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Rescue me

When a dragon saves a puppy - Seto x Joey
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Musikinspiration für dieses Kapitel:

Waves - Dean Lewis

There is a swelling storm
And I'm caught up in the middle of it all
And it takes control
Of the person that I thought I was
The boy I used to know
But there is a light
In the dark, and I feel its warmth
In my hands and my heart
Why can't I hold on?
Komplett anzeigen

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Rescue me... from my memories

Die Woche verging langsamer als Joey lieb war. Nachdem Kaiba am Montag mehr oder weniger aufbrausend - aus welchen Gründen auch immer - aus dem Esszimmer gestürmt war, hatte er bis Donnerstag Abend warten müssen, ehe der Braunhaarige so gütig war, ihn in seinen Plan für einen Ausflug einzuweihen. Okay, gut, das konnte auch daran liegen, dass sie sich im Wesentlichen nur zum Frühstück gesehen hatten, da Joey am Dienstag und Mittwoch im Café gearbeitet hatte und erst nach der normalen Abendessenzeit Zuhau… in der Villa war.

 

Er wusste noch, dass er tatsächlich sehr überrascht war, als Kaiba ihn einweihte - er schlug vor - wobei er eine Widerrede nicht zugelassen hätte - am Samstag ans Meer zu fahren. Joey war deshalb so überrascht, weil Kaiba ihm offensichtlich zugehört hatte. Dass er das noch erleben durfte, dass irgendwas, was er sagte, zu ihm durchdrang, war wirklich erstaunlich!

 

Wie auch immer, Joey war tatsächlich ziemlich glücklich über diesen Vorschlag, er war schon lange nicht mehr am Strand gewesen. Da sie gerade beim Abendessen saßen, als Kaiba das Vorhaben erläuterte, fragte Joey Mokuba, ob dieser auch mitkommen wollte. Dieser lehnte allerdings dankend ab, wieder mit einem wissenden Schmunzeln auf den Lippen. Langsam ging Joey das wirklich auf den Keks - entweder, Mokuba rückte mit der Sprache raus, oder er konnte sich dieses Grinsen sonstwo hinschieben.

 

Und jetzt lag Joey in seinem Apartment, in diesem unglaublich bequemen Bett, und starrte Löcher in die Luft. Sein Handy zeigte 2:35 Uhr und er musste sich sehr über sich selbst wundern. Warum war er so aufgeregt? Er redete sich ein, dass er eben lange nicht am Meer war und sich einfach sehr darauf freute, so wie ein Kind sich auch auf seinen Geburtstag freute. Aber war es wirklich nur naive, kindliche Freude, oder steckte mehr dahinter?

 

Irgendwann musste er es tatsächlich geschafft haben, einzuschlafen. Allerdings klingelte schon um sechs Uhr wieder sein Wecker - die Fahrt würde zwei Stunden dauern und sie wollten früh los, um möglichst nicht noch in einen Stau zu geraten. Noch sehr verschlafen rieb sich Joey die Augen und stand auf. Er ging ins Bad, um eine kurze Katzenwäsche durchzuführen, bei der er sich auch kaltes Wasser ins Gesicht spritzte in der Hoffnung, ein bisschen mehr Leben in seinen Körper zu bekommen. Das Wasser half nur bedingt, aber beim erneuten Gedanken an den bevorstehenden Tag, war er plötzlich hellwach. Er zog sich schnell eine dunkle Jeans, einen dicken Pullover und seine Lieblingssneaker an, bevor er sich auf den Weg zum Frühstück machte.

 

Kaiba war natürlich vor ihm im Esszimmer, was auch sonst. Von Mokuba war allerdings keine Spur, klar, der Kleine wollte wahrscheinlich, wie es sich für einen ordentlichen Samstagmorgen gehörte, ausgiebig ausschlafen. Kaiba hingegen sah so wach aus, als hätte er drei Tage durchgeschlafen - dann hatte ja wenigstens einer von ihnen ausgiebig Schlaf gefunden in der letzten Nacht.

 

“Morgen”, sagte Joey, als er den Raum betrat und sich auf seinen Platz setzte. Kaiba blickte nur kurz von der Tageszeitung auf, die er gerade las, murmelte ein kurzes ‘Morgen’ zurück und widmete sich dann wieder den Nachrichten und seinem Kaffee. Ganz schwarz - wohl doch keine so gute Nacht? Mokuba hatte ihm vor ein paar Tagen verraten, dass Kaiba seinen Kaffee eigentlich am liebsten mit einem Schluck Milch trank, außer, er hatte sehr schlecht geschlafen. Wieder etwas, das sie gemeinsam hatten… verdammt.

 

Schweigend widmete sich Joey seinem Frühstück. Lustlos stocherte er in seinem Rührei rum - es war zwar lecker, aber er war einfach zu nervös um aufzuessen. Was war nur los mit ihm? Die Spannung im Raum war außerdem zum Zerreißen gespannt, so als ob beide darauf warteten, dass etwas passierte, oder dass jemand etwas sagte. Aber was gab es schon zu sagen?

 

Energisch klappte Kaiba die Zeitung zusammen, legte sie zur Seite und blickte Joey an. “Bist du fertig?”, fragte er, vielleicht ein My zu gebieterisch. In Kaibas Blick lag etwas, das ihm sagte, dass er es so harsch gar nicht sagen wollte. Doch Joey nickte nur. “Klar, wir können los, ich hol’ nur noch meinen Mantel.” Auch Kaiba nickte. “Gut, wir treffen uns dann in zehn Minuten am Eingang.”

 

Als Joey, warm eingepackt, wenige Minuten später an der Eingangstür stand, stand Kaiba schon da - in einer dünnen Regenjacke. “Äh, Kaiba, du weißt schon, dass wir ans Meer fahren und wir November haben, oder?”

 

Augenrollend erwiderte er: “Spuck’ schon aus, was du sagen willst, Köter.” Ah, da war wieder der alte Kaiba. Irgendwie beruhigte Joey das, nahm es doch ein bisschen von der unsicheren Spannung des restlichen Morgens. Auch wenn er selbstverständlich nicht mit seiner Ausdrucksweise einverstanden war, aber für jetzt würde er das mal durchgehen lassen.

 

“Na ja, am Meer ist es deutlich kälter als hier in der Stadt. Du solltest dir lieber was Wärmeres anziehen.”

 

Mit einem erneuten Augenrollen setzte sich Kaiba in Bewegung, zurück in Richtung erster Stock, wo sich neben Joeys auch das Apartment des großen Eisklotzes befand. Joey wusste nicht so recht, ob er einfach warten sollte, aber stattdessen entschied er sich, ihm einfach zu folgen. Als Kaiba die Zimmertür öffnete, zögerte Joey für einen Moment.

 

“Was ist, Hündchen, willst du da Wurzeln schlagen?” Hielt Kaiba ihm da gerade wirklich die Tür für sein eigenes Apartment auf? Joey wartete einen Moment ab, doch seine Neugierde siegte und er folgte Kaiba in sein Apartment. Sofort wurde er erschlagen - es sah ganz anders aus als seines, auch wenn der Schnitt und die Anzahl der Zimmer ähnlich war, so glich es sich nicht in der Gesamtgröße und Ausstattung. War sein Apartment doch eher spartanisch und unpersönlich eingerichtet, so war das von Kaiba deutlich luxuriöser ausgestattet. Und auch persönlicher. Er erkannte Bilder von seinem allerliebsten Lieblingsdrachen mit dem eiskalten Blick, aber auch ein kleines Foto von ihm und Mokuba, als sie noch Kinder waren. Während Kaiba in seinem Ankleidezimmer - das wohlgemerkt komplett voll mit Klamotten war - nach einer dickeren Jacke suchte, betrachtete Joey das vor ihm hängende Foto. Wie war er wohl so, als Kind? War er immer schon so… stur, arrogant? Was hatte ihn zu dem werden lassen, der er war?

 

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Kaiba sich wenige Meter hinter ihm räusperte. Joey drehte sich um und nickte zufrieden lächelnd. Kaiba hatte sich eine dunkelblaue Winterjacke angezogen, die perfekt zu seiner Augenfarbe… okay, stop! Aus! Oh man, beschimpfte er sich gedanklich gerade selbst so, wie man einen Hund schimpfen würde? Vermutlich setzte ihm der Schlafmangel doch mehr zu als er zugeben wollte.

 

Er schüttelte seine Gedanken beiseite. “Perfekt, dann kann’s ja jetzt losgehen.” Und damit stolzierte er erhobenen Hauptes aus dem Apartment, bevor sich noch weitere, dusselige Ideen in seinen Kopf einbrennen konnten.

 

Draußen wartete nicht, wie Joey erwartet hatte, die Limousine samt Fahrer. Stattdessen ging Kaiba zielstrebig auf einen schwarzen Audi A8 zu und stieg auf der Fahrerseite ein. Joey nahm auf dem Beifahrersitz platz und fragte überrascht: “Heute gar keine Limo mit Chauffeur?”

 

Man konnte Kaiba ansehen, dass er mal wieder einen doofen Spruch auf den Lippen hatte, aber aus welchen Gründen auch immer, entschied er sich für eine ziemlich normale Antwort. “Nein, heute nicht. Ich hatte mir sowieso vorgenommen, öfter mal selbst zu fahren, und das hier ist mein Lieblingswagen.” Und während sich Joey anschnallte, war er verblüfft darüber, wie viel er allein durch diesen einen Satz über Kaiba erfahren hatte.

 

“Wusste gar nicht, dass du schon einen Führerschein hast”, sagte Joey verwundert. Kaibas Blick blieb weiter auf die Straße gerichtet, als er antwortete: “Ich hab’ mit der Fahrschule angefangen als ich 17 war, und einen Tag nach meinem 18. Geburtstag die Prüfung abgeschlossen.”

 

“Hast du nicht irgendwann Ende Oktober Geburtstag? Heißt das, du bist noch Fahranfänger?” Joey spielte die Bestürzung natürlich nur, aber er musste die Stimmung auflockern, irgendwie normaler machen, damit sich die Spannung des Morgens sich wenigstens ein bisschen löste.

 

Als Kaiba an einer roten Ampel anhielt, schaute er Joey finster an. “Das nennt man Naturtalent, Köter. Ich bin sicher kein blutiger Anfänger, in überhaupt nichts.”

 

Joey hob abwehrend die Hände und musste lächeln. “Okay, okay, schon gut, und jetzt Blick wieder auf die Straße. Ich werde zwar im Januar auch 18, habe allerdings nicht vor, so schnell meinen Führerschein zu machen. Bin mir aber trotzdem ziiiiiemlich sicher, dass ‘Grün’ bedeutet, dass man fahren darf.” Frech grinsend sah er Kaiba an, als dieser kurz vor sich hinfluchte und dann die Fahrt wieder aufnahm. Joey war froh, dass die Stimmung wieder zur Normalität zurückgefunden hatte. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster und merkte plötzlich, wie ihn die Müdigkeit einholte. Er würde nur kurz die Augen schließen, ja, nur für einen kurzen Augenblick...

 

“Hey, Wheeler, aufwachen, wir sind da.” Verschlafen blinzelte Joey, als er Kaibas Stimme ganz nah an seinem Ohr wahrnahm. Er musste wohl doch eingeschlafen sein. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen, Kaiba noch immer ein wenig zu ihm rübergelehnt, um ihn aufzuwecken. Für einen kurzen Moment schauten sich die beiden einfach in die Augen, eisblau traf auf goldbraun. Und da war sie wieder, diese Spannung, wie vor wenigen Tagen auf dem Schulhof. Joey hielt das nicht aus, daher streckte er sich und öffnete die Tür ins Freie.

 

Sofort nahm er den salzigen Geruch des Meeres wahr. Der Himmel war wolkenverhangen, aber es sah nicht so aus, als würde es in der nächsten Zeit zu regnen beginnen. Der Wind war hier stärker als in der Stadt, das konnte er schnell erkennen, und er war sich sicher, dass Kaiba nun froh darüber war, sich doch noch für eine dickere Jacke entschieden zu haben.

 

“Also”, kam es vom Braunhaarigen, “was willst du machen?” Joey war überrascht, dass er eine Wahl hatte und der Andere nicht schon alles bis auf die Minute genau durchgeplant hatte. Aber heute wollte er sich einfach mal darauf einlassen. Wer weiß, vielleicht würde es ja tatsächlich ein richtig schöner Tag werden? Auch wenn das mit seinem Erzfeind an seiner Seite nur schwer vorstellbar war.

 

Joey stützte sich mit seinen Unterarmen auf einer ungefähr brusthohen Mauer ab. Vor ihm lag der Strand, der Zugang zum Meer gewährte. Ein hölzerner Weg führte über einen kleinen Hügel direkt zum Sand, und er konnte von weitem schon den Steg erkennen, der mitten ins Meer führte. Kaiba konnte das nicht wissen, weil er das nicht erzählt hatte, aber es war exakt dieser Steg, den er immer aufsuchte, wenn er hier war. Eigentlich würde er das für einen ziemlich großen Zufall halten, aber hier hielten eben auch die meisten Busse, sodass auch Joey meist über diesen Zugang den Strand erreichte. Joey sah auf sein Handy, es war noch früh, erst kurz vor neun Uhr morgens und es waren nur wenige Menschen unterwegs. Schnell schoss er ein kurzes Bild vom Horizont und verewigte den wunderschönen Strand und das wellenschlagende Meer auf einem Foto. Dann drehte er sich mit einem seligen Lächeln zu Kaiba um - wo auch immer das gerade herkam - und erklärte: “Lass uns einfach ein bisschen zum Strand gehen und spazieren gehen. Es sind noch nicht so viele Menschen unterwegs und es ist ein tolles Gefühl, den Strand fast ganz für sich allein zu wissen.”

 

Kaibas Blick blieb undurchdringlich, aber er nickte zustimmend, steckte seine Hände in die Taschen und wartete, bis Joey den ersten Schritt machte. Irgendwas war heute anders an Kaiba, er konnte nur nicht richtig sagen, was genau es war. Er war heute… ja, fast schon ertragbar. Und aus ihm unerfindlichen Gründen machte Joey das ziemlich glücklich. Eigentlich war dieser Tag schon jetzt schöner als so viele andere Tage, die er in letzter Zeit hatte vorbeiziehen sehen. Er würde es niemals laut zugeben, aber Kaibas Vorschlag, einen Tag am Meer zu verbringen, war wirklich ein ziemlich perfekter Einfall.

 

Joey setzte sich in Bewegung und lief den hölzernen Weg bis runter zum Strand, bis er Sand unter seinen Schuhsohlen spürte. Für einen kurzen Moment hielt er inne, schloss die Augen und atmete tief die salzige, kühle Meeresluft ein. Der Wind machte aus seinen Haaren ein absolutes Chaos, aber das war ihm im Moment egal. Er fühlte sich irgendwie leicht und befreit.

 

Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander, jeder in seinen Gedanken und mit den Händen in den Jackentaschen. Es war so kühl, dass sich vor ihren Mündern eine kleine feuchte Luftwolke bildete, wann immer sie ausatmeten. Joey bemerkte, dass Kaiba seinen Schritt, ja selbst seinen Atem, an die Geschwindigkeit von ihm selbst anpasste, und irgendwas daran fand er unheimlich beruhigend.

 

Nach einer Weile blieb Joey stehen. “Hey, könnten wir zurück zu diesem Steg da vorne gehen? Direkt da, wo wir zum Strand gegangen sind?”

 

“Na klar”, erwiderte der Größere, und Joey war erneut erstaunt, wie zahm er heute war. Aber ihm sollte es nur recht sein, er hoffte, dass dieser Tag so blieb.

 

Joey war der Erste, der einen Fuß auf den Steg setzte. Die Wellen, die sanft an die Stelzen schlugen, waren vage zu merken, und Joey fiel das Geräusch des knarrenden Holzes auf mit jedem Schritt, den er tat. Je weiter er auf den Steg ging, desto windiger wurde es um seine Nase, aber das störte ihn gar nicht. Vorn am Steg angekommen, und trotz der Tatsache, dass es recht kühl war, setzte sich Joey hin und blickte auf das offene Meer. Kaiba blieb einige Schritte hinter ihm stehen, und Joey konnte in seinem Blick eine gewisse Unsicherheit erkennen.

 

“Du kannst dich ruhig neben mich setzen, ich beiße nicht”, erklärte der Blonde frech grinsend. Er hörte ein kurzes Lachen von Kaiba - allerdings keines der arroganten, gehässigen Sorte, sondern tatsächlich ein echtes Lachen, wenn es auch nur kurz war. “Da wäre ich mir nicht so sicher, Streuner.” Anschließend nahm Kaiba neben ihm platz und sie schauten gemeinsam auf das offene Meer, blickten in den Horizont.

 

Irgendwann redete Joey einfach darauf los, verlieh seinen Gedanken einfach Ausdruck, ohne zu viel darüber nachzudenken. Er konnte nicht sagen, warum er das tat, und schon gar nicht, warum gegenüber Kaiba. Aber es fühlte sich einfach richtig an, und der Wind um seine Nase und der Geruch des salzigen Meeres verliehen ihm irgendwie eine Leichtigkeit, die es ihm einfach machten, seine Gedanken auch laut auszusprechen. “Weißt du, ich war hier früher schon, genau hier, als mein Dad und meine Mum noch zusammen waren. Meine Schwester Serenity war noch ganz klein, aber sie gluckste immer so fröhlich rum, wenn wir hier waren. Ich glaube, ihr würde es hier auch heute noch ganz gut gefallen. Man, das fühlt sich an, als wäre es Jahrhunderte her.”

 

“Wie alt warst du?”

 

“Als wir das letzte Mal als Familie hier waren? So ungefähr acht oder neun. Kurz darauf ließen sich meine Eltern scheiden, Serenity ging zu Mum und ich, na ja, ich musste bei Dad bleiben. Das hatten sie so vereinbar, die Kinder quasi untereinander aufzuteilen.”

 

“Hast du denn noch Kontakt zu Serenity?”

 

“Ja, schon, auch wenn sie nicht mehr in Japan lebt. Meine Mum ist zurück nach Amerika gegangen, da kommt sie nämlich ursprünglich her. Und natürlich hat sie Serenity mitgenommen. Wir texten viel und telefonieren öfter, aber… na ja, es ist nicht dasselbe. Es hat sich einfach sehr viel verändert, seit damals.”

 

Für einen kurzen Moment war es wieder still, und Joey war wirklich verblüfft. Hatten sie jemals ein so zivilisiertes, ernsthaftes Gespräch geführt, ohne einander anzukeifen? Was auch immer dazu führte, dass es jetzt so war, wie es war - er war sehr glücklich darüber.

 

“Ich finde das grausam, Geschwister auseinander zu reißen. Mokuba und ich wurden von einer Familie zur nächsten gereicht, bevor wir zu Gozaburo kamen, aber wir waren immer zusammen. Das hat uns Halt gegeben.”

 

Wow. Joey sah Kaiba mit Erstaunen an. Er schien geistesabwesend, fast als befände er sich gerade an einem ganz anderen Ort. “Danke”, sagte Joey.

 

Da schien Kaiba wieder in der Realität anzukommen, runzelte die Stirn und schaute Joey ebenfalls an, doch statt Erstaunen konnte man klar seine Verwirrung ablesen. “Wofür bedankst du dich?”

 

Schulterzuckend antwortete Joey: “Dass du mir das erzählt hast. Ich hätte nicht gedacht, dass du mir gegenüber jemals was Persönliches von dir erzählen würdest.”

 

Kaiba drehte seinen Kopf wieder Richtung Meer, aber Joey konnte dennoch ganz deutlich das Augenrollen erkennen. “Ist doch keine große Sache. Ich bin nur auf das eingegangen, was du gesagt hast.”

 

“Ich bin nur überrascht, das ist alles, was ich sagen wollte. Das ist was Positives, Kaiba, kein Grund, gleich in die Defensive zu gehen.”

 

Joey konnte sehen, wie Kaiba kurz die Augen schloss und einen tiefen Atemzug nahm. Wahnsinn, er schien sich heute wirklich extrem zusammen zu reißen, eigentlich hatte er jetzt mit einem fiesen Konterspruch gerechnet. Aber - nichts. Kaiba blieb still, selbst als er die Augen wieder öffnete. War das hier wirklich derselbe Mensch, der ihn vor ein paar Tagen noch so von oben herab behandelt hatte?

 

Erst jetzt dachte der Blonde über das nach, was Kaiba ihm gerade anvertraut hatte. Es stimmte, Mokuba und er waren immer zusammen gewesen, und man konnte das starke Band zwischen ihnen spüren, selbst jetzt, obwohl Mokuba gar nicht anwesend war. Joey hatte in der Vergangenheit schon oft gesehen, wie sehr er Mokuba schützen wollte. Er war immer für ihn da und würde niemals zulassen, dass ihm weh getan würde.

 

Joeys Neugierde wurde geweckt. “Wie war das, als ihr von Gozaburo adoptiert wurdet?” Er wusste, er ging ein kleines Risiko mit seiner Frage ein, die fast schon vertraute Stimmung zwischen ihnen zu zerstören. Aber ein Teil von ihm wollte die Grenzen ausloten, sehen, wie weit er gehen beziehungsweise fragen konnte. Und dennoch hoffte er, dass es der Stimmung keinen Abbruch tun würde.

 

Schulterzuckend antwortete der Braunhaarige: “So, wie bei allen anderen Adoptionsversuchen vorher auch. Wir wussten, dass auch das nur temporär sein könnte, wir wieder zurück geschickt werden könnten, also haben wir uns nicht viel dabei gedacht. Bis klar war, dass Gozaburo uns nicht mehr würde gehen lassen.”

 

“Und warum wurdet ihr vorher von einer Familie zur nächsten gereicht?”

 

Joey nahm ein kurzes Seufzen von Kaiba wahr, ehe er antwortete: “Die meisten fühlten sich mit zwei Adoptivkindern gleichzeitig wohl überfordert und entschieden sich daher, uns wieder abzuschieben und ein anderes Kind zu adoptieren. Irgendwo ohne Mokuba zu bleiben, kam für mich nicht in Frage, und ich konnte mich durchsetzen - jedes Mal. Bis Gozaburo kam und klar war, dass er uns nicht abschieben würde.”

 

Diese Durchsetzungskraft war heute noch zu spüren, dachte Joey in diesem Moment. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Kraft er dafür aufbringen musste, als er noch so klein war, aber er war auch beeindruckt von dem unbedingten Willen, nirgendwo ohne Mokuba hinzugehen. Er wünschte sich, das wäre ihm damals bei Serenity auch so geglückt.

 

Er schob seine Gedanken beiseite. “Als du mich aufgesammelt hast, da auf dem Hochhaus vor einer Woche… da hast du gesagt, du wüsstest, wie es ist, in schwierigen Verhältnissen aufzuwachsen. Oder so ähnlich. Ich kann mir das so schwer vorstellen. War Gozaburo denn nicht reich? Am Ende bist du doch nur in dieser Position, weil er euch adoptiert hatte, oder?”

 

Als Joey die pulsierende Ader an Kaibas Hals auffiel, ergänzte er schnell noch: “Hey, nicht sauer werden, ich meine das nicht so wertend wie es vielleicht rüberkam. Ich will es nur verstehen.”

 

Und tatsächlich schien sich Kaiba schnell wieder zu beruhigen, denn er erzählte: “Geld allein ist nicht alles, Hündchen. Er hatte Macht über uns, und die wusste er zu nutzen.” Es schien, als wüsste Kaiba in dem Moment nicht, wie weit er gehen konnte, oder besser sollte, wie viel er preisgeben wollte. Vorsichtig und mit fast flüsternder Stimme fragte Joey deshalb nach: “Was hat er getan?”

 

Mit rätselhaftem Blick, den Joey nicht richtig zu deuten wusste, sah Kaiba ihn an. Er konnte ganz klar den inneren Kampf sehen, den Kaiba gerade mit sich selbst kämpfte. “Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst. Wirklich, ich verstehe das. Du hast heute schon so viel…”

 

“Mokuba hat er nichts angetan, Gott sei Dank, dafür hätte ich ihn nämlich an Ort und Stelle umgebracht, wenn er ihm auch nur ein Haar gekrümmt hätte”, unterbrach Kaiba Joey. Der Blonde setzte sich ein bisschen mehr zu Kaiba gewandt hin und signalisierte ihm so, dass er ihm zuhörte, ohne unangemessen aufdringlich zu werden. Das schien für Kaiba der letzte Ausschlag zu sein, weiterzuerzählen. “Bei mir sah die Sache ein wenig anders aus. Ich meine, er hat Druck gemacht, wollte immer alle meine Schulsachen kontrollieren, sowas. Das fand ich auch gar nicht so schlimm, wenn auch nervig. Aber er war sehr streng. Wenn auch nur ein Minus vor der Eins stand, konnte ich damit rechnen, dass ich dafür bestraft werden würde. Manchmal sperrte er mich im Keller ein, manchmal war es eine Backpfeife, ab und zu wurde er auch noch etwas gewalttätiger. Das war für Außenstehende aber unmöglich zu sehen, weil er sehr genau wusste, was er da tat, und ich tat mein Übriges, um es möglichst zu verschleiern. Er stand in der Öffentlichkeit, wenn davon auch nur ein bisschen was nach außen gedrungen wäre, wäre die Strafe deutlich schlimmer gewesen - für mich, nicht für ihn, versteht sich. Und wenn Mokuba mal wieder zu wild gespielt hatte und er ihn auch bestrafen wollte, bin ich dazwischen gegangen. Wir hatten quasi einen unausgesprochenen Deal - ich konnte die Strafe von Mokuba auf mich nehmen, musste dann aber das Doppelte an Strafe akzeptieren. Ich hätte auch das Zehnfache auf mich genommen.”

 

Erst jetzt bemerkte Joey die stummen Tränen, die an seine Wangen herunter liefen. Einige Tropfen wurden vom Wind verweht und gesellten sich zu den Abermillionen Wassertropfen im Meer. “Weinst du, Wheeler?”

 

“Ich? Quatsch, hab’ nur was im Auge.” Mit diesen Worten entzog sich der Blonde Kaibas Blick. Aber er musste zugeben, das, was Kaiba ihm da gerade erzählte, berührte ihn sehr. Und eigene Erinnerungen kamen hoch…

 

“Kaiba, es tut mir leid, dass das passiert ist. Niemand hat so eine Kindheit verdient, auch nicht ihr beide.”

 

“Wir sind nur die, die wir sind, weil wir durch diese harte Schule gegangen sind. Auch wenn ich froh darüber bin, dass Gozaburo nicht mehr unter den Lebenden weilt.”

 

“Du magst recht haben, aber dennoch - sowas sollte kein Kind erleben. Aber es muss etwas Tröstliches gehabt haben, dass ihr zumindest euch hattet. Ich hatte eigentlich niemanden. Als meine Eltern sich trennten, hatte ich nicht mal mehr Serenity. Meine Mum fehlte mir auch sehr, sie war immer irgendwie der Ruhepol der Familie. Als sie fort war und Serenity mitnahm, schmeckte meinem Dad das gar nicht. Na ja, du hast ja gesehen, was aus ihm geworden ist.”

 

Und plötzlich war der ganze Schmerz wieder da, und der drohte, Joey zu ersticken.

 

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Kaiba konnte nicht sagen, warum, aber er wollte unbedingt, dass Wheeler weiter redete. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Ehrlich gesagt konnte er nicht sagen, wann oder ob er jemals eine so tiefgründige Unterhaltung geführt hatte. Mit irgendjemandem. Und schon gar nicht mit seinem Erzfeind Joey Wheeler. Schwer vorstellbar zumindest, und doch fühlte sich jedes Wort, jeder Satz richtig an. Als wenn Wheeler genau der Mensch war, dem er das jetzt erzählen wollte. Weil er ihm… vertraute? Nun wollte er testen, wie stark Wheeler ihm schon vertraute, indem er ihn ermutigen wollte, weiter zu sprechen.

 

“Red’ mit mir, Wheeler. Fang von vorne an, und lass dir Zeit. Aber rede.” Zwar klang seine Stimme stark und bestimmt, aber sie war einen Hauch sanfter als noch vor einigen Minuten. Als sich Wheeler wieder ihm zuwandte, konnte er eine deutliche Rotfärbung seiner sonst so golden leuchtenden Augen erkennen, und er konnte eine sich leicht aufbauende Wut in seiner Magengegend ausmachen, konnte aber nicht genau feststellen, auf was er eigentlich so wütend wurde.

 

Seufzend nahm Wheeler das Gespräch wieder auf. “Im Prinzip habe ich einiges von dem, was du gerade erzählt hast, wieder erkannt. Zuerst hat er mich nur da geschlagen, wo es niemand sehen konnte. Aber je mehr er trank, und es wurde immer mehr über die Jahre, desto mehr war es ihm egal, ob jemand das mitbekam. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber es gibt an unserer Schule eine Vertrauenslehrerin, die das mal bemerkt hatte. Sie kam zu uns nach Hause, weil sie mit meinem Dad darüber sprechen wollte. Aber wenn er will, kann er echt richtig überzeugend sein. Sie hatte sich natürlich vorher angekündigt, er hatte mich gezwungen, die ganze Wohnung vorher picobello zu putzen, hat sich frische Klamotten angezogen, die ganze Bude ausgelüftet und den Alkohol in einem geheimen Fach unter einer Küchendiele versteckt, nur für den Fall, dass sie das kontrollieren wollte. Er hatte sogar einen Tag nichts getrunken, um einen möglichst nüchternen Eindruck zu machen, so als wäre er eben ein ganz normaler, alleinerziehender Vater. Tja, sie kam, ich musste die ganze Zeit daneben sitzen und mir lauter Ausreden einfallen lassen, die meinen Dad entlasten sollten. Keine Ahnung, ich wäre hingefallen, hätte mich beim Fußballtraining verletzt, sowas. Solche Lügen habe ich auch Yugi und den Anderen immer erzählt - sie hatten mich zwischendurch schon mal angesprochen, aber entweder haben sie mir geglaubt - und auch ich konnte das sehr überzeugend erzählen, wenn ich wollte - oder sie haben sich nicht getraut einzugreifen, vielleicht aus Angst, dass mir Schlimmeres blühte oder weil sie einfach nicht so richtig wussten, wie. Ich kann es ihnen überhaupt nicht verübeln, ich hab ja jede Hilfe immer abgelehnt und wollte ihnen weismachen, dass sie sich da was einbildeten. Und ich war ehrlich gesagt froh, als sie aufhörten zu fragen, auch wenn insbesondere Yugi auch heute noch immer wieder betont, dass er für mich da ist, wenn ich was brauche, und er mir zur Seite steht. Na ja, dieser Vorfall mit der Vertrauenslehrerin hatte leider böse Konsequenzen für mich, denn als sie wieder weg war, wusste ich, dass ich verloren war, und sie würde ohne handfeste Beweise nichts machen können. In dieser Nacht trank er noch mehr als er es sonst schon tat, vielleicht um den einen Tag Abstinenz auszugleichen, und ich musste über einen Monat Zuhause bleiben, weil er mir die Nase gebrochen und die Lippe grün und blau geschlagen hatte. Im Krankenhaus hab’ ich dann auch was erzählt von wegen ich wäre die Treppe runtergefallen oder so, und leider war mein Dad wieder so verdammt überzeugend, dass sie uns glaubten. Er ist echt ein verdammt guter Schauspieler, hat denen richtig gut vorspielen können, wie unheimlich besorgt er um sein einziges Kind war, das ihm noch geblieben war, als seine Frau ihn mit seiner Tochter verlassen hatte. So richtig mit Tränen und allem. Einfach widerlich, dieser Kerl. Na ja, in der Zeit, die danach kam, hatte er sich etwas mehr im Griff und hat wieder nur da geschlagen, wo es niemand sehen konnte, sodass weitere Fragen ausblieben. Aber da ist immer noch eine Narbe an meinem linken Nasenflügel, für die allermeisten nicht sichtbar, weil sie nicht wissen, wo sie hinschauen müssen, aber ich sehe sie, jeden Tag, wenn ich mich im Spiegel sehe, und alle Erinnerungen sind wieder da. Manchmal habe ich sie mit einem Abdeckstift überschminkt, aber das Gefühl, dass sie da ist, brennt sich dennoch in meine Haut. Ob ich sie nun sehe oder nicht.”

 

Kaiba nahm Wheelers Kinn und drehte ihn zu sich. Und tatsächlich - er konnte die kleine Narbe, von der der Blonde gerade erzählt hatte, erkennen. Dieser verdammte…! Eine unbändige Wut stieg in ihm auf, auf diesen Vater, der sein Kind so misshandelt hatte und alles versuchte, um es zu vertuschen. Er schwörte bei Gott, wenn er diesem Wichser noch einmal begegnen würde…

 

“Es ist in Ordnung, Kaiba. Wirklich.” Doch an Wheelers leisem Schluchzen und der Tatsache, dass jeglicher Glanz aus seinen Augen verschwunden war, konnte Kaiba erahnen, dass es nicht in Ordnung war. Gar nichts war in Ordnung.

 

“Nein, das ist es nicht. Dieses… verdammte Arschloch…” Kaibas Worte lösten etwas in Joey aus. Alle Dämme brachen zusammen und er krümmte sich schluchzend zusammen, umarmte seine Beine, atmete abgehackt. Verdammt, wie sollte Kaiba damit umgehen, was sollte er machen? Er musste irgendwas tun.

 

“Wheeler, sieh mich an.” Er nahm seine Arme und zog ihn so, dass Wheeler ihn ansehen musste. Der Kleinere zitterte wie Espenlaub. “Das hätte nicht passieren dürfen. Dieses miese Arschloch… dafür muss er doch irgendwie zur Rechenschaft gezogen werden können.”

 

Schniefend sagte Joey: “Ich habe irgendwann gelernt, dass das nicht passieren wird, weil er die Beweise ja gut vertuschen konnte. Ich musste auch immer schon irgendwie für ihn sorgen, weil er sich keine Mühe gemacht hat und seinen Tag lieber mit dem Arsch auf der Couch und der Flasche in der Hand verbracht hatte. Putzen, einkaufen, kochen, das ganze Programm. Ich musste ihm auch immer alles, was ich in meinen Nebenjobs verdient habe, geben. Ich musste wirklich früh erwachsen werden.”

 

“Und das solltest du nicht. Er hat dir deine Kindheit und Jugend genommen.”

 

Joey schien sich langsam zu beruhigen. “Na ja, irgendwer musste ja dafür sorgen, dass wir über die Runden kommen, was blieb mir übrig?” Und etwas kleinlauter ergänzte er: “Das Geld, was ich diese Woche verdient habe, habe ich ihm auch überwiesen.”

 

“Was?!” Kaiba war aufgebracht - was dachte Wheeler sich dabei?

 

“Ich weiß auch nicht… ich fühle mich irgendwie verpflichtet.”

 

Frustriert strich Kaiba sich durch die Haare und sah Wheeler dann mit intensivem Blick an. “Damit hörst du sofort auf. Du arbeitest hart für dein Geld, und der Dreckssack soll sich nicht noch an dir bereichern. Wenn er die Miete bezahlen will, soll er seinen Arsch selber hochkriegen und arbeiten gehen. Versprich es mir. Versprich mir, dass du ihm kein Geld mehr schicken wirst.”

 

“Aber…”

 

“Nein, Hündchen, kein Aber. Er hat dich über Jahre misshandelt. Er hat keinen einzigen Cent von dir verdient.”

 

Wheelers verletzlicher Blick machte Kaiba fertig, aber er musste standhaft bleiben. Das würde er ihm nicht durchgehen lassen, er musste darauf beharren und Stärke zeigen. Nach einem Moment des Schweigens willigte Wheeler endlich nickend ein und Kaiba stellte fest, dass er die Luft angehalten hatte, die er nun mit einem lauten Schnaufen ausatmete.

 

“Wo wir gerade von Geld sprechen. Ich sollte dir vielleicht Miete zahlen, ich will euch nicht zur Last fallen.”

 

“Mach dich nicht lächerlich, Wheeler. Wenn das der Preis ist, den ich zahlen muss, damit du aus diesem Drecksloch rauskommst, bezahle ich ihn gern. Außerdem macht es mich nun wirklich nicht arm, wenn du bei uns wohnst.”

 

“Aber ich esse doch auch bei euch und alles. Willst du wirklich gar nichts von mir haben?”

 

“Nein, nichts. Das ist Teil unseres Deals, das lege ich jetzt fest. Das gilt ebenso dafür, dass dein Vater keinen Cent mehr von dir sieht. Und nun Schluss damit, kein Gerede mehr von Geld.”

 

Noch immer waren sich beide Männer zugewandt. Kaiba hielt weiterhin Wheelers Arme fest, und sie blickten sich mit einer Intensität in die Augen, die an die Situation auf dem Schulhof erinnerte. Kaiba stellte fest, dass ein bisschen was von der goldenen Farbe zurück in Joeys Iris kehrte, wenn auch sehr langsam, und er war froh darüber. Aber eins musste er noch wissen. Er musste einfach fragen und die Offenheit nutzen, die sie in dieser Situation verband.

 

“War er auch der Grund, warum du springen wolltest, da auf diesem Hochhaus?”

 

Wheeler musste heftig schlucken. War das zu viel für ihn? Nur noch diese eine Frage…

 

“Ja, hauptsächlich. Ich habe keinen Ausweg mehr gesehen. Ehrlich gesagt weiß ich heute auch noch nicht, ob es wirklich einen Ausweg für mich gibt. Klar, ich wohne nicht mehr bei ihm, und das hilft, aber die Erinnerungen bleiben. Das werden sie immer. Ich weiß nicht, ob ich damit leben kann.”

 

“Du musst es versuchen. Meinst du, du kannst es zumindest mal probieren?”

 

Er stockte und musste seinen Blick abwenden. “Ja, aber… ich denke nicht, dass ich das alleine schaffe.”

 

Langsam drehte Kaiba Wheelers Kinn wieder in seine Richtung, damit er ihn ansehen musste. “Du bist nicht allein. Ich habe dir versprochen, alles zu versuchen, dich zu überzeugen, dass der Tod nicht dein letzter Ausweg sein muss. Und verdammt noch mal, ich halte mich an meine Versprechen.”

 

Danach wurde es still. Das Meer unter ihnen rauschte, und mit der Zeit wurde der Wind stärker, Regen kündigte sich an. Aber sie blieben noch eine Weile so sitzen, ab und zu sahen sie sich an, schauten ansonsten in die endlosen Weiten des Meeres. Sie wussten nicht, wie viel Zeit am Ende wirklich vergangen war, ob es Sekunden, Minuten oder Stunden waren. Und je stürmischer das Wetter wurde, desto ruhiger wurden die beiden Männer, die dort einsam auf dem Steg saßen.

 

Irgendwann fing es an zu nieseln, doch schon nach wenigen Minuten wurde der Sturm und damit der Regen stärker. “Komm, lass uns lieber gehen, bevor du zu sehr nach begossenem Pudel aussiehst”, erklärte Kaiba. Ein leichtes Lächeln umspielte sein Lippen, nur ganz wenig bewegten sich seine Lippen nach oben, aber das Wichtigste war: Es war echt. Wheeler schien heute sowieso erstaunlich wenig gegen die ganzen Hundemetaphern aufzubegehren und antwortete auch dieses Mal nur mit einem Schmunzeln. Er war froh, einen positiven Gesichtszug an ihm zu sehen, nach allem, was er ihm gerade erzählt hatte. Sie erhoben sich und rannten so schnell wie möglich in Richtung Wagen zurück, der ja zum Glück nicht allzu weit weg stand.

 

~~~~

 

Gedankenverloren ließ Joey den heutigen Tag Revue passieren, während Kaiba sie sicher in Richtung Zuhause lotste. Er gab es auf, das Wort ‘Zuhause’ zu vermeiden - Kaibas Villa war in dieser einen Woche mehr sein Zuhause geworden als es die Wohnung mit seinem Dad je war. Noch immer war er überwältigt von seinen Emotionen, aber auch von der Tatsache, wie offen sie heute miteinander gesprochen hatten. Dennoch - er kam nicht umhin festzustellen, dass er das als sehr positiv empfand. Kaiba war so leidenschaftlich wütend, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Joey das Gefühl, dass nicht er der Grund dafür war. Er war richtig sauer geworden auf Joeys Dad, und auch, wenn er sich nicht richtig erklären konnte, weshalb Kaiba das emotional so mitriss, so war er doch froh. Noch nie hatte er mit jemandem so offen darüber gesprochen. Aber irgendwas sagte ihm, dass er Kaiba vertrauen konnte, und er hoffte, dass dieses Gefühl bleiben würde. Würde sich von jetzt an etwas ändern? Oder würden sie in alte Muster verfallen, sobald sie zurück in der Kaiba-Villa waren?

 

“Hey”, sagte Kaiba, und Joey blickte sich zu ihm um - er hatte die bisherige Autofahrt wieder damit verbracht, aus dem Fenster zu schauen und die vorbeiziehenden Landschaften zu betrachten.

 

“Hm?”, erwiderte der Blonde und war gespannt, was jetzt kam. “Ich… es tut mir leid, dass das heute so eine… sagen wir mal, emotionale Achterbahnfahrt war. Ich hatte gehofft, du würdest mal rauskommen und ein bisschen Spaß haben, aber ich hab’ das Gefühl, genau das Gegenteil erreicht zu haben.”

 

Wow. Joey war für einen Moment sprachlos. Er hatte heute Kaibas emotionale Seite kennengelernt, von der er sicher war, dass sie außer Mokuba bisher noch nie jemand zu Gesicht bekam, oder dass eine solche gar existierte. Und jetzt entschuldigte er sich auch noch. Und das alles an einem einzigen Tag!

 

“Könntest du mal irgendwo kurz anhalten? Auf dem Seitenstreifen oder so? Wirklich nur kurz.”

 

Kaibas Blick ließ seine Verwunderung vermuten, aber er folgte Joeys Anweisungen und hielt auf dem Seitenstreifen an.

 

“Also”, begann Joey, “du musst dich für gar nichts entschuldigen. Nur, weil ich nicht vor Glück rumgehobbst bin, heißt das nicht, dass ich den Tag nicht genossen habe. Ich fand die Idee wirklich schön, und manchmal ist es die beste Medizin, die Emotionen einfach mal rauszulassen.”

 

“Trotzdem. Ich will, dass der nächste Ausflug etwas positiver ausfällt. Weiß nicht, dass du Spaß hast oder so.”

 

Joey war wirklich perplex - wer war dieser Mann, und was hatte er mit Mr. Eisklotz gemacht? Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich ein wenig schmunzeln. “Und was hast du im Sinn?”

 

Nachdenklich kratzte sich Kaiba am Kinn, bevor er verlauten ließ: “Ich lass mir was einfallen.” Dann startete er den Motor wieder und sie begaben sich zurück auf die Straße, zurück in die Richtung, aus der sie heute Morgen gekommen waren und noch gar nicht ahnen konnten, wie viel enger ihr Band heute geknüpft werden würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von:  Rosarockabye
2021-02-27T19:18:10+00:00 27.02.2021 20:18
Das war wirklich ein sehr emotionales Kapitel.
Ich war wie Joey verwundert, habe Kaiba gar nicht wieder erkannt xD

Lg Rosa
Antwort von:  Evi1990
27.02.2021 21:52
Tja, es bewegt sich was ;D
Von:  Onlyknow3
2021-01-09T16:14:44+00:00 09.01.2021 17:14
WOW was für ein Aufschllussreiches Kapitel, das war so schön.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Evi1990
09.01.2021 17:36
Ist definitiv eines meiner Lieblingskapitel. Ich hab das Gefühl, ab da an nimmt die Geschichte erst richtig an Fahrt auf. Freue mich, dass es dir gefallen hat 😍
Von:  Hypsilon
2020-12-11T12:53:46+00:00 11.12.2020 13:53
Ooow das war wirklich ein tolles Kapitel. Schön, dass sie beide so frei über die Vergangenheit sprechen konnten.
Wahrscheinlich ist Kaiba nur sauer, weil jemand anderes schlimmer zu Joey war als er - Spaß beiseite ;)
Hat mir wirklich gefallen und eine weitere Mittagspause versüßt ^^
Antwort von:  Evi1990
11.12.2020 16:50
Ich freue mich, dass es dir gefallen hat 🥰 haha, ja vielleicht fühlte Seto da Konkurrenz aufkommen 🤣🤣🤣 bis zum nächsten Kapitel, hoffe du bleibst weiter dabei ❤
Von:  Piajay
2020-11-14T17:50:25+00:00 14.11.2020 18:50
Oh jetzt ist es auf einmal Hündchen statt Köter
Ich finde es schön das die beiden sich so unterhalten können und das sich seto geöffnet hat
Schönes Kapitel gefällt mir
Antwort von:  Evi1990
14.11.2020 18:52
Vielen Dank für den lieben Kommi :)
Von:  Alistor
2020-11-14T11:38:50+00:00 14.11.2020 12:38
Oh wow..
So viele Emotionen, tiefe Gefühle.
Dieses Gespräch fand ich sehr tiefgreifend. Sie haben den ersten Stein gelegt, sich näher zu kommen.
Ich fühle richtig, was die beiden fühlen. Setos Wut, das Verständnis und dann auch die Zurückhaltung, das Hündchen nicht herablassend zu behandeln...wow.
Und Joeys Kindheitstrauma, der Schmerz alles versucht zu haben und doch gescheitert zu sein, diese Hoffnungslosigkeit. Wunderbar, wie die beiden in einem Gespräch schon Vertrauen zueinander gefasst haben.
Ich kann kaum erwarten, wie es weiter geht
Hast du super gemacht
Antwort von:  Evi1990
14.11.2020 12:46
Ooooh vielen lieben Dank für den sehr lieben Kommi. Ich hab immer gedacht, das war das Beste Kapitel bisher, aber je mehr ich schreibe, desto mehr hab ich das Gefühl, da geht noch soooo viel mehr xD Und da kommt auch noch so viel mehr - es warten viele Herausforderungen auf die Beiden, aber ebenso viel Gutes wird sie erwarten... es bleibt spannend :)


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