Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 16: Rescue me... from the emptiness ------------------------------------------- Leere - das war alles, was Joey in der letzten Zeit gefühlt hatte. Wo er noch vor wenigen Tagen den Schmerz gespürt hatte, ausgehend von seinen Wunden, aber auch von all den Erinnerungen, die ihn kaum atmen ließen, breitete sich jetzt eine Dunkelheit in ihm aus, die er alleine nicht stoppen konnte. Auch in diesem Augenblick starrte er wieder gedankenlos an die Decke und wartete ab. Auch wenn er immer wieder versuchte, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren, so gelang es ihm nicht. Selbst einen Punkt an der Wand zu fokussieren, war eine fast unlösbare Aufgabe, denn immer, wenn er es mit aller Macht probierte, verschwamm sein Blick vor seinen Augen und alles wurde trüb. Es war, als wäre er plötzlich in einer anderen Welt aufgewacht, einer Welt, die ihm nichts zu bieten hatte - nichts außer seinem bloßen Dasein.   Die Tränen, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit seine Wangen benetzt hatten, waren getrocknet, nichts erinnerte mehr an sie. Joey versuchte, sich an ihren salzigen Geschmack zu erinnern, an das Gefühl der Nässe in seinen Augen, auf seinem Gesicht, aber auch das wollte ihm einfach nicht gelingen. Und er wünschte sich nichts mehr, als darüber wütend zu werden, weil es einfach nicht klappen wollte, aber schon wieder - nichts.   Was ihm blieb, war seine Wahrnehmung von dem, was aktuell geschah. Er konnte seinen Atem spüren, wie die Luft in seinen Körper eindrang und angewärmte Luft wieder ausströmte. Merkte, wie sich seine Nasenflügel bewegten, wie sein Bauch und seine Brust sich hoben. Aber nichts von dem, was er spürte, erreichte sein Herz, nichts davon löste auch nur die geringste Empfindung in ihm aus. Es war, als hätte er verlernt, die Dinge, die er bemerkte, zu bewerten. Sein Kopf war nicht mehr in der Lage, den Geschehnissen Gefühle zuzuordnen. Er existierte, und das war auch schon alles, was es darüber zu sagen gab.   In den letzten Tagen hatte er viel Zeit alleine verbracht. Seto war quasi ununterbrochen mit den Vorbereitungen für ihre bevorstehende Reise beschäftigt gewesen, sodass der Blonde im Wesentlichen nicht mehr tat, als den ganzen Tag im Bett zu liegen und Löcher in die Luft zu starren. Für Joey fühlte sich das Bett so groß an, wenn Seto nicht da war, und er wünschte sich, es würde ihn traurig machen, ihm endlich die Tränen geben, die er so dringend weinen wollte, aber einfach nicht konnte.    Seto und er sahen sich gelegentlich zum Essen, aber meist bemerkte Joey ihn erst gar nicht, wenn er versuchte, ihn zum Essen zu holen. Es dauerte dann immer eine Weile, bis er realisierte, dass noch jemand im Raum war. Wenn er dann versuchte, sich auf Seto zu konzentrieren, dauerte es wieder einige Zeit, bis er ihn sehen konnte, also, wirklich sehen konnte, nicht die verpixelte Version, die er sah, wenn ihn die Leere gefangen nahm. Dann sah er seine eisblauen Augen, den sorgenvollen Blick, die Strähnen, die ihm in die Stirn fielen, vor allem, wenn er seine Haare gerade frisch gewaschen hatte. Als nächstes konnte er seinen Duft wahrnehmen, bevor er irgendwann auch hörte, was er sagte. Und wenn Seto länger bei ihm war, nicht bloß ein paar Minuten, dann merkte er, wie ganz langsam auch wieder ansatzweise Empfindungen zurückkamen, wenn auch zunächst nur vage angedeutet. Das Erste, woran er dann denken konnte, noch bevor er selbst wieder des Sprechens mächtig wurde, war, wie schön er ihn fand. Wenn Seto sich abends neben ihn ins Bett legte und gemeinsam mit ihm noch eine Weile wach blieb, legte sich irgendwann der Nebel vor seinen Augen und er konnte ihn sehen, ihn mit seinem Blick fixieren, dann auch wieder mit ihm sprechen und Setos Hand auf seiner Wange wahrnehmen. Dann kehrte er ins Leben zurück und war nicht mehr nur ein Schatten seiner selbst.   Joey konnte nicht sagen, wie viel Zeit bis zu diesem Punkt normalerweise verging. Dass es nur Sekunden waren, konnte er fast ausschließen, er war sich ziemlich sicher, dass es mindestens einige Minuten dauern musste, bevor er überhaupt wusste, dass Seto sich im Raum befand. Aber er war da, jeden Abend, schlief jede Nacht neben ihm ein, und wenn Joey dann langsam wieder anfing, Regungen in seinem Herzen zu spüren, da wusste er, dass Seto ihn aus diesem Zustand retten konnte. Und er wusste, Seto würde ihn immer retten, egal, wie tief er auch gefallen war.   Aber er war viel allein. Wenn Seto morgens ging, um sich den Vorbereitungen zu widmen, blieb von Joey bloß eine leere Hülle zurück. Erneut wich alles Leben, jegliches Gefühl aus seinen Gliedern. Die ersten Minuten, wenn Seto ihn verlassen hatte, spürte er vor allem eine ihn übermannende Kraftlosigkeit. Er konnte dann nichts anderes mehr tun, als im Bett zu liegen und erneut die Wand anzustarren. Er war dann gefangen im Käfig seiner eigenen Gedanken, aber wenn er in diesem Augenblick versuchte, einen bestimmten Gedanken zu greifen, war er auch schon wieder verschwunden und er wurde wiederholt Sklave seiner eigenen Apathie, unfähig, sich selbst daraus zu befreien.   Er fragte sich, ob das jetzt immer so sein würde. Ob er sich nur besser fühlen würde, wenn Seto bei ihm war. Er wusste, es war gut, dass es offensichtlich überhaupt noch einen Ausweg gab, und dieser hatte eisblaue Augen. Er wünschte sich einfach, wieder irgendwas zu fühlen, auch ohne Seto. Manchmal wünschte er sich sogar, der Schmerz würde ihn hemmungslos treffen, damit er sich dem endlich stellen konnte, aber er wusste nicht, wie. Er lebte, atmete, aß ein bisschen was - aber war das wirklich leben? Würde das jetzt immer so sein, wenn er allein war? Seto war immerhin CEO eine Multimilliarden-Firma, er war auch im Alltag viel beschäftigt, sodass Joey sowieso oft Zeit ohne ihn verbringen musste. Wie sollte er einen Alltag überstehen, in dem er nichts außer Leere und Dunkelheit in sich spürte?   Noch vor wenigen Wochen hatte er vor, dem Schmerz ein Ende zu bereiten, sein eigenes Leben auszulöschen, um den Qualen, die es mit sich brachte, zu entkommen. Vielleicht war es also doch nicht besser, alles zu fühlen, vielleicht war es einfach eine natürliche Abwehrreaktion seines Körpers und seiner Psyche. Aber Seto hatte ihm in den letzten Monaten gezeigt, dass er lernen konnte, mit dem Schmerz umzugehen. Dass er ein Leben haben konnte, in dem er glücklich sein würde. Und er war glücklich gewesen, bis zu dem Tag, an dem sein Dad ihn auf den harten Boden der Realität zurückgeholt hatte.   Hatte er es vielleicht nicht anders verdient? Vielleicht war es einfach das Schicksal, das ihm sagen wollte, dass es für ihn in diesem Leben keine Freude geben konnte. Aber wäre das ein Leben, das er leben wollte? Die letzten Monate hatte ihm Seto gezeigt, dass es im Leben einen Sinn geben könnte. Sie hatten eine Verbindung aufgebaut, die vermeintlich alles überwinden konnte. Aber wäre das genug, würde das auch für jetzt reichen? Er hatte ihm versprochen, es zu versuchen, damals am Meer, und genauso, wie ein Kaiba nie seine Versprechen brach, würde auch ein Wheeler nicht kampflos aufgeben. Aber dieses Mal war alles anders, weil er statt einer Masse an Schmerz einfach gar nichts mehr fühlte und wie ein Geist durch den Tag glitt, zumindest wenn Seto länger nicht bei ihm war. Und er fragte sich, ob das nicht sogar schlimmer wäre, als alles zu fühlen.   ~~~~   Seto drückte den roten Hörer und legte auf. Die Polizei hatte Joeys Dad noch immer nicht gefunden, und er fragte sich, in welchem Rattenloch sich dieser Aasgeier wohl versteckt hielt. Er war sich aber auch bewusst darüber, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte. Er hatte Mittel in Aussicht gestellt, die helfen würden, mehr Personal für den Fall abzuziehen. Joeys Dad würde gefunden werden, die Uhr tickte unaufhörlich, und er würde sicherstellen, dass er jede nur erdenkliche Strafe bekam. Er würde nicht davonkommen, nicht mehr.   Seto war aufgefallen, wie in sich gekehrt sein Hündchen in den letzten Tagen war. Der Glanz war vollständig aus seinen Augen verschwunden, und auch wenn seine körperlichen Wunden allmählich heilten, so sah es bei Joeys Psyche doch ganz anders aus. Joey taute ein bisschen auf, immer wenn er etwas länger bei ihm war, aber Seto war die letzten Tage leider sehr beschäftigt gewesen, um alles Notwendige zu organisieren. Gestern hatte er Joeys Mum angerufen, um sie auf ihre Ankunft vorzubereiten, und er hatte ihr durch die Blume auch schon angekündigt, dass was passiert war. Natürlich war sie neugierig und wollte mehr wissen - das hatte sein Hündchen dann wohl von ihr - aber er sagte ihr, dass sie ihr und Serenity alles erklären würden, sobald sie da waren. Sie hatten außerdem abgesprochen, dass Seto und Joey in der Nähe in ein Hotelzimmer gehen würden, weil die Wohnung der beiden nicht für Besuch ausgelegt war. Er konnte das sehr gut verstehen, Wohnungen in Los Angeles waren unheimlich teuer, weshalb sie auch am äußersten Stadtrand lebten. Aber Seto war eigentlich ganz froh darüber, so konnte er immer für genügend Zweisamkeit mit seinem Hündchen sorgen, und er war sich sicher, das brauchte nicht nur er, sondern auch Joey jetzt ganz dringend.   Seto wusste, dass die Gespräche mit seiner Familie auch schwer werden würden für sein Hündchen, aber er war sich ganz sicher, es würde zu seiner Heilung beitragen. Und er würde jeden Schritt begleiten, immer bei ihm sein, und zusammen würden sie das schaffen können. Jedenfalls hoffte er es sehr - er merkte, wie die Apathie immer häufiger von Joey Besitz ergriff. Er würde jeden Menschen jetzt brauchen, der ihm etwas bedeutete, und Seto wusste, dass seine Mum und Serenity ganz oben auf dieser Liste standen. Und er hoffte, so schwer es auch werden würde, dass sie ihn aus seinem Kopf rausholen konnten, ihm aufzeigen konnten, dass es so nicht sein muss, dass es einen Ausweg gab.   Als sein Handy vibrierte und er die Nachricht las, dass der Flieger endlich bereit war, machte er sich auf den Weg zu Joeys Apartment. Endlich war es soweit, und er hoffte, Joey damit wieder aus seinem Schneckenhaus rauszukriegen. Ihn so zu sehen, brach ihm das Herz. Niemals im Leben hatte er so etwas gefühlt, außer vielleicht für Mokuba. Aber das hier war ganz anders, weil es Joey war, und seine Gefühle für ihn ganz anders waren als die, die er für Mokuba hegte.   An Joeys Apartment angekommen, klopfte er und verschaffte sich dann mit seiner Schlüsselkarte Zugang. Er fand sein Hündchen, wie schon so oft in den letzten Tagen, in seinem Bett vor, während er Löcher in die Luft starrte. Er bemerkte Seto im ersten Moment gar nicht. Der Größere wollte ihn einfach schütteln, wachrütteln, ihn wieder in die Realität zurückholen, und er würde jede einzelne Sekunde der nächsten Tage genau das versuchen. Er musste ihm zeigen, dass das nicht sein Leben war, dass er es in der Hand hatte. Und egal, was er dafür tun musste, er würde alles tun. Alles. Nichts war zu groß oder zu klein oder zu schwierig, für Joey würde er alles versuchen. Und der erste Schritt in die richtige Richtung war, hier wegzukommen.   Er ging zum Bett und legte sich für einen Moment neben ihn, nahm seine Hand und küsste den Handrücken. “Hey, mein Hündchen. Wie geht es dir?” Er hörte ihn noch nicht. Das kannte Seto jetzt schon und er wusste, er musste ihm die Zeit geben, die er brauchte, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Und während er zärtlich Joeys Hand streichelte, machte sich die Hoffnung in ihm breit, dass die nächsten Tage, in denen sie viel zusammen sein würden, dafür sorgen könnten, dass er diesem Zustand schneller entkommen konnte.   Irgendwann drehte Joey den Kopf so, dass sie sich jetzt ansehen konnten. Erstaunlich, wie schnell die Wunden verheilt waren, auch wenn sein Auge noch immer geschwollen und auch ein bisschen blau war, so war der Rest doch schon fast nicht mehr sichtbar. Als er ihm in die Augen sah, konnte er für eine Millisekunde Wärme aufblitzen sehen, aber so schnell es gekommen war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Aber Seto klammerte sich an diese winzigen Sekunden, in denen er sehen konnte, dass sein Hündchen, so wie er es kennengelernt hatte, noch irgendwo da drin steckte. Er wusste, dass Joey in diesen Tagen einfach etwas mehr Zeit brauchte, um wieder ganz präsent zu sein.   Seto drehte sich auf die Seite, und Joey tat es ihm gleich. Dann legte der Braunhaarige ihm einen Arm über die Hüfte und zog ihn ein wenig näher zu sich, legte seine Stirn an die von Joey, berührte ganz sanft seine Wange. “Seto…”, hörte er ihn flüstern, doch noch immer fehlte jeglicher Glanz in seinen Augen, so als ob er schlafwandeln würde.   “Ich bin hier, Joey. Und jetzt gehe ich auch nicht mehr weg.” Er streichelte ihm sanft durchs Haar, gab ihm ein paar Minuten. Als er Joeys Hand an seiner Wange spürte, wusste er, dass er sich jetzt wieder etwas besser auf ihn konzentrieren konnte, und er konnte ein Lächeln nicht verbergen, weil er so glücklich darüber war, dass er die Macht dazu hatte, ihn ins Leben zurück zu holen. Denn auch wenn seine aktuelle Verfassung ihm unheimlich war, so gab ihm das doch die Gewissheit, dass sie es schaffen konnten - gemeinsam.   Als er das Gefühl hatte, dass Joey ihn wieder hören und besser wahrnehmen konnte, sagte er: “Wenn du möchtest, können wir los. Ich habe alles geregelt, deine Mum weiß Bescheid, und sie und Serenity freuen sich auf dich.”   “Auf dich nicht?” Zuerst war der Braunhaarige überrascht, weil Joey so schnell antworten konnte, aber dann musste Seto ein bisschen lachen. So gruselig Joeys Erscheinung im Moment auch war, aber in diesem Zustand sagte er einfach manchmal Dinge, die er fast schon kindlich-naiv fand, süß irgendwie. “Doch, natürlich auch auf mich. Aber sie wissen ja noch nichts von uns, deswegen hat deine Mum eher die Freude darüber erwähnt, dich wiederzusehen. Willst du es ihnen erzählen, das von uns?” Neugierig schaute er in Joeys Augen, und wieder war für einen kurzen Augenblick die goldene Farbe zurück, bevor sie mattem Braun wich.   “Weiß nicht, sollte ich denn?”   “Das ist nicht die Frage, Joey.” Seto zog ihn mit sich hoch, umarmte ihn sitzend von hinten und schlang die Beine um ihn herum, während er kurz seinen Nacken mit leichten Küssen bedeckte. “Die richtige Frage, mein Hündchen, ist doch, ob du es willst.” Seto war erleichtert, als er merkte, dass Joey sich in seine Berührung reinlehnte - er war noch da, sein Hündchen, und er würde ihn mehr und mehr zurück an die Oberfläche holen, komme, was da wolle.   Joey drehte sich ein bisschen zu ihm um, bevor er sagte: “Aber darf ich denn? Müssen wir nicht vorsichtig sein?” Seto strich ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor er sagte: “Grundsätzlich hast du recht, aber meine Familie - also, Mokuba - weiß es ja auch, wie könnte ich dir da verbieten, es deiner Familie zu erzählen? Wie wäre es, wenn wir im Flieger überlegen, wie wir das machen könnten? Vorausgesetzt, du willst es ihnen erzählen, natürlich.”   Ganz plötzlich, unerwartet schnell, kam Leben in sein Hündchen zurück, und Seto blieb für einen Moment die Luft weg, als er seinen intensiven Blick sah. Sofort verlor sich Seto in seinen Augen. “Ja, ich will es ihnen unbedingt erzählen. Aber du musst bei mir sein, hörst du? Ich… ich will nicht allein sein. Wenn ich allein bin, dann…” Und mit einem Mal war Joey wieder in seinem Schneckenhaus. Nein, er musste weiter reden, er durfte sich nicht verstecken.   “Joey, sieh mich an, red mit mir. Was ist, wenn du alleine bist?”   “Dann… dann fühle ich einfach gar nichts. Ich fühle mich leer. Wenn ich wenigstens Schmerz empfinden könnte, Trauer, irgendwas, damit könnte ich vielleicht umgehen, aber einfach nichts zu fühlen, da weiß ich einfach nicht, was ich machen soll. Ergibt das irgendeinen Sinn?”   Seto nickte. “Natürlich, alles, was du sagst, ergibt einen Sinn. Hör zu, ich bin da, okay? Es tut mir leid, dass ich die letzten Tage nicht so viel bei dir war, aber ich habe alles so vorbereitet, auch in der Firma, dass ich mich wirklich voll und ganz auf dich konzentrieren kann. Und Joey, bitte vergiss nicht, dass ich immer da sein will für dich. Weil du mir unheimlich wichtig bist und mir alles bedeutest. Okay?”   Joey traten Tränen in die Augen, und Seto konnte sehen, dass es Freudentränen waren. Er strich ihm vorsichtig ein paar Tränen von den Wangen, dann fragte er: “Fühlst du denn etwas, wenn ich bei dir bin?”   Joey nickte. “Ja. Was du gesagt hast… das war wunderschön, Seto.”   “Erzähl mir, was du dann fühlst.”   Er sah, wie Joey für einen kurzen Moment überlegen musste. “Ich fühle Wärme, und wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich dich noch. Das ist schön… es fühlt sich gut an. Ich bin so gerne bei dir.” Seto war überrascht, als er Joey sogar ein wenig lächeln sah, und von der Reinheit seiner Worte. Es war noch nicht das Hündchen, das er vor diesem Vorfall war, aber es ließ ihn noch ein wenig mehr hoffen.   Er gab ihm einen Kuss auf die Stirn, dann sagte er: “Und ich bin unheimlich gern bei dir, mein Hündchen. Es gibt keinen Ort, wo ich lieber wäre.” Joey wurde sogar ein wenig rot - Mann, sie hatten einfach viel zu wenig Zeit zusammen verbracht die letzten Tage. Vielleicht würde es ihm schon besser gehen, wäre Seto nicht so abwesend gewesen? Er fühlte sich schuldig, wusste aber zugleich, dass er jetzt so viel Zeit freigeschaufelt hatte, dass er sich voll und ganz Joey widmen konnte. Und er würde das Beste daraus machen.   “Können wir jetzt von hier weg?”, fragte Joey, und Seto nickte lächelnd. Sie verließen das Apartment in Richtung Flugplatz auf dem Dach - sie würden mit dem Hubschrauber zum größeren Flugplatz geflogen werden, wo sein Privatflugzeug stand - und Seto gab dem Personal Bescheid, ihr Gepäck einzuladen.   Als sie nur wenig später mit dem Helikopter auf dem großen Flugplatz landeten, wirkte Joey schon etwas befreiter. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn von hier wegzubringen, das konnte Seto jetzt ganz deutlich sehen. Ihre Sachen wurden im Flieger verstaut und der Pilot begrüßte beide persönlich. Es gab außerdem zwei Flugbegleiter an Bord, die sie mit Essen und Getränken versorgen würden, aber ansonsten sehr diskret waren - außerdem gab es zwei separate, private Schlafräume, in die sie sich zurückziehen konnten. Er ließ Joey zuerst die Treppe hochgehen, und sein Erstaunen war ihm ins Gesicht geschrieben. Seto konnte gar nicht beschreiben, wie glücklich es ihn machte, wieder irgendeine Empfindung im Gesicht des Blonden zu sehen.   ~~~~   Als sie auf dem Flugplatz ankamen und nur noch wenige Meter vom Eingang von Setos Privatflugzeug entfernt standen, war Joey plötzlich ganz befreit. Seto hatte ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen, seit er vorhin zu ihm gekommen war, und Joey konnte spüren, wie ihn das ins Leben zurückholte. Langsam kamen die Empfindungen zurück, es war ihm wieder möglich, die Sachen, die er sah, zu bewerten. Er war dankbar für jedes Gefühl, das er nun wahrnehmen konnte, ganz gleich, welches es jetzt auch war.   Und in genau dem Augenblick, als sie das Flugzeug betraten, war er vor allem verblüfft. Er war noch nie geflogen - wenn man mal von den Flügen mit dem Helikopter absah - und konnte sich kaum vorstellen, dass ein Linienflug so aussehen würde. Alles sah so edel aus und auch die Sitze, auf denen sie Platz nehmen würden, sahen bequemer aus als alles, worauf er so bisher gesessen hatte.   Ein Flugbegleiter führte sie zu ihren Plätzen und Joey ließ sich auf dem Fensterplatz nieder, Seto setzte sich direkt neben ihn. Vor ihnen war ein großer Tisch und dahinter befanden sich noch mal zwei Sitze, die in die entgegengesetzte Flugrichtung positioniert wurden, sodass sich hier jeweils zwei Personen gegenüber sitzen konnten. Joey sah für einen Moment aus dem Fenster und auf das Rollfeld. Er konnte reges Treiben beobachten und war tatsächlich auch ein bisschen aufgeregt.   Erneut machte sich Erleichterung in ihm breit. Er fühlte wieder, konnte einzelne Gedanken fassen, auch wenn es ihm noch ein bisschen schwer fiel, viele zusammenhängende Gedanken wahrzunehmen. Er war sich nicht sicher, ob Seto sich darüber bewusst war, wie viel Einfluss er auf ihn hatte. Joey fand es ja selbst total merkwürdig - im einen Moment fühlte er sich leer und apathisch, und schon im nächsten fühlte er diese Verbindung zu seinem Drachen, wenn er auch nur im selben Raum wie er selbst war - auch wenn das zugegebenermaßen eine Weile dauerte, bis er zurück in diesem Zustand des Fühlens war. Es war, als wäre Seto seine Brücke zum Leben, das Seil, das ihn hochzog, wenn er wieder mal zu tief gefallen war. Und er nahm es gerne an. Er würde es gar nicht anders haben wollen.   Er sah Seto jetzt direkt an und verlor sich in seinen wunderschönen, eisblauen Augen. Er wusste, solange um sie herum noch so viel Trubel war, würde er ihn nicht berühren können, aber er hatte Sehnsucht nach ihm. Er hatte ihn die letzten Tage wirklich nur spärlich zu Gesicht bekommen, und er kam auch immer sehr spät erst ins Bett, auch wenn er sich daran hielt, dass sie jede Nacht zusammen verbringen würden. Er wurde ungeduldig, weil er ihn unbedingt küssen wollte. Auch das hatten sie die letzten Tage vermieden, einfach schon, weil seine Lippe noch ein bisschen geschwollen war, aber mittlerweile war sie vollständig verheilt. Das konnte man von seinem Auge leider noch nicht sagen, aber es war auf einem guten Weg. Es war komisch, plötzlich wieder diese Sehnsucht zu fühlen, weil er die letzten Tage einfach gar nichts gefühlt hatte - aber es machte ihm Mut, dass es Licht am Horizont gab. Und dieses Licht war eisblau.   Sie hörten den Piloten durchsagen, dass sie sich anschnallen sollten, weil es gleich losgehen würde. Er sah die beiden Flugbegleiter ebenfalls zu ihren Plätzen gehen, die separat und außerdem außer Sichtweite von ihnen waren. Joey hatte - aus welchen dämlichen Gründen auch immer - Probleme damit, seinen Gurt richtig einzustellen. Er wollte schon genervt aufgeben, da spürte er Setos Hände an seinen - er war ihm sehr nah und sah ihm die ganze Zeit in die Augen, während er Joeys Gurt richtete und fest zog. Joeys Haut kribbelte unter Setos Berührungen.    Langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung, doch die Beiden bewegten sich nicht, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. Zu Joeys Aufregung wegen des Flugs mischte sich plötzlich wieder diese Hitze, die noch vor einer Woche so selbstverständlich zu seinem Alltag gehörte, wann immer er Setos Blicke auf sich spürte. Er hatte sie vermisst. Er wusste, dass alle Gespräche mit seiner Familie, die noch vor ihm lagen, auch schwierig werden würden - er hatte sich vorgenommen, ihnen die Wahrheit zu erzählen, nicht nur über Seto und ihn, auch wenn er das nicht abwarten konnte, sondern auch über seinen Dad. Er wusste, was er damit auslösen würde, und es machte ihm eine unheimliche Angst. Aber er war sich zweifellos sicher, dass Seto da war und ihm beistehen würde, einspringen würde, wann immer er strauchelte oder Hilfe brauchte. Und jetzt, in diesem Augenblick, wo sie sich so nah waren, wollte er die Sorgen, die jetzt noch in der Zukunft lagen, einfach vergessen, einfach bei ihm sein, seine Berührungen spüren, jetzt, wo er sie endlich wieder in Gänze wahrnehmen konnte.   Und in dem Moment, als sie abhoben, wusste er, dass niemand sie mehr würde sehen können. Er überwand die geringe Distanz zwischen ihren Gesichtern und küsste Seto mit einer Leidenschaft, die mehr forderte. Das entlockte Seto ein wohliges Seufzen und Joey wusste, dass auch Seto ihn vermisst hatte. In Joeys Magen kribbelte alles, zum einen wegen des immer höher steigenden Flugzeugs, aber auch, weil er endlich wieder die Schmetterlinge fühlen konnte. Schnell atmend löste er den Kuss und wischte sich einige Tränen aus den Augen, und Seto sah ihn besorgt an. “Was ist los, mein Hündchen?”   Joey schüttelte den Kopf und lächelte. “Ich fühle etwas, Seto. Weißt du eigentlich, wie befreiend das ist? Ich hatte solche Angst, ich würde das nicht mehr können. Ich hatte Angst, nicht mehr so für dich fühlen zu können. Aber es ist noch da. Ich bin noch da.”   Er sah, wie berührt Seto war. “Joey, ich sorge dafür, dass du da bleibst, hörst du? Wann immer du dich leer fühlst, und sei es auch nur für eine Sekunde, dann kommst du zu mir, ja? Egal ob ich arbeite oder schlafe oder was auch immer mache, okay?”   “Ja…”, raunte er nur kurz, bevor er Seto wieder in einen Kuss verwickelte. Dieses Mal war er zärtlicher, so voller Vertrauen und Zuneigung füreinander. Und während er Seto küsste, kamen plötzlich alle Sinne und Empfindungen zurück - er nahm Setos Geruch mit einer Wucht wahr, wie er es vorher nie gefühlt hatte, so als ob sein Körper alles in sich aufsaugen würde, was er die letzten Tage so angestrengt unterdrückt hatte. Er löste den Kuss und legte seinen Kopf auf der Schulter des Braunhaarigen ab, wollte sich ganz auf seinen Duft konzentrieren. Er roch irgendwie blumig, süß, aber im Hintergrund nahm er auch einen ganz dezenten Minzduft wahr. Es war betörend und gleichzeitig spürte Joey die Erleichterung, diese Gedanken greifen und die vielen Eindrücke genau spüren zu können. Er versuchte, sich diesen Moment genau einzuprägen und nahm sich vor, wenn er sich das nächste Mal leer und melancholisch fühlte, würde er versuchen, genau an diesen Moment zurückzudenken. Vielleicht hatte er Probleme damit, irgendeinen Gedanken zu fassen, wenn er sich so fühlte, aber wenn er exakt wusste, woran er denken musste, würde das möglicherweise helfen, ihn nicht abdriften zu lassen. Einen Versuch wäre es allemal wert.   Als die Stimme des Kapitäns wieder ertönte, der durchsagte, dass sie nun an ausreichender Flughöhe gewonnen hätten und sie sich daher abschnallen konnten, wichen sie kurz erschrocken auseinander, einfach aufgrund des Geräusches, das sie nicht erwartet hatten. Dann lächelte Seto ihn an. “Soll ich dich ein bisschen rumführen?” Joey erwiderte das Lächeln und nickte, dann schnallte er sich ab und Seto und er erhoben sich von ihren Plätzen.   “Also, wo wir hier stehen, sind die Plätze, die wir bei Start und Landung einnehmen müssen. Weiter vorne im Flieger ist eine kleine Bar, wo immer ein Flugbegleiter stehen wird und uns Getränke macht, wenn wir Lust auf welche haben. Und hier hinten” - Seto zeigte in Richtung des hinteren Flugzeugs - “sind zwei private Schlafräume. Sie sind nicht riesig, bergen aber pro Schlafraum Platz für zwei Personen.”   “Das heißt, wir können uns dahin zurückziehen, wann immer wir wollen?”, fragte Joey.   Seto sah sich kurz um, und als er niemanden erblickte, strich er ihm über die Wange und für einen kurzen Moment über die Lippe, bevor er sagte: “Wann immer wir wollen. Sie sind sogar extra geräuschbeständig.” Joey lief rot wie eine Tomate an, was Seto zum Lachen brachte. “Weil es dort drinnen Fernseher gibt, die man auch laut anschalten kann, wenn man nicht mit Kopfhörern hören möchte. Keine Ahnung, woran du jetzt gleich wieder gedacht hast…”   Joey stieg in sein Lachen ein und fühlte sich so glücklich und frei. Er wusste, er musste das jetzt genießen, und dass die negativen Gefühle, oder vielleicht sogar wieder diese Leere, schneller wiederkommen konnten als ihm lieb war. Aber er würde Seto die nächsten Tage nur für sich haben, und er hoffte, in dieser Zeit genug Kraft tanken zu können, um danach nicht wieder in das Loch zurückzufallen, aus dem Seto ihn gerade so mühsam rausgezogen hatte.   Der Braunhaarige öffnete eine Tür zu einem der Schlafräume und Joey staunte nicht schlecht - er hatte nicht gelogen, wahnsinnig groß war es nicht, aber bot dennoch mehr als genug Platz, um ein Doppelbett, einen kleinen Klapptisch, eine noch kleinere Kommode und eben den Fernseher, der an der Wand befestigt war, zu beherbergen. Es sah genauso edel aus wie schon ihre Sitzplätze. Joey trat einen Schritt hinein und sah sich einen Moment um, als er plötzlich Setos Arme um sich spürte. Joey lehnte sich ein wenig an ihn und genoss die Berührung. Es war wirklich erstaunlich, wie intensiv er ihn jetzt spürte - er hatte das Gefühl, das, was er in den letzten Tagen nicht gespürt hatte, das fühlte er jetzt mit noch größerer Intensität. Und er würde jede Sekunden auskosten, bis zum Äußersten.   Seto hatte die Tür hinter sich geschlossen und sie waren ganz für sich. “Wir sollten uns ein bisschen hinlegen, mein Hündchen, der Flug wird insgesamt ungefähr zehn Stunden dauern. Und bereite dich schon mal auf einen heftigen Jetlag vor, wir haben 17 Stunden Zeitverschiebung nach LA.”   “17 Stunden? Was… wie geht denn sowas?”, fragte Joey fast schon entsetzt. Er nahm Setos leichtes Lachen an seinem Ohr wahr. “Ich weiß, verrückt, oder? Und weißt du, was noch verrückter ist? Es sind 17 Stunden früher. Das heißt, wenn wir ankommen, ist es immer noch früher als wir losgeflogen sind.” In Joeys Kopf drehte sich plötzlich alles, nun war er vollends verwirrt. “Also, das kann doch gar nicht gehen. So biologisch oder so. Ich dachte, das wäre ein Privatjet und keine Zeitmaschine.” Lachend ließen sie sich rückwärts aufs Bett fallen und schauten für ein paar Minuten einfach nur an die Decke. Dennoch fühlte es sich für Joey anders an als in den letzten Tagen, wo er so oft allein Löcher in die Luft gestarrt hat. Er konnte Setos Präsenz ganz nah bei sich spüren und wurde vollständig davon eingenommen. So als ob der Größere eine Blase um sie herum errichten würde, die sie vor allen Außeneinflüssen schützen würde.    Aber Joey wusste, das war nur ein temporärer Zustand. Wenn er ehrlich war, hatte er Angst, wieder aus diesem Flugzeug zu steigen, weil er wusste, was ihn erwarten würde. Wie würde seine Mum reagieren? Er wollte unbedingt ehrlich sein, aber würde er das wirklich schaffen? Er wusste, dass sie unheimliche Schuldgefühle haben würde, und auch wenn Joey das für absurd hielt, weil sie einfach überhaupt keine Schuld traf, so kannte er seine Mum doch gut genug um zu wissen, dass genau das passieren würde. Könnte er sie auffangen? Würde er die Kraft finden, gedanklich alles nochmal zu erleben und danach noch für sie da sein zu können? Er musste sich eingestehen, dass er das nicht wusste. Er versuchte, es sich vorzustellen, aber er konnte den Gedanken einfach nicht greifen. Joey hatte solche Angst davor, sie fallen zu sehen - denn daran wäre er Schuld.   “Hey, Joey, sieh mich an.” Joey hatte gar nicht gemerkt, wie er mit seinen Augen abgedriftet war und einen Punkt anvisierte, der gefühlt Lichtjahre entfernt zu sein schien. Er sah Seto an, aber er hatte Schwierigkeiten, ihn zu fokussieren. Er fühlte, wie die Leere in ihm die Kontrolle übernahm - schon wieder.   Wie gedämpft hörte er Setos Stimme, so als wäre sie ganz weit weg. “Joey, bleib bei mir. Erzähl mir, was in dir vorgeht.” Wieder versuchte Joey sich auf ihn zu konzentrieren, und es gelang ihm ein bisschen besser, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er spürte Setos Hände an seinen Wangen und Joey richtete seine ganze Aufmerksamkeit nun auf diese Berührung, analysierte sie genau, und schloss dabei die Augen. Setos Daumen strichen ihm leicht über die Wangen, kurz unter dem Auge. Seine Hände waren warm und groß und er spürte einige Finger auch an seinem Hals. Dann dehnte sich seine Aufmerksamkeit langsam auf die Geräusche aus. Er hörte Seto atmen und spürte ein wenig der warmen Luft auf seinem Gesicht, wann immer der Größere ausatmete. Er roch noch immer so wie vorhin, als Joey vehement versuchte, sich seinen Geruch einzuprägen. Er nahm den Minzgeruch jetzt intensiver wahr als er vorhin noch war. Dann hörte er plötzlich Setos Stimme, ganz nah an seinem Ohr, nicht mehr als ein Flüstern.   “Joey, ich bin hier. Du bist nicht allein. Versuch dich auf meine Stimme zu konzentrieren.” Joeys Wahrnehmung wurde besser, aber er wusste, wenn Seto nicht weiter redete, würde er wieder verschwinden. Er brachte ein kurzes, fast unmerkliches Nicken zustande und hoffte, Seto würde verstehen.   “Möchtest du, dass ich was erzähle? Würde das helfen?”, fragte Seto und hatte Joey damit offensichtlich verstanden. Noch immer konnte Joey nicht sprechen, also wiederholte er das Nicken unter großer Anstrengung. Er wollte hier raus, wollte nach dem Seil greifen, das Seto ihm zuwarf, aber er war noch zu weit weg.   “Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas Bestimmtes gibt, über das ich reden sollte, was dir helfen könnte. Aber ich rede einfach, und wenn ich aufhören oder lieber über was anderes sprechen soll, dann tipp’ mich einfach kurz mit dem Zeigefinger an. Schaffst du das?” Joey brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was Seto da gerade gesagt hatte. Noch immer hatte er das Gefühl, er wäre so weit weg, doch dann merkte er, dass Seto seine Hände genommen hatte und sie nicht mehr an seiner Wange waren. Er tippte kurz mit seinem Zeigefinger auf Setos Hand und versuchte sich wieder auf Setos Atem zu konzentrieren, dann wieder auf seine Worte, als dieser erneut anfing zu sprechen.   ~~~~   Seto wusste noch immer nicht so genau, worüber er sprechen sollte. Bevor er es richtig realisieren konnte, wurde Joey wieder in diesen apathischen Zustand gezogen und schien sich nicht selbst befreien zu können. Seto fühlte sich ein wenig hilflos. War er genug, um ihm da rauszuhelfen? Könnte er es schaffen, Joey wieder zurück in die Realität zu holen? Er musste es versuchen, und wenn nötig würde er den gesamten Flug über reden, wenn es das war, was dem Blonden half.   Er atmete einmal tief durch. Und wenn er einfach seinen Gedanken freien Lauf ließ? Joey würde es ihn wissen lassen, wenn es das falsche Thema war, er war offensichtlich präsent genug um zu verstehen, was Seto sagte, und konnte sich bemerkbar machen, indem er mit dem Finger tippte. Also fing Seto einfach an zu erzählen, was ihm gerade einfiel.   “Weißt du, dass ich noch nie jemanden getroffen habe wie dich? Bevor du kamst, da waren Mokuba und die Firma mein Leben, und ich war ehrlich gesagt sehr zufrieden damit, so wie es war. Aber du hast alles verändert. Damals am Meer, da hast du mich dich sehen lassen. Den echten Joey, nicht den, den du allen immer zeigen willst. Ich habe angefangen zu verstehen, wer du wirklich bist. Und ich habe dir Dinge erzählt, die niemand über mich weiß und von denen auch niemand wissen soll. Aber ich hatte einfach das Gefühl, dir kann ich es erzählen, so als ob ich dich schon mein ganzes Leben lang kennen würde. Danach hast du immer häufiger meine Gedanken eingenommen. Ich habe wirklich versucht, es zu verdrängen, aber je mehr ich dagegen angekämpft habe, desto aufdringlicher wurden die Bilder in meinem Kopf. Es war zwecklos, es überhaupt noch zu versuchen. Jedes Mal, wenn du lächelst, dann macht mich das glücklich, und deswegen wollte ich versuchen, dir so viel Freude zu schenken, dass du ununterbrochen lächeln musst. Gott, ich war so glücklich, als du an Weihnachten so befreit warst, weil deine Familie bei dir war. Du hast mir immer wieder gesagt, dass du nicht wusstest, wie du das wieder gut machen solltest, aber das brauchtest du nicht. Alles, was ich wollte, war, dich lächeln zu sehen. Weißt du, ich kann auch heute noch nicht mein Büro in der Villa betreten, ohne an diesen Moment an Weihnachten zu denken. Ich weiß, dass du glaubst, du hättest mir mit diesem Schlüsselanhänger ein absolut belangloses Geschenk gemacht, aber es war so viel größer als du dir das vorstellen konntest. Weil ich wusste, dass du dir Gedanken gemacht hast, und ich war glücklich darüber, dass du an mich gedacht haben musstest. Ich wollte, dass ich deine Gedanken genauso einnehme wie du meine. Und als wir uns fast geküsst hätten - und wäre Mokuba nicht reingestürmt, dann hätte ich dich geküsst - da war mir klar, dass ich alles dafür tun musste, um dir immer wieder dieses Lachen zu entlocken. Und ich habe mir ständig alles Mögliche einfallen lassen, damit das klappte. Weißt du eigentlich, wie sehr du mich verändert hast? Außer für Mokuba habe ich noch nie irgendwas für irgendjemanden gemacht, weil es einfach total unwichtig für mich war. Und dann kommst du, und alles, was ich denken kann, ist, wann ich dich das nächste Mal strahlen sehen kann, und wie ich es erreichen kann, dir das zu geben, was du dafür benötigst. Bisher hat das gut geklappt, aber jetzt… ich habe Angst, nicht genug zu sein, Joey, alles falsch zu machen und dich noch tiefer in diese Leere zu führen statt dir zu helfen. Was immer es ist, was ich machen muss, ich werde es tun, aber ich weiß einfach nicht, was es ist, das ich tun kann. Ich weiß nicht, ob es reicht, einfach bei dir zu sein, ob ich ausreiche. Ich will alles für dich sein, Joey, so wie du alles für mich bist. Aber wird das genügen? Das Schlimmste, was ich mir vorstellen könnte, wäre, dich zu verlieren, dich nicht mehr in meinem Leben zu haben. Das würde mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich habe Angst, dass du eines Tages aufwachst und feststellst, dass ich dir nicht genug helfen konnte, gerade jetzt. Ich…”   Und plötzlich spürte Seto von Tränen benässte Wangen an seinen und zarte Lippen, die seine eigenen berührten. Sie lagen beide auf der Seite, doch Joey hatte andere Pläne und warf sich nun schwungvoll über ihn, drückte Setos Hände in die Matratze und kniete nun über ihm, während er ihn unablässig küsste. Seto schloss sofort die Augen, um diese innige Berührung noch intensiver zu spüren. Alles, was er gerade gesagt hatte, stimmte, weil er seinen Gedanken einfach freien Lauf gelassen hatte, was ihm leichter gefallen war, als er es jemals gedacht hätte. Ja, Joey hatte ihn wirklich verändert, das war jetzt noch deutlicher spürbar als sonst schon. Und er wusste, er würde niemals ohne sein Hündchen auskommen, ohne seine Berührungen und seine Nähe wäre er erledigt.   Langsam löste Joey den Kuss und Seto öffnete seine Augen erneut, blickte erstaunt in Joeys Augen, die golden leuchteten. Er war wieder bei ihm, sein Hündchen war zurückgekehrt. Seto streckte eine Hand aus und wischte ihm die restlichen Tränen von den Wangen, die mittlerweile zumeist getrocknet waren. Noch immer war er über ihm, seine Haare kreuz und quer im Gesicht.   “Seto… ich... “ Er schien mit den Worten zu hadern, aber Seto ließ ihm Zeit, sich zu sammeln. “Wie kannst du nur denken, du wärst nicht genug? Du darfst sowas niemals glauben, niemals, hörst du? Ich werde dich niemals verlassen, und das ist ein Versprechen. Weil ich nicht ohne dich kann, nicht mehr. Das macht mir auch ein bisschen Angst, weil ich so abhängig davon bin, dich in meinem Leben zu haben, aber da es dir genauso zu gehen scheint, macht es mich wiederum sehr glücklich. Wärst du jetzt nicht hier, wäre ich längst in die Tiefen gestürzt, und das meine ich sowohl metaphorisch als auch wörtlich. Wenn du nicht wärst, wäre ich tot. Ohne dich hätte ich gar kein Leben mehr. Du bist mein Leben, Seto. Ich…”   Es war, als wenn er noch etwas sagen wollte, aber nicht richtig wusste, wie. Aber für Seto war das genug, mehr als genug, mehr als er verdient hatte, zumindest fühlte es sich so an. Er zog ihn an sich und spürte, wie Joey wieder die Tränen kamen, die sich sogleich in seinem Hemd sammelten und einen nassen Fleck hinterließen. Nichts konnte Seto gerade egaler sein.   “Und du bist meins, Joey.” Der Blonde war seine Droge, denn er war genauso abhängig von ihm, süchtig und voller Sehnsucht nach dem nächsten Schuss, der unausweichlich kommen würde. Er würde sein ganzes Leben damit zubringen, so viel von seiner Droge zu bekommen, wie er konnte - mit dem absoluten Wissen, dass er es nie schaffen würde, eine Überdosis einzunehmen, weil es unmöglich war, diesen Zustand überhaupt zu erreichen.   ~~~~   “Guten Tag, hier spricht Ihr Kapitän. Wir möchten Sie nun bitten, wieder Ihre Plätze einzunehmen, weil wir zum Landeanflug angesetzt haben.” Joey schreckte hoch - er musste eingeschlafen sein. Er sah zu seinem Drachen rüber, dem es wohl ähnlich gegangen war. Er sah, wie Seto sich die Augen rieb, gähnte und dann fragte: “Wann sind wir denn eingeschlafen?” Joey musste lachen. “Keine Ahnung, ehrlich gesagt.” Dann sah Seto ihn wieder an und auch er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.   Für einen Moment fragte sich Joey, ob er das vorhin nur geträumt hatte. Er war schon wieder so tief vergraben gewesen in der Leere, die ihn umgab, doch dann kam sein mutiger Drache und zog ihn aus dem Strudel des Nichts, holte ihn zurück an die Oberfläche. Joey konnte noch immer nicht glauben, dass Seto so viel erzählt hatte, immerhin war er nicht gerade bekannt dafür, so offen über seine Gefühle zu reden. Aber Joey konnte sehen, wie sehr er sich verändert hatte, wieviel Mühe er sich gab, wenn es um ihn ging. Noch immer konnte er fühlen, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, wenn er daran zurück dachte. Er war so dankbar, Seto in seinem Leben und an seiner Seite zu wissen. Niemals würde er ihn gehen lassen, und er würde jeden Tag seines Lebens damit zubringen, ihm das Gefühl zu geben, dass er diese Angst nicht haben brauchte.   Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er Setos Lippen an seinen spürte, wenn auch nur für einen kurzen Moment. “Wir sollten nach vorne gehen, mein Hündchen.” Joey sah auf und konnte diese wunderschönen blauen Augen sehen. Würde er sich jemals satt sehen können? Vermutlich nicht.   Mit einem Nicken stand auch er auf, streckte sich und erweckte seine Glieder wieder zum Leben. Sie gingen nach vorne und Joey kam nicht umhin sich zu fragen, was wohl die Flugbegleiter die ganze Zeit gemacht hatten. Viel zu tun hatten sie ja nicht gehabt, nachdem Seto und er sich zurückgezogen hatten.   Zurück an ihren Plätzen nahm Joey einen Schluck aus der Wasserflasche, die für sie bereitgestellt worden war, und merkte erst jetzt, wie durstig er gewesen war. Seto setzte sich neben ihn und tat es ihm gleich. Für einen Moment sah Joey aus dem Fenster und konnte sehen, wie der Boden immer näher kam, wenn auch nur stückweise. Bald würde er seine Familie wiedersehen, was ihm gemischte Gefühle bescherte. Natürlich war er glücklich, sie so schnell wiedersehen zu können, aber er wusste, dass das hier kein leichter Besuch werden würde. Noch immer wusste er nicht, wie weit er gehen sollte, wie viel er wirklich preis geben sollte.   Doch dann stoppte er seine Gedanken. Nein, wenn er jetzt weiter machte, würde alles nur wieder so enden wie vorhin, als ihn die Leere gefangen nahm. Er drehte sich zu Seto um, der ihn ein wenig sorgenvoll betrachtete, aber nichts sagte. Vorhin hatte er ihm gesagt, dass er sich hilflos fühlte, weil er nicht wusste, was er tun konnte. Also wollte Joey ihn einbinden, ihm zeigen, dass er helfen konnte, denn er brauchte seine Hilfe, wenn er das irgendwie heil überstehen wollte.   Joey seufzte kurz auf und atmete dann noch einmal tief durch, bevor er fragte: “Wie viel soll ich ihnen erzählen, Seto? Meine Mum wird sich furchtbare Vorwürfe machen, aber das will ich nicht.” Er konnte sehen, dass Seto sich sehr bemühte, ihn nicht wieder zu berühren, aber da die Flugbegleiter schon wieder hin und her liefen, um das Flugzeug für die Landung vorzubereiten, hielt er sich zurück.   Der Braunhaarige überlegte einen Moment, dann antwortete er: “Erzähl ihnen das, was du ihnen erzählen willst. Konzentrier’ dich auf dich selbst, ich bin da und kann einschreiten, wenn etwas ist.”   In diesem Moment ging die Lampe an, die ihnen signalisierte, dass sie sich wieder anschnallen mussten. In wenigen Minuten würden sie wieder festen Boden unter den Füßen haben, und er sah, wie auch die beiden Flugbegleiter zu ihren Plätzen gingen. Offenbar bekam Seto mit, dass sie nun wieder unbeobachtet waren, denn er nahm eine von Joeys Händen und mit der anderen Hand zog er sein Gesicht am Kinn in seine Richtung. Er sah ihn intensiv an, ihre Nasenspitzen berührten sich leicht. “Du bist stark, mein Hündchen, viel stärker, als du glaubst. Ich kenne dich mittlerweile gut genug um zu wissen, was für ein Kampfgeist in dir steckt. Ich weiß, dass das nicht leicht wird, dass es vielleicht weh tun wird, aber ich bin da, jede Sekunde, und ich werde dich immer auffangen, wenn du fällst. Du schaffst das, ich glaube an dich.” Und als Joey die letzten Zentimeter überbrückte und ihre Lippen vereinigte, setzte das Flugzeug auf dem Boden auf. Und auch wenn er eine große Unsicherheit in sich spürte, was jetzt passieren würde, so wusste er doch, dass sein Drache alles tun würde, um ihn vor zu großen Schmerzen zu beschützen. Er konnte nur hoffen, dass er so stark sein könnte, wie Seto es sagte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)