Amigo del alma von Vampyrsoul (Boston Boys 5) ================================================================================ Prolog: Prólogo: Amigo del Alma ------------------------------- »Hey.« Vorsichtig wickelte ich die Blumen aus dem Papier und drapierte sie in der letzten freien Vase. Offenbar hatte er in den letzten Tagen wieder viel Besuch gehabt. »Tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war. Ich hab im Moment viel um die Ohren.« Ich kniete mich zu ihm, strich mit der Hand über die Blumendecke. »Heute war die Verhandlung. Sie haben Klein endlich hinter Gitter gebracht. Ich hätte mir gewünscht, dass du dabei gewesen wärst.« Auch er hätte sich das sicher gewünscht. Diesem Mistkerl ein letztes Mal ins Gesicht sehen, während er abgeführt wurde. Es hätte nichts an seinem Schmerz geändert, es hätte nichts ungeschehen gemacht, und doch hätte es ihm Ruhe verschafft, zu wissen, dass es nie wieder passieren konnte. So wie es den vielen Anwesenden im Saal Erleichterung gebracht hatte. Als das Urteil verkündet wurde, ging ein kollektives Aufatmen durch die Reihen. »Danke. Ohne dich wäre das nicht möglich gewesen.« Ich sah auf, begegnete dem Blick zweier Jugendlicher in abgewetzten Jacken, die ein Stück abseits standen und mir zuwinkten, als sie meine Aufmerksamkeit hatten. Durch ein Handzeichen erbat ich mir noch einige Minuten allein. Sie lächelten, nickten und schlenderten in die andere Richtung davon, bogen in den nächsten Weg nach rechts ein. Ich lächelte. »Sie lieben dich noch immer.« Ob ihm bewusst gewesen war, wie vielen Menschen er etwas bedeutete? Vermutlich nicht. Er hatte immer bestritten, dass Menschen gut sein konnten. Dabei bewies er selbst das Gegenteil. Jeden Tag aufs Neue. Er hatte sein Leben anderen gewidmet, war für die dagewesen, denen sonst niemand zuhörte, hatte ihnen eine Stimme gegeben. »Und ich dich auch. Ich vermisse dich.« Ich drängte die Tränen zurück und stand auf. Ich sollte gehen, die Jungs warteten darauf, ihn zu besuchen. Ich hatte ihm alles Wichtige gesagt. Nur für den Fall, dass er es nicht eh schon wusste. Wer wusste schon, wen er gerade begleitete und schützte. Zu gern hätte ich geglaubt, dass er immer bei mir war, doch das hätte nicht zu ihm gepasst. So war er nie gewesen. Doch ich hielt ihn in Gedanken dicht bei mir, würde ihn nie vergessen, meinen Seelenfreund. »Wir sehen uns.« Zärtlich strich ich mit den Fingern über den kühlen Stein und fuhr die Inschrift nach. Mathew Jennifer Meléndez * 27. November 1970 † 10. Juli 2014 Kapitel 1: Invitación indeseable -------------------------------- Schwungvoll riss ich die Tür zur Sportsbar auf und trat ein. Ich musste nicht lange suchen, meine Kollegen saßen am selben Tisch wie sonst auch. Schnellen Schrittes machte ich mich zu ihnen auf den Weg. Murphy konnte was erleben! »Hey, da ist Meléndez ja endlich!«, wurde ich von Chang begrüßt, als er mich bemerkte. »Hat der Captain dir die Hölle heiß gemacht?« Ich ignorierte ihn und baute mich stattdessen vor Murphy auf. »Was fällt dir eigentlich ein?!« »Komm, beruhig dich, Eloy.« Stevenson, der dritte im Bunde, stand auf und legte mir die Hand auf den Unterarm. Sofort schüttelte ich sie wieder ab. »Was ist denn nun schon wieder passiert?« Unsere Kollegen waren es gewohnt, dass Murphy und ich nicht immer miteinander klarkamen. Er war ein Grünschnabel, der nicht die geringste Ahnung von Polizeiarbeit hatte. Doch diesmal hatte er es eindeutig zu weit getrieben! »Er hat meinen Verdächtigen laufen lassen!« »Weil du nichts gegen ihn in der Hand hattest. Du hättest ihn sowieso wieder laufen lassen müssen.« Dass er dabei die Augen hinter seiner Brille verdrehte, ließ meine Wut nicht abflauen. »Ich hätte ihn die Nacht schmoren lassen können! Dieser widerliche Junkie hätte schon noch ausgepackt. Aber der Herr musste sich ja einmischen und mich dann auch noch beim Captain anschwärzen!« Chang und Stevenson sahen etwas hilflos zwischen uns hin und her. Sie schienen nicht sicher, ob sie eingreifen mussten. »Gar nichts hätte er ausgepackt, weil er nichts getan hat«, erklärte Murphy in gelangweiltem Ton. »Und ob! Er hat dem Jungen das Geld abgenommen!« »Der Junge hat ihm das Geld zurückgegeben, das er ihm vorher geliehen hat.« »Selbst wenn!« Diese Geschichte, die der Perverse erzählt hatte, war so unglaubwürdig. Er hatte ganz genau gewusst, wo er auf den Jungen warten musste. »Es ändert nichts daran, dass er Geschäfte mit einem Stricher gemacht hat. Und du brauchst mir nichts erzählen, ich bin lange genug Polizist, um zu wissen, wie ein Stricher aussieht!« Noch immer ärgerte mich, dass ich zu spät realisierte, was geschah, sodass ich das Nummernschild des Autos, das den Jungen am Straßenrand abgesetzt hatte, nicht lesen konnte. Aber allein die Art, wie er sich von dem deutlich älteren Herrn verabschiedet und dann das Geld aus seiner Hosentasche gezogen hatte, um es diesem abgefrackten Wichser zu geben, der dort auf ihn wartete, war mehr als eindeutig. Ich hatte mich entscheiden müssen, ob ich dem Jungen hinterherrannte, der sofort Reißaus nahm, oder mir den Zuhälter schnappte. Ich hatte mich für den Zuhälter entschieden, der – abgesehen von seiner großen Klappen – anstandslos mitgekommen war. Aber ich hatte ihn noch nicht einmal wirklich verhören können, da war Murphy hereingeplatzt und hatte verkündet, dass der Scheißkerl gehen durfte. Nach dem Dienst durfte ich mir dann eine Standpauke beim Captain abholen, weil ich meinem Kollegen die Meinung gegeigt hatte. »Watkins?«, fragte Stevenson in den kurzen Moment der Stille hinein. Murphy nickte ernst. Chang verzog das Gesicht, als hätte er in etwas wirklich Widerliches gebissen, und schüttelte den Kopf. »Kumpel, lass die Finger davon. Das geht für dich nicht gut aus. Du kannst dabei nur verlieren.« Stevenson packte mich bei den Schultern und drückte mich auf einen freien Stuhl am Tisch. »Chang hat recht. Lass es gut sein. Du hast da eh keine Chance. Im schlimmsten Fall bekommst du es mit Watkins’ Anwalt zu tun; und glaub mir, das willst du nicht! Der ist zwar schon etwas in die Jahre gekommen, dennoch reicht dem im Großraum Boston keiner das Wasser.« »Das ist doch nicht euer Ernst?!« Ungläubig sah ich meine Kollegen an. Sie ließen diesen kleinen Pisser in Ruhe, weil er angeblich einen guten Anwalt hatte? War ich im falschen Film gelandet? »Doch.« Chang nickte bekräftigend. »Mann, glaub uns, das geht nicht gut aus.« »Außerdem hast du da ganz eindeutig den Falschen. Watkins ist zwar ein riesen Arschloch, aber er ist garantiert kein Zuhälter«, erklärte mir Murphy. »Konzentrier dich lieber auf die wichtigen Dinge. Ansonsten bist du deinen Job schneller wieder los, als dir lieb ist.« Ich schnaubte. Das hatte der Captain mir auch gesagt. Wenn sie jedoch glaubten, dass ich mich einschüchtern ließ, dann kannten sie mich schlecht. Ich würde diesen Punk dingfest machen! Im Notfall auch ohne ihre Hilfe. Murphy musterte mich einen Moment, schüttelte leicht warnend den Kopf, sagte jedoch nichts mehr dazu. Stattdessen machte er der Bedienung Platz, damit diese die leeren Gläser der drei einsammeln und – nach einem skeptischen Blick auf mich – die Bestellung aufnehmen konnte. Da ich durch die ganze Sache noch nicht zum Essen gekommen war, bestellte ich eine große Portion Chicken Wings und ein Dr. Pepper. Bis auf Stevenson orderten die anderen Bier. Offensichtlich hatte er den Fahrdienst übernommen, den normalerweise ich verrichtete. Während wir auf die Bestellung warteten, erzählte uns Chang von der angeblich ›heißesten Blondine Bostons‹, der er während des Dienstes begegnet war. Halb amüsiert, halb gelangweilt hörte ich zu. Diese Storys waren nichts Neues. Er hatte jede Woche eine andere zu erzählen und manchmal fragte ich mich, ob er überhaupt seiner Arbeit nachging. Die drei waren nett, ich traf mich gern nach der Arbeit mit ihnen, aber beruflich war Stevenson der Einzige, dem ich etwas zutraute. Chang war ständig auf Brautschau und Murphy war einfach nur unfähig. Leider hatte ich mich den ersten Monat, den ich hier in Boston gearbeitet hatte, ausgerechnet von ihm einarbeiten lassen müssen. Zum Glück war die Zeit vorbei. Häufig genug hatte ich das Gefühl gehabt, mehr auf ihn aufzupassen, als von ihm zu lernen. Als Chang mit seiner Geschichte fertig war, kam auch endlich mein Essen. Indem ich den Teller etwas in die Mitte schob, bot ich den anderen an, sich zu bedienen, und nahm mir dann selbst. Der Magen hing mir in den Kniekehlen. Murphy nahm sich, dann wandte er sich an mich: »Du bist doch Single, Meléndez, oder?« Ich sah auf und musterte ihn. Was interessierte ihn denn mein Beziehungsstatus? »Ich nehme das mal als Ja«, beschloss Stevenson und grinste, als hätte er mich in eine Falle gelockt. Offenbar hatte ich von vornherein keine Chance gehabt, etwas anderes zu behaupten. »Nein, ich gehe nicht mit euch in einen Stripclub!« Das fehlte mir gerade noch! Ich hatte keine Lust, mir mit ihnen halbnackte Weiber anzuschauen. Ich konnte mir daran nichts Erotisches vorstellen. »Jetzt tu mal nicht so, als wärst du jemals in einem gewesen. Dafür hat dich deine Ex viel zu gut unter Kontrolle gehabt. Außerdem bist du viel zu spießig«, mutmaßte Chang mit einem breiten Lächeln und schnipste mir gegen das Ohr. Ich schlug seine Hand weg. Musste er unbedingt auf meine Exfrau zu sprechen kommen? Es war ein Fehler gewesen, ihnen von Maria und der Scheidung zu berichten. Dennoch hatte er nicht ganz Unrecht: Privat war ich noch nie in einem Stripclub gewesen. Die Gründe waren jedoch nicht ganz richtig. Solche Bars interessierten mich schlichtweg nicht. Da es ihn aber nichts anging, zuckte ich nur mit den Schultern. Sollte er glauben, was er wollte. Stevenson sprang schnell dazwischen: »Ist doch egal. Was ich eigentlich fragen wollte: Meine Freundin Angelica und ich haben am Donnerstag unser Halbjähriges und ich wollte sie zum Essen ausführen. Jetzt hat sich aber ihre beste Freundin von ihrem Macker getrennt und hängt uns die ganze Zeit auf der Pelle. Angelica möchte unbedingt, dass sie mit zum Essen kommt, damit sie nicht allein rumsitzen muss.« Es war mehr als offensichtlich, was er von diesem Vorschlag hielt. »Da dachte ich mir, es wäre doch nett, wenn sie auch eine Begleitung hätte.« Ich wischte mir mit einer Serviette etwas Fett aus dem Henriquatre und erwiderte dann uninteressiert Stevensons Blick. Glaubte er wirklich, dass er sie auf diese Weise für mich interessant machte? Wohl kaum. »Warum fragst du nicht Chang, er mag bestimmt mit.« »Das ist Angelicas beste Freundin! Wenn ich der Chang vorsetze, seh ich Angelica nie wieder.« Bevor Chang sich darüber echauffieren konnte, was er nach seinem Gesichtsausdruck definitiv vorhatte, ergänzte Stevenson: »Außerdem muss er arbeiten.« Ich murrte leise vor mich hin. Normalerweise hätte ich ja auch einfach behauptet, dass ich arbeiten musste, aber das kaufte mir keiner ab. Sie kannten meinen Dienstplan. »Kennst du niemanden anderen, der mitgeht? Ich hab schon was vor.« »So? Was denn?«, fiel Murphy mir in den Rücken. Wohlwissend, dass ich natürlich nichts geplant hatte. Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Ich hatte ihn heute sowieso schon gefressen, gerade machte er sich nicht beliebter. »Geht dich nichts an!« »Komm schon, Meléndez, hab dich nicht so. Du wärst ideal! Sie steht auf ältere Latinos. Du hast dafür auch was gut bei mir.« Stevenson klang fast schon bettelnd. Älter, ja? Na, er sollte mal ganz schnell die Klappe halten. So viel jünger war er auch nicht. »Wie alt ist sie denn? Das ist aber nicht so ein komplett unreifes Küken, oder?« »Nein. Sie ist Mitte dreißig. Glaub mir, sie wird dir gefallen. Sie sieht nicht nur gut aus, sie hat auch wirklich was im Köpfchen.« »Aha.« Ehrlich, mir war das total egal. Ich wollte sie nicht treffen. »Bitte! Du kannst für diesen kleinen Gefallen alles von mir verlangen, was du willst.« Flehend sah er mich an. »Auch, dass du mich endlich in Ruhe lässt?« Nun lächelte er siegessicher. »Sobald du zugestimmt hast.« Genervt stöhnte ich. »Wenn es denn unbedingt sein muss.« Er würde ja sowieso keine Ruhe geben. Und irgendwann würde ich einen Gefallen brauchen, wenn ich mich an die Sache mit diesem Watkins wagte. Dann setzte ich mich eben mit Stevenson und den beiden Damen in ein Restaurant und machte das Beste daraus. Es war nun wirklich nicht so, als hätte ich etwas Besseres zu tun. »Danke! Du hast wirklich etwas gut bei mir!« Er zückte sein Handy und begann zu tippen. »Wir treffen uns zwanzig Uhr am Hafen. Ich schick dir gleich noch die Adresse fürs Navi. Wegen dem Essen musst du dir keine Gedanken machen, ich lad euch ein.« Ich schüttelte den Kopf. So weit kam es noch! »Nein. Wenn ich schon mit ihr auf ein Date gehen soll, dann zahle ich auch. Wie sieht das denn aus, wenn du zahlst?« Chang pfiff. »Er hat Manieren, der Kerl.« »Irgendwer hier muss die ja haben«, konterte ich und hatte diesmal die Lacher auf meiner Seite. Erschöpft kam ich in der Nacht wieder zu Hause an. Wir hatten nicht weiter über Murphys unmögliche Aktion gesprochen und es wurde recht entspannt, dennoch stand mein Entschluss nach wie vor: Ich wollte diesem widerlichen Pisser das Handwerk legen! Dafür war ich Polizist geworden, nicht, um vor irgendwelchen Anwälten zu kuschen. Bei einem kurzen Blick auf mein Smartphone stellte ich fest, dass es ausgegangen war. Vermutlich hatte ich mal wieder vergessen, es zu laden. Machte aber nichts, ich brauchte es eh so gut wie nie. Schon gar nicht im Dienst. Nachdem es kurz geladen hatte, schaltete ich es an, nur um es gleich darauf wütend auf die Ablage zu schmeißen. Die hatte mir gerade noch gefehlt! Wenn sie etwas wollte, sollte sie sich an meinen Anwalt wenden! Immerhin war sie doch diejenige, die sonst nur noch über ihren mit mir kommunizierte. Ich hatte ihr nichts mehr zu sagen, geschweige denn noch mehr zu geben. Sie bekam doch bereits alles. Mehr hatte ich nicht! Statt zurückzurufen oder auf die unverschämte SMS einzugehen, nahm ich eine Flasche Dr. Pepper aus dem Kühlschrank und setzte mich ins Wohnzimmer. Nachdem ich den Fernseher angeschaltet hatte, um mir die Spätnachrichten anzusehen, nahm ich den Laptop auf den Schoß und startete ihn. Eigentlich hatte ich noch etwas spielen wollen, um mich zu entspannen, doch es wollte nicht gelingen. Meine Gedanken gingen immer wieder zu Maria und warum sie versucht hatte, mich zu erreichen. Es gab doch nun wirklich nichts mehr, was wir uns zu sagen hätten. Ich hatte ihr das Haus überlassen und zahlte regelmäßig den nicht geringen Unterhalt. Was wollte sie mehr? Oder hatte sie es sich anders überlegt? Nein! Das würde sie nicht tun! Wir waren fast zwanzig Jahre verheiratet und ich hatte sie immer gut behandelt, sie würde sich das jetzt nicht einfach so überlegen. Bitte nicht! Ich schlug den Laptop zu und lief zurück in die Küche. Schnell griff ich nach dem Handy. Ich musste herausfinden, was sie wollte. Wenn sie es sich jetzt doch anders überlegte, war ich geliefert! Gerade als ich den Anruf tätigen wollte, fiel mir auf, dass es viel zu spät war. Wir hatten es bereits weit nach Mitternacht. Trotz der Zeitverschiebung lag sie sicher schon im Bett. Ich konnte es mir nicht leisten, sie noch weiter zu verärgern, indem ich sie aus dem Bett klingelte. Ich schrieb eine halbwegs reumütige SMS, dass mein Akku leer gewesen war und sie es am nächsten Morgen noch einmal versuchen sollte, dann legte ich das Handy zurück, schaltete alle Geräte aus und ging ins Bad. Wenn ich wach blieb, würde ich mir nur weiter den Kopf zerbrechen. Sollte es wirklich wichtig sein, würde sie auf die Nachricht reagieren, und ansonsten musste ich hoffen, dass sie nicht so wütend war, mich nicht zu erreichen, wie es ihre SMS andeutete. Kapitel 2: Las mujeres a las que amo ------------------------------------ Ich parkte meinen Ram auf dem Parkplatz des kleinen Restaurants am Hafen. Hoffentlich hielt Stevenson Wort und es gab wirklich auch etwas anderes als Fisch, sonst würde es für mich ein sehr sparsamer Abend. Tat meinem Bäuchlein sicher auch ganz gut. Ich richtete Hemd und Jackett, dann stieg ich aus. Kurz bevor ich mich vom Wagen entfernte, fiel mir noch ein, dass ich etwas vergessen hatte, und fischte den kleinen Strauß vom Rücksitz. Als ich mich auf dem Parkplatz umsah, entdeckte ich Stevensons Fiat, der gerade in eine Parklücke fuhr, und ging darauf zu. Kaum stand der Wagen, stiegen er und zwei Damen aus. Auch sie hatten sich herausgeputzt, mein Kollege trug ebenfalls ein Jackett. Gut, sonst hätte ich meines noch eben ins Auto gebracht. Stevenson entdeckte mich, legte den Arm um die blonde Frau, die aus der Beifahrertür gestiegen war, und dirigierte dann beide Frauen in meine Richtung. »Hi«, grüßte er, dann deutete er nacheinander auf die Frauen. »Das sind Angelica, meine Freundin, und Monika, dein Date für heute Abend.« »Abend. Ich bin Eloy.« Ich lächelte beide Frauen an, reichte erst Monika, dann Angelica die Hand. Dann überreichte ich meinem Date den Strauß mit einem unverbindlichen Lächeln. »Danke.« Die kleine, braunhaarige Frau lächelte mich offen und ehrlich geschmeichelt an. Stevenson zwinkerte mir zu. Offenbar wollte er mir mitteilen, dass ich bereits Pluspunkte gesammelt hatte. Ich hatte zwar nicht viel Erfahrung mit Frauen, aber das hätte ich auch allein mitbekommen, danke. »Wollen wir dann reingehen?« Nachdem alle ihre Zustimmung gegeben hatten, hakte sich Monika bei mir ein und gemeinsam liefen wir zum Restaurant hinüber. Am Eingang wurden wir von einem Kellner im schwarzen Anzug begrüßt, der uns zu unserem Tisch führte, nachdem wir ihm unsere Reservierung genannt hatten. Es war nicht sehr voll und der Stil der Einrichtung gefiel mir; elegant, ohne protzig zu wirken. Hier und dort waren ein paar schöne Details versteckt, doch alles in allem verzichtete das Ambiente auf unnötigen Schnickschnack. Monika setzte sich mir gegenüber, Stevenson besetzte den Stuhl neben mir und saß damit seiner Freundin gegenüber. Wir erhielten jeder eine Karte, dann fragte der Kellner an Monika gewandt: »Soll ich Ihnen eine Vase bringen lassen?« Monika stimmte mit einem Lächeln zu und der Kellner entfernte sich eilig. Der Blick in die Karte verriet, dass Stevenson nicht zu viel versprochen hatte. Natürlich gab es viele Fisch- und Meeresfruchtspezialitäten, aber auch ich wurde schnell fündig. Einem guten Steak mit Ofenkartoffel und glasierten Karotten konnte ich nicht widerstehen. Während die Anderen noch grübelten, was sie essen wollten, sah ich mich im Raum um. Die Kellner schienen eifrig, aber nicht aufdringlich. Immer wieder gingen sie die Tische ab, nahmen aber von jenen Abstand, an denen noch gegessen wurde. »Was nimmst du denn?«, fragte mich meine Begleiterin und lenkte damit meinen Blick wieder zu sich. »Ich werde das Steak versuchen.« Sie verzog das Gesicht, als hätte ich ihr gesagt, dass ich mir ein Baby braten ließ, und fragte dann: »Warst du schon mal hier und kannst mir etwas Vegetarisches empfehlen?« »Nein, tut mir leid.« Haha, sehr witzig Stevenson. Verkuppeln wir den Nicht-Trinker mit einer Vegetarierin, das muss ja gut passen. Ja nee, ist klar. »Ich war noch nie hier.« Ich hätte sie gern an Stevenson weitergeleitet, doch mir fiel in dem Moment auf, dass ich nicht einmal wusste, wie er mit Vornamen hieß. Doch seine Freundin sprang schon ein. »Tut mir leid, Scott hat vermutlich nicht daran gedacht. Die Ofenkartoffeln sind hier aber wirklich gut, genau wie die Salate. Ansonsten frag doch mal den Kellner, ob er etwas empfehlen kann.« Monika schien noch immer wenig zufrieden, nickte jedoch. Stevenson erntete einen anklagenden Blick seiner Freundin, nahm ihn jedoch gelassen hin, während er die Karte vor sich ablegte und verkündete, dass er noch eine gemischte Vorspeise für alle ordern würde. Kaum hatte auch Angelica die Karte zugeklappt, stand ein junger Mann neben unserem Tisch, präsentierte eine Vase, die er an Monika reichte, und fragte dann: »Was darf ich Ihnen bringen?« »Können Sie mir etwas Vegetarisches empfehlen?« »Natürlich.« Er strich sich die etwas längeren schwarzen Locken hinters Ohr, als müsste er einen Moment überlegen. »Wir haben heute Gemüselasagne auf der Tageskarte, die ist sehr beliebt.« »Dann nehme ich die. Und dazu einen Roten«, verkündete Monika freudig. Während er die Bestellungen aufnahm, beriet der Kellner jeden in der Wahl seines Getränkes. Er schien Ahnung von seinem Job zu haben und nicht nur gut auszusehen in seinem perfekt sitzenden Anzug. Je länger er sprach, desto deutlicher wurde sein mexikanischer Akzent und das ein oder andere Mal blieb er an einem Wort hängen, bevor er fortfuhr, was mich wehmütig lächeln ließ. Am Ende richteten sich seine überraschend hellen Augen auf mich. Ich gab ebenfalls meine Bestellung auf, die er mit einem Nicken notierte. Als ich ihm sagte, dass ich dazu ein Wasser wollte, stockte er, fand dann aber schnell zu seinem professionellen Lächeln zurück. Nachdem der Kellner sich abgewandt hatte, fand Monika wohl, dass es an der Zeit wäre, mich näher kennenzulernen. »Du bist also ein Arbeitskollege von Scott?« Meine Einstellung bezüglich des Kennenlernens hatte sich nicht geändert, doch unhöflich wollte ich auch nicht sein. Daher antwortete ich ihr knapp und stellte dann die Gegenfrage. »Ich arbeite als Bibliothekarin.« Wow, das klang nach einem wirklich spannenden Job ... So richtig schön zum Einschlafen. Dennoch biss ich die Zähne zusammen und ließ mir erzählen, was man denn als Bibliothekarin den lieben langen Tag machte. Leider wurde es genauso öde wie befürchtet und ich war mehr als froh, als der Kellner mit unseren Getränken zurückkehrte. Das verschaffte mir eine kurze Pause, um mir ein hoffentlich spannenderes Gesprächsthema zu überlegen. Der junge Mann verteilte die Weingläser und öffnete dann meine Wasserflasche, um mir einzugießen. Dabei stieß er leicht gegen meine Schulter, schaffte es jedoch, nichts zu verschütten. Entschuldigend lächelte er mich an. Ich tat es mit einem leichten Schulterzucken und Lächeln ab, die anderen hatten es vermutlich nicht einmal bemerkt. »Was machst du denn in deiner Freizeit?«, fragte ich, sobald wir wieder zu viert am Tisch waren. Ich hoffte, dass vielleicht etwas mehr kam als das Offensichtliche. »Ich lese gern.« Ja toll, danke. Das hatte ich mir schon gedacht bei der Berufswahl. Abwartend sah ich sie an, ob nicht vielleicht doch noch etwas kam. »Auch wenn Monika das nicht gern zugibt, aber sie spielt ziemlich gut Klavier«, rettete Angelica die Situation. Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu, den sie mit einem Lächeln beantwortete. Dann wandte ich mich wieder an mein Date. »Was spielst du denn? Lieber Modernes oder doch eher klassische Stücke?« »Ich versuch beides, aber das Klassische liegt mir etwas mehr. Wobei ich gar nicht so gut bin, wie Angelica behauptet. Eher nur unterer Durchschnitt.« »Ich bin mir sicher, du bist besser, als du glaubst.« Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mich dieses stockende Gespräch nervte. Ich hatte keine Lust, ihr alles aus der Nase zu ziehen. Hoffentlich hatte sie auf die nächste Frage etwas mehr zu antworten. Wenigstens eine kleine Gemeinsamkeit musste sich doch finden lassen. »Ich mag klassische Musik. Welches ist denn dein Lieblingsstück?« Nicht nur Monika, sondern auch Stevenson und Angelica sahen mich verwundert an. Ja, was?! War das jetzt so eine erstaunliche Entdeckung? Nach einem Moment fasste sich meine Begleitung wieder. »So gut kenn ich mich nicht aus. Ich spiel nur das, was mir mein Lehrer aufgibt. Aber ich mag Mozart.« Wenn man keine Ahnung hatte, ging Mozart wohl immer. Ich unterdrückte das genervte Stöhnen und nickte stattdessen. »Ich mag die Romantik etwas lieber. Vor allem MacDowell hat es mir angetan. Seine Klavierstücke sind auch sehr bekannt.« Der Blick aus Monikas Augen sprach Bände: Sie hatte noch nie von ihm gehört. Wie war Stevenson darauf gekommen, sie und ich könnten gut zusammenpassen? Ach ja, die Sache mit dem Anti-Alkoholiker und der Vegetarierin. Übrigens nett von Stevenson, nicht einmal bei der gemeinsamen Vorspeise daran gedacht zu haben. Diese wurde nämlich gerade mittig auf den Tisch gestellt. Immerhin hatten Monika und ich da mal etwas gemeinsam: Auch ich würde davon nichts essen. Auf der Platte befanden sich nur kleine Fisch- und Meerestierhäppchen. Innerlich schüttelte es mich. Wie konnte man so etwas nur essen? Auch den anderen fiel das wohl irgendwann auf und Stevenson fragte mich: »Isst du gar keinen Fisch?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich mag diesen typisch fischigen Geschmack nicht.« Wie so häufig, wenn ich das sagte, fingen sie an, mit mir zu diskutieren, dass es keinen typischen Fischgeschmack gäbe. Mochte ja sein, dass das alles unterschiedlich schmeckte, ich fand trotzdem, dass der Geschmack recht ähnlich war. Während wir noch diskutierten, räumte der Kellner den leeren Teller weg und brachte das Besteck für den Hauptgang. »Hast du irgendwelche Hobbys?«, forderte Monika wieder meine Aufmerksamkeit und hielt mich davon ab, unserem Kellner erneut nachzuschauen. »Zu Hause bin ich nach dem Dienst gern in den Franklin Mountains wandern gegangen. Aber hier komm ich nicht wirklich dazu. Es ist alles recht weit weg, sodass sich das nach dem Dienst kaum lohnt.« Das war etwas, was ich wirklich vermisste. Hier war nichts nah genug für einen solch kurzen Ausflug, rundherum gab es nur Meer und weitere urbane Gegenden. »Zu Hause? Woher kommst du denn?« Es schwang deutliche Skepsis in ihrer Stimme mit. »El Paso«, machte ich es kurz. Dann fiel hoffentlich nicht ganz so auf, wie sehr mich der Unterton störte. War ja nicht so, als hätte man das wissen können, hätte man in Geographie aufgepasst. Außerdem konnte ich meinen texanischen Dialekt kaum verbergen, was auch nach vier Monaten noch oft für Erheiterung unter den Kollegen sorgte. Stevenson grinste. Es hatte sich wohl mittlerweile herumgesprochen, dass ich etwas ungehalten reagierte, wenn man auch nur andeutete, ich sei kein Amerikaner. »Stimmt, viel Natur gibt es hier nicht. Aber du kannst doch auch in der Stadt wandern gehen. Der Freedom-Trail ist unglaublich faszinierend. Bist du den schonmal gelaufen?« Warum mischte er sich eigentlich die ganze Zeit in mein Gespräch ein? Hatte er kein eigenes Date? Warum war ich überhaupt mitgekommen? Ich verbat mir, frustriert zu seufzen. Das hier war eine ganz blöde Idee. »Nein, war ich noch nicht. Vielleicht lauf ich ihn die nächsten Wochen mal, wenn ich einen freien Tag hab.« »Kann ich mitkommen?« Monika lächelte mich freudig an. Moment! War ich gerade voll in eine Falle gelaufen? Ach, verdammt! Okay, jetzt hieß es ruhig bleiben. Ich konnte entweder jetzt ein Arschloch sein und eine große Szene riskieren oder mich später aus dem Staub machen. Die Wahl fiel nicht schwer. »Klar. Gib mir deine Nummer, ich meld mich dann, wenn ich frei hab.« Sie nickte sofort, und als ich mein Smartphone aus der Tasche gezogen hatte, musste ich sie bremsen, da ich erst ihren Namen eingeben musste. Danach diktierte sie mir die Nummer noch immer viel zu schnell, aber das kam mir entgegen. Ich hatte sowieso vorgehabt, mir die Nummer falsch zu speichern. Außerdem verschaffte mir der Kellner eine weitere gute Ausrede, da er währenddessen mit dem Hauptgang an unseren Tisch kam. Denn auch wenn er höflich neben dem Tisch wartete, bis wir fertig waren, meinte Stevenson, ihn anfahren zu müssen, dass er gefälligst mehr Abstand zu wahren habe. Der junge Mann nahm es zum Glück gelassen auf. Entschuldigend lächelte ich ihn an, als ich wieder aufsah. Während wir aßen, erzählten Monika und Angelica, wo sie mit ihrer Clique schon überall ›Abenteuerurlaub‹ gemacht hatten. Sprich: An welchen Stränden sie sich den Pelz verbrannt und zwischendurch mal ein paar Touristentouren mitgemacht hatten. Scheinbar interessiert hörte ich zu, nickte hier und dort und fragte nach, ließ aber im Grunde lieber meinen Blick durch den Raum schweifen, wenn ich mich nicht gerade dem vorzüglichen Steak widmete. Da sich Stevenson rege am Gespräch beteiligte, fiel mein Desinteresse nicht weiter auf. Leider funktionierte das nur so lange, wie wir aßen. Danach war Monika der Meinung, es wäre mal wieder an der Zeit, dass ich etwas über mich erzählte. »Warst du schon einmal im Ausland?« »Ja, aber nicht im Urlaub.« Kurz sahen mich alle drei skeptisch an, als wollten sie noch mehr wissen, doch sie beließen es zum Glück dabei. Ich hatte keine Lust, über die Army zu sprechen. Entweder endete das in einer politischen Diskussion oder Sensationsgier. Für beides sollten sie sich jemand anderen suchen. »Wollt ihr noch Nachtisch?«, fragte Angelica in die langsam unangenehm werdende Stille. Gemeinschaftlich schüttelten wir den Kopf. »Wollen wir dann noch woanders hin?« Ich warf einen kurzen Blick auf meine Uhr. Kurz vor zehn. Spät genug, dass mir keiner böse sein konnte, wenn ich mich absetzte. »Ich würde eher nach Hause fahren.« »Schon?« Monika versuchte es mit einem Hundeblick, der bei mir überhaupt nicht zog. »Ja, ich muss morgen vor dem Dienst noch einiges erledigen.« Kurz überlegte ich, ob mir noch etwas einfiel, was ich vorschieben konnte. »Außerdem muss ich noch meine Familie zurückrufen, die haben heute Nachmittag angerufen.« Die anderen drückten noch einmal ihr Bedauern aus, versuchten jedoch nicht, mich zu überreden. Stattdessen überlegten sie, was sie unternehmen wollten. Währenddessen kam der junge Kellner wieder und räumte den Tisch ab. Ich legte meine Hand leicht auf seinen Arm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und verlangte leise nach der Rechnung. Wenn ich schon das Arschloch spielte, wollte ich wenigstens zahlen. Der Kellner lächelte und nickte dann zum Zeichen, dass er mich verstanden hatte. Recht flink war er wieder da und hielt mir die Rechnungsmappe entgegen. Kurz prüfte ich den Betrag und legte meine Kreditkarte hinein. Als sie wieder mitgenommen wurde, bekamen meine Begleiter doch mit, was los war. Stevenson sah mich mahnend an. »Du musst nicht für alle zahlen.« »Das passt schon. Wenn du nicht gefragt hättest, hätte ich vermutlich den ganzen Abend allein zu Hause gehangen.« Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte, aber ein wenig Gesellschaft war ab und zu auch ganz angenehm. Sollte er es als Entschädigung dafür sehen, dass er sich vermutlich in den nächsten Wochen von Angelica würde anhören dürfen, wie scheiße ich war. Eher widerwillig ließ er sich darauf ein, während sich die Damen bei mir bedankten und besonders Monika mich mit einem Blick bedachte, der vermutlich niedlich sein sollte. Gerade als die Diskussion beendet war, stand der Kellner wieder neben mir. Sein Lächeln hatte etwas Schelmisches, was mich verwirrte. Ich nahm die Mappe wieder entgegen, um die Rechnung zu unterschreiben und das Trinkgeld einzutragen. Als ich sie aufschlug, stockte mir der Atem. Eilig sah ich mich um, ob einer der anderen zu mir sah, doch sie waren wieder mit der weiteren Abendplanung beschäftigt. Mein Blick glitt zum Kellner, der mir frech zuzwinkerte. Schnell wandte ich mich ab, trug alles auf der Rechnung ein und schnappte mir dann möglichst schnell meine Kreditkarte und die Rechnungskopie, bevor doch noch jemand einen Blick darauf warf. Ich sah den jungen Mann nicht an, während ich die Mappe zurückreichte, doch ich spürte für einen Moment seine Hand auf meiner Schulter. Nachdem er abgedackelt war, standen wir auf. Da ich die Rechnung noch immer in meiner Hand versteckt hielt, ließ ich sie kurzerhand in der Tasche meines Jacketts verschwinden. Als wir an den Autos ankamen, verabschiedete ich mich von den anderen und stieg schnell ein. Bis sie ebenfalls im Auto saßen, riss ich mich noch zusammen, dann brach es aus mir heraus. Wütend schlug ich auf das Lenkrad. »¡Mierda!« Fluchend startete ich den Motor. Das war doch nicht möglich! Wie hatte er das mitbekommen können? Und wenn er es bemerkt hatte, hatten es dann auch die anderen mitbekommen? Es blieb nur zu hoffen, dass es für sie nicht offensichtlich gewesen war. Sonst konnte ich mir direkt einen neuen Job suchen. Zu Hause warf ich mein Jackett über die Couchlehne, lümmelte mich hin und nahm meinen Laptop auf den Schoß. Auf dem Weg hatte ich beschlossen, tatsächlich noch bei meiner Familie anzurufen, immerhin hatte ich mich das letzte Mal an Weihnachten bei ihnen gemeldet. Das war auch schon wieder ein paar Wochen her. Also schaltete ich Skype an, sobald der Laptop hochgefahren war. Meine Schwester war zum Glück noch online, und noch bevor bei mir angezeigt wurde, dass es bei ihr klingelte, hatte sie den Videoanruf schon angenommen. »Hallo Bruderherz«, begrüßte sie mich wie immer freudig auf Spanisch. Es war zu schön, mal wieder meine Muttersprache zu hören. Das vermisste ich hier am meisten. »Hallo Schwesterchen. Du siehst phantastisch aus«, antwortete ich ihr mit einem breiten Grinsen. Offenbar war das Wetter zu Hause etwas besser, denn sie trug nur ein Shirt. Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten bei dem Kompliment, obwohl es nur von mir kam. »Du bist ein alter Schmeichler, Eloy. Dabei siehst du selbst so aus, als hättest du heute noch etwas vor.« Lachend fuhr ich mit den Fingern durch meine dunklen Haare und entfernte das Gel. »Nein, ich hab nichts mehr vor. Ich komme nur gerade vom Essen.« »Allein?«, fragte sie lauernd. »Nein. Mit einem Kollegen, seiner Freundin und dessen bester Freundin, mit der sie mich verkuppeln wollten.« Ich nahm den Laptop mit in die Küche, um mir etwas zu trinken aus dem Kühlschrank zu holen. Sie sah zur Seite, schien etwas zu suchen, bevor sie sich wieder mir zuwandte. »Na das scheint ja nicht so gut gelaufen zu sein, wenn du jetzt schon wieder zu Hause bist.« »Doch, es war ganz nett. Aber ich bin nicht interessiert.« »Warum nicht, wenn es doch nett war?« »Sie ist mir zu jung. Und zu weiß.« Vorwurfsvoll blickte sie mich durch die Kamera hindurch an. »¡Eloy!« »Sorry.« Dabei wusste sie ganz genau, was ich meinte. Das hatte nichts mit Monikas Hautfarbe zu tun, sondern damit, wie sie sich gab. Gerade Noemí sollte das eigentlich wissen. Immerhin hatte ich sie auch vor unseren Eltern verteidigt, die überhaupt nicht begeistert gewesen waren, als sie plötzlich mit einem weißen Cowboy vor unserer Tür gestanden und ihn uns als den Mann ihres Lebens vorgestellt hatte. Mittlerweile waren die Wogen geglättet und unsere Eltern hatten sich mit der Wahl meiner Schwester abgefunden, dennoch war es wohl an Lázaro, unsere Eltern zufriedenzustellen. Seine beiden älteren Geschwister waren für sie in der Hinsicht eine herbe Enttäuschung. »Ich bin dennoch nicht an ihr interessiert«, machte ich noch einmal deutlich. »Du genießt also lieber dein Junggesellendasein?« Nun lächelte Noemí doch wieder. »Kann man so sagen, sí.« Die meisten stellten sich sicher etwas anderes als mein derzeitiges Leben, darunter vor, aber das war schon in Ordnung. Ich genoss es wirklich, auch mal mein eigener Herr zu sein. »Wie geht es euch denn?« »Sehr gut. In den nächsten Tagen sollten die letzten Bauarbeiten endlich erledigt sein.« Erleichtert atmete sie aus. »Wow, das ist klasse!« Jonathan, den sie mittlerweile geheiratet hatte, hatte schon immer den Traum von einer eigenen Ranch gehabt. Vor zwei Jahren hatten sie dann eine alte, ziemlich verfallene in der Nähe von El Paso gekauft, die sie mühevoll neben der täglichen Arbeit herrichteten. »Ich hoffe doch, ihr habt dann auch ein Gästezimmer für mich frei, wenn ich euch besuchen komme.« »Natürlich, für meinen großen Bruder doch immer.« Ich lächelte. »Und wie geht es unserem kleinen Bruder?« »Der ist mit Jonathan draußen. Eine der Stuten soll in den nächsten Tagen fohlen, aber es gibt wohl irgendein Problem.« Ich seufzte. Jeder von uns war auf seine Weise eine Enttäuschung für unsere Eltern. Lázaro hatte sich trotz Zeter und Mordio ihrerseits nicht davon abbringen lassen, Tiermedizin zu studieren, um sich nun auf Farmen wie der von Jonathan und Noemí um die Tiere zu kümmern. »Dann hoffe ich, dass alles gut geht. Wann ist es denn bei dir soweit?« »Ich hoffe in den nächsten Wochen. Der Kleine ist schon sehr ruhig geworden.« Zärtlich streichelte sie sich über den runden Bauch. Ich war froh, dass meine Schwester schon immer eine große Kinderschar gewollt hatte, so war es für unsere Eltern nicht ganz so schlimm, dass Maria und ich keine hatten. Nicht, dass wir es nicht versucht hätten, aber es hatte einfach nicht geklappt. Ein Umstand, den ich nicht wirklich bedauerte. »Und bevor du fragst: Mamá und Papá geht es auch gut und sie sind noch immer sauer, dass du abgehauen bist.« »Ja, hab ich mir schon gedacht, dass sie das nicht so schnell ablegen.« Ich seufzte. Hätte ich eine Wahl gehabt, ich wäre auch lieber in El Paso geblieben. Aber die hatte ich nun einmal nicht. »Eloy, ich versteh es noch immer nicht. Ich weiß, du hast gesagt, dass du nicht über die Scheidung reden möchtest, weil du meinst, dass es nur dich und Esther etwas angeht, aber wir sind eure Familie. Natürlich sind Papá und Mamá wütend über die Scheidung, aber indem du abhaust, machst du es doch auch nicht besser.« Ich schüttelte frustriert den Kopf und lief zurück ins Wohnzimmer. Sagte es nicht alles, dass sie sich nicht nur als meine, sondern auch als Marias Familie sahen? Auch wenn ich noch immer nicht verstand, warum sie auf ihren ersten Vornamen bestanden. Schon als ich Maria in der High School kennengelernt hatte, war sie lieber beim zweiten genannt worden. Vermutlich befürchteten sie, dass man sie sonst mit meiner Schwester verwechselt hätte, die ebenfalls als Kind eine Phase gehabt hatte, in der sie lieber María genannt werden wollte. Allerdings war das auch die Phase gewesen, in der sie liebend gern mit mir und Lázaro Mutter-Vater-Kind gespielt hatte. Oder ›Weihnachten spielen‹, wie sie es damals genannt hatte. Noch heute tat mir mein kleiner Bruder leid, wenn ich daran dachte, wie oft sie ihn als Baby in den großen Bräter gesteckt hatte, der als Krippenersatz herhalten musste. Ich wusste, wenn ich sie heute darauf ansprach, wäre ihr das unglaublich peinlich. Etwas verspätet schüttelte ich den Kopf. Ich vertraute meiner Schwester, aber ich wollte sie nicht mit meinen Geheimnissen belasten. »Nein, wirklich nicht.« »Mensch, wenn du uns wenigstens sagen würdest, mit wem du sie betrogen hast, dann hätten wir zumindest eine Chance, deine Entscheidung zu verstehen.« Ich stockte. »Woher ...?« Noemí lächelte milde. »Esther hat dich geliebt. Sie hätte sich niemals scheiden lassen, wenn nicht wirklich etwas Gravierendes zwischen euch vorgefallen wäre. Na komm schon, großer Bruder. Rede mit mir. Ich versprech auch, es erfährt niemand.« »Nein, wirklich, ich will nicht darüber reden«, lehnte ich ab. Ich wusste, dass sie es ehrlich meinte, dennoch war das nichts, worüber ich reden wollte. Sie seufzte. »Wie du meinst. Wenn du es dir anders überlegst, kannst du jederzeit anrufen.« »Ich weiß.« Ich lächelte, um sie zu besänftigen. Dann wechselte ich das Thema, fragte sie nach Jonathan, den Kindern und ihrer Arbeit. Ich wollte nicht, dass das Gespräch negativ endete. Auch wenn meine Familie meine Entscheidung nicht verstand, ich liebte sie und wollte sie das nicht vergessen lassen. Nach dem Gespräch ging ich kurz ins Bad, um mir die Zähne zu putzen und mich zu waschen. Ich wollte ins Bett, damit ich am nächsten Morgen vor der Schicht noch ein paar Einkäufe erledigen konnte. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, bemerkte ich das Jackett, das noch immer über der Lehne hing. Wenn ich es hängen ließ, würde ich mich morgen darüber ärgern, also nahm ich es und hängte es im Flur an die Garderobe. Dabei fiel etwas aus der Tasche, das ich verwundert aufhob. Verdammt, die Rechnung hatte ich völlig vergessen! Ich faltete sie auseinander. ›Hoffentlich tippst du sie nicht auch falsch ab und rufst mal an. Knackarsch Marco‹ Darunter stand eine Handynummer. Ich seufzte frustriert. Warum musste er mich noch zusätzlich in Versuchung führen? Schon sein Hintern war in dem passgenauen Anzug einfach verführerisch gewesen, aber den hätte ich schnell vergessen. Die Rechnung musste ich behalten. Ich warf sie in der Küche auf die Arbeitsplatte. Darum würde ich mich später kümmern. Im Moment wollte ich nur noch ins Bett. Ich schlug die Augen auf und sah mich suchend um, dann wurde mir klar, dass mein Wecker mich geweckt hatte. Stöhnend erhob ich mich und schaltete ihn ab, bevor ich mich wieder zurückfallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug. Verdammt! Dieser Lockenkopf hatte sich tiefer in meinen Kopf eingegraben als zuerst gedacht. Noch immer hatte ich die Bilder meines Traumes im Kopf, konnte die Locken zwischen meinen Fingern spüren. Dabei hatte ich noch nicht einmal vor, ihn anzurufen. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Als würde ein Mann ihn wirklich anrufen! Ich schleppte mich ins Bad und wusch mir den Schlaf aus dem Gesicht. Einen kurzen Blick in den Spiegel werfend stellte ich fest, dass ich einfach nur scheiße aussah. Das war immerhin nicht der erste Traum, aus dem ich in dieser Nacht aufgewacht war. Meinen müden braunen Augen war das deutlich anzusehen. Genervt murrte ich und ging zurück ins Wohnzimmer. Duschen würde ich erst, wenn ich zur Arbeit musste, bis dahin hatte ich noch etwas Zeit. Doch ich würde sie anders nutzen als geplant. Während ich den Laptop aufklappte und die Kopfhörer aufsetzte, war ich wirklich froh, dass mir einer der Kollegen erzählt hatte, dass es in Boston tatsächlich eine kleine spanische Gemeinde gab. Der Pfarrer war sehr nett und kümmerte sich gut um seine Schäfchen. Ich würde am Sonntag einiges zu erzählen haben. Kurz beschlich mich die Angst, dass der Lockenkopf auch Teil der Gemeinde sein könnte, doch dann machte ich mir klar, dass so jemand wie er, der anderen Männern seine Nummer mit einem eindeutigen Angebot übergab, nichts in einer christlichen Gemeinde zu suchen hatte. »Eloy José Meléndez, tu nicht so, als wärst du besser«, mahnte mich eine Stimme in meinem Kopf. Mit einem frustrierten Seufzen warf ich einen Blick auf den Laptop, wo sich ein graziler, junger Mann nackt gegen die Box lehnte, in die ich meine Logindaten zur Website eingegeben hatte. Nein, ich hatte kein Recht, diesen Mann zu verurteilen. Was ich hier tat, war nicht besser. Aber ich belästigte mit diesen gotteslästerlichen Gedanken wenigstens keine anderen Menschen! Hätte dieser Kerl meine Blicke nicht einfach ignorieren können, so wie es sich gehörte? Ich wartete, bis die Seite meine Daten angenommen und fertig geladen hatte, dann klickte ich wahllos einen der Filme an, die mir vorgeschlagen wurden. Was ich mir ansah, war doch völlig egal. Nichts war besser oder schlechter als das andere. Ich musste einfach nur Frust abbauen, bevor ich zur Arbeit fuhr. Der Film hatte geladen und ich richtete meinen Blick darauf, während ich den Laptop zur Seite stellte, damit ich die Hände frei hatte. Hoffentlich verstieß mich der Priester nicht gleich wieder aus der Gemeinde, wenn er am Sonntag in der Beichte von diesen Gelüsten erfuhr. Padre Herrera hatte es nur deshalb nicht getan, weil er mich von klein auf kannte und wusste, dass dieses Verlangen nicht meine Schuld war und ich alles tat, um nicht auf den falschen Pfad zu geraten. Kapitel 3: Grupo de apoyo ------------------------- Unruhig lief ich vor dem Gebäude auf und ab, prüfte noch einmal, ob ich auch wirklich an der richtigen Adresse war. Ein paar Schritte ging ich auf den Eingang zu, blieb dann jedoch wieder stehen. Wollte ich wirklich da rein? Was war, wenn mich jemand sah? Es konnte mich meine Karriere kosten, wenn bekannt wurde, dass ich hier war. Ich riss mich zusammen und ging auf den Eingang zu. Der Padre hätte mich sicher nicht hierher geschickt, wenn es mir schaden könnte. Immerhin hatte er mir versprochen, dass ich hier Hilfe fand. Dennoch sah ich mich um, bevor ich das Gebäude betrat, damit mich auch ja niemand dabei sah. Immer wieder warf ich Blicke auf den Zettel, auf dem das gesuchte Zimmer notiert war, und bahnte mir meinen Weg. Verdammt, ich hätte vorher nach dem kürzesten Weg fragen sollen! Im ersten Stock wurde ich fündig. Vor der Tür eines Raumes stand ein grau-blonder Mann etwa in meinem Alter und lächelte mich an, während er mir seine Hand entgegenstreckte. »Hallo, ich bin Elmer. Ich vermute, du suchst mich?« Ich versuchte, beim Klang seiner hohen Stimme nicht das Gesicht zu verziehen. Hätte ich gesprochen wie er, hätte mich mein Vater grün und blau geschlagen, bis ich verstanden hätte, dass ich ein Mann war und gefälligst auch so zu sprechen hatte. Ich nickte und schüttelte seine Hand. »Ja, wir haben telefoniert.« »Richtig. Komm doch rein.« Er deutete in den großen Raum und ließ mich ein. »Setz dich, dann erklär ich dir noch einiges, bevor die anderen kommen.« Eher skeptisch ließ ich mich auf einen der Stühle sinken und sah mich um. Normal war ich ja selten unsicher, aber so gar nicht zu wissen, was mich erwartete, machte mich dann doch nervös. Der Pfarrer hatte mir zwar empfohlen hierherzukommen, und mir Elmers Telefonnummer gegeben, doch so wirklich hatte er sich nicht geäußert, was ich hier sollte. Hauptsache, das waren nicht solche Fanatiker, die glaubten, mir diese Gelüste mit Gewalt austreiben zu können. Da der Padre auf mich einen recht aufgeschlossenen Eindruck machte, war das aber eher unwahrscheinlich. Elmer lächelte mich aufmunternd an und setzte sich neben mich. »Keine Sorge, es ist vollkommen normal, beim ersten Mal nervös zu sein. Ich würde mit dir gern die Regeln unserer Gruppe durchgehen, bevor die anderen kommen. Wäre das für dich in Ordnung?« Ich zuckte mit den Schultern. Ja, das würde sicher helfen. Immerhin wusste ich nicht, wie das ablaufen sollte. »Gut. Also das wichtigste zuerst: Alles, was du hier erfährst, ist nur für die Ohren der Gruppe bestimmt. Wir sind hier ein geschützter Raum und alle Teilnehmer brauchen die Gewissheit, dass sie offen reden können. Wenn herauskommt, dass jemand die Geheimnisse der anderen verrät, werde ich denjenigen der Gruppe verweisen. Sollte einmal Gesprächsbedarf über das bestehen, was andere erzählen, aber du nicht mit demjenigen reden wollen – was wir im Übrigen präferieren würden – dann steh ich oder dein Pate als Gesprächspartner zur Verfügung. Entweder nach der Sitzung oder telefonisch.« Ich nickte. Gut, das klang soweit in Ordnung. Ich hoffte nur, dass ich nichts erfuhr, was mich als Polizist in einen Gewissenskonflikt brachte. »Ansonsten gelten die üblichen Regeln der Höflichkeit: Wir lassen uns ausreden und lachen nicht über die Ängste der Anderen, auch wenn sie uns vielleicht komisch vorkommen mögen. Für denjenigen sind sie wirklich schlimm.« Eindringlich sah er mich an. Das hieß wohl, dass er mir das zutraute. Ich nahm es erstmal so hin. Dann fuhr er fort: »Außerdem steht es dir frei, nur das zu sagen, was du auch sagen möchtest. Wenn du anonym bleiben und deinen Namen nicht nennen möchtest, ist das in Ordnung. Aber dir sollte bewusst sein, dass je offener du bist, wir dir umso besser helfen können. Dennoch ist es okay, wenn du eine Weile brauchst, bis du etwas über dich erzählen kannst. Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.« »Ist gut.« Das klang zumindest annehmbar, bis ich mir sicher war, wo ich hier eigentlich gelandet war. Elmers Gefuchtel während des Redens jedenfalls machte mich etwas unruhig. Hoffentlich waren die nicht alle so. Kaum hatte ich geantwortet, klopfte es an der Tür. Elmer stand auf und öffnete sie. Davor standen zwei Männer, die etwas jünger waren als wir. Freundlich bat er sie herein, lehnte die Tür an und blieb daneben stehen. Die beiden Männer suchten sich Plätze und sahen mich argwöhnisch an, sagten jedoch nichts zu mir. Ihnen war wohl klar, dass ich mich später sowieso noch vorstellen würde. Während ich die beiden sportlich gekleideten Kerle beobachtete, trat ein Weiterer in den Raum, grüßte alle und setzte sich.   Nach und nach füllte sich der Raum mit den unterschiedlichsten Männern. Alle waren mindestens um die dreißig, einige hätte ich sogar locker auf sechzig oder siebzig geschätzt. Alles in allem schienen sie ganz normal. Die meisten unterhielten sich leise miteinander, offenbar kannten sich bereits. Irgendwann waren fast alle Stühle besetzt. Lediglich die beiden neben mir waren noch frei. Schmunzelnd stellte ich fest, dass man das wohl nie ablegte, egal wie alt man wurde. Niemand wollte neben dem Neuen sitzen. Elmer schloss die Tür und sah sich in der Runde um, dann setzte er sich wieder neben mich und lächelte mich an. »Ich denke, wir können schon einmal anfangen. Wie ihr alle gesehen habt, haben wir ab heute ein neues Gesicht in unseren Reihen. Wie wäre es, wenn ihr euch alle einmal kurz vorstellt und erzählt, wie ihr zur Gruppe gekommen seid, damit er sich ein Bild machen kann?« Der Mann links neben Elmer hob die Hand zum Gruß und stellte sich in wenigen Worten als Philip vor. Ich hörte aufmerksam zu und war froh, dass ich nicht anfangen musste. Die Idee war eigentlich gar nicht schlecht, es nahm mir den Druck, nicht zu wissen, was ich sagen wollte oder sollte. Dennoch war es mir nicht möglich, die Namen aller zehn Männer zu behalten, dafür ging es viel zu schnell. Trotzdem stellte ich erleichtert fest, dass wohl alle etwas gemeinsam hatten: Sie alle litten unter den unsäglichen Gelüsten nach Männern. Das war wirklich beruhigend, auch wenn ich noch nicht wusste, was ich davon halten sollte, dass einige es als Fortschritt sahen, sich anderen Männern nähern zu können. Gerade stellte sich mein Nichtganz-Sitznachbar vor, da wurde an der Tür geklopft und einen Moment später öffnete sie sich. Wenig begeistert verzog ich das Gesicht, als sich ein Kerl mit schwarzem Iro zur Tür hereinschob. Was wollte so einer denn hier? »Tut mir leid, ich war noch arbeiten«, entschuldigte er sich und schloss die Tür. »Kein Problem«, erklärte Elmer freundlich. »Komm rein, du kannst dich direkt vorstellen.« Der Punk nickte und sah sich im Raum um. Er visierte den freien Stuhl neben mir an, wobei sein Blick auf mich fiel. Augenblicklich verzog er das Gesicht und blieb stehen. An Elmer gewandt, erklärte er empört: »Vergiss es, ich setz mich nicht neben das Bullenschwein!« Einige wandten die Gesichter ab, um nicht zu zeigen, dass sie lachten, andere rollten mit den Augen, während Elmer den Punk anfuhr: »Mat! Wenn du dich nicht zusammenreißt, kannst du auch gleich wieder gehen.« Jetzt, wo Elmer seinen Namen erwähnte, erkannte ich ihn. Das war der Zuhälter! Auch wenn Stevenson und Murphy etwas anderes behaupteten und ich noch immer keine neuen Erkenntnisse hatte: Nach 15 Jahren Polizeiarbeit, fast zehn davon bei der Drogenfahndung, wusste ich, wie solche Mistkerle aussahen. »Dann kannst du weiter kleinen Jungs ihr Geld abluchsen.« Ich senkte etwas den Kopf, hielt meinen Blick aber auf ihn gerichtet. Aggressiv funkelte er mich aus den eisig blauen Augen an, ballte die Fäuste und kam auf mich zu. Ich machte mich bereit aufzustehen, doch Elmer ging bereits dazwischen: »Für dich gilt dasselbe: Wenn du dich nicht benehmen kannst, dann kannst du gerne wieder gehen. Was auch immer ihr für ein Problem habt: Klärt das unter euch. Und jetzt setzt euch oder geht raus!« Der Punk streckte noch einmal die geballte Faust in meine Richtung, dann ging er zu einem der älteren Männer mir gegenüber, welcher bereitwillig aufstand und ihm seinen Platz überließ. Dieser Wichser konnte also nicht nur kleine Jungs ausnehmen, sondern auch alte Männer herumkommandieren. Das war ja ein ganz Großer! Doch diesmal behielt ich meine Gedanken für mich. »So, jetzt wo das geklärt ist: Mat, würdest du dich bitte vorstellen und sagen, warum du hier in der Gruppe bist?«, forderte Elmer den scheiß Punk ruhig auf. Missmutig nickte er. »Ich bin Mat und hier, weil ich mich gerne von Fremden in den Arsch ficken lasse.« Ich sah, dass nicht nur Elmer die Augen verdrehte. Scheinbar hatten noch mehr Teilnehmer gesunden Menschenverstand und merkten, dass dieser Pisser nicht ganz koscher war. Das machte die Gruppe etwas sympathischer. Elmer beließ es dabei und forderte nun mich auf: »Magst du dich dann vorstellen?« »Ich bin Eloy und – wie der Maquereau schon richtig erkannt hat – Polizist«, machte ich es kurz. Letzteres war ja nun eh schon bekannt. »Schön dich kennenzulernen, Eloy. Magst du uns auch erzählen, wie du zu uns gefunden hast?« »Der Padre meiner Gemeinde hat mir dazu geraten, hierherzukommen. Er meinte, die Gruppe könnte mir helfen, meine Gelüste nach Männern loszuwerden.« Es war merkwürdig, das auszusprechen. Bisher hatte ich nur mit den jeweiligen Pfarrern darüber gesprochen. Die Aussicht darauf, vielleicht normal werden zu können, und dass ich nicht allein damit war, machten es leichter. Doch Elmer verpasste mir direkt einen Dämpfer. »Ich muss dich enttäuschen. Die Gruppe kann dir nicht dabei helfen, deine ›Gelüste‹ loszuwerden, aber sie kann dir helfen, sie als einen Teil von dir anzuerkennen. Wenn du dazu bereit bist, bist du gerne bei uns willkommen.« Ob ich dazu bereit war? Ich war nicht sicher. Das war nicht die Erwartung, mit der ich zu dem Treffen gekommen war. Ich hatte gehofft, dass ich erfahren konnte, wie ich mit den Gelüsten leben konnte, ja, aber sie anerkennen? Elmer legte mir vorsichtig seine Hand auf den Unterarm. »Du musst dich nicht gleich entscheiden. Was hältst du davon, wenn du jetzt erstmal bleibst und dir anhörst, was die anderen zu berichten haben und dann kannst du immer noch entscheiden, ob du in zwei Wochen wiederkommst.« Ich hörte jemanden leise schnauben und als ich aufsah, war es der Punk mir gegenüber. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er sich über mich lustig machte und hoffte, dass ich ganz schnell verschwand. Ich sah ihm fest in die Augen und verkündete: »Ich bleibe erstmal.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und er intensivierte den Blick, bevor er sich abwandte und die Arme vor der Brust verschränkte. So schnell wurde er mich nicht los. Das hier war die ideale Gelegenheit, etwas über ihn zu erfahren, was mich in meinen Ermittlungen weiterbrachte. Auch wenn ich Elmer später noch sagen musste, dass ich in zwei Wochen nicht zum Treffen kam. Ich musste schlicht und ergreifend arbeiten. »Das ist schön. Ich denke, du wirst dich hier wohlfühlen.« Elmer nahm endlich die Hand weg und wandte sich wieder an die Gruppe. »Gibt es ein dringendes Thema, über das jemand von euch reden möchte?« »Ja, ich.« Das kam von dem, der sich zuerst vorgestellt hatte. Auf seiner blassen Haut mit den Sommersprossen sah man noch deutlicher, dass er rot wurde, sobald er die Aufmerksamkeit der anderen Teilnehmer hatte. »Ich ... Ich hab mich vor meiner Frau geoutet.« Ein Raunen ging durch den Raum und einige der Männer klatschten Beifall. Es war beruhigend, dass nicht nur ich darüber die Stirn kraus zog. Doch musste es ausgerechnet der Zuhälter sein, der meiner Meinung war? Elmer klatschte ebenfalls. »Sehr gut. Das war mutig. Möchtest du uns erzählen, wie es gelaufen ist?« Ich lehnte mich im Stuhl zurück und hörte der Geschichte des Mannes zu. Und je länger ich das tat, desto mehr erinnerte es mich an meine eigene. Er war seit einigen Jahren verheiratet, auch wenn er sich immer zu Männern hingezogen fühlte. Seit einiger Zeit wurde es so schlimm, dass er das Bedürfnis verspürte mit ihr darüber zu reden. Wie zu erwarten, hatte sie nicht positiv darauf reagiert. Während die anderen darüber diskutierten und ihm Mut zusprachen, dachte ich an meine eigene Situation. Sie war nicht wirklich anders. Nur hatte ich nicht den Mut gehabt, Maria davon zu erzählen. Dennoch hatten meine Gelüste letztendlich zu unserer Scheidung geführt. Ihm zu sagen, dass er das schon hinbekam, war totaler Schwachsinn. »Was willst du denn machen, wenn sie dich doch nicht verlassen sollte?«, fragte der Punk mitten in die Diskussion hinein. Er hatte nicht laut gesprochen, dennoch in einer Tonlage, die alle anderen übertönte. Sofort verstummten sie und sahen den armen Tropf an, an den die Frage gerichtet war. »Ich weiß nicht ... Ich liebe sie doch trotzdem. Ich hab es einfach nur nicht mehr ausgehalten, ihr etwas vorzumachen.« »Was ist verkehrt daran, wenn er mit ihr darüber redet?«, fragte ich, als der blauäugige Wichser schon wieder leise schnaubte. Ich konnte einfach nicht meine Klappe halten. »Besser als wenn er sie hintergeht, oder nicht?« »Hast wohl Erfahrung, was?« Der Hochmut in seinem Grinsen sprang mir regelrecht entgegen. »Nichts ist daran verkehrt, aber du glaubst doch nicht, dass es ihn davon abhält, sie jetzt trotzdem zu hintergehen. Sofern sie ihm nicht sowieso den Laufpass gibt.« Wut stieg in mir auf. Wut auf ihn, weil er mich provozierte und dabei genau ins Schwarze traf, und Wut auf mich, weil ich mich von ihm provozieren ließ. Das Grinsen wurde breiter, hatte fast schon etwas Diabolisches. Er wusste genau, was er tat! »Noch so ein Kinderficker«, knurrte er. »Mat!«, fuhr Elmer ihn an. »Wir haben darüber geredet: keine Beleidigungen.« »Jaja, schon klar«, winkte er nur ab. Nur kurz sah er dabei den Gruppenleiter an, bevor er wieder mich anstarrte. Das Grinsen hatte sich nicht verändert. Mit den Lippen formte er etwas, was ich als ›Fuck you!‹ identifizierte. »Sorry, ich wollte dich natürlich nicht beleidigen. Ist mir so rausgerutscht.« Elmers Nicken war wenig überzeugend. Hatte er die Gruppe nicht unter Kontrolle? »Eloy, magst du uns vielleicht von deinen Erfahrungen erzählen? Vielleicht hilft es Philip ja, von jemandem zu hören, der etwas Ähnliches erlebt hat?« Der Milchbubi nickte, als Elmer ihn ansah, um sich zu vergewissern, ob diesem das recht war. Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch. Ich war mir sicher, dass er das nicht wollte. Er sah beim Nicken nicht wirklich überzeugt aus. Außerdem glaubte ich nicht, dass meine Erfahrung ihn weiterbrachte. Doch dann bat er: »Ich würde es gerne hören.« Ich zögerte noch einen Moment. Auch wenn ich versuchte, es zu ignorieren, spürte ich den bohrenden Blick des Punks, der deutlich machte, dass er davon ausging, dass ich kniff. Na gut, wenn er meinte. Auf seine Verantwortung. Als würde ich kneifen! »Das ist recht schnell erledigt: Meine bald Exfrau hat mich mit einem Mann erwischt. Da gab es nicht mehr viel zu reden.« Der Punk wandte sich ab, dennoch konnte ich erkennen, dass er grinste. Wütend ballte ich die Fäuste. »Oh«, kam es vom Milchbubi. Was hatte er denn erwartet? Dass ich nach wie vor glücklich verheiratet war und meine Frau diese widerlichen Gelüste einfach hinnahm? Elmer nickte. »Hast du nie daran gedacht, mit deiner Frau darüber zu reden?« »Moment, ich dachte, wir reden über den da, nicht über mich?« Ich deutete auf das Bürschchen. Der Gruppenleiter nickte. »Ich hab schon verstanden, du möchtest nicht darüber reden. Philip, gibt es etwas, worüber du in dem Zusammenhang noch reden möchtest?« Während der Kleine sich noch weiter darüber ausließ, wie es bei ihm weitergehen sollte, hörte ich nur mit einem halben Ohr hin. Helfen konnte ich ihm sowieso nicht. Es sei denn, er wollte wissen, wie man in kürzester Zeit einen Umzug ans andere Ende des Landes organisierte. Der Zuhälter hielt sich den Rest des Abends zurück. Nur ab und zu trafen sich unsere Blicke und jedes Mal zeigte er dieses hämische Grinsen, das mich innerlich kochen ließ. Es war, als wüsste er jederzeit ganz genau, was in mir vorging und wann er mich verhöhnen konnte. Doch mir fiel auch auf, dass er das bei allen tat. Sein Blick kreuzte sich immer wieder mit dem eines Anderen und je nachdem, wen er ansah, änderte sich seine Mimik. Dabei spiegelte sich die ganze Palette an Emotionen darin wider. Für jeden hatte er etwas anderes auf Lager.   Am Ende verabschiedeten sich alle voneinander. Die einen herzlicher, die anderen weniger persönlich und eher in die Runde hinein. Soweit ich das mitbekam, gingen einige noch gemeinsam weg. Es schien, als hätten sich hier durchaus Freundschaften gebildet. Nur einer stand, wie zu erwarten, vollkommen außen vor. Es wirkte, als warte er nur darauf, gehen zu dürfen. Zumindest stand er ziemlich nah an der Tür. Doch Elmer machte ihm einen Strich durch die Rechnung. »Mat, würdest du bitte noch einen Moment bleiben? Ich muss mit dir reden.« Diesmal konnte ich mir ein diabolisches Grinsen nicht verkneifen. Das hatte er nun von seinen Provokationen. »Mit dir müsste ich auch sprechen, Eloy. Hast du noch Zeit?« Mir fiel alles aus dem Gesicht und ich konnte nur zu gut verstehen, dass nun ich es war, der hämisch belächelt wurde. Ich dachte kurz darüber nach, einfach zu gehen und nicht darauf zu hören. Ich war eh nicht sicher, ob ich wiederkam. Andererseits bot es mir eine gute Gelegenheit, etwas über den Zuhälter zu erfahren und ihn vielleicht doch noch zu überführen. Die anderen warfen uns neugierige Blicke zu, als wir uns zu Elmer gesellten und setzten. Freundlich, aber mit Nachdruck, verabschiedete sich der Gruppenleiter noch einmal von ihnen. »Mat, wie oft müssen wir das noch durchkauen? Du sollst dich etwas zurücknehmen. Niemand hier ist eine Bedrohung für dich«, erklärte er dem Punk, sobald wir nur noch zu dritt waren. Der Typ schnaubte kurz, dann lachte er. »Oh, ich bin mir sicher, das sieht der Bulle anders.« »Gut, ich habe verstanden, dass ihr ein Problem miteinander habt. Doch egal welcher Art es ist: Das hat hier in der Gruppe nichts zu suchen. Klärt das unter euch, aber zieht die Gruppe da nicht mit rein.« Ich hob die Hände. »Hatte ich nicht vor. Ich lasse mich nur ungern beleidigen.« »Du wurdest wohl noch nie richtig beleidigt. Wenn du willst, können wir das gerne nachholen!« »Schluss jetzt!« Es war witzig, wie der Kerl mit der hohen Stimme versuchte, autoritär zu klingen. Vielleicht sollte er mal einen Kurs dafür besuchen. Der Punk lehnte sich im Stuhl zurück und hielt zumindest die Klappe. Sein Blick sagte jedoch, dass er noch lange nicht fertig war. »Gut, könntet ihr dann jetzt klären, welches Problem ihr habt, damit wir das nächste Treffen ohne euren Streit fortsetzen können?« »Ich kläre gar nichts mit Kinderfickern! Wenn er ein Problem mit mir hat, kann er gerne die Gruppe verlassen.« Elmer versuchte sich erneut an einem autoritären Ton: »Das hast du nicht zu entscheiden, Mat. Ich kann auch gerne dich rausschmeißen, wenn du schon wieder Ärger machst.« »Oh, keine Sorge, ich hab auch nicht vor, mich mit einem Zuhälter auf irgendwas zu einigen.« Ich richtete den Blick direkt auf den widerlichen Scheißkerl, damit ihm klar wurde, dass ich das ernst meinte. Die Erwiderung aus den blauen Augen zeigte mir, dass er genauso wenig zurückweichen würde. Elmer räusperte sich. »Gut. Ich hatte gehofft, wir können das weniger wie im Kindergarten lösen, aber scheinbar ist das nicht möglich. Mat, du wirst Eloy als Pate zur Seite stehen. Ich bin mir sicher, ihr beiden Jungs kommt gut miteinander aus, wenn ihr euch erstmal kennengelernt und diese Kinderei beiseitegelegt habt. Und keine Widerrede! Deine einzige andere Option ist, die Gruppe zu verlassen.« Es war dem Punk anzusehen, dass er stark mit sich haderte. Meine Güte, dann sollte er eben gehen, wenn es ihm nicht passte. Ich fand es auch scheiße, aber hey, das würde ich ihm sicher nicht sagen. Wenn ich ihm damit eins auswischen konnte, dann würde ich das tun. Einen Moment lang starrte er mir direkt in die Augen, bevor er Elmer mit demselben Blick bedachte. Dann stand er ohne ein Wort auf, schnappte sich seine abgeranzte Lederjacke von Stuhl und verließ den Raum. Elmer schloss die Augen und seufzte. Nachdem er sie wieder geöffnet hatte, lächelte er mich an. »Lass dich von ihm nicht abschrecken. Im Grunde ist er ein guter Kerl. Er hat es nur nicht gerade leicht gehabt im Leben.« Ich schnaubte. Klar, nicht leichtgehabt. Das hatte er sich selbst zuzuschreiben. Soweit ich das hatte herausfinden können, war ich nicht der Erste, der ihn festgenommen hatte. Die Liste reichte bis weit in die 80er hinein. Leider war das aber auch alles, was ich rausfinden konnte. Fast alles war versiegelt oder geschwärzt. »Eloy, auch wenn das heute vielleicht nicht so gut gelaufen ist, ich bin mir sicher, die Gruppe könnte dir helfen, mit dem klarzukommen, was du gerade durchmachst. Ich würde mich wirklich freuen, dich in zwei Wochen wiederzusehen«, redete Elmer weiter auf mich ein und ignorierte meine Reaktion. Ich haderte. Ganz sicher war ich noch immer nicht. Ich wollte diesen Widerling nicht als Paten, ich wollte überhaupt keinen Paten! Andererseits eröffnete mir das vollkommen neue Möglichkeiten, die ich sonst nie hätte. Ich war hin und her gerissen. »Ich kann in zwei Wochen nicht. Danach bin ich noch nicht sicher.« »Dann komm gut nach Hause und wenn du es weißt, melde dich bitte bei mir, meine Nummer hast du ja.« Er stand auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. Nachdem wir den Raum verlassen hatten, schloss er ihn ab. Dasselbe tat er mit der Tür draußen. Wir nickten uns noch einmal zu, dann ging er auf einen Mann zu, der an der Einfahrt wartete, ich machte mich auf den Weg zu meinem Auto.   Zu Hause fiel mir ein, dass mein Handy noch aus war. Elmer hatte mich bereits bei unserem ersten Telefonat darauf hingewiesen, dass es während der Sitzung ausgeschalten sein sollte. Sofort, als es hochgefahren war, zeigte es mir eine Benachrichtigung an. Schon wieder ein Anruf von Maria? Was wollte sie denn und wie schaffte sie es, mich immer im falschen Moment anzurufen? Ich zögerte eine Weile, doch dann entschied ich mich, sie zurückzurufen. Irgendetwas musste es ja geben, auch wenn sie auf meine Nachricht bei ihrem letzten Versuch vor etwa einer Woche nicht reagiert hatte. »Eloy?«, fragte sie direkt, nachdem sie abgenommen hatte. Mir blieb einen Moment die Spucke weg. Es war komisch, ihre Stimme nach all der Zeit wiederzuhören. Ich war davon ausgegangen, dass es nie wieder der Fall sein würde. Ich wollte etwas Zynisches darauf erwidern, doch es riss mich so sehr aus den Socken, dass ich einfach nur ein »Sí« hervorbrachte. Es herrschte eine ganze Weile Stille. Das gab mir Zeit, mich wieder zu sammeln. Langsam setzte ich mich auf die Couch. »Ich hab gesehen, dass du angerufen hast.« »Nicht zum ersten Mal!« »Du wolltest nicht mehr mit mir reden und hast auf die Nachricht nicht reagiert. Was erwartest du denn?« Sie belegte mich mit etlichen Schimpfwörtern, die ich gelassen über mich ergehen ließ. Warum war im Moment jeder der Meinung, mich beleidigen zu müssen? »Maria, was wolltest du von mir? Ich hab nicht ewig Zeit. Ich muss nachher noch zum Dienst.« Es stimmte zwar nicht, aber ich hatte keine Lust, mir das den ganzen Abend anzuhören. Das war wenigstens ein Grund, über den sie nicht meckern konnte. Dachte ich zumindest. Doch sie fand direkt neuen Stoff, mich anzugehen. »Wird der denn auch bezahlt? Oder musst du wieder einem Kollegen dein Bett zeigen? Oder lässt du dir jetzt die Ehebetten deiner Kollegen zeigen?« »Maria! Was. Wolltest. Du?«, würgte ich sie ungehalten ab. Ich musste mir das nicht länger gefallen lassen. Noch einmal und ich würde auflegen. Sie stockte für einen Moment in ihrem Gemecker. Dann fuhr sie im gleichen Ton fort: »Du musst Chico abholen.« »Was?! Wie stellst du dir das vor? Ich kann hier keinen Hund halten!« War sie jetzt vollkommen übergeschnappt? »Gut, dann lass ich ihn eben einschläfern.« Ich hatte das Gefühl, gleich durch die Decke zu gehen. Das gab es doch nicht! Erst wollte sie das Vieh unbedingt haben und dann musste ich mich darum kümmern. Dennoch hatte sie es unbedingt bei sich behalten wollen, als ich nach Boston zog. Nicht, dass es mir nicht recht gewesen war – hier eine Wohnung zu finden, in der Hunde erlaubt waren, wäre noch schwerer gewesen. Und jetzt wollte sie ihn mir zuschieben? Ungehalten sprang ich vom Sofa auf. »Sag mal, hast du sie noch alle? Du wolltest ihn doch unbedingt haben. Jetzt sag nicht, dass er Arbeit macht!« »Du hast ihn doch so verzogen! Er rennt ständig weg und im Haus kann ich ihn auch nicht lassen, weil er alles kaputt macht.« Mit der freien Hand massierte ich mir die Schläfen, versuchte, meine Lautstärke etwas zu zügeln. »Und wie meinst du, soll ich ihn dann hier in der kleinen Wohnung halten?« »Das ist dein Problem. Du hättest ihn erziehen sollen.« Das gab es doch nicht! War sie jetzt vollkommen bescheuert? »Es ist auch nicht mehr mein Problem, wenn er dein Haus zerlegt!« »Ist gut, dann lass ich ihn einschläfern. Mach’s gut.« »Maria, warte!« Ich atmete ein paar Mal tief durch und zählte innerlich bis zehn. Hauptsache sie legte jetzt nicht auf. Aber ich musste mich erstmal beruhigen, bevor ich weitersprechen konnte. »Hast du schon mit Noemí und Jonathan geredet, ob sie ihn nehmen können? Sie wollten doch einen Hofhund.« Sie lachte hell auf. Früher hatte ich ihr Lachen gemocht, jetzt tat es einfach nur in den Ohren weh. »Als könnte Chico irgendwas bewachen. Der Köter kann einfach nur Ärger machen. Sie wollen ihn nicht.« »Und Lázaro oder meine Eltern?« Es konnte doch nicht sein, dass niemand ihn wollte. Er war der liebste Hund der Welt. Jeder in der Familie mochte ihn. »Lázaro hat schon drei Hunde zur Pflege und keinen Platz mehr und deine Eltern wollen ihn auch nicht. Er ist ihnen zu groß.« ¡Joder! Ich ließ meine Faust auf die Lehne des Sofas niederfahren. »Ich schaue, was sich machen lässt. Gib mir ein paar Tage.« »Dann beeil dich. Das nächste Mal, wenn er wegläuft, werde ich ihn nicht mehr suchen.« Ich knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste. Diese Frau machte mich wahnsinnig! »Gibt es sonst noch was?« »Nein. Ich wollte dich nur über Chico informieren.« »Dann noch einen schönen Abend«, knurrte ich und legte auf, bevor sie antworten konnte. Mit Wut im Bauch wählte ich Lázaros Nummer. Ich hoffte, dass er mir irgendwie weiterhelfen konnte, vielleicht jemanden kannte, der so einen jungen, aufgeweckten Hund wie Chico haben wollte. Er sollte nicht unter meinen Fehlentscheidungen leiden. Kapitel 4: Observación ---------------------- Gelangweilt sah ich durch die dreckige Scheibe auf der anderen Seite des Ganges in die Dunkelheit und ließ mich von der Bahn durchrütteln. Ich hasste Bahnfahren wie die Pest. Aber noch mehr hasste ich es, mit einem kaputten Auto durch die Gegend zu fahren, daher hatte ich meines in die Werkstatt gebracht. Irgendein Idiot hatte mir auf der Straße vor dem Haus den Spiegel abgefahren. Natürlich war der Schuldige nicht auszumachen. Dazu kam, dass ich in ein paar Tagen nach New York fahren musste, um dort Chico vom Flughafen abzuholen. Es hatte sich niemand gefunden, der ihn haben wollte, daher blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu mir zu holen. Einerseits freute ich mich auf ihn, andererseits regte es mich auf, dass sich niemand für ihn verantwortlich fühlte. Wenigstens hatte sich Lázaro bereiterklärt, Chico nach Albuquerque zu bringen, damit er mit einem Non-Stop-Flug transportiert werden konnte. Doch für die Fahrt brauchte ich erst recht ein verkehrstüchtiges Auto. Eigentlich hatte ich schon vor zwei Stationen aussteigen wollen, doch eine Gestalt ein paar Sitzreihen weiter, die vollkommen in ein Buch vertieft war, hielt mich davon ab. Immer wieder ließ ich meinen Blick dorthin wandern. Warum musste dieser Pisser ausgerechnet in derselben Bahn fahren wie ich? Andererseits hatte ich nichts Wichtiges vor und wollte mir nur ein paar Hundewiesen in der Innenstadt anschauen, um zu sehen, ob sich ein Besuch lohnte. Also eine gute Gelegenheit, herauszufinden, in welche Machenschaften der Kerl verwickelt war, ihn vielleicht sogar auf frischer Tat zu erwischen. Immerhin hatte er mich noch nicht bemerkt. Mit etwas Glück würde es auch nicht mehr dazu kommen. »Hey.« Erschrocken sah ich auf und direkt in das Gesicht eines ziemlich großen, etwas schlaksigen Mannes mit kurzen braunen Haaren. Er grinste breit und entblößte dabei ein makelloses Lächeln, das einer Zahnpastawerbung hätte entspringen können. Er sah mir einen Moment lang unangenehm intensiv in die Augen, bevor er sich am leeren Sitz neben mir in der Reihe abstützte und zu mir herunterbeugte. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Sitzreihe, in der der Punk saß. »Wenn du ihn ficken willst, wirst du ihn ansprechen müssen. Glaub mir, von allein kommt er nicht zu dir.« »Verpiss dich, du perverse Sau!«, schrie ich ihn an und erhob mich leicht von meinem Sitz. Wie kam diese Schwuchtel darauf, dass ich ausgerechnet dieses widerliche Schwein ansprechen wollte? Und dann auch noch diese Unterstellung, ich ... Wah! Er entfernte sich etwas von mir, hielt aber weiter provokant den Blickkontakt. Lediglich das Grinsen war ihm vergangen. Ich wollte mich gerade drohend weiter erheben, damit er endlich verschwand, da kam es wieder. Er zuckte gelassen mit den Schultern und provozierte mich damit noch mehr. »Dann eben nicht. Bleibt mehr für mich.« Während er sich entfernte, hob er die Hand und wackelte zum Abschied mit den Fingern. Hätte ich mich nicht so gut unter Kontrolle, wäre ich der Schwuchtel hinterher und hätte ihm eine reingehauen. Was fiel dem ein?! Er konnte doch nicht einfach irgendwelche Leute bezichtigen, so widerlich zu sein wie er. Die Schwuchtel beugte sich genauso über den freien Sitz neben dem Punk wie zuvor bei mir. Er schien etwas zu sagen, drehte sich um und suchte über die Schulter hinweg erneut meinen Blick. Dabei grinste er mich wieder so widerlich an. Einen Moment später wurde das Buch gesenkt und ein Paar eisblauer Augen funkelte mich für den Bruchteil einer Sekunde durch Brillengläser hindurch an. Der erschrockene Ausdruck darin war Gold wert, auch wenn es mir einen Strich durch die Rechnung machte. Der Braunhaarige wurde am Kragen gepackt und auf den freien Sitz gezogen. Noch einmal sah der Punk auf, versuchte, die erschrockene Miene nun durch einen bösen Blick wettzumachen. Der Braunhaarige sah noch einmal kurz zu mir. Sein Ausdruck hatte sich geändert, da war keine Provokation mehr. Ich hätte es als Hass interpretiert, war mir aber nicht ganz sicher. Irgendetwas anderes lag noch in dem Blick. Dann drehte er sich wieder zu seinem Sitznachbarn und legte ihm einen Arm um die Schulter. Dieser rutschte unruhig hin und her, blieb aber sitzen, nachdem der Braunhaarige ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Sehr interessant. Hatte ich vielleicht doch noch etwas herausgefunden? Offenbar kannten sich die beiden. Es wäre interessant zu wissen, was sie miteinander zu schaffen hatten. Jedenfalls schien der Punk über den Körperkontakt alles andere als begeistert. Ich ging alles durch, was ich über ihn wusste, was leider noch immer nicht mehr war als noch vor einer Woche. Es hatte sich nichts ergeben, was mir Einblick in die versiegelten Akten verschaffte, und ein erneutes Treffen der Gruppe hatte bisher nicht stattgefunden. Dann hatte ich einen Geistesblitz. Konnte es sein, dass er nur als Mittelsmann diente? Dass er selbst noch einen Zuhälter über sich hatte? Andererseits sprach das offensive Angebot des Braunhaarigen eher dafür, dass das Geschäft mit den jungen Strichern nur ein Zusatzverdienst für den Punk war und er selbst sich ebenfalls verkaufte. Dafür sprach auf jeden Fall, dass er Buch und Brille wegsteckte und beide Männer immer wieder zu mir herübersahen, während der Größere flüsternd auf den Punk einredete. Nach dessen Blick zu urteilen, war es nichts Angenehmes. Doch wer war so verzweifelt, sich auf diesen Widerling einzulassen? Klar, er war gepflegter als der ein oder andere Stricher, den ich in meiner Zeit als Polizist bereits gesehen hatte, aber dafür sah er vollkommen kaputt aus. Ich tippte darauf, dass er einiges an Drogen zu sich nahm. Zumindest erklärte das die eingefallenen Wangen. So ganz wollte diese Erklärung jedoch auch nicht passen. Der Braunhaarige sah einfach nicht aus wie ein Zuhälter. Seine feminine Gestik und das helle Poloshirt, das unter der roten Winterjacke zu erkennen war, sprachen definitiv für eine Schwuchtel, aber das war das Gegenteil von furchteinflößend. Frustriert sah ich wieder aus dem Fenster mir gegenüber. Im Moment konnte ich nichts tun, als sitzen zu bleiben und sie weiter zu beobachten. Ich würde versuchen, mir das Gesicht des Typen genau einzuprägen, und morgen die Datenbank durchgehen. Vielleicht kam ich so weiter. Während ich immer nervöser wurde, schien sich der Punk langsam zu entspannen. Er hatte sich mit dem Arm um seine Schulter abgefunden, sogar den Kopf gegen die Schulter des anderen gelehnt, und schien nun flüsternd eine Unterhaltung zu führen. Zumindest lachte der Andere immer wieder. An mir störten sie sich überhaupt nicht mehr. Dabei wurde es immer auffälliger, dass ich ihnen folgte. Immerhin fuhr die Bahn mittlerweile oberirdisch und wir hatten den Fluss überquert. Vermutlich würden wir bald die Stadt verlassen. Dennoch hatte ich nicht vor, vor ihnen auszusteigen. Ich wollte wissen, wohin sie fuhren! Die nächste Station ›Wellington Medford‹ wurde angesagt und sie erhoben sich gemeinsam, wobei der Braunhaarige die Hand des Punks nahm, und gingen zum Ausgang. Kurz dachte ich darüber nach, ihnen zu folgen, doch das wäre viel zu auffällig. Was sollte ich in einer Vorstadtsiedlung wollen? Also blieb ich sitzen und sah den beiden durch das schmutzige Fenster hinterher. Sobald sie ausgestiegen waren, riss der Punk seine Hand los und blickte zurück zur Bahn. Bevor sie anfuhr, richteten sich die kalten Augen auf mich und er hob die Hand. Obwohl ich es nicht mehr sah, war ich sicher, dass er den Mittelfinger ebenfalls ausgestreckt hatte. Grummelig fuhr ich eine Station weiter und stieg dort aus. Eine weitere Kleinstadt und ich hatte keine Ahnung, wo genau ich war. Vielleicht war es auch noch dieselbe. Ich rechnete mir jedoch keine Chancen aus, die Kerle erneut zu finden. Zuerst wollte ich einfach am Bahnsteig stehenbleiben und direkt mit der nächsten Bahn zurückfahren, doch dann entschied ich mich, die Gelegenheit zu nutzen, mal wieder in der Natur spazieren zu gehen. Zumindest hoffte ich, dass es nicht allzu weit war, bis sich etwas Grün fand. Sobald ich am Dienstag auf der Arbeit ankam, setzte ich mich an den Computer. Dieser Kerl musste sich doch finden lassen! Da ich nicht viele Anhaltspunkte hatte, ließ ich mir zunächst alle Personen anzeigen, bei denen Verbindungen zu Watkins bekannt waren. Wenig überraschend befanden sich darunter vor allem Jugendliche und junge Erwachsene. Sobald ich die Suche auf Personen über 30 eingrenzte, wurden nur noch fünf Personen angezeigt. Davon waren zwei verstorben, einer deutlich zu alt, die anderen beiden stimmten vom Foto her überhaupt nicht mit dem Bahnzuhälter überein. Sackgasse also. Während ich mir einen Kaffee holte, überlegte ich mir weitere Schritte. Die gesamte Datenbank war zu groß und ich konnte mit den spärlichen Informationen, die ich über diesen Kerl hatte, die Suche nicht weiter eingrenzen. Selbst wenn ich mich nur auf die vermutete Altersgruppe zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig sowie Prostitutionsdelikte beschränkte, ich würde viel zu viele Treffer erhalten, um alle durchzusehen. Außerdem musste ich davon ausgehen, dass er außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Bostoner Polizei agierte. Ohne besonderen Grund konnte ich nicht einfach alle Akten aus Medford anfordern. »Sorry.« Ich war so in Gedanken, dass ich fast Murphy umgerannt hätte, der gerade ebenfalls auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz war. »Kein Problem.« Er winkte ab und ging mir aus dem Weg. »Kommst du nach der Schicht wieder mit in den Pub?« »Ich muss erstmal sehen, wie weit ich hier komme.« Bevor ich diesen Kerl nicht gefunden hatte, würde ich das Büro nicht verlassen! »Woran arbeitest du denn?« »Ich muss noch ein paar Berichte fertig machen.« Das stimmte zumindest halbwegs, ein paar warteten tatsächlich noch darauf, endlich geschrieben zu werden. Aber das hatte Zeit. Er riss die Augen auf. »Mr. Gewissenhaft hat noch unfertige Berichte? Mensch, das muss ich mir im Kalender markieren.« »Tu das, ich arbeite in der Zeit mal weiter ...« Mit diesen Worten setzte ich mich an den PC und entsperrte meinen Account, sobald Murphy sich entfernt hatte. Mittlerweile hatte ich bemerkt, dass er gar nicht so schlechte Arbeit leistete wie zunächst vermutet, dennoch war mir seine Aktion, den Punk einfach freizulassen, zu gut in Erinnerung, als dass ich ihn in meine Ermittlungen involvieren wollte. Angespannt starrte ich auf den Bildschirm und schlürfte am Kaffee. Mir musste etwas einfallen, um den Personenkreis einzugrenzen. Mit der freien Hand griff ich nach einem Schmierblatt und notierte darauf alles, was ich über den Mann wusste. Auch wenn es nicht viel war: Irgendetwas davon musste mich zum Ziel führen! Letztendlich gab es nur eine Verbindung, von der ich mir etwas erhoffte: Jemand, der an einem Sonntagnachmittag in eine Kleinstadt fuhr, hatte dort entweder Verwandtschaft oder sein Zuhause. Es würde sicher eine ganze Weile dauern, aber vielleicht half mir eine einfache Internetrecherche weiter als jede Polizeidatenbank. So groß konnte Medford doch nicht sein. War es ... Nachdem ich alle sozialen Netzwerke und die Mitarbeiterbilder der größten Arbeitgeber durchgesehen hatte, in der Hoffnung, jemand hätte familiäre Ähnlichkeit mit dem Kerl, sah ich kurz nach. Etwas über 50 000 Einwohner. Vielleicht wäre die Suche über die Datenbank doch erfolgversprechender gewesen. Nach einer kurzen Pause setzte ich mich wieder an den Rechner. Da ich nun bereits so weit gekommen war, konnte ich auch noch kleinere Unternehmen abklappern. Ich musste mich nur entscheiden, wo ich anfangen wollte. Aus dem Gefühl heraus entschied ich mich, mich von der Station Wellington aus vorzuarbeiten. Gelangweilt und mittlerweile demotiviert klickte ich mich durch die Webseiten jedes noch so kleinen Unternehmens. Selbst wenn er nur im Hintergrund irgendeines Bildes auftauchte, es hätte mich schon weitergebracht. Als mich das Zahnpastalächeln plötzlich in voller Größe angrinste, kippte ich vor Schreck fast vom Stuhl. Es brauchte einen Moment, bis ich mich gefasst hatte. Vorsichtshalber sah ich mir das Gesicht genauer an, aber ja, das war der Kerl! Das war sein überhebliches Grinsen. Meine Hartnäckigkeit hatte sich ausgezahlt! »Roger Brooks«, murmelte ich den Namen vor mich hin, der neben dem Bild stand. Warum war ich bei diesem makellosen Lächeln nicht gleich darauf gekommen, die Seiten von Zahnarztpraxen zu durchsuchen? Nun hatte ich nicht nur einen Namen, sondern auch noch seine fast lückenlose Jobbiographie. Zahnarzthelfer also ... nicht gerade die Klientel, mit der ich normalerweise in meinem Job zutun hatte. Die Erfahrung lehrte mich jedoch, dass es in jeder Gesellschaftsschicht schwarze Schafe gab. Schnell gab ich den Namen in die Datenbank ein und wurde fündig. Es gab einen Eintrag, sogar im Bereich der Sexualdelikte! Mein Gespür hatte mich also nicht getäuscht. Zu früh gefreut. Frustriert ließ ich mich im Stuhl zurücksinken. Es war nur eine Geldstrafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Er war aufgefallen, als er Sex in einer öffentlichen Toilette hatte. Nicht gerade das, was ich suchte. Grob ging ich die Akte durch, fand jedoch nichts, was ihn mit Watkins in Verbindung brachte. Es schien sich um ein einmaliges Ereignis zu handeln. Auch der andere Mann, den man festgenommen hatte, war ansonsten unauffällig. Schon wieder eine Sackgasse? Beim zweiten Durchgang fiel mir etwas auf: Brooks war auf Kaution bis zur Verhandlung freigekommen. ›Toby Blanchett‹ klang nicht nach einem Verwandten. Ein neues Puzzleteil, das ich nur ins Gesamtbild einfügen musste. Da ich diesmal mehr Angaben hatte, konnte ich ihn schnell im System finden und auch hier gab es einen Eintrag, der jedoch weit zurücklag. Lohnte sich das überhaupt? Nach einem Blick auf die Uhr beschloss ich, dass es einen Versuch wert war. Jetzt musste ich mir nur etwas einfallen lassen, um an die Akte zu kommen. Diese lag nämlich in New York. Um sie offiziell anzufordern war die Beweislage zu dünn. Überlegend ließ ich den Blick durchs Büro streifen, bis er an Murphy hängen blieb. Verdammt! Er hatte einmal erwähnt, dass er gute Kontakte zum NYPD hatte. Warum ausgerechnet er? Letztendlich war es meine einzige Hoffnung, also schluckte ich meinen Stolz herunter und ging zu ihm hinüber. Da er nicht gerade beschäftigt aussah, sprach ich ihn direkt an: »Murphy, kannst du mir kurz helfen?« Er lehnte sich ihm Stuhl zurück und sah mich fragend an. »Wobei denn?« »Ich bräuchte in einem Fall eine Akte aus New York. Ich hab eine Spur, aber es reicht nicht, um offiziell ranzukommen. Kannst du da eventuell was machen?« »Klar. Um welchen Fall geht’s denn?« Ich knirschte mit den Zähnen. Natürlich hätte ich ihn erneut anlügen können, aber das widerstrebte mir. »Watkins«, presste ich hervor. »Hast du dir das immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen?«, brauste er auf. »Meléndez, du verrennst dich da in etwas!« »Ich kusche eben nicht, nur weil ich mich dann mit irgendeinem Anwalt anlegen müsste. Hör lieber zu.« In wenigen Sätzen schilderte ich ihm meine Begegnung am Sonntag und was ich bisher herausgefunden hatte. Er wirkte noch immer nicht überzeugt, gab dann jedoch mit einem Seufzen nach: »Gut, ich mach’s. Aber wenn da nichts rauskommt, dann widmest du dich endlich wieder deiner richtigen Arbeit!« Da ich ihm keine mündliche Zusage geben konnte, die ich eh nicht einhalten würde, nickte ich nur. Mahnend sah er mich über die Brille hinweg an, legte jedoch die Finger auf die Tastatur. »Wie hieß er jetzt noch gleich?« »Toby Blanchett. Danke, du hast was bei mir gut. Wann kann ich mit der Akte rechnen?« Murphy tippte den Namen ein und ließ sich dann die Schreibweise von mir bestätigen. »Vermutlich noch heute Abend, wenn sie die digital haben. Ansonsten ein paar Tage. Und wenn es hilft, dass du endlich damit aufhörst, tu ich doch alles.« Kumpelhaft klopfte ich ihm auf die Schulter und ging zurück an meinen Schreibtisch. Die Wartezeit konnte ich nutzen, um noch einmal das Internet nach diesem zweiten Mann zu befragen. Da ich diesmal einen Namen hatte, konnte ich ihn schnell ausfindig machen. Die Spur schien wieder heißer zu werden! Ein Fitnessstudio, das explizit damit warb, ein Schutzraum für Homosexuelle zu sein, klang sehr nach etwas, wohin auch der Punk sich verirrte. Auch wenn er nicht danach aussah. Vermutlich war das Ganze eh nur eine Tarnung. Nach der Webseite zu urteilen jedoch eine sehr gute. Auf den Bildern des Studios konnte ich den Punk nicht finden, dafür aber seinen Begleiter vom Sonntag. Das hieß zumindest, dass die Verbindung zwischen diesen beiden Personen noch aktuell war! Kurz vor Feierabend ging endlich eine Mail von Murphy bei mir ein: ›Hier die digitale Akte. Wie schon vermutet nichts Auffälliges.‹ Damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass es etwas zu finden geben musste. Auf den ersten Blick musste ich meinem Kollegen jedoch recht geben: Es war nichts Besonderes, lediglich ein Diebstahlsdelikt als Jugendlicher. Er wurde beim Klauen in einem Drugstore erwischt, das Verfahren jedoch gegen eine Jugendhilfemaßnahme eingestellt. Nichts, was nicht die meisten Jugendlichen getan hätten. Die wenigstens kamen jedoch lediglich mit ein paar Wochen in einem Sommercamp für delinquente Jugendliche davon. Das klang aus meiner Sicht schon eher nach einer Belohnung. Moment! Der Name des Camps kam mir bekannt vor. Schnell öffnete ich Watkins’ Akte und überflog sie. Ein triumphierendes Lachen entrang sich meiner Kehle, als ich es endlich fand. Der Punk war ebenfalls in dieses Camp geschickt worden; im selben Jahr! Das konnte kein Zufall sein. Murphy hatte meinen Ausbruch bemerkt und kam zu mir herüber. »Was hast du denn jetzt schon wieder?« »Da, siehst du das?« Ich deutete auf die Einträge in den beiden Akten. Er warf einen langen Blick darauf, schien zunächst zu suchen, worauf ich hinauswollte, dann zuckte er mit den Schultern. »Na und, die beiden waren im selben Sommercamp. Das kommt vor. Weißt du, wie viele Jugendliche dort jedes Jahr hinfahren?« »Aber gerade diese beiden im selben Jahr?« »Zufälle passieren. Im gleichen Jahr heißt noch lange nicht, dass sie auch gleichzeitig dort waren. Selbst für diesen unwahrscheinlichen Fall: Das ist 25 Jahre her. Meléndez, ernsthaft, du jagst nach einem Phantom und siehst bereits Gespenster.« Grummelnd schloss ich die Fenster und fuhr den Computer herunter. Ganz Unrecht hatte er nicht. Das waren schon alles etwas viele Zufälle und im Moment fehlten mir die Möglichkeiten, das näher zu überprüfen. »Ah, das heißt, du kommst mit? Sehr gut, dann beeil dich, Chang und Stevenson warten sicher schon in der Bar auf uns.« Kapitel 5: Un perro llamado Chico --------------------------------- Unruhig lief ich in der Eingangshalle auf und ab, hielt dabei das Schild hoch. Ich kam mir recht merkwürdig vor, damit durch die Gegend zu rennen. Mehr als genug Leute grinsten, als sie die Aufschrift lasen. Aber ich wollte sichergehen, dass ich gesehen wurde. Dafür stellte ich mich auch gerne mit einem Schild in den Flughafen, auf dem ›Junge‹ stand. Die Halle leerte sich bereits, als eine braunhaarige Frau mit einem Kofferkuli auf mich zukam und mich nach einem Blick auf das Schild anlächelte. Das Gepäck zeigte, dass sie diejenige war, auf die ich wartete. Unter dem großen Koffer befand sich eine Transportbox. Ich machte ein paar Schritte auf sie zu und erwiderte das Lächeln höflich. »Sie sind sicher Mrs. Segovia.« »Ja. Mr. Meléndez, nehme ich an?« Sie reichte mir die Hand, die ich sofort ergriff. »Genau. Ich danke ihnen für ihre Hilfe.« Das musste erstmal an Höflichkeiten genügen. Ich kniete mich vor die Transportbox. »Hey Buddy, na, geht es dir gut?« Chico öffnete nur leicht die Augen, wedelte aber sofort mit dem Schwanz, als er mich erkannte. Ich steckte einen Finger durch die Gitterstäbe. Seine Zunge schnellte hervor und schleckte darüber, bevor ich kurz über seine Schnauze kraulen konnte. »Hast du den Flug gut überstanden?« »Ihr Bruder hat ihm Beruhigungsmittel gegeben, damit er den Flug durchschläft. Aber er sollte bald wieder fit sein«, erklärte die Frau. Ich nickte mit einem höflichen Lächeln, während ich wieder auf die Beine kam. Das hatte ich mir schon gedacht. »Kann ich Ihnen noch mit dem Koffer helfen?« Sie errötete leicht. »Ja gern. Mein Auto steht auf dem Langzeitparkplatz. Wenn es Ihnen keine Umstände macht.« »Nein, keine Sorge. Immerhin haben Sie ja den Kleinen mitgebracht. Das waren sicher deutlich mehr Umstände.« Ich griff nach dem Transportwagen, sobald sie ihn losgelassen hatte, und folgte ihr durch den Flughafen. Ich war froh, dass ich es sich als sehr einfach herausgestellt hatte, übers Internet jemanden zu finden, der ihn mitnahm. Ansonsten hätte ich ihn persönlich abholen müssen. Aber notfalls wäre es eben nicht anders gegangen. Ich seufzte. Was tat man nicht alles für so einen Flohfänger. Aber immerhin hatte alles reibungslos geklappt. Selbst mit der Hausverwaltung war es leichter geworden als zunächst angenommen. Sie waren zwar wegen Chicos Größe etwas skeptisch, hatten sich aber schnell überzeugen lassen, dass er gut erzogen war und keinen Ärger machen würde. Auf dem Weg zu Mrs. Segovias Auto erkundigte ich mich höflich, was sie nach New York führte, wie lange sie blieb und so weiter. So viel Smalltalk war ich ihr für den Aufwand schuldig. Nachdem ich ihr geholfen hatte, den Koffer ins Auto zu hieven, bedankte ich mich noch einmal aufrichtig und wünschte ihr eine gute Fahrt. Dann rollte ich mit dem Karren durch den halben Flughafen zurück zu meinem Auto, das leider auf einem völlig anderen Parkplatz stand. Endlich angekommen, lud ich Chico samt Transportbox auf den Rücksitz. Noch immer wirkte er ziemlich weggetreten. Dennoch öffnete ich kurz die Tür und kraulte ihn hinterm Ohr. So begeistert es in seinem Zustand möglich war, leckte er mir über die Hand. Lachend versicherte ich ihm: »Ich hab dich auch vermisst.« Aus einer Wasserflasche gab ich ihm etwas zu trinken, dann musste ich ihn für einen Moment allein lassen, um den Wagen zurückzubringen. Zum Glück gab es eine Sammelstelle gleich in der Nähe. Als ich ins Auto einstieg, hörte ich Chico leise winseln, doch es verstummte sofort, als ich leise mit ihm sprach. Hoffentlich erholte er sich bald vom Flug und den Beruhigungsmitteln. Denn eigentlich mochte er Autofahrten. Sobald er fit genug war, würde ich ihn nach vorne holen, dann musste er sich hinten nicht so einsam fühlen. Tatsächlich kam er erst eine halbe Stunde vor Boston wieder richtig zu sich. Doch dann war er so aufgedreht, dass schon die kurze Runde, die ich auf einem Rastplatz mit ihm drehte, zu einem Kraftakt wurde. Obwohl er sonst auf jedes Kommando reagierte, machte er nun seiner Wiedersehensfreude ausgiebig Luft. Daher musste er doch wieder in die Transportbox. Ich konnte nicht gebrauchen, dass er auf den Beifahrersitz sprang oder, noch schlimmer, versuchte, auf meinen Schoß zu klettern. Wenn er einmal richtig aufdrehte, merkte man ihm sein junges Alter eben doch noch an.   Zuhause ließ ich ihn aus der Box und ging mit ihm in einen kleinen Park im Viertel, wo es eine Hundewiese gab. Es war zwar schon spät und vermutlich kaum noch jemand dort, aber Chico sollte sich nach dem Trip ruhig austoben. Danach würde er sicher schlafen wie ein Baby. Doch ich hatte mich getäuscht. Ein paar Hunde waren noch auf der Wiese. Sobald Chico sie entdeckte, wurde er wieder aufgeregt, dabei war ich eigentlich froh gewesen, dass sich das auf dem Weg etwas gelegt hatte. Daher beobachtete ich die anderen Hunde, bevor ich Chico auf die Wiese ließ. Ich wusste aus Erfahrung, dass er sehr grob spielte und dieses Verhalten einigen Hundebesitzern Angst machte. Zum Glück waren jedoch keine kleinen Hunde anwesend. Alle waren entweder so groß wie er oder größer. Ein junger Mann mit Nerdbrille und Lockenkopf kam auf mich zu und betrachtete Chico einen Moment. Dann lächelte er mich an. »Hallo. Entschuldigen Sie, wenn ich sie so direkt anspreche, aber ich habe Sie hier noch nie gesehen. An den süßen Racker hätte ich mich erinnert; es ist ungewöhnlich, hier Nackthunde zu sehen. Wollen Sie ihn gar nicht auf die Wiese lassen?« Ich grummelte eine Begrüßung. Mir war durchaus bewusst, dass viele Xoloitzcuintles für hässlich hielten. Trotzdem liebte ich ihn und jetzt, da er endlich in seine Haut reingewachsen war, sah er richtig majestätisch aus, während ihm die paar hellen Haare an der Stirn etwas Süßes verliehen. »Chico spielt recht wild und ich bin mir noch nicht sicher, ob es eine gute Idee ist mit so vielen fremden Hunden.« »Ah, ja, das versteh ich. Lassen Sie uns ein wenig da rübergehen, dann kann er Pepper kennenlernen. Dem macht ein wenig Raufen nichts aus.« Er pfiff und rief dann nach seinem Hund, während wir uns auf den Weg zu einer Ecke der umzäunten Wiese machten, an der gerade keine Hunde spielten. Ein braun-weißer Schlittenhund, der ein wenig größer war als Chico, kam angerannt und blieb mit treudoofem Blick vor seinem Herrchen stehen. Dann fiel sein Blick auf Chico, den ich gerade ableinte. Langsam kam er auf uns zu, als es ihm nicht verboten wurde. Chico beobachtete den Neuankömmling mindestens genauso interessiert. Sobald er sich frei bewegen konnte, ging er auf ihn zu und beide begrüßten und beschnupperten sich ausgiebig. Sobald diese Höflichkeiten erledigt waren, forderte Pepper Chico direkt zum Spielen auf. Tatsächlich schienen sich die beiden wirklich gut zu verstehen. Pepper hatte kein Problem mit Chicos ruppiger Art, im Gegenteil, er schien es zu genießen, sich ebenfalls austoben zu können. Und obwohl der fremde Hund größer und kräftiger war, interessierte Chico das herzlich wenig. Die beiden spielten gut eine halbe Stunde mit einigen kurzen Pausen, während ich mich mit dem jungen Mann über unsere Hunde unterhielt. Für eine kurze Zeit kam auch noch eine Frau mit Schäferhund dazu, dem es aber bereits nach zwei Minuten zu viel wurde.   Als die Hunde müde wurden, kamen sie zu uns zurück. Pepper, von dem ich mittlerweile wusste, dass er ein Alaskan Malamute war, schien noch etwas Energie zu haben, doch er ließ Chico in Ruhe, sobald dieser ihm signalisierte, dass er genug hatte. Es war schön, zu sehen, wie gut erzogen das Tier war. Obwohl ich mich insgeheim fragte, was der eher schlaksige Kerl eigentlich ausrichten wollte, wenn der Hund mal seinen Kopf durchsetzte. »Kommen Sie ab jetzt öfter hierher? Ich denke, Pepper würde sich wirklich freuen«, fragte der Junge, als ich meinem Hund die Leine anlegte. »Ich denke ja. Chico wohnt ja jetzt bei mir.« Ich hatte wirklich nichts dagegen, wenn Chico einen festen Spielgefährten bekam. Dann war ich wenigstens sicher, dass er ausgelastet war. »Ich kann aber keine festen Zeiten ausmachen, weil ich im Schichtdienst arbeite.« »Oh, schade. Aber wenn es bei euch aufgeht: Wir sind jeden Tag ab etwa acht hier.« »Dann sehen wir uns morgen auf jeden Fall. Ich hab mir für Chicos Eingewöhnung ein paar Tage freigenommen. Dann hält er sicher auch länger durch. Er hat heute einen langen Flug hinter sich.« Mein Gegenüber lächelte und tätschelte seinem tierischen Gefährten den Kopf. »Wir freuen uns schon.« Freundlich verabschiedete mich. Wenn die Hundebesitzer hier alle so locker waren, würde es nicht schwer werden, noch ein paar weitere Spielgefährten für Chico zu finden.   In der Nacht wachte ich von ungewohnten Geräuschen in der Wohnung auf und brauchte eine Weile, bis ich realisierte, dass Chico es sich neben dem Bett bequem gemacht hatte. Ich war es schlicht nicht mehr gewohnt, nicht allein in der Wohnung zu sein. Einen Moment sah ich ihm Halbdunkel zu ihm hinunter, dann streckte ich die Hand nach ihm aus und kraulte ihn hinter den Ohren. Bis zu diesem Moment hatte ich es gar nicht wirklich bemerkt, aber ich vermisste die Nähe eines anderen Lebewesens. Ich war in den wenigen Stunden, die Chico wieder bei mir war, besser gelaunt gewesen, als in meiner ganzen bisherigen Zeit in Boston. Kurz dachte ich darüber nach, ihn in mein Bett zu lassen, doch wenn ich das einmal zuließ, dann würde er das immer wollen. Und ich hielt nichts von Tieren im Bett. Daher beließ ich es dabei, ihn sanft zu streicheln, während er leicht über meine Hand leckte und kurz wimmerte, bevor er sich noch etwas näher zu mir bewegte. Ich bildete mir ein, dass er meine Einsamkeit spürte. Vielleicht wurde es Zeit, mir hier mehr Freunde als nur meine Arbeitskollegen zu suchen. Kapitel 6: Conflicto de vecinos ------------------------------- Ich schmiss die Tür meines Wagens zu und stolperte auf den Hauseingang zu. Der letzte Kaffee hatte keine Wirkung gezeigt und ich konnte wahrlich froh sein, heil nach Hause gekommen zu sein. So übermüdet wie ich war, hätte ich eigentlich nicht mehr fahren dürfen. Im Büro konnte ich aber auch nicht schlafen, da Chico auf mich wartete. Die Schicht war ätzend gewesen. In Mattapan hatte es eine Schießerei mit zwei Toten gegeben, was für uns alle Überstunden bedeutete. So ging es nun schon das ganze Wochenende. Ich hatte jeden Tag mindestens vierzehn Stunden gearbeitet. Dabei hätte ich eigentlich frei gehabt, musste aber für kranke Kollegen einspringen. Es war ein Wunder, dass Chico mich überhaupt noch beachtete. Ich wusste, dass ich übertrieb, aber ich war einfach nur noch müde und wollte ins Bett. Erneut würde Chico unter der Arbeit leiden, indem ich nur kurz mit ihm vor die Tür ging. Es tat mir wirklich leid, aber das war genau das, was ich bereits befürchtet hatte und weshalb ich ihn nicht zu mir holen wollte. Ich hatte in meinem Job einfach nicht genug Zeit. Mit Maria ließ sich das gut aufteilen, da sie die Spaziergänge übernahm, wenn ich nicht konnte, aber nun war ich allein dafür verantwortlich. Niemand konnte ihn füttern oder ausführen, wenn ich nicht zu Hause war. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit nahm ich den Aufzug. Schon dort merkte ich, dass mir die Augen zufielen. Gähnend ging ich auf meine Wohnungstür zu und schloss sie auf, als etwas durch mein Blickfeld flatterte. Ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es ein Zettel war, der auf meine Türmatte gesegelt war. Ich hob ihn auf und ging in den Flur, damit Chico nicht an mir vorbei in den Hausflur rannte. Ich kam gar nicht dazu, den Zettel zu lesen, denn mein Hund forderte sofort seine Portion Aufmerksamkeit. Mit den Gedanken bereits in meinem Bett streichelte ich ihn, bis er sich wieder beruhigt hatte. Danach machte ich mich mit ihm auf den Weg. Nur kurz vor die Tür und dann wieder zurück.   Als ich wieder in den Flur kam, fiel mein Blick erneut auf den Zettel. Am besten las ich ihn gleich, nicht, dass vielleicht das Wasser abgestellt wurde. Es gab nichts Unangenehmeres, als morgens ohne Wasser auskommen zu müssen. »Wenn ihr Hund noch einmal den ganzen Tag pellt, informiere ich die Hausferwaltung und den Tierschuz! Mat Watkins« [sic] Eine Weile starrte ich auf die kaum leserliche Schrift, hoffte einfach, dass ich das nur durch die Müdigkeit falsch las. Das war doch nicht möglich! Er konnte nicht ins Haus kommen! Ich musste mich verlesen haben. Dennoch lief mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Ich musste wissen, was es mit der Nachricht auf sich hatte. Ich würde einfach runter zu den Briefkästen gehen, mir die Namen der Nachbarn anschauen und dann zu dem Verantwortlichen gehen, um mich höflich zu entschuldigen. Gesagt getan. Ich stieg zurück in den Fahrstuhl und fuhr mit klopfendem Herzen nach unten. Die Nachricht hatte mich wieder wach gemacht. Und wütend! Allein die Implikation, die dahinter stand, den Tierschutz zu informieren, war unerhört. Unten angekommen, ging ich von unten angefangen alle Namen auf den Briefkästen durch. Im zweiten Stock gab es einen Walthers. War das vielleicht gemeint? Die Schrift war aber auch schlecht zu lesen. Dann fiel mein Blick auf den obersten Stock. Dort stand tatsächlich Watkins! Ich krampfte die Hand um den Zettel und stürmte die Treppe nach oben. Der würde was erleben!   Wütend schlug ich gegen die Tür. Dieser Wichser sollte endlich öffnen! Was fiel dem eigentlich ein? Es wurde Zeit, ihm mal gewaltig in den Arsch zu treten. Es dauerte etwas, bis die Tür einen Spalt geöffnet wurde und mir der Geruch von kaltem, abgestandenen Rauch entgegenschlug. Innerhalb weniger Sekunden änderte sich der Gesichtsausdruck des Punks von verwundert, über erschrocken zu wütend. Er öffnete die Tür nicht weiter, sondern blaffte mich an. »Was willst du?!« Ich stieß gegen die Tür, damit sie sich weiter öffnete. Durch den Ruck taumelte er zurück und ließ sie los. Ich trat in den Flur, drückte ihm den Zettel gegen die Brust und brüllte: »Was soll die Scheiße?!« »Du bist der Wichser, der seinen Köter den ganzen Tag allein lässt!«, schlussfolgerte er. Er entriss mir den Zettel und hielt ihn mir direkt vors Gesicht. »Das Vieh bellt seit drei Tagen jeden Tag das ganze Haus zusammen. Kümmer dir darum, sonst hol ich den Tierschutz!« Ich packte ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. »Hör mal zu, du Psycho: Wenn du ein Problem mit mir hast, dann klären wir das hier und jetzt! Aber lass es nicht an meinem Hund aus!« Er keuchte auf, als Rücken und Kopf gegen die Wand schlugen, und hustete, bevor er die Worte wiederfand. Völlig unbeeindruckt spuckte er mir entgegen: »Und ob ich ein Problem mit dir habe! Du bist ein scheiß Bulle, ein perverser Kinderficker und obendrauf auch noch ein widerlicher Tierquäler!« Der provokante Ausdruck in seinem Gesicht ließ mich völlig aus der Haut fahren. Meine Faust fuhr direkt neben seinem Kopf in die Wand. »Das perverse Schwein bist ja wohl du! Schickst kleine Kinder auf den Strich! Es wollen wohl nicht genug an dein ausgeleiertes Arschloch, damit es reicht. Da musst du auch noch Kinder ausnehmen.« Wütend er funkelte er mich an. Etwas lag in seinem Blick, das vorher nicht dortgewesen war, doch er fuhr fort wie bisher, lachte dreckig und kümmerte sich nicht um die Faust, die noch immer dicht neben seinem Ohr in der Wand steckte. »Was denn, bist du etwa wütend, weil du mich letztens nicht ficken konntest? Wie weit bist du denn noch gefahren, hm? Bist du so geil auf mich, dass du mich verfolgen musst?« Erst als meine Hand gegen sein Kinn prallte und Blut aus seiner Lippe sickerte, wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Erschrocken ließ ich ihn los und taumelte ein paar Schritte nach hinten. Er wischte mit der Hand über die Wunde und sah kurz darauf. Dann waren seine Augen wieder auf mich gerichtet. Es machte mich wütend, dass er noch immer so ruhig klang. »Verträgst du die Wahrheit nicht? Musst du deshalb deine Macht demonstrieren? Verschwinde, sonst rufe ich deine Kollegen! Dann will ich sehen, wie du ihnen das hier erklärst.« Einen Moment konnte ich nur auf das Blut starren, dass aus der Lippe sickerte, dann schüttelte ich den Schreck ab und ging rückwärts aus der Tür. Er folgte auf dem Fuß und sobald ich aus dem Türrahmen war, schlug er die Tür zu. Dabei rief er noch: »Die Reparatur der Wand bezahlst du. Und mit dem Hund lasse ich dir eine Woche Zeit, das zu regeln!« Noch völlig desorientiert stand ich vor der geschlossenen Tür. Was war da gerade passiert? Ich hatte komplett die Kontrolle verloren! Das war sonst überhaupt nicht meine Art. Ich war nicht aggressiv, ich schlug nur zu, wenn es unbedingt sein musste. Aber er ... Seine ganze Art war für mich eine einzige Provokation. Ich nahm die Treppen nach unten. Vor meiner eigenen Tür stellte ich fest, dass ich vor Aufregung vergessen hatte, sie zu schließen. Zum Glück stand Chico noch darin und sah sich neugierig um. Freundlich sprach ich mit ihm und führte ihn in die Wohnung zurück. Ich sparte mir den Abstecher ins Bad und ging direkt ins Bett. Der Rest der Welt konnte mich für heute mal kreuzweise.   Noch eine ganze Weile lag ich wach und starrte an die Decke. Wann war ich das letzte Mal so wütend geworden? Das musste irgendwann in meiner Teenagerzeit gewesen sein. Spätestens in der Army hatte ich gelernt, mich zu beherrschen. Mittlerweile war die Wut verraucht, dennoch ging mir das Ganze nicht aus dem Kopf. Es war für mich gefährlich, so die Kontrolle zu verlieren. Das gefährdete nicht nur meinen Job, sondern auch das Leben meiner Kollegen und anderer Menschen. Offenbar hatte ich mich in die ganze Sache mit dem Punk viel zu sehr hineingesteigert. Auch wenn es mir überhaupt nicht passte, ich musste mich bei ihm entschuldigen und es dann ruhen lassen. Jemand anderes würde sich darum kümmern müssen. Es war ärgerlich, aber auf diese Art kam ich nicht weiter. Ich ließ mich emotional zu sehr reinziehen. Noch schlimmer war jedoch, dass er Recht hatte: Wenn Chico tatsächlich jeden Tag bellte, dann musste ich etwas dagegen unternehmen. Unschönerweise glaubte ich ihm in der Hinsicht sogar. Er wirkte für einen Moment viel zu erschrocken, mich vor seiner Tür zu sehen, um mich absichtlich beleidigt zu haben. Erschöpft fuhr ich mir mit der Hand über Bart und Gesicht. Wie sollte ich denn verhindern, dass Chico bellte? Ich war mir sicher, dass er lediglich Aufmerksamkeit wollte, immerhin hatte er in den vier Tagen, die ich mit ihm zu Hause verbrachte hatte, nicht ein einziges Mal gebellt, selbst wenn jemand im Treppenhaus war. Doch ich konnte meinen Job nicht für ihn aufgeben. Hieß das, dass ich ihn abgeben musste? Traurig streckte ich die Hand über den Bettrand und streichelte über sein Köpfchen. Das war für mich der schlimmste Albtraum. Ich wollte ihn nicht an jemand Fremden geben. Es war egal, dass ich ihn ursprünglich nicht hatte haben wollen und ihn nur auf Marias Drängen angeschafft hatte, er war ein Teil meiner Familie. Ich musste eine Lösung finden. Es war beruhigend zu wissen, dass mir der Punk ein paar Tage Zeit gab, das zu klären. Da ich Frühschicht hatte, minimierte das hoffentlich den Ärger der Nachbarn, die ebenfalls auf Arbeit waren. Mit etwas Glück trafen wir uns morgen wieder mit Peppers Herrchen. Vielleicht hatte er eine Idee, wie sich das lösen ließ. Kapitel 7: Perdón ----------------- Chico stieg mit neugierigem Blick aus dem Auto und hielt die Nase in die Luft. Nicht nur er war gespannt, was ihn erwartete. Tatsächlich hatte ich am Vortag endlich mal wieder pünktlich Feierabend machen können und mit Hilfe von Peppers Herrchen eine mögliche Lösung gefunden: einen Hundesitter. Nun musste ich nur noch kurzfristig einen finden und mir Gedanken machen, wie ich das finanzierte. Ich hatte keine Ahnung, wie teuer so etwas war, aber wenn Chico fast den ganzen Tag betreut werden musste, war das sicher nicht ohne. Doch irgendwie würde ich das schon hinbekommen. Was mich nervös machte: Ich hatte den Punk am Vortag nicht in seiner Wohnung angetroffen. Ich hatte es mehrmals versucht, jedoch ohne Erfolg. Nun gab es zwei Möglichkeiten: Ich würde ihm gleich bei der Selbsthilfegruppe begegnen und musste das dort mit ihm klären oder ich hatte ihn doch schwerer verletzt, als es zunächst den Anschein machte. Daran wollte ich überhaupt nicht denken, daher hoffte ich einfach, dass er am Abend unterwegs gewesen war. Chico beschnupperte auf dem Weg zum Eingang jedes Auto, an dem wir vorbeikamen, ausgiebig. Ich ließ ihn machen, es kaufte mir Zeit. Ich wusste, dass das feige war, aber ich hatte einfach keine Ahnung, wie die Begegnung verlaufen würde. Und vor allem, was Elmer dazu sagen würde. Zum Glück hatte dieser nichts dagegen gehabt, als ich ihn fragte, ob ich Chico mitbringen dürfte. Die einzige Bedingung war, dass ich ihn notfalls ins Auto bringen musste, wenn ein Teilnehmer Angst hatte. Versuchen wollte ich es aber wenigstens. Immerhin hörte Chico normalerweise sehr gut und ich hatte seine Decke dabei. Wenn ich es ihm sagte, würde er sich darauf legen und die anderen in Ruhe lassen. Im Gebäude setzte er seine Erkundung fort, doch nun legte ich doch einen Schritt zu. Zu spät wollte ich auch nicht kommen. Im Idealfall konnte ich noch vor Beginn der Sitzung mit Watkins reden. Zu meinem Pech war das nicht der Fall. Es waren schon alle da und Elmer machte klar, dass er beginnen wollte. Also setzte ich mich auf den letzten freien Platz, Chico ließ ich erstmal an der Leine in die Mitte des Kreises. Einige Teilnehmer sahen ihn direkt freundlich und neugierig an. Elmer wandte sich an mich. »Magst du uns deinen Begleiter vorstellen?« »Ja klar. Das ist Chico. Er ist etwas über ein Jahr alt und daher noch sehr neugierig, aber freundlich. Wenn es für euch in Ordnung ist, würde ich ihn von der Leine lassen, damit er euch kennenlernen kann? Ansonsten setzt er sich auch in die Ecke und hört nur zu.« Es erhob niemand Widerspruch, daher machte ich die Leine los. Chico sah zu mir auf, als warte er auf eine Erlaubnis. Daher kraulte ich ihn hinterm Ohr, um zu zeigen, dass alles in Ordnung war. Sobald er verstanden hatte, dass er sich frei bewegen durfte, marschierte er zur ausgestreckten Hand eines der Teilnehmer. Nachdem er kurz geschnuppert hatte, ließ er sich kraulen. Eine Weile herrschte Stille, während Chico der Reihe nach jeden beschnupperte und sich kraulen ließ. Ein Grund, warum ich mich für einen Xolo ausgesprochen hatte, war, dass sie gute Wachhunde und misstrauisch gegenüber Fremden waren. Tja, mit Chico hatten wir da einfach ein besonderes Exemplar. Bisher war er noch auf jeden Fremden zugegangen und machte nun keine Ausnahme. Als langsam Ruhe einkehrte und jeder, der wollte, Chico gekrault hatte, ergriff Elmer wieder das Wort. »Mat, was ist denn mit dir passiert?« Bisher hatte ich vermieden, ihn anzusehen, doch nun blieb mir nichts anderes übrig. Mein Schlag hatte offenbar gesessen, denn seine Lippe war noch immer geschwollen. Von der Wunde sah man zum Glück nicht mehr viel. Gespannt hielt ich die Luft an. »Nur eine kleine Auseinandersetzung. Nichts Schlimmes.« Verwundert sah ich ihn an. Ich hatte damit gerechnet, dass er die Chance ergriff und mich bloßstellte. Doch er sah mich nicht einmal an. Stattdessen war sein Blick auf Chico gerichtet. »Bist du sicher?«, fragte Elmer noch einmal eindringlich nach. Der Punk nickte und sah ihn direkt an. »Ja klar. Du weißt doch, manchmal muss man einstecken, wenn man sich für andere einsetzt.« Überzeugt schien der Gruppenleiter nicht, ging aber auch nicht weiter darauf ein, sondern machte mit der normalen Tagesordnung weiter. »Haben sich in den letzten zwei Wochen irgendwelche Fragen ergeben, die ihr gerne in die Gruppe stellen würdet? ... Nicht? Dann würde ich vorschlagen, ihr schiebt mal die Stühle an den Rand und wir machen ein kleines Spiel. Eloy, kannst du den Hund etwas zur Seite bitten? Er kann danach weiterkuscheln.« Ich breitete Chicos Decke in einer Ecke aus, rief ihn zu mir und gab ihm dann den Befehl, sich zu setzen, während ich auf die Decke deutete. Gehorsam ließ er sich nieder, hielt aber den Blick auf die Gruppe gerichtet. Es war ihm anzusehen, dass er gern mitgespielt hätte. »Ich danke euch für euer Kommen. Das war eine wirklich arbeitsreiche und erfolgreiche Sitzung. Ich hoffe, ihr konntet alle etwas daraus mitnehmen«, beendete Elmer die Sitzung. »Vor allem, dass Eloys Hund und Mat im Partnerlook rumlaufen«, witzelte einer der Teilnehmer. Nicht einmal ich konnte mir ein Schmunzeln verkneifen. Irgendwo hatte er ja recht. Wenn man so wollte, dann sah Chicos spärliche Behaarung, die sich über seine Stirn zog, wie ein Iro aus. Auch der Punk schmunzelte und kraulte Chicos Nacken. Dieser Verräter hatte fast die gesamte Zeit mit dem Kopf auf dessen Schoß gelegen. Selbst, wenn er mal für eine Weile nicht gekrault wurde. Wenn ich es nicht unterbunden hätte, wäre er ihm sogar auf den Schoß geklettert. Nicht, dass er das nicht bei mir auch ab und zu versuchen würde, aber er wusste, dass das verboten war. Immerhin gab mir das eine gute Gelegenheit, noch einmal mit dem Punk zu reden. Ich ging zu ihm rüber, legte Chico die Leine an und fragte leise: »Können wir gleich auf dem Parkplatz reden?« »Reden? Oder mir nochmal eine reinhauen?«, fragte er leise, aber aggressiv. Ich spürte, wie mein Blut wieder anfing zu kochen. Musste das sein? Er hatte doch vorher nichts davon erwähnt, dass ich das gewesen war, warum dann jetzt? Unruhig sah ich mich um, doch niemand schien auf uns zu achten. Die kleinen Grüppchen, die sich bildeten, waren mit sich beschäftigt. »Reden.« »Dir gehört der schwarze Pick-up, richtig? Wir treffen uns gleich dort.« Er stand auf und ging auf einen der anderen Teilnehmer zu. Ich schnappte mir Chicos Sachen und begab mich direkt nach draußen. Das würde mir die Chance geben, mich wieder etwas runterzufahren, und Chico konnte noch eben seine Notdurft verrichten. So nervös wie er mittlerweile im Raum herumlief und jede Ecke inspizierte, wurde es Zeit. »Was möchtest du?« Der Punk blieb ein Stück von mir entfernt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Daran änderte auch Chico nichts, der sofort auf ihn zustürmte und auf weitere Streicheleinheiten hoffte. Ich atmete tief durch und brachte mich noch einmal zur Ruhe. Die Worte waren wie zähflüssiger Teer. »Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich hätte dich nicht schlagen dürfen.« Er nickte ruhig. »War’s das?« »Nein. Wenn es in Ordnung ist, würde ich gerne die Wand reparieren. Es wird zwar ein paar Tage dauern, aber ich denke, das bin ich dir schuldig.« Nun dauerte etwas länger, bis er reagierte. Fast hatte ich das Gefühl, dass mich sein Blick durchbohrte. »Ist gut. Sag mir nur, wann du kommst, damit ich zu Hause bin.« »Morgen Abend? So ab sechs? Ich muss noch einiges besorgen, vor allem Gipsplatten, aber das sollte ich hoffentlich schaffen.« »Die besorge ich. Schreib mir, wenn du es nicht schaffst. Ich hab keine Lust, ewig zu warten.« Ich wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass ich das schlecht konnte, als er in seiner Hosentasche wühlte, seinen Geldbeutel hervorholte und mir daraus eine Visitenkarte gab. Ich nahm sie entgegen und betrachtete sie eingehend. Sie war komplett in Schwarz gehalten, den Hintergrund zierte eine graue, gehörnte Fratze. Zunächst sprang mir der rote, mit blutstropfenversehene Schriftzug »Death Demons« am oberen Ende ins Auge. Darunter war ebenfalls in Rot zu lesen: »Mathew Watkins ›Zombie‹, Drummer«. Dann folgten Handynummer und E-Mail-Adresse. War ja klar, dass er auch offiziell keiner vernünftigen Arbeit nachging. Für einen Moment standen wir uns gegenüber. Ich war unsicher, wie ich jetzt reagieren sollte. Immerhin war das alles deutlich ruhiger abgelaufen, als ich es erwartet hatte. Ich räusperte mich und deutete auf meinen Wagen. »Bist du mit dem Auto hier? Oder soll ich dich mitnehmen?« Er schnaubte verächtlich. »Als würde ich mit dir in ein Auto steigen. Komm ja nicht auf falsche Gedanken. Ich möchte nur dieses hässliche Loch in meiner Wand loswerden. Deswegen kommst du noch lange nicht an meinen Arsch.« Das Blut rauschte in meinen Ohren. »Niemand will deinen hässlichen Arsch!« »Klar.« Er drehte sich auf der Stelle herum und ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Nachdem er ein paar Schritte gemacht hatte, hob er die Faust und streckte den Mittelfinger hervor. Kapitel 8: Conociendo al hermano -------------------------------- Natürlich schaffte ich es am nächsten Tag nicht rechtzeitig nach Hause, obwohl ich extra ein paar Stunden Puffer eingeplant hatte, damit ich mich kurz hinlegen und mit Chico raus konnte. Mir war schon klar, dass der Punk das als gefundenes Fressen sehen würde, um mich wieder zu provozieren, dennoch wollte ich mich an mein Wort halten und das schnellstmöglich hinter mich bringen. Dann könnten wir wieder als anonyme Nachbarn leben und uns nur noch zu den Gruppensitzungen sehen. Ich klopfte an und tatsächlich wurde schnell geöffnet. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass sein Gesicht immer fahl und eingefallen wirkte, doch der Anblick, der sich mir nun bot, war erschreckend. So schlimm war es bisher nie gewesen. Er musterte mich, öffnete die Tür weiter und sah dann an mir vorbei. »Wo ist der Hund?« »Unten?« Warum hätte ich Chico mitbringen sollen? »Geh ihn holen. Sonst macht er nur wieder Krach.« Ich haderte. Es gefiel mir nicht, einfach nach unten zu gehen und Chico zu holen, ohne ihm kontra zu geben. Gleichzeitig hatte ich keinen Grund, es nicht zu tun. Wir waren alle froh, wenn ich Chico so wenig wie möglich allein ließ. Daher ging ich nach unten und holte ihn. Auch wenn ich dabei grummelte. Dem Typen recht zu geben passte mir überhaupt nicht. Natürlich gefiel es Chico, auch mal das oberste Stockwerk des Hauses zu erkunden und sobald er den Punk entdeckte, steuerte er auf ihn zu. Schwanzwedelnd stellte er sich zu ihm und sah aufmerksamkeitsheischend nach oben. »Viel Spaß mit der Wand«, wünschte Watkins und forderte Chico auf, ihm zu folgen. Auch wenn dieser das nicht verstand, wusste er doch, dass er gemeint war, und sah kurz zu mir. Nachdem ich ihm nicht befahl zu bleiben, rannte er freudig hinterher. Ich sah mir das Loch, das ich geschlagen hatte, genauer an. Es war recht groß und es würde eine Weile dauern, es zu flicken. Mit etwas Glück würde man hinterher dennoch kaum etwas sehen. Dafür musste ich es aber ordentlich verspachteln und das würde mindestens zwei Arbeitsgänge in Anspruch nehmen. Vielleicht war es überflüssig, das so zu machen, und ich hätte es dem Punk überlassen sollen, aber es kratzte an meiner Ehre, das nicht wieder komplett zu beheben. Ich machte mich daran, sowohl die Wand als auch die Gipsplatte zuzuschneiden und ein Holzgerüst in der Wand zu platzieren, auf dem ich die neue Platte befestigen konnte.   Zufrieden betrachtete ich mein Werk. Das sah doch schonmal nicht schlecht aus. Wollten wir doch mal sehen, was der Bewohner der Wohnung dazu sagte. Ich ging durch die Tür am Ende des Flures und fand Watkins und Chico im Wohnzimmer auf der Couch. Sofort befahl ich Chico, herunterzugehen. Der Punk legte sein Buch zur Seite und funkelte mich böse an. »Lass den Hund doch auf der Couch sitzen. Bist du überhaupt fertig?« »Er hat nichts auf der Couch zu suchen. Und ja, für heute bin ich fertig. Wenn der Gips trocken ist, muss ich ihn noch mal abschleifen und begradigen. Sobald das trocken und nochmal abgeschliffen ist, kann ich streichen.« »Das hier ist aber meine Wohnung. Wenn ich sage, er darf auf die Couch, dann darf er das auch.« Er erhob sich, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, nahm die Brille von der Nase und kam zu mir in den Flur. »Aber es ist mein Hund. Ich möchte nicht, dass er sich angewöhnt, auf der Couch zu liegen!« »Nicht mehr lange, wenn du so weitermachst und ihn ständig allein lässt.« Er quetschte sich an mir vorbei in den Flur und betrachtete die Wand. »Ja, sieht gut aus. Das kannst du so lassen. Den Rest mach ich allein.« »Vergiss es! Ich hab es kaputt gemacht, ich mach das auch fertig.« Er drehte sich herum und sah mir einen Moment direkt in die Augen. Dann nickte er langsam. »Wann?« Es irritierte mich etwas, dass er nicht widersprach, aber dann beschloss ich, das einfach so hinzunehmen. Ich musste keinen neuen Streit provozieren. »Ich hab morgen frei, ich denke, wenn ich morgen früh vorbeikomme, kann ich abends fertig sein.« »Dann bis morgen früh, ich bin den ganzen Tag da. Lass die Sachen ruhig hier. Und vergiss nicht, Chico mitzubringen.« Kurz fragte ich mich, ob er donnerstags nicht arbeiten müsste, dann erinnerte ich mich, dass er ja keiner vernünftigen Arbeit nachging.   Am nächsten Tag stand ich um zehn vor Watkins’ Tür und klopfte. Mit Chico hatte ich bereits eine große Runde gedreht und ihm war anzusehen, dass er vollkommen erschöpft war. Mir ging es nicht anders. Das war mein erster freier Tag nach sechs Tagen, in denen ich fast jeden Tag Überstunden geschoben hatte. Hätte es zumindest sein sollen. Erneut würde ich am Nachmittag eine halbe Schicht für einen erkrankten Kollegen übernehmen müssen. Mir gefiel das überhaupt nicht. Zum Einen, weil ich Chico erneut allein lassen musste, zum Anderen, weil es meine Arbeit in der Wohnung des Punks weiter verzögerte. Nach dem zweiten Klopfen öffnete er endlich. Das Erste, was mir auffiel, war, dass er noch schlechter aussah als am Vortag. Zur Begrüßung hustete er mir auch direkt entgegen. »Soll ich einen anderen Tag weitermachen?« Wenn ich jetzt auch noch krank wurde, brach in der Wache das komplette Chaos aus. »Nein, komm rein. Ich will das fertig haben.« Er trat zur Seite, damit wir eintreten konnten. Entschuldigend sah ich ihn an. »Die Arbeit hat vorhin angerufen, ich muss um zwölf zur Tagschicht. Ich werd es heute nicht schaffen.« Er hustete, drehte sich dabei aber weg. »Dann mach morgen den Rest. Komm Chico.« Diesmal versicherte sich der Hund nicht einmal mehr, ob es in Ordnung war, und folgte dem Punk sofort. Mir passte es nicht, dass er einfach über meinen zweiten freien Tag bestimmte. Dennoch hatte ich keine Lust, mit ihm zu diskutieren. Er sollte nur schnell aus dem Flur verschwinden, bevor ich mich ansteckte. Während ich arbeitete, hörte ich ihn im Wohnzimmer immer wieder husten, doch ich sagte mir, dass er mit seinem Zigarettenkonsum selbst schuld war. Es war nichts Ungewöhnliches, dass er hustete, das hatte er auch bei der Gruppe getan. So schlimm hatte ich es jedoch noch nicht erlebt, weshalb alle Selbstberuhigung nicht half: Ich machte mir Gedanken, ob es ihm wirklich gut ging.   »¡Chico, ven!«, rief ich ins Wohnzimmer, doch er hörte nicht. Erneut rief ich seinen Namen, doch noch immer reagierte er nicht. Genervt stampfte ich ins Zimmer. Ich hatte keine Zeit. Ich musste noch einmal mit ihm raus und dann los. Gemeinsam mit dem schlafenden Punk lag er auf der Couch, horchte auf, als ich ins Zimmer kam, und zog schuldbewusst den Kopf ein. Erneut mahnte ich ihn, zu mir zu kommen, und diesmal stand er endlich auf. Das weckte Watkins natürlich. Er hob den Kopf und sah mich aus verschlafenen Augen an. »Fertig?« »Ja. Morgen um dieselbe Zeit?« Er nickte, drehte sich herum. Mit der Hand tastete er auf der Couch herum und warf sich dann doch wieder auf die andere Seite. »Lass Chico hier.« »Was?!« Warum sollte ich den Hund bei ihm lassen? Stöhnend richtete er sich auf. Es war offensichtlich, dass er etwas sagen wollte, doch stattdessen schüttelte ihn ein heftiger Husten durch. Leicht nervös wartete ich, bis er wieder reden konnte. »Ich will schlafen. Und wenn er allein ist, bellt er rum.« »Er muss raus«, beharrte ich. Ich ließ doch meinen Hund nicht bei ihm! »Dann bring ihn danach wieder.« Erneut wurde er von einem Husten geschüttelt. »Du kannst ihn nachher ja holen. Schlüssel liegt im Flur. Aber ich brauche meine Ruhe und die hab ich nicht, wenn das Vieh die ganze Zeit bellt.« Ich haderte. Das gefiel mir nicht. Ich wollte nicht, dass Chico bei ihm blieb. Andererseits hatte er recht, Chico würde vermutlich keine Ruhe geben. Heute Morgen hatte mich noch ein anderer Nachbar darauf angesprochen, dass Chico so viel bellte. Widerwillig gab ich daher nach. »Danke.« »Ich mache das nicht für dich, sondern für den Hund und mich.« »Ja, schon klar. Dennoch hilfst du auch mir damit. Darum: Danke.« Ich wurde das Gefühl nicht los, dass es nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber er hatte schon recht, es half vor allem Chico.   Genervt klopfte ich noch ein viertes Mal gegen die Tür. War das sein Ernst? Erst drängelte er, dass ich die Wand fertig reparierte, und dann machte er nicht auf! Ich würde jetzt das letzte Mal klingeln und wenn er dann nicht öffnete, konnte er das vergessen. Ich würde nicht meinen gesamten freien Tag damit verbringen, vor seiner Tür zu stehen! Drinnen hörte ich Geräusche. Okay, das war’s! Wenn er meinte, sich einen Spaß daraus machen zu können, mich hier stehen zu lassen, dann war ich weg. »Hey, du Penner! Entweder du machst jetzt die Tür auf oder du kannst deine scheiß Wand allein reparieren!« Erneut kamen Geräusche von drinnen, doch diesmal lauter. Aus Erfahrung konnte ich sagen, dass sie näherkamen, daher wartete ich. Die Tür wurde aufgerissen und ein mir unbekannter Typ stand darin. Feindselig starrte er mich an und ballte die Fäuste. Obwohl er einen Schritt auf mich zumachte, wirkte er nicht im Geringsten einschüchternd. Da half es ihm auch nichts, dass er ein kleines Stück größer war. Er war nur ein schmächtiges Bürschchen. Daran änderten auch die Piercings und Tattoos nichts. Neben mir hörte ich Chico zum allerersten Mal überhaupt aggressiv knurren. Schützend stellte er sich neben mich. Da ich nicht einschätzen konnte, wie er weiter reagierte, hielt ich ihn am Halsband fest. Der Typ wirkte etwas eingeschüchtert, jedoch unvermindert angriffslustig. Wenigstens kam er nicht mehr näher. Als er die Hand ausstreckte, bellte Chico. »Du Wichser hast meinen Bruder geschlagen! Niemand schlägt Mat ungestraft!« Aus dem Inneren der Wohnung war ein Husten zu hören, wenig später erschien der Punk im Flur. Er hatte eine Decke um den Körper geschlungen und sah noch miserabler aus als an den Tagen zuvor. »Peter, lass ihn in Ruhe!« Der Kerl in der Tür drehte sich zu Watkins. »Der Typ hat dich geschlagen!« »Nachdem ich ihn provoziert habe.« Erneut hustete der Punk und zückte ein Taschentuch. Dann drückte er den anderen weg. »Hi. Tut mir leid, wir müssen das verschieben. Ich hab mir eine Lungenentzündung eingefangen und brauch Ruhe.« »Kann ich dir helfen?«, fragte ich. Sofort biss ich mir auf die Zunge. Das hatte ich jetzt nicht ernsthaft gefragt! Auch er schien wahrlich überrascht, der Blick seines Bruders blieb unverändert hasserfüllt. Er brauchte etwas, bis er antwortete: »Peter muss einkaufen. Können du und Chico solange hierbleiben?« Nun veränderte sich der Ausdruck in den Augen des Bruders doch. Ich musste ähnlich verwundert schauen wie er. Der Punk erklärte unbeeindruckt weiter: »Es muss jemand für den Notfall hier sein.« Die beiden Brüder sahen sich einen Moment lang eindringlich an. Bis auf die ausdrucksstarken Augen und den verwahrlosten Kleidungsstil wiesen sie kaum Ähnlichkeiten auf. Irgendwann nickte der etwas Größere. Bitter sah er mich an und griff nach seiner Jacke. »Dann wünsche ich euch viel Spaß.« Der Punk hustete, konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Während sich sein Bruder an mir vorbei durch die Türe drückte, ging ich hinein und hielt ihn fest. Krampfend lehnte er sich an mich. Undeutlich brachte er hervor: »Ins Bett.« Ich rief Chico zu mir, packte den Kranken fester und ging mit ihm durch das Wohnzimmer in sein Schlafzimmer. Vor Schreck wäre ich fast rückwärts wieder hinausgestolpert. Es war so komplett anders, als ich es bei der Schlichtheit seiner sonstigen Wohnung erwartet hätte. Nicht nur, dass zwei Wände komplett mit Bücherregalen zugestellt waren, an der Wand über dem Bett hing ein stilvolles Kunstwerk. Auch die Regale waren zwischen den Büchern liebevoll dekoriert. Der Punk ließ sich aufs Bett fallen und richtete seinen Blick ernst auf mich. »Halt die Fresse! Wehe, du sagst jemandem was davon.« Ich unterließ jeden hämischen Kommentar. Ich hatte keinen Grund, jetzt noch draufzuhauen. Vielleicht ein anderes Mal. Insgeheim musste ich ja zugeben, dass es mir gefiel. Er zog die Decke bis zur Brust hoch und wühlte dann darunter herum, bis er die Jogginghose, die er vorher noch anhatte, darunter hervorzog und das Shirt abstreifte. Obwohl er sich alle Mühe gab, die Decke nur so weit wie nötig anzuheben, erhaschte ich doch einen kurzen, ungewollten Blick darunter, der mir die Kehle zuschnürte. Unter der Decke war er komplett nackt! Ich war froh, dass man nicht sah, dass mir das Blut in die Wangen schoss. »Kannst du mir ein Glas Wasser holen?«, fragte er. Sein Blick verunsicherte mich. Er hatte etwas Wissendes. Er konnte nicht bemerkt haben, dass ich es gesehen habe! Ich stand auf und holte das Gewünschte. Chico blieb im Schlafzimmer und ließ sich kraulen. Ich hoffte, dass er nicht auf die Idee kam, sich ins Bett zu legen. Andererseits hätte es mich nicht gewundert, immerhin hatte er am Vortag auch auf der Couch geschlafen, als ich ihn am Abend abgeholt hatte. »Wie lange wird dein Bruder brauchen?«, fragte ich, als ich dem Punk das Glas reichte. »Vielleicht ’ne Stunde.« Bitte was? So lange sollte ich dortbleiben? Wozu? Er war ein erwachsener Mann! »Wenn du magst ... nimm dir ein Buch und setz dich ins Wohnzimmer. ... Ich werd vermutlich gleich wieder einschlafen. Aber lass die Tür offen, ... falls etwas ist.« Och, sicher, ich würde gut lesen können, wenn er nicht einmal schaffte, das zu sagen, ohne dreimal vom Husten unterbrochen zu werden. Warum nochmal hatte ich das überhaupt angeboten? War ich eigentlich noch ganz bei Trost? Das war ein Zuhälter und er provozierte mich bei jeder Gelegenheit, aber ich bot an, ihm zu helfen? Unbewusst knirschte ich mit den Zähnen. Ich konnte nicht anders, wenn es jemandem so offensichtlich schlecht ging wie ihm. »Keine Sorge, ich nehm dir dafür die nächsten Tage den Hund ab, wenn du arbeitest, damit ich in Ruhe auskurieren kann. Ich mach ganz sicher keine Schulden bei ’nem Bullen.« Dieser Mann verwirrte mich. Woher wusste er so genau, woran ich dachte? Er griff nach einer Tablettenbox auf dem Nachttisch und schüttete sich den Inhalt eines Fachs in die Hand. Schnell spülte er alles mit dem Wasser herunter. So voll wie die Box war, konnte ich mir kaum vorstellen, dass das alles nur für die Lungenentzündung war. Fein säuberlich waren in jeweils fünf Fächer pro Tag Tabletten einsortiert. »Ich denke, es muss die ganze Zeit jemand bei dir sein? Willst du nicht vorher deinen Bruder fragen, ob das für ihn überhaupt in Ordnung ist?« Der Punk hustete erneut in ein Taschentuch, bevor er antwortete: »Ist ja nicht so, als würde der Hund viel Arbeit machen oder als hätte Peter etwas zu tun, während er hier ist. Er muss ja nur den Notarzt rufen, falls ich aufhöre zu atmen.« »Und du erwartest, dass ich das tun würde?«, fragte ich überrascht. Ich hätte ihm in der Hinsicht ganz sicher nicht vertraut. Er grinste und kurz zeigte sich der Schalk in seinen müden, durch die Krankheit getrübten Augen. »Ich weiß, dass du niemandem einfach beim Sterben zusehen oder -hören würdest. Nicht einmal mir.« »Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher«, drohte ich grollend. Er wollte mit den Schultern zucken, wurde jedoch von einem Hustenkrampf unterbrochen. Kapitel 9: Acusación -------------------- »So, es ist vollbracht!«, rief ich freudig aus. Sofort hörte ich den Punk im Wohnzimmer von der Couch aufstehen. Durch die Anstrengung hustete er wieder. Fast zwei Wochen hatte ich warten müssen, bis ich die Wand endlich fertig machen konnte. Eine Woche hatte es gedauert, bis er wieder gesund war, die zweite, bis ich Zeit fand. Wir waren uns einig, dass es während meiner Nachtschicht nicht sinnvoll wäre. Freundlicherweise hatte er die gesamte Zeit auf Chico geachtet. Sein Bruder war anfangs nicht so begeistert gewesen, hatte sich aber recht schnell damit abgefunden. Bedingung war lediglich, dass er nicht mit Chico rausgehen musste. Dass Chico auch nach der Krankheit beim Punk bleiben sollte, während ich arbeitete, hatte mich zwar verwundert, aber widersprechen wollte ich auch nicht. Ich fand partout keinen Hundesitter, der so flexibel war. Vermutlich mochte er meinen Hund mehr, als er zugeben wollte. Jedenfalls glaubte ich nicht daran, dass ›sicherstellen, dass die Wand wirklich fertig wurde‹, der wahre Grund für diese Gutmütigkeit war. Prüfend strich er über die Wand, suchte Unebenheiten. Da würde er lange suchen müssen. Es gab keine. »Das ist echt gut!« »Ich hab doch gesagt, dass man hinterher nichts mehr davon sieht.« Mir war die ganze Sache noch immer peinlich. Ich hätte mich nie so gehen lassen dürfen! Da wollte ich wenigstens etwas Stolz bewahren. »Du hast wohl wirklich ein Händchen fürs Heimwerken ... Kannst du auch Abflusshäcksler reparieren?« »Ja, klar. Ich stecke meine Hand ganz sicher nicht in deinen Abflusshäcksler!« Ich war doch nicht lebensmüde! Dass wir uns in den letzten zwei Wochen kaum angegiftet hatten, hieß nicht, dass wir uns gut verstanden. »Richtig, sobald du mit der Hand richtig tief drinsteckst, schalt ich das Ding an.« Es wäre sicher bedrohlich gewesen, hätte er nicht gehustet. Er verdrehte die Augen und lachte leicht. »Wenn ich dir die Hand abschreddere, ist der Häcksler immer noch kaputt.« Leider musste ich doch zumindest etwas grinsen. »Trotzdem solltest du dir eher einen Klempner holen oder jemanden, der sich wirklich damit auskennt.« Überraschend kam er einen Schritt näher und raunte mir ins Ohr: »Ich will aber deine Hand.« Irritiert trat ich einen Schritt zurück. Das klang ziemlich psychopathisch! Zumal sich seine Augen in meine brannten. Doch schnell änderte sich der Ausdruck wieder und er trat zurück. Nachdem er den Husten niedergerungen hatte, erklärte er: »Ich kenne keinen günstigen Klempner und scheinbar kannst du sowas gut. Also, soll ich noch eine Woche auf Chico aufpassen oder hast du endlich jemanden gefunden, der das macht?« »Okay, okay, ich mach’s. Aber ich muss morgens um fünf auf der Arbeit sein. Soll ich ihn dir am Abend schon hochbringen?« »Gib mir deinen Schlüssel, dann hol ich ihn, sobald ich wach bin.« Fordernd streckte er die Hand aus. »Willst du mich verarschen?! Ich geb dir doch nicht meinen Schlüssel!« Erneut kam er drohend auf mich zu. »Du hattest meinen Schlüssel zwei Wochen lang. Gib mir das verdammte Ding, damit ich auf deinen Hund aufpassen kann. Ansonsten muss ich den Tierschutz rufen.« Ich sah ihm geradewegs in die aufblitzenden Augen. »Dir macht es Spaß, mich so zu quälen, oder?« Er grinste hämisch. »Gut erkannt.« Am liebsten hätte ich ihm das Grinsen aus dem Gesicht geklatscht, doch ich riss mich zusammen. Ob ich es wollte oder nicht: Ich war auf ihn angewiesen. Abweisend murrte ich: »Komm gleich mit runter, dann geb ich ihn dir.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Du schließt ab, wenn du hier hochkommst?« »Ja, damit solche kleinen Wichser wie du nicht in meine Wohnung kommen.« Er drängte sich so dicht an mir vorbei, dass er mich mit der Schulter streifte. »Pech, jetzt hast du trotzdem ’nen kleinen Wichser, der in deine Wohnung kommt.« Auffordernd hielt er die Tür auf. Nachdem ich Chico gerufen hatte, gingen wir gemeinsam nach unten, damit ich dem Punk den Schlüssel geben konnte. Wie ich es schon fast erwartet hatte, schob er sich hinter mir zur Tür herein und sah sich neugierig um. »Hier!« Ich drückte ihm den Zweitschlüssel in die Hand und wies dann unmissverständlich auf die Tür. Er schürte wie immer meinen Unmut, indem er nicht im Geringsten darauf reagierte. Unbeirrt sah er sich um und fragte: »Wo hast du die Leine?« »Was willst du mit der Leine?« »Dich daran festbinden und in meine Wohnung schleifen.« So, wie er das sagte, war ich fast versucht, es zu glauben. Er schien das zu merken und verdrehte die Augen. »Natürlich mit dem Köter rausgehen. Oder meinst du, ich will den ganzen Tag mit ihm rumsitzen? Ich muss nach den Kids sehen.« »Vergiss es! Du zockst die Kinder nicht ab, während du meinen Hund dabei hast!« »Aber wenn ich ihn nicht dabei hab, dann darf ich, ja?« Gehässig sah er mich an, während ich mit den Worten rang. Wie schaffte dieser Wichser es nur, mich ständig wie einen Trottel dastehen zu lassen? Geduldig wartete er, wobei sein Grinsen immer breiter wurde. »Nein, natürlich nicht! Lass die Kinder in Ruhe!«, brachte ich irgendwann heraus, nachdem ich mich wieder gefasst hatte. Er lachte amüsiert. »Gut, hatte ich nämlich auch nicht vor.« »Ja klar. Ich weiß, dass du ein scheiß Zuhälter bist!« Drohend machte ich einen Ausfallschritt auf ihn zu und streckte die Faust in seine Richtung. Zufrieden sah ich, dass es nun an ihm war, zu stocken. »Wer hat dir diesen Scheiß eigentlich eingeredet?« »Ich erkenne Stricher, wenn ich einen sehe.« »Ja, natürlich, du als Kinderficker musst ja wissen, wen du ficken kannst!« Feindselig funkelte er mich an und kam auf mich zu. Aggressiv schubste ich ihn von mir fort. »Ich bin Polizist!« Ich erschrak, als er plötzlich lauthals zu lachen begann. »Sicher, ihr beschissenen Bullen würdet euch niemals an einem der Kids vergreifen. Das ich nicht lache! Ihr seid doch die Schlimmsten von allen! Alle anderen bezahlen sie wenigstens. Aber ihr nehmt sie mit und erpresst sie dann!« »Wer?!« Mit offenem Mund starrte er mich an, blinzelte ein paar Mal. »Was?« »Wer das tut, will ich wissen!« »Du ... Du glaubst mir?« Noch immer stand ihm der Mund einen Spalt offen, die Augen waren geweitet. Ich konnte es selbst kaum fassen, aber seine Reaktionen machten auf mich den Eindruck, als spräche er tatsächlich die Wahrheit. »Wenn du meinen Kollegen so etwas unterstellst, will ich wenigstens wissen, wem.« Er verschränkte die Arme wieder vor der Brust. »Du glaubst mir also nicht.« Unsicher zuckte ich mit den Schultern. »Ohne einen Namen oder Beweise ist es egal, ob ich dir glaube.« Verächtlich schnaubte er. »War ja klar. Was hab ich mir eigentlich dabei gedacht? Du bist genau wie alle anderen!« Ich konnte noch nicht einmal reagieren, da war er bereits im Hausflur und schmiss die Tür lautstark hinter sich zu. Erst verwirrt, dann wütend sah ich ihm hinterher. Was wollte dieses Arschloch eigentlich? Erst stellte er mich und alle meine Kollegen unter Generalverdacht und dann sollte ich ihm ohne den geringsten Beweis glauben? Hielt er mich für vollkommen bescheuert? Wütend ging ich ins Wohnzimmer und knallte auch dort die Tür zu. Ich wollte so viel Raum zwischen uns bringen wie möglich. Kapitel 10: Hoy por ti, mañana por mí ------------------------------------- »Hey, komm mit rüber«, forderte der Punk mich auf, als er in die Küche kam und in der Besteckschublade wühlte. »Du bist schon den ganzen Tag mit diesem Teil beschäftigt und hast noch nichts gegessen.« Ich schreckte auf und stieß mir dabei den Kopf. Ächzend kam ich unter der Spüle hervor. »Ich bin gleich fertig, dann mach ich mir was.« Er verdrehte die Augen. »Na los, hab dich nicht so. Allein ess ich daran die nächsten drei Tage.« »Ja, gleich, ich muss das Rotorblatt nur wieder anbringen und alles zumachen, dann bin ich fertig.« Mit diesen Worten rutschte ich zurück unter die Spüle. Er antwortete nichts, aber ich konnte hören, dass er die Küche verließ und im Wohnzimmer mit Chico sprach. Ich hatte nach unserem Streit am letzten Mittwoch eigentlich damit gerechnet, dass wir uns überhaupt nicht mehr sehen würden, doch dann war Chico am nächsten Tag nicht in meiner Wohnung gewesen, als ich nach Hause kam, und ich hatte ihn bei Watkins gefunden. Recht verwundert hatte er reagiert, als ich ihn deshalb zur Sau machte, und mir erklärt, dass Chico nichts mit unserem Streit zu tun hätte. Er könnte nichts dafür und sollte daher auch nicht allein bleiben. Nach zwei Tagen hatte ich mich dann auch dazu entschlossen, mich zu revanchieren, und meinen freien Montag zugesagt, um mich um den Abflusshäcksler zu kümmern. Dass er mich nun zum Essen einlud, kam daher reichlich überraschend, aber nicht ungelegen. Die Woche war zwar etwas ruhiger verlaufen als die letzten, dennoch hatte ich die Nachmittage häufig mit Faulenzen verbracht und nur immer tageweise eingekauft. Für den heutigen Tag hatte ich daher nichts daheim. Ich zog die letzten Schrauben fest, kam diesmal ohne Unfall hervor und schmiss das Handtuch, was ich untergelegt hatte, neben die Spüle. Bevor ich erklärte, dass alles wieder funktionierte, wollte ich es selbst ausprobieren. Daher drehte ich die Sicherung wieder rein und schaltete das Mordsteil an. Es schnurrte wie ein Kätzchen. »So, der Häcksler funktioniert wieder und die Schneiden sind geschärft«, verkündete ich, als ich ins Wohnzimmer trat und mich in den Sessel setzte. Wie immer lag Chico neben dem Punk auf der Couch. Mittlerweile sagte ich nichts mehr dazu. Er schien verstanden zu haben, dass er das bei mir dennoch nicht durfte. »Wenn du das nächste Mal Sellerie reinschmeißt, solltest du ihn vorher schon etwas zerkleinern.« »Aye, Sir«, antwortete er wenig ernst und schob mir Teller, Besteck und die Schachteln eines asiatischen Lieferdienstes zu, aus denen er sich zuvor bedient hatte. Als er mich einlud, hatte ich befürchtet, erneut Schulden bei ihm zu machen, weil er mir etwas mitgebracht hatte, doch erstaunlicherweise handelte es sich um eine ganz normale Portion. Daher fragte ich nach: »Sicher?« Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und nickte. »Sicher. Mir ist das zu viel. Wegen der Medikamente hab ich kaum Hunger. Das würde vermutlich eh im Müll landen.« »Danke.« Abwehrend nickte er und begann zu essen. Ich tat mir die Reste auf, die noch locker reichten. Chico sah kurz auf, doch ein böser Blick von mir reichte, um ihm vom Betteln abzuhalten. Mit knurrendem Magen machte ich mich ebenfalls über das Essen her. Wie schon so oft zuvor fragte ich mich, woran der Punk litt. So wie er aussah, musste es etwas Ernstes sein, denn noch immer sah man ihm die Folgen der Lungenentzündung an. Außerdem hustete er noch immer ab und zu. Wobei das auch mit seinem Zigarettenkonsum zusammenhängen konnte. Selten sah ich ihn ohne. Da mir das Schweigen zwischen uns langsam unangenehm wurde, dachte ich darüber nach, ihn nach seiner Krankheit zu fragen, entschied dann aber, dass es mich nichts anging. Wenn er wollte, dass ich etwas darüber erfuhr, würde er mir das selbst sagen. Alles andere passte nicht zu ihm. Doch auch das andere Thema, auf das ich ihn gerne angesprochen hätte, musste ich vorerst zurückstellen. Seine Aussage, bezüglich meiner Kollegen, war mir nicht aus dem Kopf gegangen. Wir beide mochten unsere Differenzen haben, dennoch konnte ich mir nicht vorstellen, dass er grundlos log. Nicht, nachdem er trotz allem auf Chico aufpasste. Er schien ein Mann zu sein, der sein Wort hielt. Daher hatte ich am Vortag einen Blick in die Datenbank geworfen und dort einiges Interessantes gefunden. Am meisten beschäftigten mich jedoch eine Reihe komplett unbearbeiteter Anzeigen gegen einen gewissen Sergeant Simon Klein, der mittlerweile pensioniert war. Das Besondere dabei: Sie reichten fast dreißig Jahre zurück und waren bis auf ein paar Ausnahmen alle von Watkins gestellt worden. Ich hatte nicht vorgehabt, weiter in sein Leben einzudringen, doch die Anzeigen hatten mir einiges verraten. Die älteste Anzeige war Ende 1987 von einem gewissen Chris Allen gestellt worden. Als Opfer waren Watkins und ein Peter Grimes angegeben, von dem ich glaubte, dass es der Peter war, den ich vor ein paar Wochen in der Wohnung des Punks angetroffen hatte. Besonders hatte mich dabei erschrocken, dass beide zum angegebenen Tatzeitpunkt noch nicht einmal vierzehn gewesen waren. Der Sergeant soll die beiden festgenommen, auf dem Revier verhört und im Rahmen dessen, im Gegenzug für ihre Freilassung, sexuelle Gefälligkeiten erpresst haben. Und das Ganze nicht nur einmal, sondern um einiges häufiger. Alle anderen Anzeigen, die Watkins im Laufe der Jahre im Namen verschiedener Jugendlicher gegen Klein und andere Kollegen gestellt hatte, lasen sich ähnlich. Doch bevor ich ihn darauf ansprach, wollte ich noch weiter ermitteln, was es mit diesen Anschuldigungen auf sich hatte. Ich wollte in den nächsten Tagen überprüfen, ob es die besagten Festnahmen tatsächlich gegeben hatte.   Als Chico sich entschied, doch mal zu testen, ob er beim Punk etwas zu Essen schnorren konnte und mit scharfem Ton zurückgewiesen wurde, kam mir doch noch ein Thema in den Sinn, das ich anschneiden konnte. Wenn auch äußerst ungern. »Hast du vielleicht noch etwas, was repariert werden muss? Die Dusche, ein Schrank oder dein Fahrrad?« »Seh ich aus, als würde ich Fahrrad fahren?« Lachend deutete er auf den vollen Aschenbecher. »Soweit ich weiß, hab ich nichts mehr. Warum?« Ich sah zu Chico, der das als Aufforderung sah, zu mir zu kommen. Mit der Schnauze stupste er mich am Ellenbogen an, doch ich schob ihn weg. Ich war noch am Essen. »Ich hab noch immer niemanden gefunden, der sich um Chico kümmert. Mir wird ständig nur gesagt, dass ich ihn abgeben soll, wenn er so lange allein ist. Kein Hundesitter würde ihn so lange nehmen.« »Vielleicht solltest du dann auf sie hören?« Der Punk sah vom Essen auf und musterte mich mit seinen eindringlichen Augen. »Ich weiß, dass es vielleicht selbstsüchtig ist, aber ich will ihn nicht abgeben. Er ist ein Freund. Ich brauche nur jemanden, der sich um ihn kümmert, während ich auf Arbeit bin.« »Und da dachtest du, ich könnte das machen, und nebenbei hinderst du mich auch noch daran, meiner Arbeit nachzugehen?« Schnell schüttelte ich den Kopf. »Nein, natürlich kannst du ihn dann mitnehmen. Ich möchte nur nicht, dass er von einem Sitter zum nächsten gegeben wird. Und dich kennt und mag er.« »Du meinst: im Gegensatz zu dir.« Schelmisch grinste er mich an und ich konnte nicht anders, als es zumindest einen Augenblick lang zu erwidern. Dann wurde sein Blick wieder forschend. »Woher kommt denn der Sinneswandel, dass ich ihn mitnehmen darf?« »Ich hab wohl kaum eine andere Wahl, wenn ich ihn nicht abgeben will.« Etwas widerwillig lächelte ich. Als er nach einer Weile noch immer nichts gesagt hatte, schob ich hinterher: »Ich bezahl dich auch dafür.« Langsam schüttelte er den Kopf. »Ich nehme kein Geld von dir.« »Was? Warum?« »Ich nehme kein Geld von einem Bullen an.« Ich wollte etwas Bissiges erwidern, doch er sprach direkt weiter: »Chico ist sehr freundlich. Wenn ich mit ihm arbeiten darf, dann sind wir quitt.« Ich stockte, dann sah ich ihn zweifelnd an. »Wie meinst du das?« »Vielen der Kids würde es guttun, wenn da einfach ein Tier ist, das sie kuscheln und streicheln können, ohne, dass es mehr erwartet. Sie haben ein Problem mit Nähe und selbst mir vertrauen sie nicht immer. Ein Tier, das ihnen einfach nur zuhört, könnte mir bei meiner Arbeit helfen.« Forschend blickte ich ihm in die Augen. »Jetzt mal Klartext: Was sind das für Kinder und woraus besteht deine ›Arbeit‹?« Er erwiderte eine Weile den Blick, dann lehnte er sich zurück, zog eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch und zündete sie an. »Straßenkinder, die einfach nur tun, was nötig ist, um zu überleben. Meine Arbeit besteht darin, mich um sie zu kümmern. Sowohl medizinisch als auch sozial.« Ich rümpfte die Nase. Mir gefiel es nicht, dass er rauchte, während ich noch aß. Wenigstens pustete er den Rauch von mir weg. »Du bringst sie also wieder nach Hause?« »Nein. Nur, wenn sie wollen.« Es war klar, dass er meinen wütenden Gesichtsausdruck sah, aber er blieb weiter unberührt. »Sie wollen nicht gefunden werden und haben gute Gründe, warum sie weder nach Hause noch in die Jugendhilfe wollen. Würde ich sie verraten, würde ich ihr ganzes Vertrauen verlieren.« »Was tust du sonst, außer sie abzocken?« Das konnte doch nicht wahr sein! Er wusste von vermutlich einer ganzen Menge verschwundener Kinder, wo sie sich aufhielten, und meldete es nicht! Seine Antwort überraschte mich dann doch und rückte ihn in ein vollkommen neues Licht. Nach seiner Aussage unterstützte er die Kinder nicht nur, indem er als Vertrauensperson und öffentlicher Fürsprecher für sie da war, sondern versorgte sie auch entweder selbst medizinisch – nach seiner Aussage war er ausgebildeter Paramedic2 – oder organisierte ärztliche Untersuchungen, die er finanzierte. Er blühte regelrecht auf, während er von der Arbeit erzählte, die er bei den Kindern verrichtete. Geduldig beantwortete er meine Fragen und auch wenn ich die Arbeit noch immer nicht als richtig empfand, war ich dennoch beeindruckt. Ich war so in meiner Meinung gefangen gewesen, dass ich mir nie hatte anhören wollen, wie er seine Arbeit verstand. Ihm schien das sehr am Herzen zu liegen und er wirkte davon vollkommen überzeugt. Ich musste zumindest eingestehen, dass er einiges Gutes damit vollbrachte.   Nachdem er alle meine Fragen beantwortet hatte, wechselte er zum eigentlichen Thema: »Um auf Chico zurückzukommen: Er ist ein wirklich lieber und süßer Hund. Es gibt immer wieder neue Kids, die sich etwas schwertun, mit mir ins Gespräch zu kommen. Chico könnte beim ersten Kontakt helfen.« »Du willst also ausnutzen, dass Kinder Tiere lieben und sie damit anlocken?« Er verstand, dass ich das nur halb ernst meinte, und lachte leicht. »Diese Kids haben so viel erlebt, sie sind misstrauisch genug, um sich nicht von jedem einlullen zu lassen. Sie nähern sich mir sowieso nur in der Gruppe. Da sind immer welche dabei, die mich bereits kennen. Außerdem nehm ich sie nicht mit nach Hause.« Nachdenklich nickte ich. Welche Wahl hatte ich denn schon? So wie ich den Punk einschätzte, würde er Chico auch mitnehmen, wenn ich es ihm verbot. Außerdem brauchte ich meinen Hund nur ansehen, um zu merken, dass er diesen Mann vergötterte. »Ist gut, nehm ihn mit.« Siegessicher lächelte er mich an. »Ich versprech dir, ich ziehe dich damit auch nicht in irgendwelche illegalen Sachen rein.« »Als würde ich mich auf das Wort eines Zuhälters verlassen.« Ich gönnte ihm diesen Sieg nicht. Eher amüsiert grinste er. »Dann iss mal auf. Du musst mir noch beibringen, worauf Chico hört. Ich hab es mehrmals versucht, aber er hört nicht auf die normalen Befehle. Aber du sprichst auch – ich rate mal – Spanisch mit ihm, oder? Ich vermute, dass er nur nicht weiß, was ich von ihm will.« »Ehm, ja klar.« Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass Chico zwar einem einladenden Tonfall Folge leisten und bei einem energischen ›Nein‹ aufhören würde, aber bei allem anderen natürlich nicht verstand, was der Punk von ihm wollte. Ich hoffte, dass er keine Schwierigkeiten gemacht hatte. Andererseits hätte es sonst sicher schon Beschwerden gegeben. »Komm einfach gleich mit raus, dann kannst du es üben und er lernt, auch auf deine Stimme zu hören.« Er stimmte zu und kündigte Chico das auch freundlich an, ließ mich aber aufessen. Sofern man das so nennen konnte, denn der aufstachelnde Ton wirkte natürlich auf meinen Hund. So fixiert wie dieser schon auf den Punk war, würde es nicht schwer werden, ihm beizubringen, auch dessen Befehle zu befolgen. Kapitel 11: La revelación ------------------------- Nachdem ich das Auto verlassen und die Fahrertür geschlossen hatte, öffnete ich die hintere Tür. Chico hüpfte ohne Zögern heraus. Er wusste mittlerweile, was ihn erwartete, und war nicht mehr so aufgeregt wie beim ersten Mal. Auch die Beifahrertür wurde geöffnet. Noch bevor sie ins Schloss fiel, hörte ich: »Nicht mal richtig einparken kannst du. Sag mal, gewinnt man den Führerschein bei euch im Lotto?« »Halt einfach mal die Fresse!«, motzte ich zurück. »Wie soll man denn auch fahren, wenn du die ganze Zeit meckerst?« »Du hättest mich ja nicht mitnehmen müssen.« Der Punk kam um das Auto herum und ging auf den Eingang zu. Ich gab Chico das Zeichen mitzukommen und folgte ihm. Klar, ich hätte ihn nicht mitnehmen müssen, aber er hatte mir leidgetan. Auch wenn er es nicht zugab und es vor mir häufig zurückhielt, hustete er noch immer sehr viel. Besonders nachts konnte ich ihn hören. Da es goss wie aus Eimern, war es für mich selbstverständlich gewesen, ihm das anzubieten. Dass er ohne zu Murren angenommen hatte, zeigte nur, dass ihm durchaus bewusst war, wie gefährlich Bahnfahren in seinem Zustand wäre. Dennoch hätte es mich gefreut, wenn er nicht die ganze Fahrt über meinen Fahrstil kritisiert hätte. Ich war mehrmals kurz davor gewesen, ihn am Straßenrand auszusetzen. »Hallo ihr beiden. Ich wusste gar nicht, dass ihr zusammen kommt«, wurden wir angesprochen, bevor wir die Tür erreichten. Watkins ignorierte Elmer geflissentlich, ich grüßte kurz und ging weiter auf den Eingang zu. Ich wollte einfach nur ins Trockene. Der Punk schien das genauso zu sehen, denn sobald wir alle durch die Tür waren, antwortete er: »Einmal und nie wieder! Der Bulle kann nicht fahren.« »Und du kannst deine Fresse nicht halten. Vielleicht wäre es ja einfacher, wenn einem nicht ständig reingeredet würde!« »Mat, darf ich dich vor der Sitzung kurz allein sprechen? Ich könnte heute deine Hilfe brauchen«, überging der Gruppenleiter unseren Streit. Irgendwo bewunderte ich seine ruhige Art Watkins gegenüber. Dieser blieb stehen und sah Elmer forschend an. »Wobei?« »Ich würde gerne eine kurze Session zur Prävention machen.« Der Punk verdrehte die Augen, hörte aber weiter zu. »Bei Ross gab es letztes Wochenende eine Krisensituation. Ich konnte ihn halbwegs beruhigen, aber ich denke, es würde ihm helfen, wenn du auch nochmal ein paar Worte verlierst.« Auch wenn er versuchte, es zu verbergen, sah Watkins mich einen Moment lang an, bevor er nickte. »Okay, lass uns das eben durchsprechen.« Die beiden legten einen Schritt zu und entfernten sich von mir. Langsam schlenderte ich ihnen hinterher bis zum Gruppenraum, vor dem schon ein paar Andere warteten. Sie waren etwas verwundert, als Elmer aufschloss, sie allerdings nicht hineinließ, fügten sich dem aber mit nur wenig Murren. Dafür freuten sie sich umso mehr, als Chico sie alle der Reihe nach begrüßte. Ich war froh, dass er mittlerweile nicht mehr so aufgedreht war bei den Treffen und sich einfach auf seine Decke legte und nur bisweilen zu mir oder Mat kam, um sich ein paar Streicheleinheiten abzuholen. Alle anderen ignorierte er bis auf zur Begrüßung großteilig, ließ sich aber bereitwillig streicheln, wenn jemand zu ihm kam. »Guten Tag, schön, dass ihr alle wieder hier seid«, begrüßte uns Elmer, nachdem wir uns alle gesetzt hatten. »Tut mir leid, dass ihr etwas warten musstet, wir hatten noch etwas zu besprechen.« Mehr oder weniger motiviert grüßten wir, bevor Elmer mit dem normalen Procedere fortfuhr. »Ross hat bereits angekündigt, dass er ein Thema für heute hat. Gibt es sonst noch spontane Notfälle?« Allgemein wurde verneint, dann gab der Gruppenleiter Ross das Zeichen, zu erzählen. Es war offensichtlich, dass es diesem peinlich war. »Ich war am Wochenende bei jemandem, den ich im Internet kennengelernt hab. Wir ... hatten eine schöne Nacht und als ich am nächsten Morgen aufgewacht und ins Bad gegangen bin, da hab ich die Medikamente gesehen. Na ja, ihr wisst schon ...« Es wurde allgemein genickt und gemurmelt, während ich nicht sicher war, ob ich verstand. Watkins fragte nach: »Aber ihr habt verhütet? Dann kann doch eigentlich nicht viel passieren.« »Ja, schon, ich weiß. Ich bin trotzdem unsicher.« »Hast du ihn denn darauf angesprochen?«, fragte Elmer. Ross nickte. »Ja. Er sagt, er ist unter der Nachweisgrenze und hat sich daher nichts bei gedacht. Er hatte einfach Angst, es mir zu sagen, und wollte erstmal sehen, ob es mit uns weitergeht.« Watkins grummelte ein wenig. »Nicht toll, aber dann doch eigentlich nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.« »Schon. Ich weiß nur einfach nicht, wie es weitergehen soll. Also, ich ... Ich kann mir schon vorstellen, dass vielleicht mehr aus uns wird, aber ich weiß eben nicht, wie sich das gestalten soll.« Mit einem leicht verzweifelten Blick sah Ross zum Punk. Dieser seufzte leicht genervt. »Ich kann dir auch nichts Anderes erzählen, als du sowieso schon weißt. Wenn er unter der Nachweisgrenze ist und seine Medikamente regelmäßig nimmt, sollte es keine Probleme geben.« »Ja, ich weiß.« Es war deutlich zu hören, dass sich Ross mehr erwartet hatte. »Vielleicht kannst du ihm ein wenig was erzählen, wie das so ist?«, mischte sich ein anderer Mann, dessen Name ich mir nicht gemerkt hatte, ein und sah dabei zu Watkins. Langsam wanderte dessen Blick von meinem Hund zu mir. Er sah mich einen kurzen Augenblick an, dann wandte er sich an den Fragenden. »Was soll ich ihm denn erzählen? Das führt doch nur dazu, dass er noch mehr Angst hat. Die Therapie wirkt bei mir nicht richtig und ich vertrag sie nicht. Wenn Ross’ Lover aber gut klarkommt, dann ist doch alles okay. Dann muss ich ihm keine Angst machen. Sein Kerl kann ganz normal leben.« Erneut wanderte der Blick für einen Moment zu mir. Scheinbar erwartete er eine Reaktion. Doch noch immer war ich nicht sicher, was ich von der Sache halten sollte. Es war immerhin nichts Neues für mich, dass er krank war und Medikamente nahm. Dennoch war ich nicht sicher, ob ich das richtig verstand. Oder einfach nicht verstehen wollte. »Mat hat recht. Wenn ihr entsprechend vorsorgt, dann braucht ihr euch kaum Gedanken machen«, mischte sich Elmer wieder ein. »Ja, das weiß ich doch alles. Es ist trotzdem nicht so einfach ... Ein wenig Angst bleibt immer.« Elmer tätschelte Ross’ Schulter. »Vielleicht sprichst du nochmal mit deinem Freund darüber, er kennt seine Situation am besten.« »Du könntest ihn auch bitten, ob du mit ihm zum nächsten Arzttermin gehen kannst. Der kann dir sicher noch viel mehr erzählen. Vielleicht beruhigt dich das ja etwas mehr?«, schlug Watkins vor. »Das geht?« »Sicher. Wenn ihr zusammen seid, wäre es sogar sinnvoll.« Das aufmunternde Lächeln in Watkins Gesicht war ein ganz neuer Ausdruck. Er konnte wohl doch anders. Aber das war mir schon öfter aufgefallen: Obwohl er mit seiner Art oft aneckte, die Gruppe schien durchaus etwas auf seine Meinung zu geben. Elmer sah in die Runde. »Ich weiß, dass HIV für euch alle ein wichtiges Thema ist und ihr alle grade ziemlich betroffen seid. Mat und ich haben uns im Vorfeld überlegt, diese Sitzung für die allgemeine Aufklärung zu nutzen. Ich hoffe, das ist im Sinne aller?« Ich war wohl von allen am wenigstens begeistert. Musste das wirklich sein? Wir waren alle schon lange erwachsen, wir wussten ja wohl, welche Risiken wir beim Sex eingingen. Doch ich kam nicht drumherum. Okay, das schlug jetzt wirklich dem Fass den Boden aus! Diesen kleinen, improvisierten Vortrag konnte ich ja noch ertragen, aber das? Ohne mich! Ich würde keinem Holzdildo ein Kondom überziehen! Die anderen durften sich damit gerne zum Affen machen, ich würde ihn weiterreichen, sobald er bei mir ankam. Gesagt getan. Kaum drückte mir mein rechter Sitznachbar das Ding in die Hand, gab ich es nach links weiter. Elmer warf mir einen fragenden Blick zu. »Was ist Eloy? Willst du nicht mitmachen?« Der Punk schnaubte. »Er will nur nicht zeigen, dass er keine Ahnung hat.« Wütend sah ich zu ihm rüber. »Im Gegensatz zu dir lass ich mich eben nicht ständig von Fremden ficken! Ich weiß, wie ich mir selbst ein Kondom überziehe, das reicht.« »Dann zeig es uns doch.« Elmer lächelte mich aufmunternd an. Ich wollte ihm gerade erneut sagen, dass ich das nicht tun würde, da zischte der Punk: »Feigling!« Ich riss meinem linken Nachbarn das Teil wieder aus der Hand, schnappte mir ein Kondom aus dem Körbchen in der Mitte des Raums, riss es auf und zog es drüber. »So, zufrieden?!« Der Punk lachte lauthals. »Klar, wenn es direkt reißen soll.« Auch andere stimmten ins Lachen ein, versuchten aber wenigstens, sich zurückzuhalten. Ich funkelte ihn an. »Und du weißt natürlich alles besser.« Er stand auf, kam zu mir rüber und hockte sich vor mich. Chico folgte, doch ich schickte ihn auf die Decke. Der Punk nahm ein neues Kondom, packte es aus und drückte es mir in die Hand. »So, wir machen das jetzt zusammen.« Irritiert sah ich dabei zu, wie er meine Hand ergriff und sie führte, während er mir erklärte, wie ich das Kondom richtig überzog. Ich schluckte schwer. Der Gedanke, mit jemandem gemeinsam ein Kondom anzulegen, erregte mich unweigerlich. Sobald alles saß, schüttelte ich die Hand des anderen ab. Er zog das Kondom wieder ab, drückte mir ein neues in die Hand und zwinkerte mir dann zu. »Das Nächste schaffst du allein.« Noch immer komplett verwirrt griff ich danach und stülpte es dem Holzpenis über. Die Augen des Punks lagen die ganze Zeit auf mich gerichtet. Das allein reichte aus, dass ich das Gefühl seiner Hände nicht loswurde. Sobald ich fertig war, nickte er zufrieden und reicht den Penis weiter. Auch bei den anderen korrigierte er, wenn nötig, die Anwendung und half ihnen. Erst als alle durch waren, wurde mir bewusst, dass ich die gesamte Zeit darauf geachtet hatte, wessen Hände er noch berührte. Mühsam wandte ich den Blick ab. Auf der Rückfahrt herrschte im Auto bedrückende Stille. Der Punk hatte seit dem Einsteigen nicht ein Wort gesagt. Erst als wir fast an der Haltestelle waren, zu der ich ihn bringen sollte, kam leise etwas aus seinem Mund: »Hast du jetzt Angst vor mir oder behandelst mich anders?« »Nein, warum sollte ich?«, fragte ich komplett irritiert über die plötzliche Frage. Er zuckte mit den Schultern und sah mich zum ersten Mal, seitdem wir die Gruppe verlassen hatten, direkt an. »Weil das die meisten tun, wenn sie von meiner Krankheit erfahren. Warum meinst du, bin ich mit der Lungenentzündung nicht ins Krankenhaus gegangen? Dort traut sich keiner, mich anzufassen, obwohl sie es doch eigentlich besser wissen müssten. Auch die in der Gruppe haben ständig diesen mitleidigen Blick drauf und akzeptieren meine Art nur, weil ich für sie der arme Todgeweihte bin.« »Mit oder ohne Krankheit: Du bist und bleibst ein Arschloch. Also keine Sorge, wenn du mir wieder dumm kommst, hab ich kein Problem, dir wieder eine reinzuhauen.« »Ich nehm dich beim Wort!«, antwortete er darauf. Auch wenn er versuchte, stichelnd zu klingen, etwas Erleichterung meinte ich darin mitschwingen zu hören. Hatte er wirklich Angst gehabt, wie ich reagierte? Er öffnete die Tür und stieg aus. Als er schon halb aus dem Wagen war, drehte er sich noch einmal um: »Du fährst übrigens wirklich scheiße!« »Fick dich!«, rief ich ihm nach und schob ihn aus dem Auto. Lachend drehte er sich um und schlug die Tür zu. »Tu’s doch selbst.« Ich sah ihm nach, während er die Treppen zur Station hinabstieg. Zwar hatte ich schon lange den Verdacht, dass er krank war, aber ganz sicher hatte ich nicht mit so etwas gerechnet. Irgendwas Chronisches, vielleicht Asthma, aber sicher nicht mit Aids. Auch wenn ich es ungern zugab, aber es machte mir Angst. Blöderweise hatte ich mich mittlerweile an diesen Chaoten gewöhnt. Als er außer Sichtweite war, fuhr ich los. Ich musste noch kurz mit Chico raus und mich dann für die Arbeit fertig machen. Es passte mir nicht, dass der Punk meinte, er müsse noch dringend arbeiten, denn das hieß, dass Chico für ein paar Stunden allein war, bevor er ihn zu sich in die Wohnung holte. Aber da ich den Punk nicht bezahlte, musste ich wohl damit leben. Zumal ich noch immer nicht sicher war, ob dieser in Bezug auf seine Arbeit die Wahrheit sprach. Sonst konnte er Chico doch auch mitnehmen, warum dann diesmal nicht? Hieß das, dass er doch illegale Geschäfte laufen hatte? Ich wurde das ungute Gefühl ihn betreffend partout nicht los. Kapitel 12: La oferta --------------------- »¡Hola Chico! Ich bin wieder zu Hause.« Ich hing meine Sachen in den Flur. Da er mich nicht an der Tür begrüßte, ging ich ins Wohnzimmer. Vielleicht schlief er ja. Doch auch dort fand ich ihn nicht. Zurück im Flur merkte ich, dass die Leine fehlte. Vermutlich war er noch beim Punk. Am besten ging ich nach oben und holte ihn. Ich musste den Typ nicht länger belasten als nötig. Leider öffnete mir keiner, es war jedoch auch nichts zu hören. Vorsichtshalber versuchte ich es ein weiteres Mal. Vielleicht waren sie eingeschlafen, aber beim zweiten Mal würde Chico sicher anschlagen. Da noch immer kein Laut von drinnen kam, vermutete ich, dass sie noch unterwegs waren, und ging wieder nach unten. Ich zog mir etwas Bequemes an, schnappte mir den Laptop und schaltete Skype an. Meine Eltern hatten mir schon im Laufe des Tages eine Nachricht geschickt, in der sie mir gratulierten. Sie würden sicher morgen noch einmal anrufen, wenn ich frei hatte, aber um diese Zeit brauchte ich nicht mehr versuchen, sie noch zu erreichen. Bei Noemí sah das anders aus. Sie wartete sicher nur darauf, dass ich wieder zu Hause war. Auch nicht. Sie wurde mir als offline angezeigt. Vermutlich hatten sie mit dem neuen Baby so viel um die Ohren, dass selbst am Abend kaum Zeit blieb. Da ich noch nicht müde war, konnte ich warten, ob sie nicht doch noch online kam. Um mir die Zeit zu vertreiben, rief ich meine Mails ab. Ich wusste, dass noch ein paar unbeantwortet waren. Vor allem eine von meinen Eltern, die sie vor zwei Wochen geschickt hatten. Ich war froh, dass sie wieder Kontakt suchten, doch sie ließen nicht locker, nach dem Grund für die Scheidung zu fragen. Daher war ich noch immer nicht sicher, was genau ich ihnen antworten sollte, denn ihre Frage würde ich ganz sicher nicht beantworten. Während ich grübelte, flatterte eine neue Mail herein. Eher, um mich abzulenken, sah ich nach. Es war die monatliche Rechnung der Pornoseite, auf der ich ab und zu unterwegs war. Ich ließ die Mail an meine Eltern liegen und sah dort vorbei. Allein die Bilder in der Mail regten mich an. Durch die Träume, die ich seit dem vorletzten Gruppentreffen immer wieder hatte, war ich viel zu leicht erregbar. Das Bild, wie Watkins mir half, das Kondom überzuziehen, verschwand nicht aus meinem Kopf. Dabei war es häufig genug nicht der Holzpenis, sondern mein eigener. Ich schloss Skype und suchte meine Kopfhörer, bevor ich mir einen Film aussuchte. Ich hatte mir das bereits bei Maria angewöhnt, wenn ich abends noch einmal ins Arbeitszimmer verschwand, und noch immer war es mir lieber, wenn nur ich das hören konnte. Außerdem brachte es mir die Geräusche näher.   »Du widerlicher Drecksack!« Der Laptop wurde lautstark zugeknallt. Ich riss die Ohrstöpsel herunter und schüttelte die Bilder in meinem Kopf ab. Ich hatte kaum das Video verfolgt, sondern war mit den Gedanken bei Jenaro gewesen. Dem jungen Kollegen aus El Paso, der mir immer wieder eindeutige Angebote gemacht hatte, wenn wir allein in der Umkleide waren. »Was hast du hier zu suchen?«, fuhr ich den Punk an, der noch immer die Hand auf dem Deckel meines Laptops liegen hatte, und zog schnell die Hose hoch. Warum schlich er sich in meine Wohnung?! Wütend funkelte er mich an und erinnerte mich dabei an Maria, als sie mich und Jenaro in unserem Ehebett erwischt hatte. »Ich bringe deinen Hund zurück. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du es dir gemütlich gemacht hast, während du die Not anderer ausnutzt.« »Was?« »Du hast mich schon verstanden, du Drecksbulle!« Er gab dem Laptop einen Stoß und wischte ihn damit von der Couch. Gerade so konnte ich ihn auffangen, bevor er auf den Boden knallte. Wütend sprang ich auf und stand dadurch nur noch wenige Zentimeter vom Punk entfernt. »Sag mal, hast du jetzt völlig den Verstand verloren?!« Einen Moment funkelte er mich weiter wütend an, bevor er einen Schritt zurücktrat, die Hände vor das Gesicht nahm und mir den Rücken zudrehte. Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Ich dachte, du wärst anders! Aber du bist genauso scheiße wie alle anderen. Macht es dich an, so ein paar jungen Kerlen zuzusehen, die das tun, weil sie Geld brauchen, ohne sie dafür zu bezahlen?« »Ich wüsste zwar nicht, was dich das angeht, aber ich zahle für diesen Dreck«, erklärte ich seinem Rücken und war eigentlich ganz froh, ihm das nicht ins Gesicht sagen zu müssen. Zuerst schien er gar nicht zu reagieren, dann drehte er sich wieder um, lachte dabei humorlos. »Na sicher. Dann kannst du mir ja auch sagen, welches Portal das ist.« Ich musste kurz nachdenken, bis ich ihm den Namen nennen konnte. Als hätte ich das einfach so parat. Und was genau ging ihn das an? Er schnaubte. »Und da fühlst du dich jetzt ganz toll, solchen Ausbeutern auch noch Geld zu zahlen, oder wie?« »Sag mal, was willst du eigentlich von mir?!«, platzte es letztendlich aus mir heraus. Warum ließ ich mir eigentlich ausgerechnet von ihm Vorwürfe machen? »Es geht dich überhaupt nichts an, was ich mir ansehe!« »Wenn Wichser wie du die Not anderer ausnutzen, geht es mich sehr wohl etwas an! Ich werde ganz sicher nicht wegsehen!« Drohend kam er auf mich zu. Die Situation war so absurd, dass ich es nicht einmal schaffte, wütend zu sein. Es war für mich einfach nur unverständlich. »Ich weiß ehrlich nicht, was du gerade von mir hören willst. Ja, verdammt, ich hab mir gerade Pornos angeschaut, und ja, ich schäme mich dafür.« »Argh!« Er fasste sich an den Kopf, bevor er mich wieder anfunkelte. »Darum geht es doch gar nicht! Von mir aus kannst du dir so viele Pornos anschauen, wie du willst, das ist mir egal! Aber dann schau dir welche an, wo die Darsteller vernünftig behandelt werden. So schwer ist das doch nicht zu verstehen!« Ich setzte mich zurück auf die Couch und deute mit einer Hand auf den Laptop. »Das tue ich doch. Ich lade mir nicht irgendwelchen illegalen Mist aus dem Internet runter, sondern zahle dafür.« Er senkte den Kopf und schüttelte ihn. Dann setzte er sich ans andere Ende Couch. »Du kapierst es wirklich nicht, oder? Nur, weil du dafür bezahlst, ist das trotzdem noch keine vernünftige Produktion. Die nehmen die Darsteller aus ohne Ende.« Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete ihn einen Moment. Zumindest schien er sich beruhigt zu haben. Ich haderte mit mir, entschuldigte mich dann aber doch: »Tut mir leid, das wusste ich nicht.« Mit den Händen rieb er über sein Gesicht und nickte nach einer Weile. »Mir auch. Ich hab überreagiert.« Ich machte einen bestätigenden Laut und beobachtete ihn, wie er sich die Schläfen massierte. Dann lehnte er sich nach hinten und sah in Richtung Decke. »Viel zu viele der Jungs gehen zur Pornoproduktion, wenn sie alt genug sind. Häufig bekomme ich dann mit, wie sehr sie dort ausgenutzt werden.« »Und weil ich Polizist bin, muss ich das natürlich unterstützen und kleine Kinder ausnutzen, schon klar.« Er antwortete nicht, sondern ließ nur seinen Blick zu mir wandern. Das war Antwort genug. Ich richtete mich etwas auf und lockerte meine Haltung. Vielleicht war das der beste Moment, um das Thema anzusprechen. »Ich hab die Anzeigen gegen Sergeant Klein gefunden.« Blitzartig richtete er sich auf und ich befürchtete schon, dass er aufsprang, doch er blieb sitzen und starrte mich einfach nur mit aufgerissenen Augen an. »Ich hab das überprüft, sie wurden nie bearbeitet.« Und viel wichtiger: Jede einzelne Festnahme, die Gegenstand der Anzeigen war, hatte wirklich stattgefunden. Meistens aufgrund des Verdachtes auf Prostitution oder Drogenhandel. Das einzige, was ich nicht hatte herausfinden können, waren die Gründe, warum Watkins und sein Bruder festgenommen worden waren. Die Festnahmeprotokolle existierten noch, allerdings war alles gelöscht oder geschwärzt worden, was einen Rückschluss auf die Gründe zuließ. Sein Anwalt schien nicht nur gut, sondern auch gründlich zu arbeiten. »Verwundert mich nicht«, grummelte der Punk. »Als würde einer von euch gegen seine Kollegen ermitteln.« »Wenn du mir hilfst, würde ich gerne gegen ihn ermitteln.« Da er noch immer skeptisch die Augenbraue hob, sprach ich weiter: »Das sind schwere Vorwürfe und wenn das alles stimmt, dann muss er hinter Gitter.« Er lachte. »Du bist ja putzig! Als würde da etwas passieren. Selbst wenn ich dir sage, dass das alles stimmt, und du mir wirklich glaubst, ändert das nichts daran, dass es niemand anderes tut. Weder mir noch den Jungs wird jemals jemand glauben.« »Es muss irgendwo Beweise geben. Die werde ich finden.« Damit war bei mir nicht zu spaßen. Ich war Polizist geworden, um solche Taten zu unterbinden. Ich würde nicht wegsehen. »Du meinst das wirklich ernst, oder?« Er schüttelte kurz ungläubig den Kopf, dann sah mir fest in die Augen. »Warum? Warum glaubst du mir?« »Weil bisher alles dafür spricht, dass es stimmt, was du erzählst. Und im Gegensatz zu meinen Kollegen vorher muss ich auch keine Angst haben, dass er mir die Karriere versaut. Er ist mittlerweile pensioniert.« Nicht, dass mich das von den Ermittlungen abgehalten hätte, aber im Gegensatz zu mir konnten es sich viele Kollegen nicht leisten, sich mit ihren Vorgesetzten anzulegen. Erneut musterte er mich eine Weile und stand dann auf. Er stellte sich direkt vor mich. »Hose runter!« »Was?!« »Bist du taub? Ich hab gesagt, du sollst die Hose ausziehen.« Er hockte sich vor mich und zerrte an der Hose. Nur mit Mühe konnte ich sie oben halten. Wütend starrte er zu mir auf. »Ich weiß, was du willst. Dass du das aus reiner Nächstenliebe machst, kannst du sonst wem erzählen, aber sicher nicht mir. Aber ist okay, ich mach’s. Hauptsache, der Kerl bekommt, was er verdient. Also, Blowjob oder anal?« »Was redest du da?« Jetzt war er vollkommen übergeschnappt! Er sah mir weiter fest in die Augen und streichelte über die Innenseite meines Oberschenkels. Mit anrüchiger Stimme raunte er: »Ich empfehle dir den Blowjob. Bisher war noch jeder begeistert.« »Ich werde dich nicht für Sex bezahlen!« »Du siehst das falsch.« Er kam mit dem Gesicht näher an meines. Seine Miene war vollkommen ernst. »Das hier ist ein einfaches Tauschgeschäft, Geld hat damit gar nichts zu tun.« Mit der Hand fuhr er weiter meinen Oberschenkel entlang, näherte sich meinem Schritt. »Ich gebe dir nur das, was du willst, dafür gibst du mir das, was ich will. Und ich will diesen stinkenden Wichser im Gefängnis sehen!« Als seine Hand zwischen meinen Beinen ankam, schlug ich sie weg. Das ... war nicht gut. »Wer sagt, dass ich was von dir will?« Er lachte. »Du willst mir also sagen, es würde dir nichts ausmachen, wenn ich jetzt einfach gehe und dich mit deiner Latte allein lasse?« Ich wollte ihm entgegenschreien, dass es mir natürlich egal war, doch er setzte sich einfach rittlings auf meinen Schoß und grinste hämisch, während seine Fingerspitzen durch meinen Bart fuhren. »Eloy, mach dir doch nichts vor. Ich weiß, wann ein Mann mich ficken will. Was hast du zu verlieren? Ich bin sicher nicht dein Erster.« Resignierend kniff ich die Augen zusammen. Er sollte einfach nur von meinem Schoß runter, damit ich endlich wieder klar denken konnte. Je länger er dort saß, desto deutlicher wurde das Bild von der vorletzten Gruppensitzung in meinem Kopf und der Wunsch, ihn wieder so vor mir am Boden hocken zu sehen, diesmal jedoch nicht nur mit einem Holzpenis in der Hand. Widerwillig nickte ich. Er grinste noch breiter, klopfte auf meine Schulter und stand auf. »Ein Blowjob also. Dann mal runter mit der Hose.« Während ich noch zögernd Hose und Unterhose bis zu den Schienbeinen herunterzog, holte er seinen Geldbeutel aus seiner Tasche, wühlte darin nach einem kleinen Pappheftchen, und warf ihn dann neben mich auf die Couch. Aus dem Heftchen zog er ein Kondom, das er mir grinsend in die Hand drückte. »Oder brauchst du nochmal Nachhilfe?« ¡Mierda! Das gab es doch nicht. Konnte dieser Typ Gedanken lesen? Aber ich schaffte es nicht, meinen Wunsch zu äußern. Ich öffnete die Verpackung und zog das Kondom ordnungsgemäß über. Der Punk grinste und zog es noch einmal glatt. »Willst du jetzt etwa gelobt werden?« Ich schubste ihn weg und wollte aufstehen. »Ich hab keinen Bock auf diesen Scheiß!« »Ist gut, ich hör auf.« Er drückte mich zurück auf die Couch und meine Beine auseinander, bevor er sich dazwischen hockte. »Dabei könntest du es so einfach haben, wenn du mir einfach nur das Maul stopfen würdest.«   »Jetzt lass mich schon endlich los!« Der Punk riss den Kopf zurück. Erst da merkte ich, dass ich noch immer seinen Hinterkopf umklammert hielt, und ließ ihn sofort los. Er grinste mich an. »Ich vermute, ich sollte das als Kompliment sehen?« »Mach einfach, dass du rauskommst!«, knurrte ich. Ich befürchtete, wenn er noch länger blieb, könnte er mir anmerken, dass es mir viel zu gut gefallen hatte. Besser als es der Blowjob eines Mannes sollte. Er stand auf, das Kondom nahm er dabei gleich mit. Hämisch grinsend ging er an mir vorbei zur Küche und strubbelte durch meine Haare. »Schon klar, ich bin gleich weg.« Ich schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Mich auf einen Mann wie ihn einzulassen, war die schlechteste Entscheidung, die ich je getroffen hatte. Von anderen Männern ließ er sich für so etwas bezahlen! Nie im Leben hätte ich darauf eingehen dürfen. Dennoch hatte die Neugier gesiegt. Dass er so locker damit umging, regte mich auf. »Bist du ein Stricher, oder was?« Er rumorte in der Küche herum, bevor er wieder im Türrahmen erschien. »Nein. Schon lange nicht mehr.« Schockiert starrte ich ihn an. Das ... Ich hatte es zwar gesagt, aber dennoch nicht wirklich daran geglaubt. Sonst hätte ich mich doch nicht darauf eingelassen! Ein Schauer zog sich über meinen Rücken. »Was heißt ›schon lange nicht mehr‹?« »Ich kann mich nicht erinnern, dir zugesagt zu haben, dass du mich ausfragen darfst. Dich geht mein Leben einen Scheißdreck an.« Erst als er daraus trank, bemerkte ich, dass er sich ein Glas Wasser aus der Küche geholt hatte. »Aber mich geht es sehr wohl etwas an, ob ich mir von einem Stricher einen habe blasen lassen!« Fuck! Das durfte nicht sein. »Dann hätte ich Geld von dir genommen. So billig kommst du bei keinem Stricher davon.« Lässig lehnte er sich an den Türrahmen. »Aber keine Sorge, ich hab nichts mehr mit irgendwelchen illegalen Sachen zu tun, wenn es dich beruhigt.« Tat es. Dennoch saß der Schock tief. »Warum sollte ich dir das glauben?« Lässig zuckte er mit den Schultern. »Dann tu es halt nicht. Ist mir eigentlich ziemlich egal. Aber du hast mir in Bezug auf deinen Kollegen geglaubt und gerade warst du wohl auch nicht der Meinung, dass der Blowjob etwas Schlechtes sein könnte.« Er trank das Glas leer, stieß sich von der Wand ab und verschwand noch einmal in der Küche. Mit leeren Händen kam er wieder. »Aber wenn es dir plötzlich so viel ausmacht, was ich sein könnte oder auch nicht, dann hast du sicher kein Interesse an meinem Angebot.« »Was für ein Angebot?« Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Warum ging ich darauf überhaupt noch ein? Er war ein verdammter Stricher! Wissend grinste er und kam näher. Von hinten lehnte er sich über meine Schulter und flüsterte in mein Ohr: »Ich dachte, wenn du mich weiter auf dem Laufenden hältst, könnten wir uns auf etwas einigen. Das Einzige, was du sonst noch tun musst: Kündige das Abo bei diesen Halsabschneidern. Wenn du unbedingt Pornos schauen willst, geb ich dir den Link zu einem Studio, das vernünftig zahlt. Sofern du das noch brauchst. Du musst einfach nur Bescheid sagen, dann komm ich runter.« »Wie kommst du darauf, dass ich das überhaupt möchte?« Ich drehte mich herum und wollte ihm eine reinhauen, doch er zog sich schnell zurück. »Weil du allein von dem Angebot wieder halb steif geworden bist.« Er streichelte Chico über den Kopf und ging dann in den Flur. Von dort aus rief er: »Sag einfach Bescheid, wenn du es dir überlegt hast. Du weißt, wo du mich findest.« Als ich die Wohnungstür zufallen hörte, sprang ich auf und zog mir endlich die Hose wieder hoch. Dann ließ ich mich zurückfallen. Scheiße, dieser Pisser hatte mir den Verstand geraubt! Niemals hätte ich überhaupt nach seinem arroganten Angebot fragen sollen. Ich war so ein Idiot! Von jemandem wie ihm konnte nichts Gutes ausgehen. Am besten brach ich den Kontakt zu ihm ab und suchte mir jemand Anderen für Chico. Unweigerlich hörte ich auf die Geräusche von oben. Er musste gerade in seiner Wohnung angekommen sein. Ein paar Dinge wurden im Wohnzimmer rumgeschoben, außerdem war ein Schrei zu hören. Was trieb er da?! Nach einem Moment wurde es still. Nichts war mehr zu hören. Mein Blick fiel auf Chico, der ebenfalls aufgehorcht hatte. Nun legte er die Ohren wieder an und kam zu mir herüber. Mit fragendem Blick legte er den Kopf auf meinen Oberschenkel. Beruhigend tätschelte ich seinen Kopf. Der Arme hatte vermutlich keine Ahnung, was geschah. »Tut mir leid, mein Junge. Du hättest das nicht mitbekommen sollen.« Zuerst dachte ich, er würde die Ohren nur aufstellen, weil ich mit ihm sprach, doch dann hörte ich es auch: Von oben drangen erneut Geräusche durch die Decke. Er hatte doch keinen Besuch bekommen, das hätte ich mitbekommen. Hatte jemand auf ihn gewartet? Nein, dafür war er viel zu lange bei mir gewesen. Ich schluckte. Scheiße, das Arschloch saß da oben in seinem Wohnzimmer und holte sich einen runter! Erst kam er her, überrumpelte mich mit dem Blowjob und dann ging er hoch und holte sich einen runter! Der war doch nicht mehr ganz dicht! Fluchend stand ich auf, holte Chicos Leine und verließ mit ihm die Wohnung. Das konnte ich mir nicht anhören. Das würde mich in den Wahnsinn treiben und im schlimmsten Fall sein unerhörtes Angebot annehmen lassen. Kapitel 13: ¿Qué es pasión? --------------------------- Schnellen Schrittes stampfte ich die Treppen nach oben. Dieser Mistkerl konnte was erleben! Jedes Mal dasselbe mit ihm. Was war so schwer daran, sich an die Abmachung zu halten? Lautstark klopfte ich gegen die Tür. Er brauchte sich gar nicht tot stellen, ich wusste, dass er da war. Ich hatte ihn gehört. Daher gab es auch keine Ausrede, mir den Hund nicht nach unten zu bringen! Nach dem dritten Klopfen öffnete sich endlich die Tür. Der Punk stand darin und legte den Kopf schief. Er hatte einen Bademantel übergezogen und klang gespielt überrascht, als er mich begrüßte: »Oh, hallo Eloy. Mit dir hab ich ja noch gar nicht gerechnet.« »Erzähl keinen Stuss! Ich bin schon seit einer halben Stunde zu Hause.« »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dir Chico nach unten gebracht. Aber ich wusste ja nicht, ob du mal ausnahmsweise pünktlich bist, und wollte nicht, dass er so lange allein bleiben muss.« Dieser Wichser konnte mich mal! Ich wusste doch selbst, dass ich regelmäßig Überstunden machte. Aber in meinem Job ging das nun mal nicht anders. »Dann hätte ich eine Nachricht geschrieben.« Er zog eine Augenbraue hoch. »So wie gestern?« »Ich hab es vergessen!« Hochmütig grinste er mich an. »Ach, verdammt! Ich will jetzt endlich meinen Hund haben.« »Dann komm ihn dir holen.« Er trat einen Schritt zurück, damit ich in seine Wohnung konnte. Ihm einen bösen Blick zuwerfend trat ich ein. Er hätte ihn auch einfach rufen können. Grummelnd machte ich mich auf den Weg ins Wohnzimmer, während er die Tür hinter mir schloss. Chico lag auf der Couch und sah mich von dort verschlafen an. So wie es aussah, hatten er und sein Sitter es sich bereits bequem gemacht. Während sich der Hund langsam erhob, forderte ich vom Punk: »Gib mir doch endlich deinen verdammten Schlüssel, damit ich dich nicht jedes Mal wecken muss.« Überheblich schnaubte er. »Klar, damit du meine Bude auf den Kopf stellst, wenn ich nicht da bin. Hältst du mich für komplett bescheuert?« »Dann bring mir wenigstens meinen Hund zuverlässig runter!« Ich drehte mich zu ihm herum und taumelte dann überrascht ein paar Schritte zurück. Ich hatte nicht bemerkt, dass er sich mir genährt hatte und schon recht nah war. Er kam noch ein paar Schritte auf mich zu, löste den Gürtel des Bademantels und enthüllte damit, dass er nichts darunter trug. »Wenn du so weiter machst, ist es nicht mehr lange dein Hund.« Eigentlich wollte ich ihn wütend anstarren, doch dann hätte ich ihn und seinen mittlerweile fast komplett entblößten Körper ansehen müssen. Stattdessen sah ich an ihm vorbei. »Was ist?«, fragte er mit Hohn in der Stimme. Mittlerweile stand er unmittelbar vor mir. »Na los, setz dich hin.« Ich tat es, jedoch um ihm auszuweichen. Woanders konnte ich nicht hin. Warum tat er das ständig? Und warum fiel ich jedes Mal wieder darauf herein? »Ich hasse dich!« Er grinste. »Ich weiß.« Er holte ein Kondom aus der Tasche des Mantels und streifte diesen ab, bevor er es mir entgegenhielt. »Also, was ist nun?« Ich ballte die Fäuste. Einerseits wollte ich ihm für seine Unverschämtheit ganz dringend eine reinhauen, anderseits wusste ich, dass es sich gut anfühlen würde, wenn ich zustimmte. Nach einigem Zaudern riss ich ihm das Kondom aus der Hand und machte mich daran, meine Hose zu öffnen. Scheiße, er hatte schon wieder gewonnen! So wie jeden Streit, den wir seit seinem bescheuerten Angebot gehabt hatten. Jedes Mal dieselben Tricks und ich fiel auch noch darauf herein! »Sag mal: Beleidigst du mich oder feuerst du mich an?« Der Punk grinste breit. »Ach, fick dich!« Wütend schubste ich ihn von meinem Schoß. Lachend taumelte er zurück und ließ sich dann auf den Sessel sinken. »Tust du doch bereits.« Leise vor mich hin fluchend streifte ich das Kondom ab, zog die Hose hoch und ging in die Küche, um es wegzuschmeißen. Feixend rief er mir hinterher: »Das war definitiv ’ne Beleidigung.« »Geh davon aus, dass ich auch sonst nichts Anderes zu dir sage«, knurrte ich feindselig, als ich zurückkam. Ich war ganz froh, dass er kein Spanisch verstand. Das hätte schon das ein oder andere Mal zu einer peinlichen Situation geführt. Er drehte sich zu mir um und warf mir einen vielsagenden Blick zu. Dabei fasste er sich zwischen die Beine und begann sich dort zu reiben. Seine Miene forderte mich dazu auf, ihm zuzusehen. Er wusste ganz genau, dass ich kaum wegsehen konnte. Seitdem ich ihm nach dem dritten Mal gesagt hatte, dass ich es hörte, wenn er sich nach dem Sex in seiner Wohnung einen runterholte, machte er eine Show daraus. Dabei hätte er sich doch einfach nur wie jeder normale Mensch anfassen lassen müssen. Stattdessen brach er beim kleinsten Versuch, ihn in der Nähe seiner Genitalien zu berühren, ab. Es bildete sich ein hämisches Grinsen auf seinem Gesicht. »Das gefällt dir, oder? Warum nimmst du nicht einfach mein Angebot an? Dann muss ich dich nicht mehr jedes Mal provozieren, damit du endlich Leidenschaft zeigst.« Das war so frustrierend! Immer wenn ich in seiner Nähe war, hatte ich das Gefühl, jede meiner Gefühlsregungen stünde mit Leuchtschrift auf meiner Stirn geschrieben. Doch ich würde nicht nachgeben! »Gerade du musst von Leidenschaft reden. Selbst eine Gummipuppe zeigt mehr Freude beim Sex.« Das Blau seiner Augen explodierte regelrecht und wäre er dazu in der Lage gewesen, hätte mich sein Blick auf der Stelle getötet. So undurchschaubar er sonst auch war, gerade zeigte sich sehr deutlich, was er fühlte: Ich hatte ihn verletzt. Stärker, als ich es mit einem Faustschlag je könnte. Er deutete in Richtung des Flurs. Jegliche sexuelle Erregung in seiner Stimme war erloschen. »Raus! Verschwinde!« »Ich meine ...«, wollte ich mich erklären, doch erneut schrie er mir die Aufforderung entgegen. Er sprang auf, fischte den Bademantel vom Boden und kam drohend auf mich zu. Beschwichtigend hob ich die Hände. »Ist gut, ich gehe. Es tut mir leid. Chico, komm.« Der Hund sah von seiner Decke auf und zögerte. Trotz meines Protestes hatte der Punk ihm an derselben Stelle wie in meiner Wohnung eine eigene Ecke mit Liegeplatz und Spielzeug eingerichtet. Träge stand Chico auf und trottete mir hinterher, jedoch nicht, ohne noch einen Blick auf seinen zweiten Lieblingsmenschen zu werfen. Kapitel 14: El atentado ----------------------- Ich beobachtete die Kollegin von der Spurensicherung, wie sie eine Jacke vom Boden aufhob und sie durchsuchte. Obwohl das Team mit den Spürhunden bereits durch war, war die Anspannung noch nicht gewichen. Bei jedem Gegenstand, den die Kollegen aufhoben oder bewegten, beschlich mich das mulmige Gefühl, dass gleich erneut etwas geschehen würde. Doch bisher war es ruhig. Gespenstisch ruhig. Sie fand ein Handy in der Jacke, welches sie eintütete und mir reichte, während die Jacke in einen großen Sack zu den weiteren Hinterlassenschaften wanderte. Danach notierte ich die Nummer des Führerscheins, den sie ebenfalls gefunden hatte, in der Liste. Dazu kam die Beweisnummer für das Handy und die Nummer des Sackes. Wenigstens eine Person würde einen Teil ihres Hab und Gutes wiedererhalten. Das Handy jedoch erst, wenn alle Daten darauf gesichtet waren. Da dies auf Anweisung des FBI möglichst schnell geschehen sollte, übergab ich die Liste in die Obhut der Kollegin und machte mich gleich auf den Weg, es abzugeben. Ich war noch nicht weit gekommen, da fiel mir eine Person auf, die nicht dorthin gehörte. Eilig ging ich auf den Mann in Laufkleidung zu und konnte ihn noch vor der Absperrung abfangen. »Halt! Stopp! Sie haben hier keinen Zutritt! Bitte bleiben sie zurück.« »Sind Sie denn völlig wahnsinnig? Sie können doch nicht einfach die Strecke absperren! Lassen Sie mich durch«, antwortete er in verwaschenem Tonfall und versuchte, unter der Absperrung hindurchzukommen. Ich stellte mich ihm in den Weg. »Sir, der Bereich ist nicht sicher. Bitte treten Sie zurück.« Einen Moment sah er mich wütend an, dann blinzelte er und schien vollkommen orientierungslos. Seufzend griff ich nach seinem Arm. »Kommen Sie, ich bringe Sie zur Sammelstation.« Er nickte und folgte mir wie ein frommes Lämmchen. Seine fahle Haut hätte für mich gleich Hinweis sein sollen, dass er unter Schock stand. Er gehörte zur medizinischen Sammelstelle, dort würde man sich um ihn kümmern. Diese lag jedoch am anderen Ende der Absperrung und ich hatte keine Zeit, ihn durch die Seitenstraßen außerhalb des abgesperrten Gebietes zu führen. Ich musste so schnell wie möglich zurück auf meinen Posten. Auf dem Weg fragte ich ihn nach seinen Personalien. Es war egal, sie würden sowieso gleich noch einmal erfragt und aufgeschrieben werden, aber ich hoffe, ihn damit von den Trümmern ablenken zu können. Zum Glück waren die meisten Verletzten bereits abtransportiert oder zumindest an der Sammelstelle. Die Flecken auf der Straße sprachen dafür, dass es kein förderlicher Anblick gewesen wäre. Doch auch ich wollte so schnell wie möglich daran vorbei. Ich spürte, dass die Bilder, die sich mir boten, Erinnerungen an meine Zeit in Somalia an die Oberfläche spülen wollten. Zumindest die Narbe auf meiner Brust schien sich spontan wieder zu erinnern und brannte höllisch. Dafür hatte ich jedoch keine Zeit und Nerven! Das musste warten, bis alles erledigt war. An der Sammelstelle übergab ich den Mann an einen Sanitäter, der an der Startnummer, die noch immer auf der Brust des Läufers hing, sofort erkannte, dass dieser bereits dort gewesen war. Offenbar war er in seiner Verwirrung wieder abgehauen. »Passt auf, dass er nicht wieder einfach stiften geht«, mahnte ich mit leichtem Witz in der Stimme. Ich meinte es ernst, aber ich verstand auch, dass sie nicht auf jeden ein Auge haben konnten. Der junge Sanitäter lächelte kurz und nickte. Er sah genauso abgearbeitet aus, wie die meisten von uns, hielt sich jedoch tapfer. Das war ein Tag, den er nie vergessen würde. So wieder jeder andere von uns. Der Läufer wurde zu den anderen Leichtverletzten geführt. Dort kümmerten sich nur einige wenige Sanitäter. Die meisten waren noch immer mit jenen beschäftigt, die größere Verletzungen davongetragen hatten und darauf warteten, abtransportiert zu werden. Im Moment war lediglich ein Fahrzeug zu sehen, welches offenbar für kurzfristige Notfälle freigehalten wurde. Eine Frau, die wie alle Helfer eine gelbe Weste trug – in ihrem Fall mit der Aufschrift ›Ambulance‹ – kam auf mich zu, lächelte und drückte mir eine Wasserflasche in die Hand. »Denken Sie auch an sich.« »Danke.« Ich nahm die Flasche mit einem freundlichen Lächeln entgegen und nahm einen Schluck, bevor ich meinen Weg fortsetzte. Ich hatte nicht viel Durst, aber ich schätzte die gutgemeinte Geste.   Nachdem ich das Handy bei den zuständigen Kollegen abgegeben hatte, wollte ich zurück zu meinem Posten. Als ich dabei erneut an der medizinischen Sammelstelle vorbeikam, fiel mir jedoch jemand auf, der etwas davon entfernt mit dem Rücken an der Wand eines Gebäudes lehnte. Hätte die Person nicht ebenfalls eine quietschgelbe Weste getragen und sich die Seele aus dem Leib gehustet, hätte ich sie wohl ignoriert. Doch nun zögerte ich und sah mich um. Gab es denn niemand anderen, der sich um ihn kümmern konnte? Ich musste arbeiten! Meine Suche ergab lediglich, dass alle Rettungskräfte mit den Verletzten beschäftigt waren und sich, außer mir, niemand für ihn interessierte. Fuck! Na, wenigstens sah mich dann auch niemand mit ihm. Einen Schritt von ihm entfernt blieb ich stehen und hielt ihm meine Wasserflasche entgegen. »Hier, trink!« Verwundert sah der Punk auf. Er hatte eindeutig nicht damit gerechnet, dass ihn jemand ansprach – schon gar nicht ich. Als er sich gefasst hatte, war ihm anzusehen, dass er haderte. Ich konnte genau sehen, wie er mit sich rang, das Gesicht verzog. Er wollte keine Hilfe. Zumindest nicht von mir. Normalerweise hätte ich ihm diese auch nicht aufgedrängt, doch neben dem Husten, der nun wieder einsetzte, sah er auch unglaublich fahl und erschöpft aus. Wenn ich die richtigen Schlüsse aus der Aufschrift ›Ambulance‹ zog, war er nicht als Zuschauer unterwegs gewesen. Offenbar war ihm das alles zu viel. »Verdammt, jetzt zick nicht rum! Du bist vollkommen erledigt. Setz dich hin und trink was!« Ich packte ihn an der Schulter, um ihn auf den Boden zu drücken. Mit einer unwirschen Bewegung machte er sich frei und riss mir die Flasche aus der Hand. »Jetzt gib schon her!« Auch wenn er sich nicht setzte, trank er zumindest einen großen Schluck. Mit bockigem Blick sah er mich an und hielt sie mir wieder hin. »Zufrieden?« Ich lehnte mit einer Handbewegung ab. »Behalt sie. Was tust du hier? Ich dachte, du arbeitest nicht mehr?« »Bei Großveranstaltungen helf ich noch aus. Wie du siehst, können wir im Notfall jeden brauchen.« Er stieß sich kurz von der Wand ab, fiel dann jedoch wieder zurück und hielt sich den Kopf. Nachdem er losgelassen hatte, zog er Zigaretten aus seiner Tasche und zündete sich eine an. Ich musste eigentlich wieder an die Arbeit, doch er sah aus, als könnte er jeden Moment zusammenbrechen. Kein guter Zeitpunkt, ihn allein zu lassen. Er war ein Arschloch, aber allein in einer Ecke zusammenzubrechen, hatte er nicht verdient. Daher gab ich über Funk Bescheid, dass ich eine Pause brauchte, und leistete ihm Gesellschaft. Schweigend standen wir nebeneinander und beobachteten die Rettungskräfte bei ihrer Arbeit. Immer wieder sah ich ihn kurz an, genau wie er mich. Für ihn schien die Situation genauso merkwürdig wie für mich, was nur zum Teil an der Umgebung lag. Immerhin hatten wir, seitdem ich ihn eine Gummipuppe genannt hatte, nur noch miteinander geredet, wenn wir zufällig wegen Chico aufeinandertrafen. »Ich mach mich dann wieder an die Arbeit.« Nach der Zigarette sah er schon besser aus, jedoch noch nicht wieder richtig fit. »Nichts da! Du bist fertig für heute. Geh dich saubermachen und fahr nach Hause.« »Du hast mir gar nichts zu sagen!« Er schob mich zur Seite. »Außerdem hab ich noch zu tun.« »Du hilfst niemanden, wenn du selbst gleich zusammenbrichst!« Ich packte seinen Arm und hielt ihn fest. Schmerzerfüllt schrie er auf, obwohl ich nicht einmal stark zugepackt hatte. Ich trat einen Schritt näher und sah mir die Stelle, die ich bisher für den Blutfleck eines Patienten gehalten hatte, genauer an und fluchte dann. »¡Mierda! Warum rennst du damit rum, statt es untersuchen zu lassen?« »Ist nichts weiter, nur verstaucht.« Er sah nicht wirklich hin, sondern versuchte, sich zu befreien. »Verstaucht?! Willst du mich verarschen? Das muss verbunden werden.« Nun sah er doch seinen Arm hinab und fluchte ebenfalls. Er riss die Weste auf und zog sich den Pullover über den Kopf. Scheinbar hatte sich der Pullover mit dem Blut vollgesogen, denn nun sah es nicht mehr so schlimm aus wie vorher. Dennoch war die Wunde gut zu sehen. Er knurrte leise und stampfte los. Während er von einer seiner Kolleginnen verbunden wurde, wartete ich auf ihn. Zum Glück steckte nichts in der Wunde und sie war auch nicht tief. Kein Wunder, dass er so fertig war, wenn er im Gegensatz zu mir in der Nähe der Explosion gestanden und vermutlich alles hautnah miterlebt hatte. Sobald er versorgt war, trat ich wieder auf ihn zu. »Fahr nach Hause! Schnapp dir Chico und geh noch eine kleine Runde mit ihm raus und dann bleib im Haus! Leg dich von mir aus mit ihm auf die Couch. Aber um Gottes willen, verschwinde von hier! Du kannst hier niemandem mehr helfen.« Er schnaufte wütend. »Wie willst du das wissen, was ich kann? Außerdem: Wie soll ich nach Hause kommen? Soll ich etwa laufen? Wie du wissen solltest, wurde sicherheitshalber der Bahnverkehr eingestellt.« Ich suchte in der Hosentasche nach meinem Autoschlüssel und drückte ihm den in die Hand. »Ich bring dich zum Auto, dann fährst du nach Hause.« »Und wie kommst du nach Hause? Hast du wieder vor, jemanden in der Bahn zu stalken?« »Ich lass mich von einem Kollegen mitnehmen. Aber hier kannst du nichts mehr ausrichten. Es sind alle erstversorgt und mit der Wunde solltest du dich lieber ausruhen.« Ich griff nach seiner Hand und legte den Schlüssel hinein. Hoffentlich fuhr er mein Auto nicht zu Schrott. »Sei wenigstens ein Mal vernünftig!« Sein Blick durchbohrte mich, dann legten sich seine Finger mit einem Nicken um den Schlüssel. Seine überraschend freundlichen Worte ließen mich verwundert zurück: »Danke. Wir sehen uns später. Pass auf dich auf.«   Als ich nach Hause kam, stellte ich fest, dass der Punk mich sehr wörtlich genommen hatte. Mit Chico im Arm schlief er in meinem Wohnzimmer auf der Couch. Unwillkürlich schmunzelte ich bei dem Anblick. Vermutlich hätte ich den Hund runterscheuchen sollen, der mich mit treudoofen Augen ansah, als ich das Zimmer betrat. Er wusste genau, dass er nichts auf der Couch verloren hatte. Doch dazu fehlte mir die Kraft. Nach achtzehn Stunden Arbeit wollte ich einfach nur noch ins Bett. Immerhin blieben mir nicht einmal mehr sechs Stunden, bis ich erneut zum Dienst antreten musste. Daher war es mir auch herzlich egal, ob Mat und Chico eine Runde gedreht hatten. Wenn mir der Hund in die Wohnung pisste, dann war es eben so. Im Moment gab es Wichtigeres. Dazu gehörte auch, dass ich am nächsten Morgen halbwegs fit war. Um alles Andere konnte ich mich kümmern, wenn die Scheißkerle, die für das alles verantwortlich waren, geschnappt waren. Aus dem Schlafzimmer holte ich eine Decke und breitete sie über Mat aus, ohne ihn zu wecken. Sollte er doch auf der Couch schlafen, er musste sich morgen eh um Chico kümmern und mich störte er dort nicht. Vermutlich würde er Chicos Nähe heute Nacht brauchen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie die Bilder auf jemanden wirken mussten, der noch nie etwas Ähnliches erlebt hatte. Auf leisen Sohlen schlich ich durch die Wohnung, um mich fürs Bett fertig zu machen. Durch die Ehe mit Maria hatte ich bereits Übung darin. Es hatte sie immer aufgeregt, wenn ich spät von der Schicht kam und sie aus Versehen weckte. Häufig hatte ich darum auf der Couch im Arbeitszimmer geschlafen. Dann wachte sie nicht auf, wenn ich mich neben sie legte. Etwa eine halbe Stunde später hatte ich es endlich geschafft und lag im Bett. Ein kurzes Gebet, dann war ich auch schon eingeschlafen.   In der Nacht erwachte ich durch ungewohnte Geräusche im Schlafzimmer. Brummelnd öffnete ich die Augen, um Chico herauszuschicken, von dem ich glaubte, dass er meine Gutmütigkeit ausnutzen wollte, um sich ins Bett zu schleichen. Doch zu meinem Erstaunen stand der Punk neben dem Bett. Er hatte mich geweckt, als er die Decke darauf warf. Ich drehte mich wieder herum, wartete darauf, dass er das Zimmer verließ. Stattdessen hörte ich ihn jedoch weiterhin hinter mir. Über die Schulter hinweg sah ich nach, was er tat, und erwischte ihn dabei, wie er sich gerade auf die andere Seite des Bettes legte. Soweit ich das erkennen konnte, hatte er sich einfach ausgezogen und zog sich nun die Decke über den Kopf. Nur noch ein Teil seiner Haare schaute oben heraus. Zuerst wollte ich etwas dazu sagen, ihn rauswerfen und klarmachen, dass er nichts in meinem Bett verloren hatte, doch dann ließ ich es sein. Ich wusste nicht, ob ihm überhaupt klar war, wo er sich befand. Vielleicht dachte er, er sei in seiner eigenen Wohnung auf der Couch eingeschlafen und wollte ins Bett gehen. Und selbst wenn nicht: Er war sicher mindestens genauso müde wie ich und meine Couch nicht gerade bequem. Konnte ich ihm da böse sein, wenn er einfach das nächstbeste Bett wählte und nicht noch durch das Treppenhaus wanderte? Außerdem würde er mich schon nicht stören. Er hatte mir den Rücken zugedreht und lag am anderen Ende des Bettes. Keiner von uns würde umkommen, wenn ich ihn einfach dort liegen ließ. Hoffte ich zumindest. Denn es machte mich durchaus nervös. So nervös, dass ich mich zu ihm drehte und ihn beobachtete. Lange bekam ich kein Auge zu. Die Angst, er könnte es sich anders überlegen und sich an mich kuscheln, hielt mich wach. Wobei weniger die Angst, als vielmehr die Tatsache, dass ich nicht sicher war, ob ich den Gedanken wirklich abstoßend fand. Ich kuschelte nicht gern beim Schlafen, daran hatte ich mich in den ganzen Jahren meiner Ehe nie gewöhnen können, dennoch hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass es vielleicht doch nur halb so schlimm wäre, wenn er näher heranrutschte. Nicht angenehm, aber doch aushaltbar und auch etwas wohltuend. Ich schob es darauf, dass mir seit der Trennung durchaus körperliche Nähe fehlte und dieser schreckliche Tag auch an mir nicht spurlos vorübergegangen war. Wie musste es erst für jemanden wie ihn sein? Sicher, er hatte vermutlich in seiner Zeit beim Rettungsdienst auch schon die ein oder andere schreckliche Verletzung gesehen, aber so eine massenhafte Zerstörung? Das bezweifelte ich dann doch. Mich erinnerte es stark an meine Zeit in Somalia. Daher war ich auch wahrlich froh, nicht in der Nähe der Explosionen, sondern am anderen Ende der Strecke gewesen zu sein. Das klang vielleicht schrecklich, aber ich wollte die Verletzten nicht sehen, wollte die Explosionen nicht hören und den Geruch nicht riechen. Davon hatte ich in meinem Leben genug gehabt. Zumal ich wirklich nicht einschätzen konnte, ob ich dann noch immer mit so ruhigem Kopf hätte arbeiten können. Erneut kratzte ich über die Narbe. Jetzt, wo alles ruhig war, kamen die Bilder wieder. Nicht nur die vom Nachmittag, sondern auch jene von vor zwanzig Jahren. Und damit auch das Ziehen in der Brust, das immer mit den Erinnerungen einherging. Ich sollte schlafen, sonst würde es mich noch länger wachhalten, als der Punk es bereits tat. Ich streckte die Hand aus und legte sie leicht gegen seinen Rücken. Gerade so fest, dass er es nur spürte, wenn er aufwachte, aber ich seine Wärme fühlen könnte, ohne ihn wirklich zu berühren. Vielleicht war er auch deshalb in mein Bett gekommen? Vielleicht wollte er nach einem solchen Tag genauso wenig allein sein. Kapitel 15: Soledad ------------------- Mit einem Handtuch um die Hüfte und einem in der Hand, mit dem ich mir die Haare trocken rubbelte, kam ich aus dem Bad. Bevor ich zur Arbeit fuhr, brauchte ich noch ganz dringend einen Kaffee. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Überrascht stolperte ich fast rückwärts wieder aus dem Wohnzimmer. Der Punk saß auf meiner Couch und goss sich Kaffee in eine Tasse. Wie von Geisterhand hatte sich der Tisch gedeckt. Wie hatte er das gemacht? Er war doch mit mir aufgestanden und direkt nach oben gegangen. So lange hatte ich doch nicht geduscht. »Ich dachte, du magst vielleicht noch was essen, bevor du fährst.« Er deutete auf den Tisch, wobei sich seine Augen, wie schon beim Aufwachen, an meiner Brust festsaugten. Ich war nicht sicher, ob die Narbe ihn faszinierte oder anwiderte. Wenig begeistert setzte ich mich. Was wollte er denn? Hoffentlich nicht über die Nacht sprechen. Da gab es nichts zu reden. Wir hatten einen schrecklichen Tag gehabt und beide die Nähe eines anderen Menschen gesucht. Daran war nichts Verwerfliches oder Ungewöhnliches. Doch er sagte gar nichts und schnappte sich etwas von dem Rührei. Verwundert registrierte ich auch den Speck. Er hatte sich wirklich an den Herd gestellt, während ich duschen war? Das machte die Stille zwischen uns noch unangenehmer. Ich schluckte und griff mir ein Toast. Ich musste etwas sagen. »Danke dir fürs Essen. Das war wirklich nicht nötig. Wegen heute Nacht ...« »Lass es«, schnitt er mir das Wort ab. Erneut huschten seine Augen kurz über meine Brust. »Es war nichts. Ich hatte keine Lust, nach oben zu gehen, das war alles. Es gibt nichts, worüber wir reden müssten.« Erleichtert nickte ich. Jedoch blieb das dumpfe Gefühl, dass es doch etwas gab, worüber wir hätten reden sollen. Das war etwas Anderes gewesen, als alles, was bisher zwischen uns passiert war. Vor allem, wenn man bedachte, wie das letzte Mal ausgegangen war. Trotzdem schwieg ich. Ich wollte nicht darüber reden oder nachdenken. Schnell griff ich mir die Kaffeekanne und goss mir ebenfalls etwas ein.   Während des Essens schwiegen wir und ich musste feststellen, dass es gar nicht so schlecht war. Aus Ermangelung eines anderen Themas teilte ich ihm das letztendlich auch mit. »Danke. Komm nach der Schicht zu mir hoch«, antwortete er darauf und stand auf. »Was? Schon wieder? Wir haben doch gerade ...« »Nicht dafür«, schnitt er mir das Wort ab. »Du wirst vermutlich wieder den ganzen Tag arbeiten, oder? Ich koch heute Abend, dann kannst du dir etwas holen. Ich leg dir meinen Schlüssel auf die Kommode.« »Danke?«, erwiderte ich überrascht. Ich hatte eher damit gerechnet, dass er schon wieder ... »Und ich will von dir kein Wort mehr über letzte Nacht oder heute Morgen hören! Dass wir Sex in deinem Bett hatten, hat überhaupt nichts zu bedeuten. Du warst einfach da. Nicht mehr, nicht weniger.« Ich nickte und sah ihm dann nach, wie er meine Wohnung verließ. Geschafft schlug ich die Hände vor dem Gesicht zusammen. Er hatte recht, das war nichts, worüber wir reden mussten. Wir hatten noch halb geschlafen und brauchten etwas Nähe. Es war nichts anderes gewesen, als hätten wir es auf seinem oder meinem Sofa getrieben. Maria hatte mich und Jenaro immerhin auch in unserem Ehebett erwischt. Ich trank meinen Kaffee aus und zog mich an. Die Arbeit rief, ich hatte keine Zeit, mich mit solchen Nichtigkeiten aufzuhalten.   Der Punk seufzte genüsslich und drückte sich dichter an mich. Er schien sich meine Aussage mit der Gummipuppe wirklich zu Herzen genommen zu haben. Schon am Vortag hatte er deutlich gezeigt, dass es ihn doch nicht so kalt ließ, wie er mich bisher hatte glauben lassen. Da ich ihn jedoch noch immer nicht anfassen durfte, schlang ich meinen Arm fester um ihn. Diesmal war ich in seinem Bett gelandet. Ich war am Vorabend erst nach Mitternacht nach Hause gekommen und wollte eigentlich nur Chico holen, um die Nacht nicht allein in der Wohnung sein zu müssen, doch Mat wachte auf, als ich zur Tür hereinkam. Ohne auf meine Widerworte zu achten, wärmte er das Abendessen in der Mikrowelle auf. Im Halbschlaf, hustend und nur mit einer Jogginghose bekleidet saß er neben mir auf der Couch und wartete schweigend, bis ich das undefinierbare Reisgericht, das mich etwas an ›arroz con pollo‹ erinnerte, aufgegessen hatte. Die einzigen Worte, die er sprach, war die Frage, wann ich am nächsten Tag auf Arbeit sein musste. Normalweise hasste ich ja Nachtschichten, aber die Hoffnung darauf, nach zwei Achtzehnstundenschichten hintereinander, die auch noch auf meine eigentlich freien Tage fielen, mal wieder ausschlafen zu können, stimmte mich froh. Kaum hatte ich die Frage beantwortet, zog er mich an der Hand von der Couch und in sein Schlafzimmer. Sein Griff war nicht fest, aber bestimmt. Hätte ich nicht mit ihm gehen wollen, wäre es nicht schwer gewesen, ihm meine Hand zu entziehen. Die Tür lehnte er an, ließ mich los und zog sich wortlos aus. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging er ins Bett, drehte mir den Rücken zu und zog sich die Decke wieder über den Kopf. Einen Moment stand ich daneben, dann rang ich mich dazu durch, der stummen Aufforderung nachzukommen. Diesmal war er es, der die Hand nach mir ausstreckte. Dass wir nun schon wieder Sex hatten, lag lediglich daran, dass er mich darum gebeten hatte. Er hatte nach meiner Hand gegriffen, mich an sich gezogen und mir zugeflüstert, dass er ficken wollte. Über die Wortwahl konnte man streiten, über das Angebot jedoch nicht. Ich wusste nicht genau, warum ich bereits den zweiten Tag mit ihm schlief, aber ich hatte das Gefühl, diese körperliche Nähe zu brauchen. Und er gab sie mir, ohne unnötige Fragen zu stellen. Hätte es jemand Anderen gegeben, der das für mich getan hätte, wäre das sicher meine erste Wahl gewesen. Jeder war besser als dieser Punk. Chico, der an unserem Fußende lag, stellte die Ohren auf. Ich nahm es nur aus den Augenwinkeln wahr und wollte ihn gerade des Bettes verweisen, damit er nicht meinte, es wäre Zeit zu kuscheln, da hörte ich ebenfalls ein Geräusch. Jemand war an der Haustür. »Hat noch jemand deinen Wohnungsschlüssel?«, flüsterte ich und zog schnell die Decke über uns. »Das ist mein Bruder.« Watkins bedeutete mir, leise zu sein. Was vielleicht leichter gewesen wäre, hätte er seinen Arsch nicht noch fester gegen mich gedrückt. Der Bruder rief ein paar Mal seinen Namen, bevor er ins Schlafzimmer stürmte. In der Tür blieb er stehen und starrte uns an. In seinem Gesicht arbeitete es, innerhalb von Sekunden spiegelte sich eine ganze Palette an Gefühlen darin. Zwischen Entsetzen und Ärger blieb sie letztendlich stehen. »Nimm deine Drecksgriffel von Mat!« »Ich fass ihn gar nicht an.« Ich hob die Hände unter der Decke hervor. Dass sich der Ärger im Gesicht des Bruders verstärkte, war Genugtuung genug. Er hatte mir gar nichts zu sagen! Drohend kam er auf mich zu. Chico sprang knurrend auf und stellte sich schützend vor uns. »Ruf deinen Mistköter weg!« »Chico, acuéstate!« Auch wenn Watkins es nicht ganz richtig aussprach, hörte mein Hund sofort und legte sich hin. Dennoch blieb er zwischen uns und dem Bruder und behielt die Ohren aufgestellt. Der Punk richtete sich etwas auf. »Peter, was willst du hier? Ich hab dich nicht gebeten, herzukommen.« »Du hast dich nicht mehr gemeldet. Du hast mir geschrieben, dass du verletzt bist, und dann hast du nicht mehr geantwortet. Ich wollte sichergehen, dass es dir gutgeht. Aber scheinbar lässt du dich ja lieber von dem Bullenschwein ficken, statt mir mal zu schreiben. Dass ich zu Hause sitze und mir Gedanken mache, ob du in Lebensgefahr schwebst, ist dir ja egal.« »Ich hab dir gesagt, dass ich nur leicht verletzt bin, und muss mich um die Jungs kümmern. Ich hatte keine Zeit für dich.« »Ach, bezahlt dich der Wichser wenigstens?« Sobald der Bruder einen Schritt auf uns zumachte, sprang Chico wieder auf. »Peter, raus! Das muss ich mir auch von dir nicht bieten lassen. Verschwinde!« Watkins strich Chico über den Kopf, der sich daraufhin wieder hinlegte. »Wie du schon richtig festgestellt hast, ficken wir gerade. Und damit würden wir gern ohne Zuschauer weitermachen.« Der Bruder schnappte ein paar Mal nach Luft, dann machte er zwei Schritte rückwärts und schlug die Tür zu. »Viel Spaß und lasst den Köter da raus.« »Werden wir haben«, rief der Punk ihm hinterher und scheuchte Chico mit einer Handbewegung vom Bett. Dann sah er fragend über die Schulter. »Alles okay?« »Glaubst du wirklich, ich lass mich von deinem Bruder einschüchtern?« Der Typ war absolut daneben, aber das war noch lange kein Grund, Angst vor ihm zu bekommen. »Nein, aber du ziehst den Schwanz ein.« Verschmitzt grinste Watkins und drückte mir seinen Hintern entgegen. Mit einem leisen Grollen packte ich ihn an den Schultern und drückte ihn bäuchlings aufs Bett. »Ich zeig dir jetzt gleich mal, wer hier den Schwanz einzieht!« Irgendetwas murmelte er noch, doch das ging in einem Stöhnen unter. Kapitel 16: Cobarde ------------------- »Achso, Mat, warte mal kurz. Magst du Sonntag zum Essen runterkommen? Ich wollte Steaks machen.« »Was willst du dafür?«, fragte er mit unverhohlener Skepsis und drehte sich an der Tür zum Flur noch einmal um. Natürlich, ihm war klar, dass ich ihn nicht nur aus Nettigkeit einlud. Immerhin waren wir mit dem Essen bereits quitt. In der Woche nach dem Anschlag hatte er jeden Tag für mich mitgekocht, in der letzten Woche hatte ich mich dann revanchiert. Meine Schulden waren also beglichen. Ich haderte noch, doch im Grunde blieb mir nichts anderes übrig, als ihn danach zu fragen. Alles andere wäre unverantwortlich. »Ich wollte dich bitten, morgen Abend auf Chico aufzupassen.« Er zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Musst du schon wieder Sonderschichten schieben? Gönnen die dir gar keine freien Tage?« »Nein, ich hab ein Date.« Es fiel mir schwer, ihm das zu sagen, doch ich hatte keine Lust, ihn anzulügen. Er sollte es wissen. Genau darum tat ich das doch! »Ein Date?« In seiner Stimme lag etwas bemüht Kontrolliertes. Er versuchte, irgendetwas zu verbergen. Doch auch in seinem Gesicht konnte ich nicht erkennen, was er fühlte. Er hatte es perfekt drauf, seine Gefühle zu verbergen. »Wie heißt denn der Glückliche?« »Sie! Ich bin keine Schwuchtel!« Niemals würde ich mich mit einem Mann treffen! So schnell wie der Punk plötzlich direkt vor mir stand, konnte ich gar nicht schauen. Seine Haltung machte tatsächlich einen drohenden Eindruck. Damit hatte ich nicht gerechnet. Breit baute er sich vor mir auf und funkelte mich an. »Ein scheiß Kinderficker, das bist du!« Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, etwas zu erwidern, da schubste er mich an den Schultern zurück. »Ein widerlicher Feigling! Keinen Arsch hast du in der Hose!« Ich packte seine Hände und hielt ihn fest, bevor er richtig handgreiflich werden konnte. »Halt die Fresse! Dich geht es gar nichts an, mit wem ich mich treffe.« »Nichts werd ich tun! Wenn du zu viel Schiss hast, zuzugeben, dass du jedem Männerarsch hinterherschaust, der dir über den Weg läuft, und dich deshalb an kleinen Kindern vergreifst, dann geht es mich sehr wohl etwas an!« Er riss seine Hände los, starrte mich noch einem Moment feindselig an, dann drehte er sich um. In seinen Augen glitzerte es vor Wut. Bevor er zur Tür hinaus verschwand, murmelte er gerade laut genug, damit ich es verstand: »Ich hab geglaubt, du bist nicht so ein perverses Schwein wie die anderen.« Frustriert ließ ich mich auf die Couch sinken. Sofort kam Chico angelaufen, setzte sich dicht neben meine Beine und schubste meine Hand mit einem leisen Fiepen an. Er hatte uns von seiner Ecke aus beobachtet und es war mehr als deutlich, dass ihn die Auseinandersetzung verunsicherte. Zärtlich kraulte ich ihn hinter den Ohren. »Ich versteh es doch auch nicht, mein Junge.« Noch einmal fiepte er leise, dann legte er den Kopf auf meinem Bein ab. Offenbar beruhigte ihn die vertraute Sprache. Zumindest mir tat es gut. Es erinnerte mich daran, woher ich kam, wo ich hingehörte und was von mir erwartet wurde. Es sollte mich nicht interessieren, was dieser Mann von mir dachte. Ich musste diese Phase endlich hinter mich bringen. Anfänglich hatte ich noch gehofft, dass sich das von selbst erledigte, wenn ich nicht mehr jeden Tag zwölf bis achtzehn Stunden arbeitete. Solange hatte ich mir noch einreden können, dass ich einfach nur seine Nähe suchte, weil ich überarbeitet war. Doch auch nachdem wir die Attentäter gefasst hatten und langsam wieder Normalität einkehrte, verbrachten wir immer mehr Zeit miteinander und schliefen im Bett des anderen. Das musste ein Ende haben! Ich rechnete ihm die Hilfe hoch an, doch das war nicht die Art von Trost und Zuneigung, die sich gehörte. In mein Bett gehörte eine Frau, kein Mann! Und das möglichst schnell. Ich kraulte Chico noch einen Moment, dann stand ich entschlossen auf. Ich hatte vor morgen noch einiges zu erledigen und er musste auch noch raus. Über alles andere würde ich Sonntag mit dem Pater sprechen. Auch wenn es unangenehm war, hoffte ich, dass er einen Rat für mich hatte.   Grinsend beobachtete ich Chico, wie er gemeinsam mit Pepper über die Wiese jagte. Als dieser plötzlich stehenblieb und nach dem Spieltau schnappte, das ich geworfen hatte, rannte Chico ihn fast über den Haufen. Ich war froh, dem Jüngling und seinem Hund mal wieder zu begegnen. In den letzten Tagen war von ihnen nichts zu sehen gewesen, obwohl ich zur üblichen Zeit an der Wiese war, und ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Nun erfuhr ich, dass das Herrchen sich lediglich eine üble Erkältung eingefangen hatte. Noch immer sah er etwas verschnupft aus, aber er versicherte mir, dass er frische Luft brauchte. Mir machte es nichts aus, die beiden Hunde allein zu beschäftigen. Sie hatten schon gut zehn Minuten gebraucht, bis sie sich fertig begrüßt hatten. Es war offensichtlich, dass sie ihren liebsten Spielgefährten vermisst hatten. Chico landete unsanft auf der Nase, rappelte sich aber schnell wieder auf und verfolgte Pepper, bis er nach dem anderen Ende des Taus schnappen konnte. Knurrend verbiss er sich darin und zerrte daran. Pepper hatte nicht damit gerechnet und ließ das Tau los, woraufhin nun Chico damit über die Wiese preschte, bis Pepper ihn eingeholt hatte. Mit lautem Getöse zogen und schüttelten sie an den Enden. Keiner von ihnen wollte loslassen. Der junge Mann neben mir lachte vergnügt. Ich konnte mich ihm nur anschließen, die beiden waren einfach tolle Spielkameraden. Auch wenn wir uns nicht so häufig treffen konnten, hatten sie sehr schnell gelernt, sich auf das Spielverhalten des anderen einzustellen. Während Pepper hatte lernen müssen, dass Chico keine so große Fettschicht besaß, in die er beißen konnte, musste Chico lernen, dass Pepper es nicht mochte, in die Hinterflanke gebissen zu werden. Nach zwei Spieltreffen hatten sich beide daran gewöhnt. Während wir ihnen zuschauten, kam plötzlich ein fuchsfarbener Blitz von der Seite angeschossen und verbiss sich in der Mitte des Seils. Lachend suchten der Junge und ich mit den Blicken nach den Besitzern des Hundes. Die kleine, blonde Frau, die etwa im selben Alter wie Peppers Herrchen war, kam winkend auf uns zu. Offenbar war sie heute dran, mit Hachiko rauszugehen. Hachiko spielte gerne mit Pepper und Chico, auch wenn es ihm ab und zu zu wild wurde. Allein mit Chico kam er da schon etwas besser klar und verwies meinen Hund durchaus auch mal an seinen Platz, wenn dieser sich zu viel herausnahm. Während ich den Jungen nie nach seinem Namen gefragt hatte, hatten sich Hachikos Besitzer sofort vorgestellt, bevor die Hunde auch nur eine Chance hatten, miteinander zu spielen. Daher reichte ich Kamila auch wie immer erst einmal die Hand, dann tat es mir der Junge gleich. »Die beiden sind ja heute wieder in Topform. Hoffentlich wird es Hachiko nicht zu viel«, stellte sie mit einem dicken polnischen Akzent fest. Wie wir hielt sie den Blick auf die Hunde gerichtet. »Pepper und ich werden bald gehen. Ich bin noch immer sehr angeschlagen«, erwiderte der Junge mit verschnupfter Stimme. Kamila legte ihm mitleidig ihre Hand auf seine Stirn. »Warum bleibst du dann nicht zu Hause im Bett. Du machst es doch nur schlimmer.« Ich grinste in mich hinein. Etwas anderes als solch eine mütterliche Reaktion hatte ich gar nicht erwartet. So war sie nun einmal. Hätte ich nicht gewusst, dass sie glücklich mit ihrem Mann verheiratet war, hätte man manchmal meinen können, sie hätte es auf den Jungen abgesehen. Während die beiden noch darüber diskutierten, ob der Junge nicht vielleicht doch etwas frische Luft brauchte, wandte ich den Blick wieder zu den Hunden, denn ich hatte unschönes Knurren vernommen. Hachiko schnappte gerade nach Chicos Schnauze, welche sich mit drohenden Gebärden seinem Ohr genähert hatte. Offenbar waren sich die beiden im Gerangel in die Quere gekommen und wollten nun klären, wer an dem Spieltau zerren durfte. Da es bei Drohgebärden und In-Die-Luft-Schnappen blieb, mischte ich mich nicht ein. Sobald sich Pepper mit dem Seil aus dem Staub machte, war diese Meinungsverschiedenheit sowieso vergessen und sie hetzten ihm hinterher. Freudig übergab Pepper das Seil an sein Herrchen, da es die anderen beiden nicht mehr schafften, ihn einzuholen. Sofort bremsten sie ab und warteten geduldig darauf, dass das Spielzeug wieder für alle freigegeben wurde. Ihnen allen war klar, dass sie nicht ran durften, solange sie nicht die Aufforderung dazu erhielten. Der junge Mann wedelte immer wieder mit dem Tau vor der Nase seines Hundes herum. Drei paar Hundeaugen waren gebannt darauf gerichtet, doch nur Pepper konnte danach schnappen und versuchte es auch ein paar Mal vorsichtig, um seinem Herrchen nicht in die Hand zu beißen. Die anderen beiden saßen unruhig auf ihren Hintern und zappelten hin und her. Mehrmals erhob sich Chico von seinem Platz und robbte ein kleines Stück vorwärts. Dennoch hatte er zu viel Respekt, um sich ganz zu nähern. Das Tau wurde mir zugeworfen und nur einen Augenblick später saß Chico direkt vor meinen Fußspitzen und erhoffte sich, es direkt zu erhalten. Ich grinste ihn an und warf es weit auf die Wiese hinaus. Es brauchte einen Moment, bis er bemerkte, dass meine Hand leer war, dann sprintete er den anderen beiden hinterher. Obwohl er am weitesten entfernt gewesen war, kam Chico zuerst an, schnappte sich das Seil und rannte davon. Sichtlich verwirrt sah er Pepper hinterher, der plötzlich einen Zahn zulegte und an ihm vorbeisprintete. In der Hoffnung, bei seinem Kumpel etwas Spannenderes zu finden, ließ er das Tau fallen und rannte hinterher. Aus Angst, sie würden sich in Schwierigkeiten bringen, suchte ich die Umgebung nach etwas ab, was Peppers Aufmerksamkeit erregt haben könnte. Offenbar hatte er es auf einen Mann in etwa meinem Alter abgesehen, der am anderen Ende der Wiese in unsere Richtung lief. Schnell rief ich Chico zurück. Er blieb nach ein paar Schritten stehen, drehte sich um, als wollte er sichergehen, dass ich das ernst meinte, dann trottete er mit hängendem Schwanz zurück. Ich wollte gerade auch Pepper zurückrufen, damit der Junge seine Stimme nicht belasten musste, da hob der Mann die Hand zum Gruß. Fragend sah ich zu Peppers Herrchen, dessen Gesicht erstrahlte. Ohne auf Kamila und mich zu achten, lief er quer über die Wiese auf den anderen zu. War das etwa sein Vater? Ganz schön jung. Fragend sah ich zu Kamila, die Hachiko nicht zurückgerufen hatte und Peppers Herrchen grinsend hinterherschaute. Sie bemerkte es und sah mich an. »Keine Sorge, John hat sicher nichts dagegen, wenn Chico ihn auch begrüßt.« Besagter kam gerade bei mir an und sah fragend zu mir auf. Ihm schien noch immer nicht klar, warum er zurückkommen sollte, während Pepper und Hachiko den Mann ausgiebig begrüßten und dabei hinreichend Streicheleinheiten erhielten. An Kamila gerichtet fragte ich: »John?« »Ach, du kennst John noch gar nicht?« Schnell schüttelte ich den Kopf. »Na ja, kein Wunder, John ist auch schon lange nicht mehr mit Pepper hier gewesen. Offenbar hat er viel Stress auf der Arbeit. John ist Leonardos Mann.« Leonardos ... Was?! Ungläubig sah ich zu dem jungen Mann mit der Nerdbrille hinüber. Alles in mir krampfte sich zusammen, als gerade in dem Moment der ältere Mann seine Arme um den schmächtigen Kerl legte und ihn küsste. Das durfte doch nicht sein! Ich riss mich von dem Anblick los, als Kamila mir leise lachend den Ellenbogen in die Rippen stieß. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Aber deiner ist doch auch nicht zu verachten.« »Meiner?!« »Ich hab deinen Freund ein paar Mal mit Chico in der Stadt gesehen. Der ist wirklich süß, auch wenn ...« »Ich hab keinen Freund!«, unterbrach ich sie aufgebracht. »Das ist nur mein Hundesitter. Wie kommst du darauf?« Sie musterte mich eine Weile eingehend aus ihren grauen Augen. Offenbar zweifelte sie an dem Wahrheitsgehalt meiner Aussage. Gerade als ich dem noch einmal Nachdruck verleihen wollte, zuckte sie mit den Schultern und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich dachte nur, das könnte dein Freund sein, weil Chico ihn scheinbar genauso gern hat wie dich.« »Ich steh nicht auf Männer!«, machte ich ihr unmissverständlich klar. Hatte mir heute jemand ein riesiges Schild mit der Aufschrift ›Schwuchtel‹ auf den Rücken geklebt? Beschwichtigend hob sie die Hände. »Wie gesagt, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es tut mir leid, wenn ich von etwas Falschem ausgegangen bin.« Ich sah sie fest an und war mir sicher, sie sprach nicht die Wahrheit. Sie war noch immer der Meinung, ich ginge denselben Perversitäten nach wie Peppers Herrchen. Ich ballte die Fäuste und bemühte mich, in eine andere Richtung zu sehen. Nicht, dass sie noch bemerkte, dass sie gar nicht so weit daneben lag. Sie drückte mit einer Hand etwas fester gegen meinen Oberarm und fragte, als ich mich ihr wieder zuwandte, leise: »Eloy, ist alles okay? Bist du böse?« Energisch schüttelte ich den Kopf und griff nach Chicos Halsband, um ihn anzuleinen. »Nein. Es wird nur langsam frisch. Wir sollten gehen.« Da wir gerade mal Ende April hatten, entsprach es immerhin der Wahrheit. »Wir sehen uns hoffentlich bald wieder.« Der mitleidige Blick, den sie mir zuwarf, brachte mich fast zur Weißglut. Ruppig riss ich an Chicos Leine und holte das Spieltau. Ohne noch einmal den jungen Mann oder Kamila anzusehen, verließ ich die Hundewiese. Kapitel 17: Remordimiento ------------------------- Unruhig warf ich mich im Bett hin und her, zog mir die Decke über den Kopf, nur um sie ein paar Minuten später wieder herunterzuziehen. Im Wohnzimmer schüttelte sich Chico und stand einen Moment später im Türrahmen. Von dort aus beobachtete er mich kurz, bevor er hereinkam und sich direkt neben das Bett stellte. Die Schnauze legte er auf die Matratze. Ich schob sie mit der Hand weg. An den meisten Tagen hätte ich es toleriert, doch heute wollte ich nur noch allein sein. Ich war wütend. Nicht auf ihn, sondern auf mich und es tat mir auch leid, dass er darunter leiden musste, aber er war auch nicht ganz unschuldig an meiner Situation. Ich erhob mich und warf einen Blick auf den Wecker. Es war gerade mal zwei Uhr. Konnte die Nacht nicht endlich ein Ende finden? Ich ließ mich zurück in die Kissen fallen und fuhr mir mit den Händen durchs Gesicht, bevor ich mich doch entschied, noch eine Weile fernzusehen. Nachdem ich mich aus dem Bett bequemt und mir etwas übergezogen hatte, stolperte ich im Dunkeln ins Wohnzimmer, schaltete die Glotze an und wanderte weiter in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dort schlug mir der Geruch von kaltem Zigarettenrauch entgegen. Verärgert riss ich das Fenster auf. Warum hatte ich ihm bloß erlaubt, in meiner Küche zu rauchen? Das setzte sich überall fest und war nicht fortzubekommen. Mit dem Wasser setzte ich mich auf die Couch. Trotz der schlechten Behandlung von vorher kam Chico zu mir und wollte gekrault werden. Das rang mir automatisch ein Grinsen ab. Er hing eben doch sehr an mir. Das war beruhigend. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass der Punk mir seine Liebe streitig machte. Mat ... Es war erschreckend, wie viel mich sogar in meiner eigenen Wohnung an den Punk erinnerte. Dabei wollte ich doch gar nicht an ihn denken. Er war immerhin schuld, dass es mir so schlecht ging. Plötzlich fühlte sich mein Bett so leer an und es fehlte etwas. Daran war allein er schuld. Als ich vom Date nach Hause gekommen war, hatte er in meiner Küche gestanden, Kaffee getrunken und geraucht. Sein Blick war nur kurz auf mich gefallen, während ich die Essensreste im Kühlschrank verstaute. Überrascht fragte ich ihn, was er dort tat. Er reagierte gar nicht auf mich, ging nur an mir vorbei und rümpfte dabei die Nase. Alles, was er sagte, war: »Du stinkst nach Sex!« Danach war er aus meiner Wohnung verschwunden. Plötzlich hatte ich wieder das Gefühl, dass seine Aussage der Wahrheit entsprach und ihr Geruch noch immer in meinem Bart hing. Ich ging ins Bad, um ihn zum vierten Mal an diesem Abend zu shampoonieren und auszuspülen. Während ich mich abtrocknete, zwang ich mich, mir selbst im Spiegel in die Augen zu sehen. Das war gar nicht so einfach. Ich schämte mich vor mir selbst, vor den Lügen, die ich an diesem Abend erzählt hatte; der Frau und dem Punk. Dass ich nach ihr roch – und der Punk daher davon ausging, ich hätte mit ihr geschlafen – hieß nicht, dass es der Wahrheit entsprach. Zumindest nicht vollständig. Wir hatten es zumindest versucht. Doch wie so oft ließ mich meine Libido im Stich. Schon ganz zu Anfang mit Maria war das der Fall gewesen und wir kannten es auch gar nicht anders, dachten, das wäre normal, dass es eben manchmal länger dauerte, bis ich hart war. Während meiner Zeit bei der Army lernte ich dann, dass es nicht an mir lag. Danach war es nie wieder ein Problem gewesen, ich wusste, wie ich notfalls nachhelfen musste. Doch heute Abend hatte ich das nicht gewollt. Ich war mit ihr ausgegangen, um mir selbst etwas zu beweisen, die Sache mit dem Punk aus dem Kopf zu bekommen. An genau das zu denken, um meine Libido in Gang zu bekommen, hätte das Unterfangen ad absurdum geführt. Stattdessen hatte ich ihr ein paar schöne Minuten beschert und mich dann unter einem Vorwand aus dem Staub gemacht. Gut ging es mir damit jedoch nicht. Frustriert schlug ich gegen den Spiegel, der sofort an der Stelle splitterte. Ich warf noch einen letzten Blick in mein zerfurchtes Gesicht, dann verließ ich das Bad wieder. Als ich an der Haustür vorbei kam, blieb ich stehen. Ich musste nur ein Stockwerk nach oben gehen. Ihm gefiel es doch genauso wie mir, nicht allein zu sein. Er würde mich schon nicht rausschmeißen. So sehr konnte er mich gar nicht verachten. Wofür auch? Dass ich das moralisch Richtige tat und mir wieder eine Frau suchte? Ich hatte schon nach dem Schlüssel gegriffen, meine zweite Hand war auf halbem Wege zur Türklinke, da ließ ich ihn wieder fallen. Sein Blick hatte deutlich gemacht, was er von mir hielt: Er verachtete mich für das, was ich getan hatte. Genau wie ich mich selbst. Ich konnte es ihm nicht übelnehmen. Ohne wirklich einen Blick auf den Fernseher geworfen zu haben, schaltete ich ihn wieder aus und ging ins Bett. Ich kam nicht mehr weiter. Auf diese Art ging es weder vor noch zurück. Kapitel 18: Buscando ayuda -------------------------- »Hallo Eloy, komm rein.« Elmer hielt mir die Tür auf und deutete hinter sich in das Zimmer. »Hast du Chico gar nicht mitgebracht?« »Danke.« Ich betrat die Wohnung und konnte nicht anders, als mich neugierig umzuschauen. Es war schon fast ein Reflex, jede Einzelheit aufnehmen zu wollen, wenn ich eine Wohnung betrat, gleichzeitig war ich aber auch einfach neugierig, wie er wohnte. Ich hatte erwartet, dass seine Wohnung irgendwie anders war, dass man ihr ansah, dass hier ein Schwuler wohnte. Doch nichts. Es war ein ganz normales Wohnzimmer; keine pinken Couchen, keine knallbunten Teppiche, keine Regenbögen oder Glitzer an den Wänden. »Chico ist bei seinem Hundesitter, ich komme direkt von der Arbeit.« Elmer deutete auf die beige Couch, bot mir damit an, mich zu setzen. »Freut mich, dass du jemanden gefunden hast, das war sicher nicht leicht. Möchtest du etwas trinken?« »Wasser, danke.« Zu Chicos Hundesitter schwieg ich lieber. Er war am nächsten Tag natürlich nicht zum Essen gekommen und auch so ging er mir aus dem Weg, schlug jedes Gesprächsangebot meinerseits aus. Darum hatte ich letztendlich auch Elmer angerufen. Ich kam nicht mehr weiter. Er ging kurz in die Küche und kam einen Moment später mit zwei Gläsern und einer Flasche wieder, dann setzte er sich mir schräg gegenüber in den Sessel. »So, dann erzähl mal, was gibt es denn so Dringendes und warum konntest du nicht Mat anrufen? Es ist immerhin seine Aufgabe als Pate, dir in dringenden Angelegenheiten zur Seite zu stehen.« Ich sah ihm dabei zu, wie er Wasser in die Gläser goss und antwortete erst, nachdem ich einen Schluck getrunken hatte. »Das hier bleibt unter uns, oder? Mat erfährt hiervon nichts.« »Eloy, wenn ihr ein Problem habt und Mat deshalb seiner Aufgabe nicht nachkommen kann, dann muss ich mit ihm reden.« »Nein, es liegt nicht an Mat. Also nicht direkt«, druckste ich herum. Ich atmete tief durch. »Also wir haben ein Problem, aber das hat nichts mit der Gruppe zu tun.« Elmer legte seine Hand auf meinen Unterarm, doch ich zog ihn weg. »Ich weiß, dass ihr privat irgendwelche Zwistigkeiten habt, aber das schien doch mittlerweile geklärt zu sein.« »Ja, das dachte ich auch. Aber ... in den letzten Tagen geht er mir aus dem Weg und spricht nicht mehr mit mir.« Das machte mich fertig! Ich hatte versucht, mich zu entschuldigen, doch er blockte ab, sobald ich den Mund öffnete. Elmer riss die Augen auf. »Moment. Das klingt, als hättet ihr regelmäßig Kontakt?« Nervös strich ich mit den Händen über die Hose und durch die Haare. Ich wollte ihm das mit dem Punk und mir nicht erklären. Das ging ihn nichts an. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich ihm andernfalls mein Problem erklären sollte. Doch vorerst wollte ich es so versuchen. »Ja, sagen wir, wir haben halbwegs regelmäßig Kontakt. Genauer möchte ich nicht ins Detail gehen.« »Aha.« Mir gefiel sein Tonfall nicht. Er erregte in mir das Gefühl, dass er etwas ahnte. Zumindest reimte er sich ganz offensichtlich etwas zusammen, was sicher nicht besser war. »Tut mir leid Eloy, aber ich will mich nicht in eure privaten Angelegenheiten einmischen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das hat nur bedingt etwas damit zu tun. Es ist eher ... Ich hab letztens mit einer Frau geschlafen und seitdem ein schlechtes Gewissen.« »Aha. Wieso macht es dir ein schlechtes Gewissen?« Elmer versuchte, mir mit seinem Lächeln Mut zu machen. »Ich hab das Gefühl, ich hätte sie angelogen.« Mat verschwieg ich in der Hinsicht lieber. Immerhin hatte ich ihm auch etwas vorgemacht, so getan, als hätte es mir gefallen, dabei wäre ich lieber bei ihm gewesen. Doch das konnte ich ihm nicht sagen. Für ihn wäre es die Bestätigung, dass ich eine Schwuchtel war. »Ich hab ihr vorgelogen, dass mir das Date mit ihr gefallen hätte. Dabei hab ich mich nur mit ihr getroffen, um mir etwas zu beweisen.« Elmer verdrehte die Augen. »Muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Warum hast du dich mit ihr getroffen?« »Ich dachte, wenn ich mich mit einer Frau treffe und mit ihr schlafe, dann würde ich aufhören, ständig an Männer zu denken. Es hat nichts gebracht.« Bitter lachte ich auf. »Ich habe nicht mal einen hochbekommen. Stattdessen ist es schlimmer geworden, ich denke mehr daran als zuvor.« Genau wie an Mat. Dass er mich ignorierte, machte mich rasend. »Eloy, ich sag dir das jetzt nicht als Gruppenleiter, sondern als Mensch: Warum machst du es dir selbst so schwer? Welche negativen Folgen hätte es für dich, dir einzugestehen, dass dich Männer sexuell anziehen? Ich rede nicht davon, es in die Öffentlichkeit hinauszuposaunen, sondern einfach von dir persönlich. Das, was du da machst, wird dich auf Dauer krank machen. Dich selbst so zu verleumden ist nicht gut.« Unter Elmers eindringlichen Blick sank ich zusammen. »Ich hab das 20 Jahre geschafft. Warum jetzt nicht mehr?« Als er mir wieder die Hand auf den Arm legte, ließ ich es zu. Er würde eh nicht aufhören. »Ich hab da eine Frage, die ich mir schon stelle, seitdem du das erste Mal bei uns in der Gruppe aufgetaucht bist: Warum bist du nach Boston gekommen?« »Ich konnte nicht in El Paso bleiben. Meine Affäre war ein Kollege. Früher oder später hätte es die Runde gemacht und ich wollte vorher weg sein.« Verstehend nickte er. »Und warum ausgerechnet Boston? Es wäre doch sicher einfacher gewesen, woanders in Texas etwas zu finden, statt ans andere Ende der USA zu kommen.« »Ich ...« Genervt seufzte ich und legte den Kopf in die Hände. »Ja, okay. Vielleicht hab ich gehofft, dass ich hier etwas offener damit umgehen könnte. Weit weg von der Familie, sie hätten doch nie etwas mitbekommen.« »Und? Was ist daraus geworden?« Er setzte sich direkt neben mich, ohne seine Hand von mir zu nehmen. Ich schnaufte. »Ganz offenbar nichts. Es war auch nie ein fester Plan, eher eine Möglichkeit. Aber ich ... Ich bin wohl einfach zu feige.« »Vielleicht solltest du dir klar werden, was du möchtest? Der Einzige, der dir vorschreibt, dass du eine Frau an deiner Seite brauchst, bist du selbst.« Als er versuchte, mich an sich zu ziehen, rutschte ich weg und schüttelte seine Hand ab. »Und wie rechtfertige ich das vor Gott? Mir ist es egal, was andere Menschen über mich denken. Aber seinem Urteil kann ich mich nicht entziehen. Das kann niemand.« »Ich bin nicht wirklich religiös und kenn mich daher nicht aus, aber das letzte Mal, als ich mich mit einem Priester unterhalten habe, wurde mir erklärt, dass es keine Stelle in der Bibel gibt, die Homosexualität verbietet. Ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren.« Herausfordernd sah er mich an. Damit traf er einen Nerv bei mir. Selbst wenn mir Padre Herrera nicht immer wieder jede einzelne vorgebetet hätte, ich hatte früh angefangen, mich für die Bibel zu interessieren. Ich kannte die Geschichten mit ganzem Herzen.   Dennoch schaffte Elmer es, mich zum Nachdenken zu bringen. Zu jeder einzelnen Stelle, die ich ihm nannte, suchte er innerhalb weniger Minuten eine Gegenargumentation heraus. Bei manchen leuchtete mir die gegenteilige Interpretation direkt ein, bei anderen würde ich mich später genauer damit beschäftigen müssen. Doch das Ergebnis blieb dasselbe: Er schaffte es, dass ich zumindest unsicher wurde, was die biblische Argumentation anging, die mir immer wieder eingebläut wurde, seitdem ich Padre Herrera während meiner Pubertät das erste Mal von meinen Neigungen erzählt hatte. »Wurdest du nicht auch von einem Pfarrer in die Gruppe geschickt? Hast du noch einmal mit ihm darüber gesprochen?«, fragte Elmer, als mir nichts mehr einfiel und wir eine Weile geschwiegen hatten. Widerwillig stellte ich fest, dass er erneut seine Hand auf meinen Unterarm gelegt hatte. »Ja. Er findet es gut.« Zumindest, dass ich es schaffte, mich zu öffnen. Dass es dabei nur um körperliche Nähe ging, hieß er dagegen alles andere als gut. Er war zwar sehr liberal, aber so weit ging es dann doch nicht. »Er versucht immer wieder, mir zu erklären, dass ich lieben solle, wen ich möchte. Dabei geht es nicht um Liebe.« »Das verstehe ich. Ich glaube, bevor du dich in jemand anderen verlieben kannst, musst du dich erst einmal selbst akzeptieren. Es ist sicher nicht leicht, wenn einem das ganze Leben lang Familie und Kirche erzählen, dass etwas an einem falsch ist, aber deshalb wollte ich auch, dass Mat dein Pate wird.« Als ich verwundert zu ihm hinübersah, lächelte Elmer. »Er hat ebenfalls eine streng katholische Erziehung genossen. Ich hatte gehofft, es würde dir helfen, jemanden mit ähnlichen Erfahrungen und Problemen an deiner Seite zu haben.« »Danke.« Ich schätzte es, dass er sich darüber Gedanken gemacht hatte. »Ich denke, er hat mir genug geholfen. Und ich werd darüber nachdenken, was du gesagt hast.« Ich stand auf und hielt ihm meine Hand zum Abschied hin. Langsam wurde er mir zu aufdringlich. »Gern geschehen. Wenn du noch einmal außerhalb der Gruppe reden willst, ruf jederzeit an.« Ich nickte, auch wenn ich mir sicher war, dass ich das nicht tun würde. Er ging mir zu sehr auf Tuchfühlung. Wir gingen gemeinsam zur Tür und kurz, bevor er sie von innen schloss, fragte er noch: »Was ist das eigentlich genau zwischen dir und Mat?« »Nichts.« Ich zuckte mit den Schultern. Weder wusste ich darauf eine zufriedenstellende Antwort, noch wollte ich mir eine überlegen, die ich ihm hätte geben wollen. Dass der Punk und ich miteinander schliefen, ging diesen Kerl nichts an. Unzufrieden nickte er und die Tür fiel ins Schloss. Kapitel 19: ¡Dame una oportunidad! ---------------------------------- Ich hatte bereits den Schlüssel zu Mats Wohnung in der Hand, doch dann entschloss ich mich, lieber anzuklopfen. Er war mir die ganze Zeit aus dem Weg gegangen, da wollte ich nicht früh am Morgen ohne Ankündigung in seine Wohnung eindringen. So konnte er entscheiden, ob er mich einließ oder nicht. Jedes Mal, wenn ich in den letzten zweieinhalb Wochen versucht hatte, mit ihm über meine Erkenntnisse zu reden, hatte er mich nicht zu Wort kommen lassen und mich abgewürgt. Angeblich wollte er nicht wissen, was ich ihm zu sagen hatte, doch das glaubte ich nicht. Er hatte mich dazu gedrängt darüber nachzudenken, ich konnte mir nicht vorstellen, dass er nun auf einmal nichts mehr davon wissen wollte. Vielmehr schien es mir, dass er Angst davor hatte, auch wenn ich nicht verstand weshalb. Es war allein meine Sache. Doch diesmal hoffte ich, eine Chance zu bekommen. Er würde sich anhören müssen, was ich ihm zu erzählen hatte. Diesmal konnte er nicht sagen, dass es nichts mit ihm zu tun hätte. Ich wartete geduldig eine ganze Weile, bevor ich erneut klopfte, immerhin war ich nicht sicher, ob er überhaupt schon wach war. Wenn ich Nachtschicht hatte, brachte er Chico meistens erst am frühen Mittag nach unten. Ob deshalb, weil er selbst noch schlief oder weil er wollte, dass ich selbst in Ruhe schlafen konnte, wusste ich nicht. Da es jedoch meine letzte Nachtschicht war und ich morgen frei hatte, würde ich sowieso vor dem Abend nicht schlafen gehen, um mich wieder in einen angenehmen Rhythmus zu bringen. Auf das zweite Klingeln reagierte Chico mit einem leisen Bellen, wurde jedoch sofort zur Ruhe gebracht. Gut, sie waren zumindest da. Es hätte ja immer noch die Möglichkeit bestanden, dass sie unterwegs waren. Ein drittes Klopfen und endlich bewegte sich etwas in der Wohnung. Es dauerte einen Moment, dann öffnete ein komplett verschlafen dreinblickender Punk mit einem Ruck die Tür. »Was?!« »Hallo Mat. Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.« »Eloy«, knurrte er und rief dann nach Chico. Dieser kam sofort angerannt und begrüßte mich freudig. »Ich hätte ihn dir nachher schon runtergebracht.« Ich grinste, als ich sah, dass er nicht einmal geschafft hatte, die Jeans richtig zuzuknöpfen. Die Knopfleiste war leicht verschoben. Das war eben der Nachteil, wenn man nackt schlief und sich weigerte, Unterhosen anzuziehen. Warum er das tat, erschloss sich mir einfach nicht. »Ich weiß, danke, dass du auf ihn aufgepasst hast. Ich muss aber dringend mit dir reden und wollte nicht bis nachher warten.« »Wie oft denn noch: Deine alberne Selbsterkenntnisscheiße interessiert mich nicht! Es ist mir egal, was du tust.« Da er schon die Tür zuschob, stellte ich den Fuß dazwischen. »Es geht nicht um mich. Lass mich rein, ich hab keine Lust, das mit dir auf dem Flur zu besprechen.« Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als er mir direkt in die Augen sah. Wie so oft hatte ich das Gefühl, seine hellblauen Augen könnten sich in meine Seele bohren. Auch wenn es natürlich albern war, es wirkte jedes Mal wieder so, als könnte er dadurch die Wahrheit herausfinden. Zumindest war ich mir sicher, dass das Ziel der Aktion war. Daher schaute ich auch entsprechend offen zurück. Es war keine Lüge, ich musste etwas Wichtiges mit ihm besprechen. Letztendlich seufzte er und trat einen Schritt zurück. »Dann komm rein. Muss ja sehr wichtig sein, wenn du mich dafür weckst.« Zögernd nickte ich, wobei ich mir einen bösen Blick von ihm einfing. Ich sollte vorsichtiger sein, sonst verriet ich noch zu früh, dass es nicht so dringend war, wie ich tat. Doch ich hatte so schnell wie möglich mit ihm reden wollen, wenn ich schon endlich etwas fand, was ihn dazu brachte, mir zuzuhören. Und vielleicht konnte ich mich dann auch endlich bei ihm bedanken. Ohne den kleinen Stoß seinerseits hätte ich wohl noch ewig gebraucht, bevor ich endlich über meine Gelüste nachdachte. Im Wohnzimmer setzten wir uns auf die Couch, wobei Chico noch einmal vorsichtshalber checkte, ob ich nichts sagen würde, bevor er neben Mat auf die Couch sprang. Ich sah es nicht gern, doch ich hatte hier leider nichts zu sagen. Wenn ich den Hund jetzt herunterscheuchte, würde das nur wieder Streit geben und die Gelegenheit war vertan. »Also, was gibt es nun so Dringendes?«, fragte Mat mit schneidendem Unterton. »Ich hab endlich die Nachricht von der Staatsanwaltschaft bekommen, dass die Ermittlungen gegen Sergeant Klein aufgenommen werden. Was ich zusammentragen konnte, war ausreichend, um den Staatsanwalt davon zu überzeugen, dass an den Anschuldigungen etwas dran ist.« Mit offenem Mund starrte der Punk mich an. »Ich hatte den Antrag schon vor einiger Zeit gestellt, aber durch den Anschlag ist das wohl untergegangen und erst als ich vor ein paar Tagen noch einmal nachgefragt hab, kam das endlich in Gang.« Es dauerte lange, bis Mat sich rührte und selbst dann stand er einfach nur auf und lief durch das Wohnzimmer, bis er sich nach einer Weile zu fassen schien und in die Küche ging. Ich hörte die Kaffeemaschine und wartete, bis er mit zwei Tassen zurückkam. Eine davon drückte er mir in die Hand. Nun sah er schon deutlich ruhiger aus, wenn auch noch immer ungläubig. Unruhig drehte er die Tasse in der Hand. »Tut mir leid. Ich hab dir Unrecht getan ... Ich hab nicht erwartet, dass du wirklich dranbleibst. Danke.« Er hob den Blick, sah mir direkt in die Augen. Überraschenderweise glänzten seine feucht. Ich lächelte ihn an. »Schon gut. Mach dir aber nicht zu viel Hoffnung. Das ist alles schon ziemlich lange her. Ich weiß nicht, ob er wirklich noch eine Strafe bekommt für das, was er euch angetan hat.« »Ich weiß. Dennoch danke, dass du dich darum gekümmert hast. Wir werden sehen, was daraus wird.« Langsam normalisierte sich seine Miene wieder. »Wirst du an den Ermittlungen beteiligt sein?« »Nein. Ich habe mich von vornherein wegen Befangenheit davon ausschließen lassen.« »Warum?!« Einen Moment hatte ich Angst, er würde die Tasse fallenlassen, doch sie schwankte nur leicht. Ich sah ihm direkt in die Augen, wollte ihm deutlich machen, dass es mir vollkommen ernst war. »Weil wir miteinander schlafen.« »Falls du es vergessen hast: Wir schlafen nicht miteinander! Nicht mehr.« Er stellte die Tasse auf den Tisch und stand mit bemüht gefasster Körperhaltung auf. »Danke, dass du dich darum gekümmert hast. Ich würde jetzt gern noch ein wenig schlafen.« Knurrend knallte ich meine Tasse daneben und sprang auf. Kurz vor der Schlafzimmertür holte ich ihn ein. Während ich meine Arme fest um seine Hüfte legte, drängte ich ihn gegen die Wand. »Verdammt, jetzt hör mir doch endlich mal zu!« Er wand sich in dem Griff, kam jedoch nicht frei. Nach einem kurzen Versuch gab er es auf und dreht einfach nur den Kopf weg. »Es gibt nichts, wobei ich dir zuhören müsste.« »Bitte.« Ich lehnte meine Stirn gegen seinen Hinterkopf und streichelte mit den Daumen leicht über seine Haut. Ich wusste, wenn ich es schaffte, ihn zu besänftigen, würde er mir zuhören. Er rührte sich nicht mehr, schien abzuwarten. »Ich verspreche, ich werde nie wieder versuchen, einen auf Hetero zu machen. Es war albern. Ich hab versucht, mir etwas vorzumachen. Ich stehe nicht auf Frauen, wir hatten auch keinen Sex. Dafür hätte ich einen hochbekommen müssen. Aber es hat mich zum Nachdenken gebracht. Du hast Recht, ich steh auf Männer. Und vor allem steh ich auf dich. Bitte, gib mir noch eine Chance.« Ich lockerte den Griff etwas und er nutzte die Gelegenheit, um sich umzudrehen. Aus seinen Augen sprühte noch immer die Wut. »Das ist es also, ja? Darum hast du mir also geholfen. Ist gut, du bekommst deine ›Chance‹.« Er schubste mich zurück und ging fluchend ins Bad. Einen Moment sah ich ihm nach, dann drehte ich mich zu Chico, der sofort von der Couch sprang und auf seine Decke rannte. Warum war das alles so kompliziert? Ich hatte doch nur die Gelegenheit nutzen wollen, dass er endlich mit mir redete.   Als ich die Badtür aufgehen hörte, sprang ich von der Couch und lief ihm entgegen. »Es tut mir leid, so war das ...« Mat kam vollkommen nackt ins Wohnzimmer und würdigte mich nur eines knappen Blickes, bevor er ins Schlafzimmer verschwand. »Zieh dich aus und komm mit.« Was?! Ohne mich an seine sonstige Anweisung zu halten, folgte ich ihm. Was zur Hölle hatte er schon wieder vor? Er hockte auf allen vieren auf dem Bett, die Kehrseite in Richtung der Tür, und sah sich nach mir um, als ich hereinkam. »Gut, von mir aus, dann behältst du die Klamotten eben an. Aber beeil dich.« Wie erstarrt stand ich da und konnte mich nicht rühren. Was war bei diesem Mann eigentlich kaputt? Erst redete er wegen einer Lappalie wochenlang nicht mit mir, und wenn ich mich entschuldigen wollte, zog er sich einfach aus und bot sich mir auf so plumpe Art und Weise an? »Was ist? Das ist die einzige Chance, die ich dir geben werde! Entweder nutzt du sie jetzt oder du verschwindest und lässt mich mit dem Mist in Ruhe!« Er wollte wieder aufstehen, doch ich drückte ihn zurück. Scheiße, wenn das die einzige Sprache war, die er verstand, dann eben so! Dennoch ließ ich mich nicht hetzen, knöpfte mein Hemd langsam auf und öffnete die Hose. Ungeduldig wendete er sich wieder zu mir. »Wird’s bald mal was?« »Halt die Klappe und hilf mir! Von allein passiert da nichts.« Er rappelte sich auf und half mir aus der Hose, bevor er nach dem Kondom griff und sich vor mich hockte. »Vielleicht solltest du es mal mit Viagra versuchen, wenn du ihn allein nicht mehr hochbekommst.« Was erwartete er denn bitte? Dass, wenn er sich auszog, ich direkt steif wurde? Ich war doch keine zwanzig mehr! »Wie wäre es, wenn du endlich die Fresse hältst? Vielleicht würde es dann ja besser klappen!« »Alter Sack!« »Wichser!« Kapitel 20: ¿Es amistad? ------------------------ Mat drehte sich unter Stöhnen und Husten um und lehnte den Rücken gegen die Wand. Sobald der Hustenanfall vorbei war, ließ ich mich an seine Seite sinken, wobei ich den Kopf auf seine Brust legte. Er ließ sich zwar von mir nicht anfassen, genoss Körperkontakt aber sehr wohl, wenn er sich einen runterholte. Das wollte ich mir nicht entgehenlassen. Doch stattdessen griff er über mich hinweg zum Nachttisch und fischte nach den Zigaretten. Und als hätte mich das nicht schon genug irritiert, wanderte die andere Hand in meinen Nacken und kraulte mich. Das Gefühl war ungewohnt. Dennoch blieb ich, wartete ab, was er vorhatte. Kuscheln gehörte nicht zu den Dingen, die wir bisher miteinander geteilt hatten, und ich bezweifelte, dass er das ausgerechnet jetzt ändern wollte. Fragend sah ich zu ihm auf. Regelrecht ertappt zog er die Hand weg und wich meinem Blick aus. Um ihm zu zeigen, dass es für mich durchaus in Ordnung war, legte ich den Arm über seinen Bauch und streichelte mit dem Daumen sanft über seine Seite. Wenn er diese Nähe wollte oder brauchte, würde ich sie ihm nicht verwehren. »Dich macht es echt geil, mich beim Sex zu beleidigen, oder?«, stellte er mit belegter Stimme eher fest, als dass er fragte. Der strenge Blick verlor sich in einem erneuten Hustenanfall. Ich schnaufte. Mochte sein, dass mir die ein oder andere Beleidigung herausgerutscht war. Neben so einigen anderen Dingen; Manches netter, Anderes weniger nett. Ich war wirklich froh, dass er es nicht verstand, sonst hätte ich mich zügeln müssen. »Tu nicht so, als hätte es dich nicht angeturnt und als würdest du es nicht verdienen.« Provokant strich ich mit der Hand dicht an seinem Penis vorbei, der noch immer schwer auf seiner Leiste lag. »Pfoten weg!«, fauchte er und schob meine Hand grob fort. Seufzend legte ich sie auf seinen Bauch. Dieses Gehabe war doch einfach nur albern! Er nahm einen Zug von der Zigarette und pustete den Rauch von mir weg, dann fixierte er mich mit seinem Blick. »Wenn du mich noch einmal ›Stricher‹ nennst, fliegst du raus und kannst dir jemand anderen für Chico suchen! Ich kann zwar kein Spanisch, aber ich weiß, was ›puta‹ heißt. So schwer ist es nicht, das zu abstrahieren.« Obwohl es ihn zum Husten brachte, stützte ich mich auf seinem Bauch ab und richtete mich etwas auf. »Dann benimm dich nicht wie einer!« Genau das tat er doch! Kaum gab ich ihm die Information, die er wollte, wackelte er mit seinem Hintern vor mir herum und drängte sich mir geradezu auf, bot mir seinen Körper feil. Und ich Idiot hatte auch noch mitgemacht! Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, hatte ich mich darauf eingelassen. In mir kochte die Wut; auf ihn, auf mich, darauf, wie dumm ich war. Er schnaufte amüsiert, ignorierte meinen scharfen Ton und machte mich damit nur noch wütender. »Ich hab nur das getan, was du von mir erwartest. Du bist doch hier aufgetaucht und hast mir ein paar Brocken hingeworfen, damit ich dich wieder ranlasse. Ich hab dir die Chance gegeben, die du wolltest, mehr bin ich dir nicht schuldig.« »Ich wollte, dass du mir zuhörst!« Ich richtete mich weiter auf. »Oh, keine Sorge, das hab ich. Ich hab jede deiner Beleidigungen gehört. Oder meinst du das angetane Stöhnen?« Vollkommen gelassen sah er mir ins Gesicht, während ich ihn wütend anfunkelte, und nahm einen Zug von seiner Zigarette. Diese kleine Ratte! Jedes einzelne Wort, jede Handlung drehte er sich so zurecht, wie es ihm passte! Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem süffisanten Grinsen. »Was ist? Willst du mich wieder schlagen, weil ich recht habe? Nur zu.« Er drehte den Kopf und hielt mir seinen Kiefer provokant entgegen. Nun merkte ich auch, dass ich unbewusst die Fäuste geballt hatte. Ich löste sie und sprang auf. Sein spöttisches Schnauben verfolgte mich auch noch, als ich die Schlafzimmertür mit einem lauten Krachen hinter mir zuzog.   Im Wohnzimmer schrie ich meinen Frust in die Welt hinaus. Ich hasste es, wenn ich so war! Ich war zwar vielleicht aufbrausend, aber normalerweise neigte ich nicht zu Gewalt. Doch der Punk provozierte mich so lange, bis ich alle Vernunft vergaß. Kein anderer schaffte es so zuverlässig, mich auf die Palme zu bringen. Dabei verstand ich nicht einmal, warum es so eskaliert war. Er hatte einen vollkommen nachvollziehbaren Wunsch geäußert. Mit dem, was ich bisher über seine Vergangenheit wusste, war es mehr als verständlich, dass er nicht mit ›puto‹ beschimpft werden wollte. Es war unüberlegt gewesen, es überhaupt zu tun. Doch schon vor unserem Streit hatte mich seine Art, sich so anzubieten, wütend gemacht. Gleichzeitig war das Angebot zu verführerisch gewesen. Ihm Frust und Lust entgegenzuschreien, auch wenn er sie nicht verstand, war noch die beste Möglichkeit, sie zu zügeln. Dabei hatten sich, wie so oft bei ihm, Beleidigungen und Lustbekundungen vermischt. Ich konnte mich nicht mehr an alles erinnern, was ich von mir gegeben hatte, aber vieles war einfach nur paradoxes Gestammel gewesen. Warum also hatte ich so aggressiv auf seine berechtigte Bitte reagiert? Es hätte doch einfach gereicht, ihm zu sagen, dass ich es sein ließ. Versprechen konnte ich es kaum, aber es zumindest versuchen. Doch stattdessen hatte mich die Bitte wütend gemacht; auf ihn, auch mich, auf die ganze scheiß Situation! Ich bat ihn darum, mit mir zu reden, unsere Probleme zu klären, und er warf sich mir vollkommen leidenschaftslos an den Hals. Klar, auch sonst tat er immer so, als würde ihn das lediglich körperlich berühren, als würde es keine Lust in ihm entfachen, doch heute hatte er selbst die körperliche Komponente komplett auf mich abgeladen. Er hatte einfach nur seinen Körper für meine Ekstase zur Verfügung gestellt. Und genau das machte mich so wütend. Er ließ mich dastehen wie ein vollkommen selbstsüchtiges Arschloch. Dabei hatte ich doch nur versucht, das zwischen uns zu kitten. War es dafür nun zu spät? Nein, das wollte ich nicht einsehen! Das gerade hatten wir beide gemeinsam in den Sand gesetzt, das musste auch Mat einsehen. Vielleicht konnten wir dann endlich in Ruhe miteinander sprechen. Doch zuerst musste ich mich ein wenig abkühlen. Wenn ich so erregt wieder ins Schlafzimmer ging, würden wir sofort weiterstreiten. Nachdem ich unsere Tassen eingesammelt hatte, stellte ich erneut die Kaffeemaschine an und ging kalt duschen.   »Danke.« Mit einem leichten Lächeln nahm mir Mat die zweite dampfende Kaffeetasse ab, als ich sie ihm reichte. Ich nickte nur und setzte mich neben ihn aufs Bett. Er hatte sich die Decke bis zur Brust hochgezogen und in einem Buch gelesen, dass er sofort zur Seite legte, als ich ins Zimmer kam. Trotz der verfahrenen Situation musste ich grinsen. Noch immer wirkte sein Anblick mit Brille sehr ungewohnt, auch wenn ich ihn schon ein paar Mal beim Lesen gesehen hatte. Schweigend saßen wir nebeneinander und schlürften am Kaffee. Ich wusste nicht, wie ich es anfangen sollte. Es gab so vieles, was wir bereden sollten, was ich ihm gerne sagen wollte. Letztendlich entschied ich mich für den Auslöser des Streits. »Ich werde dich nicht mehr einen puto schimpfen. Es tut mir leid, ich habe nicht richtig nachgedacht.« Er nickte und starrte weiterhin auf das Bücherregal an der gegenüberliegenden Wand. Als er endlich sprach, klang seine Stimme rau vom Rauchen, im Aschenbecher hatten sich heute Morgen bereits drei Zigarettenstummel angesammelt. »Ich weiß nicht, was du von mir erwartest. Wir sind quitt. Was willst du denn noch?« Ich hielt ihn davon ab, sich noch eine vierte Zigarette zu nehmen, indem ich seine Hand festhielt, die danach greifen wollte. Er warf mir einen bösen Blick zu, zog sie dann aber mit einem Seufzen zurück. Das war für die frühe Stunde mehr als genug Tabak. »Ich möchte einfach nur endlich diese blöde Sache mit dem Date aus dem Weg schaffen.« Er verdrehte die Augen und wollte aufstehen, doch ich hielt ihn erneut fest. »Warum gibst du mir keine Chance, dir das zu erklären?« »Weil es nichts zu erklären gibt. Du hast dich mit der Frau getroffen, weil du zu feige bist, zuzugeben, dass du auf Männer stehst. Von mir aus, dann triff dich eben mit Frauen, ich kann es nicht verhindern. Aber ich werde verhindern, dass du dich an einem der Jungs vergreifst, wenn du endlich merkst, dass dir eine Frau nicht das geben kann, was du willst.« Er hatte eine drohende Haltung angenommen und seine Augen funkelten wütend. Ich schluckte. Ich hatte nicht erwartet, dass meine Gründe, mich mit einer Frau zu treffen, so offensichtlich waren. Auch wenn er mit einem Teil seiner Annahme falschlag. »Warum glaubst du so felsenfest daran, dass ich mich an einem der Jungs vergreifen würde? Ich habe kein Interesse an ihnen. Nein, stopp, hör mir zu, bevor du mir wieder reinquatscht! Ja, du hast recht, ich stehe auf Männer. Es fällt mir nicht leicht, das zuzugeben, aber ja, es stimmt. Aber ich würde nie im Leben eines der Kinder anfassen. Verdammt, das sind Kinder! Wie kannst du nur so etwas denken?« Mats Haltung hatte sich deutlich gelockert, auch wenn er zwischendurch die Arme verschränkt hatte. In seinem Gesicht stand jedoch deutlich die Verwunderung. Hätte er sich nicht so gut unter Kontrolle, hätte sicher sein Mund offengestanden. »Hast du gerade ...?« Ich seufzte und sah zur Seite. Ich konnte ihm das nicht noch einmal so direkt ins Gesicht sagen. Es war mir herausgerutscht. Es ihm zu sagen, hatte ich nie vorgehabt. »Ja, ich stehe auf Männer. Du hast mir den Anstoß gegeben, endlich darauf klarzukommen und es mir einzugestehen. Darum wollte ich auch unbedingt mit dir darüber reden.« Er löste die Arme und setzte sich zurück ins Bett. Er musterte mich eine Weile. »Ist das dein Ernst?« »Nein, ich erzähl dir das nur, damit du mich wieder ranlässt! Sag mal, was denkst du eigentlich von mir?« Er grinste leicht und zuckte dann ernst mit den Schultern. »Dasselbe wie von allen Männern: Sie sind Schweine und würden für Sex alles tun.« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Glaubte er das wirklich? »Warum schläfst du dann mit mir oder anderen Männern, wenn du so eine schlechte Meinung von uns hast?« Er lachte. »Weil ich auch nur ein Mann bin.« »Es geht dir also nur um den Sex?« »Habe ich dich jemals daran zweifeln lassen?« »Ich meine auch eher, weil ich nicht das Gefühl habe, dass es dir wirklich Spaß macht. Du bist mein Freund. Ich will nicht, dass du dich zu irgendwas gedrängt fühlst. Der Sex sollte unserer Freundschaft nicht im Weg stehen. Ich gebe lieber das auf als deine Hilfe. Die werde ich nämlich in nächster Zeit wohl öfter brauchen.« Ich versuchte, ihn anzulächeln, auch wenn es mir nicht ganz gelang. Zuzugeben, dass ich seine Unterstützung brauchen würde, war nicht leicht. Während ich sprach, hatte Mat sich verschluckt und wischte sich erstmal den Kaffee vom Kinn. Dann musterte er mich intensiv. »Du hast eine komische Definition von Freundschaft.« »Findest du?« Ich erwiderte den Blick. »Du hast mir geholfen und mir einen Arschtritt verpasst, als ich ihn brauchte. Ich denke, das ist das, was Freunde für einander tun.« Nachdenklich nickte er. »Ja, vermutlich hast du recht. Damit sind wir wohl quitt.« »Ich glaub nicht, dass das so funktioniert. Sollte das bei Freundschaft nicht egal sein?« Grinsend zuckte er die Schultern. »Keine Ahnung. Ich hatte nie viele Freunde. Und bei denen, die ich habe, war das nie eine Frage.« »Gut, dann haben wir das geklärt: Du bist und warst mir nie etwas schuldig.« »Ist gut«, erwiderte er wenig überzeugt. Offenbar brauchte er noch eine Weile, bis er sich an den Gedanken gewöhnt hatte. Ich fand es auch etwas komisch. Nie hatte ich über ihn als Freund gedacht, doch im Grunde kam er dem sehr nahe. Er war da, wenn ich ihn brauchte, und auch ich würde mich unwohl fühlen, ihn im Stich zu lassen. Also war es wohl eine ungewöhnliche Freundschaft, aber dennoch nicht weniger wert. »Wie steht es bei dir mit Frühstück? Oder hast du schon meinen Kühlschrank geplündert?« Er stand auf und suchte sich etwas zum Anziehen aus dem Schrank. Das Angebot würde ich sicher nicht ausschlagen. Das klang immerhin ganz nach einem Friedensangebot. Außerdem war er am Herd nicht ganz untalentiert. »Ich bin dabei. Soll ich dir helfen?« Kapitel 21: El Camino de la Libertad ------------------------------------ »Die Balustrade der Orgelempore wird von vier Holzcherubin gesäumt, die im achtzehnten Jahrhundert von Thomas Gruchy gespendet wurden. Er war Freibeuter und hat sie vermutlich von einem französischen Schiff gekapert, über die Tunnel, die bis heute unter dem Nordend verlaufen, in die Stadt geschmuggelt und dann an die Kirche verschenkt.« Interessiert sah ich auf das rote Backsteingebäude, an dem wir vorbeiliefen. Zuerst war ich skeptisch, als Mat vorschlug, mit ihm in die Stadt zu fahren, wenn ich nichts anderes vorhatte. Schließlich würde es unangenehme Fragen aufwerfen, wenn ich mit ihm gesehen wurde. Auch wenn er offiziell nichts getan hatte, seine Reputation war nicht gerade positiv und im Laufe der Zeit hatte sich auch mein Verdacht bestätigt: Er wurde nur aus Angst vor seinem Anwalt in Ruhe gelassen. Mittlerweile verstand ich auch warum. Ich hatte den Mann einmal im Gerichtssaal erlebt und war mehr als froh, dass er in dem Fall auf der Seite des Gesetzes stand. Der Kerl war so gut, vermutlich hätte er auch noch einen Freispruch erwirken können, wenn sein Klient vor den Augen der Jury ein Kind gefressen hätte. Mit dem wollte sich niemand anlegen. Letztendlich stellte es sich als Glücksfall heraus, mir von dem Punk die Stadt zeigen zu lassen. Er kannte nicht nur viele historische Fakten, sondern hatte auch allgemein viel zu erzählen. Allein in den letzten eineinhalb Stunden, die wir dem Freedom Trail vom Boston Common bis zur Old North Church gefolgt waren, hatte ich mehr über ihn erfahren als in den ganzen letzten Monaten. Jede Straße, jedes Gebäude, jeder einzelne Stein – ja, die ganze Stadt – schien einen Teil seiner Erinnerungen zu tragen. Und dennoch brach er häufig den ein oder anderen Satz ab, ließ ihn unbeendet und wandte sich einem neuen Thema zu. Er schien noch immer mehr zu verbergen als preiszugeben, überlegte sich sehr genau, woran er mich teilhaben ließ. Doch mir stand es nicht zu, nachzubohren. Ich sollte mich geehrt fühlen, dass er überhaupt so viel erzählte, so viel klärte, was mir bisher nur aus Andeutungen bewusst war. Dass er dabei dennoch vieles verschwieg, war nur natürlich. Mittlerweile hatten wir die Straße überquert und liefen auf der anderen Seite weiter der roten Markierung auf dem Bürgersteig nach. Da trotz des eher grausigen Wetters durchaus einige Touristen unterwegs waren, konnte ich mir gut vorstellen, wie anstrengend es sein musste, dem Weg zur Hauptreisezeit zu folgen. Rechts tauchte plötzlich mitten zwischen den Wohnhäusern ein Friedhof auf, der nur noch dank der Grabsteine als solcher zu erkennen war. Offenbar wurde dort schon lange niemand mehr beerdigt, dennoch wirkte es vollkommen unpassend. Eine grüne Wiese, verziert mit den aufrechten Steintafeln, nur mit dem roten Backstein, der überall in der Stadt verbaut war, vom Gehweg getrennt. »Das ist der Copp’s Hill Burying Ground«, erklärte Mat. »Er wird schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr benutzt, steht aber mittlerweile unter Schutz, weil hier einige wichtige historische Persönlichkeiten begraben liegen, wie zum Beispiel Prince Hall und Phyllis Wheatley.« »Prince Hall? Das war doch der Schwarze Freimaurer, oder?« Mit dem zweiten Namen konnte ich gerade nichts anfangen. »Ja genau. Auf dem Friedhof gibt es auch ein Denkmal, das können wir uns ja ein anderes Mal anschauen.« Mat deutete auf das Schild neben dem Eingangstor, das den Zutritt für Hunde verbot. Auch wenn Chico anfangs überhaupt erst der Grund gewesen war, warum Mat mich zu dem Ausflug hatte überreden können, störte er nun doch ein wenig. Ich hätte gern die ein oder andere Kirche auch von innen gesehen, doch durch den Hund ging das leider nicht. Ich fand es nicht fair, ihn davor anzubinden, zumal ich es mit den ganzen Touristen auch für eine schlechte Idee hielt. Also musste ich mir das für ein anderes Mal aufheben. Vielleicht wieder gemeinsam mit Mat. »Gibt es hier in der Stadt eigentlich noch mehr über die Freimaurer zu sehen? Soweit ich weiß, hat es hier doch eine ganze Menge gegeben.« Mat zuckte überfragt mit den Schultern. »Tut mir leid, damit hab ich mich nicht befasst. Aber ich denke schon, dass man noch das ein oder andere sehen kann, müsste man mal im Internet suchen. Ich weiß nur, dass die meisten der Tunnel auch von ihnen benutzt wurden.« »Wofür sind die überhaupt da?« In dem halben Jahr, das ich nun schon in Boston lebte, hatte ich noch nie von so etwas gehört. Das war das erste Mal. »Die wurden früher von Schmugglern benutzt, um an den Steuereintreibern vorbeizukommen. Hast du mal vom Brinks-Raub gehört?« Ich überlegte kurz, dann fiel es mir wieder ein und ich nickte. »Vermutlich haben die auch die Tunnel genutzt, um zu entkommen. Es gibt so gut wie keinen Keller im Nordend, der keinen Zugang hat, die meisten sind aber mittlerweile zugemauert oder eingestürzt.« »Die meisten?«, fragte ich skeptisch nach. »Die meisten«, bestätigte er, ohne weiter darauf einzugehen. Das war klar genug, um zu erkennen, dass er nicht mehr darüber erzählen würde. Dennoch machte mich das natürlich umso neugieriger, was es damit auf sich hatte. Wir liefen durch eine unscheinbare Gegend den Hügel hinab, vorbei an einem Parkhaus, hinter dem wir an einer großen, vielbefahrenen Straße nach links abbogen. Hier musste ich Chico deutlich enger nehmen, da ich befürchtete, dass ihn die Hektik mit den vielen Leuten und dem Verkehr zu viel werden könnte. Hoffentlich mussten wir dem nicht zu lange folgen. Leider wurde mir der Wunsch nicht erfüllt. Nach der Hauptverkehrsstraße mussten wir den Charles River über die Charlstown Bridge überqueren. Nun wurde Chico wirklich unruhig. Durch die Metallkonstruktion war es schon für meine Ohren sehr laut, ich wollte nicht wissen, wie es für ihn sein musste. Daher war ich auch heilfroh, als wir am anderen Ende ankamen. Mat deutete auf das Gebäude direkt neben uns. »Wollen wir etwas essen? Wir können uns draußen hinsetzen.« Skeptisch sah ich auf die Stühle und Tische, die in einer Einbuchtung in der Kurve standen, dann auf das Namensschild und schüttelte den Kopf. Das sah mir ein wenig nach Kette aus. »Mexikanisch kann ich dir sicher deutlich besser machen.« »Du willst für mich kochen?« Breit grinste er mich an. Ich zuckte mit den Schultern. »Warum nicht. Lass uns auf dem Rückweg noch eben einkaufen gehen, dann zauber ich uns richtig gute selbstgemachte Tortillas.« »Ich nehm dich beim Wort«, drohte er scherzhaft und deutete über die Straße auf einen Park. »Lass uns trotzdem kurz da rübergehen. Ich brauche eine Pause und Chico freut sich sicher auch, mal vom Asphalt runterzukommen.« Sofort willigte ich ein. Mat war schon auf der Brücke immer langsamer geworden und keuchte deutlich mehr als noch zum Anfang unserer Tour. Bereits kurz vor der Old North Church hatten wir an einem Brunnen eine Rast eingelegt und etwas von dem Wasser getrunken, das ich im Rucksack mit mir führte. Auch diesmal gab es wieder einen Brunnen, den Chico sofort nutzte, um ebenfalls seinen Durst zu stillen. Da er rassebedingt kaum hechelte, war es manchmal schwer, einzuschätzen, wie durstig er war. »Ich geh uns dort drüben ein Eis holen. Wünsche?« Während Mat sich auf einer Bank niedergelassen hatte, hatte ich neben dem Mexikaner ein Eiscafé entdeckt. »Ich komm mit.« Er wollte sich bereits erheben, doch ich drückte ihn zurück. »Ich schaff das schon allein. Bleib du hier sitzen und schau nach Chico. Ruht euch etwas aus.« Kurz murrte er, gab mir dann aber wenigstens eine vernünftige Antwort: »Zitrone oder etwas anderes fruchtig-saures.« Ich drückte ihm Chicos Leine in die Hand und machte mich dann wieder auf den Weg zurück über die Kreuzung, um ihm ein Fruchteis und mir ganz klassisch Schoko- und Vanilleeis zu besorgen. Kapitel 22: Pesadillas y besos ------------------------------ Schwer atmend riss ich die Augen auf, setzte mich auf und strampelte mich frei. Eine Explosion!? »Ist alles gut?« Irritiert sah ich mich nach der Stimme um, während die Bilder vor meinem geistigen Auge langsam verblassten. Der primitive Keller des Lehmhauses wich meinem Schlafzimmer. Beruhigt nickte ich. Doch keine Explosion, nur das Licht der Nachttischlampe, die Mat angeschaltet hatte, um mich aus meinem Albtraum zu wecken. Noch recht verschlafen blinzelte er gegen das Licht an und betrachtete mich mit besorgter Miene. Ich ließ mich langsam zurückfallen. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken.« »Schon gut, du kannst ja nichts dafür.« Er sah zu mir herunter, seine Hand legte sich auf meine Brust und fuhr mit vorsichtigen Bewegungen durch die krausen Haare. Ich schloss die Augen und fühlte mich in die Berührungen hinein. Sie waren beruhigend und ich konnte spüren, wie die Erinnerungen sich wieder in die Ecke verkrochen, aus der sie gekommen waren. Obwohl der Anschlag nun schon zwei Monate her war, hatte er einige Erinnerungen geweckt. Noch immer schlief ich in manchen Nächten sehr schlecht. Doch bisher hatte mich Mat nie aus einem Albtraum wecken müssen, obwohl er seit unserem klärenden Gespräch wieder regelmäßiger mit mir in einem Bett schlief. »Ist wirklich alles in Ordnung?« Seine Finger streichelten sanft über meine Wange. »Ja, es geht hoffentlich gleich wieder.« Das Bett wackelte etwas, als er noch näher rutschte. Er musste nun direkt neben mir liegen. Er klang ungewohnt vorsichtig, als er fragte: »Kann ich dir irgendwie helfen?« Ich öffnete die Augen, um seine Frage zu verneinen. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er sich meinem Gesicht näherte. Für einen kurzen Moment legten sich seine Lippen auf meine. Mein Herz setzte einen Augenblick aus, bevor es wie wahnsinnig wieder zu schlagen begann. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Was sollte das?! Mat starrte mindestens genauso verwirrt zurück und fuhr sich mit der Hand über den Mund. Sobald er ihn öffnete, um etwas zu sagen, legte ich meinen Arm um seinen Rücken, die Hand an seinen Hinterkopf und drückte ihn an meine Brust. Er sollte, um Gottes willen, den Mund halten! Nicht darüber sprechen, dann konnte ich vielleicht vergessen, dass es geschehen war. Ich hatte es doch kaum gefühlt. Einen Moment blieb er liegen, doch dann schüttelte er meine Hand ab und richtete sich auf. Bevor ich ihm sagen konnte, dass er einfach die Fresse halten sollte, stemmte er die Hände neben meinem Kopf aufs Bett und kam mir schnell näher. Diesmal war der Kuss nicht so schnell und federleicht, sondern hart und drängend. Für einen Moment spiegelte ich seine Bewegungen, genoss das Kribbeln und die Gänsehaut, die meinen ganzen Körper befielen. Dann erinnerte ich mich, wie falsch das war, packte seine Schultern und schob ihn mit zitternden Fingern von mir. Mit weit aufgerissen Augen sah er mich an, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Er schien selbst nicht begreifen zu können, was geschehen war. Ein gemurmeltes »Sorry« kam über seine Lippen, dann sprang er auf, befreite sich aus der Decke und hastete mit wenigen Schritten aus dem Zimmer. Ohne darüber nachzudenken, rannte ich hinterher. So einfach würde er mir nicht davonkommen! Erst im Flur, nur wenige Schritte von der Haustür entfernt, holte ich ihn ein. Ich packte seinen Arm und hinderte ihn an der weiteren Flucht. Er wehrte sich gegen meinen Griff. »Lass los! Es tut mir leid.« Doch ich dachte gar nicht daran. Wenn ich ihn nun gehen ließ, dann kam er nicht mehr wieder. »Bleib hier!« »Nein. Ich kann nicht. Das war ...« Weiter ließ ich ihn nicht kommen. Ich drückte ihn mit dem Rücken gegen die Wand. Es brauchte ein wenig Überwindung, doch dann presste ich meinerseits die Lippen auf seine. Danach waren wir quitt und er hatte keinen Grund mehr, zu verschwinden. Zuerst rührte er sich nicht, doch dann schlang er seine Arme um meinen Oberkörper und erwiderte den Kuss. Bisher hatte ich nur Maria so geküsst, aber das hatte sich nie so angefühlt. Dabei war es so falsch wie nichts anderes in meinem Leben. Keiner von uns sollte einen Mann küssen und es obendrein auch noch als schön empfinden. Doch das elektrisierende Kribbeln, das sich in meinem Körper ausbreitete, drängte den Ekel in den Hintergrund. Als ich mich löste, atmeten wir beide schwer und sahen uns erneut in die Augen. Der Unglaube, der sich in Mats Gesicht zeigte, war wohl derselbe, den auch ich verspürte. Was hatten wir gerade getan? Seine Arme lösten sich von mir und er wich meinem Blick aus. Ruhig verkündete er: »Ich geh hoch.« »Nein, bleib hier. Komm wieder mit ins Bett.« Ich hielt weiter seinen Arm fest. Ihn nun gehenzulassen, fühlte sich falsch an. »Du hast außerdem nichts an.« Er sah an sich herunter und schien es erst jetzt zu realisieren. Da ich automatisch seinem Blick gefolgt war, bemerkte ich, dass der Kuss auch ihn erregt hatte. Noch immer mit gesenktem Blick nickte er und schlich zurück ins Schlafzimmer. Schweigend legten wir uns jeder auf seine Seite und drehten uns die Rücken zu. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch fand ich keine Worte. Sollte ich mich auch entschuldigen? Immerhin hätte das nie passieren dürfen. Ich hatte doch nur gewollt, dass er blieb. Nun, da wir quitt waren, konnten wir einfach vergessen, dass es jemals geschehen war. Zumindest hätte es so sein sollen, doch noch immer spürte ich das Ziehen in meinen Lenden und das Verlangen, es erneut zu tun. Die Stromstöße machten süchtig. Ich musste es unterdrücken! Es war falsch. Kein richtiger Mann sollte einen anderen auf diese Weise küssen. Das gehörte sich nicht, das war mehr als nur körperliches Verlangen. Nach einer Weile, in der ich vergeblich versucht hatte, einzuschlafen, drehte ich mich wieder herum und legte meine Hand leicht gegen seinen Rücken. Die Nähe tat gut und ich schlief wenig später ein. »Mat? Eloy? Habt ihr noch einen Moment? Ich würde gerne noch kurz mit euch sprechen«, fragte Elmer nach der Gruppensitzung und bedachte uns mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete. Ich warf einen unsicheren Blick zu Mat, nickte dann aber, genauso wie er. »Dann setzt euch bitte noch mal.« Wir nahmen uns jeder einen der Stühle, die wir mit der Gruppe bereits zur Seite geräumt hatten, und setzten uns. Mat ergriff als erster das Wort: »Was gibt es denn?« Elmer setzte sich uns gegenüber und seufzte. »Das geht so mit euch nicht mehr weiter. Einer von euch muss die Gruppe wechseln. Ich leite an den geraden Dienstagen ebenfalls eine Gruppe, an der ihr gerne teilnehmen könnt.« Verwirrt sah ich von Elmer zu Mat und wieder zurück. Auch der Punk schien von dieser Aufforderung überrascht. »Warum? Wir haben doch nichts getan.« Elmer musterte uns abwechselnd eindringlich. »Ich habe den Eindruck, dass ihr nicht mehr offen sprechen könnt, wenn der andere dabei ist. Berichtigt mich, wenn ich damit falsch liege. Aber in der Gruppe müsst ihr ehrlich sprechen können. Wenn ihr euch gegenseitig daran hindert, ist es für alle besser, euch zu trennen.« Der Punk sah kurz zu mir, schwieg jedoch genau wie ich. Elmer hatte recht, doch weder Mat noch ich würden das zugeben. Seit ich gestern Morgen doch allein aufgewacht war, waren wir uns aus dem Weg gegangen. Als er Chico heute Nachmittag herunterbrachte, hatte sein Anblick bei mir sofort das Verlangen ausgelöst, ihn erneut zu küssen. Um dem zu entgehen, war ich schnell in die Küche geflüchtet. Doch er hielt sich ebenfalls nicht lange auf. Er legte nur die Leine in den Flur und ging wieder. Danach war es mir noch schlechter gegangen, was erstaunlich war, immerhin hatte ich in der Nacht kein Auge zubekommen. Mein schlechtes Gewissen und das starke Verlangen nach seiner Nähe hatten mich abwechselnd wachgehalten. Da ich nicht erneut eine solche Nacht erleben wollte – sie hatte sich im Dienst gerächt, sodass ich fast einen Unfall gebaut hätte –, nutzte ich die Gelegenheit und sprach in der Gruppe an, dass ich in den letzten Tagen einen Mann geküsst hatte, damit jedoch nicht klarkam, weil es mir so falsch erschien und gegen alles sprach, woran ich glaubte. Wäre der Punk nicht dort gewesen, hätte ich vermutlich deutlich besser darüber sprechen können, warum es mich so aus dem Gleichgewicht brachte. Aber mit ihm als Zuhörer war das unmöglich! Was sollte er denn von mir denken? Doch auch Mat war nicht ehrlich gewesen. Er hatte zwar ebenfalls erzählt, dass er in den letzten Wochen das erste Mal aus freien Stücken einen Mann geküsst hatte, doch auch er schwieg sich zu den Gründen, warum es ihm so schwerfiel, aus. »Ich nehme das jetzt mal als Bestätigung meiner Theorie«, beschloss Elmer, als er merkte, dass er vergeblich auf eine Antwort wartete. »Stimmt ihr mir auch zu, dass es besser wäre, wenn einer von euch in die andere Gruppe geht?« Während ich noch überlegte, schüttelte Mat bereits heftig den Kopf. »Nein, das wird nicht nötig sein.« Elmer zog eine Augenbraue hoch und betrachtete uns eingehend. »Ihr wärt also bereit, beim nächsten Mal noch einmal über die Sache zu reden, ohne um den heißen Brei herumzureden?« Ich sah zu dem Punk und schüttelte leicht den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich das nicht konnte. Doch er blickte einfach nur starr zurück und erklärte mit fester Stimme: »Ja.« »Nein!« Erwiderte ich prompt. Ich war nicht bereit, noch einmal darüber zu reden. Es war so schon schlimm genug gewesen, da alle versucht hatten, mir einzureden, dass nichts dabei war. ›Wer mit einem Mann schlafen kann, kann auch einen küssen.‹ Doch so einfach war das nicht! Das eine war Sex, Verlangen ohne die kleinste Verbindung. Küssen war etwas völlig anderes. Das war viel intimer. Selbst bei Maria hatte ich das gespürt. Der Punk knurrte leise, warf mir einen bösen Blick zu und stand auf. »Dann geh halt in die andere Gruppe!« Er verabschiedete sich knapp von Elmer und stampfte dann aus dem Raum. Seufzend sah ich ihm nach. Das hatte ich mit dem Nein doch gar nicht gemeint. »Also kommst du nächsten Dienstag wieder?«, fragte Elmer noch einmal nach. Ich zuckte mit den Schultern und erhob mich, um unsere Stühle wieder wegzustellen. »Ich weiß es noch nicht. Ich überleg es mir und schreib dir dann, okay?« »Klar.« Elmer lächelte und legte mir dann eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht solltest du auch mit Mat noch einmal reden?« Ich zuckte erneut mit den Schultern. Worüber sollte ich mit ihm reden? Ich wusste, dass er es genauso falsch fand wie ich. »Ich meine das ernst«, beharrte Elmer. »Bevor ihr das nicht miteinander geklärt habt, können wir euch auch nicht helfen.« »Was erzählst du da für einen Unsinn?« Wie kam er darauf, dass es mit dem Punk und mir zu tun hatte? Er verdrehte die Augen und lachte leise. »Eloy, es ist mehr als offensichtlich, dass das eine Sache zwischen Mat und dir ist. Die Jungs munkeln schon länger, dass da was zwischen euch läuft, nachdem ihr euch mittlerweile so gut versteht. Und das heute war mehr als offensichtlich. Vor allem Mats Abgang. Was immer da genau zwischen euch vorgefallen ist, einer von euch muss den ersten Schritt gemacht haben und erwidert habt ihr es beide. Wenn ihr wissen wollt, was los ist, dann müsst ihr miteinander reden.« Ich ließ es unkommentiert und gemeinsam verließen wir den Raum und das Gebäude. An meinem Auto blieben wir stehen und er legte mir schon wieder die Hand auf die Schulter. »Wenn du meine Meinung hören willst: Ihr solltet es versuchen. Euch kann doch eigentlich nichts Besseres passieren, als jemand, der die gleichen Probleme kennt.« »Danke.« Ich wand mich unter seiner Hand hervor und stieg ins Auto. Ich brauchte seine Ratschläge nicht! Sie änderten nichts daran, dass das alles vollkommen falsch war. Langsam, noch immer mit den Gedanken bei dem Punk, fuhr ich nach Hause. Kapitel 23: El hijo del hermano ------------------------------- Auf dem Weg beschloss ich, dass Elmer wohl doch recht hatte: Ich sollte versuchen, mit Mat zu reden. Schon allein wegen Chico. Vielleicht konnte ich Mat wenigstens dazu bringen, mir zu sagen, warum er das getan hatte. Dann wäre es leichter, damit abzuschließen. Jedoch hatte ich die Rechnung nicht mit ihm gemacht. Als ich dort klingelte, öffnete er nicht und das änderte sich auch nach hartnäckigem Klopfen und Schimpfen nicht. Daher holte ich den Schlüssel und ging mit Chico nach oben, um auf den Punk zu warten. Er würde mir nicht entkommen! Mit einem Kaffee machte ich es mir auf der Couch bequem und stellte den Fernseher an. Hoffentlich musste ich nicht allzu lange warten. Mein Wecker klingelte bereits um fünf Uhr wieder. Chico legte den Kopf auf meinem Schoß ab. Obwohl wir in der Wohnung des Punks waren, wusste er, dass ich ihn nicht aufs Sofa lassen würde. Dennoch warf er mir immer wieder treudoofe Blicke zu, während ich ihm hinter den Ohren kraulte. Noch bevor ich selbst etwas hörte, stellten sich Chicos Ohren auf und er lief schwanzwedelnd zur Tür. Lächelnd sah ich ihm hinterher. Manchmal konnte man meinen, er mochte den Punk mehr als mich. Ich hätte es ihm nicht einmal übelnehmen können. Immerhin kümmerte sich dieser sehr viel mehr um ihn. Ich blieb sitzen, wollte Mat nicht direkt überfallen. Obwohl ich seit fast einer Stunde wartete, hatte ich nicht darüber nachgedacht, was ich ihm sagen wollte. Auf jeden Fall sollte ich mich entschuldigen. Das sagte mir schon mein schlechtes Gewissen. »... nicht mehr ständig hin- und herschieben. Er braucht ... Ja hallo, Kumpel«, begrüßte der Punk meinen Hund freudig und störte sich nicht daran, dass dieser sich auf die Hinterbeine stellte und an ihm hochsprang. Dabei hatte er eine prallgefüllte Einkaufstüte in der Hand, die er schnell auf der Kommode in Sicherheit brachte. Als Chico genug Aufmerksamkeit bekommen hatte, lief er direkt auf mich zu, als wollte er dem Punk zeigen, dass es noch jemanden gab, den er begrüßen musste. Doch leider war ich nur halb so erfreut wie mein Hund, denn hinter Mat betrat dessen Bruder den Flur. Das war wohl auch der Grund, weshalb der Punk bisher keine Notiz von mir genommen hatte. Umso überraschter sah er mich an, als ich ihn begrüßte, ohne vom Sofa aufzustehen. »Hi. Was machst du hier?« »Ich wollte mit dir reden«, erklärte ich. Gleichzeitig erhob ich mich. »Aber ich denke, ich komme morgen wieder.« »Wie du meinst. Du kannst aber auch gern mit uns essen, es ist genug für alle da.« Mat deutete auf die Tüten. »Peter hat sicher nichts dagegen und Maxime wird sich vermutlich auch freuen.« Ich wollte gerade fragen, wer Maxime sei, als ich Kinderlachen aus dem Flur hörte. Da ich nur Augen für Mat hatte, hatte ich nicht mitbekommen, dass hinter seinem Bruder noch jemand die Wohnung betreten hatte. Neugierig warf ich einen Blick in den Flur. Dort stand ein kleiner, braunhaariger Junge und ließ sich begeistert das Gesicht von Chico abschlecken. Selbst wenn er der Piercingfresse nicht gerade erklärt hätte, dass er auch so einen Hund wollte, wäre unverkennbar gewesen, dass dieser der Vater war. Die Ähnlichkeit war nicht zu bestreiten. Vermutlich hätten sie sogar dieselbe Haarfarbe gehabt, hätte der Punk sie sich nicht, wie sein Bruder auch, schwarz gefärbt. »Sicher, dass ich nicht störe?« Mir war noch zu gut in Erinnerung, wie der Kerl bisher auf mich reagiert hatte. »Sicher. Du hast doch auch noch nichts gegessen, wenn du die ganze Zeit hier auf mich gewartet hast«, mutmaßte Mat. Nickend stimmte ich zu. »Dann geh den beiden eben Hallo sagen und dann komm in die Küche, du kannst mir helfen.« Auch wenn ich wenig Lust auf die Konfrontation hatte, ging ich in den Flur und pfiff erstmal Chico zurück, der so begeistert von dem neuen Spielgefährten war, dass er dem Vater keine Chance ließ, seinem Sohn die Jacke auszuziehen. Ich setzte ein professionelles Lächeln auf. »Guten Abend. Ich hoffe, es stört euch nicht, Mat hat mir angeboten, mitzuessen.« Mats Bruder warf einen kurzen Blick auf seinen Sohn, dann lächelte er ebenso freudlos zurück und hielt mir seine Hand hin. »Nein, sicher nicht. Wie war dein Name nochmal?« »Eloy«, antwortete ich und schüttelte kurz die Hand. Ich war mir nicht sicher, ob er es nicht doch wusste, mir jedoch zeigen wollte, dass er mich nicht leiden konnte. Es war egal, vor dem Jungen mussten wir keine Szene machen. »Peter war’s, oder? Und ich hab gehört, du bist Maxime?« Der Junge musterte mich einen Moment und nickte dann schüchtern. Die Hand seines Vaters ergreifend, wandte er sich an diesen: » C’est qui ? « »Das musst du ihn selbst fragen«, antwortete der Vater mit mahnendem Unterton auf Englisch. »Wer bist du?«, fragte der kleine Mann nach kurzem Zögern in perfektem Englisch. Soso, der Junge verstand uns also, wollte aber selbst nicht verstanden werden. Das hatte ich selbst in dem Alter viel zu oft getan, um ihm deshalb böse zu sein. Schmunzelnd antwortete ich: »Ich bin Eloy. Ein Freund von Mat.« »Ist das dein Hund?« Er deutete auf Chico, der sofort aufspringen wollte, doch ich gab ihm ein Zeichen, dass er bleiben sollte. Unruhig wippte er auf dem Hintern herum, rührte sich aber nicht vom Fleck. »Ja, das ist Chico. Wenn du magst, kannst du mit ihm spielen, während wir essen machen. Er freut sich bestimmt.« »Aber erstmal ziehst du Jacke und Schuhe aus«, mahnte sein Vater. »Du machst Onkel Mat sonst die ganze Wohnung schmutzig.« Während ich mich abwandte, um ein paar Leckerlis zu suchen, die Maxime verfüttern konnte, sah ich noch, dass er eine Schnute zog, sich dann aber helfen ließ, alles auszuziehen. Nachdem ich die Leckerchen übergeben hatte, machte ich mich auf den Weg zu Mat. Vater und Sohn blieben im Wohnzimmer. Mat war dabei Kartoffeln zu schälen und ohne weiter zu fragen, nahm ich mir die Paprika vor, die er bereits rausgelegt hatte. Dabei blickte ich über die restlichen Einkäufe. »Sicher, dass du nicht sowieso noch ein oder zwei Personen mehr eingeplant hast?« »Du weißt gar nicht, wie viel Maxime verschlingen kann. Der Junge ist gerade voll im Wachstum. Und vielleicht hatte ich ja auch vor, nachher noch zu dir runterzukommen und dich mit Essen zu bestechen.« Er grinste mich einen Moment von der Seite an, dann widmete er sich wieder dem Kochen. So, hatte er das also tun wollen? Auch wenn er so tat, als wäre das ein Witz gewesen, kannte ich ihn dafür mittlerweile viel zu gut. Ich grinste zu ihm herüber. »Wer sagt, dass ich mich mit Essen bestechen lasse? Ich kann auch ganz gut selbst kochen.« Er zuckte mit den Schultern. »Irgendeinen Vorwand hätte ich trotzdem gebraucht, um zu dir runterzukommen.« »Wäre mit mir reden nicht Grund genug?« Ich schmiss die gewürfelte Paprika in die Auflaufform und wusch die Möhren ab. »Klar. Aber ich hätte doch eh nicht gewusst, was ich sagen soll.« Mat warf die Kartoffeln zur Paprika, legte das Messer weg und drehte sich mir zu. »Hör zu. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich weiß, ich hätte dich nicht einfach küssen dürfen, ohne zu fragen, ob das für dich in Ordnung ist, aber ich wollte dich einfach beruhigen. Du schienst verdammt schlecht geträumt zu haben und mir ist in dem Moment einfach nichts anderes eingefallen. Ich weiß, dass Peter sich früher so sehr gut hat beruhigen lassen und ...« »Du hast deinen Bruder geküsst, um ihn nach einem Albtraum zu beruhigen?«, unterbrach ich ihn verwirrt. Der Punk lachte lauthals. »Nein! Natürlich nicht. Aber sein damaliger ... Freund? Also nein, das stimmt nicht. Peter hätte das zwar gern gehabt, aber ... ach ist doch egal. Jedenfalls hat dieser Peter früher beruhigt, indem er mit ihm gekuschelt hat und so weiter. Ich wollte einfach nicht, dass du direkt wieder einschläfst und dann an der Stelle weiter träumst, an der du aufgewacht bist. Tut mir leid, ich hätte das nicht tun sollen.« Er wirkte völlig aufgewühlt, was ich schon allein daran ablesen konnte, dass er sich beim Sprechen verhaspelte. Auch ich legte meine Arbeit beiseite und wandte mich ihm zu. »Ist schon gut. Lass uns das einfach vergessen.« »Tse, du hast also nichts dazu zu sagen?«, fragte er in provokantem Ton. »Was soll ich dir denn dazu sagen? Ich weiß nicht, warum ich es getan hab.« Ich konnte ihm doch nicht sagen, dass ich einfach nur mehr von diesem angenehmen Gefühl in meinem Körper wollte. »Du musst dir doch was dabei gedacht haben, als du mich mit deinem dreckigen Pferdefickermaul geküsst hast.« Es stieg deutlich Wut in ihm hoch. Klar, er beleidigte gerne mal andere Leute, aber bei mir hatte er das schon lange nicht mehr in diesem Maße getan. »Onkel? Kann ich noch Leckerlis für Chico haben?«, fragte plötzlich Maxime von der Tür her und sah mich mit großen Kinderaugen an. Hoffentlich hatte er Mats Ausbruch nicht gehört. »Tut mir leid, aber Chico bekommt auch gleich Abendbrot. Du darfst doch auch keine Süßigkeiten vor dem Abendessen haben, oder?« Er schien kurz zu überlegen, dann strahlte er. Ihm war wohl doch etwas eingefallen. Da war ich ja mal gespannt. »Wenn ich brav bin, dann darf ich bei Papa manchmal eine Kleinigkeit.« »Na gut. Wenn du es schaffst, dass Chico dir Pfötchen gibt, dann darf er noch ein Leckerchen bekommen.« Begeistert nickte Maxime und verschwand wieder ins Wohnzimmer. Dann war er wenigstens für die nächste Zeit beschäftigt. Der Punk griff mit einem amüsierten Grinsen nach seinem Messer und schälte die Zwiebeln. »Du bist gemein.« »Warum? Der Junge spricht doch französisch, oder? Er scheint mir recht pfiffig. Da müsste er doch darauf kommen können, dass Chico ihn nicht versteht.« Ich widmete mich ebenfalls wieder den Möhren. Wenn Mat das Thema von vorher vergessen hatte oder fallen lassen wollte, sollte mir das recht sein. »Schon. Aber Maxime wächst zweisprachig auf. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er schon begreift, dass nicht jeder die gleichen Sprachen spricht.« »Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass er das schon versteht. Er hat vorhin seinen Vater etwas auf Französisch gefragt, weil er nicht wollte, dass ich ihn verstehe.« »Na dann. Ich bin gespannt, ob er das auch auf Tiere übertragen kann.« Nachdem wir alles geschnitten hatten und der Gemüseauflauf im Ofen war, gingen wir nach drüben. Die Piercingfresse saß auf der Couch und sah seinem Sohn zu, wie dieser mit Chico spielte. Maxime saß vor dem Hund und legte sich immer wieder die Pfote in die offene Hand, während er ihm eindringlich erklärte: »Gib Pfötchen.« Er bemerkte, dass Mat und ich fertig waren, und erklärte fast schon beleidigt: »Chico macht das einfach nicht.« Ich lächelte, hockte mich vor Chico, wo mir Maxime bereitwillig Platz machte, und streckte die Hand aus. »¡Dame la pata!« Sofort folgte Chico dem Befehl und freute sich unglaublich, als ich ihm zum Lob hinter den Ohren kraulte und ihm begeistert sagte, was für ein feiner Kerl er sei. »Das ist nicht fair!«, befand der Junge und sah hilfesuchend zu seinem Vater. »Dann musst du wohl auch noch Spanisch lernen«, befand dieser und grinste leicht. »Oder du bringst Chico Englisch bei. Ein wenig kann er nämlich schon«, erklärte Mat und rief Chico zu sich. Freudig registrierte dieser, dass sein Lieblingsmensch etwas von ihm wollte und rannte schwanzwedelnd durch den kleinen Raum. Vor Mat blieb er stehen und setzte sich auf ein Handzeichen. Verwundert beobachtete ich, wie er begann, sich um sich selbst zu drehen, als der Punk ihm sagte: »Dreh dich!« Auf ein Handzeichen blieb er wiederum stehen und wartete darauf, gelobt zu werden. Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. »Du hast echt zu viel Zeit, wenn du mit ihm draußen bist.« »Vielleicht«, erwiderte der Punk grinsend und tobte etwas mit dem Hund, bis er durch Husten unterbrochen wurde. »Irgendwas Sinnvolles muss er doch zu tun haben.« Wie sinnvoll es war, dass mein Hund sich auf Befehl im Kreis drehte, war mal dahingestellt, aber immerhin schien es den kleinen Jungen zu amüsieren. Bis das Essen fertig war, ließ er es Chico immer wieder vorführen. Da es diesem nichts auszumachen schien und freudiges Loben ihm Lohn genug war, ließ ich sie machen. »Ich helf dir eben«, bot Peter an und folgte seinem Bruder in die Küche, als der Wecker piepte. »Ich wollte auch noch was mit dir bereden. Eloy, kannst du nach Maxime schauen?« »Äh, klar«, stimmte ich reichlich verwundert zu. Auf wildfremde Kinder aufzupassen, war nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. »Du kannst ihm ja von deiner Arbeit erzählen«, half Mat mir mit einem Zwinkern, bevor er die Küchentür schloss. »Was arbeitest du denn?« Der Junge hatte seine Schüchternheit mittlerweile abgelegt. »Bist du auch Musiker? So wie Papa und Onkel Mat?« Ich machte mich auf eine Flut von Fragen gefasst, als ich antwortete: »Ich bin Polizist.« Maxime machte große Augen. »So richtig mit Pistole und allem?« Ich nickte. »Ist Chico dann ein Polizeihund?« »Nein, dafür ist er zu aufgedreht.« Ich kraulte den Hund hinter den Ohren. »Aber er hilft Mat bei der Arbeit.« Die Fragezeichen standen Maxime regelrecht auf der Stirn, doch als er einen Moment nachgedacht hatte, fragte er: »Du meinst, wenn er bei den Kindern ist? Papa hat gesagt, dass Onkel Mat noch eine andere Arbeit macht.« »Ja, genau. Da geht Chico mit und macht ihnen eine Freude.« Der Junge gefiel mir. Er war wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Sein Vater war sicher mächtig stolz auf ihn. »Was möchtest du denn später mal werden?« »Ich weiß nicht. Vielleicht werd ich auch Musiker, so wie Papa. Ich lern auch schon ganz fleißig Flöte. Wenn ich alle Zähne hab, darf ich Trompete anfangen! Aber Mama sagt, ich hab noch ganz viel Zeit. Ab dem Sommer muss ich ja erstmal in die Vorschule.« Täuschte ich mich oder klang der Junge traurig? Die meisten Kinder freuten sich doch darauf, oder nicht? »Magst du nicht in die Vorschule gehen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein!« Das Wort klang für einen Jungen in seinem Alter sehr bestimmt. »Warum nicht? Da ist es doch sicher toll und du kannst mit anderen Kindern lernen.« Zumindest ich hatte mich auf die Vorschule gefreut und bei Noemís Kindern war es bisher nicht anders gewesen. »Papa sagt, ich darf da nicht französisch sprechen. Mama will aber, dass ich in eine Schule gehe, wo ich ganz viel französisch sprechen kann. Die ist aber gaaanz weit weg, da wo ich mit Mama gewohnt hab. Aber dann seh ich Papa nur ganz selten. Das will ich nicht!« Verstehend nickte ich. Für einen Jungen war sein Vater immerhin sehr wichtig. »Ich will, dass wir zusammen wohnen! Das ist viel lustiger.« Wieder einmal war ich froh, dass Maria und ich keine Kinder hatten. Das klang schon sehr danach, dass der Junge unter der Trennung seiner Eltern litt. Vater und Onkel kamen aus der Küche und sofort traf mich ein böser Blick der Piercingfresse. Was hatte er denn jetzt schon wieder für ein Problem? Am liebsten hätte ich ihn direkt konfrontiert, doch das wollte ich nicht vor dem Jungen tun. Daher nahm ich schweigend das Essen entgegen und half, den Tisch zu decken. Dank Maxime blieb es nicht lange still, dennoch trafen mich immer wieder vernichtende Blicke aus den grünen Augen des Vaters. Kapitel 24: No tengo nada que decirte ------------------------------------- Nach dem Essen machten sich Maxime und sein Vater fertig, um nach Hause zu fahren. Dem Jungen war anzusehen, dass er dringend ins Bett gehörte. Doch wie Kinder in dem Alter nun einmal waren, sah er das nicht ein und wollte noch bleiben. »Eloy bleibt doch auch noch. Ich will auch hierbleiben und mit Chico spielen.« »Aber Chico ist müde. Schau mal, er schläft schon«, erklärte Mat geduldig und deutete auf Chico, der sich in seiner Ecke zusammengerollt hatte. »Ich komm euch mal mit ihm zusammen besuchen, wenn deine Mama das erlaubt, und dann können du und Caroline zusammen mit ihm spielen, okay?« »Mama will keine Tiere im Haus.« Traurig sah Maxime in die Runde. Er musste einsehen, dass er am kürzeren Hebel saß. »Dann kommst du mit deiner Mama und deiner Schwester hierher und dann kannst du hier mit ihm spielen. Chico ist ganz oft bei deinem Onkel zu Besuch«, versuchte ich, ihn zu trösten. »Oder du kommst mit Papa und dann machen wir wieder einen Männerabend. So wie heute«, ergänzte Mat schnell meinen Vorschlag und warf mir einen giftigen Blick zu. Verständnislos hob ich die Hände. Was war denn jetzt an dem Vorschlag so falsch? Zu meinem Erstaunen willigte der Junge nicht sofort ein. »Und was ist mit Caroline?« »Sie ist noch so klein, sie stört niemanden. Sie kann doch auch mitkommen.« Liebevoll strich Peter seinem Sohn durch die Haare. Nun leuchteten dessen Augen. »Oh ja! Und Eloy kommt dann auch wieder, oder?« »Wenn Mat mich auch einlädt, dann gern.« Nicht nur der Kleine war begeistert, als sein Onkel nickte. Auch wenn ich den Vater nicht mochte, der Junge war ein Goldstück. Mit diesem Versprechen ließ er sich dann doch anziehen und gemeinsam mit seinem Vater machte er sich auf den Weg. Kaum waren die beiden aus der Tür, fuhr Mat mich an: »Lade niemals wieder diese Hexe zu mir ein!« »Was? Tut mir leid!«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Ich wusste nicht, dass du sie nicht magst.« »Diese Frau ist so schrecklich! Das geht gar nicht. Ich konnte sie noch nie leiden. Gut, dass Maxime nicht nach ihr, sondern nach Peter kommt.« Oh Gott, jetzt wurde Mat aber theatralisch. »Dann würde ich sie gern mal kennenlernen. Wir wären sicher gute Freunde.« Er lachte. »Nein, niemals. Ich bin mir sicher, du könntest sie genauso wenig leiden.« »Ich werde es ja sehen, wenn ich sie mal kennenlerne.« Der Punk versicherte mir noch einmal, dass ich das auf keinen Fall wollte. Da es mir ziemlich egal war, ob ich sie mochte oder nicht, lenkte ich schnell ein: »Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass ich sie überhaupt kennenlerne. Brauchst du Hilfe beim Aufräumen? Ansonsten würde ich auch ins Bett gehen. Ich muss morgen früh raus.« »Du bleibst nicht hier?«, fragte Mat mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme. »Ich dachte, wir wollten noch reden.« Ich seufzte. »Mat, bitte. Lass es einfach. Ich habe doch schon alles gesagt, was ich dazu sagen kann.« »Aber ich nicht«, behauptete er und sah mir direkt in die Augen. Er trat einen kleinen Schritt auf mich zu und aus Reflex wollte ich nach hinten ausweichen, kam jedoch nicht weit. Noch immer sah er mich direkt an und legte seine Arme um meinen Körper. Mit Schrecken und gleichzeitig erwartungsvoll sah ich sein Gesicht meinem näherkommen. Ein fast schon enttäuschter Laut entwich meinem Mund, als er seine Lippen neben mein Ohr legte, statt wie erwartet auf meine Lippen. Fast unhörbar raunte er: »Beim zweiten Kuss wollte ich wissen, ob es tatsächlich so gut ist, wie behauptet wird, wenn man den anderen wirklich küssen will.« Eine Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus. Ich wusste, was er mit mir tat. Schon wieder setzte er seine Erfahrungen gegen mich ein. Doch ich konnte mich nicht dagegen wehren. Er konnte mich viel zu gut lesen. Mein Mund war trocken und ich musste schlucken, bevor ich ein Wort herausbekam. Meine Stimme war nicht wirklich lauter als seine. »Wie hat es dir gefallen?« »Verboten gut!« Ich wollte die Flucht ergreifen, doch meine Knie waren zu weich. Daher entkam ich auch seinem nächsten Satz nicht. »So gut, dass ich Angst habe, noch mehr zu wollen.« Er wollte mich loslassen, doch ich hielt ihn leicht fest. Bevor ich darüber nachdenken konnte, hatten die Worte meinen Mund verlassen. »Ich fand es auch gut.« »Ich weiß«, hauchte er und nur Sekunden später erreichte die Gänsehaut ihren Höhepunkt, als sich unsere Lippen berührten. Mein Kopf war wie benebelt, der Gedanke, dass es eklig sein sollte, meine Zunge in den Mund eines anderen Mannes zu schieben, kam einfach nicht gegen das Glücksgefühl an, das sich in mir breitmachte. Erst als ich das weiche Bett unter mir spürte, wurde mir bewusst, wohin uns unsere Füße getragen hatten. Doch nun war es auch egal. Ich ließ mich einfach nach hinten sinken und zog Mat mit. Sein Gewicht auf mir war angenehm. Die Wärme sickerte durch die Kleidung. Nur widerwillig ließ ich ihn los, als er erst seine Lippen von meinen entfernte und sich dann von mir herunterrollte. Das war der beste Kuss meines Lebens. Mit einem Mann! Dennoch gelang es mir nicht, es zu bereuen. Mat neben mir seufzte. Als ich meinen Kopf in seine Richtung drehte, nahm er den Blick von der Decke und sah zu mir. Bei dem tiefen Seufzer hatte ich vieles erwartet, aber sicher nicht das glückliche Lächeln, das sich in seinem Gesicht zeigte. Davon angesteckt grinste ich und drehte mich vollständig auf die Seite. Er tat es mir nach. Lange lagen wir einfach nur nebeneinander und sahen uns an. Was auch immer wir erwartet hatten, was passieren würde, nichts geschah. Lediglich Chico tapste irgendwann ins Zimmer und sprang aufs Bett. Mat sprach zuerst wieder: »Bleibst du dabei, dass du lieber in die andere Gruppe gehst?« So gut es auf der Seite liegend eben ging, zuckte ich die Schultern. »Ich will nicht vor der Gruppe darüber reden.« »Dann lassen wir es. Wir rufen Elmer an und sagen ihm, dass wir das bereits unter uns geklärt haben und es keine Probleme mehr geben wird.« Aha, keine Probleme mehr? Zwischen mir und dem Punk? Auch er stimmte sofort in mein Lachen ein. »Na ja, zumindest vorerst. Wir können es ja zumindest versuchen, uns ein wenig zusammenzureißen.« »Warum möchtest du unbedingt, dass wir zusammen in der Gruppe bleiben?« Diesmal war es an ihm, mit den Schultern zu zucken. Einen Moment starrte er ins Leere. »Ich glaub, ich hätte dir ansonsten nie vertrauen können.« Mat hatte recht. In der Gruppe waren wir gezwungen gewesen, uns zu öffnen; auch vor dem jeweils anderen. Keiner von uns wäre dazu privat fähig oder auch nur willens gewesen. Wir hatten einander kennen und verstehen lernen müssen. Und dabei ungeahnte Ähnlichkeiten entdeckt. »Gut, wenn es dir wichtig ist, dann gehen wir weiterhin gemeinsam dorthin.« Er nickte ernst. »Ist es. Dann hab ich immerhin mehr Zeit, dich zu nerven.« »Pft. Als könntest du das nicht auch so.« »Aber in der Gruppe darfst du dich nur verbal wehren.« Schelmisch grinste er mich an. Ich seufzte. »Mat, es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe. Ich war vollkommen überfordert mit allem. Erst hat mir Maria gedroht, Chico einschläfern zu lassen, wenn ich ihn nicht zu mir nehme, und dann kamst du auch noch mit deiner Drohung daher.« Vorsichtig legte er die Hand auf meinen Arm. »Es ist okay. Ich hatte es verdient. Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich habe es doch überstanden. Und meine Wohnung auch.« Lachend stieß ich ihm gegen die Brust, bereute es aber sofort, als er einen Hustenanfall bekam. Er rollte auf den Rücken und richtete sich dann auf. Als ich ihm hinterher wollte, bedeutete er mir mit einem Handzeichen, dass er allein klarkam. Dennoch fühlte ich mich schuldig und sah ihm hilflos zu. Sobald er sich beruhigt hatte, entschuldigte ich mich. »Schon gut, ich hab mich nur verschluckt.« Da er auf der Bettkante sitzen blieb, richtete ich mich ebenfalls auf. »Eigentlich meinte ich aber gar nicht den Kinnhaken – ich sehe das als einmalige Angelegenheit und glaube kaum, dass es nochmal passieren wird – sondern deine eigentümliche Art, mich zum Schweigen zu bringen.« Da ich wusste, wie hohl das Versprechen, es nie wieder zu tun, klang, ließ ich es. Lieber zeigte ich das durch Taten. Stattdessen ging ich lieber auf den zweiten Teil ein: »Ich hatte ja bisher das Gefühl, dass dich das freut, immerhin hast du mich absichtlich so provoziert. Aber wenn du willst, dass ich damit aufhöre, dir einfach das Maul zu stopfen, ist das kein Problem.« Er würde sowieso nicht wollen, dass ich aufhörte. »Kannst du eh nicht.« Sein Lachen ging sofort in ein erneutes Husten über. Als er wieder ruhiger wurde, legte ich die Stirn auf seine Schulter und schmunzelte. »Du magst recht haben.« »Willst du etwa andeuten, dass ich nicht immer recht habe?« Abrupt zog er die Schulter weg, sodass ich fast vornüber kippte. Ich setzte mich wieder aufrecht hin und sah ihn tadelnd an. »Ja. Zum Beispiel damit, dass du wusstest, dass mir der Kuss gefallen hat. Dann wärst du nicht weggerannt. Außerdem fand ich den ersten nicht gut.« Er strich mir leicht über den Unterarm. »Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht überfallen dürfen. Aber ich denke, in der Hinsicht sind wir jetzt quitt.« »Ja, ich denke, wir haben beide daraus gelernt.« »Und das Weglaufen ... Wie gesagt, ich hatte Angst, es nicht dabei belassen zu können.« Wie antwortete ich darauf am besten? Ich wusste, was ich wollte. Es ging gegen alles, woran ich bisher geglaubt hatte, aber alles an mir schrie geradezu danach. Doch wie sollte ich es ihm klarmachen? Würde er sich gedrängt fühlen? Sollte ich ihn fragen und notfalls einen Rückzieher machen? Nein, ich war kein Feigling! »Also, wenn du willst, darfst du das gerne wieder machen.« Einen Moment sah er mir einfach nur in die Augen. Mittlerweile war mir das kalte Blau gar nicht mehr so unangenehm. Ich wusste, dass er sich nur versichern wollte, dass ich die Wahrheit sprach. »Ich denke, ich komm darauf zurück.« Mit diesen Worten erhob er sich und verließ das Schlafzimmer. Verwundert sah ich ihm hinterher, bis er noch einmal den Kopf zur Tür hereinsteckte und mich aufforderte: »Gehen wir noch eine kurze Runde mit Chico?« Kapitel 25: Glow ---------------- »Eloy? Ich weiß, du hast gleich Feierabend, aber hast du noch kurz Zeit? Da ist ein junger Mann, der unbedingt mit dir reden möchte. Und zwar nur mit dir.« Stevenson sah mich an, als wüsste ich, warum es ging. Dabei hatte ich doch selbst keine Ahnung, wer das sein könnte. Der einzige junge Mann, der mir einfiel, war Leonardo, Peppers jüngeres Herrchen. Und der war etwa in Murphys Alter, konnte folglich also nicht gemeint sein. Einer der Männer aus der Selbsthilfegruppe? Aber diese wussten nicht, auf welcher Wache ich arbeitete. Nach mir zu fragen, wäre ein reines Glücksspiel gewesen. Entsprechend neugierig geworden, ließ ich meine Berichte auf dem Schreibtisch zurück und folgte meinem Kollegen. Als er in den Gang zu den Verhörräumen einschlug, wurde mir etwas mulmig. Wer von meinen Bekannten kam für so etwas in Frage? Mat? Nein, der war deutlich zu alt. Immerhin war er genau wie ich bereits über 40 und damit bei weitem kein junger Mann mehr. Vor einem der Räume blieb Stevenson stehen und bedeutete mir, hineinzugehen. Um nicht vollständig unvorbereitet zu sein, warf ich einen Blick auf den Monitor. Im Zimmer saß ein Junge von vielleicht 15 Jahren. Er war mager und hatte abgetragene Kleidung an, dennoch wirkte er erstaunlich sauber. Ich hatte schon Obdachlose gesehen, die deutlich abgebrannter aussahen. Außerdem musste ich ihm zugestehen, dass sein Gesicht äußerst attraktiv war. In seiner vermutlichen Profession nicht unbedingt von Nachteil. Doch im Moment war es durch etliche Schrammen, Kratzer und Tränen entstellt. »Kennst du ihn?«, fragte Stevenson neugierig nach, doch ich konnte nur den Kopf schütteln. Dennoch wusste ich genau, wer dem Jungen gesagt hatte, dass er nach mir fragen sollte. Was auch immer Mat sich davon erhoffte: Ich konnte ihm auch nicht helfen. »Warum ist er hier?« Stevenson reichte mir die Akte, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte und während ich kurz blätterte, berichtete er: »Er behauptet, dass er Glow heißt, seinen richtigen Namen will er uns nicht verraten, genauso wenig etwas über seine Eltern. Es läuft bereits ein Abgleich mit der Vermisstenkartei. Vor einer Stunde ist er vor der Wache aufgetaucht, hat dort eine Weile herumgelungert. Als wir ihn angesprochen haben, ist er in Tränen ausgebrochen und hat gesagt, dass er nur mit dir reden möchte. Bisher konnten wir nicht herausfinden, was er will. Der ist ziemlich stur, kam aber ohne Probleme mit, als ich ihm versprochen habe, dass er mit dir reden kann.« Skeptisch zog ich die Augenbraue hoch. »Und wenn ich schon weggewesen wäre?« Stevenson zuckte mit den Schultern. »Dann hätte er eben bis morgen ein Bett in der Zelle bekommen. Könnte dem Strolch vermutlich nicht schaden.« »Danke. Dann wollen wir mal schauen, was der junge Mann uns zu berichten hat.« Ich knöpfte den obersten Knopf meiner Uniform wieder zu, den ich im Büro geöffnet hatte. Es konnte sicher nicht schaden, den Jungen ein wenig Respekt einzuflößen, wenn er schon meinte, mich zu sich kommandieren zu können. Als ich den Raum betrat, blickte er auf und wischte sich die Tränen mit einem Schniefen vom Gesicht. Ich bereute, nicht noch eine Packung Kleenex mitgenommen zu haben. Dann musste eben meine persönliche Taschentuchpackung ausreichen, die ich immer vorsichtshalber in der Uniformtasche hatte. Es gab auf Streife mehr als genug Gründe, sie zu benötigen. Während ich mich setzte, hielt ich sie ihm entgegen. »Mir wurde gesagt, du möchtest mit mir sprechen?« Er holte sich ein Tuch heraus und schnaubte laut. Geduldig wartete ich. So wie er aussah, hätte ich ansonsten auch gar nichts verstanden. Erst nachdem auch das zweite Tuch komplett durchnässt war, musterte er mich skeptisch. »Du bist Officer Meléndez?« »Ja, der bin ich. Und wer bist du?« »Glow.« Für den Moment sparte ich es mir, ihn nach seinem richtigen Namen zu fragen. Das würde vermutlich jedes weitere Gespräch sofort beenden. »Zombie, ich meine Mat ... ähh ... ich hab vergessen, wie er heißt ... hat gesagt, wir sollen zu dir gehen, wenn wir Probleme haben und zur Polizei müssen.« Ich nickte. Das hatte ich mir schon gedacht. Dennoch verstand ich nicht, was Mat sich davon erhoffte. Ich konnte die Jungs auch nicht anders behandeln als jeden anderen. »Ich muss dich darauf hinweisen, dass, wenn du dich selbst belastest, ich das ins Protokoll schreiben muss. Hast du das verstanden? Du solltest dir daher überlegen, was du mir erzählst.« Er nickte eifrig, auch wenn er im ersten Moment irritiert wirkte. Womöglich hatte er gehofft, dass ihn meine Freundschaft mit Mat schützte. Doch so lief das nicht. Wenn ich dagegen verstieß, konnte es mich den Job kosten. Er wischte sich erneut ein paar Tränen aus dem Gesicht. »Ich ... Ich kann mir auch einen Anwalt kommen lassen, oder? Wenn ich ihn brauche?« »Ja, du musst es einfach nur sagen, dann bestellen wir einen. Ich bezweifel, dass du einen eigenen hast?« Er schüttelte den Kopf. »Du kannst auch jemanden zur Unterstützung anrufen, wenn noch jemand dabei sein soll. Deine Eltern, Geschwister, Verwandte.« Als ich die Geschwister erwähnte, brach erneut ein großer Schwall Tränen aus ihm heraus. Eigentlich hatte ich gehofft, ihn ein wenig aus der Reserve locken zu können, was seine Herkunft anging, ich war mir immerhin sicher, dass ein Kollege zuhörte, dann wäre die Identifizierung schneller gegangen. Doch scheinbar hatte ich da in ein Nest gestochen. Während er sich erneut geräuschvoll die Nase putzte und versuchte, sich zu beruhigen, nahm ich kurz die schon fast leere Taschentuchpackung an mich und hielt sie in Richtung der Kamera kurz in die Luft. »Gibt es jemanden, den du anrufen möchtest?« Er senkte den Kopf und schüttelte ihn. Das überraschte mich. In den letzten Wochen hatten Mat und ich häufiger Spaziergänge zu zweit unternommen und dabei hatte ich einiges über seine Arbeit erfahren – sowohl seine Lohnarbeit als Drummer, als auch die ehrenamtliche bei den Strichern. Daher war ich auch davon ausgegangen, dass der Junge ihn anrufen würde, denn es gehörte ebenfalls zu dieser Arbeit, die Jungen zu unterstützen, wenn sie bei der Polizei waren. Doch so angsterfüllt wie der Kleine mich ansah, als er wieder aufblickte, hatte er scheinbar mehr Angst vor dem Punk als vor mir. Das machte mich skeptisch. »Du kannst dich jederzeit umentscheiden. Sag einfach Bescheid. Möchtest du mir dann erzählen, warum du hier bist?« Der Junge wurde noch kleiner auf seinem Platz. Nun gab es kein Halten mehr, die Tränen rannen unkontrolliert über sein Gesicht. Verdammt, wann kam endlich ein Kollege mit neuen Taschentüchern? Gerade als ich mich aufmachen wollte, um welche zu holen, vernahm ich ein paar gestammelte Worte: »Sha... tot. Oak Lawn ... gefunden. ... nicht hingehen ... di...« Ich hockte mich vor den Jungen und rede ruhig auf ihn ein. »Wer ist tot? Glow, bitte, beruhig dich. Ich versteh sonst nichts.« Er versuchte, seine Arme um mich zu legen, doch ich hielt ihn mit sanfter Gewalt davon ab. Ich konnte verstehen, dass es für ihn nicht einfach war, aber es war wichtig, dass er sich erst einmal beruhigte. Danach konnte er gerne so viele Zusammenbrüche haben wie nötig. Doch es brachte alles nichts, er wollte und wollte sich nicht beruhigen. Langsam wurde ich nervös. Er stammelte immer wieder dasselbe unzusammenhängende Zeug. Mittlerweile glaubte ich, dass es um einen Shawn ging, war mir aber nicht sicher. Außerdem wiederholte er immer wieder, dass jemand irgendwo nicht hingehen durfte und ›Oak Lawn‹. Was auch immer das sein sollte. Nach einigen Minuten entschied ich mich, etwas anderes zu versuchen. Ich sagte ihm, dass ich gleich wiederkam, und verließ den Raum. Draußen erwartete mich bereits Stevenson. Neben ihm stand eine resolute Frau, etwa Mitte dreißig. »Das ist Miss Aguilar. Sie ist Sozialarbeiterin und wird sich erstmal um ihn kümmern, wenn wir fertig sind.« Mich wunderte, dass sie so schnell da war, aber das kam mir entgegen. Ich nahm Stevenson die Kleenex-Box ab und drückte sie ihr in die Hand. »Officer Meléndez. Gut, dass sie hier sind. Vielleicht können sie ihn beruhigen.« »Wo willst du hin?«, rief mein Kollege mir nach, als ich mich eiligen Schrittes entfernte. »Ich muss kurz telefonieren. Ich bin sofort wieder da.« Damit verschwand ich zu den Umkleiden. Als ich zurückkam, hatte sich der Junge noch immer nicht beruhigt. Er hatte sogar versucht, abzuhauen, doch Stevenson hatte ihn daran gehindert. Nun saß er allein in dem Raum und weinte vor sich hin. »Was hast du gemacht?«, fragte mich mein Kollege sofort, während mich die Frau nur böse musterte. »Ich hab eine Idee, wie wir ihn zum Reden bringen können. Das dauert aber etwas. Hat er noch etwas gesagt, was uns weiterbringt? Oder hat die Fahndung etwas ergeben?« »Ja. Er heißt vermutlich Tristan Skinner und ist gerade mal 16. Kommt aus Keene, Vermont, und wird seit etwa einem Jahr vermisst.« Mir wurden die Ausdrucke der Vermisstenanzeige gereicht. Soweit ich das beim Überfliegen ausmachen konnte, konnte der Junge im Vernehmungsraum durchaus der Gesuchte sein. »Ansonsten blieb es bei dem Gestammel. Kannst du dir da einen Reim drauf machen?« Ich schüttelte den Kopf. »Was ist Oak Lawn?« »Das kann entweder ein Golfplatz oder ein Friedhof in Mattapan sein«, mischte sich die Dame ein. Leise fluchte ich. Das brachte uns nicht weiter. Auch wenn ich es für eher unwahrscheinlich hielt, konnte der Junge auch high sein und uns einfach nur erzählen wollen, dass ein Shawn auf dem Friedhof begraben wurde. »Wissen Sie mehr darüber?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nur, dass es sehr weit am Stadtrand ist.« Ich atmete tief durch. Wir mussten etwas tun, während wir warteten. Und scheinbar blieb es an mir hängen, wenn die Frau dafür sorgte, dass der Junge abhauen wollte. »Ich geh nochmal rein und versuche, mehr zu erreichen. Wenn jemand nach mir fragt, schick ihn rein.« Stevensons Augenbraue zuckte, doch er nickte. Offenbar vertraute er meiner Arbeit. Bevor ich zurückging, schnappte ich mir noch eine Wasserflasche. Wenn nicht der Junge sie brauchte, dann sicher bald ich. Mein Kollege wünschte mir noch viel Glück, bevor er sich der Dame widmete. Sie beredeten, was weiter mit dem Jungen geschehen sollte. »Tristan, ich habe dir etwas zu Trinken mitgebracht«, kündigte ich an und hielt ihm die Flasche entgegen. Er sah kurz auf und schüttelte den Kopf. Ich stellte die Flasche auf den Tisch und hockte mich wieder vor den Jugendlichen. »Du bist doch Tristan, oder?« Er nickte und versuchte endlich, sich ein wenig zu kontrollieren. Doch das war nicht lange erfolgreich. Ich versuchte, mir die Genervtheit nicht anmerken zu lassen. »Tristan, du musst dich beruhigen. Was ist in Oak Lawn passiert?« »Ich ... Shawn gefunden ... war tot.« »Versteh ich das richtig, du hast dort diesen Shawn gefunden?« Der Junge nickte. Unweigerlich hielt ich den Atem an. »Wer ist Shawn?« » ... Freund ... nicht zurückge... hab ihn gesucht.« Es klopfte an der Tür und im nächsten Moment steckte Stevenson seinen Kopf zur Tür hinein. Er sah mich zweifelnd an. »Ist das richtig, dass dieser Watkins hier ist?« »Ja, schick ihn rein.« Da mich mein Kollege immer noch ungläubig anstarrte, schob ich hinterher: »Später, okay?« Er nickte und machte dem Punk Platz. Dieser ging direkt auf den Jungen zu und zog ihn in seine Arme. So einfühlsam, wie er ihm über den Kopf streichelte, hatte ich ihn noch nie gesehen. Kurz sah er zu mir herüber und formte mit den Lippen ein »Danke«. Tatsächlich ging mein Plan auf und Mats Anwesenheit beruhigte den Jungen. Es dauerte nicht lange, da konnte er uns endlich erzählen, was passiert war. Zuerst versuchte Mat noch, sich zurückzuhalten und mir die Befragung zu überlassen, doch wir merkten schnell, dass der Junge ihm eher und ausführlicher antwortete. Normal hätte ich nicht zugelassen, dass jemand anders die Fragen stellte, aber schon bei den ersten Sätzen stellte sich heraus, dass es dringend war. »Tristan, lass mich das nochmal zusammenfassen: Du und Shawn, ihr seid also zu dem Typen, weil ihr dort schlafen wolltet? Und vor ein paar Tagen ist Shawn mit ihm weg und nicht mehr wiedergekommen? Hast du den Mann danach nochmal gesehen?« Er nickte. »Er kam allein zurück und hat gesagt, dass Shawn abgehauen ist, weil er keine Lust mehr hätte, mich am Hals zu haben. Aber ich wusste, dass das nicht stimmt.« »Und dann bist du ihn suchen gegangen? Wie bist du auf den Oak Lawn Friedhof gekommen?« »Dort sind immer viele ... Männer.« Ich sah fragend zu Mat, welcher nickte. Gut, er meinte also Freier. »Shawn und ich sind dort auch häufig gewesen. Der Kerl hat uns dort angesprochen. Ich dachte, vielleicht weiß jemand etwas.« Das klang für mich erstmal schlüssig genug, um weiter zu ermitteln. »Kannst du uns erklären, wo Shawn liegt?« Der Junge nickte. Gut, ich wollte ihn nicht noch einmal die Leiche seines Freundes sehen lassen. »Und die Adresse von dem Mann, hast du die auch? Und einen Namen?« Er sah fragend zu Mat und erst als dieser nickte, diktierte er mir eine Adresse, die ich auf einen Schmierzettel schrieb, den Stevenson in weiser Voraussicht in die Akte gelegt hatte. »Das wäre es dann erstmal.« Wir würden erst weitermachen können, wenn die Leiche gefunden war. Solange war die Aussage des Jungen nicht bestätigt. »Ich kann also gehen?« Ich wollte gerade antworten, da fiel mir Mat ins Wort: »Glow, du hast doch vorhin Miss Aguilar kennengelernt. Sie wird dich mitnehmen. Du kommst heute Nacht erstmal in ein Heim und dann sehen wir weiter.« Der Junge schüttelte heftig den Kopf. »Ich will da nicht hin!« Mat seufzte. »Es geht aber nicht anders. Wenn du nicht mitgehst, kann auch Shawns Mörder nicht gefunden werden. Die Polizei muss wissen, wo du bist, falls sie noch Fragen haben.« »Es wird auf jeden Fall noch einmal eine Befragung geben, wenn du dich beruhigt hast.« Die konnte ich dem Jungen nicht ersparen. Wir würden zwangsweise mehr erfahren müssen, was in der Wohnung und rundherum passiert war. Wenn alles stimmte, was er bisher erzählt hatte, dann würde es eine längere Suche werden. Zumindest glaubte ich nicht, dass der Kerl einfach wartete, bis wir an seine Tür klopften. »Keine Sorge, ich komme dann wieder her. Du musst das nicht allein machen.« Mat legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und drückte leicht zu. Zögerlich nickte der Junge. Irgendwo konnte ich ihn verstehen. In seinem jugendlichen Denken hatte er sich vermutlich ausgemalt, dass er einfach wieder rausspazieren konnte, wenn er uns informiert hatte. So lief das nur leider nicht. Selbst wenn er nicht vermisst worden wäre, er war zu jung, um ihn einfach wieder gehen zu lassen. »Eloy, kann ich noch kurz allein mit ihm sprechen?« Ich nickte. »Geht klar. Ich bin dann draußen.« Doch Stevenson wartete natürlich auch auf mich. Er hatte die Arme in die Seite gestemmt und sah mich auffordernd an. Mit dem Kopf deutete ich auf die Sozialarbeiterin, die noch immer neben ihm stand. Wenig erfreut nickte er. Es ging wohl klar, dass ich das nicht vor ihr besprechen wollte. »Weißt du, was er noch mit ihm besprechen will?«, fragte er stattdessen. »Nein. Aber du kannst ja zuhören, wenn es dich interessiert oder du glaubst, dass es wichtig ist.« Immerhin schien er das die ganze Zeit getan zu haben. An sich war das auch vollkommen in Ordnung, es war sein Job. Ich jedoch wollte Mat und dem Jungen etwas Privatsphäre gönnen. Der Punk war ganz sicher nicht so dumm, jetzt etwas zu besprechen, was Tristan Probleme bereiten konnte. Stevenson jedoch nickte und hörte wirklich zu. Ich wandte mich stattdessen an die Frau. »Wohin genau kommt Tristan denn jetzt?« »Ich werd ihn in eine Wohngruppe bringen. Danach müssen wir sehen, was mit seiner Familie ist. Ich denke, die werden Sie informieren?« »Wenn mein Kollege das noch nicht getan hat, dann werden wir das gleich machen, wenn die Befragung vorbei ist. Haben wir Ihre Kontaktinformationen? Auch, damit wir Bescheid geben können, wenn wir noch einmal mit ihm reden müssen.« »Ja, ihr Kollege hat die Informationen. Ich hab ihm auch schon gesagt, wo Tristan untergebracht wird.« »Danke. Dann hoffe ich, dass sich für ihn eine Möglichkeit findet, mit der alle zufrieden sind.« Skeptisch zog sie die Augenbrauen hoch. »Ich bezweifel, dass er überhaupt bei seinen Eltern ankommt. Solche Kinder hauen meistens ganz schnell wieder ab. Wir können sie ja auch nicht den ganzen Tag bewachen.« Verstehend nickte ich. Ich war auch nicht wirklich davon ausgegangen, dass er nicht ziemlich schnell wieder auf der Straße war. Ich hatte lediglich freundlich sein wollen. »Ich hoffe jedoch, dass er zumindest verstanden hat, dass er wenigstens noch die Ermittlungen abwarten muss.« Die Tür des Vernehmungszimmers wurde geöffnet und Mat und der Junge kamen heraus. Ich lächelte den Jungen aufmunternd an, doch er ignorierte mich und achtete nur auf die Sozialarbeiterin, die ihm die Hand hinhielt. »Hallo Tristan. Jetzt noch einmal richtig: Ich bin Miss Aguila und werde vorerst für dich verantwortlich sein, bis wir wissen, ob du wieder nach Hause kannst.« Er ignorierte die Hand und bedachte die Frau mit einem abschätzigen Blick. »Ich heiße Glow.« Mat gab ihm einen Stoß gegen die Rippen, worauf der Junge grummelte. Die Sozialarbeiterin ging auf die Unhöflichkeit nicht ein. »Soll ich dir dann zeigen, wo du die nächsten Tage bleiben wirst?« Tristan zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen ab. Offenbar hatte er beschlossen, nicht mehr zu sprechen, wenn er sowieso ignoriert wurde. Miss Aguila wandte sich an Mat: »Wollen Sie mitkommen?« Dieser schien wenig überrascht über das Angebot und willigte ein. Das schien in seinen Augen nicht ungewöhnlich. Vielleicht kam das häufiger vor, als ich angenommen hatte. Er sah kurz zu mir und wartete, bis er meine volle Aufmerksamkeit hatte, dann hob er leicht sein Smartphone, das er in der Hand hatte, und deutete an, auf dem Bildschirm zu tippen. Er würde mir also gleich eine Nachricht schicken. Da war ich mal gespannt, was er wollte. Alle drei verabschiedeten sich, wodurch nur noch ich und Stevenson im Gang standen. Diesmal verschränkte er die Arme vor der Brust und musterte mich erneut. »Hattest du Watkins nicht vor einem halben Jahr noch unbedingt festnehmen wollen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ja.« »Wie kommt es, dass du ihn dann direkt anrufst, ohne etwas zu sagen, und er dich offenbar beim Vornamen nennt?« Stevensons Tonfall war lauernd. Ich ließ mich davon nicht aus der Ruhe bringen. Ich hatte nichts Verbotenes getan. »Es hat sich herausgestellt, dass wir im selben Haus wohnen und ganz gut miteinander auskommen. Er passt außerdem auf meinen Hund auf, während ich arbeite.« Die große Falte auf seiner Stirn sagte mir, dass er mir nicht ganz glaubte. Das war mir jedoch egal. Es entsprach der Wahrheit und alles andere, was noch dazu gehörte, ging ihn nichts an. Er merkte, dass ich nicht bereit war, mehr zu erzählen, daher wechselte er das Thema: »Aber nicht diese hässliche, übergroße nackte Ratte, mit der er in letzter Zeit häufig unterwegs ist.« Überrascht sah ich Stevenson an. Er hatte Mat in letzter Zeit häufiger gesehen? Davon hatte dieser mir überhaupt nichts erzählt. Nicht, dass er dazu verpflichtet gewesen wäre, aber meistens erzählte er mir, wenn er mit einem Kollegen hier auf der Wache gesprochen hatte. »Du meinst den majestätischen, schwarzen Xoloitzcuintle? Doch, der gehört mir.« »Gesundheit!«, wünschte er mir grinsend. »Bitte, wie heißt das Vieh?« »Chico heißt mein Hund«, stellte ich mich absichtlich dumm. »Ich meine die ... Rasse? Das komische Wort, das du gerade gesagt hast.« »Xoloitzcuintle«, wiederholte ich langsam. »Kurz Xolo oder auch Mexikanischer Nackthund.« »Klar, hätte ich auch von selbst drauf kommen können ...«, erwiderte er mit sarkastischem Ton. Ich zuckte die Schultern. »Meine Exfrau wollte unbedingt einen und jetzt hab ich ihn am Hals. Wie sieht es aus, kann ich dann Feierabend machen oder brauchst du noch Hilfe beim Bericht?« »Ich soll den Bericht schreiben? Der Junge wollte unbedingt mit dir sprechen!« Ich verdrehte die Augen. Ich wollte doch einfach nur Feierabend machen. Seine Schicht hatte doch gerade erst angefangen, dann saß er wenigstens nicht so gelangweilt herum. Doch scheinbar war das zu viel verlangt. »Hilfst du mir dann wenigstens, dann geht es schneller.« Mit einem Nicken willigte er ein und gemeinsam leiteten wir alles in die Wege, damit die Kollegen auf der zuständigen Wache informiert wurden und nachsehen konnten. Kapitel 26: Tímido acercarse ---------------------------- Mat schrieb mir später tatsächlich noch, ob ich ihn auf dem Rückweg mitnehmen könnte. Da war ich jedoch schon lange wieder daheim und mit Chico unterwegs. Daher schrieb ich ihm, dass ich ihn durchaus abholen könnte, er jedoch mit der Bahn vermutlich schneller wäre. Wie vermutet bedankte er sich und fuhr allein. Dafür drohte er an, noch bei mir vorbeizuschauen und etwas zu Essen mitzubringen. Ihm zu widersprechen, wäre unnötig gewesen. Daher sammelte ich Chico ein und verabschiedete mich von Leonardo. Er hatte zum Glück nichts von meiner negativen Reaktion wegen seines Freundes bemerkt und Kamila hatte mich auch nicht verraten. Der Gedanke war zwar immer noch komisch, ich fand ihn aber nicht mehr ganz so abartig wie zuvor. Vermutlich weil ich selbst endlich eingestehen konnte, auf Männer zu stehen. Das hieß jedoch nicht, dass ich mit ihm darüber reden musste. Dafür kannte ich ihn nicht gut genug. Zu Hause schaffte ich es noch gerade so, etwas Ordnung im Bad zu schaffen, bevor sich meine Wohnungstür öffnete und Mat hereinkam. Er steckte den Kopf hinein und grinste breit. »Du hast vergessen, dir eine Schürze umzubinden.« Ich schnaufte. »Am besten noch vorher alles andere ausziehen, oder wie?« »Nee, ich will ja keinen Augenkrebs bekommen.« Er verzog angewidert das Gesicht, schaffte es jedoch nicht ganz, das Grinsen dabei aufzugeben. »Vorsicht, was du sagst!« Ich schlug ihm das Putztuch gegen den Hinterkopf. »Hey. Im Gegensatz zu deinem Bad bin ich sauber!« Er strich mit dem Finger über die Heizung und hielt mir dann den staubbedeckten Finger unter die Nase. »Du hast auch immer deine Frau putzen lassen, oder?« Ertappt zog ich den Kopf ein. »Ich musste eben arbeiten.« »Ja klar, und deine Frau nicht. Macho!« Ich zuckte mit den Schultern. So war es eben schon immer gewesen, ich hatte es nie anders gelernt. Meine Mutter hatte den Haushalt allein gemacht, bis Noemí alt genug gewesen war, ihr zu helfen. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, meinen Vater, Lázaro oder mich um Hilfe zu bitten. Dass ich zumindest allein etwas Essbares zustande bekam, lag nur daran, dass mich Kochen interessierte. Mit dem restlichen Haushalt hatte ich mich nur zwangsweise auseinandergesetzt und vieles erst in den letzten Monaten aus dem Internet gelernt. »Wann hast du Geburtstag?« Überrascht über diesen plötzlichen Themenwechsel brauchte ich einen Moment, um ihm zu antworten: »27. März, warum?« Er schien mit der Antwort nicht zufrieden. »Na gut, dann bekommst du den Haushaltskurs eben zu Weihnachten.« Ich schlug ihm leicht gegen die Brust, konnte mir aber ein Lachen nicht verkneifen. Vermutlich hatte ich das wirklich nötig. »Spielst du solange für mich die Frau?« »Pft! Vergiss es! Dafür bezahlst du mich nicht gut genug.« »Na gut, dann muss ich das eben doch allein machen«, gab ich nach. Dabei wusste ich ganz genau, dass Mat manchmal heimlich putzte. Es wäre ihm peinlich, wenn ich ihn darauf ansprach, aber er hatte schon ein paar Mal Ordnung geschaffen, während ich nicht da war, wenn es ihm zu schlimm wurde. Aber meistens waren wir eh bei ihm, weil er dort ungestört rauchen konnte. »Was hast du denn mitgebracht?« »Pizza. Wir waren mit Glow noch essen, um einiges in Ruhe zu besprechen, und ich hab dir eine mitgebracht.« »Oh, danke. Aber ich dachte, wir essen zusammen?« Er grinste. »Keine Sorge, ich bleibe hier und unterhalte dich während des Essens.« Schulterzuckend stimmte ich zu, auch wenn es mir nicht ganz gefiel. Ich handelte mir einen tadelnden Blick ein, weil ich die Putzhandschuhe einfach nur ins Waschbecken warf und ging in den Flur, wo ein Pizzakarton auf der Kommode stand. Chico hatte sich genau davor platziert und sabberte vor sich hin. Das war mutig von Mat. Der Hund hätte sich den locker von dort runterholen können. Nachdem ich mir Teller und Besteck besorgt hatte, setzte ich mich auf die Couch. »Wann hast du Geburtstag?« Diesmal schien Mat einen Moment zu brauchen. Vielleicht überlegte er sich auch, ob er mir nur mit einem dummen Kommentar antwortete, wer wusste das schon. »27. November. Also dieses Jahr genau ein Tag vor Thanksgiving.« Ich nickte und war mir nicht sicher, ob ich deshalb traurig sein sollte. Ich hatte meinen Eltern versprochen, an Thanksgiving zu ihnen zu fahren und es tatsächlich so drehen können, dass ich frei bekam. Dafür hatte ich freiwillig an Ostern und Independence Day gearbeitet und würde auch Weihnachten Schicht schieben. Aber die Tage waren mir auch nicht ganz so wichtig, wie Thanksgiving mit der ganzen Familie auf Noemís und Jonathans Farm zu verbringen. Gleichzeitig hieß das nun aber auch, dass ich Mats Geburtstag nicht mit ihm feiern konnte. Ich stockte. Dachte ich wirklich darüber nach, ihn mitzunehmen? Das war doch Unsinn! Niemals würde ich mit ihm zu meiner Familie fahren! Er musterte mich neugierig. »Was ist los?« Ich schüttelte den Kopf. »Mir fiel nur gerade ein, dass ich noch keine Flugtickets gebucht habe. Ich fliege Thanksgiving zu meiner Familie, ich sollte mich langsam darum kümmern.« »Solltest du. Erfahrungsgemäß sind die ja sehr schnell weg.« Während er antwortete, behielt ich ihn genau im Auge. Was dachte er darüber? Doch ich konnte nichts erkennen. Offenbar interessierte es ihn nicht, dass ich nicht da war. Ich öffnete den Karton und fand darin eine Pizza mit BBQ-Sauce, Hackfleisch, roten Zwiebeln, Jalapeños und Baconstreifen. Okay, da hatte er tatsächlich sehr gut meinen Geschmack getroffen. »Willst du, dass ich noch vor dir an Herzversagen sterbe?« »Da müsste ich mir schon deutlich mehr Mühe geben.« Der ernste Tonfall ließ mich aufblicken. Dass er nicht im Geringsten grinste, machte mir Angst. »Hast du nicht gesagt, durch die Medikamente kannst du gut leben?« »Ja, kann ich auch. Solange sie wirken.« »Willst du mir damit sagen, dass sie es nicht mehr tun?« »Nein. Es ist alles gut. Ich fühl mich nur in letzter Zeit nicht so gut. Aber mit den Werten ist alles in Ordnung. Vielleicht brüte ich auch nur wieder etwas aus.« Nachdenklich nickte ich. Vermutlich. Zumindest wurde der Husten in den letzten Wochen wieder stärker. »Sag Bescheid, wenn ich dir irgendwas besorgen kann.« Er schmunzelte. »Wirst du jetzt zum korrupten Cop? Hab ich dich so versaut? Dass du mich privat angerufen hast, war sicher auch nicht nach den Regeln, oder?« »Tristan wollte nicht, dass ich dich anrufe. Aber als er vor Weinen nicht mehr reden konnte und etwas von einer Leiche gestottert hat, blieb mir nichts anderes übrig.« Mat nickte nachdenklich. »Er hatte vermutlich Angst, dass ich meckere, weil sie mit jemandem nach Hause gegangen sind.« »Warum? Ich meine ... Nein, egal, ich will es nicht wissen.« Ich nahm mir endlich ein Stück Pizza. »Wenn ich dir etwas verraten würde, müsstest du deswegen ermitteln, oder?«, fragte Mat und klang dabei wirklich neugierig. Ernst nickte ich. Ja, müsste ich. »Dann ... Danke.« Ich winkte ab. Ich wollte dafür keinen Dank. Es ging mir gehörig gegen den Strich, wegzusehen. Ich fand es nicht gut, dass er die Jungs weiter auf der Straße ließ, statt sie dort wegzuholen. »Wegen deiner Frage: Ich halte es für gefährlicher, wenn sie bei jemandem unterkommen. Meistens sind dann Drogen im Spiel, manchmal kommen die Jungen nie wieder, sie verschwinden einfach ... Oder tauchen als Leichen wieder auf ... Habt ihr Shawn gefunden?« Ich seufzte. »Ja, haben wir ... Nein, ich werde dir keine Fragen dazu beantworten. Tristan wird morgen noch einmal verhört, du wirst da einiges erfahren. Aber ich darf mit dir nicht privat darüber reden.« »Bist du dann wieder dabei?« Ich schüttelte den Kopf. »Eine andere Kommission übernimmt den Fall. Es wäre mir auch nicht recht, erneut mit dir in der Art zu arbeiten.« Ich hoffte einfach, dass er das nicht falsch verstand. Seine Idee, die Jungs zu mir zu schicken war sicher gut gemeint, aber ich konnte nichts für sie tun. Und gleichzeitig hatte ich Angst, dass meine Kollegen hinter unser Verhältnis kamen. Besorgt sah Mat mich an. »Hast du Ärger bekommen wegen mir?« »Nein. Ich will aber auch nicht, dass es so weit kommt. Ich hab dem Kollegen gesagt, dass wir Nachbarn sind und du auf Chico aufpasst. Er hat versprochen, das nicht an die große Glocke zu hängen.« Er nickte. »Du wirst mir also auch nicht sagen, wie Shawn gestorben ist?« »Nein, Mat. Bring mich bitte nicht in diese Zwickmühle. Ich darf es dir nicht sagen. Frag morgen den Kollegen, der das Verhör führt. Du wirst den Jungen doch dabei unterstützen, oder nicht?« »Ja, natürlich. Ich hoffe, Chico verzeiht es uns, wenn er den ganzen Tag allein bleibt.« Ich sah zu ihm rüber, der in seiner Ecke seelenruhig schlief. »Er wird das schon überstehen. Ich versuche, pünktlich Feierabend zu machen, und du musst ja auch nicht so früh los wie ich. Das wird schon gehen.« Mat lachte. »Klar, du machst pünktlich Feierabend. Ich verwette meinen Arsch, dass du wieder mindestens ’ne Stunde länger machst.« »Boah, du bist ja schlimmer als Maria!« »Maria ist deine Exfrau, oder?« »Hmm?« Was war das für eine komische Frage? »Du hast nie ihren Namen genannt. Aber ich vermute mal, dass es Maria ist.« »Ach so, ja. Eigentlich heißt sie Esther, aber bis auf meine Familie nennt sie jeder bei ihrem zweiten Vornamen.« »Ist deine Familie echt so konservativ, dass sie nicht einmal Spitznamen zulässt?«, fragte Mat überrascht. »Nein, eigentlich nicht. Meine Eltern mögen sie auch, sie ist fast wie ihr viertes Kind. Vielleicht liegt es einfach nur daran, dass meine Schwester auch mit Zweitnamen María heißt.« »Moment. Du heißt mit Zweitnamen José und deine Schwester María?« Mat versuchte, das Grinsen zu verbergen. Ich stöhnte genervt. Diese Reaktion kannte ich schon zu genüge. Die Namen waren weit verbreitet, aber mit der Kombination hatten uns unsere Eltern sicher keinen Gefallen getan. »Ja. Und unser kleiner Bruder heißt Jesús.« Nun brach Mat in schallendes Gelächter aus, bis er meinen strengen Blick sah. Er riss sich zusammen. »Sorry.« »Schon gut, meine Eltern sind eben sehr religiös«, winkte ich ab. »Sie hatten die Hoffnung, dass mit diesen Namen fromme Menschen aus uns werden würden.« »Hey.« Mat legte seine Hand vorsichtig auf meinen Arm. »Nur weil du schwul bist, heißt das nicht, dass du kein frommer Mensch sein kannst.« »Ich weiß. Aber meine Eltern würden das anders sehen.« Verstehend nickte er und streichelte mit dem Daumen über meinen Oberschenkel, bis ich ihn leicht anlächelte und meine Hand auf seine legte, als Zeichen, dass es genug war. Er verstand und nahm sie weg. »Wie ist es eigentlich bei deiner Familie?«, versuchte ich, das Thema zu wechseln. Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist nicht vorhanden. Ich bin mein ganzes Leben von einer Pflegefamilie zur nächsten gewandert.« »Das tut mir leid.« Er zuckte die Schultern. »Muss es nicht.« »Ist dein Bruder aus einer Pflegefamilie?« Wenn ich ihm zu viele oder zu private Fragen stellte, würde er mir das hoffentlich sagen. Vermutlich wieder auf seine ihm eigene Art. »Nein, nicht ganz.« Mat zögerte einen Moment, erzählte dann jedoch weiter. »Ich hab ihn auf der Straße kennengelernt und wir haben uns zusammengetan. Das ist meistens sicherer. Später sind wir dann zusammen zu einem Pflegevater gekommen.« Ich nickte. Es war schon ein paar Mal durchgeklungen, dass sie zusammen auf der Straße waren, ich war mir jedoch nicht sicher gewesen, ob sie sich dort oder in einer Familie kennengelernt hatten. Ohne, dass ich fragte, erzählte er weiter, was mich überraschte. »Früher hat Peter auch noch mit den Jungs geholfen aber ... Sagen wir es so: Er hat sich einen Fehler erlaubt, den ich ihm nicht verzeihen kann. Darum möchte ich ihn nicht in der Nähe der Jungs wissen.« »Was für einen Fehler?« »Er hat bestätigt, dass alle Männer Schweine sind. Tut mir leid, mehr möchte ich darüber nicht sagen.« Er griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. »Kommt heute was Interessantes?« »Keine Ahnung, schau doch selbst nach.« Kapitel 27: Disturbio temprano ------------------------------ Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und sah auf den Wecker. Es war fünf Uhr morgens! Wer zur Hölle klopfte um diese Zeit wie ein Bekloppter an meine Tür?! Mürrisch erhob ich mich aus dem Bett. Im Wohnzimmer blickte Chico nur kurz auf. Er schien beschlossen zu haben, dass sein Schlaf wichtiger war, als der Irre vor der Tür. Wenn ich das doch nur auch so einfach ignorieren könnte. Ich öffnete die Tür und wollte dem Störenfried etwas Unfreundliches entgegenwerfen, doch dieser kam mir zuvor. Sobald die Tür auch nur einen Spalt geöffnet war, wurde sie mir aus der Hand gestoßen. »Du Schwein! Das wirst du mir büßen!« Bevor ich es richtig realisiert hatte, stand ein schlanker, wütender Typ in meinem Flur. Es dauerte einen Moment, bis ich ihn als Mats Bruder wiedererkannte. Ich fasste mich und drückte ihn von mir fort. Doch noch immer versuchte er, mir an die Gurgel zu gehen. Mit einer fließenden Bewegung war ich direkt hinter ihm und griff nach seinen Handgelenken. Trotz seines Widerstandes drehte ich sie ihm auf den Rücken und fixierte sie im Polizeigriff. Schmerzerfüllt stöhnte und fluchte er, doch ich ließ ihn nicht los. »Was willst du hier?« »Wegen dir ist Mat im Gefängnis! Du mieses Schwein hast ihn verraten!« Die Schmerzen hielten ihn nicht davon ab, sich weiter in meinem Griff zu winden und einen Befreiungsversuch zu wagen. Außerdem trat er nach hinten aus. »Wenn du nicht aufhörst und still bist, dann liegst du gleich am Boden!«, drohte ich. Da es nur einen erneuten Tritt zur Folge hatte, tat ich es ihm gleich. Mein Fuß landete zielsicher in seiner Kniekehle. Schreiend knickte er ein. Mit einer Hand zwischen den Schultern, der anderen an seinen Handgelenken, drückte ich ihn komplett zu Boden und setzte mich auf seine Beine. »Wärst du jetzt so freundlich, mir zu sagen, warum du hier am frühen Morgen randalierst? Vielleicht bin ich dann so nett und lasse dich los. Ansonsten muss ich dich leider festnehmen.« Eine Weile versuchte er noch, sich zu befreien, doch als sein Kopf einmal beim Zurückdrücken auf den Boden knallte, wurde er ruhiger. Dafür traten Tränen in seine Augen. Ich schob die noch immer offene Wohnungstür mit einer Hand zu und lockerte meinen Griff um seine Handgelenke, blieb aber auf ihm sitzen. Chico, der sich während des Gerangels knurrend in den Türrahmen zum Wohnzimmer gestellt hatte, würde genug Eindruck schinden. »Sie haben Mat gestern Abend festgenommen«, wimmerte der schmächtige Punk unter mir. »Du hast ihn verraten. Er hatte nie Probleme, bis du aufgetaucht bist.« »¡Calla!«, rief ich Chico zu, der sofort reagierte und ruhig wurde. Dennoch behielt er die drohende Haltung bei. Dann ließ ich Mats Bruder los und stand auf. »Komm hoch und dann erzählst du mir in Ruhe, was passiert ist.« Er ignorierte die Hand, die ich ihm anbot und stand auf. Seine Miene blieb trotz der Tränen in den Augen feindselig. »Ich weiß es nicht. Ich hab gerade erst die Mailbox abgehört. Er hat mich gestern Abend angerufen und mir draufgesprochen, dass er festgenommen wurde. Ich war gerade oben, er ist noch nicht wieder zu Hause.« »Weißt du denn, weshalb er festgenommen wurde?« »Was weiß ich denn, was ihr euch ausgedacht habt! Er passt euch doch schon lange nicht.« Er trat erneut drohend ein paar Schritte auf mich zu. Ich warnte ihn, indem ich die Hand hob. Sofort blieb er stehen, der Schmerz schien noch nachzuwirken. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe nicht mitbekommen, dass er festgenommen wurde, und wusste auch nicht, dass gegen ihn ermittelt wird. Wenn du mir sagst, in welcher Wache er ist, kann ich vielleicht etwas rausfinden.« Er musterte mich. Es sah anders aus als bei Mat, aber dennoch hatte er dabei starke Ähnlichkeiten mit seinem Bruder. Die beiden mussten mehr Zeit miteinander verbringen, als mir bewusst war. »Sudbury Street. Zumindest hat er mir das auf die Mailbox gesprochen.« Gut, das würde einfach werden, da etwas herauszufinden. Wenn ich hinfuhr, konnte ich vielleicht sogar mit ihm sprechen. Erst so langsam sickerte in mein Bewusstsein, was es hieß, dass er festgenommen wurde: Er wurde wegen irgendetwas verdächtigt! Ich atmete durch und versuchte ruhig zu bleiben. »Ich denke, da lässt sich etwas machen. Weißt du, ob er seine Tabletten dabei hat?« Mats Bruder riss die Augen auf. Was denn, hatte er nicht damit gerechnet, dass ich davon wusste? Mat war nun wirklich nicht der Typ, das zu verheimlichen, wenn er mit jemandem schlief. Endlich fing sich der Kerl wieder und antwortete: »Nein, weiß ich nicht. Er hat immer eine Tagesration in seiner Tasche, aber ich weiß nicht, ob er sie mitgenommen hat.« »Gehst du dann bitte nachschauen und sie holen? Ich zieh mich eben an.« Ich wusste sowieso nicht, welche Tasche es war, hoffte aber sowieso, dass er sie mitgenommen hatte. Je nachdem, wann er gestern festgenommen wurde, wäre es sonst eine Katastrophe. Der schmächtige Punk nickte abwesend und verließ meine Wohnung. Ich erlaubte mir, erleichtert aufzuatmen, dann ging ich ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Ich hasste es, ungeduscht das Haus zu verlassen, aber mir blieb gerade nichts anderes übrig. Ich machte mir Sorgen um Mat und hatte wirklich Angst, dass er seine Pillen nicht dabei hatte. Außerdem wollte ich wissen, was geschehen war. Diese Ungewissheit war schrecklich! Ich war gerade fertig, da klopfte es an meiner Tür. Während ich noch den letzten Knopf vom Hemd schloss, öffnete ich und ließ Mats Bruder ein. In der Hand hielt er eine schwarze Umhängetasche und sah mich zerknirscht an. Ich verstand, was er dachte, und musste mich selbst zusammenreißen. Ich nahm ihm die Tasche ab und öffnete sie. »Hey, was tust du da? Das geht dich nichts an«, protestierte er und wollte sie mir wieder entreißen. Unbeirrt wühlte ich darin. »Ich muss schauen, was drin ist, sonst kann ich die ihm nicht bringen. Wenn da irgendwas Gefährliches drin ist, bringt ihm das nur noch mehr Ärger.« Er knirschte mit den Zähnen, zog aber seine Hände zurück. Unter einem Pullover und einer Jacke fand ich endlich das Pillendöschen. Kurz warf ich einen Blick hinein und fluchte. So konnte ich sie ihm nicht mitbringen, es war nicht zu erkennen, um welche Pillen es sich handelte. Sie durften so nicht zu ihm. Ich drückte dem Bruder den Rucksack wieder in die Hand. »Hol alles raus außer dem Pullover. Und wirklich alles! Es bringt nur Stress, wenn du etwas anderes drin lässt.« »Wo willst du hin?«, rief er mir nach. Ich reagierte nicht, sondern ging noch einmal ins Schlafzimmer, wo ich aus dem Regal mehrere Tablettenblister nahm. Mit einem Blick stellte ich sicher, dass alle einen Schriftzug trugen, dann ging ich zurück in den Flur. Auf meinem Flurschrank hatte sich bereits einiges angesammelt. Offenbar war in der Tasche alles, was Mat eventuell unterwegs brauchen konnte; inklusive ein paar Leckerlies für Chico. »Ist das alles?« Der Schmächtige nickte und deutete auf die Tabletten in meiner Hand. »Was ist das?« »Mats Tabletten.« Erneut wurden die Augen groß. Er sollte sich dringend an den Gedanken gewöhnen, dass ich mit seinem Bruder schlief. »Die in der Dose darf er auf der Station nicht nehmen, weil sie nicht eindeutig zuzuordnen sind. Es könnten auch Drogen sein. Nein, ich behaupte nicht, dass es welche sind! Aber das sind nun mal die Regeln.« Er schluckte die Erwiderung herunter. Er sah wohl ein, dass ich seinem Bruder, zumindest im Moment, nichts Böses wollte. »Du fährst also auf die Wache?« »Ja. Wenn du möchtest, kannst du gerne mitkommen.« Er schien zu hadern, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich hab noch zu tun.« Ich nickte dem Bruder noch einmal zu, als er aus meiner Wohnung verschwand. Eigentlich wollte ich ihm direkt hinterher, doch ein leises Winseln hielt mich zurück. Seufzend griff ich nach der Leine. Er hatte ja recht, ich konnte ihn nicht auf unbestimmte Zeit warten lassen. Also leinte ich Chico an und machte einen kurzen Umweg zu einem Wiesenstück neben dem Haus. Danach ging ich direkt zu meinem Auto und hievte Chico hinein. Kapitel 28: Sospecha increíble ------------------------------ Kaum war ich auf der Wache, suchte ich nach Stevenson. Ich wusste, dass er Schicht hatte und hoffte, dass er mir etwas über Mats Festnahme sagen konnte oder zumindest, weshalb er festgenommen wurde. Letztendlich hatte er nicht nur diese Information für mich, sondern bot mir – trotz meines kurzen Ausrasters, weil sie den Punk bereits seit dem Abend im Verhörraum schmoren ließen – an, einen Moment mit ihm zu reden. Gerne nahm ich es an und war damit für das Date mit Monika bei ihm quitt. Dennoch wollte er auf Nummer Sicher gehen und bat mich darum, meine Uniform anzuziehen, und ließ das Videoband laufen. So konnte er beweisen, dass ich Mat, bis auf die lebenswichtigen Tabletten und den Pullover, nichts zusteckte. Einen jüngeren Kollegen verpflichteten wir, auf Chico, welcher neugierig das Büro und die Kollegen erkundete, aufzupassen. Als ich den Raum betrat, betrachtete ich Mat einen Moment. Er hatte die Arme auf dem Tisch verschränkt und schlief. Der Anblick ließ ein ungutes Gefühl in mir aufsteigen. Stevenson hatte es bereits gut in Worte gefasst: Mat machte sich mit seinem Verhalten noch verdächtiger. Jemand der unschuldig war, schlief nicht in einem Vernehmungszimmer ein. Er wäre zu nervös und hätte zu viel Angst, um zu schlafen. Nur wer schuldig war und bereits aufgegeben hatte, schlief. Und Mat schlief seelenruhig. Nicht nur die Beweise, sondern auch sein eigenes Verhalten sprachen gegen ihn. Dass er nicht einmal nach seinem Anwalt verlangte, verbesserte seine Situation nicht. Ich stellte alles auf den Tisch und rüttelte ihn dann leicht an der Schulter. »Hey, Mat, aufwachen.« Dafür, dass er so tief geschlafen hatte, hob er erstaunlich schnell den Kopf. Als er mich sah, atmete er erleichtert auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Kann ich endlich gehen?« »Nein, tut mir leid. Aber ich hab dir deine Tabletten und einen Pullover mitgebracht. Ich wusste nicht, ob du welche mitnehmen konntest, also hab ich dir von allen welche mitgenommen.« Außerdem wusste ich nicht genau, wann er welche nehmen musste. »Wie spät ist es«, fragte er und suchte eine Uhr, wurde aber nicht fündig. »Halb sieben.« Ich musterte ihn eingehend und konnte nicht anders, als die Frage zu stellen, die mir die ganze Zeit im Kopf herumspukte: »Hast du gestern deine Tabletten noch nehmen können?« Er grinste. Meine Stimme musste mehr als panisch geklungen haben. »Ja, keine Sorge. Sie haben mich geholt, als ich ins Bett wollte.« Erleichtert atmete ich aus. Ich wusste nicht, wie schlimm das wirklich gewesen wäre, konnte mir aber einfach viel zu viele Szenarien vorstellen. Er griff nach dem Pullover, zog ihn über und goss sich dann Wasser in einen Becher, den er gierig austrank. Ich zog mir einen Stuhl neben ihn und sah ihn fest an. »Mat, warum hast du nicht gesagt, dass du dich am Todestag mit Shawn in der Nähe des Friedhofs gestritten hast?« Er hustete und verschluckte sich dabei am Wasser. Geduldig wartete ich, bis er wieder Luft bekam. Er lehnte sich im Stuhl zurück. »Hast du auch ’ne Zigarette für mich?« Ich sah ihn nur mit hochgezogener Augenbraue an. Das war nun wirklich eine überflüssige Frage. Zumal ich ihm zuerst eine gestellt hatte. »Scheiße. Bitte bring mir unbedingt welche mit, wenn du mich abholst.« Er griff sich die Wasserflasche und pulte gedankenverloren am Etikett herum. »Bis deine Kollegen mich gestern abgeholt und mir vorgeworfen haben, ich hätte ihn umgebracht, wusste ich nicht einmal, wann er ermordet wurde.« Okay, das war eine legitime Aussage. »Trotzdem hättest du uns sagen müssen, dass du ihn seit seinem Verschwinden und dem Mord gesehen und mit ihm gestritten hast.« »Woher hätte ich wissen sollen, dass ihr mich deshalb gleich verdächtigt? Es ist nichts Ungewöhnliches, dass ich mich mal mit den Jungs streite. Ich wollte nach einigen der Kids sehen und hab ihn dabei zufällig getroffen.« Mats Stimme klang verwaschen und immer wieder hustete er. Ich griff nach seinem Arm und stellte fest, dass er trotz Pullover noch immer eiskalt war. Wenn ich mit ihm geredet hatte, würde ich dafür sorgen, dass er etwas Warmes zu trinken bekam. »Worüber habt ihr gestritten?« »Das hab ich doch deinen Kollegen schon alles gesagt: Darüber, dass er Glow allein bei dem Kerl gelassen hat. Genauer, dass sie überhaupt zu ihm sind. Das ist nicht sicher.« Er ließ fast die Flasche fallen, schaffte es aber gerade noch, sie aufzufangen. Meine Güte, der Kerl war körperlich vollkommen fertig! Als ich sie ihm abnehmen wollte, zog er sie weg. »Bitte, ich brauch etwas, um meine Hände zu beschäftigen, wenn ich schon nicht rauchen darf.« Ich ließ sie ihm, auch wenn das Etikett schon in Fetzen hing. Er würde sicher gleich etwas zum Festhalten brauchen. Denn ich hatte noch eine schlechte Nachricht für ihn: »Mat, auf der Tatwaffe wurden deine Fingerabdrücke gefunden.« Die Ergebnisse waren kurz vor meinem Auftauchen eingetroffen und Stevenson hatte mir netterweise erlaubt, es dem Punk zu sagen. »Was?!« Nun landete die Flasche doch auf dem Boden und rollte davon. Ich ließ sie und wollte stattdessen nach Mats Händen greifen. Gerade noch rechtzeitig erinnerte ich mich, dass die Kamera lief, und zog ich meine Hand zurück. »Auf dem Messer, mit dem er erstochen wurde, wurden deine Fingerabdrücke gefunden.« Wie ein Fisch öffnete Mat ein paar Mal den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Nein, so sah niemand aus, der jemanden umgebracht hatte. Nicht, dass ich jemals daran geglaubt hätte, aber eindeutiger ging es für mich nicht. Leise murmelte Mat: »Es war ein rotes Butterfly, oder? Er hat es mir an dem Tag gezeigt und mir versichert, dass er sich und Glow damit verteidigen kann.« Ich lehnte mich auf dem Stuhl vor. »Du weißt, dass das Messer illegal war, oder?« Er nickte. »Ja. Aber was soll ich machen? Soll ich den Jungs sagen, sie sollen sich kleinere besorgen? Sie haben Angst und verschaffen sich damit Sicherheit.« »Wir werden also auf jeden Fall auch Abdrücke von Shawn darauf finden?« »Ja. Er hat damit rumgespielt.« »Du weißt, dass wenn seine Abdrücke abgewischt sind und deine nicht, du ziemlich in der Scheiße steckst?« Sein ironisches Lachen wurde von einem Hustenanfall unterbrochen. »Das tu ich doch eh schon.« »Warum rufst du nicht deinen Anwalt an?« Prüfend sah er mir in die Augen. »Glaubst du, ich werde ihn brauchen?« Er sah so elendig aus. Ich wollte ihn durch eine Geste, eine Berührung beruhigen, ihm zeigen, dass ich für ihn da war, doch mir blieben nur Worte. »Ich glaube nicht, dass du es warst, wenn du das wissen willst. Aber du bist im Moment der einzige Verdächtige, alle Beweise sprechen gegen dich und du hast kein Alibi.« »Du könntest mir eines geben.« Als er meinen Gesichtsausdruck sah, verdrehte er die Augen. »Eloy, das war ein Witz! Ich weiß, dass du mir keines geben wirst. Ich war an dem Abend allein in meiner Wohnung, daran lässt sich nichts drehen. Das hab ich so auch schon deinen Kollegen gesagt.« Ich spürte die Wut in mir hochsteigen. Das war doch nicht zu glauben! Wie schaffte er es nur, sich so in die Scheiße zu reiten? Wenn doch wenigstens Chico reden könnte. Denn Mat war definitiv nicht allein zu Hause. Ich hatte Nachtschicht gehabt und daher war mein Hund natürlich bei ihm. Aber das allein war eben kein Alibi. »Was ist nun mit deinem Anwalt? Willst du ihn anrufen?«, hakte ich noch einmal nach. Von meinen Kollegen würde ihn keiner darauf ansprechen, er musste selbst danach fragen. »Ich hab gestern meinen Bruder angerufen. Sobald der seine Mailbox abhört, steht auch mein Anwalt hier auf der Matte.« Ich schnaubte. »Also dein Bruder stand erstmal bei mir auf der Matte. Ich hatte nicht das Gefühl, als wäre dein Anwalt gerade seine wichtigste Priorität. Vielmehr schien er zu glauben, dich hier rauszubekommen, indem er mich angeht.« »Bist du deswegen hier? Du hättest heute frei, oder?«, fiel es Mat nun wieder ein, dass ich eigentlich nicht in der Wache sein sollte. »Klar, ich kann doch nicht zulassen, dass mein Hundesitter unschuldig im Knast landet.« Der Schalk huschte kurz in seine Augen, verschwand jedoch sofort wieder. Ich war mir sicher, ihm wäre noch eine Erwiderung eingefallen, doch er achtete darauf, was er sagte. Ich war ihm sehr dankbar dafür. »Im Flur in der obersten Schublade der Kommode liegt ein Notizbuch. Da steht die Nummer von Mr. Bowers drin.« Ich nickte. »Brauchst du sonst noch was?« »Zigaretten?«, versuchte er es mit einem Grinsen erneut. »Ansonsten richtigen Schlaf oder Kaffee. Ich bin zu alt, um noch lange auf diesen Stühlen zu schlafen.« »Ich werd sehen, was sich machen lässt. Pass auf die Tabletten auf.« Ich erlaubte es mir, ihm eine Hand freundschaftlich auf die Schulter zu legen und zuzudrücken. Er lächelte zu mir auf. »Danke.« »Bedank dich, wenn du hier raus bist.« Als ich aus dem Raum kam, schickte ich den jungen Kollegen los, um Kaffee für Mat zu besorgen, und nahm Chico wieder an mich. Stevenson dagegen musterte mich: »Du bist dir wirklich sicher, dass er unschuldig ist, oder?« Ich nickte. »Ich kenn ihn nicht lange, aber ich weiß, dass ihm viel an den Jungen liegt. Warum sollte er einen von ihnen umbringen?« »Ich würde das auch gern glauben, aber er macht es einem nicht gerade leicht.« Nachdenklich nickte ich. Aus seiner Sicht war das sicher nicht falsch. »Zumindest fand ich seine Reaktion auf das Messer glaubwürdig«, gab Stevenson zu. Eilig und weniger gelassen als gewollt nickte ich. Dann kam mir eine Idee: »Könnte man vielleicht schauen, wo die Abdrücke jeweils sind? Also, ob er das Messer überhaupt benutzt haben kann oder es nur kurz angefasst hat?« Vielleicht hatte Mat es ja nur kurz in die Hand genommen und nicht einmal aufgeklappt. »Ich werde das anregen.« Stevenson legte leicht den Kopf schief und musterte mich von oben herab eingehend. »Was ist, wenn er es doch war?« »Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es echte Beweise gibt. Bisher weiß ich nur sicher, dass er mit dem Jungen ein paar Stunden vor dem Mord eine Meinungsverschiedenheit hatte und das Messer in der Hand. Und, dass mein Hund während meiner Nachtschicht bei ihm war.« Ich stockte bei der Aussage. Moment, das war es! »Überprüft die Leiche auf Hundehaare!« »Was?!« »Wenn es Mat war, dann muss Chico ebenfalls dort gewesen sein. Die Leiche so zuzurichten ist nicht in ein paar Minuten erledigt und der Friedhof liegt am anderen Ende der Stadt. So lange allein hätte Chico die ganze Nachbarschaft zusammengebellt.« »Eure Nachbarn sollten im Laufe des Tages sowieso noch befragt werden. Ich werd Bescheid sagen, dass sie wegen dem Hund auch fragen sollen.« Stevenson notierte sich das auf einem Zettel, der an die Akte geheftet war. »Aber, ehm, Meléndez, dir ist klar, dass dein Hund keine Haare hat, oder?« »Ein paar schon.« Ich deutete auf den hellen Haarfleck an seiner Stirn. »Keine Ahnung, das muss ein Experte sagen, ob das ausreicht. Ansonsten Hautschuppen und Fußspuren sollten doch möglich sein.« Auch wenn mir klar war, dass ein negativer Fund allein Mat nicht entlastete, ein positiver hatte eine starke Aussagekraft. Ich war mir sicher: Für den unwahrscheinlichen Fall, das Chico wirklich dort war, hatte er Spuren hinterlassen. »Und fragt vorher Mat, ob Shawn mal mit Chico gespielt hat. Ich weiß nicht, wie oft der Junge seine Sachen gewechselt hat.« Grinsend legte mir der Kollege eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, ich weiß, was ich zu tun hab, ich bin auch kein Rookie mehr. Lass uns auf jeden Fall schonmal Proben für das Labor sammeln, dann rede ich noch einmal mit Watkins.« Mit einem kurzen »¡Ven!« rief ich Chico zu mir und folgte Stevenson zum Labor. Mat hatte echt verdammtes Glück, dass Stevenson noch immer in die Ermittlungen involviert war. Sonst wäre das alles nie so einfach und mühelos vonstattengegangen. Kapitel 29: ¡Libertad! ---------------------- Ich war aufgeregt, als ich die Tasche aus dem Schließfach holte. Aufgeregter, als ich es vielleicht hätte sein sollen. Aber ich freute mich darauf, wie Mat reagieren würde, wenn ich gleich mit ihm sprach. Er wusste nämlich noch gar nichts von seinem Glück. Gemeinsam mit einem Kollegen ging ich zur Zelle, deren Tür er mir aufschloss und dann verschwand. Mat hatte aufgesehen, sobald sich die Tür öffnete. Mit müden Augen sah er mir entgegen und versuchte sich an einem Lächeln, als er mich erkannte. Ich lächelte zurück und ging auf ihn zu. Verwundert betrachtete er seine Tasche, als ich sie ihm reichte. »Deine Sachen sind alle drin. Zieh dich an, dann können wir fahren, sobald der Papierkram durch ist.« Er zögerte keinen Augenblick, griff nach der Tasche und zog seine Jogginghose und T-Shirt heraus, die er bei seiner Festnahme getragen hatte. Während er eilig die Gefängnisklamotten loswurde, fragte er: »Bringst du mich jetzt persönlich in den Knast?« Ich zog die Augenbraue hoch und musterte ihn einen Moment, bis er aufgrund meines Schweigens zu mir sah. »Ich kann dich gerne dorthin bringen, wenn du das unbedingt willst, aber eigentlich wollte ich dich nach Hause fahren.« »Was?!« Vor Schreck ließ er seine Hose fallen. »Ich kann nach Hause?« »Was denn, meinst du, du gehörst dort nicht hin?« Statt mir zu antworten, fiel er mir um den Hals und klammerte sich an mich. Für einen Augenblick strich ich über seinen Rücken, bevor er sich wieder von mir löste. »Wie hast du das geschafft? Du hast doch heute Morgen noch gesagt, dass es aussichtslos ist.« »Mir ist eingefallen, dass Chico vermutlich das ganze Haus zusammengebellt hätte, wenn du der Mörder wärst. Als ich das erwähnt hab, hat mein Kollege sofort veranlasst, dass unsere Nachbarn befragt werden.« Mat zog sich die Hose hoch und betrachtete mich zweifelnd. »Nur, weil dein Hund nicht gebellt hat, entlastet mich das automatisch?« Lachend schüttelte ich den Kopf. »Nein, aber dass du mit ihm spazieren warst. Eine unserer Nachbarinnen hat sich erinnert, dass sie sich an dem Abend ziemlich genau zur Tatzeit mit dir im Aufzug unterhalten hat.« »Hat sie? Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich unterhalte mich öfter mit jemandem im Aufzug, gerade Chico scheint das anzuziehen. Ich könnte nicht genau sagen, mit wem ich mich wann unterhalten habe.« »Sie ist sich da sicher. Sie kam wohl vom Geburtstag ihrer Mutter.« »Oh, okay, ja, ich erinnere mich. Sie war ziemlich aufgeregt und hat viel geplappert.« Er zog das Shirt über. »Ich bin jetzt also raus als Verdächtiger?« Auch wenn es mir nicht passte, schüttelte ich den Kopf. »Aber du bist zumindest erstmal entlastet. Zeitlich hättest du es niemals zum Todeszeitpunkt schaffen können, noch mit Chico rauszugehen.« »Ich hätte ihn auch mitnehmen können.« »Stimmt. Die Untersuchung läuft auch noch. Aber es wurden zumindest direkt am Tatort keine Hundespuren gefunden. Auf Hautschuppen wird der Leichnam noch untersucht. Wenn das negativ ausfällt, gibt es keine Beweise mehr.« Er durchsuchte die Tasche, steckte sich Handy, Portemonnaie und Zigaretten in die Hosentasche, nachdem er sie gefunden hatte. »Können wir dann gehen?« »Klar. Wir müssen uns noch einmal kurz melden, damit du bestätigen kannst, dass du alles hast und deine Tabletten wiederbekommst. Und vergiss die Tasche nicht.« Er schulterte sie und folgte mir dann. »Was ist mit dem Messer?« »Solltest du dir das nicht selbst beantworten können? Du hast das Messer nicht aufgeklappt. Ich hab ein wenig Druck gemacht, dass die Abdrücke noch einmal genauer untersucht wurden.« »Danke«, murmelte er. Nachdem der Papierkram erledigt war, verließen wir gemeinsam die Wache. Sobald wir im Freien waren, zog er die Zigaretten wieder hervor und zündete sich eine an. Geduldig warte ich, bis er aufgeraucht hatte und endlich in meinem Wagen saß. Chico sprang freudig auf der Rückbank herum und begrüßte ihn. Kapitel 30: Mamada con consecuencias ------------------------------------ Als ich aufwachte, lag ich überraschenderweise allein im Bett. Ich hatte erwartet, dass Mat neben mir liegen würde, da er den Abend mal wieder mit mir verbracht hatte und mit ins Bett gekommen war. Seit der Sache mit Shawn und Tristan schliefen wir fast jeden Tag zusammen. Zuerst hatte ich gedacht, dass er Angst hatte, erneut festgenommen zu werden, zumal er mir, nachdem ich ihn in einer Nacht aus einem Albtraum geweckt hatte, erzählt hatte, dass ihm der Gedanke ans Gefängnis aufgrund seiner Erfahrungen mit der Polizei unglaubliche Angst machte. Doch auch nachdem bei der genaueren Untersuchung der Leiche Haare des Mannes, der die beiden Jungen aufgenommen hatte, gefunden wurden, änderte es sich nicht. Mich störte es nicht, dass er bei mir blieb oder mich bat, bei ihm zu schlafen. Obwohl wir noch immer jeder an seinem Ende schliefen, war es angenehmer, als allein zu schlafen. Daher konnte ich auch nicht verstehen, warum er nicht mehr neben mir lag. Ganz automatisch überprüfte ich, ob seine Klamotten noch da waren. Sie lagen wie sonst auch zusammengefaltet auf einer Kommode. Beruhigt ließ ich mich zurücksinken. Ich wusste nicht, warum mich der Gedanken so nervös machte, dass er einfach gegangen sein könnte. Aber es war gut, zu wissen, dass es nicht der Fall war. Die Badtür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Ich hätte mir doch denken können, dass er nur auf Toilette war, statt mir gleich Sorgen zu machen. Nackt, wie Gott ihn schuf, kam Mat zurück ins Schlafzimmer. Sein breites Grinsen bedeutete nichts Gutes, irgendetwas hatte er vor. »Oh, du bist ja schon wach.« »Ja, ich bin gerade erst aufgewacht.« Ich schlug die Decke etwas zurück und richtete mich auf. Grinsend beobachtete er mich. »Gut, dann muss ich dich nicht wecken.« Zuerst fragte ich mich, warum er mich wecken wollte, doch als ich ihn eingehender musterte, fiel mir auf, dass sein Penis halb erigiert von ihm abstand. Dass er sich dann auch noch selbst an meinem Nachttisch bediente, machte seine Absichten endgültig klar. Ich hielt seine Hand fest, die bereits ein Kondom daraus hervorgefischt hatte. »Mat, lass mal, ich hab grad keine Lust.« »Oh.« Er ließ es wieder fallen und zog die Hand zurück. »Sorry.« Versichernd lächelte ich ihn an. »Alles gut. Danke für den Versuch.« Er setzte sich neben mich und streichelte über meinen Arm. »Ich kann dich auch nicht dazu überreden?« »Gerade wirklich nicht, nein.« Ich strich mit einem Finger seine Wirbelsäule entlang und beobachtete, wie sich die Haare ein wenig anhoben. Er seufzte. »Gut, dann geh ich wohl hoch.« Ich griff nach seiner Hand und konnte sie gerade noch festhalten, bevor er zu weit weg war. Mit sanfter Gewalt zog ich ihn zurück aufs Bett. Von hinten schmiegte ich mich an seinen Rücken und griff mit einer Hand um ihn herum und streichelte über seinen Oberschenkel. »Warum bleibst du nicht hier? Ich könnte dir doch auch helfen. Oder hast du Angst, dass ich so schlecht bin? Ich hab zwar keine Erfahrung, aber ich weiß, was mir selbst gefällt. So schwer kann das doch nicht sein.« Immerhin schmunzelte er und wehrte sich nicht gegen meine Hand. »So einfach ist das gar nicht, wenn man es wirklich gut machen will.« Ich richtete mich etwas auf und strich mit der Hand näher zu seiner Mitte. »Warum lässt du es mich nicht versuchen und hilfst mir?« Nun hielt er meine Hand fest, strich mit dem Daumen aber darüber und schwieg. Ich wollte meine Hand schon wegziehen, da sprach er endlich wieder: »Du hast das mit Glow und Sergeant Klein wirklich gemacht, weil du es für das Richtige hältst und nicht, damit ich dir etwas schulde, oder?« Irritiert über den plötzlichen Themenwechsel sah ich zu ihm auf. »Ja. Ich hätte zwar nicht mit Tristan geredet, wenn du ihn nicht zu mir geschickt hättest, aber ich konnte ihn doch nicht sitzen lassen. Warum fragst du?« Er antwortete nicht, sondern richtete den Blick geradeaus und starrte Löcher in die Luft. Ich zog meine Hand unter seiner vor. »Es ist okay. Wenn du nicht angefasst werden willst, dann kann ich dich nicht dazu zwingen.« Er schnaufte. »Du könntest schon.« Aus dem Liegen richtete ich mich in die Hocke auf, sodass ich direkt hinter ihm war. Ich legte meine Hände auf seine Schultern, drehte ihn herum und zwang ihn so, mich anzusehen. »Mat! Bist du vollkommen wahnsinnig geworden?! Wie kommst du darauf, dass ich dich zwingen würde?!« Er schüttelte den Kopf und ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen. »Ich habe nicht gesagt, dass du es würdest. Ich habe nur festgestellt, dass du es könntest.« »Wie kommst du darauf?«, fragte ich völlig überfordert. Ja, es irritierte und störte mich, dass er sich partout nicht anfassen ließ, sondern immer nur für meine Befriedigung sorgte und sich dann um seine eigene kümmerte. Aber daran hatte ich mich gewöhnt. Wenn es für mich absolut unerträglich wäre, würde ich mich nicht mehr darauf einlassen. Aber ihn zu zwingen, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Statt mir auf die Frage zu antworten, zuckte er mit den Schultern. Mit den Daumen streichelte ich darüber. »Glaub mir, ich würde niemals auch nur auf die Idee kommen.« Er schmunzelte. »Keine Sorge, das weiß ich.« »Dann denk auch nie wieder darüber nach!«, mahnte ich ihn. Ich wollte nicht, dass er an so etwas dachte, nur, weil ich etwas von ihm wollte, was er nicht wollte. »Ist gut.« Er stand kurz auf und hockte sich ebenfalls mit den Knien aufs Bett. Nur wenige Zentimeter war er vor mir entfernt, aber weit genug, dass es nicht unangenehm war. »Warum willst du das unbedingt machen? Du hast doch nichts davon.« Ich zuckte mit den Schultern und versuchte mich an einem zaghaften Lächeln. »Ich fühle mich ein wenig nutzlos, wenn du dann hinterher doch allein wichst. Außerdem, was hast du von einem Hand- oder Blowjob bei mir?« Er grinste. »Im Gegensatz zu dir hindert mich kein Machogehabe daran, Spaß zu haben.« »Wie kommst du darauf, dass ich keinen Spaß daran habe könnte, dich einfach nur anzufassen?« Mit der Hand strich ich langsam seinen Oberkörper hinunter. Er beobachtete lediglich, hinderte mich nicht. Stattdessen sah er mir wieder in die Augen, als ich vorsichtig über das Becken strich. Lediglich in dem nun leicht getrübten Blau konnte ich die Unsicherheit finden, die seine Körperhaltung vollkommen missen ließ. Wieder einmal bewunderte ich seine Selbstbeherrschung. Hätte er mich nicht direkt angesehen, hätte ich die Zweifel nie bemerkt. Vermutlich wusste er das ziemlich gut. Zu gern hätte ich gewusst, was er noch hinter dieser Fassade versteckte, hatte jedoch gleichzeitig Angst davor, es zu erfahren. Er seufzte, schloss die Augen und nickte. Als er sie wieder öffnete, war nichts mehr von der Unsicherheit zu sehen. Ich konnte nur fasziniert hineinstarren. Wie schaffte er es so schnell, sie abzulegen? »Willst du so sitzen bleiben? Oder soll ich mich hinlegen oder dir den Rücken zudrehen? Je weniger du das Handgelenk anwinkeln musst, desto weniger verkrampfst du und hältst durch.« Es dauerte einen Moment, bis ich ihn verstand. Er wollte es wirklich versuchen? Das machte mich dann doch nervös. Dennoch wollte ich nicht kneifen. Diese Gelegenheit würde ich nicht oft haben. »Hinlegen«, bestimmte ich in der Hoffnung, ihn besser einschätzen zu können, wenn ich ihm ins Gesicht sehen konnte. »Kondom?« Er schien kurz zu überlegen, nickte dann aber. »Ja, ist sicherer.« Ich holte es und legte es neben ihm ab, nachdem er sich auf den Rücken gelegt hatte. Dass es nichts brachte, solange er nicht vollständig hart war, wusste ich mittlerweile auch. Als ich mich über ihn beugte, schluckte ich vor Nervosität. »Soll ich dich vorher noch woanders streicheln?« »Komm her.« Er griff nach meiner Hand und zog mich zu sich herunter, bis ich fast mit dem ganzen Körper über ihn gebeugt war. Fest sah er mir in die Augen. »Ich will nicht, dass das hier eine einseitige ›Ich tu, was du mir sagst‹-Sache wird. Mach, was du gerne ausprobieren würdest. Wenn du unsicher bist, frag nach, ob es für mich in Ordnung ist, aber frag mich nicht, was du tun sollst. Das verdirbt uns beiden nur den Spaß. Trau dich einfach.« Ich nickte. Das klang machbar. Dann musste ich nur meine Frage umformulieren. »Darf ich dich streicheln?« »Ja.« Er führte meine Hand auf seine Brust und strich damit in Richtung des Bauchs. Dabei sah er mir mit einem leichten Lächeln ins Gesicht. Verunsichert starrte ich auf das zitternde Bündel neben mir im Bett. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Sicher war ich nicht perfekt gewesen, aber es war doch hoffentlich kein Grund, zu weinen. Zumal er mich noch einen Augenblick vorher selig angelächelt hatte. Bis sich das Grinsen in eine Maske des Grauens verwandelt hatte. Ich hatte weder etwas gesagt noch getan, ihn einfach nur angesehen. Und plötzlich waren die Tränen aus ihm herausgebrochen, die er nun verzweifelt vor mir zu verbergen suchte. Hustend und schniefend lag er da und ich wusste nicht, was ich tun sollte, ob ich ihm irgendwie helfen konnte. Ich strich leicht über seinen Arm, in der Hoffnung dadurch seine Aufmerksamkeit zu erhalten, auch wenn er nicht aufsah. »Kann ich etwas für dich tun?« »Bleib bitte hier«, bat er mit jämmerlich leiser Stimme. »Ist gut, ich bleib hier«, versicherte ich ihm, stand jedoch trotzdem auf, um die Tür zu öffnen. Danach setzte ich mich wieder neben ihn und legte meine Hand zurück auf seinen Arm. Chico kam vorsichtig hereingetrottet, warf mir einen fragenden, fast schon vorwurfsvollen, Blick zu und lief dann um das Bett herum. Er machte sich so lang wie möglich und erreichte mit seiner Zunge gerade so Mats Hand. Dieser sah kurz auf und kraulte ihm dann leicht die Schnauze. Als abzusehen war, dass Mat sich beruhigte, reichte ich ihm eine Packung Taschentücher. Während sein Schniefen leiser geworden war, hatte sich das Husten gesteigert und ich befürchtete fast schon, dass er keine Luft mehr bekam. Doch nachdem er ein paar Mal geschnaubt und sich in Ruhe ausgehustet hatte, ging es wieder. Er richtete sich auf und für einen Moment lag sein Blick unsicher auf mir. Dann erhob er sich und griff nach seiner Hose. Sofort verstand ich: Er wollte verschwinden! »Wo willst du hin?« Ohne mich anzusehen, erwiderte er: »In meine Wohnung.« »Nichts da!« Ich stand auf und stellte mich ihm in den Weg, riss ihm die Hose aus der Hand. »Du bist mir eine Erklärung schuldig!« Feindselig blickte er mich an. Nichts in seiner Haltung verriet, dass er noch vor wenigen Minuten einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte. Lediglich das leichte Zittern und die geröteten Augen waren ein Indiz. Doch beides war so minimal, dass man es nicht wahrgenommen hätte, hätte man den Ausbruch nicht mitbekommen. Von einem Moment auf den anderen sackte seine Haltung in sich zusammen. Er wandte den Kopf zur Seite, betrachtete einen Moment das Bett. »Aber nicht hier. Gehen wir ins Wohnzimmer.« Er drängte sich an mir vorbei, Chico folgte ihm auf den Fuß. Ich zog mir wenigstens eine Unterhose über und schnappte mir eine der Decken. Mat würde sich eher einen Fuß abhacken, als sich eine Unterhose von mir zu leihen, und irgendwie kam es mir komisch vor, komplett nackt mit ihm zu reden. Außerdem suchte ich in seiner Hose nach Zigaretten und Feuerzeug. »Danke«, murmelte er, als ich ihm beides reichte und steckte sich sofort eine an. Auch unausgesprochen war ihm klar, dass ich eine gewaltige Ausnahme machte. »Ich geh kurz was zu Essen machen, dann reden wir«, kündigte ich an und verschwand in die Küche. »Tut mir leid, dass ich die Nerven verloren hab«, murmelte er, nachdem ich den Tisch gedeckt und mich neben ihn gesetzt hatte. Dass sich Chico unter der Decke versteckte, ignorierte ich geflissentlich. Zunächst bediente Mat sich nur am Kaffee. »Ich hab nicht damit gerechnet, dass so viel hochkommen würde.« »Was meinst du?« Ich sah nur kurz zu ihm, dann füllte ich mir den Teller. Da ich Mat Zeit lassen wollte, hatte ich mir die Mühe gemacht, ein klassisches Südstaatenfrühstück zu kochen. Suchend sah er sich um und ich schob ihm den Aschenbecher hin, den ich aus der Küche mitgebracht hatte. Er aschte hinein und lehnte sich dann mit Zigarette und Tasse nach hinten an die Lehne. »Dass ich mehr als genug Gründe habe, mich nicht so fallen zu lassen.« Nachdenklich nickte ich. »Warum hast du es dann gemacht?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, ich versuch es mal. Wenn du es schaffst, dir einzugestehen, dass du schwul bist, wäre es für mich auch endlich mal an der Zeit.« Irritiert sah ich auf. Mat war doch schon deutlich länger schwul, oder nicht? Ich konnte mich zumindest nicht erinnern, dass er jemals etwas anderes behauptet oder es abgestritten hätte. »Das ist ... kompliziert«, murmelte er, drückte die Zigarette aus und griff nach einem Toast. »Dann erklär es mir.« Er seufzte schwer, während er Marmelade verstrich. »Ist gut. Ich vermute, wenn es überhaupt jemand verstehen kann, dann du. Ich weiß schon lange, dass ich schwul bin, konnte es aber nie wirklich zugeben. Zuerst aus Angst vor Strafe, dann aus Selbstschutz. Ich konnte mir immer einreden, dass ich das nur tat, um zu überleben, dass ich daran keinen Spaß hatte und es nicht wollte. Außerdem konnte mir diese komische neue Krankheit ja nichts anhaben, die Gott geschickt hatte, um die Schwuchteln zu strafen, denn ich war ja keine. Naiv, nicht wahr?« Er lachte freudlos auf und biss in den Toast. »So zu tun, als hätte ich keinen Spaß daran, hat mir das Leben gerettet. Es hat mich vor dem unweigerlichen Selbsthass bewahrt, der mich mit jedem Gedanken an einen Mann überkam. Irgendwann war dieser Schutz so tief drin, dass ich ihn nicht mehr ablegen konnte.« Nachdenklich nickte ich. Er hatte recht, ich verstand es auf gewisse Weise. Es war nicht so viel anders als bei mir. Ich hatte meine ersten Erfahrungen mit Männern bereits in meiner Zeit bei der Army gemacht und dennoch zwanzig Jahre gebraucht, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich schwul war und sich daran auch nichts ändern würde. »Warum dann jetzt?« Er zuckte mit den Schultern. »Wie bereits gesagt: Es war an der Zeit. Du hast mir gezeigt, dass man sich das auch noch nach Jahren eingestehen kann. Man braucht nur etwas Mut dazu.« »Und warum mit mir?« Bitter lachte er auf. »Was glaubst du, wie viele Männer bei klarem Verstand sich auf so eine Seuchenschleuder wie mich einlassen?« Ich aß den letzten Bissen und musterte ihn dann. So ganz konnte ich ihm das nicht glauben. »Ich kann doch aber nicht der einzige sein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber du hast oft genug bewiesen, dass ich mich auf dich verlassen kann. Im Gegensatz zu anderen behandelst du mich nicht wie einen Aussätzigen oder als würde ich bei jeder Kleinigkeit zerbrechen. Dennoch nimmst du immer Rücksicht und bist ehrlich und geduldig.« Während ich noch nach einer passenden Erwiderung suchte, haute Mat schon den nächsten Kommentar raus, der mich stocken ließ. »Außerdem hatte ich noch mit keinem Schwanz so viel Spaß wie mit deinem. Dabei ist er nicht mal was besonderes; klein und verschrumpelt.« Ich schluckte den unbegründeten Stolz und das merkwürdige Gefühl in der Magengegend herunter, die mich bei der Aussage befielen. Der hinter dem Witz versteckte Ernst ließ eine Stimmung aufkommen, die mir gar nicht behagte. »Hast du mal an dir runtergeschaut? Deiner ist auch nicht schöner!« Das wissende Grinsen, als hätte er mich bei einer Lüge ertappt, ließ mich schauern. »So? Warum hast du mir dann deinen ersten Blowjob geschenkt?« Völlig fassungslos starrte ich ihn an. Woher wusste er das? Hatte ich mich so ungeschickt angestellt? Aus dem anfänglichen Handjob war recht schnell ein Blowjob geworden. Seine berauschende Lust hatte mich angesteckt und aus der Neugierde war schnell das Verlangen geworden, es zu versuchen. Dass ich mich gar nicht so dumm angestellt haben konnte, bewies der Lautstärkepegel, mit dem Mat sich revanchierte. Als ich ihn ermahnte, etwas leiser zu sein, bevor die Nachbarn uns hörten, forderte er mich frech grinsend heraus ›ihm doch das Maul zu stopfen‹. Eine Aufforderung, der ich gern nachgekommen war. »Keine Sorge, bis du auch nur halb so gut bist wie ich, wird noch lange Zeit vergehen.« Ich schnaufte. »Bei so einem Flittchen wie dir will ich das auch gar nicht.« Er grinste vielsagend. »Jetzt tu mal nicht so, als hättest du jemals einen besseren Blowjob bekommen als bei mir.« Ich wollte etwas erwidern, ihm den Wind aus den Segeln nehmen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Du wirst doch nicht etwa gerade rot? Aber Eloy, das muss dir doch nicht peinlich sein. Ich weiß halt, was Männer möchten.« Als ob! Ich konnte gar nicht rot werden! »Aha, das weißt du also?« Ich riss die Decke weg, was Chico ertappt aufspringen und in seine Ecke laufen ließ. Mit beiden Händen drückte ich Mat an die Lehne, wobei ich froh war, dass er selbst noch rechtzeitig die Tasse auf den Tisch stellte. »Dann weißt du sicher auch, was ich jetzt will.« Lachend versuchte er, sich zu befreien, doch ich ließ ihn nicht los, sondern zog ihn auf die Beine. »Wo willst du hin?« »Ich dachte, du wüsstest, was Männer wollen«, antwortete ich grinsend und schob ihn vor mich her in den Flur. »Und ich würde jetzt gern duschen gehen.« »Und was hab ich damit zu tun?« »Du kommst mit. Immerhin bist du genauso verschwitzt.« Kurz wehrte er sich noch, dann lief er ergeben vor mich her ins Bad und wartete in der Dusche, bis ich Chico davon überzeugt hatte, mit in den Flur zu kommen, und die Tür zum Wohnzimmer geschlossen hatte. Als ich dazu kam und das Wasser aufdrehte, rührte sich Mat noch immer kein Stück. »Du solltest dich schon auch nass machen.« »Oh, ich dachte, das machst du, wenn du mir schon wie einem Kind sagst, wann ich zu duschen habe«, motzte er. Erneut packte ich ihn und schob ihn nach einigem Gerangel unter den Wasserstrahl. Mit gesenktem Kopf stützte er sich von der Wand ab. Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgegen lassen. Ich ließ ihn nicht los und stellte mich dicht hinter ihn. Mein Atem floss über seine Schulter und in seinen Nacken. Er erschauerte, schreckte jedoch sofort zurück, als er mit dem Hintern leicht meinen Penis berührte. Ich zog ihn von der Wand fort in meine Arme und raunte in sein Ohr. »Keine Sorge, nicht hier. Dafür sind wir beide zu alt.« Er schnaufte amüsiert, machte sich aber nicht aus meinen Armen frei. Stattdessen ließ er zu, dass ich ihm ein wenig über den Bauch streichelte, bis wir beide komplett nass waren. Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht und duschte sich ganz normal, sobald ich ihn losließ. Nach dem Duschen beendete Mat noch sein Frühstück, dann half er mir beim Aufräumen. Er räumte die Reste vom Frühstück weg, während ich mir einen Eimer schnappte und im Schlafzimmer aufräumte. Das waren die Momente, an denen ich ganz froh war, dass Mat einfach Mat war. Es gab keine großen Sauereien und wir mussten nicht jedes Mal das Bett neu beziehen, sondern nur den Müll einsammeln. Dennoch beschloss ich, dass es Zeit für einen Wäschewechsel war. Immerhin schwitzten wir ja trotzdem. Zuerst sammelte ich die Kondome mit einem Tuch ein, dann die benutzten Taschentücher. Dabei bemerkte ich an einigen Tüchern etwas Blut. Hatte Mat Nasenbluten bekommen? Gut möglich, immerhin hatte er sehr stark geschnäuzt. Dennoch sah das ein wenig merkwürdig aus. Ich wollte mir die Tücher jedoch auch nicht genauer anschauen. Ich hatte keine Ahnung, wie ansteckend sie eventuell sein könnten. So genau hatte ich mich mit dem Thema nicht befasst und ging genau wie bei den Kondomen lieber auf Nummer sicher, indem ich sie nicht direkt anfasste. Chico saß in der Ecke und beobachtete mich, rannte alle paar Minuten mal kurz ins Wohnzimmer und überprüfte, dass Mat nicht gegangen war, ohne sich ordentlich von ihm zu verabschieden, dann setzte er sich wieder zu mir. Ich verstand es als Aufforderung, mich zu beeilen, damit wir endlich raus konnten. Vielleicht hatte Mat ja Lust, mitzukommen? Wir würden zwar keinen großen Ausflug machen können, immerhin musste ich um eins auf Arbeit sein, aber ein, zwei Stunden konnten wir schon in den Park, damit Chico ausgelastet war. Nachdem der Müll komplett im Eimer war, nahm ich die Kissen und Decken nacheinander vom Bett und zog die Bezüge ab. Chico nutzte die Gelegenheit und vergrub sich in der dreckigen Wäsche. Das war mir lieber, als hätte er sich auf die nun nackten Decken gelegt. Unter Mats Kopfkissen erwartete mich dann eine Überraschung. Dort lagen ebenfalls einige Taschentücher, die definitiv nicht vom Morgen stammten. Er hatte weit von seinem Kissen entfernt gelegen, als er seinen Zusammenbruch hatte. »Mat, kannst du mal kommen?«, rief ich ins Wohnzimmer. »Moment.« Wenig später stand er neben mir und sah sich flüchtig im Schlafzimmer um. Als sein Blick auf den Tücherhaufen auf dem Bett fiel, fluchte er leise, schnappte sich den Eimer und begann sie einzusammeln. »Sorry, tut mir leid, ich hab vergessen, sie heute Morgen wegzuwerfen.« Während er sie hastig im Müll verschwinden ließ, sah ich auch an diesen ein paar rostrote bis braune Flecken. Das war eindeutig getrocknetes Blut, wenn auch älter als das an den anderen Tüchern. Besorgt fragte ich: »Geht es dir gut?« Er sah auf und legte fragend den Kopf schief. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Chico die Geste spiegelte. »Wegen dem Blut an den Tüchern. Ist alles in Ordnung?« »Ja«, bestätigte er auffallend schnell, sodass ich mir schwertat, es zu glauben. »Ich habe in letzter Zeit nur öfter Nasenbluten. Keine Ahnung, woher das kommt.« Skeptisch betrachtete ich ihn. »Hast du versucht, die vor mir zu verstecken?« Ich konnte es nicht genau ausmachen, aber etwas an seinem Ton verriet mir, dass er log: »Nein, ich hab sie einfach nur vergessen. Meine Güte, das ist nur Nasenbluten!« Seufzend beließ ich es dabei. Wenn er bei seiner Lüge bleiben wollte, dann konnte ich daran nichts ändern. So wie ich ihn kannte, würde Zwang nur das Gegenteil bewirken. Ich musste mich also darauf verlassen, dass er selbst auf mich zukam, wenn es wirklich ein Problem gab. Auch wenn es mir schwerfiel, denn es machte mir durchaus Sorgen. Aus dem Wohnzimmer hörte ich ein lautes Rascheln. Schnell drehte ich mich auf dem Absatz um und rief nach Chico. Er hatte sich klammheimlich aus dem Schlafzimmer geschlichen. Nun stand er am Wohnzimmertisch und bediente sich an den Hash Browns, sah bei meinem mahnenden Ruf aber sofort ertappt auf. Ich musste nichts sagen, er verzog sich von selbst mit eingezogenem Schwanz in seine Ecke. »Tut mir leid, dein Ruf klang so dringend, ich hab nicht daran gedacht.« Mats Tonlage war zwar durchaus entschuldigend, doch gleichzeitig konnte er ein kleines Grinsen nicht verbergen. Ich zuckte mit den Schultern und lächelte ebenfalls. »Ach, ist ja nichts Giftiges. Er muss trotzdem lernen, dass er sich nicht einfach am Tisch bedienen darf.« »Ich räum mal trotzdem fertig auf, bevor er noch einmal verführt wird.« »Leg den Rest in den Kühlschrank«, erklärte ich. Angewidert sah er mich an und brachte mich damit zum Lachen. »Ich geb sie Chico in den nächsten Tagen als Leckerlie. Es wäre zu schade, sie wegzuwerfen.« Er atmete erleichtert auf. Dachte er wirklich, ich würde die angesabberten Dinger noch essen oder sie ihm anbieten? So gemein war ich doch auch nicht zu ihm, oder? Kapitel 31: Planificación nocturna perturbada --------------------------------------------- Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass Mat seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte und Buch und Brille auf dem Wohnzimmertisch ablegte, bevor er aufstand. Verwundert sah ich vom Fernseher auf und warf ihm einen fragenden Blick zu. Er bemerkte ihn jedoch gar nicht mehr und verschwand in die Küche, ohne mir auf die unausgesprochene Frage zu antworten. »Bringst du mir bitte was mit?«, fragte ich, als ich ihn am Kühlschrank hörte. »Kaffee, Karieswasser oder was zu Essen?«, kam prompt die Gegenfrage. Kurz überlegte ich. Ich hatte gehofft, er brachte mir einfach mit, was auch immer er holte. »Hast du Lust, Sandwiches zu machen? Sonst mach ich mir selbst welche.« »Für dich mit Hähnchen, Bacon und Ei?« Nun stand ich doch auf. Es war zwar lieb von ihm, dass er sich extra für mich hinstellen wollte, aber wenn er sich schon so viel Arbeit machte, dann wollte ich wenigstens helfen. Zumal er sich selbst vermutlich nur wieder ein Pastrami-Sandwich machte. Ich nahm ihm die Eier und das Fleisch ab, das er gerade aus dem Kühlschrank holte, und machte mich dann daran, die Pfanne anzuheizen, während er sich um das Brot kümmerte. Natürlich hatte ich bei ihm richtig getippt, genau wie er bei mir. Und wie so oft hatte er den Käse vergessen. Nachdem er alle anderen Zutaten, bis auf das Spiegelei und den Bacon, zusammengestellt hatte, bemerkte er das auch und wollte an den Kühlschrank, stieß dabei jedoch mit mir zusammen. Frech grinste er: »Mach dich nicht so breit! Das hier ist meine Küche.« »Du kannst ja auch mal etwas deinen dicken Bauch einziehen«, stichelte ich. »Sagt der Richtige!« Er versuchte, mir auf den Bauch zu klopfen, ich hielt seine Hand jedoch auf. Kurz machte er ein gespielt böses Gesicht, dann grinste er wieder. »Lässt du mich los?« Ich tat überlegend. »Nein.« »Du hast da noch was in der Pfanne, vergiss das nicht.« Ich zuckte mit den Schultern. Da Mat noch nicht einmal versuchte, sich zu befreien, und noch immer an derselben Stelle stand, an der er mich angerempelt hatte, ging ich davon aus, dass es ihm egal war, ob ich ihn losließ. »Was muss ich machen, damit du mich loslässt?«, fragte er schmunzelnd. Zuerst wollte ich mit den Schultern zucken, doch während ich ihn so ansah und die Wärme seines Körpers spürte, stieg ein ungewöhnliches Verlangen in mir auf. »Bekomm ich dafür einen Kuss?« Mit großen Augen starrte er mich an. »Was?!« »Küss mich«, wiederholte ich langsam, auch wenn mir dabei das Herz in die Hose rutschte. Ich wusste nicht, woher der Gedanke kam, wir küssten uns sonst kaum, schon gar nicht einfach so. Das war etwas, was im Eifer der Lust geschah oder um den anderen zum Schweigen zu bringen, wenn wir uns wieder in den Haaren lagen, aber nicht, während wir kochten. Es dauerte einen Moment, dann streckte er sich in meine Richtung. Ich kam ihm entgegen und erschauderte, als sich unsere Lippen berührten. Obwohl ich nicht mehr gewollt hatte als diese kurze Berührung, wehrte ich mich nicht dagegen, als er den Kuss intensivierte. Nein, das machte die Stimmung nicht merkwürdig, stattdessen war es einfach nur schön. Mat beließ es nicht bei dem einen Kuss. Immer fester drückte er sich gegen mich. Ich konnte spüren, dass es ihn erregte. Ohne hinzusehen, drehte ich den Herd aus und schob die Pfanne von der Platte. Das Essen konnte warten. Ich packte ihn an den Hüften und drängte ihn vorsichtig auf die andere Arbeitsplatte zu. Er schnaubte amüsiert, als sein Hintern dagegen gedrückt wurde. Kurz löste er sich. »Ich setz mich nicht auf die Arbeitsplatte. Außerdem bist du der Kleinere.« »Hatte ich nicht vor. Ich wollte nur vom Herd weg.« Für solchen Blödsinn waren wir nun wirklich zu alt. Außerdem glaubte ich nicht, dass wir weitergehen würden. Nicht in der Küche. Dennoch wollte ich die Situation, so lange es ging, auskosten. Mit einem Nicken nahm er die Erklärung hin und fing meine Lippen wieder ein. Offenbar war ich mit dem Wunsch nicht allein.   Gerade als ich vorschlagen wollte, die Sandwiches auf später zu verschieben und ins Wohn- oder Schlafzimmer zu gehen, hörte ich Geräusche im Flur sowie eine bekannte Stimme. Dieses Aas hatte aber auch ein scheiß Timing! Entweder hörte Mat das nicht oder es war ihm egal. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und löste nur langsam seine Lippen von mir. Als ich den Kopf wieder drehen konnte, stand sein Bruder bereits im Türrahmen, neben ihm sein Sohn. Instinktiv wollte ich einen Schritt von Mat zurücktreten, doch dieser hielt mich noch immer am Hemdkragen fest. »Tut mir leid, hab ich euch gestört?« Peter schaffte es nicht, uns in die Gesichter zu sehen. Einen Moment verschränkte er die Arme, im nächsten stemmte er sie in die Hüften. Es fiel ihm noch immer schwer, zu akzeptieren, was zwischen Mat und mir lief. »Schon gut, was gibt’s denn?« Mat ließ mich nun doch los. Sobald er Platz hatte, ging er an den Kühlschrank, um den Käse herauszuholen. »Papa hat gesagt, dass Caro und ich heute hier schlafen!«, verkündete Maxime fröhlich grinsend. »Kannst du bitte auf die beiden aufpassen? Ich muss im Exile aushelfen und Grace ist auf Dienstreise.« Versuchte er es gerade ernsthaft bei seinem Bruder mit einem Hundeblick? Mat stöhnte genervt. »Warum hast du mich nicht angerufen? Dann wäre ich rumgekommen.« »Hab ich versucht. Aber du bist nicht rangegangen.« Der Kerl verschränkte nun endgültig die Arme vor der Brust. »Jetzt seh ich ja, warum.« »Na und? Dann hab ich eben das Handy aus.« Mat sah seinen Bruder nicht wirklich an, sondern belegte mein Brot weiter. Es stimmte, wir hatten beide unsere Handys aus. Wir wollten den Freitagnachmittag ohne Störungen für uns haben. Hatte ja super geklappt. »Mat, ich brauch dich dringend. Ich weiß sonst nicht, wohin mit den beiden«, redete Peter weiter auf ihn ein und kam in die Küche. »Wo ist Caroline?« Nun drehte sich Mat doch um. »Im Wohnzimmer. Sie schläft. Danke, du rettest mich wirklich.« Er wurde von seinem Bruder in die Arme gezogen, wirkte dabei aber wenig begeistert. »Maxime, schaust du bitte nach deiner Schwester?«, bat Mat. Der Junge machte sich sofort auf den Weg. Kaum war dieser außer Sicht, flüsterte er seinem Bruder in schneidendem Ton zu: »Du weißt, dass ich das nur wegen der Kinder mache. Ich hab keine Lust mehr, ständig für deine Scheiße den Kopf hinzuhalten!« »Ich weiß. Danke.« Ich folgte den Brüdern aus der Küche, um mich von Peter zu verabschieden. Als wir an seinem Sohn vorbeikamen, küsste er diesem kurz auf den Kopf und wünschte ihm eine schöne Zeit. Den Maxi-Cosi auf dem Tisch ignorierte er völlig.   Nachdem wir seinen Bruder zur Tür gebracht hatten, schnappte sich Mat das Baby und verschwand damit im Schlafzimmer. Der Junge kam direkt zu mir. »Darf ich wieder mit Chico spielen?« »Ja, klar, mach nur.« Mich überforderte die Situation. Ich hatte mir einen ruhigen Abend mit Mat machen wollen und nun waren da plötzlich ein kleines Kind und ein Baby in der Wohnung. Ich ließ Maxime und Chico allein und ging zu Mat, der das Baby behutsam aus dem Korb nahm und es zwischen mehrere Kissen ins Bett legte. »Soll ich Chico hier lassen?« Er drehte sich sofort zu mir um, behielt aber eine Hand am Baby. »Du willst gehen?« Er klang etwas traurig. »Ich meine, ich kann es verstehen, aber ich würde mich freuen, wenn du bleibst.« Ich seufzte. Das war schwierig. Ich kam mir so vollkommen fehl am Platz vor. »Ich kann nicht so wirklich mit Kindern, wenn ich sie nicht kenne. Ich werde dir keine große Hilfe sein.« »Du bist doch das letzte Mal super mit Maxime ausgekommen. Er liegt mir seitdem jedes Mal in den Ohren, dass er gerne Spanisch lernen möchte. Vielleicht kannst du ihm etwas beibringen?« Er grinste mich leicht schief an. »Bitte. Du würdest mir sehr helfen, wenn du ihn mir etwas abnimmst. Ich mach dann auch die Sandwiches fertig.« Mittlerweile konnte ich halbwegs durch Mats Fassade sehen und gerade schien er ebenfalls etwas überfordert. Kurzentschlossen ging ich auf ihn zu und nahm ihn in den Arm. »Warum musst du überhaupt auf sie aufpassen? Kann dein Bruder keinen Babysitter organisieren?« Er machte sich los und schloss die Tür, die ich nur angelehnt hatte, komplett. »Ich vermute, dass er sie aus dem Haus haben wollte. Bei ihm und seiner Frau gibt es immer wieder Stress, vor allem, weil sie ihn ständig mit den Kleinen allein lässt und ohne Ankündigung auf Geschäftsreise fährt. Vermutlich wird er sie vor Sonntag- oder Montagabend nicht abholen und auch die Bandprobe morgen absagen.« Schön für ihn, aber das erklärte nicht, warum Mat das mit sich machen ließ. Wenn er immer tat, was sein Bruder verlangte, war es ja kein Wunder, dass dieser sich so etwas erlaubte. Er musste ja keine Konsequenzen erwarten. »Warum lässt du dir das überhaupt aufdrücken?« »Eloy, was ich dir jetzt sage, bliebt unter uns, okay?« Streng musterte Mat mich. Mit einem skeptischen Nicken stimmte ich zu. Seufzend erklärte er: »Vermutlich wird er sich mit irgendwelchen Drogen abschießen. Da ist es mir lieber, wenn sie hier sind als mit ihm im Haus. Ich kann mich auch täuschen und er besäuft sich nur oder hat eine Affäre da, aber auch das müssen Caroline und Maxime nicht mitbekommen.« »Na gut. Sag mir einfach, wie ich dir helfen kann«, gab ich nach. Es gefiel mir nicht, Peter bei so etwas zu unterstützen, aber ich konnte auch Mat verstehen. Er machte sich Sorgen um die Kinder. Damit wollte ich ihn nicht allein lassen. »Wie gesagt, beschäftige einfach Maxime, ich mache die Sandwiches fertig und auch für ihn welche. Danach können wir noch eine kurze Runde mit Chico raus, dann schlafen die beiden besser«, erklärte Mat seinen Plan. Dann schob er hinterher: »Tut mir leid, dass uns das den Abend versaut.« Ich zuckte mit den Schultern. »Etwas Action wird uns nicht umbringen. Ist doch besser, als den ganzen Abend vor dem Fernseher zu hocken.« »Ach, mehr hattest du nicht vor?« Er schmiegte sich an mich. Ich legte meine Hände auf seine Hüfte und zog ihn mit einem Ruck an mich. In sein Ohr raunte ich: »Das können wir verlegen.« Er hauchte in mein Ohr: »Sicher? Peter hat uns gerade ziemlich gestört.« Ich packte seinen Hintern. »Also ich kann mich zusammenreißen. Du auch?« Er schob mich lachend weg. »Sicher doch.« Das Baby gab ein paar Laute von sich und zog damit unsere Blicke auf sich. Es wirkte noch verdammt klein. Wie konnte es die Mutter da bereits allein lassen? Brauchte es keine Muttermilch? Als Mat sich zu ihm beugte, fragte ich: »Wie alt ist die Kleine denn?« »Sechs Monate.« Er nahm sie hoch und wiegte sie, da sich das Weinen langsam in ein Schreien steigerte. Beruhigend summte er. »Ich geh mal lieber nach dem Jungen schauen.« Mat schien ja auch ohne meine Hilfe mit dem Baby zurechtzukommen. Er lächelte mich an, bevor ich mich abwandte. »Danke.«   Maxime saß bei Chico in der Ecke, welcher die Schnauze auf seinem Bein abgelegt hatte. Treudoof sah der Hund zu mir auf, als müsste er sich versichern, dass der Junge ihn streicheln durfte. Ich lächelte ihnen zu. Wenn es so entspannt blieb, hatte ich sicher nichts dagegen, dass die Kinder da waren. Als der Junge mich entdeckte, fragte er: »Wie heißt du nochmal?« »Eloy«, antwortete ich überrascht. Ich hätte nicht erwartet, dass Mat mich anlog, was Maximes Interesse anging. Das machte mich ein wenig wütend. Doch wegen des Kindes riss ich mich zusammen. »Und das ist Chico.« »Ich weiß! Das heißt ›Junge‹, oder?« Er grinste mich stolz an, als ich ihm das bestätigte. »Warum hat er so einen komischen Namen?« Diese kindliche Frage brachte mich zum Lachen. Dabei hatte ich nicht einmal eine gute Antwort darauf. »Er heißt einfach so. Das ist ein ganz normaler Hundename. So wie Buddy.« »Lass dir nichts erzählen. Ich wette, Eloy hatte einfach nur keine Idee und hat das erste genommen, was ihm eingefallen ist«, mischte Mat sich ein. Der Junge kicherte. Da ich Mat gerade weder verbal noch physisch etwas an den Kopf werfen konnte, warf ich ihm nur einen bösen Blick zu. Das sorgte immerhin auch dafür, dass Caroline, die in einem Tragetuch vor seinem Bauch gebunden war und vor sich hin plapperte, nichts davon mitbekam. Mat wandte sich ihr zu und fragte: »Willst du mir beim Kochen helfen?« Sie antwortete mit einem unverständlichen Gebrabbel, das Mat wohl als Ja verstand, denn er redete weiter auf sie ein, während er mit ihr in die Küche verschwand. »Kannst du mir beibringen, wie ich mit Chico reden kann?«, forderte der Junge wieder meine Aufmerksamkeit. »Ja, klar.« Das meinte Mat also damit, dass der Junge Spanisch lernen wollte. Das hätte ich mir gleich denken sollen. Daher hatte er sich auch Chicos aber nicht meinen Namen gemerkt. Ich stand noch einmal auf, um ein paar Leckerlies für ihn zu holen, damit er auch Spaß daran hatte, und ging dann die Kommandos durch, die mein Hund kannte, und erklärte dem Jungen, was sie bedeuteten. Währenddessen machte Mat in der Küche für uns das Essen fertig. Kapitel 32: No te amo --------------------- Als Mat auf einmal unschön fluchte, entschuldigte ich mich bei Maxime und ging nachsehen, was bei seinem Onkel schiefgegangen war. »Was ist los?« Er hielt dem Baby, das sich wild dagegen wehrte, die Ohren zu und schimpfte noch immer. Auf der Ablage lag sein Handy, weshalb ich es mir schnappte und nachsah. Es war eine Nachricht von seinem Bruder, die ihn informierte, dass die Kleine auch am Abend bereits Brei bekam. »Und das fällt ihm jetzt ein?! Hätte er mir das nicht vorhin sagen können?!« »Soll ich eben einkaufen gehen? Du musst mir nur sagen, was genau ich holen soll.« Da er schon wieder zu Husten anfing, war es wohl zu viel Aufregung und ich wollte ihn entlasten. »Wenn ich das nur wüsste. Die Nachricht ist nicht wirklich aussagekräftig. Und so, wie er schreibt, wird er mir auch nicht mehr sagen können.« Erneut fluchte Mat, hielt dem Baby diesmal aber nicht die Ohren zu. Als hätte sie die Worte verstanden, sah sie ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an. Sofort versuchte er, sie mit sanfteren Worten zu beruhigen. Ich nickte. Die Nachricht war ziemlich wirr gewesen. Mat hatte wohl mit seiner Vermutung bezüglich der Wochenendplanung des Vaters recht. Dabei war dieser noch nicht einmal eine Stunde weg. Dennoch hoffte ich, Mat helfen zu können. »Moment, ich habe eine Idee. Bin gleich wieder da.« Während ich durch das Wohnzimmer lief, bemerkte ich, dass Maxime nicht mehr bei Chico saß, hörte ihn dafür aber im Bad. Das würde er in seinem Alter hoffentlich allein schaffen. Schnell lief ich nach unten, um mein Handy zu holen und es anzuschalten. Zum Glück hatte ich keine Nachrichten erhalten. Schon auf dem Weg nach oben wählte ich Noemís Nummer. Wenn uns jemand aus dem Dilemma helfen konnte, dann sie. »Eloy, freut mich, von dir zu hören. Alles gut bei dir?«, begrüßte mich mein Schwager. »Hallo Jonathan. Tut mir leid, ich bin gerade nicht so zum Quatschen aufgelegt«, vertröstete ich ihn. Ich wusste, dass er es verstehen würde. »Ist Noemí da?« »Ja, einen Moment, dann kann ich sie dir geben.« Ich hörte Kindergeschrei im Hintergrund, dann meine Schwester, wie sie mit ihrem Mann sprach. Wenig später, hörte ich sie direkt am Telefon. »Hallo großer Bruder. Was gibt es denn so Dringendes?« »Ich bin gerade bei einem Freund, der spontan auf ein Baby aufpassen muss. Die Eltern haben ihm nur gesagt, dass es am Abend Brei bekommen soll, aber nicht welchen. Kannst du uns vielleicht helfen?« Mat sah mich fragend an, da ich bei dem letzten Satz die Küche betreten hatte. Vorerst ließ ich ihn aber im Ungewissen. Ich wollte lieber Noemí zuhören. »Abends oder nachts? Wie alt ist das Baby denn?« Ich gab die Frage an Mat weiter, der mir noch einmal die sechs Monate bestätigte. Außerdem ergänzte er, dass in der Nachricht etwas von abends stand, was er auch nicht verstand. Als ich es gerade an Noemí weitergeben wollte, fuhr sie dazwischen: »Gib mir doch am besten Mal deinen Kumpel. Das geht vermutlich schneller.« Ich seufzte und hielt Mat das Handy entgegen. »Meine Schwester. Sie will lieber mit dir reden. Scheinbar vertraut sie mir nicht, dass ich ihre Fragen richtig weitergebe«, sagte ich bewusst etwas lauter, damit sie es hörte. Mat schien etwas überfordert, nahm mir das Handy aber ab. »Hallo?« Ich konnte hören, dass Noemí etwas sagte und Mat entspannte sich direkt. Hatte er befürchtet, sie könnte ihn nicht verstehen, weil wir in Spanisch gesprochen hatten? Die beiden telefonierten eine Weile miteinander, wobei es schön war, Mat dabei zuzusehen, wie er langsam auftaute. Schon nach zwei Sätzen gab er ihr freche Antworten und reagierte auch entsprechend, als sie ihm scheinbar unterstellen wollte, er hätte keine Ahnung von Kindern. Lautstark machte er ihr klar, dass er Maxime häufig genug allein versorgt hätte. Da ich beide gut genug kannte, machte ich mir darüber keine großen Gedanken. Sie waren sich in ihrer Hitzigkeit ziemlich ähnlich. Schon beim nächsten Wortwechsel witzelte Mat wieder mit ihr. »Noemí will noch einmal mit dir reden.« Ich hatte nicht ganz bemerkt, dass sie schon fertig waren, und schaute einen Moment verwirrt auf das Handy, welches Mat mir entgegenhielt, bevor ich es ihm abnahm und ans Ohr hielt. »Also, was soll ich einkaufen?« »Milch und Weichweizengrieß. Darauf musst du achten!« »Werd ich machen. Sonst noch was?« Da sie sonst nichts mehr wusste, verabschiedete ich mich von ihr. Das Baby schien hungrig, auch wenn es sich etwas beruhigt hatte. Ich wollte es nicht ewig warten lassen. »Danke für deine Hilfe.« »Für dich doch immer, großer Bruder«, verabschiedete sie sich. Doch dann schob sie eilig hinterher: »Eloy? Ich freu mich, dass du endlich wieder einen Freund gefunden hast.« »Danke.« Damit legte ich auf und schluckte den Kloß herunter, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Ich wusste, dass sie auf Pablo anspielte. Pablo war während der gesamten High School mein bester Freund gewesen. Auch danach waren wir uns kaum von der Seite gewichen, hatten uns gegenseitig als Trauzeugen und Paten ausgewählt. Gemeinsam mit ihm war ich zur Army und nach Somalia gegangen – und ohne ihn zurückgekehrt. Seitdem hatte ich mich nie wieder so sehr auf eine Freundschaft einlassen können. Wenn ich ehrlich war, hatte uns wohl mehr als nur bloße Freundschaft verbunden. Zumindest von meiner Seite. Ich hatte ihn nie danach gefragt. Mat kam näher und legte mir eine Hand auf den Arm. »Ist alles gut?« Ich lächelte ihn an, um die Sorge aus seinem und meinem Gesicht zu vertreiben. »Ja, alles gut. Meine Schwester hat nur etwas erwähnt, das mich nachdenklich gemacht hat.« »Magst du darüber reden?« Er schien noch immer nicht völlig beruhigt. »Vielleicht später«, vertröstete ich ihn. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm von Pablo erzählen wollte. Es war so lange her. »Ich schnapp mir jetzt erstmal Maxime und Chico und gehe einkaufen.« »Ist gut.« Er streichelte kurz über meinen Arm und lächelte aufmunternd zurück. Caroline gab ein vergnügtes Jauchzen von sich und im nächsten Moment drehten Mat und ich angewidert unsere Gesichter weg. Ein Lachen konnten wir uns dennoch nicht verkneifen. »Viel Spaß mit der Luftverpestung, ich bin jetzt weg«, verkündete ich mit einem fiesen Grinsen. Im Rausgehen hörte ich noch, wie Mat scherzhaft mit dem kleinen Mädchen meckerte. Maxime war noch immer nicht wieder im Wohnzimmer. Kam er doch noch nicht allein auf der Toilette klar und brauchte Hilfe? Da Mat mit dem Baby beschäftigt war und ich wegsein wollte, wenn er die Stinkbombe aufmachte, entschied ich mich, selbst nach dem anderen Kind zu sehen. Ich klopfte gegen die geschlossene Badtür. »Maxime, ist alles okay? Brauchst du Hilfe?« Drinnen raschelte es, bevor die Tür aufging. Maxime nahm sofort die Hand wieder von der Türklinke und hielt beide in die Luft. »Kannst du mir helfen?« Da er komplett angezogen war, ging ich davon aus, er brauchte Hilfe beim Händewaschen und nickte, bevor ich ihm ins Innere folgte. Dort fuhr er sich mit den Händen in die Haare, bevor ich ihn daran hindern könnte. »Ich bekomm meine Haare nicht hin.« Nun sah ich auch, dass seine Hände mit einem Gel beschmiert waren; so wie auch sein gesamter Kopf, das Gesicht, der Pullover und das Waschbecken. Ein kurzer Blick auf die gesamte Szenerie enthüllte dann auch, was passiert war: Offenbar hatte er sich die Haare machen wollen – warum auch immer –, war auf einen kleinen Hocker gestiegen und hatte sich eine Geltube aus dem Spiegelschrank geangelt. Offensichtlich konnte er noch nicht lesen, sonst hätte er bemerkt, dass es nicht für die Haare gedacht war. »Mat!«, rief ich lachend in den Flur. »Mat, du musst kurz herkommen.« »Was denn?«, rief er genervt zurück, kam aber recht zügig mit dem Baby auf dem Arm ins Bad. Als er ihm das Ausmaß der Verwüstung bewusst wurde, konnte auch er nur verzweifelt lachen. »Ich nehm dir mal die Kleine ab und lass dich das hier regeln«, bot ich an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dem Jungen das erklären sollte und wie viel er überhaupt wissen durfte. Dann kümmerte ich mich lieber um die Stinkbombe. »Wo hast du Windeln?« »Danke.« Noch immer verzweifelt grinsend hielt er mir das Baby entgegen. »Liegt schon alles im Wohnzimmer auf dem Tisch. Du kennst dich aus?« »Klar, ich hab immerhin eine ganze Horde kleiner Neffen.« Ich nahm die Kleine auf den Arm, die mich eher skeptisch betrachtete, aber zum Glück nicht anfing zu schreien. Im Bad hörte ich Mat noch, wie er Maxime freundlich aber bestimmt zurechtwies, sich nichts allein aus dem Schrank zu holen, bevor sie gemeinsam beschlossen, dass eine Dusche angebracht war. Ich legte Caroline auf das Handtuch, das auf dem Tisch ausgebreitet war, und sprach mit ihr in Babysprache. Ein paar Mal legte sie den Kopf schief, dann grinste und lachte sie vergnügt. Da sie dabei ein wenig hin und her rollte, hielt ich sie fest, während ich mich in den Sachen orientierte, die Mat auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Ich hatte recht große Töne gespuckt, meine letzte Wickelaktion war auch schon zwei Jahre her. Nachdem ich alles gefunden hatte, machte ich mich daran, ihren Body zu öffnen. Ein plötzliches Quietschen ihrerseits ließ mich aus meiner Konzentration aufschrecken. Sie hatte Chico entdeckt, der sich langsam und mit skeptischem Blick näherte. Obwohl Caroline die kleinen Händchen nach ihm ausstreckte, schickte ich ihn auf seine Decke. Wenn beide das wollten, würde ich sie gleich einander vorstellen, aber erst nach dem Wickeln. Damit nichts passierte, brauchte ich die volle Konzentration; und die hatte ich nicht, solange es so stank. Mit viel Freude spielte das Baby mit meinen Fingern, während ich ihre Windel wechselte und dabei ein wenig mit ihren Füßchen spielte. Wie so viele Kinder liebte sie es, ohne störende Stoffe herumzustrampeln. Hätte ich sie besser gekannt, hätte ich ihr mehr Zeit dafür gelassen, doch es war mir reichlich unangenehm, ein im Grunde vollkommen fremdes Baby zu wickeln, da wollte ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Als ich fertig war, nahm ich sie auf den Arm und fragte durch die Badtür bei Mat nach, wie lange er noch brauchen würde. Da Maxime gerade noch unter der Dusche stand, schlüpfte er kurz heraus und ich konnte ihn fragen, ob Chico und Caroline sich kennenlernen durften. Er hatte nichts dagegen und holte noch eben ein paar Wechselklamotten für Maxime aus dem Wandschrank im Schlafzimmer. Ich setzte mich mit dem Baby auf dem Schoß auf den Boden und rief dann Chico, der uns weiterhin misstrauisch von seiner Ecke aus beobachtet hatte. Zuerst wollte er auf mich zu stürmen, doch da das Baby wieder quietschte, stoppte er und kam nur zögerlich näher. Die ganze Zeit schnupperte er, während er einen Schritt vor den anderen setzte. Caroline dagegen streckte freudig plappernd die Hand in seine Richtung. Damit sie nicht plötzlich nach ihm greifen konnte, nahm ich ihre Hand in meine und legte den kleinen Finger in die Handfläche. Kurz wollte sie wegziehen, doch dann fixierte sie wieder den Hund, der sich weiter näherte. In zwei Schritten Entfernung blieb Chico stehen und streckte nur den Kopf zu uns. Als ich meine freie Hand nach ihm ausstreckte, machte er doch die letzten Schritte und schnupperte am Kopf des Babys. Sie drehte ihn sofort herum und starrte den Hund mit großen Augen an. Nach dem ersten Schreck wollte sie nach ihm patschen. Ich forderte Chico auf, sich neben mich zu setzen, und nahm auch ihre zweite Hand. Er hatte zwar kein Fell, an dem sie ziehen konnte, aber auch in die Haut krallen oder am Ohr ziehen würde er sich nicht gefallen lassen. So konnte ich das Schlimmste verhindern. Beruhigend sprach ich auf beide ein, wobei ich das Gefühl hatte, der Nervöseste von uns zu sein. Die ganze Zeit behielt er Caroline im Auge, bis ihre Finger seinen Rücken berührten. Sie strich kurz darüber und plapperte fröhlich, zuckte aber weg, als Chico ihr plötzlich über die Wange leckte. Lachend zog ich sie wieder vollständig auf meinen Schoß und drückte sie beruhigend an meine Brust, da ihre Unterlippe bereits bedrohlich zitterte. Mit der freien Hand streichelte ich Chico über den Kopf und lobte ihn, dass er so vorsichtig war. »Scheinbar hat Chico sie jetzt schon gern«, witzelte Mat von der Tür her. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er und Maxime schon dort standen. Er kam zu mir herüber und nahm mir Caroline ab, die direkt wieder strahlte, als sie ihrem Onkel ins Gesicht sah. »Wollt ihr dann langsam los? Chico ist bestimmt nicht so begeistert, wenn sie erstmal anfängt, vor Hunger zu schreien.«   Mat murrte, als ich ihn leicht biss. Indem ich mit der Zunge über die Kuhle fuhr, die sich über seinem Steißbein abzeichnete, besänftigte ich ihn direkt wieder. Mit einem zufriedenen Seufzen legte er den Kopf zurück aufs Kopfkissen. Ein paar Küsse auf seine Wirbelsäule hauchend, kam ich auf seine Höhe und legte mich neben ihn. Sobald ich meine Hand auf seinen Rücken legte, drehte er sich zu mir um, und lächelte mich für einen winzigen Augenblick an. Zufrieden lächelte ich zurück. Es war einfach unglaublich, wie sehr ihm das gefiel. Beim ersten Mal waren wir beide davon überrascht worden. Ich hatte ihn ein wenig ärgern wollen, doch sobald ich merkte, wie sehr es ihn erregte, hatte ich nicht mehr stoppen können. Wer hätte denn geahnt, dass wir beide so auf Rimming standen? Mat schubste mich an der Schulter. »Arschloch. Wenn die Kinder jetzt wieder wach sind, ist das deine Schuld!« »Okay«, antwortete ich gelassen. Ich kannte das Spiel schon: Es fiel Mat noch immer schwer, sich fallen zu lassen. Jedes Mal, wenn er sich dabei erwischte, musste er mich danach provozieren. Oder es zumindest versuchen. Mittlerweile kannte ich ihn zu gut, um darauf hereinzufallen. »Und warum mussten wir jetzt unbedingt nach unten? Wir haben kein Gel gebraucht!«, meckerte er weiter. Ich wanderte mit den Fingern sanft über seinen Unterarm. »Hör auf rumzumeckern und gib endlich zu, dass es dir gefallen hat.« »Na gut.« Er murrte und rollte sich zusammen. Doch schon zwei Sekunden später streckte er sich und sah mich an. »Soll ich dir noch einen blasen?« »Nur, wenn du unbedingt willst. Ich komm auch ohne klar.« Wenn ich sah, wie sehr es ihm gefiel, war das Entlohnung genug. Er nickte und legte sich direkt neben mich, den Kopf leicht gegen meine Brust gelehnt. Ich legte den Arm um ihn und streichelte leicht über seinen Rücken. Dafür, dass ich kurzzeitig gedacht hatte, dass der Abend versaut war, hatte er sich noch richtig gut entwickelt. Maxime und Caroline waren einfach wundervolle Kinder. Es gab da nur eine Sache, die mir nicht aus dem Kopf wollte. Ich räusperte mich und sah zu Mat herunter: »Maxime hat da vorhin beim Einkaufen etwas gesagt ...« Er hob den Kopf. So wie er mich ansah, wusste er schon, in welche Richtung es ging. Dennoch wartete er darauf, dass ich es aussprach. Ich holte tief Luft. »Maxime hat gesagt, du hättest ihm gesagt, dass wir uns sehr lieb haben ...« Seufzend richtete sich Mat auf. »Ich musste ihm das ja irgendwie erklären. Ich glaub nicht, dass es angemessen gewesen wäre, ihm zu erklären, dass wir einfach nur zum Spaß Sex haben.« Auch ich stützte mich auf den Ellenbogen ab. »Also hast du ihn angelogen?« Überrascht stellte ich fest, dass Mat meinem Blick auswich. Er sah von links nach rechts und rang mit den Worten. Bevor er auch nur eines hervorbrachte, sah er mich wieder an. »Ja ... vermutlich. Ich weiß nicht wirklich. Ich empfinde etwas für dich, aber ich glaube nicht, dass es Liebe ist. Da ist kein Herzklopfen, keine rosarote Brille. Ich will dir die Welt nicht zu Füßen legen oder was weiß ich für ein Geschnulze. Ich bin einfach nur gern in deiner Nähe und vertraue dir.« Da er mich abwartend ansah, nickte ich einfach nur. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Nach einem Moment wanderten Mats Augen wieder kurz zur Seite. Als er seinen Blick wieder auf mich richtete, war er ganz der Alte: »Ich würde langsam wieder hoch wollen. Caroline wacht manchmal noch auf. Kommst du mit?« »Nein. Ich glaub, das ist mir zu eng. Außerdem ist es komisch, mit einem fremden Kind im Bett zu schlafen. Chico kann aber gern oben bleiben, wenn es dir recht ist.« »Okay.« Mat nickte abwesend. »Bleibt es dann dabei, dass wir morgen mit den beiden einen Ausflug machen?« »Klar, hab ich doch versprochen. Ruf einfach kurz durch, wenn du mit dem Frühstück anfängst, damit ich rechtzeitig oben bin.« »Dann bis morgen.« Er strich mit der Hand kurz über meine Brust, während er aufstand. Mit der anderen sammelte er das Lecktuch ein. »Ich nehm gleich den Müll mit.« Ich murmelte ein »Danke« und drehte der Tür den Rücken zu. Da ich davon ausgegangen war, Mat hätte das Zimmer schon verlassen, erschrak ich, als er plötzlich fragte: »Bist du jetzt wütend?« Ich seufzte und drehte mich zurück. »Nein. Keine Ahnung ... Ich hätte mich nur vielleicht über eine andere Antwort gefreut.« Seine Augen wanderten zur Seite und er nickte leicht. »Tut mir leid.« Ich nickte ebenfalls und drehte ihm wieder den Rücken zu. Diesmal zog ich allerdings direkt die Decke über mich. Ich war wirklich nicht wütend, sondern einfach nur sonderbar enttäuscht. Dabei hatte ich nicht einmal gewusst, dass ich gern eine andere Antwort gehört hätte, bis Mat seine aussprach. Als Maxime mich darauf angesprochen hatte, hatte es mich einfach nur sehr irritiert und sogar ein wenig abgeschreckt. Daher überraschte es mich selbst, dass Mats Abfuhr mich verletzte. Doch das würde sich schnell wieder legen. Ich hatte keinen Grund, deshalb mit ihm zu schmollen. Dann war er eben nicht verliebt, na und? Das würde nichts an unserem Verhältnis ändern. Er hatte es selbst gesagt: Er war gerne mit mir zusammen und vertraute mir. Das war mehr, als ich mir vor ein paar Stunden noch erträumt hätte. Kapitel 33: Encuentro en la bañadera ------------------------------------ Ich nahm etwas von dem Schaum aus der Wanne und legte ihn Chico auf den Kopf. Dieser sah mich einen Moment verwundert an, bevor er die Nässe bemerkte und ihn sich empört vom Kopf schüttelte. Ups, so war das nicht gedacht. Mat würde sich bedanken. Wenn ich Glück hatte, konnte ich das bereinigen, bevor er nach Hause kam. Mit verspieltem Knurren zerstäubte Chico die letzten Schaumreste in alle Richtungen und kam dann an die Wanne, um in den überstehenden Schaum zu beißen. Schallend lachte ich, als er sich angewidert die Zunge säuberte. Er war eben noch immer sehr verspielt. Ich tätschelte seinen Kopf. Erneut erschreckte er sich vor der Nässe. Nun war es ihm zu viel und er zwängte sich durch die angelehnte Badtür nach draußen. Entspannt lehnte ich mich zurück. Eigentlich sollte ich langsam aus der Wanne, das Wasser wurde kalt, aber ich war zu faul. Als ich einen Schlüssel in der Tür hörte, schreckte ich hoch. So viel dazu, dass ich vorher noch saubermachte. Na ja, er würde schon nicht ausflippen. » ... gut geht«, hörte ich Mat im Flur. Hatte er schon wieder spontanen Besuch mitgebracht? Dass wir Maxime und Caroline betreut hatten, war doch gerade mal eine Woche her. Wobei wir diesmal nicht verabredet waren. Somit war wohl eher ich der unangekündigte Besuch. »Mecker nicht rum. Sei lieber froh, dass du nicht kochen musst«, hörte ich eine zweite, unbekannte Männerstimme. Wer zur Hölle war das? Mat motzte undeutlich etwas, wurde aber von einer dritten Männerstimme übertönt. »Ich muss mal eben.« Da die Tür sich im selben Moment öffnete, kam mein empörtes »Stopp!« einen Augenblick zu spät. Im Bad stand ein großer, muskulöser blonder Kerl, der mindestens genauso verwirrt dreinschaute, wie ich es war. Ein weiterer, braunhaariger Mann, der genauso groß, aber weniger kräftig gebaut war, kam eine Sekunde später dazu. Eingehend musterte er mich und drehte sich dann zur Tür. »Hey, Mat, da sitzt ein ziemlich gutaussehender Kerl in deiner Badewanne.« Auch die Augen des Blonden wanderten über mich. Hatten die überhaupt keinen Anstand? Mat stöhnte und drängte sich dann ebenfalls ins Bad, das selbst für zwei Menschen schon sehr eng war. Sobald er mich sah, änderte sich der genervte Ausdruck in ein breites Grinsen. Er nahm sich ebenfalls Zeit, mich zu mustern, dann wandte er sich an die anderen beiden: »Würdet ihr bitte im Wohnzimmer warten?« Zum Glück kamen sie der Aufforderung nach. Ich hatte mich schon fast wie ein Zootier gefühlt, dass von allen angestarrt wurde. Mat grinste noch immer breit und setzte sich an den Wannenrand. »Was machst du denn hier? Wolltest du mich überraschen?« »Nein, eigentlich nicht. Dann hätte ich dafür gesorgt, dass Chico hier nicht so eine Sauerei veranstaltet.« Ich deutete auf die verteilten Seifenspritzer. »Mein Durchlauferhitzer heizt nicht richtig, da muss ein Techniker kommen. Aber ich brauchte dringend ein Bad.« »Von mir aus kannst du mich gerne öfter so überraschen.« Er zwinkerte mir zu und stand dann auf. »Ich geh dir die beiden mal vom Hals halten, damit du dich anziehen kannst.« »Danke.« Ich nahm das Handtuch an, das er mir reichte, und trocknete mich ab, während er das Bad verließ und die Tür schloss.   Sobald ich das Wohnzimmer betrat, richteten sich die Blicke der beiden unbekannten Männer auf mich. Doch nun, wo ich auch wirklich auf sie achten konnte, kam mir der Braunhaarige gar nicht mehr so unbekannt vor. War das nicht der Kerl aus der Bahn? Der, der mir Mat so angepriesen hatte? In sein Gesicht schlich sich ebenfalls Erkenntnis, doch er sagte nichts. Stattdessen musterte er mich noch eingehender und wandte sich dann an Mat. »Das ist also der Grund, weshalb du dich in letzter Zeit so rar machst?« Diesem war anzusehen, dass ihm die Situation unangenehm war. Seit unserem Gespräch, das Maxime angestoßen hatte, achtete er genau darauf, was er in meiner Gegenwart sagte. Es hatte sich ansonsten nichts geändert, aber das allein war schon anstrengend genug. Es war nicht nötig, mir keine Hoffnungen zu machen. Ich hatte das schon verstanden und es war vollkommen in Ordnung. Um ihm das zu ersparen, entschied ich, mich zurückzuziehen. Offensichtlich störte ich sowieso, wenn er seine Fickbekanntschaft zu Besuch hatte. Verdammt, mich nervte jetzt schon, dass ich auf die beiden wütend wurde, obwohl sie nicht einmal etwas getan hatten. »Tut mir leid, dass ich gestört habe. Ich wünsch euch noch einen schönen Abend.« »Eloy! Bleib hier.« Mat sprang auf, packte mich am Arm und zog mich ins Schlafzimmer. Einer der beiden Männer pfiff obszön. Sobald sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, fragte Mat: »Warum willst du gehen?« »Ich will dir unangenehme Fragen ersparen. Außerdem störe ich doch sicher.« Er fasste meinen Arm fester und stellte sich zwischen mich und die Schlafzimmertür. Eingehend musterte er mich, wobei ein anzügliches Grinsen in sein Gesicht trat. »Bist du etwa eifersüchtig?« »Nein.« Okay, vielleicht war das ein klein wenig geflunkert. Die beiden machten mich allein durch ihre Anwesenheit rasend, aber das würde ich nicht zugeben. »Ich weiß nur, dass du alles tust, damit ja niemand auf die Idee kommt, wir könnten ein Paar sein. Ich hab keine Lust, euch zuzusehen.« Er schnaufte lachend. »Warum gehst du davon aus, ich würde mit ihnen vögeln?« »Weil der braunhaarige Kerl dich mir ziemlich offensiv angepriesen hat, als ich ihm in der Bahn begegnet bin.« »Du meinst, als du mich gestalkt hast?« Mat verschränkte die Arme vor der Brust und machte sich etwas breiter. Er war ganz klar auf Konfrontation aus. Das heizte meine Wut nur noch mehr an. Es war schwer, ihr keine Luft zu machen. »Ich wollte wissen, ob du in irgendwelche illegalen Sachen verwickelt bist. Das ist kein Stalken, sondern Ermittlungen.« »Wenn du in deiner Freizeit Leute verfolgst, ist das Stalken.« Mats Augen nahmen eine unangenehme Kälte an, wie sie es mir gegenüber schon lange nicht mehr getan hatten. »Mat, bitte, ich habe keine Lust, mit dir zu streiten. Du hast recht, es war nicht richtig. Bist du jetzt zufrieden und lässt mich gehen?« »Nein!« Blitzschnell trat er auf mich zu und drückte mich zum Bett. Erst als ich schon fast darauf lag, schaffte ich es, Widerstand aufzubauen. »Mat, was soll das?« Er schob seine Hände unter mein Shirt und griff nach meinem Hosenknopf. Schnell packte ich seine Hände, um ihn davon abzuhalten, ihn zu öffnen. Mit einem wütenden Laut wehrte er sich dagegen und sah mir dann mit wild funkelnden Augen ins Gesicht. »Ich will dir zeigen, dass es mir scheiß egal ist, ob uns wer für ein Paar hält oder was die beiden da von uns denken.« Da er an meiner Körpermitte keine Chance hatte und ich seine Hände weiterhin festhielt, drängte er seine Lippen auf meine. Ich packte seine Hände fester, presste sie gegen seine Brust, sodass er sich von mir entfernen musste, um sich nicht selbst wehzutun, und drückte ihn dann neben mich aufs Bett. Schnell rollte ich mich über ihn. »Lass den Scheiß!« Wütend fauchte er und entriss mir seine Hände. Ich machte ein paar Schritte nach hinten, damit er Platz hatte, um aufzustehen. Eine Weile standen wir uns einfach nur gegenüber und starrten uns zornig an. Langsam wich die Wut aus Mats Miene und er setzte sich mit einem Seufzen hin. »Es tut mir leid. Ich hab es übertrieben. Ich wollte einfach nicht, dass du einen falschen Eindruck hast oder dir vielleicht doch noch Hoffnungen machst. Glaub mir, es ist mir vollkommen egal, was andere denken. Dann halten sie uns eben für ein Paar, das geht mir ziemlich am Arsch vorbei. Aber ich möchte dir nicht wehtun, weil du dich in etwas verrennst.« »Keine Sorge, ich hab die Botschaft schon beim ersten Mal verstanden.« »Was soll dann dieses Eifersuchtsgetue?« »Wenn du mich hättest gehen lassen, wäre es in Ordnung gewesen. Ich wollte nur nicht mitbekommen, was ihr tut.« Mat schüttelte den Kopf. »Du glaubst doch nicht, dass ich dich einfach gehen lasse, wenn ich merke, dass du wütend bist?« »Warum nicht? Es kann dir doch egal sein.« Er verdrehte die Augen, stand auf und kam auf mich zu. »Weil es mir nicht egal ist. Im Gegensatz zu allen anderen ist es mir nicht egal, was du von mir denkst.« Ich fuhr mit der Hand durch meine Haare. Was zur Hölle sollte dieses Hin und Her? Das regte mich auf! Ich wollte mich aufs Bett setzen, merkte aber gerade noch rechtzeitig, dass Chico genau an der Stelle unter der Bettdecke lag. »Eloy, nochmal, weil du es scheinbar nicht verstanden hast: Auch wenn ich nicht in dich verliebt bin, du bist mir trotzdem wichtig! Wenn ich mich entscheiden muss, ob du wütend und eifersüchtig meine Wohnung verlässt, weil du dir in deinem Machohirn irgendwas zusammenspinnst, dass ich mit den beiden ficke, oder ich dich davon abhalte, indem ich mit dir ficke, dann ist das für mich eine ziemlich klare Entscheidung.« »Du hast also keinen Sex mit ihnen?«, fragte ich bewusst provokant und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte ihn bisher immer für absolut ehrlich gehalten. Aber das war eine glatte Lüge! »Ja! Nein!« Er stieß einen frustrierten Laut aus. »Ich kenne Toby, seitdem ich 17 bin. Er ist mein bester Freund. Ich hatte noch nie etwas mit ihm. Und Roger hab ich ein paar Jahre später beim Cruising kennengelernt. Ich wusste nicht, dass er sein Freund ist, das hab ich erst später herausgefunden. Wie auch immer ... Ja, ich hatte Sex mit Roger. Ziemlich häufig sogar. Er ist einer der wenigen, die nicht sofort Reißaus genommen haben, als sie von meiner Krankheit erfahren haben. Durch Toby haben wir uns im Laufe der Jahre angefreundet. Sie haben sich Sorgen gemacht, weil ich mich in letzter Zeit so selten melde, und Roger mich schon seit April nicht mehr beim Cruisen gesehen hat.« »Seit April?«, fragte ich wenig geistreich und suchte mir eine andere Stelle, an die ich mich setzen konnte. Er schüttelte schmunzelnd den Kopf, stellte sich erneut vor mich und legte die Hände an meine Wangen. Vorsichtig hob er mein Gesicht an, bis ich in seines sah. »Ja, du Trottel! Es gibt überhaupt keinen Grund, eifersüchtig zu sein! Ich habe seit April weder mit Roger noch mit sonst einem anderen Kerl geschlafen.« »Warum?« Es fiel mir schwer, das zu glauben. Nicht, weil ich glaubte, dass er log, sondern weil es für mich keinen Sinn machte. Er zuckte mit den Schultern und kam noch etwas näher. »Weil ich keine Lust hatte. Ich hatte doch meinen Nachbarn, den ich nur ein wenig piesacken musste, damit er geil wurde. Das war deutlich einfacher, als irgendeinen Kerl beim Cruising zu finden, der nicht sofort wegrennt. Außerdem hat es mehr Spaß gemacht. Ich musste mich nicht verstellen, sondern durfte einfach ich selbst sein, weil er mir genug kontra gegeben hat und das abkonnte.« Mat war einfach nur albern. Wenn er nicht abgestritten hätte, verliebt zu sein, wäre das schon fast einem Liebesgeständnis gleichgekommen. Mir wurde bewusst, dass das auf vieles zutraf, was er mir im Laufe der Zeit gesagt hatte. In einem anderen Kontext hätte man es so auffassen können. Was auch immer er für mich empfand, lag vielleicht nicht so weit von Liebe entfernt, wie ich es bisher vermutet hatte. Und scheinbar war er mir mal wieder schon lange einen Schritt voraus. Mat lächelte. »Ist jetzt wieder gut?« Ergeben nickte ich und schmiegte mich etwas gegen seine Hand. Er streichelte kurz über meine Wange und ließ mich dann los. »Möchtest du die beiden dann kennenlernen?« Ich nickte und lächelte ihn an. »Wenn einer von ihnen dein bester Freund ist, muss ich das ja wohl.« »Dann komm.« Er öffnete die Tür und deutete ins Wohnzimmer. »Chico ¡ven!«, rief ich meinen Hund. »Du hast genug geschlafen.« Er steckte den Kopf unter der Decke hervor und sah Mat an, als erhoffte er von ihm die Erlaubnis, liegenzubleiben. Da diese nicht kam, stand er träge auf und trottete zu ihm. Scheinbar war er mit mir noch immer bockig wegen des Wassers und der Seife. »Mat, lass den Hund im Schlafzimmer!«, kam es von einem der Männer. Wenn ich mich nicht täuschte, war das der Blonde. »Keine Sorge, der bringt dich nicht um«, erwiderte Mat wenig beeindruckt und scheuchte Chico durch die Tür. Ja, es war ganz eindeutig der muskulöse Blonde gewesen. Er versteckte sich nämlich halb hinter dem anderen. War ihm das nicht peinlich? Scheinbar nicht, denn er klammerte sich noch mehr an ihn, als er Chico erblickte. Mat ließ sich davon nicht beeindrucken und stellte sich neben mich. »Das ist Eloy, mein Nachbar.« Er deutete nacheinander erst auf den Blonden, dann auf den Braunhaarigen. »Das sind Toby und Roger.« Ich nickte den beiden zu, wobei der Möchtegernzuhälter mich angrinste. »Schön, dann haben wir endlich mal einen richtigen Namen für dich. Bisher hießt du immer nur ›Scheißbulle‹ oder ›Kinderficker‹.« »Tut er immer noch«, antwortete Mat lapidar und verschwand für einen kurzen Augenblick in der Küche, um einen Klappstuhl aus der Ecke zu holen. Diesen stellte er neben den Couchtisch und ließ sich dann auf dem Sessel nieder. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, sprang Chico auf seinen Schoß. Das hieß wohl, ich sollte auf dem Stuhl sitzen. Unwillig ließ ich mich darauf nieder. Das Riesenbaby drängte sich noch näher an seinen Freund, der ihn jedoch ignorierte. Stattdessen grinste er Mat an. »Eigentlich hätten wir wissen müssen, dass du dir, wenn dann, einen feurigen Latino anlachst.« »Wenn man weiß, wie man mit ihm umgehen muss, ist er eigentlich ganz zahm. So wie auch sein Hund.« Der letzte Satz war eindeutig an das Riesenbaby gerichtet. Dieses schien langsam zu verstehen, wie albern es sich benahm, und setzte sich etwas aufrechter hin. Dennoch klammerte es sich an seinen Sitznachbarn. Dadurch wurden zwei fast identische Ringe an ihren Händen sichtbar. Die beiden waren verheiratet? Er warf einen vorsichtigen Blick auf Chico, dann sah er zwischen Mat und mir hin und her. »Tut mir leid, wenn wir euch Probleme bereitet haben. Wir wollten wirklich nur sehen, ob bei Mat alles in Ordnung ist.« »Klar, Eloy und Chico passen auf mich auf.« Für einen kurzen Augenblick lächelte Mat mich an. Mir dagegen wurde bewusst, dass sie einen Teil unseres Streites mitgehört haben mussten. Das war mir äußerst unangenehm. »Außerdem hab ich dir doch immer mal wieder geschrieben.« Möchtegernzuhälter zog eine Augenbraue hoch. »Schön, dass du Toby geschrieben hast. Und was ist mit mir? Wir hatten wirklich Sorge, dass dir irgendwas zugestoßen ist.« »Pft. Du vermisst doch einfach nur meinen Arsch«, erwiderte Mat. Auch wenn es sicher nur scherzhaft gemeint war und der andere unbeeindruckt schien: Mich traf es wie ein Pfeil in die Brust. »Ja klar.« Der Braunhaarige wandte sich an mich und schmunzelte leicht: »Du hast dich, was Mat betrifft, also doch umentschieden?« Kapitel 34: Secretos -------------------- Mat kuschelte sich an mich, doch ich rutschte weg. Ich wollte gerade nicht kuscheln. Ich war müde und wollte schlafen. Da er jedoch ein wenig murrte, legte ich ihm als Kompromiss meine Hand auf den Bauch. Mehr Körperkontakt war mir fürs Schlafen zu warm. »Bist du wütend auf mich?«, fragte er leise. Ich stöhnte genervt. »Nein. Ich bin einfach nur müde.« »Okay, dann ist ja gut«, murmelte er und wollte mir den Rücken zudrehen. Doch ich hielt ihn fest und zog ihn an mich, bis ich den Arm um ihn legen konnte. Jetzt hatte ich sowieso keine Ruhe mehr. »Mat, was ist los?« Er rutschte noch ein wenig näher an mich heran und legte seine Stirn gegen meine Brust. »Roger meinte, du könntest ein paar meiner Sprüche in den falschen Hals bekommen haben.« Wow, das hätte ich gerade ihm ja nicht zugetraut. Immerhin hatte er nicht einmal bemerkt, dass er seinem Mann Angst machte. Er war irgendwann sogar so weit gegangen, diesem Chico in einem unbeobachteten Moment einfach auf den Schoß zu setzen. Erst als ich mich mal alleine mit dem Blonden unterhalten hatte, traute er sich, dem Hund kurz über den Kopf zu streicheln. Bis dahin hatte ihm niemand gesagt, dass Chico fast täglich bei Mat war, sodass er schon lange hätte bemerken müssen, wenn er wirklich allergisch auf ihn reagierte. Damit klärte sich aber für mich auch, warum er solche höllische Angst hatte. Wenn ich befürchten müsste, dass mich der Kontakt zu einem Hund umbrachte, hätte ich mich sicher nicht anders verhalten. Merkwürdig also, dass ausgerechnet sein aufgedrehter Freund bemerkt hatte, dass es mich teilweise sehr störte, dass er und Mat sehr offensiv miteinander schäkerten und keinen Hehl daraus machten, was zwischen ihnen gewesen war. »Es fällt mir nicht so leicht, zu akzeptieren, dass er mit dir geschlafen hat und ihr so locker darüber redet. Da werde ich ein wenig eifersüchtig.« »Möchtest du, dass ich den Kontakt zu ihnen abbreche?« Verwirrt versuchte ich, seinen Blick im Halbdunkel zu erkennen. War das eine ernstgemeinte Frage? Es war doch mehr als deutlich geworden, wie wichtig ihm diese beiden Männer waren. Er war ihnen gegenüber so viel offener gewesen, als bei jeder anderen Person, mit der ich ihn bisher erlebt hatte. »Nein! Es ist zwar irgendwie komisch, aber sie sind deine Freunde. Ich werd mich wohl an den Gedanken gewöhnen müssen.« »Das ist gut. Sonst hätte ich dich nämlich bitten müssen, zu gehen«, erwiderte er vollkommen ernst. »Ich werde für dich keinen Kontakt zu meinen Freunden abbrechen.« »Nein, keine Sorge, das werde ich nicht von dir verlangen. Ich bin zwar ›ein heißblütiger Latino‹ und durchaus etwas eifersüchtig, aber Kontrollzwang liegt mir nicht.« Ich massierte sanft seinen Nacken. Er drückte den Kopf dichter gegen meine Brust und nickte. Seine Hand legte er vorsichtig auf meine Narbe und streichelte darüber. Ich hatte gehofft, dass damit alles geklärt war, doch noch immer hing die Atmosphäre des Unausgesprochenen in der Luft. »Hast du sonst noch etwas, worüber du reden möchtest?« »Viel zu viel«, murmelte er und drückte sich noch ein Stück dichter an mich. Ich seufzte. Musste das gerade jetzt sein? Ich musste morgen früh wieder raus. Ich wollte ihm gerade vorschlagen, das am nächsten Tag zu diskutieren, als ich eine feuchte Spur spürte, die der Schwerkraft von der Narbe aus folgte. Also schluckte ich es herunter und fragte stattdessen: »Was liegt dir auf dem Herzen?« »Roger meinte, ich würde dich verlieren, wenn ich dich weiter so behandel.« Ein leises Knurren entrang sich meiner Kehle. »So ein Unsinn! Das hat er doch nicht zu entscheiden!« »Es ist dir also egal, dass ich dir nichts über mich verrate?« Er hob leicht den Kopf. Das war eine schwere Frage. Ich nahm mir etwas Zeit, darüber nachzudenken. »Ich glaub, bei einigen Sachen bin ich ganz froh, wenn ich sie nicht genauer weiß. Aber im Grunde hätte ich nichts dagegen, wenn ich etwas mehr über dich wüsste. Ich werde dich aber auch nicht dazu zwingen, mir etwas zu erzählen.« »Und wenn dir das, was ich erzählen würde, nicht gefällt?« Ich seufzte erneut und schob ihn an den Schultern etwas weg. »Mat, ich kenn dich gut genug, um zu wissen, dass du sicher nicht viel Gutes zu erzählen hast. Meinst du, ich wäre hier, wenn es mich stören würde?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, Toby und Roger würden sich von mir abwenden, wenn sie alles wüssten. Und Peter auch.« Der letzte Teil ließ mich doch zögern. Bisher hatte ich aus seinen Erzählungen immer angenommen, dass sein Bruder ihn bei allem begleitet hatte. Mat schien mein Zögern zu bemerken und drehte mir den Rücken zu. Vorsichtig legte ich den Arm um ihn und rutschte heran. »Du könntest es versuchen. Erzähl mir das Schlimmste, von dem du glaubst, dass dich dafür alle verlassen würden. Und ich erzähle dir das Schlimmste, was ich erlebt habe.« Er drehte sich wieder zu mir. »Und inwiefern garantiert mir das, dass du nicht einfach wegrennst?« »Ich verspreche es. Ich werde hierbleiben. Danach entscheiden wir, ob wir mehr wissen wollen.« Er seufzte tief und nickte dann. »Du musst mir versprechen, dass Peter das niemals – unter keinen Umständen! – erfährt. Egal, was passiert: Er – und jeder andere – darf das niemals erfahren.« »Ist gut.« Ich hatte keine Ahnung, warum ich es seinem Bruder jemals sagen sollte. Daher war es nicht schwer, das zu versprechen. Mat haderte noch einen Augenblick, dann drückte er sich von mir ab, schaltete das Licht an und setzte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ernst sah er zu mir herunter und patschte sich leicht auf den Oberschenkel. »Magst du herkommen?« Ich folgte der Aufforderung und legte meinen Kopf dort ab. Dennoch rollte ich mich auf den Rücken, um ihn ansehen zu können. Er wanderte eine Weile mit den Fingern über meine Rippen, bevor er tief Luft holte. »Peter glaubt, dass ich unserem Pflegevater zufällig begegnet bin und er uns aus reiner Nächstenliebe geholfen hat. Das stimmt aber nicht ganz. Ich hatte ihn ein paar Mal bei den älteren Jungs gesehen und wusste, dass er richtig viel Kohle hat. Er hatte mich auch schon angesprochen und sein Interesse bekundet, aber hat dann doch einen Rückzieher gemacht, als er mitbekommen hat, dass ich minderjährig war. Das war ihm zu heiß. Als ich den halb bewusstlosen Peter durch das Viertel geschleppt habe und ihn gesehen hab, hab ich ihn angefleht, uns zu helfen. Ich hab ihm gesagt, dass er alles bekommt, was er will, wenn er meinen Bruder rettet. Ich hab dann währenddessen das Bewusstsein verloren. Keine Ahnung, was das für ein Teufelszeug war, was wir uns da gespritzt haben, ich hab das nie herausgefunden. Als ich im Krankenhaus wieder zu mir gekommen bin, wollten wir fliehen, doch Chris hat uns abgefangen. Er musste nicht einmal etwas sagen, es war klar, dass er das Angebot angenommen hatte. Da er Peter gerettet hatte, blieb mir also nichts anderes übrig, als zu seinen Bedingungen zustimmen.« Ich haderte. Sollte ich wirklich ... Ich streichelte über seinen Oberschenkel und fragte vorsichtig: »Was waren seine Bedingungen?« Mat schnaufte. »Das ist das Schlimmste daran: Letztendlich hätte uns nichts Besseres passieren können. Er eröffnete mir in einer ruhigen Minute, dass er mein Angebot gerne langfristig nutzen wollte. Er hätte sich bereits erkundigt und es wäre kein Problem, uns bei sich aufzunehmen, ganz offiziell. Wir sollten bei ihm leben, zur Schule gehen, unsere Ausbildung machen. Das gesamte Geld, das er für unsere Pflege bekam, würde er uns zur Verfügung stellen.« »Wo war der Haken?«, fragte ich bang. Das klang bisher nicht nach etwas, was der Bruder nicht erfahren durfte. »Sobald ich achtzehn war, musste ich ihm zur Verfügung stehen«, antwortete Mat, nachdem er eine Weile in die Leere gestarrt hatte. »Da er mir in einem Nebensatz eröffnete, dass er uns hatte testen lassen und ich HIV-positiv war, blieb mir gar nichts anderes übrig. Ich hatte bereits Jungs daran krepieren sehen. Ich wusste, sobald ich die ersten Anzeichen zeigte, würde ich keine Freier mehr finden. Außerdem wäre Peter dann allein gewesen. Ich fragte mich zwar, was er davon hätte, da ich davon ausging, eh nicht so lange zu leben, aber ich hab zugestimmt.« Ich musste unweigerlich schmunzeln. Auch er konnte nicht anders und schüttelte leicht grinsend den Kopf. Offensichtlich hatte er doch so lange überlebt. Dann sah er mich erwartungsvoll an. Er war fertig. Doch es gab noch eine Sache, die ich loswerden wollte: »Ich glaube nicht, dass dein Bruder dich dafür verurteilen würde, das Angebot angenommen zu haben.« »Nicht dafür. Aber weil ich es ihm nicht gesagt habe. Er vergöttert Chris. Für ihn war er der Vater, den er nie hatte. Chris hat ihn immer unterstützt und auch sein Talent erkannt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er auch zu mir ein ähnliches Verhältnis gehabt, aber ich konnte nie unsere Abmachung vergessen.« »Hat er sie eingefordert?« Ich glaubte zwar nicht daran, hoffte aber, dass er es sich anders überlegt hatte. Doch Mat nickte. »Er hat mich nie gezwungen, falls es das ist, was du befürchtest. Aber ja.« Einerseits war ich erleichtert, dass er Mat zumindest nicht körperlich gezwungen hatte, andererseits war mir klar, dass das auch gar nicht nötig war. Die Not eines jungen Mannes so dermaßen auszunutzen, war genauso schlimm. Welche andere Wahl, als seinem Teil der Abmachung nachzukommen, hätte Mat denn gehabt? Er strich mit den Fingerspitzen über meine Narbe. »Du bist dran.« Unweigerlich schmunzelte ich. »Die hat nicht einmal etwas damit zu tun. Die hab ich erst ein paar Tage später erhalten. Willst du die Geschichte trotzdem hören?« »Dein schlimmstes Erlebnis? Ja. Vor allem, wenn die Narbe nichts damit zu hat.« »Das war in Somalia. Wir hatten erfahren, dass Rebellen ein Dorf angegriffen hatten. Wir wussten, dass es viele zivile Opfer gab, und wollten, so gut es ging, helfen. Als wir ankamen, berichteten uns einige der Überlebenden, dass sich ein paar Rebellen in einem Haus verschanzt hatten. Sie hatten eine Familie als Geiseln genommen. Wir stürmten das Haus, weil nicht davon auszugehen war, dass die Geiseln noch lebten. Außer den Rebellen hatten wir niemanden gesehen bei der Beobachtung. Die Geiselnehmer leisteten erbitterten Widerstand und wurden erschossen. Wir fanden die Leichen der Familie zusammengepfercht in einem Abstellraum. Alle mit einem Kopfschuss exekutiert. Um sicherzugehen, dass auch wirklich alle Rebellen erledigt waren, suchten ein Kamerad und ich das Haus ab. Offenbar hatten sie eines der Kinder am Leben gelassen. Wir fanden sie schwer verletzt im Keller ...« Meine Stimme brach, als ich an das kleine Mädchen mit dem gelben Haarband dachte. Ich konnte nicht in Worte fassen, was wir dort gesehen hatten. »Sie hat es nicht überlebt.« »Eloy?« Mat fuhr mir vorsichtig über den Kopf. »Du hast dein bestes versucht. Du konntest es nicht verhindern.« Ich seufzte. Das wusste ich auch. Dennoch schwirrte mir immer wieder die Frage im Kopf herum, ob wir sie hätten retten können, wenn wir früher eingegriffen hätten. Und gleichzeitig fragte ich mich, ob es nicht vielleicht doch gut war, dass sie nicht mit dem Erlebten leben musste. »Ich bekomm ihr Bild nicht aus dem Kopf. Sie taucht immer wieder dort auf. Es ist besser geworden, aber manchmal erscheint sie mir noch immer im Traum.« »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht so spät am Abend ansprechen sollen.« Mat ließ sich an der Wand hinabgleiten und nahm mich in den Arm. Ich machte mich daraus los, was ihn schnaufen ließ. »Was ist, fällt dir der Schwanz ab, wenn du das kleine Löffelchen bist?« Lachend verdrehte ich die Augen. »Nein. Ich will kurz ins Bad. Wenn ich jetzt schlafe, gibt es Albträume.« »Wollen wir noch eine Weile ins Wohnzimmer und uns einen Film ansehen?« Der Vorschlag klang gut und ich nahm ihn gerne an. Dann durfte er mich auch gern in den Arm nehmen, wenn er unbedingt wollte. Kapitel 35: El Paso ------------------- »¡Tío Eloy!«, wurde ich gleich dreistimmig begrüßt, als ich aus dem Familienvan stieg. Natürlich waren es die Zwillinge, die zuerst bei mir ankamen und mir mit Anlauf in die Arme sprangen. Ihr kleinerer Bruder musste sich damit zufriedengeben, sich an meine Hüfte zu klammern. »Hallo ihr drei! Wie geht es euch?« »Gut«, antwortete Milagros sofort. Sie schien noch immer dieselbe Plaudertasche zu sein. »Wir haben ganz viele Kälbchen dieses Jahr gehabt. Oh, du musst dir die unbedingt anschauen. Und unsere Zimmer! Wir durften Poster aufhängen!« »Ist gut, ich schau sie mir gleich an. Dafür müsst ihr aber runter.« Ich setze sie ab, doch ihr Zwillingsbruder Alfonso klammerte sich fester an mich. Ich strich durch seine wilden Locken. »Magst du mir auch dein Zimmer zeigen?« Er nickte enthusiastisch, ließ aber meinen Hals nicht los. Stattdessen flüsterte er mir ins Ohr: »Kannst du mich tragen?« Ich verbat mir, die Augen zu verdrehen oder etwas dazu zu sagen. Ich kannte die Einstellung meiner Schwester: Niemand sagte den Kindern, dass Mädchen oder Jungs etwas durften oder nicht durften. Auf den Ärger hatte ich keine Lust. Ich war viel zu froh, sie alle nach fast einem Jahr wiederzusehen. »Klar. Dann muss Papa aber meine Tasche tragen.« Dieser schlug mir freundschaftlich auf die Schulter und lief bereits damit an mir vorbei. Seine Tochter folgte ihm fröhlich springend und fragte, ob darin Geschenke für sie seien. Ich beugte mich zu Jimeno herunter, der noch immer an meiner Hüfte hing. »Na, kleiner Mann. Du bist aber groß geworden!« Mir sprang sofort die Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen ins Gesicht. »Ich bin schon groß! Ich geh schon in die Vorschule!« »Was? Du bist schon so alt?«, fragte ich gespielt überrascht. »Ja! Ich bin schon«, er zählte die Finger an seiner Hand laut auf Spanisch ab und hielt sie mir dann ausgestreckt entgegen, »fünf!« »Oh, dann kommst du ja nächstes Jahr schon in die 1. Klasse. Freust du dich darauf?« Während er aufgeregt nickte, kam mir eine Idee: Vielleicht fiel seiner Mutter ja etwas ein, wie man Maxime den Einstieg in die Schule erleichtern konnte. Immerhin wuchsen auch ihre Kinder zweisprachig auf. Auch wenn es für sie natürlich einfacher war, beide Sprachen in der Schule zu benutzen. Fast alle anderen Schüler und auch Lehrer sprachen ebenfalls beides, manche Kinder sogar nur Spanisch. Ich wuschelte ihm ebenfalls einmal über den Kopf, was er mit einem weiteren Zahnlückengrinsen quittierte. »Wo ist denn eure Mama?« »In der Küche«, murmelte Alfonso und sein kleinerer Bruder schnappte sich meine freie Hand und zog mich in Richtung des Hauses. Während wir darauf zugingen, konnte ich einfach nur staunen. Als Noemí und Jonathan es gekauft hatten, war es fast auseinandergefallen. Nun erstrahlte es in vollem Glanz. Sie hatten wirklich ganze Arbeit geleistet. Auf der Veranda saß mein Vater. Freudig, auch ihn mal wieder zu sehen, strahlte ich ihn an. Doch er musterte mich nur mit ausdrucksloser Miene und blieb dann damit an Alfonso auf meinem Arm hängen. »Eloy, lass doch den Jungen runter! Er ist alt genug, um selbst zu laufen!« Ich zögerte keinen Moment und setzte ihn ab. Dass er mich schon von allein losgelassen hatte, zeigte, dass er genauso viel Respekt vor dem alten Herrn hatte wie ich. Er nahm seinen Bruder an der Hand und rannte mit ihm ins Haus. »Hallo Vater«, grüßte ich, während ich auf die Veranda trat. Er nickte kurz und musterte mich weiterhin eingehend. »Darf man so in Boston als Polizist rumrennen? Mit langen Haaren und unrasiert?« Ich atmete tief durch. Ernsthaft, ich trug schon lange keinen Militärschnitt mehr, aber lang waren meine Haare wirklich nicht. Lediglich bis zu den Ohren, genau nach Vorschrift. Und rasiert hatte ich mich zuletzt am vorherigen Morgen. »Darf man auch in El Paso, Vater.« Er schnaufte. »Esther hätte dich nie so herumlaufen lassen. Steck wenigstens dein Hemd rein!« »Maria ist aber nicht mehr Teil meines Lebens«, erwiderte ich bemüht ruhig. Ich konnte nicht verhindern, dennoch den Saum meines Hemdes zu packen und ihn in die Hose zu stopfen. »Papa, beruhig dich. Eloy ist gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen«, ertönte Lázaros Stimme hinter mir. Erfreut drehte ich mich um und sah meinem Bruder ins Gesicht, der mich anstrahlte. Wir schlossen uns in die Arme. »Es ist schön, dich endlich mal wieder zu sehen.« »Geht mir ganz genauso.« Freundschaftlich klopfte ich ihm auf den Rücken. »Wie geht es dir?« »Ich kann mich nicht beklagen. Du siehst auch aus, als hättest du es dir gutgehen lassen ohne uns.« Er ließ mich los und klopfte leicht auf meinen Bauch. Lachend strubbelte ich meinem kleinen Bruder durch die Haare. »Ich muss den bösen Jungs doch auch etwas an Gewicht entgegensetzen.« Er versuchte, sich zu befreien, schaffte es aber erst, als ich ihn nach einer kurzen Kampelei losließ. Das war so etwas wie ein Ritual zwischen uns. Ich wusste, dass er es nicht mochte, wenn ich seine Frisur durcheinanderbrachte, aber er hatte noch nie eine Chance gehabt. »Deine Mutter wartet drinnen auf dich«, unterbrach uns mein Vater. »Danke«, erwiderte ich ausweichend. Lázaro entschuldigte sich noch einmal kurz, um in den Schuppen zu gehen. Obwohl ich noch nie im Haus gewesen war, seitdem es fertig renoviert war, fand ich die Küche schnell. Ich musste nur meiner Nase folgen. An der Tür blieb ich einen Moment stehen, um den Anblick in mich aufzunehmen. Meine Mutter stand am Herd, während meine Schwester am Küchentisch einige Zutaten schnitt. Es war fast wie früher. Lediglich Maria fehlte in dem Bild. In den letzten zwanzig Jahren hatte sie immer mit in der Küche gestanden. Ich schüttelte den Gedanken ab und trat in den Raum. »¡Hola!« Meine Mutter drehte sich herum und rief erfreut: »Eloy! Komm her mein Junge, lass dich anschauen!« Sie ließ den Kochlöffel in den Topf fallen und kam auf mich zu, um mich in ihre Arme zu ziehen. Erfreut küsste sie meine Wangen ab und ließ nicht zu, dass ich mich aus ihrem Griff befreite, bis sie der Meinung war, ich hätte genug Liebe abgekommen. Scheinbar wollte sie das ganze Jahr an Zärtlichkeiten auf einmal nachholen. »Schön, dass du da bist«, verkündete sie, bevor sie sich wieder dem Topf widmete, in dem es bereits gefährlich brodelte. Dafür fiel mir gleich meine kleine Schwester um den Hals. »Hallo großer Bruder!« »Hallo Kleine!« Auf sie hatte ich mich besonders gefreut. Sie war immerhin auch die Einzige, die regelmäßig mit mir Kontakt hielt. »Jonathan hat deine Sachen nach ... Oh Gott, Lázaro! Nein, bring ihn nicht in die Küche! Geht ins Bad, ihr macht hier alles dreckig!« Mit wedelnden Armen lief sie an mir vorbei auf unseren Bruder zu, der ein vollkommen verdrecktes Kleinkind mit Rotznase auf dem Arm hielt. Zu dritt verschwanden sie um eine Ecke. Ich hatte mich schon gefragt, wo sie Domingo versteckt hielten. Offenbar war er mit seinem Onkel im Stall gewesen. Ich würde ihn später begrüßen, wenn er sauber war. »Kann ich hier etwas helfen?«, fragte ich meine Mutter, obwohl ich die Antwort bereits kannte. »Nein, Schatz, wir schaffen das schon. Du könntest zu deinem Vater auf die Terrasse gehen. Er freut sich bestimmt, wenn ihr ein wenig redet.« Da sie mich nicht ansah, konnte ich es mir erlauben, die Nase zu rümpfen. Da suchte ich mir lieber eine andere Beschäftigung. Ich könnte zum Beispiel mein Schlafzimmer suchen. Ich hatte noch nicht einmal die Treppe gefunden, da hörte ich Kindergeschrei. Nachdem ich den Geräuschen gefolgt war, stand ich im Wohnzimmer, wo die drei älteren Kinder sich auf dem Sofa rauften, während in einer Ecke ein Baby im Laufstall saß und munter vor sich hin plapperte. Den Blick hielt es dabei auf die Geschwister gerichtet, als würde es gerne mittoben. Als ich in den Raum kam, drehte es den Kopf zu mir und kam auf mich zu gekrabbelt. An den Gitterstäben zog es sich nach oben und strahlte mich an. Ich hockte mich davor und fragte freundlich: »Und wer bist du?« Als Antwort erhielt ich nur ein paar gelallte Silben, doch Milagros half aus. Sie löste sich aus dem Knäuel auf dem Sofa und rannte zu mir. »Das ist Luis. Dabei wollte ich doch endlich eine kleine Schwester.« Ich hätte sie ja gern getröstet und ihr gesagt, dass sie die bestimmt auch noch bekam, aber ich war mir nicht sicher, ob Noemí und Jonathan noch weitere Kinder wollten. Immerhin hatten sie auch mit fünf schon alle Hände voll zu tun. »Tío Eloy, warum hast du eigentlich keine Kinder?«, plapperte sie jedoch schon munter weiter. »Weil ich zu alt bin, um noch Kinder zu bekommen.« Zumindest konnte ich mir wirklich nicht vorstellen, noch einmal mit einem Baby anzufangen. Für ein Wochenende auf Caroline und Maxime aufpassen, war etwas anderes, als das die ganze Woche, Jahr für Jahr, mitzumachen. »Du könntest doch auch eines adoptieren«, schlug sie vor und sah mich dabei hoffnungsvoll an. »Am besten ein Mädchen in meinem Alter.« Ich lachte. Es war schon wirklich schade, dass sie es als einziges Mädchen nur mit Jungs aushalten musste. Das war sicher nicht leicht. »Das ist nicht so einfach. Dafür müsste ich verheiratet sein.« »Dann musst du eben wieder heiraten!«, beschloss sie. »In nächster Zeit hatte ich das nicht vor. Da musst du wohl Onkel Lázaro nerven.« Sie zog eine Schippe. »Tío Lázaro hat gesagt, dass er keine Kinder möchte und die Tiere seine Kinder sind.« Neben uns rumpelte es gewaltig, als die beiden Jungs von der Couch fielen. Jimeno rappelte sich sofort wieder auf und wollte erneut auf seinen Bruder springen, doch dieser jammerte kurz, bevor er zu weinen begann und sich den Kopf hielt. Das war meine Gelegenheit, den inquisitorischen Fähigkeiten meiner Nichte zu entkommen. Zumal der kleine Luis die Schmerzen seines großen Bruders auch zum Heulen fand. Ich nahm die beiden Schreihälse auf den Arm und tröstete sie, während ich sie aus dem Raum trug. Das Baby lieferte ich bei meiner Mutter in der Küche ab, die ganz verzückt von ihrem jüngsten Enkel war und ihn gleich in einen Babystuhl setzte und ihm ein Toast in die Hand drückte. Sofort wurde er ruhig. Alfonso schleppte ich nach oben, wo ich ihn seinem Zimmer absetzte, in das er mich unter Tränen dirigierte. Nachdem ich ihm versichert hatte, dass er nur eine kleine Beule bekommen würde, beruhigte er sich und nutzte die Gelegenheit, mal einen Erwachsenen für sich allein zu haben. Begeistert zeigte er mir seine Bücher, die er vor allem von Lázaro geschenkt bekam, und las mir aus einigen davon vor. Als er dabei ein Buch über tropische Insekten hervorholte, musste ich an Mat denken. Auch in seinem Bücherregal stand ein Buch über Koleopterologie. Zuerst hatte ich mich gewundert, da es überhaupt nicht zu den Fantasy- und Scifi-Büchern passte, die er sonst las, aber er erklärte mir, dass er sich das lediglich gekauft hatte, um einen Bekannten zu nerven, indem er ihm ständig neue Käfernamen gab. Ich verstand den Sinn zwar nicht, aber es klang schon sehr nach Mat. Während ich an ihn dachte und dabei für einen Moment meinen ältesten Neffen vergaß, wurde mir bewusst, dass ich ihn in den nächsten Tagen sehr vermissen würde. Es war schön, meine Familie zu sehen, aber ich freute mich auch darauf, in ein paar Tagen wieder bei ihm und Chico zu sein.   Ich nahm Mutter die Schüsseln ab und stellte je eine vor Jimeno und mich. Die anderen reichte ich an Lázaro, damit er weiter verteilte. Dasselbe tat ich mit den Löffeln. Während Noemí die Tortillas und Luis’ Abendessen holte, brachte Mutter den Chili-Pot. Milagros balancierte einige Schüsseln mit weiteren Beilagen hinter ihr her. Als die ersten Speisen standen, begannen die Jungs sofort darüber zu diskutierten, wer welche Beilagen zuerst bekam. Der ganze Plan wurde jedoch wieder umgeworfen, als die drei Frauen die nächste Ladung auf den Tisch stellten. Scherzhaft mischte sich auch Lázaro ein und behauptete er und ich äßen alles auf, bevor sie etwas bekommen konnten. Während der kleine Domingo es nicht verstand und ihm bereits Tränen in den Augen standen, diskutierte Jimeno mit meinem Bruder, dass wir das nicht schafften. Alfonso beschwerte sich direkt bei seinem Vater, der nur erwiderte, dass er uns half. Ich kam gar nicht dazu, etwas zu sagen. So ungewohnt war dieser lebhafte Haufen mittlerweile für mich. Außerdem liebte ich es viel zu sehr, sie dabei zu beobachten. »¡Silencio!«, donnerte mein Vater, sobald auch die Frauen saßen. Die Kinder erstarrten regelrecht in ihrer Bewegung, während Lázaro und ich uns eher in der Position aufrichteten. »Eloy, sprichst du das Gebet?« »Natürlich.« Ich faltete die Hände und begann für alle gut hörbar ein Tischgebet zu rezitieren. Es war das älteste, das ich kannte. Für den Anlass fand ich es mehr als angebracht. Sobald das »Amen« heraus war, kam wieder Leben in die Kinder. Sie hibbelten aufgeregt auf ihren Stühlen herum und baten die Erwachsenen um sie herum, ihnen ihre Schüsseln zu füllen. Schon aus Gewohnheit warteten wir alle, bis meine Mutter unserem Vater seine gefüllt und sich selbst genommen hatte. Erst dann taten Noemí, Lázaro, Jonathan und ich den Kindern auf. Wie die Möwen fielen sie über die Beilagen her. Es war ein Wunder, dass nicht das meiste Essen auf dem Tisch, sondern tatsächlich in ihren Schüsseln landete. Als alle mit Essen versorgt waren, wurde es für einen kurzen Moment still, bis unsere Mutter Lázaro in ein Gespräch darüber verwickelte, dass sie ihn in den nächsten Wochen im Garten brauchten. Vater dagegen hatte mit seinen Adleraugen erspäht, dass Domingo seine freie Hand nicht auf dem Tisch behielt und wies ihn zurecht. Jonathan langte an seiner Frau vorbei, die versuchte, Essen in den staunenden Luis zu verfrachten, und legte das Händchen mit einer freundlichen Ermahnung zurück auf den Tisch. Milagros und Alfonso redeten etwas miteinander, dass nur sie verstanden. Vor ein paar Jahren hatten sie damit angefangen und noch heute verstand keiner ihre Geheimsprache. Wobei ich mir sicher war, dass Jonathan und Noemí zumindest eine grobe Ahnung hatten, worum es ging. Jimeno schlapperte und ich half ihm, es wegzuwischen. Dann verwickelte ich ihn in ein Gespräch über die Vorschule. Oder besser: Ich fragte, wie es ihm gefiel und er erzählte mir alles, was nur im entferntesten damit zusammenhing. Irgendwann stiegen auch die Zwillinge in das Gespräch ein und erzählten über ihre Zeit in Vorschule und Kindergarten. Da sie dabei quer über den Tisch schreien mussten, dauerte es nicht lange, bis sich alle auf das Thema geeinigt hatten und wir irgendwann auch beim Thema Schule landeten.   Als die Kinder langsam unruhig wurden, ebbte auch das Gespräch für einen Moment ab. Noemí und Jonathan standen gemeinsam mit den Kindern auf, um den beiden Jüngsten beim Waschen zu helfen und Luis ins Bett zu bringen. Da er noch so klein war, ging das zum Glück sehr schnell. Die anderen Kinder durften noch ein wenig wachbleiben und sich wahlweise im Wohnzimmer oder ihren Kinderzimmern beschäftigen. Als meine Schwester zurückkam, ergriff ich die Gelegenheit: »Jimeno kommt doch nächstes Jahr in die Schule, oder? Habt ihr euch da schon Gedanken gemacht?« Sie lehnte sich etwas zurück und sah mich verwundert an. »Nicht wirklich. Er wird auf dieselbe Schule gehen wir Milagros und Alfonso. Warum fragst du?« »Erinnerst du dich noch an den Kumpel, der öfter auf die Kinder seines Bruders aufpasst.« Sie überlegt kurz und nickte dann. »Der Sohn ist etwa in Jimenos Alter. Er hat mir mal erzählt, dass er nicht in die Schule möchte, weil er dort nur Englisch sprechen darf.« »Was interessieren dich die Kinder anderer Familien?«, mischte sich mein Vater missmutig ein. »Kümmer dich lieber um deine eigene Familie! Domingo erkennt dich nicht mehr, möchtest du, dass es mit Luis genauso wird?« »Vater«, versuchte Noemí, ihn zu beschwichtigen. »Du lässt uns hier im Stich, machst dir ein schönes Leben und mischt dich lieber bei anderen Familien ein!«, ging er darauf überhaupt nicht ein. Ich atmete tief durch. Ich hatte damit gerechnet, dass irgendwann seine Wut darüber durchkommen würde, dass ich nach Boston gezogen war. In seinen Augen hatte ich die Familie im Stich gelassen und meine Pflichten als ältester Sohn vernachlässigt. Damals, als ich zur Army ging, war er stolz auf mich, ich tat etwas für unser Land. Nun trat ich in seinen Augen die Flucht an. Womit er nicht unbedingt unrecht hatte. »Ich hatte meine Gründe. Und danke der Nachfrage, mir geht es sehr gut in Boston. Ich habe unter meinen Arbeitskollegen sogar neue Freunde gefunden. Dennoch vermisse ich meine Heimat.« »Gründe«, schnaubte er. »Vor deiner Frau läufst du weg! Statt ihr wie ein Mann klarzumachen, wo ihr Platz ist. Dass ich sowas noch erleben muss! Mein Sohn kuscht vor einer Frau. Wo soll das nur hinführen?« »Vater!«, mischte sich Lázaro energisch ein. »Die Gründe, warum sich Esther von Eloy scheiden lässt, gehen uns nichts an!« »Verteidigst du jetzt auch noch deinen feigen Bruder?« »Lieber sehe ich Eloy nur einmal im Jahr, aber dafür glücklich, als zu wissen, dass er eine Ehe aufrecht erhält, die weder ihm noch Esther Freude bereitet.« Noemí pflichtete unserem Bruder mit einem ernsten Kopfnicken bei. Mutter legte Vater die Hand auf den Arm, doch er zog ihn energisch weg und stand auf. »Macht doch alle, was ihr wollt! Hier hört doch sowieso niemand mehr auf mich.« »Ich geh ihn mal beruhigen«, erklärte Mutter und folgte ihm. An der Tür blieb kurz sie stehen und lächelte mich an. »Ich freue mich, dass du dich so gut eingelebt hast, auch wenn ich dich lieber in unserer Nähe wüsste. Wir sehen uns morgen früh. Buenas noches.« Wir wünschten ihr ebenfalls eine gute Nacht. Noemí atmete hörbar durch und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, ich hätte dich vorwarnen sollen, dass er noch immer nicht darüber weg ist.« »Ist schon gut. Ich hatte damit gerechnet, dass er es nochmal zum Thema machen würde. Spätestens bei seiner Begrüßung. Ich hoffe, dass ich das in den nächsten Tagen noch klären kann.« »Das wird euch beiden guttun.« Sie drückte noch einmal mit der Hand zu und setzte sich dann wieder aufrecht hin. »Warum ist das so ein Problem für den Jungen, wenn er nur Englisch sprechen darf?« »Mein Kumpel hat erzählt, dass die Mutter Kanadierin ist und der Junge früher häufig mit ihr nach Kanada geflogen ist, weil sie zum Teil noch dort arbeitet und wohnt. Für ihn ist es sein zweites Zuhause. Jetzt muss er aber wegen der Vorschule in Boston bleiben und kann nicht mehr mit.« Immerhin hatte mich Mat beruhigen können, dass die Eltern der Kinder nicht geschieden, sondern nur beruflich viel unterwegs waren. »Er verliert damit also nicht nur ein Zuhause, sondern auch etwas, was er damit verbindet«, schlussfolgerte Noemí und sah mich mit einem traurigen Lächeln an, während sie mir kurz über die Wange strich. »Uff, das ist echt hart. Wenn ich überlege, ich müsste meine Muttersprache aufgeben, fände ich das auch nicht schön«, bestätigte mein Bruder und rutschte ein paar Plätze auf, bis er uns gegenüber saß. »Du suchst also eine Alternative, damit er weiterhin seine Muttersprache sprechen kann?« »Ich suche eher eine Alternative, damit er sich auf die Schule freuen kann. So wie es sich für ein Vorschulkind gehört.« »Weißt du denn, ob es in Boston Grundschulen gibt, die Sprachkurse anbieten? Es ist zwar nicht ganz dasselbe, aber vielleicht würde das schon reichen?«, schlug Noemí vor. Ich zuckte die Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Maxime Spaß daran hätte, in einem Kurs zu sitzen, in dem andere gerade einmal die Grundlagen der Sprache lernten. Andererseits: Vielleicht hätte er Spaß daran, ihnen das beizubringen. Immerhin hatte er das in den letzten Wochen auch bei Chico versucht. »Man kann sicher mal mit ihm darüber reden. Aber ob es so etwas in Boston gibt, weiß ich nicht. Ich hab mich nicht wirklich damit beschäftigt. Es ist mir nur eingefallen, als Jimeno so begeistert von der Vorschule erzählt hat.« »Ein Kommilitone hat seinen High School-Abschluss an einer internationalen Schule gemacht. Da kommen viele unterschiedliche Nationalitäten zusammen. Vielleicht wäre das ja etwas? Ich weiß nur nicht, ob es sowas auf für Grundschulen gibt«, warf mein Bruder als Idee in den Raum. »In El Paso?«, fragte Noemí erstaunt. »Oder in Fort Bliss? Dort soll es eine deutsche Schule geben.« Lázaro lachte. »Nein, irgendwo in Kalifornien. Aber vielleicht gibt es sowas auch woanders. Ich kann ihn mal morgen anrufen, wenn es dich interessiert.« Ich lehnte schnell ab. »Das ist lieb und das klingt wirklich nach etwas, was für den Jungen spannend sein könnte, aber dafür müsste ich erstmal mit seinem Onkel sprechen.« »Warum mit dem Onkel?« »Der Vater und ich ... wir haben kein sonderlich gutes Verhältnis. Er würde mir sicher nicht zuhören. Aber der Onkel, er ist sehr bemüht um die Kinder, er würde sicher zuhören. Und soweit ich das mitbekomme, hört der Vater auf ihn.« »Haha, er kommt wohl mit deinem Temperament nicht klar«, neckte mein Bruder. »Kann gut sein«, ging ich nur halbherzig auf die Provokation ein. »Tun irgendwie viele nicht.« »Wenn wir schon mal unter uns sind: Erzähl doch mal ein wenig von Boston. Vielleicht kommen wir dich ja demnächst mal besuchen, wenn du möchtest«, schlug Noemí vor. Sie hatte schon immer das Talent, Lázaros und meine Neckereien zu ignorieren. »Ich hab doch nur zwei Zimmer in meiner Wohnung. Da passt ihr niemals alle rein«, erwiderte ich grinsend. Ich war nicht sicher, ob ich wirklich Besuch von ihnen wollte. Ich würde so vieles vor ihnen verstecken müssen. Dennoch erzählte ich ihnen ein wenig über mein Leben in Boston, wobei ich Mat nie explizit erwähnte. Sie sollten ruhig glauben, ›der Onkel‹ sei einer meiner Kollegen. Zum Glück war Jonathan so freundlich uns die Kinder vom Hals zu halten und brachte sie nach und nach ins Bett, sodass wir Geschwister Zeit hatten, uns mal wieder allein zu unterhalten. Kapitel 36: ICE --------------- Leider bestand Alfonso darauf, von seiner Mutter ins Bett gebracht zu werden, daher blieben irgendwann nur noch Lázaro und ich übrig. Amüsiert hörte ich seinen Arbeitsgeschichten zu. Als Tierarzt erlebte er immer wieder die unmöglichsten Situationen mit Tieren und Haltern. Gerade erzählte er von einem Kälbchen, als mein Handy klingelte. Ich zögerte, zog es dann jedoch hervor, um wenigstens nachzusehen, wer es war. Annehmen wollte ich den Anruf jedoch nicht. Der Bildschirm zeigte die Großaufnahme einer Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger. Mat? Was zur Hölle wollte er? Er wusste doch, dass ich bei meiner Familie war. »Tut mir leid, ich muss da rangehen«, entschuldigte ich mich und stand bereits auf. Noch während ich den Raum verließ, nahm ich das Telefonat an. Er war nicht der Typ, der einfach nur aus Sehnsucht anrief. Es musste etwas passiert sein! »Was ist los?« »Guten Abend, Massachusetts General Hospital, Doktor Phillips hier. Spreche ich mit Eloy Meléndez?« Mein Herz setzte für einen Moment aus, nur um mit doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen. Schnell bestätigte ich seine Frage. »Sie sind als Mister Mathew Watkins’ ›ICE‹-Kontakt eingetragen. Haben Sie einen Moment Zeit, mir einige Fragen zu beantworten?« »Ja, natürlich. Einen Augenblick bitte.« Mat hatte mich als seinen Notfallkontakt ins Handy eingetragen? Wann und warum hatte er mir nichts davon gesagt? Ich riss mich zusammen und hastete die Treppen nach oben. Im Gästezimmer schlug ich die Tür hinter mir zu. Nachdem ich einmal tief durchgeatmet hatte, fragte ich: »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Sind bei Mister Watkins Vorerkrankungen bekannt? Wenn ja, können Sie Angaben zur Medikation machen?«, fragte mich der Arzt. Ich nannte ihm die Medikamente, die Mat nahm und zu welchen Zeiten. Im Laufe der Monate hatte ich mir das unweigerlich gemerkt, zumal mich Mat einmal zu seinem Schwerpunktarzt mitgeschleppt hatte, um zu besprechen, ob man die Dosis nicht erhöhen oder eine andere Therapie versuchen könnte. Viel hatte ich dabei nicht verstanden, dafür reichte meine Kenntnis nicht aus. Erst später hatte er mir erklärt, dass die meisten HIV-Positiven so eingestellt waren, dass eine Ansteckung unmöglich war. Leider gab es bei ihm verschiedene Komplikationen, die die Einnahme bestimmter Medikamente verhinderten, sodass es bei ihm nicht gelang. Mehrmals hatte ich ihm versichern müssen, dass es für mich in Ordnung war, dass es für ihn keine Therapie gab, die das für uns möglich machte und die er vertrug, bis er es mir geglaubt hatte. Mir war es nicht egal, dass er krank war, aber ich wollte nicht, dass er sich wegen mir schlecht damit fühlte. Ich hatte ihn so kennengelernt und es akzeptiert. Er musste sich für mich nichts zumuten, was über seine Grenzen ging. Dann passten wir eben weiterhin auf, das war okay. »Darf ich fragen, was passiert ist?«, fragte ich, nachdem ich dem Arzt alles gesagt hatte, was ich über Mats Krankenakte wusste und er keine Rückfragen mehr hatte. »Mister Watkins wurde mit akuter Atemnot eingeliefert. Die Untersuchungen zur Ursache laufen noch. Mehr kann und darf ich ihnen nicht sagen.« »Danke. Einen schönen Abend noch«, verabschiedete ich mich. Ob er sich ebenfalls verabschiedete, hörte ich nicht mehr, denn sobald ich aufgelegt hatte, entglitt das Telefon meinen zitternden Fingern. Mat war im Krankenhaus! Wegen akuter Atemnot. Das ... Ich legte die Hände vor Mund und Nase und atmete in den Hohlraum. Ich musste zu ihm! Eilig zog ich meine Tasche unter dem Schreibtisch hervor und warf die wenigen Dinge hinein, die ich bisher ausgepackt hatte. Laptop! Wo war mein Laptop? Ich entdeckte ihn auf dem Tisch und warf ihn oben auf. Jetzt hatte ich alles, oder? Es klopfte an der Tür und kurz darauf trat Noemí ein. Sie warf einen kurzen Blick auf mich, dann auf die Tasche. »Eloy? Ist alles in Ordnung? Lázaro hat gesagt, du hättest einen Anruf bekommen und wärst dann hier hochgestürmt.« »Mein Kumpel ... er ... Das Krankenhaus hat angerufen, er wurde mit Atemnot eingeliefert. Scheinbar kann er nicht einmal selbst Auskunft geben«, stotterte ich herunter. Erneut schlug ich die Hände vors Gesicht. Noemí kam zu mir und strich über meinen Oberarm. »Kann ich euer Auto haben? Ihr könnt es morgen mit Lázaro vom Flughafen holen.« »Eloy, setz dich hin und beruhig dich erstmal.« Vorsichtig dirigierte sie mich auf das Bett. »So kannst du nicht fahren.« »Aber ich muss zum Flughafen!«, insistierte ich und sprang auf. Sanft drückte sie mich zurück. »Du bekommst jetzt keinen Flug mehr. Wir fahren dich morgen früh. Aber bitte beruhig dich erstmal. Dein Kumpel hat nichts davon, wenn du in die nächste Leitplanke fährst.« Scheiße! Sie hatte recht. Aber ich musste doch zu ihm! Noemí legte den Arm um mich und zog mich leicht an sich. »Es wird alles gut. Hast du deinen Laptop mit? Lass uns einen Flug raussuchen und gleich buchen.« Ja, das war eine gute Idee. So langsam setzte auch bei mir das rationale Denken wieder ein. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, murmelte ein »Danke« und holte den Laptop wieder aus der Tasche. Gemeinsam fanden wir einen Flug in den frühen Morgenstunden. Sie versprach, das mit Jonathan abzuklären und mich dann persönlich zu fahren. Mir traute sie es in meinem Zustand nicht zu. Vermutlich war das die richtige Entscheidung. »Ich geh dann gleich ins Bett«, verabschiedete sie sich. »Du solltest dasselbe tun. Und verabschiede dich schon mal von Lázaro. Morgen werden wir das sicher nicht mehr schaffen.« Ich nickte und tat wie mir geheißen. Zum Glück fragte er nicht weiter nach, sondern verabschiedete sich nur herzlich. Ich versprach, ihn anzurufen, sobald alles geklärt war. Bis dahin hatte ich sicher auch eine gute Ausrede gefunden, die rechtfertigte, am 70. Geburtstag meines Vaters im Morgengrauen ohne Verabschiedung zu verschwinden.   »Eloy? Darf ich dich etwas fragen?« Ich schreckte aus dem Halbschlaf auf und nickte. Natürlich hatte ich in der kurzen Nacht kein Auge zugetan, weshalb ich immer wieder während der Fahrt wegschlief. »Ich weiß nicht, ob ich dich das wirklich fragen sollte ... Sei mir also bitte nicht böse, wenn es nicht so ist ... Ist dieser Mann wirklich nur dein Kumpel?« »Wie kommst du darauf?« Ich war zu müde, um ihr vehement zu widersprechen. Dennoch wollte ich wissen, was sie darauf gebracht hatte. Ich musste sichergehen, dass sonst niemand diesen Rückschluss zog. Sie sah kurz zu mir und lächelte, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Straße. »Eloy, du vergisst wohl, dass du mein großer Bruder bist. Und ich deine kleine, nervige Schwester, die dir überallhin gefolgt ist.« Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Es wurde direkt von einem Gähnen abgelöst. Nicht nur die Sorge war schuld an meiner Schlaflosigkeit. Mir hatte auch das leise, rasselnde Pfeifen gefehlt, dass Mat im Schlaf von sich gab. Und das hatte natürlich direkt zu Selbstvorwürfen geführt. Ich hätte ihn viel früher drängen müssen, zum Arzt zu gehen. »Das beantwortet meine Frage nicht.« »Ich hatte schon lange den Verdacht, dass du und Pablo nicht nur Freunde wart. Und«, sie kaute nervös an ihrer Lippe herum, »ich hab mit Esther gesprochen. Bitte, sei ihr nicht böse! Sie hat sich schreckliche Vorwürfe gemacht und musste mit jemandem reden. Ich bin sicher, sie hat es sonst niemandem erzählt.« Ich seufzte erschlagen und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Gerade meine Familie hatte es doch nicht erfahren sollen. Doch nun ließ es sich zumindest bei Noemí nicht mehr ändern. »Bitte sag es niemandem.« Sie legte kurz die Hand auf mein Knie. »Keine Sorge, das wirst du schon selbst machen müssen. Seit wann weißt du eigentlich, dass du auf Männer stehst?« Ich zuckte mit den Schultern. So genau konnte ich das auch nicht sagen. »Spätestens seit der Army. Vorher dachte ich, das mit Pablo wäre ein Einzelfall und es würde vorbeigehen.« Eine Weile starrte Noemí schweigend auf die Straße und ich hoffe schon fast, dass die Fragen ein Ende hatten. Doch dann ging es weiter: »Warum hast du Esther dann überhaupt geheiratet? Oder bist du bi?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Ich habe zumindest noch keine Frau getroffen, an der ich das gleiche Interesse hatte wie an Männern.« »Und warum dann Esther?« Ich zuckte erneut mit den Schultern. Konnte sie sich das nicht selbst beantworten? »Ich wollte normal sein. Ich konnte sie gut leiden und sie wollte unbedingt heiraten. Hätte ich ihr das ausschlagen sollen? Ich hab gehofft, dass ich irgendwann lerne, sie zu lieben.« »Ja, hättest du. Oder es ihr zumindest sagen, als du gemerkt hast, dass du sie nicht lieben kannst.« Das brachte mich zum Schmunzeln. »Ich hab es bis zum Schluss versucht.« Mit schreckgeweiteten Augen sah sie mich an. »Du würdest das also wieder machen?« »Nein. Ich musste mittlerweile einsehen, dass das, was ich mit Maria hatte, nicht im Geringsten etwas mit Liebe zu tun hatte. Maximal sehr starke freundschaftliche Gefühle.« Langsam nickte sie. »Und dieser Mann? Ist er dein Freund?« »Ich weiß es nicht.« Ich lehnte den Kopf nach hinten gegen die Nackenstütze und seufzte. »Aber ihr liebt euch?« »Ich hab mich verliebt, ja. Aber er nicht.« »Oh, Eloy. Warum tust du dir das an?« Besorgt sah sie zu mir. »Weil es kompliziert ist. Er fühlt dennoch etwas für mich.« Ich hatte es dabei belassen wollen, doch ihr nächster Satz stand ihr regelrecht auf der Stirn geschrieben. »Nein, das ist keine verliebte Einbildung. Er hat es selbst gesagt. Und Mat ist niemand, der lügt.« Die Sorgenfalte stand noch immer auf ihrer Stirn. Die konnte ich ihr wohl nicht nehmen. Ich hatte auch meine Zeit gebraucht, bis ich es verstanden hatte. Und sie kannte ihn nicht. Sie konnte nicht wissen, dass er zu der Sorte Mensch gehörte, der mir knallhart ins Gesicht gesagt hätte, dass er kein Interesse an mir hatte. »Du bist also glücklich mit ihm?« »Meistens. Wenn er mir nicht gerade wieder auf die Nerven geht«, antwortete ich schmunzelnd. »Na, das kannst du gebrauchen.« Auch sie grinste leicht. »Dann ist gut. Ich hoffe, das bleibt so und er wird bald wieder gesund. Wirst du ihn uns irgendwann vorstellen? Ich meine, es wäre schön, zu wissen, wer er ist, wenn dich wer im Dienst abknallt.« Ich zwickte sie leicht in die Seite. »Vielleicht irgendwann. Und nur, wenn er es will.« »Schade. Du scheinst doch seine Familie auch zu kennen.« »Nicht absichtlich. Ich glaube nicht, dass er sie mir freiwillig vorgestellt hätte. Aber ich werde ihn fragen.« »Tu das. Ansonsten mach ich es, wenn ihr nochmal Hilfe mit den Kindern braucht.« »Okay.« Ich konnte mir sogar vorstellen, dass er wirklich darauf einging, wenn er merkte, dass meine Familie es ernst meinte. Manchmal war er schwer einzuschätzen. Insgeheim hoffte ich dennoch, dass es nicht so weit kam. Der Gedanke, meine Familie könnte davon erfahren, war noch immer unangenehm. »Aber bitte sag vorerst Mutter und Vater nichts davon.« »Keine Sorge, ich behalte dein Geheimnis für mich. Dennoch bin ich mir sicher, dass auch sie sich freuen, wenn sie es erfahren. Es wird nur eine Weile dauern, bis sie sich an den Gedanken gewöhnt haben.« Nicht im Geringsten überzeugt nickte ich. Vater konnte nicht akzeptieren, dass ich in Boston glücklich war. Wie sollte er tolerieren, dass dieses Glück mit einem Mann zusammenhing? Kapitel 37: Una alianza inusual ------------------------------- Sobald ich in Boston gelandet war, suchte ich mir ein Taxi und ließ mich zum Krankenhaus fahren. Ich wollte so schnell wie möglich erfahren, was mit Mat geschehen war. »Guten Tag. Ich möchte zu Mathew Watkins. Er wurde gestern Abend hier eingeliefert«, erklärte ich dem Mann am Empfang des Haupteingangs. Er murmelte einen Gruß und tippte dann auf seinem Computer herum. Als er wieder aufblickte, fragte er: »Sind sie verwandt?« »Ich bin sein Lebensgefährte.« Die Lüge war raus, bevor ich darüber nachgedacht hatte. Ich musste zu ihm! Ganz egal, was ich den Leuten dafür erzählen musste. Der Pfleger zog eine Augenbraue hoch und sah mich abschätzig an. Dann schüttelte der den Kopf. »Tut mir leid, Mister Watkins liegt noch auf der Intensivstation. Kommen Sie morgen wieder.« »Was?!«, schrie ich ihn an. »Sie müssen mich zu ihm lassen!« »Tut mir leid, das geht leider nicht. Nur Angehörigen ist der Zutritt zur Intensivstation gestattet. Mister Watkins wird voraussichtlich morgen früh verlegt, dann können Sie ihn besuchen.« Er wandte sich ab und widmete sich einigen Papieren, die er unter dem Tisch hervorzog. Fassungslos starrte ich ihn an. Das konnten die doch nicht machen! Mat lag auf der Intensivstation und man wollte mir den Zutritt verwehren?! Nicht mit mir! Ich packte meine Tasche und stampfte zur Übersichtskarte. Nach einem kurzen Blick hatte ich die Station gefunden und machte mich auf den Weg. Wollten wir doch mal sehen, ob ich nicht reinkam!   Tatsächlich wies man mich auch in der Intensivstation ab. Egal wie oft ich erklärte, dass ich Mats Partner war und am Abend von Doktor Phillips informiert worden war, das Pflegepersonal weigerte sich beharrlich, mich zu Mat zu lassen. Mit diesem Schicksal war ich jedoch nicht allein. Neben mir auf der Bank saß Peter und sah mindestens genauso fertig aus, wie ich mich fühlte. Bangend saßen wir nebeneinander und sprachen doch kein Wort. Uns war versprochen worden, sich mit der Krankenhausleitung auseinanderzusetzen, ob wir wenigstens Informationen über Mats Gesundheitszustand erhalten durften. Immerhin waren wir beide als Notfallkontakte informiert worden. Solange wir diese nicht erhielten, würden wir uns nicht von der Stelle bewegen. Nach einer Stunde kam eine Pflegerin zu uns. Sie musterte uns beide. »Wir können einen von Ihnen zu Mister Watkins lassen.« Peter und ich sahen uns wie auf Kommando an, dann nickte ich ihm zu. »Ich bin sicher, Mat möchte dich bei sich haben.« »Danke«, erwiderte er etwas kleinlaut. »Wartest du hier?« Was erwartete er denn? Er musste mir doch sagen, wie es um Mat stand. Scheinbar war er meine einzige Chance, etwas zu erfahren, ob es mir gefiel oder nicht. »Natürlich!« »Bis gleich.« Er folgte der Pflegerin in die Station. Ich blieb genauso ahnungslos wie bisher zurück.   Als Peter wieder zurückkam, stand ich auf und trat ihm aufgeregt entgegen. »Wie geht es Mat?« Der Mann vor mir sah noch fertiger aus als zuvor. Einen Moment starrte er auf den Boden, bevor er den Blick hob. Dieser war vollkommen glasig. »Den Umständen entsprechend gut. Er ist noch etwas platt und hängt an den Geräten. Viel konnte er nicht sagen. Er hat nur darum gebeten, dass ich dich anrufe, und war wütend, dass du nicht zu ihm durftest. Ich soll dir das hier geben. Er hat eine Nachricht für dich getippt.« Er reichte mir Mats Handy. Vorerst nahm ich es entgegen, ohne draufzuschauen. »Konnte er dir sagen, was passiert ist?« Für einen Moment bildete sich eine Zornesfalte auf seiner Stirn, doch so schnell sie erschienen war, verschwand sie auch wieder. »Er war wohl mit dem Hund draußen und als er zurückkam, wurde der Fahrstuhl gewartet. Statt zu warten, bis er ihn benutzen konnte, wollte der Trottel unbedingt allein hochlaufen.« Ich grollte leise. Trottel war kein Ausdruck! Mat wusste doch, dass er die Treppen nicht mehr schaffte! Wie konnte er so fahrlässig sein? Scheiße! Dieser arrogante Spinner. »Wusstest du, dass er Atemprobleme hat?«, fragte sein Bruder harsch und musterte mich. »Ja. Ich dachte, das liegt an seiner Krankheit. Und eben Raucherhusten.« Peter funkelte mich wütend an, seine Fäuste geballt. »Du hättest dafür sorgen müssen, dass er zum Arzt geht!« »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber Mat ist kein kleines Kind. Er kann selbst entscheiden, wann er zum Arzt geht!« Ich ließ mir von ihm doch nicht sagen, was ich zu tun hatte. Natürlich machte ich mir Vorwürfe, Mat nicht dazu gedrängt zu haben, aber das musste Peter nicht erfahren. Wütend schnaubte er, dann fiel sein Blick auf meine Tasche. »Mat hat gesagt, du wärst nicht in der Stadt. Du hast wegen ihm den Urlaub abgebrochen?« Diesmal war es an mir zu schnauben. »Familienbesuch. Aber klar. Glaubst du, ich feier munter weiter, während er im Krankenhaus liegt?« Peter zuckte die Schultern. »Was weiß ich denn? Seitdem er dich kennt, spricht Mat ja kaum noch mit mir. Ich weiß nicht mal, ob ihr zusammen seid oder nicht.« »Da fragst du ihn am besten selbst. Ich hab nicht das Gefühl, dass ich da viel mitzureden hab.« Er schmunzelte. »Das glaub ich dir sogar. Ich vermute, du bist mit dem Taxi gekommen? Soll ich dich nach Hause fahren?« »Wenn es dir nichts ausmacht, gern.« Dann konnte ich schneller herausfinden, was mit Chico geschehen war. Bevor Peter ihn erwähnt hatte, hatte ich gar nicht mehr daran gedacht. Nun wollte ich so schnell wie möglich wissen, wo er abgeblieben war. Im schlimmsten Fall hatten sie ihn ins Tierheim gebracht. Dort musste ich ihn schnellstmöglich rausholen. Gemeinsam gingen wir in die Tiefgarage und stiegen in einen Ford Kombi. Eigentlich hatte ich bei Mats Bruder ein vollkommen anderes Auto erwartet, aber vermutlich fuhr er es nur, weil die beiden Kindersitze bequem auf der Rückbank Platz fanden. Wir fuhren aus der Tiefgarage und dann in Richtung Westen. Lange schweigen wir, bis er fragte: »Willst du gar nicht wissen, was Mat dir geschrieben hat?« »Ich schau gleich in Ruhe nach. Wenn es wichtig wäre, hätte er mich angerufen oder sie geschickt.« Oder es seinem Bruder gesagt. Daraus schloss ich, dass er nicht wollte, dass dieser es erfuhr. Aufgrund des Grummelns vermutete ich, dass diesem das nicht behagte, aber das war mir herzlich egal. Ihn ging nicht alles etwas an.   Zu Hause angekommen ging ich zuerst in Mats Wohnung. Ich erhoffte mir dort am ehesten Hinweise auf Chicos Aufenthaltsort. Außerdem konnte ich dann ein paar Sachen für Mat zusammensuchen, die ich ihm mit ins Krankenhaus bringen konnte. Er wäre sicher froh, wenn ich ihm wenigstens eine Schlafanzughose und ein paar Shirts brachte. Alles war besser als Krankenhauskittel. Nachdem die Tür hinter mir zugefallen war, rief ich nach Chico, doch nichts geschah. Es blieb ruhig. Aufmerksam sah ich mich im Flur um. Die Leine fehlte! Während ich weiter in die Wohnung vordrang, bemerkte ich, dass auch seine Decke und Spielsachen nicht an ihrem Platz waren. Ebenso waren die Näpfe in der Küche verschwunden. Einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort fand ich jedoch nicht. Mir fiel wieder ein, dass mir Mat etwas in sein Handy getippt hatte. Zum Glück war mir der Sperrcode bekannt. Kurz fragte ich mich, wie mich der Arzt über das Handy hatte erreichen können, doch dann sah ich, dass sich auf dem Sperrbildschirm zwei Kontakte befanden, die offenbar auch ohne Entsperrung angerufen werden konnten. Beide waren eindeutig mit ›ICE1‹ und ›ICE2‹ benannt. Bisher hatte ich nie gesehen, dass ein Smartphone das ermöglichte, fand es aber eine gute Idee. Vielleicht sollte ich mich näher damit befassen und das auch auf meinem eigenen einrichten. Nachdem ich das Handy freigeschalten hatte, tauchte direkt eine Notizapp auf, in der Mat offenbar die Nachricht für mich eingetippt hatte. ›Chico ist Nachtbarin. Ruf Toby und Roger an. Sollen Chico nehmen. Hol mich raus!‹[sic!] Ich musste schmunzeln. Ich hatte wirklich keine herzliche Nachricht erwartet, aber das war einfach süß. Es zeigte, wie sehr ihm nicht nur Chico, sondern auch seine Freunde am Herzen lagen. Vielleicht hätte ich beleidigt sein sollen, dass nicht wirklich etwas für mich darin stand, aber ich wusste, dass Mats Bemühungen um Chico auch mir galten. Zunächst suchte ich alles zusammen, was ich Mat mitbringen wollte. Einen Moment zögerte ich dabei, als ich die Zigaretten auf dem Nachttisch sah. Letztendlich packte ich sie aber in den Rucksack. Mat würde sowieso keine Ruhe geben und rauchen, sobald er konnte. Dennoch wollte ich wenigstens versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Nachdem ich alles gefunden hatte, setzte ich mich aufs Bett und rief seine Freunde an. Zumindest hatte ich das vor, denn Mats Telefonbucheinträge stellten mich vor ein Rätsel. Es war kein einziger vernünftiger Name darin zu finden. Stattdessen enthielt es nur Einträge wie ›Engel‹, ›Bro‹, ›Doc‹ und so weiter. Warum konnte Mat nicht einmal etwas wie ein normaler Mensch tun? Und wer zur Hölle war ›Loverboy‹?! Musste ich mir Sorgen machen? Letztendlich entschied ich mich dafür, dass es sich wohl um ›Mr. Muscle‹ und ›Lulatsch‹ handelte. Zumindest waren es die einzigen Einträge, die ich eindeutig mit ihnen assoziieren konnte, nachdem ich die Einträge drei Mal durchgeblättert hatte. Da ich mir dabei sicherer war, rief ich ›Lulatsch‹ an. Es klingelte ein paar Mal, bevor abgenommen wurde. »Hi Mat. Was ist, hast du es dir doch anders überlegt?« »Roger?«, fragte ich vorsichtshalber nach, auch wenn mir die Stimme recht bekannt vorkam. Es dauerte einen Moment, bis er antwortete: »Äh ... ja. Wer ist da?« »Ich bin es, Eloy. Mats ... Kumpel.« »Ah, okay. Hallo Eloy.« Es war deutlich zu hören, dass er schmunzelte, doch dann wurde er von einem auf den anderen Moment ernst. »Was gibt es denn? Ich verspreche, ich hab Mat nicht angerührt.« »Was? Ach so, nein.« Mat war zwar alle paar Wochen mal bei ihnen, aber auf die Idee, dass er mich betrügen würde, wäre ich nie gekommen. Wie kam er darauf, dass ich so eifersüchtig war? Andererseits ... Er hatte mich das erste Mal gesehen, als ich Mat verfolgt hatte, und das nächste Mal, als ich mich mit Mat gestritten hatte. Vielleicht war es in der Hinsicht gar nicht so abwegig. Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich den Faden wiederfand. »Mat hat mich gebeten, euch anzurufen. Er hat sich gestern ziemlich übernommen und ist mit Atemnot in die Klinik gebracht worden.« Kurz war es still in der Leitung, dann bat Roger: »Scheiße! Warte mal bitte einen Moment, ich ruf gleich zurück.« Er wartete, bis ich das okay gab, dann legte er auf. Da ich nicht wusste, was bei ihm ein Moment bedeutete, streifte ich die Schuhe ab und rutschte auf dem Bett nach hinten, bis ich mit dem Rücken an der Wand saß. Wartend ließ ich den Blick über die Regale streifen. Es war wirklich beeindruckend, was Mat schon alles gelesen hatte. Vielleicht sollte ich mir eine Scheibe von ihm abschneiden. Sobald das Handy klingelte, nahm ich den Anruf an. »Tut mir leid, dass ich dich hab warten lassen. Ich bin gerade nicht zu Hause und musste mir einen ruhigen Ort suchen. Wie geht es Mat?« »Ich weiß es nicht. Er liegt noch auf der Intensivstation und sie haben mich nicht zu ihm gelassen. Sein Bruder durfte kurz rein und hat mir eine Notiz mitgebracht. Mat hängt wohl noch an den Schläuchen und ist sehr schwach, soll aber morgen früh verlegt werden. Gestern Abend war er wohl gar nicht ansprechbar«, berichtete ich kurz. Er murmelte verstehend und fragte dann: »Du willst vermutlich morgen wieder hin. Sollen wir dich als Unterstützung begleiten?« »Nein, das geht schon.« Das Angebot war komisch. Was erwarteten sie? Dass ich im Krankenzimmer einen Zusammenbruch erlitt? »Wie du möchtest. Hältst du uns auf dem Laufenden und sagst Bescheid, ob und wann wir Mat besuchen können?« Natürlich bestätigte ich das. Sie schienen wirklich gute Freunde zu sein. »Brauchst du noch was? Können wir dir irgendwie helfen?« Ich zögerte einen Moment, entschied mich dann aber, zumindest nachzufragen. Zwei Tage hatte ich noch frei, doch am Dienstagmittag musste ich wieder zum Dienst. Ich bezweifelte, dass Mat bis dahin wieder fit und zu Hause war. Außerdem konnte ich Chico schlecht mit ins Krankenhaus nehmen. »Mat hat in die Nachricht geschrieben, dass ich euch fragen sollte, ob ihr Chico nehmen könntet, wenn ich nicht da bin. Er tut sich allein schwer und bellt das ganze Haus zusammen.« »Oh ja! Klar können wir das machen!«, stimmte er sofort enthusiastisch zu. Nach einer kurzen Pause wurde er jedoch nachdenklicher. »Wir müssen nur mal sehen, wie wir das anstellen. Wir wohnen ja in Medford. Du müsstest ihn dann entweder bringen und abholen oder dich mit Toby absprechen, der arbeitet in Boston, wann er jeweils fährt. Ich weiß nicht, ob das nicht zu viel Fahrerei ist.« Ich überlegte. Das war tatsächlich etwas komplizierter. Chico störte Autofahren zwar nicht, er fand es sogar spannend, aber neben den Krankenbesuchen und später auch vor und nach der Arbeit immer nach Medford fahren, würde einiges an Zeit kosten. »Wir können Chico sonst auch nehmen, bis Mat wieder fit ist, wenn das weiterhilft«, bot er nach einer Weile an. »Geht das denn wegen Toby?« »Das lass mal meine Sorge sein, den bekomm ich schon überredet«, versprach Roger. Ich hatte regelrecht das Bild vor Augen, wie er selbstgefällig grinste. »Ich meine eher wegen der Allergie. Ich weiß nicht, ob es vielleicht schlimmer wird, wenn Chico die ganze Zeit da ist.« »Ich denke nicht. Mat hat ihn jetzt jedes Mal mitgebracht und das ging gut. Er muss ja nicht ins Schlafzimmer. Für ein oder zwei Wochen wird das schon passen. Wir haben einen Garten, da kann er sich austoben.« Ich war noch nicht ganz überzeugt, aber für den Notfall klang das nach einer Option. »Danke auf jeden Fall für das Angebot, ich überleg mir das nochmal. Kann ich dich später nochmal deswegen anrufen?« Er murmelte ein wenig überlegend. »Kannst du mir deine Nummer geben? Dann find ich raus, ob Toby nachher zu Hause ist, und schreib dir später. Wenn ja, dann fahr ich auch heim und rede schonmal mit ihm. Dann können wir das auch konkreter planen. Ansonsten kann ich dir auch erst morgen etwas Festes mitteilen.« Ich willigte ein und gab ihm meine Handynummer durch. Dann konnte ich auch noch mit der Nachbarin reden. Mir tat es leid für Chico, im Moment so herumgereicht zu werden, aber für den Moment ging es nicht anders. Kapitel 38: Visita al hospital ------------------------------ Nachdem ich geklopft hatte, öffnete ich langsam die Tür und sah mich im Zimmer um. Sofort richteten sich drei Augenpaare auf mich. Leise grüßte ich in die Runde und lief auf das Bett ganz hinten rechts zu. Nun wanderte auch der letzte Blick in meine Richtung. Für einen ganz kurzen Moment leuchteten seine Augen, dann nahm seine Miene wieder einen neutralen Ausdruck an. »Hi«, grüßte er, sobald ich an seinem Bett stand. Er sah einfach schrecklich aus. Seine Wangen waren noch weiter eingefallen und seine Haut unglaublich fahl. Dicke Augenringe hatten sich gebildet und von den tiefen Furchen, die auf seiner Stirn standen, wollte ich gar nicht erst anfangen. Die Schläuche, die aus seinen Armen und der Nase hingen, rundeten das Bild noch ab. »Danke, dass du hier bist.« Ich strich kurz über seinen Oberarm. Gern hätte ich ihn herzlicher begrüßt, doch die drei anderen Augenpaare, die ich noch immer auf mir spürte, hielten mich davon ab. »Ich muss doch nach dir sehen. Wie geht es dir?« Mat deutete in Richtung eines Tisches, um den mehrere Stühle verteilt waren. »Nimm dir ’n Stuhl.« Ich tat, wie mir geheißen und zog mir einen heran, um mich neben sein Bett zu setzen. Dabei bemerkte ich, dass Mat seinen Blick die ganze Zeit auf meinen Rucksack gerichtet hielt. Nachdem ich mich gesetzt hatte, nahm ich diesen auf den Schoß. »Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht, von denen ich glaube, dass du sie die nächsten Tage gebrauchen kannst.« Zuerst zog ich die Schlafanzughose heraus und reichte sie ihm. Er lächelte dankbar, nahm sie entgegen und krabbelte dann umständlich halb unter die Decke, um sie überzuziehen. Nachdem er fertig war, lehnte er sich nach hinten gegen das Kissen und atmete schwer. Ohne darüber nachzudenken, strich ich über seine Schulter. Es dauerte sicher zwei Minuten, bis er wieder normal atmete. Dann fragte er mit angestrengter Stimme: »Was hast du noch für mich?« Ich hielt zwei Bücher in die Höhe. Das eine hatte er wahrscheinlich in den letzten Tagen gelesen, zumindest lag es auf seinem Nachttisch. Das zweite hatte ich nach einiger Recherche im Internet auf dem Weg in einer Buchhandlung besorgt. Es hatte gute Kritiken erhalten und offenbar freute Mat sich darüber, denn er grinste. Erstmal legte ich sie in die Schublade des Nachttischchens. Außerdem legte ich das Etui mit seiner Brille dazu. »Wenn ich dir noch welche bringen soll, dann sag Bescheid.« »Danke. Kannst du mir von der Reihe auch den zweiten Band besorgen? Du bekommst das Geld wieder, wenn ich zu Hause bin.« Ich grinste kurz. Bei seiner Lesegeschwindigkeit brauchte er es vermutlich direkt morgen. Dennoch hob ich bei seiner zweiten Aussage die Augenbrauen und sah ihn mahnend an. »Ich bring es dir gerne morgen mit. Aber es ist ein Geschenk.« Er nickte leicht und warf dann wieder einen neugierigen Blick auf den Rucksack. Die nonverbale Aufforderung, weiter auszupacken. Ich holte noch die T-Shirts heraus und verstaute sie in dem Schrank, der ihm zugewiesen wurde. Außerdem packte ich gleich die Sachen ein, die er getragen hatte, als er eingeliefert wurde. Im Moment würde er sie nicht brauchen. Frische konnte ich ihm bringen, wenn ich ihn abholen kam. Nachdem alles ausgepackt war, setzte ich mich wieder zurück. Er zog die Augenbrauen zusammen, sah mich einen Moment fragend an, dann legte er Zeige- und Mittelfinger leicht gespreizt vor die Lippen und zog sie wieder weg. »Nicht dein Ernst, oder? Vergiss es!« »Dann gib mir Geld!«, krächzte er. »Nein, ich werd dich nicht dabei unterstützen, weiter zu rauchen! Ich hab gerade mit einer Pflegerin gesprochen. Die Ärzte vermuten Lungenkrebs!« Daher hatte ich die Zigaretten, die ich ursprünglich eingepackt hatte, auch direkt im nächsten Mülleimer entsorgt. »Ach nee?! Ich dachte, die bringen mich einfach aus Langeweile in die Onkologie.« Er zuckte mit den Schultern, während Zorn in seinen Augen aufflackerte. »Ist doch egal, wann ich daran krepiere. Aber ich werde keinen kalten Entzug machen!« »Dann lass dir Nikotinpflaster geben und mach eine Entzugstherapie. Es wird sich keine bessere Gelegenheit ergeben.« Ich zog ein Informationsheftchen, das mir die Pflegerin zuvor gegeben hatte, aus der Jackentasche und hielt es ihm entgegen. Mat nahm es entgegen und pfefferte es in die nächstgelegene Ecke. »Fick dich! Ich werd keinen Entzug mehr machen! Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Lasst mich doch endlich sterben, verdammt!« Er fiel wieder zurück in die Kissen und atmete schwer. An den Geräten zeichnete sich sein Ärger deutlich ab. Die Tür zum Zimmer wurde aufgerissen und eine Pflegerin kam eilig auf sein Bett zu. »Was ist passiert?« »Er hat sich aufgeregt.« Ich stand auf und zog den Vorhang zu, damit sich die Pflegerin in Ruhe um Mat kümmern konnte. Er sollte sich erst einmal beruhigen. Und ich brauchte nach diesem Ausbruch ebenfalls etwas Abstand. Ich verließ das Zimmer und begab mich zum Aufenthaltsraum.   »Ihr Lebensgefährte hat sich beruhigt. Wenn sie wollen, können sie noch eine Weile zu ihm.« Ich stand von meinem Stuhl auf und warf den Kaffeebecher in den Eimer. Um überhaupt ein paar Informationen über Mats Gesundheitszustand zu bekommen, war mir nichts anderes übrig geblieben, als erneut diese Lüge zu erzählen. Während ich an der Pflegerin vorbeiging, erklärte sie noch: »Es kann sein, dass er etwas durcheinander ist. Er hat ein paar Beruhigungsmittel genommen.« »Danke.« Ich lächelte sie kurz an, bevor ich mich wieder auf den Weg zu Mat machte. Für heute würde ich das Thema meiden, aber er kam aus der Nummer nicht raus. Da die Vorhänge noch immer zugezogen waren, machte ich sie nur ein Stück auf und trat dann dahinter wieder an sein Bett. Er brauchte einen Moment, bis er mich mit dem Blick richtig fixiert hatte, dann flüsterte er: »Tut mir leid.« »Schon gut. Das ist jetzt gerade nicht der richtige Zeitpunkt, darüber zu streiten.« Ich setzte mich wieder und legte die Hand auf seinen Unterarm. Er zog den Arm ein Stück zurück, bis meine Hand auf seiner lag. Dann spreizte er die Finger, sodass meine dazwischen rutschten. Da er leicht zudrückte, konnte ich spüren, wie er zitterte. Seine Stimme klang noch schwächer als zuvor. »Danke, dass du da bist.« Ich streichelte mit dem Daumen leicht über seinen. »Natürlich.« Wir schwiegen eine ganze Weile, bis er leise und ganz langsam fragte: »Wo ist Chico?« »Bei Toby und Roger. Sie haben angeboten, ihn zu sich zu nehmen, bis es dir besser geht. Dann muss er nicht immer hin- und herfahren«, antwortete ich ebenso leise. Mat hatte bereits die Augen geschlossen und lächelte. »Das ist gut, es gefällt ihm dort bestimmt.« »Ja, ich denke auch. Der Garten und das Haus sind wirklich schön. Er kann da überall rumrennen. Sobald er aus dem Auto war, hat er gleich alles erkundet. Es schien ihm wirklich zu gefallen.« Bis Mat eingeschlafen war, erzählte ich ihm von Chico. Es schien ihn wirklich zu beruhigen. Dann zog ich die Decke noch etwas hoch, achtete aber darauf, dass er frei atmen konnte. Leise stand ich auf und verließ das Zimmer, wobei mich noch immer die Blicke der anderen Patienten verfolgten. Mehr als ein leises »Auf Wiedersehen« brachte ich jedoch nicht zustande.   Nachdem ich die Station verlassen hatte, musste ich mich erstmal setzen. Ich hatte es nicht erwartet, aber der Besuch machte mich fertig. Erst die Erkenntnis, dass Krebs vermutet wurde, dann Mats unvermittelter Wutausbruch. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Sonst gehörte er zu den Leuten, die Provokationen einfach weglächelten und ruhig blieben. Ich konnte mich also auf einen harten Kampf einstellen, ihn von den Zigaretten wegzubekommen. »Hallo Eloy«, riss mich Peter plötzlich aus den Gedanken. Ich hatte ihn nicht einmal bemerkt. »Hi«, grüßte ich zurück. »Du willst zu Mat?« Er nickte auf die ziemlich überflüssige Frage und legte den Kopf etwas schief. »Ist mit ihm alles in Ordnung?« Sah man mir wirklich so sehr an, dass es mich mitnahm? Vermutlich. Ich seufzte. »Ja, den Umständen entsprechend. Aber im Moment schläft er.« »Oh verdammt. Schlechtes Timing, hm?« Er grinste ein wenig und rieb sich über den Nacken. Als junger Mann war er mit diesem Lächeln sicher ein gewaltiger Frauenmagnet. »Darf ich dich auf einen Kaffee einladen? Dann erzähl ich dir, was mir das Pflegepersonal gesagt hat. Bis dahin ist Mat sicher wieder wach.« Ich hatte keine Lust, schon nach Hause zu fahren. Dort wäre ich mit meinen Gedanken allein. Schon jetzt bereute ich, Chico für die nächste Zeit abgegeben zu haben. Toby und Roger hatten mir zwar angeboten, dass ich zu ihnen konnte, wenn mir die Decke auf den Kopf fiel, aber ich wollte sie nicht belästigen. Im Grunde kannte ich sie kaum und war schon dankbar, dass sie mir überhaupt halfen. Dennoch würde ich sie später anrufen und sie auf den aktuellen Stand bringen. Außerdem würde ich sie mit dem Krankenbesuch eine Weile vertrösten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mat im Moment Besuch von ihnen wollte. Morgen würde ich ihn fragen, dann war er hoffentlich etwas fitter. Verwirrt sah ich auf, als ein Finger vor meinen Augen schnipste. Peter grinste noch immer. »Steht wohl nicht so gut? Natürlich komm ich mit.« Ich erhob mich und wir gingen gemeinsam ins Krankenhauscafé. Der Kaffee war nicht gut, aber er lenkte ab. So ruhig wie möglich erzählte ich ihm, was ich über Mats Zustand wusste. Außerdem nutzte ich die Gelegenheit, um ihn auf meine Seite zu ziehen, was das Nichtrauchen anging. Zumindest versuchte ich es. »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, merkte er an. »Die Zigaretten waren immer seine Ersatzdrogen. Je nachdem, was sie ihm geben, wird der Suchtdruck noch schlimmer werden. Dann braucht er erst recht etwas, woran er festhalten kann. Du hast den Leuten aber gesagt, dass Mat mal opiatabhängig war, oder?« »Äh, nein, ich wüsste nicht, was es sie angeht.« Er atmete tief ein und seufzte dann. Was war denn jetzt an meiner Aussage so falsch? »Die Ärzte müssen das wissen, falls sie ihm Schmerzmittel geben. Das muss etwas kontrollierter passieren und besser ausgeschlichen werden. Sonst kann er einen Rückfall erleiden.« »Warum? Das ist doch ewig her.« Mir fiel es schwer, ihm das zu glauben. »Trotzdem ist das noch möglich, wenn bei ihm auch unwahrscheinlich. Aber wenn er jetzt nicht mal rauchen darf, dann befürchte ich, wird es wahrscheinlicher. Wir haben damals nach dem Heroin Gras konsumiert und er ist dann auf Zigaretten umgestiegen, um völlig clean zu werden. Wenn sie ihm Opiate als Schmerzmittel geben und er Entzugserscheinen hat, egal ob davon oder vom Nikotin, kann es ziemlich unangenehm werden. Ich werd mal nachher mit den Schwestern wegen eventueller Schmerzmittel reden.« »Mach das«, murmelte ich nachdenklich. »Ich vermute, Mat wird auf Entzug aggressiv? Also für seine Verhältnisse?« »Kann gut sein, ja. Warum?« »Ich wollte ihn nur ein paar Informationen zur Raucherentwöhnung geben. Statt mich wie erwartet zu beleidigen, hat er sie durchs Zimmer geworfen.« Peter schien einen Moment nachzudenken, dann nickte er. »Ja, das kann gut sein. Er ist immerhin schon den zweiten Tag hier. Wobei das für mich jetzt nicht so schlimm klingt.« Ich seufzte leise. »Nein, er hat auch noch rumgeschrien, dass wir ihn endlich sterben lassen sollen.« Peter atmete tief durch und legte dann die Stirn auf der aufgestützten Hand ab. Kaum merklich nickte er. »Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?«, fragte ich leicht nervös. Er schien zu wissen, was Mat damit meinte. Verschwieg er mir etwas? Hatte er wirklich Todessehnsucht? »Warum will Mat sterben?« »Ich glaube nicht, dass Mat wirklich sterben will«, versuchte Peter, mich zu beruhigen, und legte seine Hand auf meinen Unterarm. Einen Moment sah ich verwirrt auf seinen Daumen, der darüber strich, bis ich meinen Arm wegzog. »Er hat einfach nur schon lange mit dem Leben abgeschlossen. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn du erfährst, dass du eine unheilbare Krankheit hast, an der du schon einige elendig hast krepieren sehen? Als Mat den ersten positiven Test bekommen hat, kam gerade das erste Medikament auf den Markt. Unser Vater hat ermöglicht, dass er die Medikamente bekommt, und wir dachten alle, dass er damit wieder gesund wird. Sobald klar wurde, dass es zwar die Krankheit aufhält, aber nicht heilen kann, hat er sie abgesetzt. Er hat sie nie gut vertragen und die Wirkung hat auch nachgelassen. Später kam raus, dass er eine Resistenz entwickelt hat. Jedenfalls hat Mat da mit dem Thema Medikamente komplett abgeschlossen. Er wollte es nicht mehr versuchen und ist davon ausgegangen, nicht einmal dreißig zu werden. Weiß der Geier warum, aber er hat unbehandelt fast zwanzig Jahre überlebt.« Die Einstellung fand ich merkwürdig und konnte sie auch nicht nachvollziehen, aber darüber würde ich später mit Mat sprechen. Er würde mir das sicher besser erklären können als sein Bruder. »Wie kommt es dann, dass er jetzt doch welche nimmt?« Peter zuckte mit den Schultern. »Vor etwa fünf Jahren kam er plötzlich an, dass seine Entscheidung falsch gewesen wäre und er damit andere gefährdet. Keine zwei Tage später hat er die erste Kombitherapie versucht.« Langsam und nachdenklich nickte ich. Meine Frage nach Mats Ausspruch beantwortete es dennoch nur unzureichend. »Mach dir keine Sorgen. Mat würde schon dir zuliebe keine Dummheiten anstellen. Er hat dich viel zu gern, um den Gedanken ertragen zu können, dich zu verletzen.« Wieder tätschelte Peter meinen Arm und lächelte. Ich zog ihn erneut weg und erhob mich. Das wurde mir zu viel und offenbar verstand er nicht, dass ich nicht angetatscht werden wollte. Es war sicher nett gemeint, aber ich empfand es als unangenehm. »Ich sollte langsam nach Hause. Danke, dass du mir etwas Gesellschaft geleistet hast.« Er erhob sich ebenfalls und lächelte noch stärker, während er meinen Blick suchte. »Kein Problem. Wenn ich dir helfen kann, sag Bescheid.« Das irritierte mich, daher brauchte ich eine Weile, bis ich erwiderte: »Du kannst Mat noch ein Buch organisieren, um das er mich gebeten hat. Er wird es morgen sicher haben wollen.« »Natürlich«, erwiderte er, grinste noch etwas breiter. Nachdem ich ihm den Titel genannt hatte, machte ich mich auf den Weg zu meinem Auto. Es gab so einiges, worüber ich nun nachdenken wollte. Hoffentlich würde ich Mat dann verstehen. Kapitel 39: Regresando a casa ----------------------------- »Willst du bestellen oder soll ich etwas kochen?« »Ach, wenn du es schon anbietest, dann koch du ruhig.« Mat grinste mich an und betrat vor mir die Wohnung. »Soll ich dir bei irgendwas helfen?« »Nein, nicht nötig. Setz dich hin und mach dir den Fernseher an oder lies etwas«, wies ich ihn an und schloss hinter mir die Tür. »Du weißt schon, dass ich nicht direkt umkippen werde, nur weil ich dir in der Küche helfe? Sonst hätten sie mich nicht rausgelassen.« Ich schnaufte und folgte ihm ins Wohnzimmer. Als hätten die Ärzte irgendein Mitspracherecht gehabt. Sobald sie beschlossen hatten, dass er auch ohne zusätzlichen Sauerstoff auskam und aufstehen durfte, hatte er sich selbst entlassen. Einerseits konnte ich es verstehen, ich hatte ein paar Mal mitbekommen, dass Mat nicht übertrieb, was die unaufgeklärte Vorsicht des Krankenhauspersonals im Umgang mit seiner Krankheit anging, andererseits machte ich mir dennoch Sorgen, dass wieder etwas passierte. Ich war immerhin selten da, um ihm zu helfen. Daher würde ich auch Chico erst in ein paar Tagen nach Hause holen. Zuerst wollte ich sicher sein, dass sich Mat wirklich um ihn kümmern konnte. Es gab für mich nichts Schlimmeres als die Vorstellung, er könnte irgendwo auf der Straße umkippen. Obwohl er definitiv noch etwas murrte, wagte Mat es nicht, in die Küche zu kommen, sondern blieb mit seinem Buch im Wohnzimmer, während ich etwas zu essen für uns vorbereitete. Die Anweisung der Ärzte war klar: auf jeden Fall gesund und fettarm. Niemand wollte zusätzlich noch Herzprobleme riskieren. Im Wohnzimmer raschelte es, dann vernahm ich das Ratschen eines Feuerzeugs. Sofort schmiss ich das Messer aufs Brettchen und verließ die Küche. Tatsächlich saß Mat auf dem Sessel und zündete sich eine Zigarette an. »Sag mal, hast du sie noch alle! Mach sie aus!« Er warf mir nur einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln zu, dann widmete er sich wieder seinem Buch. »Falls du es vergessen hast: Das hier ist meine Wohnung.« »Es ist mir scheiß egal, ob das deine Wohnung ist!« Ich ging auf ihn zu und baute mich vor ihm auf. Gerne hätte ich ihm das Ding einfach aus der Hand gerissen, aber die Rangelei war mir zu gefährlich. »Mach das Ding aus!« Grinsend pustete er mir den Rauch ins Gesicht. »Reg dich ab, das ist meine Letzte für heute.« »Da bin ich sicher.« Ich nahm die Packung vom Tisch und steckte sie mir in die Hosentasche, bevor ich wieder in der Küche verschwand. Es war die einzige, die er hatte. Alle anderen, die in seiner Wohnung verteilt gewesen waren, hatte ich eingesammelt und sicher verstaut. Sobald ich aus seinem Blickfeld war, zog ich die Zigaretten wieder hervor und warf einen Blick hinein. Es fehlten tatsächlich nur drei mehr als gestern Mittag. Natürlich kam ich mir unmöglich vor, ihn zu kontrollieren, viel lieber wäre ich stolz auf ihn gewesen, weil er konsequent auf zwei Zigaretten am Tag reduziert hatte – von einem Tag auf den anderen. Dennoch gab es da diese leisen Zweifel, dass es zu gut erschien, um wahr zu sein. Ich wollte ihm vertrauen, dennoch traute ich ihm zu, heimlich weitere Zigaretten zu rauchen. Dabei hatte er sich ohne weiteres Einwirken meinerseits, in ein Rauchstoppprogramm eingeschrieben, dass in zwei Wochen begann. Ich legte die Schachtel neben der Spüle auf die Ablage und widmete mich wieder den Kartoffeln. Ich machte mir mehr Sorgen, als gut für mich war. Mat war erwachsen. Selbst wenn er weiterhin eine Schachtel am Tag rauchte, war das seine Entscheidung. Ab morgen konnte ich das sowieso nicht mehr kontrollieren. Während ich arbeitete, konnte er sich ohne Probleme weitere besorgen. »Es tut mir leid, ich hab überreagiert. Ich mache mir doch einfach nur Sorgen um dich«, gab ich zu und ging zu Mat hinüber, der die Teller grob abspülte, bevor er sie in die Spülmaschine stellte. Während des gesamten Essens hatten wir uns angeschwiegen. Das ließ eine Stimmung zwischen uns entstehen, die mehr als unangenehm war. Er zuckte mit den Schultern und sah mich nicht an. »Passt schon. Ich nehm es nicht böse. Ich versteh es ja. Nur bitte übertreibe es mit der Sorge nicht.« Nachdenklich nickte ich. Ja, vermutlich tat ich das im Moment. Doch die Situation machte mir Angst. Wie konnte er das so locker wegstecken? Mich hätte es wahnsinnig gemacht, erst in den nächsten Tagen genauer zu wissen, woran ich litt. Doch ihm schien es vollkommen egal. Oder wollte er es mir gegenüber nur nicht zeigen? »Soll ich nachher runter gehen?« Nun sah er mich doch an, musterte mich einen Moment mit leicht schiefgelegtem Kopf. »Von mir aus musst du nicht runter. Wie kommst du darauf?« »Es hätte ja sein können, dass du allein sein willst.« Er lachte auf. »Ich war die letzten Tage allein. Okay, nicht ganz, aber zusammen mit drei Leuten, die mich wie einen Aussätzigen anstarren, ist doch etwas anderes, als den Abend mit dir zu verbringen.« »Na gut, dann muss ich dir wohl Gesellschaft leisten.« Es freute mich, dass er so freimütig zugab, meine Anwesenheit zu schätzen. Das nahm mir zumindest die Sorge, ihn zu nerven. »Dann mach dich wenigstens nützlich!« Er deutete auf die Abfälle, die noch vom Kochen auf der anderen Seite lagen. Kopfschüttelnd, aber mit einem leichten Grinsen, reichte ich sie ihm, damit er sie entsorgen konnte. Mat öffnete die Augen und grinste. Ich lächelte zurück und streichelte über seinen Hals. Ansonsten erwiderte ich einfach nur seinen Blick, bis er sich mir leicht entgegenstreckte. Vorsichtig küsste ich ihn und versuchte dabei, das Ziehen zu ignorieren, das in meinem Magen begann und sich bis in die Lenden ausbreitete. Die etwas merkwürdige Stimmung zwischen uns war einfach nicht abgeflaut und erst, als wir ins Bett gingen und Mat sich auszog, war mir klar geworden, was sich so komisch anfühlte: Ich hatte Sehnsucht nach ihm, traute mich aber nicht, ihm näherzukommen. Da war wieder diese übertriebene Sorge. Doch zum Glück hatte er meine Blicke bemerkt und sich mir einfach genähert, mich aus- und dann ins Bett gezogen. Er hatte mich geküsst, bis ich die Scheu und Angst davor verlor, ihm damit zu schaden. Es dauerte eine Weile, doch letztendlich hatte er es geschafft, mich davon zu überzeugen, dass es ihm durch den Krankenhausaufenthalt nicht plötzlich schlechter ging und es vorher auch in Ordnung war. Dennoch hatte ich ihn nicht ins Bad gelassen, als er mich darum bat. Sex war nun einmal deutlich anstrengender, als einfach liegenzubleiben und sich verwöhnen zu lassen. Ohne Murren war er darauf eingegangen und ich genoss es, dass er mittlerweile nicht mehr unbedingt auf eine Gegenleistung drängte. Gerade brauchte ich das Wissen, dass er zulassen konnte, einfach noch eine Weile nebeneinander liegenzubleiben. »Ich hab dich vermisst«, rutschte es über meine Lippen, als ich mich von ihm löste. Sofort schob ich hinterher: »Tut mir leid.« Er lachte leicht und schüttelte den Kopf. »Was? Dass du mich vermisst hast? Das hab ich schon lange bemerkt.« Ich rutschte etwas von ihm weg, um ihm mehr Raum zu geben. »Nein, dir das so unvermittelt mitten ins Gesicht zu sagen. Es ... Ich will mich dir nicht aufdrängen. Tut mir leid.« »Eloy, ich hab dich auch vermisst«, erwiderte er in eindringlichem Ton. Dann schüttelte er wieder den Kopf und schien sich über mich zu amüsieren. »Auch wenn ich mich nicht verlieben kann: Ich bin kein gefühlskalter Klotz.« Sein Geständnis ließ das Ziehen wieder aufflammen und vergrößerte mein Problem nur noch. Ich ließ mich auf den Rücken fallen und starrte zur Decke. »Dennoch ist das ein Grund mehr, dir meine Gefühle nicht aufzudrängen.« Er schnaubte. »Ist das jetzt dein Ernst? Was soll das werden?« Ich versuchte, seinem Blick auszuweichen, doch er folgte meinem unerbittlich. Ich hätte ihm den Rücken zudrehen müssen, was ich jedoch albern fand. »Ich will nur nicht, dass es sich für dich unangenehm anfühlt. Keine Ahnung, was mit mir heute los ist.« Er grinste und streichelte mit den Fingerkuppen ganz leicht über meine Wange. Sofort breitete sich eine Gänsehaut über meinen gesamten Rücken aus. Mit sanfter Stimme fragte er: »Bist du sicher, dass es nicht gerade eher für dich unangenehm ist? Du hast warme Wangen und weichst meinem Blick aus. Ist es dir nur unangenehm, mir zu sagen, dass du mich vermisst hast? Oder hast du Angst, dass dir noch mehr rausrutscht?« Für einen Augenblick wurde mein Mund trocken und ich hielt unvermittelt den Atem an. Seine Art zu sprechen, die Berührungen und sein langsames Näherkommen lösten so viel gleichzeitig in mir aus. Ich hatte das Gefühl, zu platzen. Als seine Lippen meine ganz leicht berührten und seine Zunge sanft darüber fuhr, damit ich den Mund öffnete, ging ein Ruck durch mich. Ich packte ihn, drückte ihn an mich und forderte mehr als nur diese kaum spürbare Berührung. Leicht hustend drückte er sich von mir weg und ich ließ von ihm ab. Es waren vielleicht ein paar Sekunden gewesen, die ich ihn gierig geküsst hatte, aber es fühlte sich an, als wäre es der bisher längste Kuss gewesen. »Alles gut«, beruhigte er mich, als ich mich aufrichtete. »Du hast mich nur zu fest gedrückt.« »Tut mir leid.« Er rollte die Augen, so gut es beim Husten ging. Die Zeit, bis er sich ausgehustet hatte, gab mir Gelegenheit, darüber nachzudenken, was geschehen war. So einen Gefühlsausbruch hatte ich noch nie erlebt. Ich war nicht einfältig, ich wusste, was diese körperlichen Reaktionen bedeuteten, aber ich kannte sie so nicht. Nicht in dieser Intensität. Was zur Hölle hatte er mit mir angestellt? »Geht es dir jetzt besser?«, fragte er nach einer Weile. Ich nickte. Ja, ich fühlte mich noch ein wenig verwirrt und benommen, aber zumindest fühlte ich mich nicht mehr schlecht oder verlegen, weil ich ihm gestanden hatte, dass ich ihn vermisste. Seine Aktion ... Ich hatte das Gefühl, dass er all das erwiderte und es beruhigte mich. Kurz haderte ich. Sollte ich diesen Gedanken aussprechen? Es war so widersprüchlich. Seine Worte und Handeln. Spielte er mit mir? Wickelte er mich einfach nur um den Finger, weil er genau wusste, wie er diese Gefühle in mir auslösen konnte? Ich brauchte eine Antwort darauf. Mat log nicht, also war die einzige Möglichkeit, ihn direkt darauf anzusprechen. »Ich ... Ich dachte, du liebst mich nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Zumindest glaube ich, dass ich nicht verliebt bin, ja. Keine Ahnung, wie sich das gerade für dich angefühlt hat – ich hoffe gut und richtig – für mich war es schön, angenehm, aber ich habe dabei weder Herzklopfen noch Schmetterlinge im Bauch oder sonst einen Hormonausbruch. Ich genieße dabei einfach nur deine Reaktion, weil sie mir zeigt, dass du mir vertraust und keine Angst hast, dich verletzlich zu zeigen.« Also manipulierte er mich wirklich nur? Das ... tat unerwartet stark weh. Ich musste schlucken. »Also ist das für dich ein Spiel?« »Wenn ich spielen wollen würde, dann könnte ich das einfacher haben als dich.« Er zog eine Augenbraue hoch und beobachtete mich halb von der Seite. »Ich weiß, wie ich Männer um den Finger wickeln kann. Aber das hat hiermit nichts zu tun. Ich kann dir nicht sagen, was ich für dich empfinde, kann es nicht auf dieselbe Art erwidern. Also zeig ich es dir auf meine Art.« Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber alles macht für mich keinen Sinn. Das klingt einfach alles nur widersprüchlich.« Er seufzte, ballte ganz kurz die Fäuste und sah dich dann suchend im Raum um. Einen Moment blieben seine Augen am Nachttisch hängen und er brummte kurz. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Okay, ich versuch es, aber ich gebe keine Garantie, dass es für dich Sinn macht: Ich hab dich gern, das ist kein Geheimnis, und ich habe dich auch vermisst. Nicht nur körperlich, ich habe es vermisst, mit dir im selben Bett zu schlafen, einfach nur deine Anwesenheit, unsere Gespräche, auch wenn sie nicht immer konstruktiv sind. Ich vertraue dir und bin gerne mit dir zusammen. Für mich bist du ein sehr guter Freund, mit dem ich Sex habe. Mehr kann ich dir einfach nicht bieten. Aber mir ist bewusst, dass du etwas anderes fühlst und das ist für mich vollkommen in Ordnung, auch wenn du es mir sagst, solange es nicht überhandnimmt. Wenn ich könnte, würde ich das auch gerne erwidern, glaub mir. Aber da ich so etwas bisher nie gefühlt habe, bezweifel ich, dass sich das noch jemals ändern wird. Ich kann dir daher nur bieten, zumindest so zu tun, als wären sie da.« Schnell schüttelte ich den Kopf. »Tu das bitte nicht. Ich will das nicht.« Er nickte und senkte dabei den Kopf. »Okay.« »Warum bist du jetzt traurig?« Das verwunderte mich. Ich wollte doch nur nicht, dass er sich verstellte. Sollte das für ihn nicht schön sein, sich nicht verstellen zu müssen? Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hatte einfach nur gehofft, dir eine Freude damit zu machen.« »Warum sollte es mir eine Freude machen, wenn du dich verstellst?« Ich tippte gegen seinen Brustkorb. »Ich hab mich in dich verliebt, so wie du bist. Warum sollte ich wollen, dass du mir etwas vorspielst?« »Weil dir das gerade offenbar sehr gut gefallen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es schön ist, wenn das Verliebtsein nicht erwidert wird.« Er hatte recht und doch wieder auch nicht. Ich brauchte eine Weile, um es richtig in Worte zu fassen. »Das gerade, dieser Kuss, der hat mir wirklich gut gefallen, ja. Ich würde mich auch freuen, das vielleicht ab und zu zu wiederholen. Aber ich will nicht, dass du mir irgendwelche Gefühle vorspielst, die du nicht hast. Du willst, kannst – was auch immer – nicht mit mir zusammen sein. Das ist okay. I...« »Hä? Was hat das damit zu tun, ob wir zusammen sind?«, unterbrach er mich. Da ich den Faden verloren hatte und seine Verwirrung gerade ansteckend war, starrte ich einfach nur irritiert an. Er schien es als Aufforderung zu sehen, seine Aussage zu erläutern: »Unabhängig davon, was genau ich für dich empfinde oder nicht empfinde: Ich hatte nicht vor, mich von dir zu trennen.« Das machte das Chaos in meinem Kopf komplett. Geschafft ließ ich mich gegen die Wand fallen. Okay, das war jetzt irgendwie alles durcheinander geraten. »Du willst sagen, dass wir zusammen sind?« Er zog die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf schief. »Ist das jetzt ’ne Fangfrage?« »Nein. Ich ... Ich wusste nicht, dass du das so siehst.« »Oh.« Nun schien auch Mat komplett aus dem Konzept gebracht. Er lehnte sich neben mich gegen die Wand und schwieg einen Moment. »Okay, also nochmal von vorne.« Mat war irgendwann aufgestanden, hatte etwas zu trinken für uns geholt und sich dann etwas übergezogen. »Ja, ich bin bisher davon ausgegangen, dass wir zusammen sind. Frag mich nicht, seit wann, aber für mich hat sich das so ergeben. Ich meine, wie würdest du es bezeichnen? Also, wenn du dich nicht gerade als mein Lebensgefährte ausgibst.« Als er mir beim letzten Satz zuzwinkerte, stieß ich ihn leicht in die Seite. Ihm sollte eigentlich klar sein, dass es nur ein verzweifelter Versuch war, zu ihm gelassen zu werden. »Ich weiß es nicht. Freundschaft? Aber das passt auch nicht ganz. Keine Ahnung, aber für mich gehören zu einer Beziehung zwei Menschen, die sich lieben.« »Würdest du sagen, dass du mit deiner Exfrau eine Beziehung geführt hast?« »Ja.« Kaum hatte ich die Antwort ausgesprochen, stockte ich. Er musste das Paradoxon, auf das er hinauswollte, nicht einmal erklären. »Warum kann das zwischen uns dann keine Beziehung sein? Ich will dir nichts unterstellen, daher berichtige mich bitte, wenn ich falsch liege, aber du hast für sie doch auch nicht viel anders empfunden als ich für dich, oder nicht?« Ich nickte und ließ den Kopf in den Nacken fallen. »Ja, vermutlich. Und gerade das sollte mich wohl davon abhalten, zu viel Energie in dich zu stecken.« Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er nickte. »Ich versteh das. Ich wäre dir auch nicht böse, wenn du sagst, dass dir das zu einseitig ist. Hättest du dennoch etwas dagegen, es wie bisher weiterlaufen zu lassen? Und dem vielleicht auch einen ehrlichen Namen zu geben?« Ich drehte den Kopf zu ihm und betrachtete ihn einen Moment. Es schien ihm wichtig zu sein. Aber ich verstand noch nicht, warum. »Dir ist das damit wirklich ernst, oder?« Er seufzte, sah kurz zur Seite, bevor er direkt meinen Blick suchte. »Ja, ist es. Sehr ernst sogar. Halt mich bitte nicht für verrückt, aber eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mich heiratest.« Mir blieb die Spucke im Hals stecken und ich musste erst einmal husten. Das kaufte mir auch die Zeit, um mich nach diesem sehr unvermittelten Geständnis zu fangen. Verrückt war kein Ausdruck! Als ich ihn wieder ansah, grinste er leicht, auch wenn es seine Augen nicht erreichte. »Tut mir leid, das muss für dich echt überraschend kommen. Du musst auch nicht direkt antworten. Vielleicht hilft es dir zu wissen, warum?« »Ja, bitte«, krächzte ich. Das war doch völliger Irrsinn! »Ich muss, glaube ich, nicht wiederholen, dass ich dir vollkommen vertraue und den ganzen Scheiß, oder?« Ich schüttelte erstmal den Kopf. Er klang nicht so, als hätte er Lust dazu und das meiste hatte er mir sicher schon gesagt. »Als plötzlich Peter statt dir in der Intensivstation aufgetaucht ist, war ich ziemlich wütend. Ich hätte lieber dich dort gehabt. Er ist mein Bruder, ich kenne ihn in- und auswendig, aber er hat sich eben auch einige Dinge geleistet, die vollkommen daneben waren. Wenn etwas ist, will ich mich auf die Person, die für mich alles regelt, ganz und gar verlassen können. Und das tu ich nur bei dir. Und na ja ... Ich kann dir vielleicht nicht versprechen, dass ich dich immer lieben werde, aber ich kann mir zumindest vorstellen, den Rest des Lebens mit dir zu verbringen, egal, wie lange das noch sein mag.« Wow! Ich konnte gerade nicht anders, als ihn anzustarren. Der letzte Satz haute mich einfach um. Er wollte sein Leben mit mir verbringen?! Uff ... das war grade echt eine Spur zu viel. Er strich leicht über meinen Unterarm, bis ich ihn wieder ansah. »Wenn du ein paar Tage Zeit brauchst, um dir das zu überlegen, ist das vollkommen okay. Wir haben es nicht eilig.« »Bekomm ich dann auch einen Ring von dir?«, versuchte ich, die Situation mit einem Scherz erträglicher zu machen. Er hatte recht, ich würde sicher einige Zeit brauchen, um das zu verdauen. Für mich kam das völlig aus dem Nichts. »Klar, wenn du darauf bestehst. Wie groß soll der Diamant denn sein?«, feixte er. »Das musst du entscheiden, immerhin musst du ihn tragen. Du bist doch die Frau in unserer Beziehung!« »Ha! Du hast es zugegeben, dass wir eine Beziehung führen!« Einen Moment starrte ich ihn verwirrt an, dann prustete ich los. Ich hatte mit einem Aufstand gerechnet, weil ich ihn als Frau bezeichnete, aber sicher nicht mit dieser Antwort. Auch er fiel mit in das folgende Gelächter ein. Als wir beide ruhiger wurden, zog ich ihn an mich. »Zumindest zu dir als meinen Freund kann ich klar Ja sagen, wenn wir das nicht lauthals in die Welt hinausbrüllen müssen. Um ehrlich zu sein, hab ich schon von dir als meinen Freund gedacht, aber ich dachte nicht, dass du auch so denkst.« »Nein, die Personen, die davon wissen, die reichen. Ich werd auch nicht mit dir Händchen halten oder öffentlich rumknutschen.« »Das klingt gut.« Ich streichelte über seinen Kopf. »Du solltest dich mal wieder rasieren.« Sofort schlug seine Stimmung um und er ließ sich mit einem leisen Seufzen weiter gegen mich fallen. »Warum, sie fallen doch wahrscheinlich eh bald alle aus.« »Tut mir leid.« Verdammt, das war unüberlegt gewesen! Seine sonst so starke Art ließ mich manchmal vergessen, dass er eben auch verletzlich war. Ich packte ihn fester und strich über seinen Rücken. »Lass uns erstmal abwarten, was die weiteren Untersuchungen ergeben, bevor wir uns darüber Gedanken machen, okay? Vielleicht ist es nur halb so schlimm wie befürchtet und ist mit einer OP erledigt.« »Ja, bestimmt«, seufzte er und schloss die Augen. Ich streichelte weiterhin seinen Rücken, bis er langsam eindöste und sich von mir wegdrehte. Sobald ich mich wieder frei bewegen konnte, sammelte ich Gläser und Flasche ein und brachte sie in die Küche. Mein Blick fiel auf die Zigarettenschachtel neben der Spüle. Sie war nicht nur eindeutig bewegt, sondern auch geöffnet worden. Misstrauisch warf ich einen Blick hinein, obwohl Mat vorher gar nicht lange genug in der Küche war, um rauchen zu können. Es fehlte keine. Lediglich eine war herausgezogen und dann nicht wieder richtig hineingesteckt worden. Seufzend legte ich die Schachtel zurück. Offenbar war es doch schwerer für ihn, als er zugab. Warum nur versuchte er noch immer, mir diese Stärke vorzuspielen? Kapitel 40: Llama desde Noemí ----------------------------- Murrend griff ich nach meinem Handy und ging ran, ohne auf die Anzeige zu achten. »Eloy Meléndez.« »Hallo Brüderchen«, begrüßte mich Noemís fröhliche und aufgeweckte Stimme. Ich brummte leise und warf einen Blick auf den Wecker. In einer halben Stunde musste ich aufstehen. Dann konnte ich das auch gleich erledigen und Mat noch schlafen lassen. Er war zwar seit ein paar Tagen wieder zu Hause, aber die Chemo hatte ihn sehr geschlaucht, sodass er sogar nach meiner Nachtschicht mit ins Bett kam. »Einen Moment.« »Bleib hier«, murrte Mat neben mir, legte den Arm um meinen Bauch und klammerte sich an mich. Die Krankheit veränderte ihn. Er wurde nicht nur sanfter, das war er schon vorher geworden, sondern auch anhänglicher. Es störte mich nicht weiter, ich verstand, dass er sowohl mich als auch seinen Bruder brauchte, immerhin machten uns die Ärzte wenig Hoffnung. Mats Zustand war schlimmer als zunächst angenommen. Daher blieb ich ihm zuliebe auch liegen und ließ zu, dass er sich von hinten an mich kuschelte, nachdem ich ihm kurz versichert hatte, dass ich bei ihm blieb. »Ist das dein Freund?«, fragte Noemí neugierig nach. Ich brummte bestätigend. Leugnen hätte ja nichts gebracht. »Hab ich euch gestört?« »Nein«, versicherte ich schnell, bevor sie auf falsche Gedanken kam. »Ich hatte Nachtschicht und wir haben noch geschlafen.« »Dann tut es mir leid, dass ich euch geweckt habe.« »Schon gut, wir müssen eh bald aufstehen. Was wolltest du denn?« »Ich wollte wissen, wie es dir geht. Seitdem du wieder nach Boston geflogen bist, hat ja niemand mehr was von dir gehört.« »Tut mir leid«, entschuldigte ich mich aufrichtig. »Hier geht es ziemlich drunter und drüber. Ich hab einfach nicht mehr daran gedacht.« »Schon gut, das dachte ich mir schon. Wie geht es deinem Freund denn?« »Ich weiß nicht, ob ich dir das so sagen darf ...« »Dann frag ihn! Er liegt doch direkt neben dir«, forderte sie mich auf. »Oder noch besser: Mach Skype an! Ich bin neugierig, wie er aussieht.« »Noemí, wirklich ... Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.« »Was ist denn los?«, fragte Mat, der wohl den besorgten Tonfall und den Namen meiner Schwester bemerkt hatte. Ich seufzte und drehte mich so weit, dass ich ihn über die Schulter hinweg sehen konnte. »Noemí möchte gerne mal sehen, wie du aussiehst, und will wissen, wie es dir geht. Wäre es in Ordnung, wenn ich die Kamera anmache?« »Wenn ihr in einer Sprache sprecht, die ich auch verstehe, dann ja.« Er lächelte, als er mich damit neckte. »Dann einen Moment, ich ruf gleich über Skype zurück«, wandte ich mich an Noemí und legte auf. Danach drehte ich mich auf den Rücken, damit Mat sich nicht hinter mir verstecken konnte. »Bist du dir sicher?« Er kuschelte sich an meine Brust und funkelte mich aus frechen Augen an. »Ja. Wenn wir heiraten, sollte ich doch auch deine Familie kennenlernen, oder nicht?« Ich seufzte. Er hatte recht. Bisher hatte ich seinen Antrag weder angenommen noch abgelehnt. Ich wollte ihn gerne heiraten, nicht zuletzt, weil es auch während der Chemo teilweise wieder schwer gewesen war, zu ihm gelassen zu werden. Ihn zu heiraten bedeutete für mich aber auch, meiner Familie zu erzählen, dass ich schwul war. Ich legte den Arm um ihn und zog ihn etwas fester an mich. »Tut mir leid. Natürlich will ich dich heiraten.« Er lächelte leicht, ließ sich kurz küssen, dann deutete er auf mein Handy. »Wir sollten wohl zurückrufen.« Ich nickte und loggte mich ein. Sobald mir angezeigt wurde, dass es bei Noemí klingelte, nahm sie auch schon ab. Leicht verlegen deutete ich auf Mat, nachdem sich das Bild aufgebaut hatte. »Ehm, ja, das ist mein Freund Mat.« »Hallo«, grüßte er. Meine Schwester grüßte zurück und betrachtete uns dann eine Weile schweigend durch die Kamera, bis sie schmunzelte. »Ihr hättet euch ja wenigstens was anziehen können.« »Wir haben etwas an«, erwiderte Mat ohne Umschweife. »Sollen wir es beweisen?« »Äh, nein danke!«, lehnte sie schnell ab. Zum Glück, denn in Mats Fall war das eine dreiste Lüge. »Eloy hat gesagt, du warst im Krankenhaus und dass bei euch viel Stress ist. Wie geht es dir denn?« »Nicht so gut. Es wurde Lungenkrebs im dritten Stadium diagnostiziert. Ich hab gerade die erste Chemo hinter mir.« Mich überraschte, dass Mat so offen darüber sprach, aber offensichtlich versuchte er wirklich, Vertrauen zu meiner Familie aufzubauen. Wie schon bei ihrem letzten Gespräch ließ ich sie einfach miteinander reden und hörte einfach nur zu. Zu Mats Gesundheitszustand wusste ich immerhin alles, was es zu wissen gab. Daher erschrak ich auch etwas, als Noemí plötzlich meinte: »Wenn du nach den ganzen Behandlungen mal einen kleinen Urlaub brauchst, dann komm doch gemeinsam mit Eloy an Thanksgiving zu uns.« »Danke für die Einladung, ich muss erst sehen, ob das geht. Ich bin schon eingeladen und nicht sicher, ob das mit der Behandlung so funktioniert«, erwiderte er sofort. In dem Blick, den er mir zuwarf, konnte ich leichte Panik erkennen. Das ging ihm dann wohl doch zu schnell. Daher legte ich sanft die Hand auf seinen Rücken. »Wir werden sehen, ob sich das einrichten lässt. Ich komme aber auf jeden Fall.« »Klar, überlegt es euch. Ihr könnt ja auch spontan entscheiden. Eine Person mehr bekommen wir ohne Probleme satt.« Beruhigend lächelte meine Schwester. Uns war wohl anzumerken, dass wir uns dabei nicht allzu wohl fühlten. »Wenn es euch beruhigt: Lázaro hat angekündigt, auch jemanden mitzubringen.« »Was?! Lázaro hat eine Freundin?«, brach es aus mir heraus. Sie grinste. »Ja. Und es ist wohl gar nicht mal so frisch. Sie sind wohl schon ein paar Jahre zusammen. Keine Ahnung, warum er sie so lange vor uns versteckt hat.« Das machte mich erst recht neugierig. Warum war mein kleiner Bruder der Meinung, seine Freundin vor uns geheimhalten zu müssen und nicht einmal mir oder Noemí etwas von ihr zu erzählen? Ich wollte sie gerade ausfragen, was sie wusste, als ich plötzlich Jonathans Stimme hörte und er im nächsten Moment auch im Hintergrund auftauchte. »Was schaust du denn da? Ist das eine neue Se... Eloy?« Einen Moment war ich wie gelähmt, dann beendete ich eilig das Gespräch. ¡Mierda! Er hatte mich und Mat gesehen! Wenn er mich erkannt hatte, dann musste er auch deutlich erkannt haben, dass ich einen anderen Mann in meinem Arm hielt und ihm über den Rücken streichelte! »Wer war das?« »Mein Schwager«, antwortete ich und wollte mich ganz automatisch von ihm losmachen. Mat hielt mich leicht fest und entwandt mir vorsichtig das Handy aus den Fingern. »Oh Gott, du zitterst ja total. Beruhig dich. Es ist doch nichts passiert.« »Er hat uns gesehen!« »Schon, aber das ist doch kein Grund auszuflippen. Ich bin sicher, deine Schwester wird in Ruhe mit ihm reden. Und wenn die beiden verheiratet sind, kann ich mir nicht vorstellen, dass er etwas gegen uns hat, oder nicht?«, redete er ruhig auf mich ein. Ich seufzte und nickte, auch wenn ich noch nicht ganz überzeugt war. Mir den Kopf zerbrechen brachte aber auch nichts. »Komm, lass uns duschen gehen.« Ich ließ mich von ihm aus dem Bett ziehen und folgte in die Dusche. Hoffentlich konnte Noemí es Jonathan erklären.   Als wir wieder aus der Dusche kamen, hatte ich eine SMS von Jonathan auf dem Handy. ›Hallo Eloy. Tut mir leid, dass ich euch gestört habe. Warum telefonieren wir nicht später noch einmal? Ich würde mich gerne persönlich entschuldigen.‹ Ich seufzte und schrieb ihn zurück, dass ich mich darüber freuen würde. Was sollte es, es hatte ja eh keinen Zweck, das zu verheimlichen. Er hatte mich klar und deutlich nackt mit einem Mann kuscheln sehen. Was sollte ich ihm anderes erzählen als die Wahrheit? Mat bot an, sich ebenfalls dazuzugesellen, doch ich lehnte ab. Erstmal wollte ich mit Jonathan allein reden und ausloten, wie er dazu stand. Mat war hier im Norden aufgewachsen, er würde nicht verstehen, dass die Dinge im Süden manchmal etwas anders liefen. Kapitel 41: Dejadito -------------------- Unruhig trommelte ich mit den Fingern auf dem Tisch herum und wartete, dass Mat sich endlich zu mir setzte. Er lächelte leicht und strich mir über den Oberschenkel. »Kann es losgehen?« Ich atmete tief ein, sammelte mich und nickte dann. Hinauszögern brachte ja doch nichts. Mit einem Klick starrte ich den Videoanruf und wartete dann nervös, bis sich die Verbindung aufbaute und der Anruf angenommen wurde. »Guten Abend«, begrüßten mich meine Eltern. Ihnen war anzusehen, dass sie nicht so ganz wussten, in welche Richtung sie schauen mussten, um in die Kamera zu sehen. Aber das ging schon. Normalerweise bevorzugten sie herkömmliche Anrufe, aber für diesen einen Anruf hatte Noemí ihren Account und Laptop zur Verfügung gestellt. Ich grüßte ebenfalls zurück und tauschte die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus, erkundigte mich, wie es ihnen ging, wartete auf die Gegenfrage. Zum einen wollte ich nicht mit der Tür ins Haus fallen, zum anderen wollte ich mir noch etwas Zeit erkaufen. Doch irgendwann wurden sie natürlich doch unruhig. »Eloy, warum rufst du nicht einfach an, wenn du mit uns telefonieren willst? Warum müssen wir dafür vor diesem Kasten sitzen?« »Weil ... Mamá, papá, ich würde euch gerne jemanden vorstellen. Ich habe jemanden kennengelernt und mich verliebt und ... Wir wären gerne zusammen an Thanksgiving gekommen, aber das geht leider nicht, daher wollte ich ...« Mat verstand zwar nichts, aber er schien dennoch zu bemerken, dass ich nervös vor mich hin stotterte. Aufmunternd drückte er mein Knie. Dankbar lächelte ich ihn an, dann drehte ich den Laptop etwas herum, bis auch er im Blickfeld der Kamera war. Mit zitternder Stimme erklärte ich: »Mamá, papá, das ist Mat.« Mit angehaltenem Atem starrte ich auf den Bildschirm. Ich wusste, dass sie es nicht so einfach hinnehmen würden wie Jonathan, daher wäre es mir auch lieber gewesen, sie hätten ihn in natura kennengelernt, aber leider ging das nicht. Der Flug wäre für ihn direkt nach der Chemo zu anstrengend und mit geschwächtem Immunsystem zu gefährlich. Die andere Möglichkeit wäre ein Roadtrip, aber dafür hatte ich nicht genug Urlaub. Mat hob leicht die Hand in Richtung Kamera. »Hi.« »Eloy! Was für ein bescheuerter Scherz ist das?!«, donnerte mein Vater, sobald er sich gefasst hatte. »Das ist kein Scherz. Mat ist mein Freund«, antwortete ich mit möglichst fester Stimme. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, mich einschüchtern zu lassen, obwohl es mich innerlich aus der Bahn warf, dass er mir so etwas wirklich zutraute. War ihm nicht klar, wie schwer mir das fiel? »Bitte?! Rede gefälligst vernünftig mit mir!« »Auch wenn ich es noch ein paar Mal wiederhole, ändert sich nichts daran: Mat ist mein Freund. Ich liebe ihn. Und ich werde auch weiterhin Englisch reden, damit er mich versteht.« Mat drückte noch einmal fester mein Knie. Es tat gut, zu wissen, dass er da war und nicht von meiner Seite wich, bis das durchgestanden war. »Du rufst uns an, um uns zu sagen, dass dich dieser Skinhead zu einer Schwuchtel gemacht hat?« Über die Kamera konnte ich sehen, wie er Mat feindselig musterte. »Mat ist kein Skinhead, sondern krank«, erklärte ich sachlich. Ich durfte mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Dann würde mein Vater mich nicht mehr ernstnehmen. »Außerdem hat er mich nicht schwul gemacht. Ich war schon immer schwul.« Meine Mutter wurde für einen kurzen Moment bleich. Zu gern hätte ich ihr den Stress erspart, aber das ging leider nicht. Dafür hätte erstmal mein Vater aufhören müssen zu wettern. »Was redest du für wirres Zeug?! Haben die dir da oben eine Gehirnwäsche verpasst?« »Nein, Vater. Ich habe nur keine Lust mehr, mich zu verstecken! Ich habe jahrelang versucht, normal zu sein. Aber ich bin es nicht! Ich liebe Männer und kann mit Frauen nichts anfangen.« »Eloy, beruhig dich bitte«, griff meine Mutter ein. »Du musst verstehen, das ist nicht so einfach für uns. Erst lässt du dich scheiden und verschwindest ans andere Ende des Landes und dann stellst du uns einen Mann als deinen Freund vor.« »Versteht ihr nicht, dass es für mich nicht einfacher ist?«, versuchte ich es ruhiger. »Das mit Maria und mir ... Ich konnte die Lüge nicht länger aufrechterhalten. Sie hat mich mit einem Mann erwischt. In flagrante und in unserem Ehebett.« Ich atmete tief durch. Nun war es raus! Ich hatte meinen Eltern gesagt, dass ich fremdgegangen war. Entsprechend schockiert starrten sie mich an und ich konnte nicht anders, als gespannt darauf zu warten, erneut angeschrien zu werden. Mat unterbrach die Spannung, indem er vorsichtig nach meiner Hand griff und seine Finger mit meinen verschränkte. Als ich kurz zu ihm sah, streichelte er mit der freien Hand über meinen Oberarm und lächelte mich aufmunternd an. Unweigerlich erwiderte ich das Lächeln und blieb länger als beabsichtigt an seinem Blick hängen. Für einen Moment vergas ich, dass meine Eltern noch immer in der Leitung waren und beugte mich zu ihm, als er mir leicht entgegenkam. Seine Hand legte sich auf meine Wange, streichelte darüber. Den sanften, zarten Kuss brauchte ich ganz dringend. Ein lautes Donnern erinnerte mich daran, dass gerade keine Zeit zum Kuscheln war. Sofort löste ich mich von Mat und sah zurück zum Laptop. Mein Vater sah aus, als würde ihm jeden Moment der Kopf platzen. Für ihn musste der Kuss eine reine Provokation darstellen. Mir dagegen half er, ruhiger zu werden. Mat war für mich da. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich mal jemanden über meine Familie stellen würde. Andererseits war er dabei, Teil meiner Familie zu werden. »Eloy, musste das sein?«, fragte meine Mutter vorwurfsvoll. »Ja«, erwiderte ich ernst. »Ich habe es gerade schon gesagt: Ich will mich nicht mehr verstellen. Mat ist mein Freund, ob es euch passt oder nicht. Ich würde mir wünschen, dass ihr das akzeptiert und euch für mich freut. Aber ich kann euch nicht zwingen, uns euren Segen zu geben. Wir werden noch dieses Jahr heiraten. Überlegt euch, ob ihr dabei sein wollt oder nicht.« »Niemals werde ich ...«, fing mein Vater an und wurde von meiner Mutter unterbrochen. Er warf ihr einen bösen Blick zu und verließ den Tisch. Sie sah mich mahnend an. »Das war etwas harsch, junger Mann!« »Tut mir leid.« Wenn meine Mutter mich so ansah, wurde ich direkt wieder zu einem kleinen Jungen. Das konnte ich nicht abstellen. »Aber ich meine das ernst: Wir wollen heiraten und es wäre schön, wenn wir dabei zumindest wüssten, dass wir euren Segen haben.« »Lass deinem Vater und mir etwas Zeit, das zu verdauen. Wir hören uns in den nächsten Tagen sicher noch einmal.« Zustimmend nickte ich. Das war zumindest besser gelaufen als erhofft. In gebrochenem Englisch ergänzte sie: »Passen Sie gut auf meinen Jungen auf und machen Sie ihn nicht unglücklich.« Mat schnaufte amüsiert. »Werd ich sicher. Ich hoffe, wir können uns nochmal richtig kennenlernen.« Wie ich gehofft hatte, wirkte meine Mutter über sein gutes Benehmen überrascht. Er wusste eben, wie er einen guten Eindruck schindete, er musste es nur wollen.   Mat schlug das Buch zu und legte es auf dem Nachttisch ab, bevor er mir mit der flachen Hand gegen die Schulter schlug. »Hörst du jetzt mal endlich auf?« Ich wiegte ein wenig den Kopf und fuhr noch einmal mit der Hand über seine Kniekehle, woraufhin er das Bein schnell wegzog und gleichzeitig versuchte, nach mir zu treten. Ich richtete mich etwas auf und lehnte mich über ihn. Schmunzelnd fragte ich: »Wenn ich dich nicht ärgern darf, wie soll ich dir denn sonst zeigen, dass ich dich gern hab?« Er verdrehte die Augen und stieß mir mit dem Ellenbogen in die Rippen. »Idiot!« Obwohl ich wegen des Schlages husten musste, grinste ich ihn an. Wir wussten beide, dass das alles nur halb so ernst gemeint war. Mat hatte am Nachmittag beim Gespräch mit meinen Eltern hinreichend bewiesen, dass er zu mir stand. Dennoch schien er auf Nummer Sicher gehen zu wollen, packte meinen Arm und zog mich an sich, indem er sich auf die Seite und mir den Rücken zudrehte. »Komm her, du Weichspüler!« Ich ließ es zu, dass er auf diese Weise ein paar Zärtlichkeiten einforderte. Immerhin hatte ich ihn doch auch geärgert, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Als das mit uns anfing, hätte ich nicht erwartet, dass es so enden würde. Ich wollte seine Nähe, nicht nur Sex. Nicht einmal jetzt dachte ich daran, obwohl er sich dicht an mich drängte. Und auch er atmete langsam und zufrieden aus. Auch wenn ich ihn eigentlich nicht mehr ärgern wollte, pustete ich ihm in den Nacken. Er lachte, stieß erneut mit dem Ellenbogen nach mir und drehte sich zurück auf den Rücken. »Hast du es jetzt langsam?« »Ich weiß nicht ... Überzeug mich doch davon.« »Na gut. Das sollte ich hinbekommen.« Grinsend richtete er sich ebenfalls auf. Seine Hand wanderte über meinen Bauch und kitzelte mich leicht. Ein schelmisches Funkeln trat in seine Augen, bevor er mich küsste. Gemeinsam ließen wir uns ins Kissen sinken. Als er mir in die Lippe biss, stieß ich ihn mit einem spielerischen Knurren zurück und drückte ihn auf den Rücken. »Warum ärgerst du mich denn jetzt?« Er zuckte mit den Schultern, grinste. »Denk dir deinen Teil und halt jetzt einfach mal für eine Weile die Klappe. Oder soll ich gleich ins Bad?« »Nee, bleib noch einen Moment. Du bist mir schon wieder drei Schritte voraus.« »Tja, du bist eben schon alt und brauchst etwas länger. Aber hey, ich weiß doch, wie ich dich schwach mache.« Lasziv rekelte er sich und rieb sich an mir. »Immerhin bist du auch nur ein Mann.« »Dejado«, raunte ich in sein Ohr und drückte ihn mit mehr Gewicht in die Matratze. »Dann zeig mal, was du kannst.«   Mat seufzte zufrieden, als ich ihm in den Nacken küsste. Zärtlich flüsterte ich: »Mi dejadito.« Er schnaufte leise und erhob sich, sobald ich mich von ihm herunterbewegt hatte. Mit einem leichten Lächeln beugte er sich zu mir und küsste mich. Überrascht sah ich ihn an. Es war noch immer selten, dass er sich grundlos zu solchen Zärtlichkeiten hinreißen ließ. »Du hast ja recht, ich bin deine Schlampe«, erklärte er lachend. Nachdem er sich vollständig aufgerichtet hatte, sank er mit dem Rücken gegen die Wand. Nervös glitt sein Blick zum Nachttisch und wieder zu mir zurück. Wie versprochen hatte er das Rauchen vollständig eingestellt, doch gerade nach dem Sex fiel es ihm besonders schwer, darauf zu verzichten. Als er merkte, dass ich ihn noch immer etwas verwundert ansah, grinste er noch breiter. »Was ist? Hab ich etwa unrecht?« Ich schüttelte den Kopf, blieb aber wachsam. Ich war gerade unsicher, wie er das meinte. Eigentlich hatten wir uns darauf geeinigt, dass alle Schimpfwörter, die nicht auch ein Tier bezeichnen konnten, okay waren. Dass er mich im Nachhinein noch einmal darauf ansprach, war selten. War er wütend, weil ich ihn dejado genannt hatte? Es war nicht beabsichtigt, ihn damit wirklich zu verletzen. Es war mir eher herausgerutscht. Genau wie damals das puto und darauf hatte er ja deutlich negativ reagiert. »Tut mir leid, kommt nicht mehr vor.« Er zog eine Augenbraue hoch. »Nein, alles gut. Ich hab doch gesagt, dass du recht hast. Das ist vollkommen in Ordnung. Ich wollte nur ausdrücken, dass ich es mag, dich heiß zu machen und dafür gern deine Schlampe bin.« Seine Miene wandelte sich langsam von der Verwunderung in ein süffisantes Grinsen. »Ich würde mich nur freuen, wenn wir das noch viel öfter tun könnten.« Erleichtert ließ ich mich neben ihm mit dem Rücken an der Wand nieder. Er hatte recht, mittlerweile hatten wir viel zu selten so richtig intensiven Sex. Ich hatte zu viel Angst, ihn zu verletzen oder ihm dabei zu schaden. Er durfte sich doch nicht zu sehr anstrengen, aber im Eifer des Gefechts, war das nicht immer einzuschätzen. Vor allem, wenn er mich wie vorher wirklich stark reizte. »Du könntest dich ja mal ein wenig zügeln«, schlug ich halb scherzhaft vor. »Dann wüsste ich, dass es dich nicht überfordert.« Er schnaufte. »Nö. Keine Lust. Welchen Sinn hat Ficken, wenn ich dabei nicht alles rauslassen kann? Du magst es doch auch hart und dreckig!« Sein anzügliches Grinsen brachte mich zum Lachen. »Dafür wirst du sowas von in der Hölle schmoren!« Schulterzuckend nahm er es hin und griff nach der Bettdecke, um sie sich bis zur Brust über den Körper zu ziehen. »Na und? Wenn es stimmt, dann landest du auch dort.« »Dann bin ich immerhin wieder bei dir«, rutschte es mir heraus, während ich mir die andere Decke zumindest über die Hüfte legte. Bevor ich mich für den unbedachten Kommentar entschuldigen konnte, fragte Mat mit ernstem Ton: »Glaubst du eigentlich daran? An Seelen und Himmel und Hölle, an Sünden und Leben nach dem Tod?« Einen Moment sah ich zu ihm hinüber. Er schien die Frage wirklich ernst zu meinen. Zumindest starrte er leicht abwesend zur gegenüberliegenden Wand. Ich schalt mich selbst einen Idioten. Warum war mir nie aufgefallen, dass das Sterben ihn beschäftigte? Ich überlegte kurz, zuckte dann aber mit den Schultern. »Ich bin nicht sicher. Vor einem Jahr hätte ich es auf jeden Fall bejaht. Mittlerweile ... Es hat sich einfach so viel geändert, auch meine Ansicht zum Glauben. Dennoch ist es essentieller Bestandteil, ich kann es nicht einfach ablegen. Als Kind hab ich wirklich gedacht, dass die Hölle unter der Erde ist und über den Wolken Engel leben. Mittlerweile weiß ich, dass das in der Form Unsinn ist, aber ich denke dennoch, dass nach dem Tod eine Strafe oder Belohnung wartet. In welcher Form genau, kann ich nicht sagen. Aber ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass es sich an so etwas Profanem festlegt, wie wen man liebt oder ob man Sex hat und wann und mit wem. Ich denke eher, dass es darauf ankommt, was man für andere getan hat oder ob man nur egoistisch war.« Ich strich sanft mit der Hand über seinen Arm, da ich nicht sicher war, ob er mir überhaupt zuhörte oder komplett mit den Gedanken woanders war. Als seine Augen kurz in eine Richtung wanderten, fuhr ich fort: »Egal, was genau das jetzt bedeutet, ich denke, dass du in den Himmel gehörst.« Mat reagierte nicht auf meine Aussage, sondern starrte weiter Löcher in die Luft. Ich hatte nicht erwartet, dass eine einfache Aussage die Stimmung so kippen lassen würde. Aber wer wusste schon, wie lange das bereits unter seiner Oberfläche brodelte. »Du bist nicht katholisch, oder? Woran glaubst du?«, versuchte ich, ihn wenigstens zum Reden zu bringen. Er grinste leicht. »Auf dem Papier schon. Aber du hast recht, wirklich gläubig bin ich nicht. Die meisten meiner Pflegeeltern haben versucht, mir den Glauben näherzubringen, aber für mich klang das alles immer verlogen. Daher kann ich auch nicht daran glauben, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Tot ist tot, danach kommt nichts mehr, außer einem verrottenden Stück Fleisch.« Kurz sah er zu mir, dann lehnte er den Kopf gegen meine Schulter. »Aber deine Vorstellung gefällt mir. Meinst du, ich kann noch daran glauben? Irgendwie ist es tröstlich.« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, daher legte ich nur den Arm um seinen Oberkörper und zog ihn an mich. Hoffentlich tröstete ihn das zumindest für den Moment.   »Danke«, murmelte er nach einer Weile und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Leider ließ er mir keine Gelegenheit, es zu erwidern, bevor er sich richtig aufrichtete. Seine Körperhaltung machte klar, dass er keine weiteren Zärtlichkeiten wollte. Für einen Moment glaubte ich, dass er wieder in trübe Gedanken versinken würde, da er wieder in die Luft starrte, doch recht schnell fragte er: »Wenn ich dir einen Namen, Geburtstag und Geburtsort nenne, könntest du dann herausfinden, ob die Person noch lebt und wo?« Ich drehte mich etwas zu ihm und musterte ihn skeptisch. Was wollte er damit erreichen? Letztendlich entschied ich mich, dass eine ehrliche Antwort nicht schadete. »Ich könnte zumindest nachsehen lassen, ob die Person irgendwo gemeldet ist, ja. Aber ich darf das nicht ohne Grund tun.« Enttäuschte seufzte und nickte er. Ich haderte kurz, dann fragte ich: »Warum willst du das wissen?« Auch er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich wüsste gern, ob mein Vater noch lebt.« Überrascht drehte ich den Kopf zu ihm. »Dein Vater? Warum?« Er sah mich nicht an, nickte aber, während er mit den Schultern zuckte. »Wenn ich dich mit oder über deine Familie reden höre, dann habe ich das Bedürfnis, selbst eine zu haben oder wenigstens zu wissen, was mit ihr ist.« Zärtlich nahm ich sein Gesicht in die Hand und drehte es zu mir. »Wenn wir heiraten, dann bist du Teil meiner Familie.« Ich merkte, dass er widersprechen wollte, dennoch sprach ich weiter. »Außerdem hast du doch Peter und die Kinder. Sind sie nicht deine Familie?« Er dreht den Kopf vorsichtig aus meiner Hand. »Doch schon, aber das mit Peter und mir ... Ich hab versprochen, auf ihn aufzupassen, solange ich kann, und hab das auch immer gern gemacht. Aber seit ein paar Jahren ... Er hat zu viel Mist gebaut, als dass ich ihm noch vertrauen könnte. Manchmal hab ich das Gefühl, nur noch mit ihm zu tun zu haben, weil er eben mein Bruder ist und ich sonst keine Familie habe. Und natürlich wegen der Kinder. Aber eben nicht mehr wegen ihm.« »Stattdessen möchtest du lieber Kontakt zu deinem beschissenen Vater?« Mat hatte ja bereits angedeutet, dass Peter Dreck am Stecken hatte, aber so schlimm, dass er lieber Kontakt zu seinem Vater suchte? »Was weißt du schon von meinem Vater?! Nimm das sofort zurück!«, brüllte er mich an und sprang halb auf. »Okay, alles gut, ich nehm es zurück.« Beschwichtigend hob ich die Hände. Was war denn nun in ihn gefahren? Drohend streckte er mir den Finger entgegen. »Wenn du noch einmal meinem Vater beleidigst, kannst du bleiben, wo der Pfeffer wächst!« »Ist gut, beruhig dich. Es tut mir leid.« Nur zum Teil wich der Ärger aus seinem Gesicht, als er sich wieder gegen die Wand lehnte. Dabei rutschte er jedoch ein ganzes Stück von mir fort. »Es tut mir wirklich leid. Ich bin nur einfach sehr verwirrt«, versuchte ich, mich zu erklären. »Du hast immer nur gesagt, dass du in Pflegefamilien – von denen du alles andere als positiv gesprochen hast – gelebt hast und auf einmal redest du davon, deinen Vater zu suchen. Da du bisher keinen Kontakt zu ihm hattest, bin ich davon ausgegangen, dass er kein sonderlich guter Vater war.« Mat zuckte mit den Schultern, zog die Beine an und legte den Kopf auf den Knien ab. »Ich weiß nicht, ob er ein guter Vater gewesen wäre. Vielleicht hoffe ich, genau das herauszufinden.« So verletzlich hatte ich ihn noch nie gesehen. Ich hatte den Drang, ihn in den Arm zu nehmen, war jedoch unsicher, ob es ihm recht war. Um ihn nicht erneut zu verärgern, ließ ich es. »Warum hast du nie vorher den Kontakt zu ihm gesucht?« »Erst durfte ich nicht, dann wollte ich Peter nicht vor den Kopf stoßen und dann hatte ich das Gefühl, es wäre zu spät«, murmelte er vor sich hin. »Was hat Peter damit zu tun?«, fragte ich vorsichtig nach. »Er wollte keinen Kontakt zu seiner Familie, nachdem wir zu Chris gekommen sind. Ich kann es verstehen und hätte mich schlecht gefühlt, vor seiner Nase einen auf glückliche Familie zu machen. Darum hab ich abgeblockt, als mein Vater versucht hat, Kontakt aufzunehmen.« Die Reue stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Außerdem hätte es vielleicht die Abmachung mit Chris gefährdet. Und bis ich ausgezogen bin und es mir anders überlegt hatte, kam es mir zu spät vor. Ich wusste nicht, ob er noch immer Kontakt wollte.« So wie er mich ansah, musste ich ihn einfach trösten. Zärtlich legte ich ihm die Hand in den Nacken und strich sanft darüber. »Weißt du, warum du überhaupt in eine Pflegefamilie musstest?« Er nickte und zuckte nicht vor meiner Hand zurück. Kurz war ich nicht sicher, ob er darüber sprechen wollte, doch dann begann er zu erzählen: »Es gab bei meiner Geburt ein paar Komplikationen, an denen meine Mutter später verstorben ist. Mein Vater wollte mich allein aufziehen und meine Oma hat ihm geholfen. Als ich zwei war, ist sie verstorben. Ich sollte in eine Pflegefamilie, bis mein Vater aus Vietnam zurückkam und einen neuen Job gefunden hat. Als er wieder zurück war, durfte ich an den Wochenenden immer zu ihm. Weil er aber keinen dauerhaften Job gefunden hat, konnte ich nicht wieder zurück. Irgendwann gab es dann wohl Probleme, jedenfalls durfte ich nicht mehr am Wochenende zu ihm, warum genau weiß ich nicht. Als ich elf war, wurde mir dann gesagt, dass ich gar nicht mehr nach Hause dürfte. Mein Vater sei nicht in der Lage, für mich zu sorgen, und ich würde zur Adoption freigegeben.« »Lass mich raten: Das hat dir überhaupt nicht gepasst?« »Ich hatte eben schon immer einen starken Charakter«, erwiderte er mit einem leichten Grinsen. »Aber ja. Ich hab alles versucht, es den Familien zu vermiesen. Ich weiß, dass er versucht hat, die Adoptionssache zu verhindern, aber es hat wohl nicht geklappt.« Sanft streichelte ich über seinen Rücken. »Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?« Mat zuckte mit den Schultern. »Mit acht oder neun. Da durfte ich ihn für eine Weile wieder besuchen.« »Und was erhoffst du dir, wenn du ihn jetzt wiedersiehst?« Ich verstand seinen Wunsch, hatte jedoch Sorge, dass die Erfüllung Mat verletzten könnte. Es hatte sicher seinen Grund, warum er nicht zu seinem Vater zurückdurfte. »Ich will einfach nur wissen, ob es ihm gut geht und mich entschuldigen, dass ich ihm den Kontakt verwehrt habe.« »Ich ... will dir das nicht madig machen, aber was macht dich so sicher, dass er das überhaupt möchte?« Erneut zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe es einfach. Er kann ja immer noch ablehnen, wenn ich ihn kontaktiere.« Nachdenklich nickte ich. »Vielleicht solltest du dich dennoch lieber an einen Detektiv wenden. Die haben damit mehr Erfahrung und können dir auch bei der Kontaktaufnahme helfen.« »Ja, vermutlich hast du recht ... Ich komme mir dennoch komisch dabei vor, das einem Fremden zu erklären.« »Keine Sorge, das wird schon nicht so schwer. Du musst ihm ja nicht alles erzählen. Es reicht im Grunde, ihm zu sagen, dass du deinen Vater suchst und welche Informationen du zu ihm hast.« Mat seufzte, nickte und richtete sich dann wieder auf. Langsam kam er zu mir und kuschelte sich an mich. »Na gut.« Ich kraulte seinen Nacken. »Wenn du willst, dann helfe ich dir und komme mit.« »Das ist lieb. Aber ich denke, ich schaff das auch alleine.« »Dann ist gut. Ich möchte nur, dass es dir gut geht.« Kapitel 42: Reunión Familiar ---------------------------- Zum xten Mal innerhalb der letzten Stunde nahm ich das Handy zur Hand und prüfte, ob ich eine Nachricht erhalten hatte. Mat war nun schon seit über sieben Stunden unterwegs und so langsam machte ich mir Sorgen. Doch ich wollte mir auch nicht die Blöße geben, ihm hinterherzutelefonieren. Vermutlich hatte er einfach nur die Zeit vergessen. Immerhin hatten er und sein Vater sich nach all den Jahren sicher viel zu erzählen. Es hatte keine Woche gedauert, bis der Privatdetektiv ihn ausfindig gemacht hatte. Er lebte zwar mittlerweile nicht mehr in Neuengland, dennoch ließ sich seine Spur leicht verfolgen. Auf die erste Nachricht hatte er verständlicherweise verhalten reagiert, immerhin konnte jeder behaupten, sein Sohn zu sein. Ungewöhnlich waren solche Betrugsversuche, gerade gegenüber älteren Leuten, ja nicht. Doch sobald er sich, auch dank der Vermittlung des Detektivs, sicher war, reagierte er äußerst erfreut und herzlich. Da ich beim ersten Telefonat, das bereits ein paar Tage später erfolgte, nicht dabei war, wusste ich nicht, was genau sie besprochen hatten, doch es schien äußerst positiv verlaufen zu sein. In den folgenden Wochen hatten sie regelmäßig miteinander telefoniert. Zwar immer nur für kurze Zeit und über Belangloses, aber Mat hatte sich über jeden einzelnen Anruf gefreut. Nun war sein Vater für ein paar Tage nach Boston gekommen, um seinen Sohn zu sehen. Mat war so unglaublich aufgeregt gewesen und plante immer wieder durch, was er seinem Vater alles erzählen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass er ihm nicht alles auf einmal erzählte. Dennoch wusste ich, dass es ein paar Dinge gab, die Mat auf jeden Fall ansprechen wollte, bevor er sich auf weiteren Kontakt einließ, und die er sich bewusst für ein persönliches Treffen aufgespart hatte. Dazu gehörten auch unsere Hochzeitspläne. Denn im Gegensatz zu mir erwartete Mat, dass sein Vater hinter ihm stand, andernfalls stand für ihn fest, den Kontakt direkt wieder abzubrechen. Auf gewisse Weise bewunderte ich ihn dafür. Meine Eltern hatten sich noch immer nicht wieder beruhigt und ignorierten einfach, dass ich einen Verlobten hatte. Sie taten so, als hätte unser Gespräch nie stattgefunden. Am liebsten hätte ich ihnen klar gesagt, dass es mich verletzte, doch ich brachte es nicht übers Herz. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als es hinzunehmen und zu hoffen, dass sich ihre Einstellung irgendwann änderte. Vermutlich konnte ich über diese Reaktion noch froh sein. Immerhin hatte sich Lázaro für mich gefreut und mir direkt im Gegenzug seine Freundin vorgestellt. Ich verstand nicht, warum er sie jahrelang vor uns versteckt hatte. Sie war eine gutaussehende Latina und sicher freuten sich unsere Eltern, wenn sie sie an Thanksgiving kennenlernten. Sie war genau das, was sie sich für alle ihre Kinder gewünscht hätten. Chico schien meine trüben Gedanken zu spüren und stupste mir mit der Nase leicht gegen die Hand. Mit einem Lächeln kam ich der Aufforderung nach und streichelte über seinen Kopf. Hoffentlich tauchte sein zweites Herrchen bald auf. Dann würde sich auch meine Nervosität legen.   Ich streckte mich der Hand entgegen, die durch meine Haare fuhr und öffnete langsam die Augen. Offenbar war ich eingeschlafen und nicht einmal aufgewacht, als Mat in die Wohnung kam. »Wie spät ist es?« »Fast zwölf. Tut mir leid, es ist etwas länger geworden.« Ich griff nach Mats Hüfte und zog ihn auf meinen Schoß. »Nicht schlimm. Wie ist es gelaufen?« Er rutschte hin und her, schien nicht ganz zu wissen, was er dort sollte, blieb jedoch. »Ganz gut, würde ich sagen. Keine Ahnung, wir hatten einfach so viel zu reden, ich bin mir nicht einmal sicher, was ich alles erzählt habe.« »Ich bin mir sicher, er ist nicht böse, wenn du es ihm nochmal erzählst.« Ich lehnte mich zurück und zog Mat mit. »Vermutlich konnte er gar nicht alles erfassen.« »Willst du nicht lieber ins Bett?« Er befreite sich aus meiner Umarmung und stand auf. Unbegeistert grummelte ich. Es hatte schon seinen Grund, warum ich ihn auf meinem Schoß haben wollte. »Nein, da schlaf ich vermutlich gleich wieder ein. Ich möchte lieber wissen, wie dein Treffen war.« »Was hältst du dann davon, wenn ich uns beiden einen Kaffee mache? Ich bin auch ziemlich müde und ich denke, es wird etwas länger dauern.« Er drehte sich auf dem Weg in die Küche noch einmal um. »Ich hab auch etwas zu Essen mitgebracht, wenn du möchtest.« »Nein, danke. Dafür ist es mir etwas zu spät.« »Wie du meinst.« Für die nächsten Minuten verschwand Mat in der Küche und ich musste mich zusammenreißen, in der Zeit nicht wieder einzuschlafen. Wäre ihm das Treffen nicht so wichtig gewesen, hätte ich unser Gespräch auf den nächsten Morgen verschoben. Als er endlich zurück war, hielt er mir eine Tasse entgegen und ließ sich neben mir auf dem Sofa nieder, nachdem ich sie ihm abgenommen hatte. »Also, erzähl schon, wie war euer Treffen? War es so, wie du es dir vorgestellt hast?«, drängte ich, nachdem ich den ersten Schluck getrunken hatte. Länger als nötig wollte ich nicht mehr wachbleiben. Chico würde, wenn er seine Morgenrunde drehen wollte, sicher keine Rücksicht darauf nehmen, wie lange wir wach blieben. Mat schlürfte an seiner Tasse, bevor er zu reden begann: »Es war zuerst richtig merkwürdig. Ich hatte so viel im Kopf, was ich ihm sagen wollte, aber sobald er vor mir stand, wusste ich überhaupt nicht, wo ich anfangen sollte. Am liebsten hätte ich ihm alles auf einmal erzählt, hatte aber auch Angst, dass er gleich wieder geht. Darum hab ich überhaupt kein Wort rausbekommen und ihn einfach nur angestarrt.« Es fiel mir wirklich schwer, mir das vorzustellen. Mat war nicht auf den Mund gefallen und hatte eigentlich immer eine große Klappe. Andererseits hatte ich ihn aber auch noch nie so nervös erlebt wie im Vorfeld des Treffens. »Erst war er genauso baff und dann hat er angefangen zu weinen.« Mat schüttelte den Kopf, als wäre es für ihn vollkommen unverständlich. Ich dagegen konnte es nur zu gut nachvollziehen. Immerhin hatte dieser Mann damit gerechnet, seinen Sohn nie wieder zu sehen. Ihm nach so vielen Jahren gegenüberzustehen, hätte wohl jeden fertig gemacht. »Nachdem er sich wieder beruhigt hat, hat er dann ewig erzählt, dass er mich vermisst hat und sich so freut, dass ich mich doch noch bei ihm gemeldet hab und so weiter. Ich wusste gar nicht wirklich, was ich dazu sagen sollte, und hab einfach abgewartet. Ich konnte ja schlecht sagen, dass ich ihn auch vermisst habe. Das hätte er mir sowieso nicht geglaubt.« »Doch, sicher.« Ich strich über Mats Knie und lächelte ihn an. »Er hat sich so gefreut, ich denke, wenn du ihm in Ruhe erklärt hättest, warum du ihn nicht sehen wolltest, hätte er das sicher verstanden.« Mat zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Dazu bin ich nicht wirklich gekommen.« »Dann eben beim nächsten Mal. Es wird doch ein nächstes Mal geben, oder?« »Ja, ich denke. Zumindest wollen wir uns nochmal treffen, bevor er wieder nach Hause fliegt. Und er hat mich – uns – zu sich eingeladen. Er möchte dich unbedingt kennenlernen.« »Das lässt sich sicher einrichten. Er hat also nicht negativ reagiert?« »Nein, überhaupt nicht! Er hat den Ring gesehen und gefragt, ob ich verheiratet bin. Als ich ihm gesagt hab, dass ich mit einem Mann verlobt bin, hat er sich richtig für mich gefreut, dass wir hier heiraten dürfen. Es war für ihn überhaupt keine große Sache.« Ich erwiderte Mats glückliches Lächeln. Immerhin hatte er richtig Angst gehabt, wie sein Vater darauf reagieren würde. Offenbar hatte ihn die Reaktion meiner Eltern etwas eingeschüchtert. »Möchte er denn kommen?« Erschrocken wich Mat zurück. »Verdammt, ich hab vergessen, ihn zu fragen!« »Dann frag ihn, wenn du ihn in ein paar Tagen siehst. Das läuft ja nicht davon«, erklärte ich lachend. Wobei es nicht ganz stimmte. Wenn wir wirklich noch im selben Jahr heiraten wollten, wurde es knapp, aber ich konnte auch verstehen, dass Mat seinen Vater gerne dabeihaben wollte. Ich hätte es mir mit meinen Eltern auch anders gewünscht. »Was habt ihr denn noch so besprochen?« Er verdrehte die Augen und setzte sich wieder aufrechter hin. »Vor allem haben wir darüber gesprochen, was passiert ist.« Aufmerksam sah ich ihn an. Ich war nicht sicher, ob er sich absichtlich so ungenau ausdrückte, weil er nicht alles erzählen wollte, oder ob er unsicher war, ob es mich interessierte. »Was meinst du genau?« »Vor allem hat er versucht, sich zu entschuldigen, und mir erklärt, warum ich nicht zu ihm zurückkonnte.« Er stellte die leere Tasse auf den Tisch und sah dann kurz fragend zu mir auf. Ich hoffte, dass ich den Blick richtig verstand, und nickte leicht. Mat seufzte. »Im Endeffekt hätte ich mir das wohl selbst denken können. Er war psychisch vollkommen fertig, als er zurückkam. Außerdem hat er ewig keine Anstellung gefunden und kam selbst kaum durch. Er hat es zwar nicht genau gesagt, aber angedeutet, dass er auch zwischendurch wegen Kleinigkeiten im Gefängnis war. Als er sich endlich gefangen hat, hat er wohl versucht, dass wenigstens die Adoptionsfreigabe zurückgezogen wird, aber weil er ein Mann war und mit der Vergangenheit, haben sie ihm nicht zugetraut, sich um mich zu kümmern.« Verstehend nickte ich. Beruflich hätte ich wohl jedem zugestimmt, der die Meinung der Verantwortlichen vertrat. Doch das war ein anderer Fall. Ich kannte Mats Vater nicht, aber alles, was ich bisher von ihm gehört hatte, ließ mich daran zweifeln, dass er ein schlechter Vater gewesen wäre. Er hatte einfach nur Pech und wurde von vielen Schicksalsschlägen gebeutelt. »War er denn so, wie du ihn in Erinnerung hattest?« Nun musste Mat doch eine Weile nachdenken, bis er den Kopf zögerlich hin und her wog. »Irgendwie ja und irgendwie nein. Er sah halt total anders aus. Ich kannte ihn ja nur als jungen Mann; also jünger, als wir jetzt sind. Aber von seiner Art war er noch sehr ähnlich und ich hatte irgendwie das Gefühl, ihn schon ewig zu kennen.« »Das klingt doch gut.« Ich lächelte Mat zu. »Dann spricht doch nichts dagegen, dass ihr wieder richtig Vater und Sohn werdet.« »Ja, vermutlich hast du recht. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.« Ich seufzte und rutschte näher an ihn heran, um ihn in den Arm zu nehmen. Seine schwermütige Miene schlug mir direkt aufs Gewissen. Das war wirklich nicht mein Ziel gewesen. »Das wird schon werden, hm. Bisher läuft die Behandlung doch wirklich gut. Den Rest stehen wir auch noch durch.« »Ja, du hast recht. Es wird alles gut.« Er gab mir einen kurzen Kuss auf die Wange, lächelte tapfer und befreite sich dann, um aufzustehen. »Darf ich heute Nacht bei dir schlafen?« Verwundert sah ich auf. »Seit wann fragst du? Du schleichst dich doch sonst auch einfach mitten in der Nacht hier rein.« Gespielt übertrieben hob er die Hände und drehte die Handflächen nach oben, während er mit den Schultern zuckte. »Ich wollte halt mal ausnahmsweise höflich sein. Wenn es dir lieber ist, kann ich es auch lassen.« »Als könntest du das.« Ich stellte meine noch immer halb volle Tasse neben seine und erhob mich ebenfalls. Wegräumen konnten wir die auch am Morgen. Jetzt wollte ich nur noch mit ihm ins Bett, vielleicht ein wenig kuscheln und dann endlich schlafen. So wie er aussah, war er dem Plan nicht abgeneigt. »Ich könnte es zumindest versuchen ...« Grinsend schüttelte ich den Kopf. Die Unschuldsmiene war so falsch. Ich schnappte nach seiner Hand. »Lass es. Ich hab dich so lieb, wie du bist.« »Danke.« Endlich ließ er sich in meine Arme ziehen, ohne sich direkt wieder zu befreien, und erwiderte den Kuss. Epilog: Epílogo: La historia se repite -------------------------------------- »Onkel Eloy! Komm schnell!« Mit einem Seufzen schob ich Chico, der sich mit der Schnauze auf meinem Oberschenkel hatte kraulen lassen, etwas zur Seite und stand auf. Treudoof und mit wedelndem Schwanz folgte er mir. Es war schön, zu sehen, dass er trotz allem noch immer so an mir hing. Ich hatte es nicht gern getan, aber mir war letztendlich nichts anderes übriggeblieben, als ihn abzugeben. Zum Glück waren es ausgerechnet Roger und Toby, die sich dazu bereiterklärt hatten, ihn zu sich zu nehmen. In den Zeiten, die wir Chico zwangsweise zu ihnen hatten geben müssen, war er ihnen sehr ans Herz gewachsen. Als ich ihnen sagte, dass ich ihn nicht behalten konnte, boten sie sofort an, dass er entweder zeitweise oder für immer zu ihnen könnte. Natürlich war ich mehr als dankbar, immerhin hieß das auch, dass ich ihn jederzeit besuchen konnte und wusste, dass es ihm bei ihnen gutging. Und er dankte es mir, indem er noch immer genauso treu war wie früher. Da sich Chico von der Terrasse bewegte, regte sich auch das kleine Bündel auf Rogers Schoß, traute sich aber aufgrund der Höhe nicht hinunter. Doch sein Herrchen half ihm gern und setzte ihn am Boden ab. Auf tapsigen Pfoten folgte der Welpe, den die beiden sich vor einigen Wochen geholt hatten, seinem Spielgefährten. Es war ein niedlicher, kleinformatiger Xolo mit heller Haut, den sie sich nach einigem Hin- und Herüberlegen von einem Züchter geholt hatten, der ihnen von Lázaro empfohlen worden war. Es war ein wenig kompliziert gewesen, da Toby vorsichtshalber darauf bestanden hatte, einen Allergietest zu machen, ob er nicht nur mit Chico Glück hatte, und der Züchter nun einmal in Texas saß, aber letztendlich war alles gut gegangen und sie waren noch immer hoch erfreut über den Zuwachs ihrer kleinen Familie. Sogar Chico freute sich mit. Er stellte sich als hervorragender Lehrmeister und großer Bruder heraus. Mehr als einmal hatte selbst ich beobachten dürfen, wie er den kleinen Wurm zurechtwies, wenn er zu viel oder gefährlichen Unsinn anstellte, ihm aber auch gleichzeitig jede Menge Unfug vormachte. »Dürfen wir das auch sehen?«, fragte Toby und war schon dabei, aufzustehen. »Ja!« Kurzerhand wurden er und Roger von zwei Kinderhänden aus ihren Stühlen gezogen und hinter den Schuppen geschleift. Eilig folgte ich. Ich wollte doch nicht verpassen, was es dort Spannendes zu sehen gab. »Wow! Das ist ja großartig!«, sprach Roger aus, was wir wohl alle dachten. Hinter dem Schuppen war aus einigen alten Brettern, Bettlaken und sonstigen Materialien, die er und sein Mann den Kindern bereitgestellt hatten, eine beeindruckende, mehrstöckige Burg entstanden. »Leonardo hat uns dabei geholfen«, erklärte das Mädchen nicht ohne Stolz, als sich genau dieser im Turm des oberen Stockwerkes zeigte und uns zuwinkte. Lachend winkte ich zurück. Er und John waren mir nach Mats Tod und in den Monaten davor eine genauso starke Stütze gewesen wie das Pärchen aus Medford. Als ich zufällig mitbekam, dass sich die beiden Pärchen über einen gemeinsamen Bekannten bereits kannten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich ebenfalls anfreundeten. Das änderte sich auch nicht, als John sich vor einem Jahr von Leonardo trennte. Ersterer ließ sich lediglich nicht mehr blicken, aber darüber war niemand von uns sonderlich traurig. Die Art, wie er sich von seinem langjährigen Lebenspartner getrennt hatte, war einfach unter aller Sau gewesen. »Dürfen wir auch rein?« Erkundigte sich Toby. »Oder ist die Burg nur für euch?« Zweifelnd sah ich ihn aus den Augenwinkeln an. Das konnte unmöglich sein Ernst sein! Das ganze Gebilde war gerade einmal so hoch wie er. Wie wollte er denn da rein? Er war zwar vielleicht der Fitteste von uns alten Männern, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass er das schaffte, ohne alles einzureißen. »Zutritt nur für Kinder!« Mit verschränkten Armen stellte sich Caroline vor den Eingang, als könnte sie uns so daran hindern, einzudringen. »Und was ist mit Leonardo? Ist der etwa auch ein Kind?«, fragte Roger mit einem breiten Grinsen. »Leonardo ist unser Gefangener!«, verkündete Maxime und kam aus der Burg gekrochen. Der Protest des jungen Mannes ging im allgemeinen Gelächter vollkommen unter. »Darf er denn wenigstens zum Essen raus?«, erkundigte ich mich. Immerhin würde der Grill bald heiß sein. »Nur, wenn ihr ihn befreit«, beschloss Caroline. Ihr Bruder schien von dieser Aussage nicht so begeistert, ließ es aber durchgehen. »Oh, dann müssen wir uns wohl etwas einfallen lassen.« Als würde er scharf nachdenken, legte Toby die Hand unter das Kinn und tippte mit dem Finger gegen seine Wange. Ein schelmisches Schmunzeln trat auf das Gesicht seines Partners, als dieser ihn beobachtete. Dann beugte er sich zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss auf die freie Wange. »Zerbrich dir den Kopf nicht allzu sehr.« Empört schnaubte Toby, hielt sich aber vor den Kindern zurück, sich für diese unverschämte Aussage zu rächen. »Ich geh mal nach dem Grill schauen«, verkündete ich und machte mich bereits auf den Weg zurück. »Dann kümmer ich mich ums Stockbrot«, stieg Roger ein. »Wer will mithelfen?« Ich hörte zweistimmiges, begeistertes Zustimmen. Offenbar hatten die beiden sehr schnell vergessen, dass sie ihren Gefangenen bewachen mussten. Dann hatte Toby sicher ein leichtes Spiel, ihn zu befreien. Blieb zu hoffen, dass er nicht alles einriss.   Satt und zufrieden ließ Maxime sich in seinem Stuhl zurückfallen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Nach einem mahnenden Blick von mir griff er schnell nach der Servierte. »Eloy, können wir heute Nacht in der Burg schlafen? Ich hab mein Fernglas im Auto und man kann hier bestimmt viel besser Sterne kucken als zu Hause.« »Da müsst ihr erstmal Roger und Toby fragen, ob das in Ordnung ist.« Ich wollte das nicht entscheiden. Immerhin war es ihr Garten. »Dürfen wir?«, wandte er sich direkt an Roger. Der Junge wusste genau, bei wem er die besseren Chancen hatte. »Ja, natürlich. Sonst habt ihr die doch vollkommen umsonst gebaut«, willigte dieser sofort ein. »Wenn es für Eloy denn in Ordnung ist«, schritt Toby ein und zwinkerte mir zu. Er hatte Maximes Plan natürlich ebenfalls durchschaut. »Ist in Ordnung, aber macht nicht zu lange. Wir müssen morgen früh los.« »Schläfst du auch mit uns in der Burg?«, fragte Caroline an Leonardo gewandt. Dieser verzog unsicher das Gesicht. Es war offensichtlich, dass er in einem Dilemma steckte. »Das ist doch viel zu eng. Wo soll Leonardo denn schlafen?«, half ich ihm, indem ich den Unmut der Kinder auf mich zog. Er war ungern derjenige, der sie enttäuschte. »Schade«, murrte Maxime und zog eine Schippe. Dennoch schien er es zu akzeptieren. »Dürfen wir aufstehen?« »Klar. Aber geht euch die Hände waschen!« Auch wenn Maxime schon neun war, solche Dinge vergaß er noch immer mit Vorliebe. »Wann fährt eigentlich die letzte Bahn nach Boston zurück?«, erkundigte sich Leonardo, nachdem die Kinder ins Haus gestürmt waren. Roger sah ihn verwundert an. »Was? Warum?« »Eloy bleibt doch sicher auch hier, oder nicht?« Ach, natürlich. Ich hatte ihn mit dem Auto aus Boston mitgenommen. Das war für ihn viel praktischer, als mit der Bahn fahren zu müssen. »Warum bleibst du nicht auch hier?«, bot Toby an. »Oben in der Wohnung ist genug Platz für euch beide. Ansonsten kann auch einer unten auf der Couch schlafen.« »Ja, gern. Danke«, nahm Leonardo das Angebot schüchtern an. Auch wenn sie schon ein paar Jahre befreundet waren und er ihre offene Beziehung akzeptierte, verunsicherten ihn solche Angebote regelmäßig. »Wann genau müsst ihr denn morgen los?«, fragte Roger nach. »Dann würde ich Frühstück vorbereiten.« »Wird nicht nötig sein, wir sind um elf mit ihrem Vater zum Brunchen verabredet«, schlug ich das Angebot aus. Roger war manchmal einfach zu fürsorglich. Toby nutzte die Gelegenheit, dass Maxime und Caroline gerade nicht in Hörweite waren. »Ist es mit ihm denn immer noch so schlimm?« Eher nichtssagend zuckte ich mit den Schultern. Was sollte ich auch darauf antworten? Er war nach wie vor nicht in der Lage, sich um die beiden zu kümmern. Und ich bezweifelte, dass sich das jemals ändern würde, auch wenn er immer wieder versprach, dass es besser werden würde. Als der Krebs trotz anfänglicher Erfolge zurückkam und die Ärzte Mat keine Hoffnungen mehr machten, hatte sein Bruder ihn mit Schmerzmitteln jeglicher Art versorgt. Ich hatte das mit eher gemischten Gefühlen beobachtet, aber letztendlich ging es darum, es Mat so angenehm wir möglich zu machen. Daher ließ ich es geschehen, auch wenn mir das ein oder andere Mal auffiel, dass sich Peter selbst ordentlich daran bediente. Wie hätte ich auch ahnen sollen, dass sich die Mutter der Kinder genau in der Zeit aus dem Staub machte und er nach Mats Tod richtig abrutschen würde? Zuerst war es nur als Übergangslösung gedacht gewesen, als eines Abends plötzlich eine blonde Frau, die ich bisher nur einmal bei Mats Beerdigung gesehen hatte, mit den beiden vor meiner Tür stand und mir berichtete, dass Peter sich vollkommen zugedröhnt hatte und die Kinder zwei Tage allein in der Wohnung gewesen waren. Dass er nicht zu Hause war, war erst aufgefallen, als er nicht im Club aufgetaucht war, um diesen zu öffnen. Da Maxime und Caroline auch nach Mats Tod noch immer ab und zu bei mir waren, hatten sie ihr den Weg gewiesen. Mein erster Plan war gewesen, die Mutter zu kontaktieren, doch sie war nicht auffindbar. Ich hatte alle Möglichkeiten genutzt, die mir zur Verfügung standen, hatte es dann jedoch aufgegeben. Offenbar wollte sie nichts mehr von ihren Kindern wissen, sie zu ihr zu geben, schien also keine adäquate Lösung. Also blieben die Kinder. Seit mittlerweile einem Jahr lebten sie bei mir, für Caroline war das fast ihr halbes Leben. Ich war mit ihnen in eine größere Wohnung gezogen und hatte mich in den Innendienst versetzen lassen, damit ich geregelte Arbeitszeiten hatte. Das war nie mein Traum gewesen, aber letztendlich gaben die beiden mir so viel zurück, dass es bei weitem aufgewogen wurde. Da ihr Vater zumindest großzügig Unterhalt zahlte und für beide das Schulgeld übernahm, brauchten wir uns immerhin finanziell keine Gedanken machen. Außerdem hatten wir mit Leonardo, Roger und Toby viel Unterstützung. Trotz all der Schwierigkeiten mit ihrem Vater sah dieser selbst ein, dass es das beste für die Kinder war, wenn sie bei mir blieben. Daher war es für mich nur selbstverständlich, dass sie den Kontakt zu ihm nicht verloren, und bestand darauf, dass sie ihn spätestens alle zwei Wochen sahen. Manchmal war ich dabei, häufig besuchten sie ihn aber auch allein. Gerade in den Ferien verbrachten sie ab und zu ein paar Tage dort und zumindest das lief meistens ohne Komplikationen. Lediglich ein Mal hatte ich sie vorzeitig abholen müssen. »Leonardo, kommst du mit spielen?« Caroline und Maxime waren aus dem Bad zurück und wollten nun die letzten hellen Stunden nutzen. Der junge Mann erklärte sich natürlich wie immer dazu bereit.   Als ich einige Stunden später das Hemd aufknöpfte, um ins Bett zu gehen, sah ich kurz zu Leonardo hinüber. »Wenn es dir zu viel wird, kannst du auch Nein sagen. Maxime und Caroline sind alt genug, auch mal eine Weile allein zu spielen.« Sobald er bemerkte, dass ich ihn ansah, röteten sich seine Wangen und er hielt in der Bewegung inne. »Ist schon gut, ich spiel doch gern mit ihnen.« Ich betrachtete ihn noch einen Moment misstrauisch, dann tat ich ihm den Gefallen, wegzusehen. Aus irgendeinem Grund schien es ihm unangenehm, sich vor mir auszuziehen. »Ich weiß, dass du das gern machst. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass du manchmal lieber mit uns am Tisch sitzen würdest, statt mit den Kindern zu spielen. Du musst dabei wirklich kein schlechtes Gewissen haben.« »Ja, ich weiß.« Ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, aber mehr als es ihm sagen, konnte ich auch nicht. Er musste das selbst hinbekommen. Er sollte nur wissen, dass er nicht den Kinderbespaßer spielen musste, sondern wir ihn gerne mit in unserer Runde hatten. Während ich mir die Socken von den Füßen zog, glitt mein Blick noch einmal zu ihm. Er stand auf der anderen Seite des Bettes und versuchte, nicht umzukippen, während er sich die Hose von den Beinen streifte. Auch wenn er deutlich jünger war als wir, und manchmal sicher auch etwas Kindliches an sich hatte, ich war mir sicher, dass wir alle ihn nicht als solches sahen. Ich legte meine Sachen auf einer der niedrigen Truhen, die an der Wand standen, ab und stieg dann ins Bett. Nachdenklich betrachtete ich die Decke. Hoffentlich wurde mir nicht zu warm, die war ziemlich dick. Kurzentschlossen zog ich das Unterhemd aus, das ich anbehalten hatte, und warf es auf meine Sachen. Eher zufällig bemerkte ich, dass Leonardo mich für einen kurzen Augenblick ansah, nur um dann direkt den Blick zu senken. »Legst du dich langsam mal hin!«, forderte ich ihn mit leichter Ungeduld auf. »Ich würde gerne schlafen.« »Ist das denn wirklich in Ordnung?«, fragte er zum wiederholten Male und zupfte am Saum seines T-Shirts, als versuchte er, es so lang zu ziehen, dass nichts mehr von seiner Boxershorts zu sehen war. Vollkommen vergeblich. Langsam wurde es albern. Ich hatte keine Ahnung, wie oft er das schon gefragt hatte, seitdem wir in der Wohnung angekommen waren. »Ja, verdammt nochmal! Ich lasse dich sicher nicht auf der ausgesessenen Couch schlafen. Du bist keine fünfzehn mehr und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, wenn du dich morgen nicht bewegen kannst.« Wie konnte man sich so zieren? Das Bett war groß genug, dass sicher auch drei Leute bequem darin hätten schlafen können, wenn nicht sogar vier, wenn man etwas kuschelte. Er sorgte mit seinem Verhalten nur dafür, dass es unangenehmer wurde, als es hätte sein müssen. Kurz zögerte er, kletterte dann aber schnell aufs Bett, als er meinem strengen Blick bemerkte. Eilig zog er sich die Decke über den Körper. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich den Kopf schüttelte, weil er viel weiter am Rand lag als notwendig. Das war so albern. Nach einer Weile lockerte sich seine Haltung jedoch und er ließ die Decke etwas sinken. Er sah mir sogar direkt ins Gesicht. »Wirklich, ich spiele gerne mit den Kindern. Wenn es mir zu viel wird, sage ich dir das schon. Aber die beiden sind einfach so toll! So überhaupt nicht wie ihr Vater.« Toby und Roger hatten mal versucht, mir zu erklären, woher sie Leonardo kannten und warum dieser auch Mat und seinen Bruder kannte. Mir war das alles zu verworren und im Endeffekt war es mir auch egal. »Ich weiß nicht, ob ich mir das zutrauen würde, die Kinder von jemand anderem großzuziehen. Es ist sicher nicht leicht«, murmelte er vor sich hin. Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich ihm dazu sagen? Sicher war es nicht leicht, aber ich konnte sie auch nicht in eine Pflegefamilie geben. Mat hätte mich dafür gehasst und ich war auch nicht sicher, ob es für sie nicht schlimmer wäre, als bei mir zu bleiben. Dennoch hatte ich natürlich gelegentlich auch meine Zweifel. Gerade was Caroline betraf, war ich mir nicht sicher, ob es nicht später Probleme geben würde, weil sie keine weibliche Bezugsperson hatte. Natürlich trafen wir uns auch mit der Bekannten ihres Vaters, die sie zu mir gebracht hatte, aber da diese selbst drei Kinder hatte, konnte sie auch nicht immer in allen Belangen für uns da sein. Dennoch merkte ich deutlich, wie Caroline es genoss, auch mal etwas mit einer Frau zu unternehmen. Und auch Maxime verhielt sich ihr gegenüber vollkommen anders als zum Beispiel bei Roger. Doch nach all den Jahren kam es für mich nicht mehr in Frage, wieder einen Schritt zurückzumachen und mit einer Frau zu leben. Nicht nur, weil meine Freunde es nicht verstanden hätten, sondern auch, weil es sich für mich vollkommen falsch angefühlt hätte. Ich erschrak etwas, als mich Leonardos Finger ganz leicht am Unterarm berührten. Er zog sie direkt wieder zurück. »Tut mir leid, ich wollte dir kein schlechtes Gewissen machen oder so. Ich finde, du machst das wirklich gut. Die beiden lieben dich abgöttisch. Du bist ihnen ein toller Ersatzvater.« »Danke, das ist lieb von dir.« »Das ist nicht nur meine Meinung. Toby und Roger finden das auch. Du musst dir wirklich keine Gedanken machen.« Na gut, ich musste das so wohl akzeptieren, wenn ich nicht ewig mit ihm rumdiskutieren wollte. Dennoch wollte ich das nicht so im Raum stehen lassen. »Das wäre aber nicht möglich, wenn ihr mir nicht helfen würdet.« Er errötete leicht und senkte den Kopf. »Ist doch selbstverständlich, dafür sind doch Freunde da.« »Dann hoffe ich, dass wir noch lange Freunde bleiben.« Er sah wieder auf, zögerte einen Moment, bevor er frech, aber dennoch leicht schüchtern grinste. »Du darfst nur nicht zu früh ins Gras beißen.« Lachend zwickte ich ihn in den Unterarm. Es war selten, dass er sich so etwas traute, und meistens war es eher Roger, der ihn so lange neckte, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als sich auf diese Art zu wehren. Daher freute ich mich, dass er es schaffte, obwohl er sich noch vor ein paar Minuten sehr unwohl gefühlt hatte. Als wir uns wieder etwas beruhigt hatten, griff ich nach dem Schalter für das Nachttischlicht. »Dann sollten wir jetzt schlafen. Gesunder Schlaf erhöht die Lebenserwartung.« »Wenn du das sagst.« Offenbar hatte er etwas sehr viel Selbstvertrauen gefasst. Die freche Art würde ich ihm noch vergelten müssen. Aber nicht mehr am Abend, das hatte bis zum Morgen Zeit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)