Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 17: Rescue me... from the dark -------------------------------------- Gemeinsam stiegen sie aus dem Flugzeug, Seto ganz dicht hinter Joey, sodass dieser fast schon seinen Atem in seinem Nacken spüren konnte. Das Erste, was Joey wahrnehmen konnte, war die Wärme. Es war früher Nachmittag und er konnte die warme Luft ganz deutlich auf seiner Haut spüren, musste seinen Mantel öffnen, damit ihm nicht zu heiß wurde. Er stieg die Treppen hinunter und kam nicht umhin zu glauben, dass etwas anders war. Vielleicht war es, weil er das erste Mal in seinem Leben im Ausland war, vielleicht auch, weil das Wetter in Los Angeles sich so anders anfühlte als in Japan. Auch der Geruch war anders. Vielleicht hatte es auch was damit zu tun, was er vor sich hatte. Aber er wusste, was immer passieren würde, würde passieren. Er war jetzt hier - und es würde kein Zurück mehr geben.   Zusammen mit Seto stieg er in eine schwarze Limousine ein, die bereits auf dem Rollfeld auf sie wartete. Er zog sich seinen Mantel aus und legte ihn sich auf den Schoß. Kaum war das Auto gestartet, schaute Joey aus dem Fenster, sah den Flugplatz sich immer weiter entfernen. Die Sonne blendete ihn trotz der getönten Scheiben und er versuchte, sich mit der Hand über den Augen ein wenig davor zu schützen und dennoch rausschauen zu können. Auf seiner anderen Hand konnte er die von Seto spüren, und als er ihn kurz ansah, konnte er die Sorge in seinen Augen aufblitzen sehen. Ob diese Empfindung wohl berechtigt war? Was würde das alles mit Joey machen, wer wäre er, wenn es vorbei war? Würde es ihn erneut verändern, so wie er sich in den letzten Monaten verändert hatte? Würde er wieder das Gefühl bekommen, keinen Ausweg zu sehen? Er wusste es nicht, er konnte es gar nicht wissen, nicht bevor er es nicht getan hatte. Und er wusste, er würde es tun müssen - weil es sicher war, dass er es nie schaffen würde, von seinen Erinnerungen loszukommen, wenn er das jetzt nicht tat. Das Einzige, worauf er hoffen konnte, war, dass Seto ihm die nötige Kraft gab, den Willen, ins Leben zurückzukehren statt sich in die Dunkelheit fallen zu lassen, die ihn unausweichlich erwarten würde.   Nach etwa einer Stunde kamen sie an einem Hotel an, das sehr luxuriös aussah. Ein winziges Lächeln, das Joey aber nicht vollkommen spüren konnte, legte sich auf seine Lippen. Seto würde wohl nie in ein einfaches, ganz normales Hotel gehen, hm? Der Größere hatte noch nichts gesagt, seit sie aus dem Flugzeug gestiegen waren, und Joey musste feststellen, dass dasselbe ja auch für ihn galt. Es lag etwas in der Luft, das Joey nicht richtig greifen konnte. Es war schwer, legte sich über ihn, wie ein starkes Gewicht, das seine Schultern und sein Rücken tragen mussten.   Er merkte, dass sie mittlerweile im Hotelzimmer angekommen waren. War er so in Gedanken gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie Seto sie beide eingecheckt hatte? Gedankenverloren ging er ins Zimmer, und natürlich war es kein Zimmer, sondern eine luxuriös ausgestattete Suite. Was auch sonst. Er ging direkt auf ein Fenster zu, zog die Vorhänge ein Stück zur Seite und beobachtete die Welt da draußen. Es waren noch immer viele Menschen auf den Straßen, und auch wenn die Sonne mittlerweile schon etwas tiefer stand, so hatte sie noch nicht viel an Strahlkraft verloren. Wohin gingen wohl all diese Menschen? Was beschäftigte sie in ihrem Leben? Was würde er dafür geben, mit einem von ihnen zu tauschen, nur für einen Tag, um zu wissen, wie sich ein Leben anfühlte, das noch nie Dunkelheit gekannt hatte.   In diesem Moment spürte er Setos Kopf auf seiner Schulter, seine Arme schlangen sich um Joeys Körper und zogen ihn fester an sich. Mit ruhiger, leiser Stimme flüsterte er ihm ins Ohr: “Möchtest du dich ein bisschen hinlegen, Joey?”   Joey atmete ein Mal tief durch und dachte über diese Frage nach. Warum fühlte er plötzlich schon wieder nichts? Warum lösten Setos Berührungen nicht das Kribbeln aus, das er üblicherweise bekam? Wenn es eines gab, worauf sich Joey in den letzten Tagen, so leer und verschwommen sich diese auch angefühlt hatten, verlassen konnte, dann war es, dass Seto ihn etwas fühlen lassen konnte. Brauchte er vielleicht einfach etwas mehr Zeit, jetzt, wo sie sich einige Zeit lang nicht so viel berührt hatten, seit sie das Flugzeug verlassen hatten? Wieder musste Joey feststellen, dass es sich anders anfühlte als die letzten Tage. Hier fehlte alles, was er kannte, er hatte nicht das Umfeld um sich, an das er sich die letzten Monate so gewöhnt hatte. Seto war sein einziger Pfeiler hier, und es blieb ihm nichts anderes übrig als zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass das ausreichen würde.   “Joey?”, hörte er wieder ein leises Flüstern an seinem Ohr. Ah, ja, er hatte die Frage noch nicht beantwortet. Seinen Blick hatte er in Richtung seiner Schuhe gesenkt. Als er ihn jetzt wieder anhob und nach draußen schaute, da wusste er, was zu tun war. Er wollte nicht warten, weil es keinen Grund dafür gab, das Unausweichliche nicht gleich hinter sich zu bringen. “Nein. Lass uns gleich zu meiner Familie gehen.” Er konnte die Überraschung in Setos Atmung wahrnehmen, und als sich der Größere von ihm löste, spürte er, wie die Dunkelheit wieder stärker Besitz von ihm ergriff.   “In Ordnung, wenn es das ist, was du willst, rufe ich deine Mum an.” Joey drehte sich kurz zu Seto um und nickte ihm zu. Er konnte die Sorge, die Unruhe, die Bedenken in Setos Blick sehen, aber Joey wusste, dass es die richtige Entscheidung war, schließlich war er deswegen hier. Dennoch - sein Herz spürte nichts, als er Setos Blick erwiderte. Also drehte er sich wieder um, zu dem Fenster, das das Licht gnadenlos ins Zimmer scheinen ließ, während Seto den Anruf machte.   Wenig später kam der Braunhaarige wieder zu ihm und nahm sanft seine Hand, stand einfach neben ihm und sah gemeinsam mit ihm aus dem Fenster. Joey schloss die Augen, hoffte, dass wenn er sich auf die Berührung konzentrierte, dass die Emotionen dann zurückkommen würden. Mit einem Seufzen musste er feststellen, dass dem nicht so war. Er fühlte, wie sein eigenes Herz regelmäßig hinter seiner Brust schlug, spürte den gleichmäßig ein- und ausströmenden Atem in seinen Lungen, aber nichts davon löste auch nur den Anflug einer Erregung aus.   Seto drehte ihn nun so, dass er ihn anschauen musste. Seine Hände legte er um Joeys Gesicht, während er sprach: “Wir können los, sobald du bereit bist. Lass dir alle Zeit, die du brauchst. Und Joey, vergiss niemals, dass ich bei dir bin. Ich werde dir nicht von der Seite weichen.” Seto streichelte ihm leicht über das Haar, was normalerweise eine beruhigende Wirkung auf Joey hatte, aber er war bereits ruhig, zu ruhig für das, was sich gleich ereignen würde.   Joey nickte, dann sagte er: “Dann lass uns losgehen.” Er nahm direkten Kurs auf die Tür und spürte Setos Blicke in seinem Rücken, die ihm normalerweise einen wohligen Schauer bescherten, aber dieses Mal blieben die feinen Härchen auf seinem Körper ruhig, blieben von der intensiven Gänsehaut verschont. Als Joey die Tür öffnete, da wusste er, dass sich erneut etwas verändern wurde. Er wusste nur noch nicht, was, oder ob es gut wäre. Oder ob es das wert wäre. Alles in seinem Kopf sprach im Konjunktiv, und er musste jetzt dafür sorgen, wieder Klarheit und Bestimmtheit zu schaffen.   Sie liefen zu Fuß zur Wohnung seiner Familie, die nicht weit weg von ihrem Hotel war. Das Haus sah von außen in jedem Fall schöner aus als das, in dem Joey seine Jugend verbracht hatte, und er war sich auch ziemlich sicher, dass die Wohnung sauberer war und nicht so nach Alkohol stinken würde wie die von seinem Dad. Nachdem sie den Summer der Haustür hörten, hielt Seto ihm die Tür auf und Joey ging vor, stieg die Treppen hoch, und er wusste nicht, ob er da geradewegs in sein Verderben lief. Wie in Trance nahm er eine Stufe nach der anderen, bis sie offensichtlich die richtige Haustür erreicht hatten.   Seine Mum sah ihn an und ihr Blick ähnelte dem von Seto in erstaunlich großem Ausmaß, nur dass sich in ihren Augen einige Tränen bildeten. Vermutlich hatte sie bemerkt, dass sein Auge noch immer geschwollen und leicht blau war, und Joey musste denken, dass es wohl besser gewesen war, nicht direkt hierher zu kommen, als die Wunden noch frisch waren. Das hätte es ihm heute vermutlich noch schwerer gemacht als es eh schon war.   Sie sagte etwas, aber er konnte sie kaum hören, so als ob sie Lichtjahre von ihm entfernt stand, dabei konnte er ihre Arme um seinen Körper spüren, ihre Körperwärme, ihre Berührungen. Aber auch davon löste nichts irgendwelche Empfindungen in ihm aus.   Sie gingen in ein Zimmer, das offenbar das Wohnzimmer war, und Joey setzte sich auf ein Sofa, Seto direkt neben ihm, seine Mum und Serenity ihnen gegenüber auf jeweils einem Sessel. Seto rutschte noch etwas näher an ihn ran, was bemerkenswert war, weil er sonst so penibel darauf achtete, Abstand zu halten, wenn jemand Anderes dabei war. Aber Joey konnte sich kaum auf etwas konzentrieren. Allerdings hörte er Seto dann sprechen, und anders als bei seiner Mum, deren Worte er nur wie aus der Ferne wahrnehmen konnte, konnte er genau ausmachen, dass er nicht so weit weg war, auch wenn er auch seine Worte nur gedämpft wahrnahm.   “Joey, lass dir Zeit, okay? Wir sind alle hier und hören dir zu.”   War das sein Startsignal? Offenbar, denn drei Augenpaare waren auf ihn gerichtet, und in allen konnte er die Besorgnis erkennen. Joey hatte sich, als er die letzten Tage darüber nachgedacht hatte, wie sich dieser Moment wohl anfühlen würde, immer ausgemalt, dass er einen Fluchtimpuls spüren würde, oder etwas, das ihn davon abhalten wollte, etwas zu sagen. Selbst, als sie noch im Flugzeug saßen, konnte er spüren, wie Unsicherheit und Angst sich in ihm ausbreiteten, aber jetzt - gar nichts.    Er sah auf und schaute seine Schwester und seine Mum an. “Bevor ich anfange”, begann Joey, “möchte ich, dass ihr wisst, dass nichts davon eure Schuld ist, auch nicht deine, Mum. Nichts davon hättet ihr verhindern können, und es war meine Entscheidung, bis heute zu schweigen. Habt ihr das verstanden?”   Seine Mum und Serenity tauschten unsichere Blicke aus, doch Joey wollte ihre Antwort abwarten, vorher würde er sich nicht äußern. Vorsichtig nickten beiden, und Joey spürte, wie Seto ihm kurz über den Rücken streichelte, bevor er die Berührung wieder löste. Dennoch baute er keine Distanz auf und blieb nah an Joey sitzen.   Der Blonde nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er anfing zu sprechen. Seine Sicht verschwamm vor seinen Augen, er dachte nicht darüber nach, was er sagte, bevor er es tat - er hätte sowieso nicht genug Konzentration dafür gehabt. Also ließ er los - und hoffte, der Sturz würde ihn nicht zu hart auf dem Boden aufprallen lassen.   “Es fing ungefähr ein Jahr, nachdem ihr in die USA gegangen seid, an. Dad hatte seinen Job verloren, und auch mindestens die Hälfte seines Verstands. In den letzten Jahren seitdem hatte er immer mal wieder irgendwelche Gelegenheitsjobs, aber nie wirklich was Langfristiges. Ich hab es ihm aber auch nicht einfach gemacht. Ihr könnt euch bestimmt noch erinnern, wie wild ich als Kind war, irgendwie bin ich das ja heute noch, wenn auch nicht mehr so stark ausgeprägt wie damals. Ich glaube, am Anfang war er einfach mit mir überfordert, wusste nicht so richtig, wie er mich einfangen konnte. Und er hat euch sehr vermisst, das haben wir beide. Zu der Zeit sind wir wohl beide ein bisschen verrückt geworden, schätze ich.”   Joey machte eine kurze Pause und versuchte, sich genau an diese Zeit zurückzuerinnern. “Ich habe so ziemlich jeden Unsinn verzapft, den ein 10-jähriger in dieser Zeit eben so anstellen konnte. Habe Sachen aus Supermärkten geklaut, meinem Dad Geld aus dem Portemonnaie gezogen und hatte definitiv die falschen Freunde, die mich zu noch mehr Blödsinn angestiftet haben. Und ich glaube heute, dass Dad einfach nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, weil ich überhaupt nicht auf ihn gehört habe. Zu der Zeit hat er dann angefangen zu trinken. Und dann nahm das Ganze seinen Lauf.”   Joey spürte kurz in sich hinein, aber er konnte einfach nichts fühlen. Wieso lösten denn diese ganzen Erinnerungen nichts in ihm aus? Er schaute kurz auf, in Setos Gesicht, das unverändert sorgenvoll auf ihn blickte. Ah, ja, diesen Teil der Geschichte hatte er ihm ja auch noch gar nicht erzählt, nur die mehr oder weniger verkürzte Form. Unter großer Anstrengung versuchte Joey sich daran zu erinnern, wo er gerade stehen geblieben war, dann fuhr er fort.   “Das erste Mal war eigentlich noch harmlos. Er hat mir eine Backpfeife verpasst, weil ich mich geweigert hatte, mein Zimmer aufzuräumen. Ich bin sofort in Tränen ausgebrochen und habe mich in mein Zimmer eingesperrt. Ich glaube, Dad hatte Gewissensbisse. Er hat an meine Zimmertür geklopft und gesagt, dass es ihm leid täte. Ich habe erst wieder aufgemacht, als mein Zimmer aufgeräumt war. Und als er das sah, da konnte ich es genau von seinem Gesicht ablesen - er hatte einen Weg gefunden, den Wildfang zu kontrollieren, der sein Sohn war.”   Er merkte, wie einzelne Tränen über seine Wangen liefen und fing sie mit seinen Händen auf, bevor sie sich auf seinem Shirt verewigen konnten. Das musste eine rein körperliche Reaktion auf das sein, was er da sagte, weil er immer noch gar keine Emotionen in sich spürte. Als er seine Hand wieder auf dem Sofa ablegte, spürte er, wie Seto seine Hand auf diese legte. Kurz schaute Joey auf, sah ihm in die von Entsetzen geprägten blauen Augen, bevor er seinen Blick wieder abwandte und weitersprach.   “Von da an passierte es immer häufiger, eigentlich immer, wenn ich irgendwas nicht machen wollte. Er veränderte sich immer mehr, zog sich noch mehr zurück, in sich selbst und den Alkohol, sodass ich zunehmend für alles verantwortlich wurde. Mit zwölf habe ich im Prinzip den gesamten Haushalt geschmissen. Ich habe gekocht, geputzt, die Wäsche gewaschen, mich eben um alles gekümmert, was so anfiel. Doch auch ich habe mich verändert. Ich habe aufgehört, nein zu sagen, einfach gemacht, was er mir befohlen hatte. Vielleicht hatte ein Teil von mir gehofft, er würde mich dann nicht mehr so oft schlagen, aber er schien sich an das Gefühl gewöhnt zu haben, es trotzdem zu tun. Immer, wenn er es tat, da war er wie im Rausch. Ich weiß nicht, ob das nur vom Alkohol kam, aber auch wenn ich glaube, dass der eine Rolle dabei gespielt hatte, so glaube ich doch, dass er irgendwann einfach Gefallen daran gefunden hatte. Und eines Tages hörte ich auf mich zu wehren, weil ich wusste, dass es das nur noch schlimmer machen würde.”   Er hörte seine Mum schluchzen und konnte Seto neben sich schnell atmen hören. Wieso war er der Einzige im Raum, der nicht so aufgebracht war wie alle anderen? Wieso konnte er nicht fühlen, was sie fühlten? Die Tränen an seinen Wangen waren zwar ein Zeichen dafür, dass es ihn berührte, aber warum konnte er es nicht wirklich spüren? Was war falsch mit ihm? Dabei lag der schwerste Part noch vor ihm. Doch er würde nicht drum herum kommen, es war Zeit. Joey atmete tief durch, dann sprach er weiter.   “Ich wusste irgendwann, dass es keinen Ausweg mehr geben würde, dass das mein Leben war und immer sein würde. Ich wollte dieses Leben nicht. Also habe ich beschlossen, dem ein Ende zu setzen - mir selbst ein Ende zu setzen.” In diesem Moment konnte er spüren, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte, und er fragte sich erneut, warum er das feststellen konnte, aber noch immer nichts in ihm auf veränderte Emotionen hinwies. Er konnte nicht mal klar darüber nachdenken, wie weit er gehen sollte, es war, als wenn die Worte sich ihren eigenen Weg aus seinem Mund bahnten, als wäre er nicht mehr im Besitz seiner vollständigen Kräfte, um das zu kontrollieren. Es ging nicht anders, er war wie gezwungen, weiter zu sprechen.   “Daher die Briefe. Ich glaube, das hatten wir an Weihnachten kurz besprochen. Das waren Abschiedsbriefe. Ihr habt einen bekommen, genauso wie meine Freunde. Er war sehr vage gehalten. Ich habe zwar gesagt, dass mein Dad da irgendwie eine Rolle spielte, aber ich bin nicht ins Detail gegangen. Meine Freunde haben in den vergangenen Jahren immer mal wieder Verdacht geschöpft, aber ich war ziemlich gut darin, das zu überspielen, wobei Yugi ziemlich hartnäckig war, das ist er heute noch. Aber ich habe es dennoch geschafft, es für mich zu behalten - bis Seto kam. Es stimmte, was ich euch erzählt habe, an Weihnachten, jedenfalls größtenteils. Seto hat von mir keinen Brief bekommen, weil wir damals noch nicht befreundet waren. Das hat sich geändert, sehr sogar.”   Als Joey Setos Hand an seiner Wange spürte, sah er zu ihm auf. Er sah so traurig aus, aber in seinen Augen konnte er auch noch etwas anderes wahrnehmen: Zuneigung. Joey hatte das ganz kurze Gefühl, dass sein Herz für einen Schlag ausgesetzt hatte - oder hatte er sich das nur eingebildet? Schon im nächsten Moment war jeder Anflug von Empfindungen zumindest wieder verschwunden.   “Es stimmte, was ich gesagt hatte, dass Seto mich nicht freiwillig bei sich aufgenommen hatte. Meine Freunde haben ihm Druck gemacht, ihm gedroht, und er stand mit dem Rücken zur Wand, genau wie ich. Er war derjenige, der mich davor bewahrt hatte, zu springen, von diesem Hochhaus. Es war irgendwie komisch, da oben zu stehen und zu wissen, dass gleich alles vorbei wäre. Ich hatte auch ein bisschen Angst, ich meine, wer hat keine Angst vor dem Tod? Ich glaube, auch Menschen, die selbst die Entscheidung treffen zu sterben, haben Angst davor, was sie erwartet. Ob es weh tun würde. Ob es sowas wie Himmel und Hölle oder die Wiedergeburt gibt. Ich hatte, ehrlich gesagt, eher Angst davor, wiedergeboren zu werden und im Zweifel all das noch mal durchleben zu müssen. Tja, und dann war plötzlich derjenige da, mit dem ich am wenigsten gerechnet habe. Also, nicht, dass ich überhaupt mit irgendjemandem gerechnet hatte, weil niemand wusste, wo ich mich aufhielt, aber dann musste unbedingt mein Erzfeind Seto Kaiba auftauchen. Und tatsächlich ist er mehr oder weniger in letzter Sekunde aufgetaucht. Hat mich zurück aufs Haus gezogen, als ich meine Hände schon vom Geländer gelöst hatte und dabei war, zu fallen. Er ist der Grund, warum ich heute noch hier sitze. Warum ich noch lebe.”   Joey sah auf und musste feststellen, dass er ihre Gesichter wieder klarer sehen konnte, ihre Stimmen wieder näher dran und nicht mehr so gedämpft waren. Kamen seine Empfindungen zurück?   “Er hat mich gerettet”, fuhr Joey fort, “auf mehr Arten als ich es mir jemals hätte vorstellen können, denn er hat mich nicht nur an diesem Tag gerettet. Es war komisch, weil wir uns eigentlich überhaupt nicht leiden konnten, aber ich habe irgendwie Vertrauen zu ihm aufgebaut. Und eines Tages, da habe ich es ihm erzählt. Er war der erste Mensch, dem ich die Wahrheit anvertraut habe, und ich kann noch immer nicht sagen, warum eigentlich. Vielleicht, weil er mir auch Dinge erzählt hat, die niemand von ihm wusste, nicht mal sein eigener Bruder. Und wir mussten feststellen, dass wir gar nicht so verschieden sind, in vielerlei Hinsicht. Dass es vieles gibt, dass uns eint, seien es die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, oder einfach irgendwelche belanglosen Angewohnheiten. Er hat mir gezeigt, wie ein Leben aussehen kann, in dem man glücklich ist. Mit ihm fühle ich mich befreit, lebendig, irgendwie wertvoll. Es ist, als kenne ich ihn schon mein ganzes Leben lang, dabei sind es erst ein paar Monate, seitdem wir die Seiten aneinander kennen, die sonst niemand sieht. Erst durch ihn habe ich verstanden, was es eigentlich bedeutet, zu leben.”   Er stockte kurz, dann sagte er: “Bis letzte Woche… bis…” Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, da spürte er es, fühlte, wie alle Emotionen zurück in seinen Körper strömten, mitsamt allen Erinnerungen, mit einer Wucht, die er nicht kontrollieren konnte, hundertfach potenziert. Noch nie hatte er sie so intensiv wahrgenommen wie jetzt, und es fühlte sich an, als wenn auch sein Körper komplett mitgerissen wurde. Er konnte nicht mehr atmen, hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen tat sich auf und er würde fallen. Und er fiel, so tief wie noch nie.   ~~~~   Seto war an seinem Limit. Jede Faser seines Körpers schmerzte. Er konnte sehen, wie sein Hündchen wie in Trance von seiner Vergangenheit berichtete, und in Seto wuchs eine Wut heran, die er nur mit Mühe und Not kontrollieren konnte. Er kannte ja schon einen nicht unerheblichen Teil dessen, was ihm passiert war, aber es jetzt noch einmal in so detaillierter Form zu hören, brachte ihn fast um den Verstand. Er wollte Joey all den Schmerz nehmen, den er in den letzten Jahren erfahren hatte, ihm alles geben, was er konnte, und wenn er sein Leben lang dafür kämpfen müsste, dass Joey dieses Leben als lebenswert erachtete, würde er es tun.   Doch plötzlich veränderte sich was, Joey veränderte sich. Er hatte das bei ihm schon mal gesehen, das war der Moment, in dem er wieder anfing, etwas zu fühlen, aber es war doch ganz anders als sonst. Es war, als wenn alles auf einmal auf ihn hereinbrach, und Seto konnte genau sehen, dass Joey das nicht kontrollieren konnte. Er würde fallen, wenn Seto jetzt nicht eingriff. Aber er würde das nicht zulassen, niemals würde er ihn fallen lassen - oder er würde mit ihm fallen.   Er nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihn an. Er hatte einen panischen Gesichtsausdruck, seine Wangen waren unheimlich gerötet und sein Atem ging abgehackt. Er hatte Todesangst.   Seto schüttelte ihn ein bisschen. “Joey, ich bin hier, ich bin da. Wir sind alle hier, hörst du? Du bist nicht allein.” Doch das schien kein bisschen zu helfen, es hatte absolut keinen Effekt. Noch immer war seine Atmung unregelmäßig und die Angst war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seto wusste nicht, was er tun sollte. Was konnte er machen, um Joey zurückzuholen? Er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, weil Joey jetzt sofort Hilfe benötigte, und es blieb ihm auch nicht viel übrig, er würde einfach das versuchen, was er das letzte Mal auch versucht hatte - reden. Auch wenn ihm das unheimlich schwer fiel, weil noch andere Menschen im Raum waren, aber er konnte nicht zulassen, dass das mit Joey passierte. Er hatte ihn einmal gerettet, er würde es wieder tun, genau jetzt.   “Joey, ich bin’s. Seto. Hörst du mich? Siehst du mich? Spürst du meine Hand an deiner Wange? Er ist nicht hier, mein Hündchen, und ich werde nicht zulassen, dass er dir jemals wieder zu nahe kommt. Es tut mir so leid, dass ich dich nicht davor beschützt habe, dass er letzte Woche die Chance hatte, dir noch mal weh zu tun, aber das wird er nie wieder können. Niemals. Dafür werde ich sorgen. Er wird für alles büßen, was er dir angetan hat. Hörst du mich? Joey, bleib bei mir, verlass mich nicht. Du bist das Wichtigste in meinem Leben, ich brauche dich.”   Plötzlich spürte Seto, wie eine einsame Träne seine Wange hinunter lief. Weinte er etwa? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals auch nur eine einzige Träne vergossen zu haben, egal was auch passiert war. Aber Joey hier so zu sehen, brach ihm nicht nur das Herz, sondern auch sämtliche Knochen, und jeglicher Versuch, sich in Selbstkontrolle zu üben, war absolut zwecklos. Es war richtig, was er sagte, er brauchte ihn in seinem Leben, wie er nichts anderes brauchte, außer vielleicht Mokuba.   Er durfte jetzt nicht auf sich selbst achten, er musste Joey helfen. Er zog ihn an sich, bettete seinen Kopf an seine Brust, hinter der sein Herz so heftig schlug wie noch nie. Er legte seinen eigenen Kopf auf Joeys Haare, atmete für einen kurzen Moment seinen Duft ein, bevor er weitersprach.   “Ich werde immer bei dir sein. Ich habe dir versprochen, dass du glücklich sein wirst, und ich verspreche es dir noch mal, das wirst du. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, du wirst glücklich sein. Du bist stark, Joey, viel stärker als du selbst glaubst. Ich bin so stolz auf dich, weißt du das eigentlich? Weißt du, was du heute geschafft hast? Wie viel du erreicht hast? Wie viel Mut das erfordert?”   Aus dem Augenwinkel konnte er Serenity und Joeys Mum sehen, die beide ein Meer aus Tränen weinten. Er sah Elaine kurz in die Augen und konnte sie sehen, die Liebe für ihren Sohn, wenn auch versteckt hinter all der Verzweiflung. Aber da war noch was - Seto konnte es erst nicht richtig deuten, doch es sah danach aus, als ob ein Teil dieser Zuneigung, die sie ihrem Sohn mit ihren Blicken sendete, auch Seto galt. Er wusste nicht genau, warum ihm das Mut gab, um weiterzumachen, konnte sich aber vorstellen, dass es daran lag, dass sie sich so ähnlich waren, sie und sein Hündchen. Wenn Seto in ihre Augen schaute, war es, als wenn er geradewegs auch in die Seele von Joey sah. War das auch der Grund, warum er jetzt gerade überhaupt so offen reden konnte, auch wenn fremde Menschen dabei waren? Er hatte einfach angefangen zu sprechen, war ihm bewusst näher gekommen, ohne groß darauf zu achten, wer um sie herum war. Natürlich war das hier auch eine absolute Ausnahmesituation, und Seto war gezwungen, zu agieren, sonst würde sein Hündchen untergehen, und mit ihm auch er selbst. Noch vor ein paar Monaten hätte er nie gedacht, solche Gedanken überhaupt zu denken, und jetzt sprach er sie einfach aus. War es komisch, dass ihn das nicht so viel Überwindung kostete, wie er eigentlich vermutet hatte?   Joey war noch immer an seiner Brust und unterbrach ihn in seinen Gedanken, als er die Arme um Setos Körper schlang. Seto konnte die Tränen auf seinem Hemd spüren, das Zittern in Joeys Gliedern, und er wusste, er wurde übermannt von all dem Schmerz der letzten Jahre. Und er konnte es jetzt auch fühlen. Alles, was Gozaburo ihm angetan hatte, all den Schmerz, den er solange weggeschlossen hatte. Sie teilten ein ähnliches Schicksal und denselben Schmerz, und auch wenn das normalerweise etwas Tröstliches hatte, so war es jetzt doch eher so, als wenn sich ihr Schmerz noch verdoppelte. Er fühlte, was Joey fühlte, all die Wut, Angst, Verwirrung über all das, was ihnen passiert war. Aber Seto konnte sich auf den Beinen halten, er musste einfach, er musste Joey aus diesem Loch ziehen, egal wie viel Schmerz er jetzt selbst fühlen konnte.   “Sie werden uns nicht mehr weh tun können, Joey. Niemand wird uns mehr weh tun. Wir sind stärker als das. Alles, was ich für dich fühle, ist stärker als der Schmerz, den ich empfinde, den du empfindest. Wir können das schaffen, gemeinsam besiegen wir all das.”   Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Blonde bedeutete ihm mehr, als es Worte jemals hätten beschreiben können, jedenfalls dachte er das bist jetzt. Bis er merkte, was all das bedeutete, was er für ihn fühlte. Joey war seine Luft zum Atmen, wie das Wasser für die Fische, wie die Erde für die Pflanzen. Seit er ihn kannte, war alles anders, er war anders, und er mochte, wer er war, wenn Joey bei ihm war. Joey machte ihn glücklich, so glücklich wie er nie zuvor war. Wenn sie getrennt waren, fehlte etwas, er fühlte sich nicht komplett, konnte an nichts denken außer an ihn und seine wunderschönen, goldfarbenen Augen. In der Nacht träumte er von ihm, selbst wenn er neben ihm lag. Er wusste, ohne ihn wäre er verloren. Wenn Joey lachte, ging für ihn die Sonne auf, und wenn er weinte, fühlte er Nadelstiche überall an seinem Körper. Erst mit ihm erkannte Seto, was in seinem Leben bisher gefehlt hatte. Es war, als wäre Joey das, wonach er immer gesucht hatte - und er hatte es gefunden.   Es war schwer, all das in einem Satz zusammenzufassen, aber er wusste jetzt genau, welcher Satz der richtige war, um all den verschiedenen Empfindungen für Joey zumindest ansatzweise gerecht zu werden. Noch immer war Joeys Kopf an seiner Brust und Seto lehnte sich ein bisschen dagegen, spürte seine Haare in seinem Gesicht, bevor er wieder ansetzte. “Ich liebe dich, Joey. Zusammen schaffen wir das, wir werden die Schmerzen besiegen können. Aber ich brauche dich dafür. Komm zu mir zurück…” Eine zweite Träne floss über seine Wangen und verewigte sich in Joeys Haaren. Noch immer zitterte Joey wie Espenlaub in seinen Armen und er wusste nicht, ob der Blonde ihn überhaupt gehört hatte. Sein Hündchen brauchte einen Weg, die Schmerzen rauszulassen, um sich nicht mehr in ihre Gefangenschaft begeben zu müssen. Da kam ihm ein Einfall und er hoffte, das könnte den Knoten in Joeys Kopf lösen, damit er den Schmerz endlich freilassen konnte.   “Schrei, Joey. Schrei alles raus, den ganzen Schmerz, die Wut, alles was du fühlst, egal was es ist. Lass zu, dass es deinen Körper verlässt. Schrei!” Und Joey schrie - erst war es nur ein zaghaftes Aufstöhnen, dann wurde es lauter und lauter, mischte sich mit seinem Schluchzen. Es ging Seto durch Mark und Bein, ließ ihn selbst erzittern. Joey krallte sich in sein Hemd, weinte und stieß immer wieder laute Schreie aus. Bis er wieder leiser wurde, sein Griff lockerer. Irgendwann legte er seinen Kopf in Setos Schoß, und der Größere konnte sehen, dass alle Kraft aus dem Blonden gewichen war, alles, was er die letzten Jahre in sich getragen hatte, hatte er rausgelassen. Sein Atem ging noch immer schnell, wurde aber mit jeder Minute, die er da so lag, gleichmäßiger. Seto strich ihm sanft über den Kopf, was Joey zu beruhigen schien, und Seto war froh, wieder so eine Wirkung auf ihn zu haben.   Seto stand auf und hob Joey mit sich hoch, eine seiner Hände in Joeys Kniekehlen, die andere seinen Rücken stützend. Joeys Körper war schwach und schlaff, aber dennoch konnte Seto sehen, wie der Schmerz seinen Körper verlassen hatte. Dann sah Joey zu ihm auf, seine Augenlider flackerten ein bisschen aufgrund der Anstrengung, aber er hörte ihn sagen: “Se...to…”   Seto stützte seinen Kopf etwas und sah ihm tief in die Augen. “Ich bin so unheimlich stolz auf dich.” Dann küsste er ihn, und er merkte, wie Joey den Kuss leicht erwiderte, so sehr es ihm eben gerade möglich war. Als Seto den Kuss löste, kam er wieder mehr oder weniger in der Realität an, die er die letzten Minuten stark ausgeblendet hatte, weil er sich nur auf Joey fokussiert hatte. Er hatte völlig ausgeblendet, dass sie nicht alleine waren - aber das war egal, das waren keine Fremden, sondern Joeys Familie. Und keiner wusste besser, wie wichtig Familie war, als Seto Kaiba.   Seto merkte, wie Joeys Erschöpfung die Kontrolle über seinen Körper übernahm. Er wandte sich an Elaine. “Kann sich Joey hier irgendwo ein bisschen ausruhen?” Sie brauchte wohl selbst einen Moment, um zu verstehen, dass sie gerade angesprochen wurde. Dann nickte sie. “Ja, mein Schlafzimmer. Da hinten.” Es schien, als wenn sie noch nicht wieder richtig im Besitz ihrer stimmlichen Fähigkeiten war, aber Seto verstand und brachte Joey in das Zimmer, das Elaine ihm gerade gezeigt hatte.   Er schloss hinter ihnen die Tür und sie waren für einen kurzen Moment allein. Joey war schon fast nicht mehr anwesend, er war so geschwächt, dass keine Kraft mehr in seinen Gliedmaßen war. Er legte ihn auf das Bett und deckte ihn ein bisschen zu. Für einen Moment kniete Seto sich neben das Bett, streichelte ihm über die Wange und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Er brauchte jetzt Ruhe mehr als alles andere, das wusste Seto, und doch fiel es ihm unheimlich schwer, sich zu lösen. Als er gerade aufstehen wollte, spürte er Joeys Finger, die ihn kraftlos versuchten zu halten. Seine Augen konnte er kaum noch aufhalten, aber dennoch sagte er, flüsternd und abgehackt: “Se...to… Danke…” Dann wurden auch seine Finger schlaff und er schlief ein.   Seto verließ das Schlafzimmer, und als er die Tür hinter sich zuzog, lehnte er sich für einen Moment mit dem Rücken daran, fühlte die Anstrengung der letzten Stunde in sich aufkommen. Aber es war wichtig gewesen, dass er Stärke bewies, er wusste nicht, ob Joey selbst die Kraft gehabt hätte, sich allein wieder aus der Dunkelheit zu befreien. Er fühlte sich aber auch befreit, einfach weil er das Gefühl hatte, dass Joey nun endlich all den Schmerz zugelassen hatte und sich selbst damit die Möglichkeit eröffnet hatte, es loszulassen. Und auch Setos eigener Schmerz, von dem er gar nicht so richtig gewusst hatte, dass er überhaupt in ihm existiert hatte, war ein bisschen aus seinem Körper gewichen. Wie zwei Schmetterlinge im Wind flogen ihre Schmerzen jetzt dahin, ohne nochmal den Blick zurück zu werfen. Sie ließen sich vom Wind tragen, wurden von den Luftströmen mitgerissen und blickten nach vorn, in eine Zukunft, in der ihr Schmerz zwar immer ein Teil von ihnen sein würde, aber nicht mehr genügend Macht hatte, um sie zu dominieren.   Seto nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Serenity und ihre Mum lagen sich weinend in den Armen, und er konnte hören, wie Elaine murmelte, dass sie etwas hätte tun sollen, ihn niemals hätte da lassen sollen. Seto stellte sich in ihre Nähe, ohne aufdringlich zu werden, als er erklärte: “Elaine, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Glaub mir, es ist nicht deine Schuld. Schuld allein ist dieser Bastard von Vater, der es gewagt hat, sowas mit Joey zu machen. Glaub mir, er wird nicht davon kommen, nicht mehr, dafür habe ich schon gesorgt.” Sie sahen ihn jetzt beide an, und trotz des Schmerzes, der ganz klar den Blick in ihren Augen dominierte, sah er doch auch noch ein anderes Gefühl: Hoffnung.   Und als er Elaine so anschaute, da überkam ihn ein Gefühl, dass er schon bei seinem Hündchen spürte - dass er ihr vertrauen konnte. Schon wieder musste er denken, dass das vermutlich daran lag, dass sie sich einfach so ähnlich waren, sie und Joey, und auch der Blonde hatte ein riesiges Talent dafür, im Handumdrehen Vertrautheit zu schaffen. Eine Sache, die Seto wahnsinnig an ihm bewunderte.   Er trat noch einen Schritt näher an Elaine und Serenity ran, war aber noch immer gut einen Meter von ihnen entfernt. Dann sagte er: “Joey hat doch vorhin von Gemeinsamkeiten gesprochen. Das ist eine davon. Ich habe ähnliches erlebt, wenn auch nicht ganz so heftig wie Joey, wobei er mir da vermutlich widersprechen würde. Glaubt mir, wenn ich sage, euch trifft keine Schuld. Ihr hättet es beide nicht wissen können, und ich bin mir sehr sicher, dass du, Elaine, bei deiner Trennung von seinem Dad nur das Beste für Joey im Sinn hattest, und für Serenity. Wenn so etwas passiert, ist das oft ein sehr gut gehütetes Geheimnis, aus unterschiedlichsten Gründen, das wissen Joey und ich besser als jeder Andere. Aber ich glaube, das hier heute hat ihm unheimlich geholfen, deswegen möchte ich mich bei euch beiden bedanken, dass wir hier sein durften.”   Um seinen Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, verbeugte Seto sich sogar ganz leicht, wenn auch nur andeutungsweise. Als er sich wieder gerade aufrichtete, rannte Serenity auf ihn zu und umarmte ihn innig, was ihn nicht nur sehr überraschte, damit konnte er auch absolut nicht umgehen. Dass er hier gerade überhaupt so viel von sich selbst preisgegeben hatte, grenzte schon an eines der sieben Weltwunder, aber mit so viel Nähe konnte er dann doch nicht umgehen. Aber er ließ es zu, weil er wusste, dass es auch für Joeys Familie jetzt schwer war, und wenn es das war, was seine Schwester jetzt brauchte, dann würde er sich nicht wehren. Eine Erwiderung der Umarmung durfte sie aber trotzdem nicht erwarten.   Serenity ließ von ihm ab, und trotz allem, was sie heute erfahren hatte, lächelte sie leicht. “Danke, Kaiba, dass du so gut für meinen Bruder sorgst. Ich wusste nicht, dass ihr euch so nahe steht, auch wenn ich es damals ein wenig geahnt habe, als wir euch zu Weihnachten besucht haben, aber jetzt sehe ich es ganz deutlich, und ich bin sehr froh darüber, dass er dich hat.” Wieder traten ihr leicht Tränen in die Augen, die sie sich weg wischte, und dann sagte: “Ich mache uns mal eine Kanne Tee. Ich denke, das können wir alle jetzt gut gebrauchen.” Und während Serenity sich auf in die Küche machte, um Tee zu kochen, setzte sich Elaine wieder auf ihren Sessel zurück. Auch Seto setzte sich auf das Sofa, und sofort vermisste er die Präsenz seines Hündchens, das für ihn die Welt bedeutete.   ~~~~   Als Joey wieder wach wurde, war es draußen stockdunkel, und er hatte Mühe zu verstehen, wo er sich hier gerade befand. Es war nicht das Hotelzimmer, so viel konnte er erkennen. In einem kurzen Anflug von Panik fragte er sich, wo Seto war, doch dann fiel ihm alles wieder ein, alles, was die letzten Stunden so passiert war, und er sank zurück in seine Kissen, um diese Gedanken erstmal zu verarbeiten.   Seine Familie wusste jetzt Bescheid, aber er hatte sich so sehr auf sich selbst konzentriert, dass er ihre Reaktion überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Und wenn er nicht bei sich selbst gewesen war, dann war es Seto, dessen Worte und Berührungen er spüren konnte, neben all dem Schmerz, der seinen ganzen Körper zu vereinnahmen schien. Er hatte geschrien, so wie er noch nie geschrien hatte, und es hatte sich gut angefühlt. Er konnte jetzt fühlen, wie trocken sein Mund war, vermutlich von den vielen Tränen und den lauten und leisen Schreien.    Ja, er hatte vorher gehofft, er würde wieder alles fühlen können, aber als es dann soweit war, war es schlimmer als alles, was er bisher gespürt hatte. Aber neben dem Gefühl der Schmerzen und auch der Wut und all der Angst war da auch wieder alles, was er für Seto empfand. Und er war da gewesen, hatte ihn, wie er es versprochen hatte, nicht alleine gelassen. Hatte selbst so viel gesagt, obwohl sie doch gar nicht allein waren. Joeys Herz machte einen Sprung. Er wusste allerdings nicht, ob er sich wirklich an alles richtig erinnern konnte, weil er einfach so eingenommen war von all den Gefühlen, die gleichzeitig auf ihn einprasselten.   Plötzlich stockte er - hatte Seto ihm gesagt, dass er ihn liebte? Oder hatte Joey sich das eingebildet? Seine Wangen wurden heiß bei dem Gedanken daran, dass er das wirklich gesagt haben könnte, aber es konnte genauso gut ein Produkt seiner Fantasie sein. Aber wenn er es gesagt hatte, wenn Seto es wirklich gesagt hatte - wie stand Joey dazu? War all das, was er für Seto fühlte… Liebe?   Er atmete tief durch. Joey hatte für einen Tag definitiv mehr als genug Gefühlschaos erlebt, er würde diesen Gedanken auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Langsam stand er auf und merkte, wie sich Kopfschmerzen ankündigten. Noch immer war er sehr erschöpft, als er die Tür öffnete und zurück ins Wohnzimmer ging. Dort saßen alle und schienen sich zu unterhalten, dabei tranken sie Tee, und plötzlich hatte Joey unheimlichen Durst.   Als Seto ihn bemerkte, kam er auf ihn zu und drückte ihm seine Tasse in die Hand, die er nahm und gierig trank. Als er sie wieder absetzte, sah er Seto in die Augen. Der Braunhaarige hatte noch nichts gesagt, genauso wenig wie irgendjemand Anderes. Joey wusste selbst nicht so richtig, wie es ihm ging, aber er merkte, dass er nicht mehr so überladen war von all den Gefühlen, und auch, dass er wieder klare Gedanken fassen konnte. So qualvoll diese Erfahrung heute auch gewesen war, so heilsam schien sie auf der anderen Seite gewesen zu sein, und Joey war glücklich darüber, dass Seto die ganze Zeit bei ihm gewesen war. Also versuchte er, ein wenig zu lächeln. Setos Augen weiteten sich und er legte eine Hand an Joeys Wange, bevor er fragte: “Wie geht es dir, Joey?”   Joey lehnte sich ein wenig gegen die Berührung. Er konnte nicht beschreiben, wie glücklich er war, wieder zu fühlen, ihn wieder zu fühlen, und all die Wärme, die das in ihm auslöste. “Besser”, antwortete er und versuchte, seine Mundwinkel noch ein wenig weiter nach oben zu ziehen. Dann löste er sich von Seto und ging zu seiner Familie. Er wusste nicht so recht, wie er mit ihnen umgehen sollte. Also stand er nur da und schaute sie an. Für einige Sekunden herrschte Stille, dann rannten sie auf Joey zu und zogen ihn in eine wilde Umarmung. Seine Mum fand zuerst zu ihrer Sprache zurück. Sie strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht, dann sagte sie: “Danke, dass du uns das erzählt hast, Joey. Ich hatte keine Ahnung, was du durchmachen musstest, und es tut mir unheimlich leid. Ich hatte dir zwar versprochen, dass ich mir keine Vorwürfe machen würde, aber das kann ich einfach nicht verhindern. Ich wünschte einfach, ich hätte etwas gemerkt und hätte dir helfen können, denn das hätte ich getan, hörst du?”   Joey musste hart schlucken und unterdrückte die schon wieder aufsteigenden Tränen. “Ich weiß, Mum. Das habe ich immer gewusst. Und genau deswegen trifft dich keine Schuld. Weil ich, egal wie schlimm es auch war, immer wusste, dass du mich liebst, und dass du das nie für mich gewollt hättest. Aber jetzt wird es besser, das kann ich spüren. Als ich heute herkam, da wusste ich, dass sich was verändern würde. Es lag irgendwie in der Luft. Keine Ahnung, schwer zu beschreiben. Und es war nicht einfach, das alles zu erzählen und es nochmal zu durchleben, aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe und ihr jetzt die Wahrheit kennt. Es… es hat mir geholfen, und ich glaube, jetzt wird alles besser, auch wenn es noch immer nicht so leicht werden wird.”   Da spürte er Setos Hand an seinem Rücken. Joey drehte seinen Kopf um und sah ihm in die Augen, und auch wenn er nichts sagte, so wusste er, dass Seto bei ihm sein würde, um diesen Kampf zu kämpfen, bis zum bitteren Ende, wie auch immer das aussehen mochte.   Sie lösten sich alle wieder voneinander und Joey musste gähnen. Er hatte zwar gerade geschlafen, auch wenn er nicht wusste, wie lange eigentlich, aber er konnte jetzt zusätzlich zu seiner Erschöpfung auch noch den Jetlag spüren. Seto nahm seine Hand, dann fragte er: “Sollen wir zurück ins Hotel?” Joey drückte seine Hand ein wenig und nickte ihm leicht lächelnd zu. Dann wandte er sich erneut an seine Mum und Serenity. “Danke, dass wir heute hier sein durften. Ich weiß, es war nicht leicht, das alles zu hören, das ist mir klar, und ihr werdet sicher auch eine Weile brauchen, das zu verarbeiten. Aber von jetzt an keine Geheimnisse mehr. Bitte scheut euch nicht zu fragen, wenn ihr noch was wissen wollt. Ich habe das Gefühl, ich bin jetzt bereit dazu, mich dem zu stellen. In Ordnung?”   Sowohl seine Mum als auch Serenity nickten energisch und die Tränen in ihren Augen fanden unter dieser Bewegung noch schneller den Weg zum Boden. Joey ließ Setos Hand los und umarmte seine Familie innig. Er hatte sie wirklich lieb und war froh, dass Seto vorgeschlagen hatte, herzukommen. Er hoffte, den Optimismus, den er jetzt gerade spürte, auch noch zu spüren, wenn sie wieder Zuhause waren, aber für den Moment genügte ihm das.   “Seto und ich sind noch ein paar Tage hier. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihr habt, aber vielleicht können wir ja noch was unternehmen, wo wir jetzt schon hier sind. Ich war auch noch nie im Ausland und würde mir gern ein paar Sachen ansehen.”   Seine Mum lächelte ihn an. “Das machen wir, Joey, aber jetzt ruht euch erst mal aus. Das war auch für euch ein anstrengender Tag.” Joey nickte und sah zurück zu Seto. “Sollen wir?”    Als Joey die Haustür öffnete, winkte er Serenity und seiner Mum noch ein letztes Mal zu, dann fiel die Tür ins Schloss und sie standen im Treppenhaus, das komplett dunkel war. Seto machte Anstalten, den Lichtschalter zu drücken, doch Joey hielt ihn davon ab, zog ihn ein wenig zu sich herunter und küsste ihn zärtlich. Er legte alles, was er für seinen Drachen empfand, in diesen Kuss, schloss die Augen, um alles noch intensiver zu spüren und war froh, als dieser Plan aufging. Als sich ihre Lippen wieder voneinander trennten, sagte Joey: “Danke, Seto. Ohne dich hätte ich das niemals geschafft.” Als Antwort darauf zog Seto ihn nochmal in einen zärtlichen Kuss, und als sie sich erneut lösten, nahm Joey seine Hand und sie liefen durch das dunkle Treppenhaus nach unten, bevor sie dieses verließen und sich ihre Finger wieder trennten. Auf dem ganzen Weg zurück zum Hotel konnte Joey an nichts anderes denken als an das, was Seto heute für ihn getan hatte. Und an die grenzenlose Dankbarkeit, die er verspürte, und der er niemals genug Ausdruck würde verleihen können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)