeißen wir ihn einfach rein und nehmen vorher die Seiten raus.“

 

Grinsend stemmte Joey die Hände in die Hüften. „Was, wirst du jetzt abergläubig?“

 

Amüsiert lachte der Brünette auf. „Vielleicht, aber ich will das Ding nicht mehr im Haus haben.“ Sie verstauten alle Sachen wieder ordnungsgemäß im Rucksack und machten sich auf in Richtung Ausgang, wo sie dann auch den Ordner entsorgten.

 

Und während sie Hand in Hand zum Auto zurückliefen, da war Joey froh, die Entscheidung getroffen zu haben, heute herzukommen. Es war nicht einfach gewesen, und mit Seto Kaiba an seiner Seite würde es das wohl auch in Zukunft nicht werden. Aber auf eines würde er sich immer verlassen können: Ein Leben mit Seto Kaiba würde nie eintönig werden. Und wer würde schon ein langweiliges Leben führen wollen?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (10)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Rosarockabye
2021-03-06T23:02:22+00:00 07.03.2021 00:02
Hach wie schön sie sind wieder zusammen <3~
Antwort von:  Evi1990
07.03.2021 00:29
Jaaaa, sie können nicht ohne einander 🥰
Von:  Ryosae
2021-01-14T15:34:23+00:00 14.01.2021 16:34
Hurra! Sie sind wieder zusammen! Glück für sie, ansonsten wäre ich mal kurz vorbei gekommen, hätte Seto und Joey an den Lümmelohren zueinander gezogen und in einem fensterlosen Raum gesperrt, bis sie sich versöhnt hätten. So 😂

Hatte geahnt das sie zum Grab von Setos Eltern fahren. Die Geschichte ist so traurig! Auch das mit der kleinen Sakura!! 😭😭

Du hast mal wieder so toll alles beschrieben und erzählt.
Im unteren Kommentar erwähnst du das wir noch lange nicht am Ende sind? Ohweh was wird da noch auf uns zu kommen?
Freu mich sehr auf den Samstag, ein paar Erwartungen aus deinem Spoiler gibt es schon 🤣

LG
Ryo
Antwort von:  Evi1990
14.01.2021 16:43
Thihihi also das Kapi am Samstag... wird gut... und für hoffentlich gute Laune sorgen 🤣🤭 und ja, ich denke, es wird so ungefähr bei 35 bis 40 Kapis enden und ich hoffe natürlich, du bleibst bis zum Schluss dabei, das Happy End, das ich geplant habe, kannst du dir einfach nicht entgehen lassen 🥰🥰🥰 sage ich jetzt mal so xD *nopressure* 🤣🤣
Antwort von:  Ryosae
14.01.2021 19:24
Ähh als ob ich das hier einfach abbrechen könnte! 🧐😂
Till the end, sag ich nur 😉
Antwort von:  Evi1990
14.01.2021 19:34
Mitgehangen, mitgefangen 🤣🤣🤣
Von:  empress_sissi
2021-01-13T22:59:21+00:00 13.01.2021 23:59
Jetzt hab ich schon wieder ein Taschentuch benötigt, wenn auch für Freudentränen 🥺 Du machst mich fertig, aber ich bin so erleichtert.
Was für eine wundervolle Geste von Seto. ♥️Es muss schlimm sein, sich an seine Kindheit zu erinnern und diese Dinge mit niemanden wirklich teilen zu können, weil einfach keiner mehr da ist. Moki kann sich ja, wie Seto erklärt hat, nicht mehr wirklich erinnern. Sorry ich schweife ab. Mokis Auftritt in dem Kapitel war auch toll, ich liebe die Brüderdynamik.

Ich hoffe Hündchen und Herrchen haben diese Krise erstmal wirklich überstanden und können nun einfach eine Zeit lang glücklich sein 😊 Bis dir wieder etwas Gemeines einfällt 😝
Freu mich auf den nächsten Teil!!!
Antwort von:  Evi1990
14.01.2021 00:18
Hihi, da fällt mir sicher noch was ein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es für mich noch mal so schlimm wird, wie das vorherige Kapitel zu schreiben 🤣 aber die ein oder andere lustige Idee habe ich noch 🤭🤭🤭
Von:  Sujang
2021-01-13T21:09:39+00:00 13.01.2021 22:09
Huhu ^^
Man da hat sich seto ja ganz schön was einfallen lasse , super Idee und sau hut umgesetzt... Ich war so dabei das ich mit geweint habe 😢
Aber Gott sei dank ging alles gut und beide sind jetzt wieder glücklich ^^ Ich freu mich auf dein nächstes kappi 🥰
Lg bis Samstag 😘
Antwort von:  Evi1990
13.01.2021 22:11
Vielen lieben Dank 🥰🥰🥰 bis Samstag ❤
Von:  Piajay
2021-01-13T19:00:53+00:00 13.01.2021 20:00
Ja endlich sind sie wieder zusammen
Aber bitte keine Trennung mehr noch eine halte ich nicht aus so schön
Antwort von:  Evi1990
13.01.2021 22:13
Hihi, ich weiß, dass es schwer auszuhalten war, war es für mich auch 🤣 aber jetzt sind sie ein Herz und eine Seele ❤
Von:  Onlyknow3
2021-01-13T17:40:56+00:00 13.01.2021 18:40
Ist das schon das Happy End,kommt jetzt nur noch der Epilog?
Schade wenn die FF zu ende wäre, könnte von den beiden noch Stunden lang lesen.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Evi1990
13.01.2021 18:46
Haha nein, das ist noch lange nicht das Ende. Im Moment gehe ich von 35 bis 40 Kapis aus 🤣 da kommt noch ein bisschen Drama, Fluff, und eben alles, was dazu gehört 🥰
Von:  KayaPaws
2021-01-13T14:14:54+00:00 13.01.2021 15:14
Du schuldest mir schon mindestens zwei Packungen Taschentücher! xD aber wenigstens haben die beiden Idioten sich wieder zusammengerauft.
Antwort von:  Evi1990
13.01.2021 16:51
Oh Gott, ich befürchte, wenn wir am Ende der Geschichte angelangt sind, schulde ich dir vermutlich eine ganze Schiffsladung Taschentücher 🤭🤭🤭🤣🤣🤣🤣
Antwort von:  KayaPaws
14.01.2021 14:40
>:( was hast du noch mit den beiden vor? Das klingt irgendwie böse *schnappt sich Seto und Joey und versteckt die beiden armen Plüschies*
Antwort von:  Evi1990
14.01.2021 16:45
Haha also das ein oder andere kommt noch (aber auch gaaaaaaaaanz viel Fluff 🥰🥰🥰 und vermutlich auch noch das ein oder andere Mal smut 🤣🤣🤣) und ich hoffe natürlich, du bleibst bis zum Happy End dabei ❤
Antwort von:  Evi1990
14.01.2021 16:47
Ansonsten kannst du dir auch noch den OS durchlesen, den ich vor ein paar Tagen gepostet habe (Close to you), der ist sehr gefühlvoll und hat ein zuckersüß Ende 🥰🥰🥰
Antwort von:  KayaPaws
15.01.2021 04:14
Na ich hoffe doch auf sehr viel smut, ich will schließlich die Taschentücher nicht nur zum Heulen... *hust* :p


Zurück