Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 1: Rescue me... from bad decisions ------------------------------------------ Er atmete noch einmal tief durch, bevor er allen Mut zusammen nahm, über die Brüstung stieg und auf dem kleinen Vorsprung zum Stehen kam. Zitternd hielt er sich am metallischen Geländer hinter ihm fest. Er musste schlucken - unter ihm ging es etwa 25 Stockwerke in die Tiefe. Der Wind peitschte ihm um die Nase und trotz des langen Mantels, den er sich heute angezogen hatte, war ihm ein wenig fröstelich zu Mute. Das konnte allerdings auch dem unaufhaltsamen Regen geschuldet sein, der vor wenigen Minuten begonnen hatte, ohne Gnade auf ihn niederzuprasseln. Erneut nahm er einen tiefen Atemzug und versuchte sich zu beruhigen. Das war er also, der Moment, den er so lange geplant hatte. In wenigen Minuten würde der ganze Schmerz nicht mehr sein, er würde nicht mehr sein. Manchmal fragte er sich, was wohl danach kommt, nach dem Tod. Werden wir wiedergeboren, wird mit dem Tod auch neues Leben begonnen, so wie es die Buddhisten glauben? Oder wird er am Ende doch in der Hölle landen? Oder - und er wusste nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte - war da am Ende einfach das Nichts? Egal, was es war, was ihn erwartete - es musste besser sein als das Leben. Sein Entschluss stand fest, er würde es tun. Immerhin hatte er sogar Abschiedsbriefe geschrieben, an Yugi, Tristan, Téa und die Anderen, an seine Schwester Serenity, ja selbst seinem Dreckssack von Vater, der keinen unerheblichen Anteil daran trug, dass er nun hier stand und seinem Leben ein Ende bereiten wollte, selbst ihm hat er einen Brief hinterlassen. Er sollte wissen, was ihn dazu getrieben hatte, sollte wissen, wie viel Schuld er trug. Er hatte einmal die Chance, ein guter Vater zu sein, aber er hat es vergeigt. Ein guter Vater sollte seinen Sohn vor den bösen Dingen beschützen, nicht sie ihm noch vorsätzlich zufügen. Die Erinnerungen an das Geschehene und der damit verbundene Schmerz holten ihn wieder ein. Nein, das würde niemals aufhören, er musste es tun. Ob er viel merken würde, wenn er auf dem harten Boden aufkam? Würde er noch viel spüren? Auch wenn er hoffte, dass dem nicht so war, so musste er den kurzen Moment des körperlichen Schmerzes auf sich nehmen, falls er ihn denn lange spüren würde, um den langwierigen, körperlichen und seelischen Schmerzen des Lebens zu entkommen. Es war soweit. Es war richtig. Es war die einzige Möglichkeit, die er hatte. Noch ein letztes Mal ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen, über die Dächer der Nacht, die Lichter der Stadt. Aufgrund der Dunkelheit konnte er die Menschen auf den Straßen kaum wahrnehmen, wusste aber, dass sie sich wie Ameisen unter ihm bewegten. Jeder ging seinem gewohnten Alltag nach. In der Ferne konnte er irgendwo einen Hubschrauber ausmachen. Er fixierte diesen Punkt am Himmel. Komisch, bildete er sich das nur ein oder kamen die Geräusche und der Hubschrauber auf ihn zu? Und selbst wenn es so wäre, vielleicht war er auf dem Weg zum Krankenhaus, in dessen Nähe er sich gerade befand. Und tatsächlich - der Hubschrauber flog in seine Richtung. Je näher er kam, desto lauter wurden die Geräusche. Er konnte nur hoffen, dass die Personen in dem fliegenden Gerät ihn nicht sahen. Er war für einen Moment erleichtert, als der Hubschrauber über ihn hinweg flog, und gerade, als er sich wieder seinem eigentlichen Vorhaben widmen wollte, bemerkte er, dass sich die Geräusche des Hubschraubers nicht weiter entfernten. Im Gegenteil - kamen sie etwa näher? Vorsichtig drehte er seinen Kopf um und konnte nicht glauben, was er da sah. Das Dach des Hochhauses, auf dem er stand, war nicht gemacht als Hubschrauberlandeplatz, aber er konnte wahrnehmen, dass jemand über eine Art Leiter aus dem Hubschrauber ausstieg. Na toll, so war das nicht geplant gewesen. Er wollte allein sterben, und es gehörte ebenfalls nicht zum Teil seines Plans, sich jetzt noch vor irgendjemandem für seine Entscheidung rechtfertigen zu müssen. “Was zum Teufel soll das werden, wenn's fertig ist, Wheeler?” War ja klar, von all den Millionen Menschen, die aus dem Hubschrauber hätten steigen können, musste gerade er es sein. Joey verstärkte seinen Griff am Geländer ein wenig. Was wollte der Andere hier? “Verpiss dich, Kaiba! Das hier hat mir dir rein gar nichts zu tun.” Als sich die Geräusche des Hubschraubers langsam wieder entfernten, schöpfte Joey für einen Moment die Hoffnung, wieder allein zu sein. Diese Hoffnung wurde allerdings kurz darauf schon wieder zunichte gemacht, als Kaiba sich erneut zu Wort meldete - scheinbar hatte er den Hubschrauber nur weggeschickt. “Da hast du nicht unrecht, das hier hätte normalerweise auch nichts mit mir zu tun und es wäre mir herzlich egal, was du mit deinem Leben machst oder nicht machst. Allerdings haben mich deine blöden ‘Kindergarten’-Freunde da mit reingezogen. Und was glaubst du würde die Presse wohl sagen, wenn ich, Seto Kaiba, CEO der KaibaCorp., willentlich dabei zusehe, wie sich ein dämlicher Köter in die tiefen stürzt?” “Moment, was…?!” Joey hatte Mühe, ihm zu folgen. “Sie haben dich geschickt?” “So in etwa. Sie haben mir deine süßen, kleinen Abschiedsbriefchen gezeigt und mich förmlich angebettelt, zu helfen.” “Aber warum zur Hölle denn dich?” Joey ärgerte sich über seine Freunde. Was haben die sich nur dabei gedacht, seinen absoluten Erzfeind hier mit reinzuziehen? Dass sie irgendwie versuchen würden zu helfen, konnte er ihnen ja gar nicht verübeln. Aber ihn? Wirklich? Kaiba zuckte mit den Schultern. “Sie wissen, ich habe Mittel und Wege, so ziemlich jede Person auf diesem Planeten ausfindig zu machen. Selbstverständlich habe ich zunächst dankend abgelehnt. Ich hab normalerweise wirklich besseres mit meiner Zeit zu tun, als einem kleinen Hündchen zu helfen.” “Du mieser…” “Aber”, unterbrach Kaiba Joey, “dein dämlicher Freund Taylor wollte es wohl nicht darauf beruhen lassen. Eigentlich ganz süß, wie er versucht hat mir zu drohen. Als ob das irgendwas ändern würde.” Kaibas Monolog wurde nur für einen kurzen Moment von seinem verächtlichen Schnauben unterbrochen, bevor er fortfuhr. “Tja, und dann sagte er sowas wie, wenn ich nicht helfe, würde er sofort zur Presse gehen und denen was von unterlassener Hilfeleistung erzählen.” “Ehrlich, Kaiba, das soll ich dir glauben? Seit wann interessiert dich denn, was irgendjemand auf dieser Welt von dir denkt?” Joeys Blick ist noch immer nach vorn gerichtet. Was auch immer Kaiba vor hatte, er durfte sich unter keinen Umständen dazu verleiten lassen, seinen Plan nicht in die Tat umzusetzen. Kaiba, der nur wenige Meter hinter Joey stand, verschränkte die Arme vor dem Körper, und mit hochgezogener Augenbraue erklärte er: “Oh, da hast du was falsch verstanden, Köter. Es interessiert mich nicht. Was mich aber interessiert, ist meine Firma. Was, glaubst du, würde das wohl für das Image und den Erfolg meiner Firma bedeuten, wenn man mir unterlassene Hilfeleistung vorwirft? Sicher, meine Anwälte würden das aus rechtlicher Sicht sicher für mich regeln, aber wer kauft schon noch Spiele von jemandem, der andere in den Tod springen lässt?” Das war zu viel für Joey. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Mit Schwung stieg er über das Geländer zurück auf das vermeintlich sichere Dach des Hochhauses und mit schnellen Schritten und düsterem Blick ging er auf Kaiba zu. Dieser war für einen Moment irritiert, fasste sich aber sofort wieder und wappnete sich für den Angriff des Blonden, der nun unvermeidlich folgen würde. “Was fällt dir eigentlich ein, Kaiba? Du bist das größte Arschloch, das mir in meinem Leben jemals begegnet ist, und glaub mir, ich bin vielen Arschlöchern begegnet, aber keiner war so selbstgefällig und egozentrisch wie du. Kannst du dir auch nur im Entferntesten ausmalen, warum jemand freiwillig sterben will, warum ich sterben will?!” Joey war wütend, so wütend. Er versetzte dem Größeren, der jetzt direkt vor ihm stand, einen kräftigen Stoß, sodass dieser einen Schritt nach hinten machen musste, um nicht komplett umgestoßen zu werden. Aber er wehrte sich nicht und ließ Joey gewähren. Joey bemerkte gar nicht, wie Tränen sich zu den Regentropfen auf seinen Wangen gesellten. Er atmete schwer und unregelmäßig und er hatte zunehmend damit zu kämpfen, nicht Kaiba zuerst vom Dach zu schubsen. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos und die vielen Erinnerungen, die er in der Vergangenheit so stark versucht hatte zu verdrängen, kamen mit voller Wucht zurück. Er konnte, wollte, durfte sich nicht von ihnen einnehmen lassen, also ging er erneut zum Angriff über. “Kannst du dir auch nur ein winziges bisschen vorstellen, wie es ist, jahrelang misshandelt und missbraucht zu werden? Wie es ist, keinen Ausweg zu haben? Keine teuren Anwälte, die für einen kämpfen würden?” Joey hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Hysterisch begann er zu lachen, bevor er weiter redete: “Ha, was frage ich überhaupt. Als ob der große Seto Kaiba, Mr. Eisklotz höchstpersönlich, auch nur einen Anflug von Gefühlen in sich hat. Sag mir, schlägt in deiner Brust überhaupt ein Herz, oder ist da auch nur ein großer Brocken Eis?” Kaiba verzog keine Miene, seine Augen waren unergründlich und zu Schlitzen geformt auf Joey gerichtet, seine Arme erneut vor dem Körper verschränkt. Joeys Körper war vornübergebeugt, bereit, erneut anzugreifen, wenn notwendig auch mit roher Gewalt. Als Kaiba allerdings nicht antwortete, straffte er sich, richtete sich gerade auf, und sagte verächtlich: “Dachte ich mir. Und jetzt lass mich in Ruhe, das hier geht dich weder etwas an noch wird es dich wohl kaum berühren, wenn ich nicht mehr da bin. In Wahrheit tue ich dir damit doch einen großen Gefallen.” Joey nahm ein paar Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und erneut über die Brüstung kletterte. ‘Ja, so ist es gut, mach einfach so weiter’, redete sich Joey ein. Es war, als wäre alle Wut aus ihm gewichen. Er war bereit. Er löste zunächst eine Hand vom Geländer, bevor er es auch mit der zweiten Hand losließ. Nun musst er sich nur noch ein wenig vornüber beugen. Noch ein bisschen mehr… Und genau in dem Moment, als er zu fallen drohte, packte ihn eine Hand am Ärmel seines Mantels und zog ihn mit voller Kraft zurück aufs Dach. Krachend kam er auf dem harten Betonboden auf. Über ihm stand Kaiba, der ihn hasserfüllt ansah. “Wie ich schon sagte”, begann Kaiba, “ich kann das nicht zulassen. Deswegen schlage ich dir einen Deal vor.” Joey, der noch immer am Boden lag, strich über seine Hüfte und seinen Po, auf dem er gerade unsanft aufkam. Ein Deal? Was für ein lächerlicher Vorschlag war das denn? Und um Joeys Verwirrung noch zu erhöhen, ergänzte Kaiba: “Sechs Monate.” Joey richtete sich wieder auf. Verdammt, Kaiba versperrte ihm den Weg zur Brüstung. Keine Chance, da war jetzt kein Durchkommen. Und was zur Hölle erzählte Kaiba da eigentlich? “Man, Kaiba, kannst du mal aufhören, in Rätseln zu sprechen und endlich Klartext reden? Von deinen dämlichen Vorschlägen, von denen ich keine Ahnung habe, was sie eigentlich bedeuten sollen, kriegt man ja Kopfschmerzen.” Täuschte sich Joey, oder konnte er ein kurzes Schmunzeln in Kaibas Gesicht wahrnehmen? Falls es da war, war es so schnell wieder weg wie es gekommen war. “Dass du mir nicht würdest folgen können, ist ja nun auch wirklich keine Überraschung. So intelligent sind Straßenköter nun mal nicht.” Wütend gab Joey ein Knurren von sich und musste sich sehr beherrschen, nicht tatsächlich wie ein räudiger Straßenköter zu klingen. “Hättest du dann vielleicht die Güte, mich zu erleuchten und mir, verdammt noch mal, endlich zu erzählen, was du mir eigentlich sagen willst? Was für ein Deal, was für sechs Monate?” Ungeduldig fuhr sich Joey durch die Haare. Warum nur war er nicht einfach gesprungen, bevor dieser Dreckssack hier aufgetaucht war? “Nun gut. Wie du wohl schon verstanden haben wirst, geht es hier um den Schutz meiner Firma. Sollte das Ganze wirklich irgendwann mal an die Presse gelangen, muss ich zumindest glaubhaft darlegen können, dass ich ernsthaft versucht habe, dich von deinen Selbstmordplänen abzuhalten. Also, hier ist der Deal: In den nächsten sechs Monaten werde ich eine Reihe von Maßnahmen treffen und Aktionen durchführen, die dich überzeugen sollen, es nicht zu tun. Solltest du in sechs Monaten immer noch sterben wollen, werde ich dich nicht davon abhalten. Und bevor du jetzt ungehalten wirst: Du hast eigentlich keine Wahl. Wenn du nicht einwilligst, werde ich es trotzdem tun. Ich habe sowohl Mittel, als auch Wege dazu. Ich denke nur, dass es für dich vielleicht ein bisschen angenehmer ist, wenn du freiwillig zustimmst.” Obwohl Joey noch immer sehr verwirrt war, was das jetzt alles zu bedeuten hatte, konnte er ihm doch einigermaßen folgen. Und so schwer es ihm fiel - Kaiba hatte Recht. Er würde alles zum Schutz seiner Firma tun, das hatte er klargestellt. Und wenn er nicht freiwillig einstimmte, würde Kaiba ihn vermutlich einfach wegsperren oder so. Frustriert fuhr Joey sich durch die Haare. Er wollte seine Zustimmung nicht geben, und schon gar nicht wollte er vor Kaiba zugeben, dass er ihn in der Hand hatte. Verdammt, wie konnte der Plan, den er für heute geschmiedet hatte, so grundlegend schief gehen? Kaibas Lippen deuteten erneut ein Lächeln an - allerdings das der gehässigen Sorte - als er sah, dass Joey offensichtlich verstand, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. “Dann ist es beschlossene Sache”, sagte Kaiba. “Heute ist der 6. November, unser Deal gilt damit bis einschließlich 5. Mai nächstes Jahr.” Er nahm sein Handy aus der Jackentasche, um den Piloten des Hubschraubers anzurufen, und nur wenige Momente später nahm Joey erneut den Lärm der Motoren wahr, die immer näher kamen, bis der Hubschrauber wieder direkt über ihnen flog. Erneut wurde die Leiter herabgelassen und Kaiba schaute ihn erwartungsvoll an. “Wie gesagt”, rief er dem Blonden zu, “wir können das hier auf die harte oder die weiche Tour machen. Deine Entscheidung.” “Du verdammtes Arschloch”, brachte Joey zähneknirschend hervor, mehr zu sich selbst als zu Kaiba gesagt. Aber er wusste, er hatte keine Wahl - zumindest nicht jetzt. Also lief er hoch erhobenen Hauptes auf die Leiter zu. Als er nach ihr griff, hielt ihn Kaiba für einen Moment erneut am Ärmel seines Mantels fest. Er musste näher an Joey rantreten, damit dieser seine Worte verstehen konnte. “Und noch was. Wenn du glaubst, ich verstehe nicht, was es bedeutet, so schlecht behandelt zu werden, täuschst du dich. Ich verstehe das sehr gut. Aber es gibt eben Menschen, die daran zerbrechen, und andere, die daraus gestärkt hervorgehen. Jeder wählt seinen Weg selbst.” Joey runzelte für einen Moment die Stirn. Er konnte es verstehen? Einen größeren Blödsinn hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört. Das konnte ja wohl unmöglich wahr sein - oder? Kaiba ließ von ihm ab und kletterte nun doch als Erster die Leiter zum Hubschrauber hoch. Er blickte ein letztes Mal nach unten zu Joey, und fügte hinzu: “Glaub jetzt aber bloß nicht, dass mehr hinter diesem Deal steckt. Wie ich schon gesagt habe, hier geht es um den Schutz meiner Firma, einen so großen Imageschaden kann ich nicht zulassen.” Und da war er wieder, der gefühlskalte Eisklotz, wie Joey ihn kannte. Hatte er gerade wirklich für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, Kaiba könnte sowas wie… Mitgefühl besitzen? Lächerlich! Kopfschüttelnd erklomm nun auch Joey die Leiter hoch zum Hubschrauber, in dem Kaiba schon Platz genommen hatte. Als Joey ankam und seinen Platz neben Kaiba einnahm, reichte dieser ihm ein Headset, bevor er dem Piloten das Zeichen gab, loszufliegen. “Wo fliegen wir hin?”, fragte Joey. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, antwortete Kaiba: “In meine Villa.” Joey war schockiert - was zur Hölle sollte er in Kaibas Villa? Als Joey protestieren wollte, erklärt der Dunkelhaarige augenrollend: “Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass ich dich in das Drecksloch zurück fliege, aus dem du gekommen bist? So, wie ich es verstanden habe, scheint dein volltrunkener, nichtsnutziger Vater ja wohl ein Grund zu sein, warum ich mich überhaupt auf diesen Deal einlassen musste.” “Du musstest dich auf diesen Deal einlassen? Du hast ihn doch selbst vorgeschlagen, Arschloch!” “Korrekt, aber nicht, weil ich es so toll finde, einem Straßenköter zu helfen, falls du dich erinnerst.” Damit war die Diskussion beendet. Joey war sauer, allerdings mehr auf sich selbst. Sein Plan klang in seinen Ohren eigentlich immer so gut, aber offensichtlich hatte er nicht eingeplant, wie vehement seine Freunde versuchen würden, sein Leben zu retten. Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, dass ihn überhaupt jemand finden würde. Aber wie… “Hey, Kaiba, wie hast du mich eigentlich gefunden? Ich habe in keinem Brief erwähnt, wo ich es tun will. Hab sogar sehr darauf geachtet, nicht einen Hinweis zu liefern. Also?” Kaiba musste erneut mit den Augen rollen. Genervt beantwortete er die Frage von Joey. “Bist du wirklich so dumm, Wheeler? Ich habe Kontakte. Ich habe dein Handy orten lassen. Und dann war es ziemlich einfach.” Verdammt, wie dumm war Joey eigentlich, sein Handy mitzunehmen? Als ob er das dann noch gebraucht hätte. Aber es war einfach eine Angewohnheit, es mitzunehmen, wenn er aus dem Haus ging. Das wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Seufzend blickte er aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Lichter der Stadt. Was würde in den nächsten Wochen und Monaten auf ihn zukommen? Würde Kaiba ihn in irgendeinen Kerker werfen? Was für ein Quatsch, Kaiba hatte eine Villa, keine Burg, und wir lebten auch nicht mehr im Mittelalter. Dennoch ließ Joey die Unsicherheit, was passieren würde, nicht los. Sein einziger Trost war, dass Kaiba ihn gehen lassen würde, in sechs Monaten. Auch wenn sechs Monate eine verdammt lange Zeit sein konnten… Der Flug zur Kaiba-Villa dauerte nicht wirklich lange, und der Hubschrauber landete auf dem dafür vorgesehenen Platz auf dem Dach. Die Motoren wurden abgestellt und alle verließen den Hubschrauber. “Folge mir”, gab Kaiba Joey zu verstehen, der ihm widerstrebend Folge leistete. Nach endlosen Treppen, Aufzügen und Gängen kamen Kaiba und Joey vor einer Tür zum Stehen. Kaiba zog eine Karte durch einen Schlitz neben der Tür, die sich anschließend mit einem Klicken öffnete. Joey trat ein und war sogleich überrascht - hinter der Tür verbarg sich ein ganzes Apartment, mit Küche, Bad, einem großen Schlaf- sowie einem Wohnzimmer. Es war recht spartanisch eingerichtet und diente sonst wohl als Gästeunterbringung. Kaiba hielt ihm eine Schlüsselkarte hin. “Hier, damit bekommst du die Tür auf. Abschließen musst du nicht, sobald die Tür geschlossen ist, kommt man nur mit einer entsprechend freigeschalteten Schlüsselkarte wieder rein.” “Du… du sperrst mich nicht ein?”, fragte Joey ein wenig verdutzt. Mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen antwortete Kaiba: “Ich kann mir kaum vorstellen, dass du deine Meinung in sechs Monaten änderst, wenn du jetzt keine Privatsphäre mehr hast oder ich dich in ein Kellerloch sperre.” “Aha, und wo war meine Privatsphäre, als du mein Handy hast orten lassen?”, brachte Joey verärgert hervor. “Manchmal heiligt der Zweck die Mittel, Köter. Und keine Sorge, die Flure und alle Außenbereiche sind mit Kameras ausgestattet, wenn du flüchten willst, wird das meine Security bemerken. Was du hier in dem Apartment machst, ist allerdings deine Sache.” Damit drehte sich der Größere um und machte Anstalten zu gehen. “Warte, was… was wird denn jetzt passieren?” Kaiba öffnete die Tür, bevor er sagte: “Das werde ich dich noch wissen lassen. Gute Nacht.” Und damit schloss er die Tür und ließ Joey verwirrt und durcheinander zurück. Mit schnellen Schritten machte sich Kaiba auf den Weg in sein Büro. Wann immer er nicht in der Firma war, konnte man ihn mit großer Wahrscheinlichkeit dort antreffen. Mit routinierten Handbewegungen öffnete er die Tür, der einzigen in der Villa, die noch nicht auf das Schlüsselkarten-System umgestellt wurde, schlüpfte hindurch, setzte sich an seinen Schreibtisch und stellte die Schreibtischlampe an. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und genoss die Ruhe, ließ seinen Gedanken freien Lauf. Seufzend stellte er fest, dass er keine Ahnung hatte, was jetzt passieren würde. Er wurde selbst in die Ecke gedrängt, von dem idiotischen Kindergarten, den Wheeler seine Freunde schimpfte. Er musste alles daran setzen, dass diese ganze Situation unter Verschluss blieb, er konnte nicht zulassen, dass die Presse Wind davon bekam und es womöglich KaibaCorp. in ein schlechtes Licht rückte. Und er musste Mokuba schützen, denn so ein Imageschaden könnte im Zweifel auch negative Folgen für ihn haben. Kaiba informierte zuerst das Sicherheitspersonal über die Situation. Er würde sie alle NDAs* unterschreiben lassen müssen, sicher ist sicher. Er setzte auch den ‘Kindergarten’ in Kenntnis, dass er sich an seinen Teil der Abmachung gehalten hatte - zumindest vorläufig. Anschließend trug er einem Assistenten auf, Küche und andere operative Bereiche des Hauses zu informieren, dass sie wohl für einige Zeit einen Gast haben würde. Er selbst würde nicht drum rum kommen, selbst den Bewacher zu spielen, wenn es sein musste. Allerdings hatte er noch immer keine Ahnung, was er tun sollte. Er musste selbstverständlich ernsthafte Maßnahmen ergreifen, die er im Zweifel belegen können muss, falls Wheeler in sechs Monaten tatsächlich erneut zu dem Schluss kommt, einen Schlussstrich unter sein Leben zu setzen. Nur so konnte er die Firma und Mokuba schützen. Aber welche verdammten Maßnahmen können das sein? Zumindest eine Maßnahme hatte er schon getroffen - Wheeler würde die nächsten Wochen und Monate nicht in der toxischen Umgebung verbringen, die er normalerweise sein Zuhause nannte. Das beruhigte Kaiba etwas - ja, er hatte mit Maßnahmen schon begonnen. Aber das würde bei Weitem nicht reichen… Sein Gedankenkarussell wurde jäh unterbrochen, als es an der Tür klopfte und Mokuba hereintrat. “Hey, Seto, störe ich dich? Ich hab gehört, was passiert ist…” Vermutlich hatte ihn Roland, Kaibas rechte und manchmal auch linke Hand, in Kenntnis gesetzt. “Nein, komm rein”, erwiderte der Ältere erschöpft. “Es war nur ein langer Tag.” “Ja, das glaube ich dir. Ehrlich gesagt, war ich ganz schön überrascht zu hören, was du da gemacht hast. Ich dachte, du kannst Joey nicht ausstehen?” “Kann ich auch nicht”, entgegnete Kaiba, “aber mir blieb keine Wahl. Wenn es eine andere Option gegeben hätte, wäre mir das auch lieber gewesen. Und jetzt habe ich keine Ahnung, wie ich eigentlich vorgehen soll.” “Ja, ganz schön verzwickt, das Ganze… Wobei ich mir schon gut vorstellen kann, wie Joey sich fühlen muss, bei allem, was ich über seine Situation so gehört habe.” Der ältere der Kaiba-Brüder wurde hellhörig. “Seine Situation?” “Na ja, die Gerüchte über Joeys Vater wirst du ja wahrscheinlich kennen, oder? Man erzählt sich, er sei ein jähzorniger, aggressiver, gewalttätiger, ständig betrunkener Tyrann. Das soll wohl angefangen haben, als seine Eltern sich scheiden ließen und seine Schwester Serenity zu ihrer Mutter zog, während er bei seinem Vater bleiben musste. Ich kenne nicht so viele Details, was genau bei Joey Zuhause passiert, und ich kenne es ja auch nur vom Hörensagen, aber ich kann mir vorstellen, dass da noch viel mehr im Argen liegt, als wir wissen. Er ist wohl in keinem sehr liebevollen Umfeld aufgewachsen.” Seto Kaiba nahm wahr, dass der Jüngere wohl Mitleid mit Wheeler hatte, und auch er musste zugeben, dass Wheelers Situation tatsächlich schwierig zu sein schien, zumindest wenn man diesen Gerüchten glauben konnte. Aber auch ihre eigene Kindheit war schwierig gewesen, auch sie hatten mit Druck, ja sogar Misshandlungen durch Gozaburo, ihrem Adoptivvater, zu kämpfen gehabt, wobei Seto immer versucht hatte, Mokuba so gut es ging davor zu bewahren. Und trotz seiner eigenen herausfordernden Kindheit und Jugend - an Selbstmord hat er dabei nie gedacht. Es hat ihn eigentlich noch stärker gemacht. Aber Mokuba hatte vermutlich Recht - es musste noch mehr unter der Oberfläche des Joey Wheeler liegen, die ihn in diese Situation getrieben hat. Oder? Frustriert, weil er noch immer keine klare Lösung sah, dachte er erneut über den letzten Satz von Mokuba nach. Wheeler war nicht in einem liebevollen Umfeld aufgewachsen. Liebe - ist es das, was ihm fehlte? Geborgenheit? Fast wird Seto schlecht bei dieser Wortaufzählung. Damit konnte er nichts anfangen, der einzige Mensch, der ihm wichtig war, war Mokuba. Aber wenn es tatsächlich des Rätsels Lösung war, um an sein Ziel zu gelangen, was musste er tun? Vielleicht konnte Mokuba ihm helfen. Er war immer schon ein empathischer Junge gewesen, konnte sich in andere reinversetzen. Aber würde das in diesem Fall auch helfen? “Mokuba… was glaubst du, was würde Wheeler helfen? Irgendwas muss es doch geben…” “Hm… ich glaube, der erste Schritt, ihn von seinem Vater wegzuholen, war schon mal der richtige Ansatz. Er braucht ein gewaltfreies Umfeld und muss lernen, dass es so nicht sein muss. Er muss Vertrauen aufbauen in andere Menschen. Und er sollte das Gefühl haben, dass andere ihm vertrauen. Ich glaube, ganz im Inneren will er einfach nur geliebt werden…” Verdammt. So kitschig all das klang, was Mokuba da von sich gab - er könnte recht haben. Er redete von Vertrauen, Liebe… wie zur Hölle sollte Kaiba es schaffen, Wheeler all das zu geben, von dem er selber absolut nichts verstand? Er selbst war ja nun wirklich nicht als liebevoll bekannt, und er vertraute so gut wie niemandem, außer vielleicht Mokuba, und ganz vielleicht Roland, wobei er sich bei all seinen Angestellten immer rechtlich absicherte, falls doch mal was schief gehen sollte. Vielleicht sollte er für diese Sache hier jemand anderen beauftragen, der.... nein, diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Er konnte die Kontrolle hier nicht einfach so abgeben, dafür war das Thema zu heikel und die Gefahr, dass etwas schief gehen könnte, zu groß. Nein, er musste es selbst in die Hand nehmen. Er stand auf und drehte Mokuba den Rücken zu, um durch die große Fensterscheibe zu schauen. “Seto, was ist los?”, wollte Mokuba wissen. “Du könntest Recht haben, Mokuba”, begann Seto. “Wenn Vertrauen und Liebe das ist, was mich hier ans Ziel bringt, dann muss ich es schaffen, dass er genau das aufbaut. Ich… ich werde Wheeler dazu bringen, mir zu vertrauen und… sich in mich zu verlieben.” Mokuba starrte ihn ungläubig an. Selbstverständlich würde Seto selbst alle Emotionen aus dem Spiel lassen. Er war Meister der Manipulation und würde auch ohne eigene Gefühle dafür sorgen können, dass er an sein Ziel gelangte. Und am Ende würde er einfach dafür sorgen, dass sich Wheeler sich in jemand anderen verliebte und er wäre fein aus dem Schneider. Nach einem sehr langen Tag stand also nun endlich das Grundgerüst seines Plans fest, was ihn sehr beruhigte. Er hatte das Gefühl, wieder ein Stück weit die Kontrolle über eine Situation zu haben, in die er sich nicht freiwillig rein manövriert hatte. Morgen würde er sich daran machen, einen umfassenden Maßnahmenkatalog zu definieren, und da er von solchen ‘liebevollen Gefühlen’ - allein bei dem Gedanken bekam er schon eine unangenehme Gänsehaut - keine Ahnung hatte, musste er wohl einige Zeit in Recherche investieren. Er hatte also eine Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die noch weitreichende Folgen haben würde - für Joey, aber auch für ihn selbst. Auch, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, was ihm bevorstand und in was für einen emotionalen Strudel er selbst noch gezogen werden würde... *NDA = Non-Disclosure Agreement, Verschwiegenheitsvereinbarung Kapitel 2: Rescue me… from the violence --------------------------------------- Kapitel 2 - Rescue me… from the violence Seto Kaiba machte in dieser Nacht kein Auge zu. Wie zur Hölle sollte er es schaffen, dass sich der Köter ihm anvertraute, sich sogar in ihn verliebte? Er leitete ein Milliardenimperium, hatte zig Tausende Angestellte, und doch fühlte sich genau das an wie eine Mammutaufgabe, so groß, dass er nicht wusste, ob er sie lösen konnte. Für einen kurzen Moment musste er über sich selbst lachen. Lächerlich, immerhin war er Seto Kaiba, und für einen Kaiba war keine Aufgabe zu groß oder zu schwer. Dennoch, er brauchte einen Plan, und er brauchte ihn schnell. Als langsam die Sonne am Horizont aufstieg und die ersten Lichtstrahlen in sein Schlafzimmer ließ, gab er auf. Verärgert darüber, dass er kein Auge zugemacht hatte, schob er seine Bettdecke weg und ging in sein Ankleidezimmer, um sich anzuziehen und für den wohl erneut sehr langen Tag bereit zu machen. Heute war Samstag und einer der seltenen Tage, an dem er mal nicht in die Firma musste. Normalerweise verbrachte er auch am Wochenende den Großteil seiner Zeit dort, aber er hatte in letzter Zeit sowieso schon deutlich mehr gearbeitet, um das Weihnachtsgeschäft vorzubereiten. Er entschied sich für einen legeren Look - dunkle Jeans, einen dunkelblauen Rollkragenpullover sowie schwarze Sneaker. So verließ er sein eigenes Apartment, das im Vergleich zu dem von Joey, das ja normalerweise als Gästeapartment gedacht war, deutlich größer und luxuriöser ausgestattet war. Schnellen Schrittes und zielstrebig zog es ihn in Richtung seines Büros. Allerdings machte er vorher einen kleinen Abstecher in die kleine Kaffeeküche, die ganz in der Nähe seines Büroraumes lag. Zwar lag auch die größere Küche auf derselben Etage und nicht weit entfernt, zusammen mit dem Esszimmer, in dem Mokuba und er normalerweise die Mahlzeiten - immer gemeinsam - einnahmen. Aber wenn er in Arbeit vertieft war, war es sehr praktisch, in direkter Nähe Zugang zu Koffein zu haben. Und nach dieser Nacht brauchte er Koffein, und davon möglichst viel. Normalerweise trank er seinen Kaffee mit einem Schuss Milch, aber heute brauchte er ihn schwarz - so schwarz wie die Nacht, die er gerade erfolglos damit zugebracht hatte, über Probleme und Lösungen zu grübeln, die er ohne diesen dämlichen ‘Kindergarten’ gar nicht hätte. Das versetzte dem großen Firmenchef einen Stich - Erfolglosigkeit war nicht gerade etwas, an das er gewöhnt war. Und er würde alles dafür tun, dass es nicht lange so blieb. Mit einem resignierten Seufzer setzte er sich auf seinen ledernen Bürostuhl und fuhr seinen Laptop hoch. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, und noch immer war die Sonne damit beschäftigt, die ersten Minuten des neuen Tages anzukündigen. Er nahm sich vor, zumindest sein Email-Postfach durchzuschauen, falls es in der Firma doch kleinere - oder größere - Entscheidungen zu treffen gab. Anschließend wollte er seine wertvolle Zeit der Recherche widmen - irgendwo musste er ja anfangen, einen Plan zu schmieden. Und er wusste - dieser musste makellos sein, damit er funktionierte. Zwei Stunden später war er nicht viel weiter gekommen. Zunächst war er beruhigt gewesen, als es keine größeren Vorkommnisse in der Firma gab, keine unheilvollen Emails, die Schlimmes befürchten ließen. Somit konnte er sich schnell seiner Recherchearbeit zuwenden. Leider blieb seine bisherige Recherche absolut ergebnislos. Wobei das nicht ganz stimmte - er verstand jetzt zumindest, wie sich Liebespaare verhielten und… was sie so… miteinander machten… wenn sie allein waren. Alles daran widerstrebte ihm, widerte ihn gar an. Niemals würde er… SOWAS… mit Wheeler machen. Außerdem war er nicht so dumm zu glauben, dass das der erste Schritt in die richtige Richtung gewesen wäre. Er musste den ersten Schritt vor dem zweiten tun, aber was war der erste Schritt? Verdammt noch mal, wie konnte er rausfinden, was er tun musste? Völlig in seinen Gedanken versunken, merkte Kaiba nicht, wie es an der Tür klopfte und sein kleiner Bruder in den Raum trat, nahm ihn nicht mal wahr, als er direkt vor ihm stand. Stirnrunzelnd sah Mokuba seinen großen Bruder an. “Hallo, Erde an Seto!”, sagte er und fuchtelte dabei mit seinen Armen direkt vor Setos Gesicht rum. Erst dann kam dieser wieder in der Realität an und bemerkte seinen kleinen Bruder. “Entschuldige, Mokuba, ich war in Gedanken.” “Ja, das hab ich gemerkt”, erwiderte Mokuba mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen. “Du hast das, was du gestern Abend gesagt hast, wohl wirklich ernst gemeint, hm? Dass du versuchen willst, dass Joey sich in dich verliebt?” “Selbstverständlich habe ich das ernst gemeint. Warum sollte ich auch nicht?” “Na ja”, begann der jüngere Bruder skeptisch, die Arme vor der Brust verschränkt, “findest du nicht, dass du damit zu weit gehst? Mit Joeys Gefühlen zu spielen, meine ich. Hast du dir schon mal überlegt, was passiert, wenn er sich tatsächlich in dich verliebt?” “Mokuba, ich habe das vollständig durchdacht, die Argumente abgewogen und bin zu dem Schluss gekommen, dass es der absolut perfekte Weg ist, mein Ziel zu erreichen. Ich muss nur noch herausfinden, welchen Schritt ich als erstes machen muss.” Mokubas Blick fällt auf einen Aktenordner auf dem Schreibtisch seines Bruders. “Und wozu ist der?” “Dort werde ich alle Ideen und Fortschritte einsortieren - wie gesagt, es ist wichtig, dass meine Anstrengungen am Ende nachweisbar sind.” “Wow, klingt fast, als arbeitest du an einem Kriminalfall.” Seto dachte kurz über das nach, was sein Bruder da sagte. “Hm, ich sehe Ähnlichkeiten, da muss ich zustimmen. Wenn ich nur wüsste, wie ein erster Schritt aussehen könnte…”, murmelte er vor sich hin, mehr zu sich selbst als zu Mokuba. Der kleinere Bruder atmete langsam aus, bevor er sagte: “Okay, wenn es dir so ernst ist, wieso fängst du nicht damit an, ihm zuzuhören? Das schafft Vertrauen. Und keine Beleidigungen! Das wäre sicher ein guter Anfang. Ich weiß ja, dass ihr normalerweise nicht anders kommunizieren könnt als mit Beschimpfungen, also behalt’ doch deine fiesen Gedanken mal für dich und versuch’ ihm einfach zuzuhören. Er braucht vermutlich einfach jemanden, der für ihn da ist.” Überrascht blickte Seto auf und schaute seinen kleinen Bruder an. Wann war dieser eigentlich so erwachsen geworden? Tatsächlich klang das, was er sagte, durchaus sinnvoll, auch wenn Seto jetzt schon erahnen konnte, was für eine große Herausforderung da vor ihm lag. Dennoch… es hatte Hand und Fuß. Vielleicht sollte er Mokuba öfter hinzuziehen, zumindest am Anfang? Seufzend erhob er sich von seinem Stuhl, er hatte keine Lust mehr, noch weiter darüber zu grübeln, außerdem meldete sich langsam sein Magen. “Du magst recht haben. Komm, lass’ uns erstmal was frühstücken, danach seh ich weiter. Ich werd’ Wheeler wohl aus seiner Hundekammer holen müssen, so, wie ich den Köter einschätze, streunt er sonst noch orientierungslos durchs Haus.” “Seto!”, ermahnte Mokuba ihn. “Genau das habe ich gemeint! Keine Beleidigungen, versuch’ es wenigstens. Versuch’ ihn einfach nicht noch mehr zu verletzen als er eh schon ist.” Der ältere Bruder hob abwehrend die Hände. “Schon gut, ich geb’ ja mein Bestes.” Allerdings war er sich nicht so sicher, ob ‘sein Bestes’ hier wohl reichen würde… ~~~~ Joey Wheeler machte in dieser Nacht kein Auge zu. Allein schon die Tatsache, dass er nicht auf der harten Matratze seines eigenen Bettes, sondern auf den weichen Federn eines völlig fremden Bettes lag, machte ihm das Leben in dieser Nacht schwer. Alles roch so ungewohnt, nichts an diesem Apartment kam ihm vertraut vor. Und er fühlte sich schwermütig und… einsam. Letzteres war eigentlich kein fremdes Gefühl für ihn. Schon seit einer Weile fühlte er sich allein, selbst wenn er unter seinen Freunden war. Aber dieses Mal war es irgendwie… anders. Anders, weil er jetzt gar nicht hier sein sollte. Eigentlich sollte er überhaupt nicht mehr existieren. Er hätte gestern 25 Stockwerke in die Tiefe fallen sollen und hätte damit all die Schmerzen der letzten Jahre ausgelöscht, genauso wie sein eigenes Leben. Er fühlte sich fehl am Platz. Als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster schienen, gab er auf und erhob sich seufzend vom Bett, das ihm diese Nacht keinen Schlaf gebracht hatte. Er zögerte, bevor er einen kurzen Blick auf sein Handy warf, das er neben sich auf den Nachttisch gelegt hatte. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, wahrscheinlich war in diesem Haus noch niemand auf den Beinen. Er hatte außerdem ein paar Nachrichten von Yugi, aber er hatte nicht die Kraft, sich diese jetzt durchzulesen. Er nahm sich vor, diese später zu lesen und zu antworten. Durch die erst vorsichtig hervor kommenden Sonnenstrahlen war es zwar noch ein wenig dunkel im Zimmer, aber dennoch ließ sich einiges erahnen. Joey sah sich in dem Raum um, in dem er sich gerade befand. Wie er gestern schon wahrgenommen hatte, war auch dieser Raum recht spartanisch eingerichtet, und dennoch - er hatte Stil. Ob Kaiba höchstpersönlich sich wohl um die Inneneinrichtung kümmerte? Bei dem Gedanken daran, wie Kaiba im nächsten Möbelhaus verschiedene Teppiche verglich, musste er schmunzeln. Unmöglich, dafür hatte er vermutlich Lakaien, die ihrem großen Herren untertan waren. Neben dem Bett gab es einen kleinen Nachttisch aus Holz, sah aus wie Eichenholz, zumindest war es aber identisch mit dem Holz, das das Bett umrahmte. Unter dem Fenster gab es einen kleinen Schreibtisch, auf dem eine Schreibtischlampe stand, und einen dazugehörigen Bürostuhl. Gedankenverloren strich Joey über das Holz des Tisches und fragte sich, warum es hier wohl keinen Kleiderschrank gab. Direkt gegenüber vom Bett befand sich eine Tür, die den Weg ins Wohnzimmer freigab. Dort befand sich auch die ‘Haustür’, durch die er gestern das Apartment betreten hatte, es gab also keinen separaten Flur. Das Wohnzimmer war ebenfalls recht ansehnlich. Es gab ein Sofa, auf dem zwei Leute Platz fanden, gegenüber war ein Fernseher aufgehängt. Das Sofa war von eisblauer Farbe, und Joey musste sofort an die Augen eines gewissen Großkotzes denken. Joey schüttelte den Kopf - natürlich musste sich der Eisklotz auch in den Gästeräumen verewigen. Sollte ja keiner vergessen, wo man sich hier befand und wer hier das Sagen hatte. Es gab auch ein Bücherregal, das fast vollständig leer war, ein Buch stand allerdings drin. Das würde er gleich noch näher betrachten, wollte aber zunächst noch die anderen beiden Türen öffnen, die vom Wohnzimmer aus in andere Räume führten. Die erste Tür führte ihn in ein riesiges, fast schon pervers großes Badezimmer. Sofern er das erkennen konnte, war dieses hier von den Materialien her am luxuriösesten. Zwar waren die anderen Räume mit hochwertigem Parkett ausgestattet, dennoch konnte das das vermutlich sündhaft teure Marmor-Badezimmer nicht aufwiegen. Es war weißer Marmor, unregelmäßig durchzogen von schwarzen Anteilen. Es war wunderschön, das musste Joey zugeben. Es gab sowohl eine freistehende Badewanne als auch eine riesige Duschkabine mit Regendusche, und natürlich auch eine Toilette. Es gab zwar kein Fenster, aber das eingebaute Licht ließ es so wirken, als wenn tatsächlich Tageslicht ins Bad fallen würde. Über dem Waschbecken war ein Spiegel angebracht, an dessen Seiten ebenfalls kleine Lichter befestigt waren. Die letzte Tür führte in einen Raum, den er zunächst nicht zuordnen konnte, aber dann wurde ihm klar, warum es im Schlafzimmer keinen Kleiderschrank gab - weil er gerade mitten in ihm stand. Zumindest, wenn man das noch Kleiderschrank nennen konnte. Das verblüffend geräumige Zimmer bot vermutlich Platz für einen ganzen Jahresvorrat an Kleidung, mit all den Schubladen und offenen Schränken. Wie lange wurden Gäste denn hier normalerweise beherbergt, wenn es ein so großes Ankleidezimmer notwendig machte? Selbst all seine Klamotten zusammen würden hier absolut verloren aussehen. Kopfschüttelnd zog er sich aus dem Raum zurück und ging zurück zum Bücherregal, um das einzige, dort befindliche Buch in Augenschein zu nehmen. Hatte es mal jemand hier vergessen? Er betrachtete es und strich vorsichtig über den Einband. Es war ‘Anna Karenina’ von Lew Tolstoi. Das Buch sah alt aus, und der Geruch, der ihm entgegen kam, ließ das ebenfalls vermuten. Es war schwer und musste über 1.000 Seiten haben. Neugierig las er die Zusammenfassung des Buchs, die sich auf einer der ersten Seite des Buches befand. Es handelte von russischen Adelsfamilien, Liebe, Intrigen, Ehe, Moral, und spielte im späten 19. Jahrhundert. Joey kam der Name des Buches wie auch der Autor vage bekannt vor - vermutlich hatten sie sich im Unterricht mal damit beschäftigt. Nicht, dass er wirklich zugehört hätte. Er legte das Buch zurück ins Regal - vielleicht würde er irgendwann mal näher reinschauen, auch wenn er vermutete, dass er nicht mal die Hälfte davon verstehen würde. Erst jetzt bemerkte er, dass es von diesem Zimmer aus einen Zugang auf einen Balkon gab. Er öffnete die gläserne Tür und trat hindurch. Die Sonne kam zaghaft heraus, aber es war noch immer sehr früh am Morgen und recht frisch. Joey hatte noch immer die Kleidung von gestern an, weil er keine anderen Sachen bei sich trug, als Kaiba ihn aufgabelte. Die Aussicht, die sich ihm bot, war atemberaubend - er konnte direkt in den Garten blicken, der sehr schön gepflegt wurde. Es war November und die Bäume standen kurz davor, ihre komplette Blätterpracht abzulegen und sich für den Winter vorzubereiten - aber jetzt noch lag unter ihm ein buntes Blättermeer. Die Größe des Gartens war beträchtlich. Hatten Kaiba und Mokuba hier schon als Kinder gespielt? Joey konnte sich Kaiba so gar nicht als Kind vorstellen. Etwas kam ihm wieder in den Sinn, das er gestern zu ihm gesagt hatte - dass er verstehen könnte, was es heißt, schlecht behandelt zu werden. Was hatte er wohl gemeint, als er das sagte? Als Joey sich bei diesem Gedanken erwischte, schüttelte er energisch den Kopf. Seit wann kümmerte es ihn, was Kaiba zu dem werden ließ, was er heute war? Nein, daran wollte er keinen weiteren Gedanken mehr verschwenden. Also ließ er seinen Blick an den Horizont schweifen und verfolgte den Lauf der Sonne, die sich weiter ihren Weg in den Tag bahnte. Und so wurden aus Sekunden Minuten, und aus Minuten Stunden. Irgendetwas in ihm verlor sich in der Stille und Ruhe des anbrechenden Tages, und er genoss die Schönheit des Gartens, gelehnt an das Geländer des Balkons, das ihn irgendwie an das Geländer erinnerte, an das er sich gestern auf dem Hochhaus geklammert hatte. So nahm er nicht mal wahr, wie seine Apartment-Tür geöffnet wurde und Kaiba den Raum betrat. Erst, als dieser sich räusperte, erwachte er aus seinen Tagträumen und drehte sich zu ihm um. “Essen fassen, Köter”, gab Kaiba ihm unmissverständlich zu verstehen. Joey richtete sich auf und blickte ihn aus zu Schlitzen verzogenen Augen an. “Dir auch einen guten Morgen, Arschloch. Ich nehme an, du hast eine eigene Schlüsselkarte zu jedem Raum in diesem Haus? So viel zum Thema Privatsphäre.” Joey erntete nichts weiter als ein verächtliches Schnauben, als Kaiba sich umdrehte und Anstalten machte zu gehen. Als er merkte, dass Joey ihm nicht folgte, rief er ihm zu: “Sei nicht dumm, Köter, natürlich habe ich Zugang zu allen Räumen im Haus. Und wenn du jetzt nicht wie ein Streuner durchs ganze Haus irren willst, würde ich dir empfehlen, mir zu folgen.” Widerwillig, aber dennoch ohne ein weiteres Wort des Protests, folgte Joey ihm, durch eine Vielzahl von Gängen und Treppen, vorbei an Bildern und Figuren. Kaiba führte ihn in einen Raum, der wohl das Esszimmer war. Mokuba wartete dort schon und als Joey den Raum betrat, kam der Kleine freudestrahlend auf ihn zu. “Joey, guten Morgen! Ich freue mich so, dass du bei uns bist!” Mit jugendlichem Enthusiasmus stürmte Mokuba auf Joey zu und umarmte ihn stürmisch, was beiden einen missbilligenden Blick des größeren Kaiba-Bruders einbrachte. “Hey, Mokuba, ich… tja, ich weiß eigentlich gar nicht so richtig, was ich jetzt sagen soll.” “Wie wäre es mit einem Danke dafür, dass ich dich gestern aufgegabelt habe und so gnädig war, dich hier aufzunehmen?”, kam es aus einer Ecke des Raumes von Kaiba, der sich bereits auf einen Stuhl gesetzt hatte und einen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm. Joey funkelte ihn wütend an. “Darum hat dich nur keiner gebeten, du Idiot.” “Hey, hey”, wollte Mokuba beschwichtigen, “nicht gleich so früh am Morgen streiten. Joey, du musst Hunger haben, lass uns doch was frühstücken.” Anschließend drehte er sich zu seinem Bruder um und erinnerte ihn mit stummen Blicken daran, worum er ihn vorhin gebeten hatte. Mehr als eine hochgezogene Augenbraue seines großen Bruders konnte er als Reaktion darauf aber nicht erwarten, bevor dieser sich die Zeitung nahm und die tagesaktuellen Nachrichten las. Der Rest des Frühstücks verlief einigermaßen friedlich. Joey aß zwar ein bisschen was, aber viel bekam er nicht herunter. Dafür trank er zwei große Tassen Kaffee, schwarz, um einigermaßen auf Touren zu kommen. Den Augenringen nach zu urteilen, die Kaibas Gesicht zierten, hatte auch dieser nicht viel Schlaf bekommen, das war Joey durchaus aufgefallen. Ob er selbst wohl auch so müde aussah? “Und?”, begann Mokuba erneut das Gespräch und durchbrach damit die Stille, “Was habt ihr heute vor?” Joey kratzte sich am Kopf und überlegte. “Na ja, ich müsste nach Hause…” “Kommt gar nicht in Frage”, wurde er augenblicklich von Kaiba unterbrochen. “...um neue Klamotten zu holen.”, erwiderte der Blonde in energischem Tonfall, und warf Kaiba einen wütenden Blick entgegen. “Du hast mir gestern klar gemacht, dass ich hier nicht weg komme, aber selbst du wirst ja nicht so dumm sein zu glauben, dass ich dasselbe Outfit für sechs Monate anbehalten werde.” Eisblaue Augen kämpften mit goldbraunen, und keiner wollte dieses Blickduell freiwillig aufgeben. “Schön”, erklärte Kaiba nach einiger Zeit, “aber da gehst du ganz sicher nicht alleine hin. Ich werde dich begleiten.” Als Joey protestieren wollte, ergänzte er: “Keine Widerrede! Wir fahren in 30 Minuten. Du wirst hier abgeholt.” Und mit diesen Worte stand Kaiba auf und entfernte sich aus dem Esszimmer. Was zum… Was dachte sich dieser arrogante Schnösel? Joey hasste es, so herumkommandiert zu werden, aber er sah sich wieder mit dem Rücken zur Wand. Offensichtlich musste er ihm Folge leisten - zumindest für jetzt. Er würde schon noch ein Schlupfloch finden. Auch Mokuba stand nun auf und wollte sich verabschieden. Tröstend legte er Joey eine Hand auf die Schulter. “Ich weiß, dass mein Bruder ganz schön barsch sein kann.” Die Untertreibung des Jahres, dachte Joey sich in dem Moment, ließ Mokuba aber weiter reden. “Aber gib ihm eine Chance. Ich glaube, er meint es wirklich gut.” Und mit diesen Worten war auch Mokuba verschwunden, und Joey mit seinen Gedanken allein. Kaiba meinte es gut? So einen ausgemachten Blödsinn hatte Joey ja noch nie gehört. Als ob der Typ sich für irgendwas anderes interessieren würde als für sich selbst. Na ja, vielleicht noch für Mokuba, aber da lag dann wohl auch die Grenze. Lange hatte er keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn schon bald erschien einer von Kaibas Lakaien, der ihn wie angekündigt abholen sollte. ~~~~ Seto Kaiba wartete bereits in der Limousine. Nach diesem Morgen wusste er, dass das eine noch größere Herausforderung für ihn werden würde als anfangs gedacht. Wie sollte er es schaffen, sich an Mokubas Rat zu halten? Bevor er ins Auto gestiegen war, versäumte es Mokuba nicht, ihn nochmal daran zu erinnern. Keine Beleidigungen, zuhören, sowas. Es würde ihn viel Überwindung kosten, soviel war sicher. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Wheeler stieg ein. Er nannte dem Fahrer seine Adresse - verdammt, das würde eine lange Fahrt werden, sie mussten durch die gesamte Stadt, und gerade zu dieser Tageszeit konnte es schon mal zu einem kleinen Stau kommen. Die Fahrt an sich verlief schweigend und tatsächlich einigermaßen friedlich. Wheeler stützte seinen Arm auf einer der Armlehnen ab und schaute gedankenverloren aus dem Fenster. Woran er wohl dachte? Kaiba musste sich ermahnen, dass ihn das weder was anging noch sonderlich interessierte. Er musste sich an das große Ziel erinnern, nur das zählte. Aber je näher sie Wheelers Zuhause kamen, desto nervöser schien eben dieser zu werden. Hatte der Köter etwa Angst? Lächerlich. Auf der anderen Seite würde er wohl in der Wohnung auf seinen Vater stoßen, und wer wusste schon, was dann passieren würde. Irgendwas daran machte ihn wütend, was ihm noch lächerlicher erschien, immerhin ging es hier um den Straßenköter Wheeler. Aber wenn er an seine eigene Kindheit dachte und an Gozaburo, der auch nicht gerade zimperlich mit ihm umging… wenn er sich vorstellte, der hätte sowas mit Mokuba gemacht, hätte er ihn vermutlich an Ort und Stelle erwürgt. In diesem Moment fuhr das Auto in Wheelers Straße ein. Es wunderte Kaiba nicht, in was für einer heruntergekommenen Gegend sie nun waren. Es war kein Geheimnis, dass Wheelers Familie nicht viel hatte, und der klägliche Rest wurde von dem Nichtsnutz versoffen, der sich Wheelers Vater schimpfte. Er nahm wahr, wie Wheeler noch einmal tief Luft holte, bevor die Tür vom Chauffeur geöffnet wurde und er ausstieg. Auch Kaiba stieg aus, was ihm einen verwunderten Blick des Blonden einbrachte. “Geht schon, Kaiba, ich geh da allein rein.” “Das wirst du nicht tun. Was glaubst du wohl, warum ich mitgefahren bin? Weil ich so gern mit dir durch die halbe Stadt fahre und dann auf dich warte?” Wheeler schien mit den Gedanken zu sehr bei dem Bevorstehenden zu sein, als dass ihm eine schlagfertige Antwort einfallen wollte. “Ach, mach doch, was du willst, Arschloch.” Mit diesen Worten öffnete er die Haustür und sie stiegen die Treppe zur Wohnung hoch, die Wheeler ebenfalls öffnete. Kaum war diese offen, registrierte Kaiba den penetranten Alkoholgeruch, der die ganze Wohnung einzunehmen schien. Wheeler sah sich vorsichtig um und war darauf bedacht, möglichst wenig Lärm zu machen, als er durch den Flur in Richtung seines Zimmers ging, das sich wohl ganz am Ende des Flurs befand. Dieser Plan ging allerdings nur mittelmäßig auf, weil er gegen eine leere Flasche lief, die mit tosendem Lärm den restlichen Flur entlang schepperte. Für einen kurzen Moment war es ruhig, bis beide eine laute - und offensichtlich betrunkene - Stimme wahrnahmen. “Joey, du dreckiges Abbild von einem Sohn, bist du das?” Eine Person, die offensichtlich Wheelers Vater war, stapfte ihnen, die Whiskey-Flasche in der Hand haltend, aus einem der anderen Zimmer entgegen. Er erblickte zuerst seinen Sohn, den er wütend anfunkelte, und Kaiba nahm war, wie Wheeler ein wenig erschrocken drein blickte. Kurz danach nahm er die Anwesenheit von Kaiba wahr, der einen nicht minder hasserfüllten Blick des Vaters erntete. “Und wer zur Hölle bist du und was machst du in meiner Wohnung?” Kaiba musste die Nase rümpfen, sagte aber nichts weiter dazu - er wusste, so eine Situation könnte schnell mal ausarten. Außerdem ergriff Wheeler schnell das Wort. “Dad, ich bin nur hier, um ein paar Sachen zu holen. Ich werde eine Weile nicht zu Hause sein. Ich gehe nur kurz in mein Zimmer und…” “Das wirst du nicht tun, du dumme Kackbratze! Du bleibst gefälligst hier und räumst den ganzen Dreck hier weg!” Mit diesen Worten stürmte der Vater auf seinen Sohn los, noch immer die Flasche in der Hand. Aber Kaiba reagierte schnell und hielt den Älteren am Ärmel fest, der damit ein wenig aus der Fassung geriet. Er taumelte, und die Flasche zerbrach an einem nahegelegenen Schrank. Die braune Flüssigkeit verteilte sich überall auf dem Boden, was Wheelers Vater nur noch wütender machte. “Lass mich los, du dummer Wichser! Das war meine letzte Flasche, los, bring mir eine neue, oder bist du genauso ein Nichtsnutz wie mein Sohn, he?!” Doch Kaiba blieb ruhig. “Ich werde gar nichts tun. Wenn Sie unbedingt noch mehr trinken wollen, holen Sie sich gefälligst selbst was zu trinken, und ihren Dreck können Sie wohl selbst weg machen. Ich bin nicht Ihre Putze.” Seine Worte führten allerdings nicht zu einer Deeskalation der Situation, ganz im Gegenteil, es stachelte den Vater nur noch weiter an. “Du dummer… dir zeig ich’s!” Und in dem Moment, als er mit den Überbleibseln der Flasche in seiner Hand auf Kaiba losgehen wollte, ging Wheeler dazwischen. Allerdings unterschätzte dieser die Wut und die Kraft seines Vaters, wurde weggestoßen und landete unsanft auf dem Boden. Kaiba war nur für den Bruchteil einer Sekunde davon abgelenkt, sodass der Vater erneut zum Schlag ausholen konnte. Zwar konnte Kaiba schlimmeren Schaden verhindern, aber dennoch nicht, dass er mit einem Stück Glas ein wenig im Gesicht getroffen wurde, sodass jetzt ein Kratzer seine Wange zierte. Schon im nächsten Moment holte der Sohn erneut zum Schlag aus und konnte einen Treffer im Bauch des Betrunkenen landen, der im nächsten Moment nach hinten kippte und und auf dem Boden landete. Er machte keinen Mucks mehr. War er bewusstlos? “Keine Sorge”, setzte Wheeler atemlos an, “der steht bald wieder auf. Ich kenne das schon.” Ein paar Atemzüge später beruhigte er sich wieder ein bisschen und sah Kaiba an. Für einen kurzen Moment weiteten sich seine Augen, und er sagte: “Das sieht nicht so aus, als ob es genäht werden musste. Ich werde die Wunde trotzdem ein bisschen desinfizieren und ein Pflaster drüber machen, sicher ist sicher. Wir haben Zeug dafür im Bad.” “Schon gut, Wheeler, halb so wild.” “Keine Widerrede. Los, ab ins Bad. Ich will meine Zeit hier nicht mit sinnlosem Diskutieren vergeuden, sondern noch meine Tasche packen und so schnell wie möglich wieder hier weg. So lange ist er normalerweise auch nicht außer Gefecht gesetzt.” Kaiba knickte ein und folge Wheeler ins Bad. “Setzen!”, befahl er ihm, und zuerst wusste er gar nicht, wohin. Das Bad war so klein, zu zweit konnte man da gut in Platzangst geraten. Also nahm er auf dem zugeklappten Toilettensitz platz, während Wheeler alles Notwendige aus einem kleinen Schränkchen über dem Waschbecken holte. “Vorsicht, das kann jetzt ein bisschen brennen”, warnte er Kaiba vor, bevor er den Wattebausch in eine Flüssigkeit tränkte und die Wunde in Kaibas Gesicht abtupfte. Er kniete dabei vor ihm und betrachtete die Wunde ganz genau. Warum nur wurde Kaiba das Gefühl nicht los, dass Wheeler hier drin mehr Übung hatte als er sollte… Für einen Moment war es still, dann ergriff Wheeler erneut das Wort, während er weiter die Wunde abtupfte. “Du hättest das nicht machen müssen, weißt du. Ich bin das gewohnt, und bisher bin ich ja auch immer lebend hier raus gekommen. Du hast dich unnötig in Gefahr gebracht, er hätte dich noch viel stärker verletzen können.” In was für eine Richtung entwickelte sich dieses Gespräch? “Unsinn, Wheeler. Der Typ war so betrunken, der hätte ja wohl kaum großen Schaden anrichten können. Das war ein Glückstreffer, das ist alles.” Wheeler klebte ein kleines Pflaster über die Wunde und schien zufrieden mit seiner Arbeit. Er blickte auf und sah Kaiba nun direkt in die Augen. “Glaub mir, er hätte noch viel größeren Schaden anrichten können. Wir waren zu zweit, das war unser Vorteil. Aber allein… glaub mir, er ist geübt darin, Verletzungen zuzufügen.” Wheeler machte Anstalten, das Badezimmer zu verlassen, um in sein Zimmer zu gehen und seine Tasche zu packen, doch er stockte. Zähneknirschend und kaum hörbar brachte er hervor, ohne Kaiba direkt anzusehen: “Danke… ohne dich wäre ich hier mindestens mit einem blauen Auge rausgekommen. Wehe, du verrätst jemandem, dass ich das gerade gesagt habe, dann bringe ich dich um.” Damit verließ er das Bad und machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer. Und hinterließ einen etwas verwirrten Seto Kaiba. ~~~~ Joey holte schnell eine Reisetasche aus dem Schrank und packte so viele Klamotten rein wie möglich. Er wusste, ihnen würde nicht viel Zeit bleiben, bevor der Dreckssack wieder aufwachte. Hatte dieser widerliche Idiot seinen Abschiedsbrief überhaupt gelesen? Offensichtlich nicht, zumindest schien er sich nicht darüber zu wundern, dass Joey hier auftauchte. Schnell packte er neben seinen Klamotten noch ein paar andere Sachen in die Tasche. Seine Brieftasche und sein Handy hatte er ja sowieso dabei, ansonsten verstaute er noch Kopfhörer und seinen altmodischen MP3-Player, an dem er fieberhaft festhielt, auch wenn ihm das schon einige amüsierte Kommentare seiner Freunde eingebracht hatte. Anschließend machte er sich auf den Rückweg ins Bad, um ein paar Hygieneartikel sowie Zahnpasta, Zahnbürste und Shampoo einzupacken. Kaiba saß noch immer da, wo er ihn verlassen hatte. Joey konnte sich nichts vormachen - dass Kaiba verletzt wurde, wenn auch nur ganz oberflächlich, machte ihm ein schlechtes Gewissen. Was er gesagt hatte, meinte er ernst, Kaiba hätte sich zurückhalten sollen. Joey hatte schon schlimmere Angriffe seines Vaters ertragen oder abwehren müssen. Auf der anderen Seite war er tatsächlich dankbar, dass er eingeschritten war. Wäre er allein dort gewesen, hätte er jetzt sicher deutlich schlimmere Blessuren davon getragen. Kopfschüttelnd erlöste er sich von seinen absurden Gedankengängen. Dankbar auf Seto Kaiba - das würde er in diesem Leben sicherlich nicht noch einmal wiederholen. Er schloss den Reißverschluss seiner Tasche und sprach den Größeren an. “Okay, fertig. Lass uns hier abhauen.” Das ließ sich Kaiba nicht zweimal sagen. Zielstrebig ging er Richtung Ausgang, und Joey tat es ihm gleich. Bevor er die Wohnung verließ, sah er sich noch einmal um. Und auch, wenn er das niemals zugeben würde, zumindest nicht laut: Er war erleichtert, hier rauszukommen. Schnell schloss er die Tür hinter sich und folge Kaiba zurück in die Limousine, die sie zurück in die Villa bringen würde. Die ersten paar Minuten der Fahrt war es wieder still und jeder hing seinen Gedanken nach. Dann ergriff Joey das Wort, wieder aus dem Fenster blickend. “Weißt du, Kaiba, ich hätte dir auch einfach irgendeinen Wisch unterschreiben können, der dich von jeglicher Verantwortung befreit. Dass du nichts hättest tun können. Und dann hätte ich springen können und du hättest mich jetzt nicht an der Backe.” “Und du glaubst, damit hätten sich deine idiotischen Freunde zufrieden gegeben? Dann hätten sie mir unterstellt, ich hätte dich gezwungen, das zu unterschreiben oder so. Gefundenes Fressen für die Presse.” Es war noch Vormittag, und Joey war müde, zu müde, um zu streiten. Seufzend drehte er sich zu Kaiba um und blickte ihm in die Augen. “Vielleicht.” Und wenn Joey ehrlich, wirklich ganz ehrlich zu sich selbst war - als er da gestern so am Abgrund stand und runter schaute, nur Minuten bevor er seinen lange gefassten Plan in die Tat umsetzen wollte, da gab es diesen Moment, wenn auch nur für eine Millisekunde, da fragte er sich, ob es das Richtige war. Ob der Tod wirklich das war, wonach er sich sehnte. Allerdings hatte er diesen Gedanken im nächsten Moment schon verworfen und war fest entschlossen - wäre ihm da nicht ein idiotischer Eisklotz in die Quere gekommen. Seufzend meldete er sich erneut zu Wort. “Ich werde das jetzt nur einmal sagen, ich werde es nicht wiederholen, und du bist ein toter Mann, wenn du irgendjemandem verrätst, was ich dir jetzt sage.” Joey machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. “Ich glaube, ich bin dir dankbar, dass du mir die Chance eröffnest, rauszufinden, ob ich das wirklich will. Sterben meine ich. Ich weiß, dass du diesen Deal nicht freiwillig gemacht hättest, aber sei’s drum. Danke, dass du’s versuchst.” Bei den letzten Worten musste Joey sich wegdrehen, weil er Kaibas intensiven und gleichermaßen verwirrten Blick nicht ertrug. “Bild dir bloß nichts…” “Kannst du nicht einfach mal Sachen unkommentiert stehen lassen, Kaiba? Nur dieses eine Mal?” Joey schaute ihm nun erneut wieder in die Augen und konnte sehen, wie Kaiba ganz dezent, kaum merklich nickte. “Okay, ich lasse mich auf deinen Deal ein. Ganz offiziell und so, gestern wurde ich dazu ja auch eher gedrängt. Wenigstens eine Sache, die wir gemeinsam haben, immerhin sind wir beide nicht aus freien Stücken in dieser Situation. Aber vielleicht ist es Schicksal, keine Ahnung, klingt total esoterisch. Wie auch immer. Deal?” Joey hielt Kaiba die Hand hin, um ihrer Vereinbarung eine Seriosität zu verleihen, die sie vorher in der Form noch nicht hatte. Kaiba zögerte kurz, ergriff dann aber Joeys Hand. “Deal.” Und trotz der Tatsache, dass sie dieses Abkommen nun ganz formell geschlossen hatten, verbreitete sich eine Unsicherheit in beiden. Was würde die kommenden Monate passieren? Wie würden sie ihre Zeit verbringen? Und wie nur sollten zwei Erzfeinde wie sie auch nur eine Minute miteinander auskommen? Zu diesem Zeitpunkt konnten sie noch nicht ahnen, wie viel sie eigentlich verband - und dass sich, ohne, dass sie es merkten, ein Band zwischen ihnen schloss, das sich nicht mehr so leicht trennen ließ… Kapitel 3: Rescue me... from my chaotic thoughts ------------------------------------------------ Der Rest des Samstags verlief relativ ereignislos. Kaiba zog sich recht schnell in seine Büroräume zurück und ließ sich nur zum Essen blicken. Zum Mittagessen holte er Joey noch ab, aber bereits zum Abendessen hatte dieser sich den Weg eingeprägt, sodass sie sich nur noch auf eine Uhrzeit einigen mussten. Joey verabschiedete sich frühzeitig beim Abendessen. Er hatte kein großes Bedürfnis nach Gesellschaft, schon gar nicht, wenn sein Erzfeind Seto Kaiba mit im Raum saß. Zurück in seinem Apartment, schnappte er sich seinen MP3-Player, die Kopfhörer und ließ sich eine Badewanne ein. Er war erschöpft und wollte zumindest ein bisschen Entspannung finden. Schon während des Badens merkte er, wie er immer wieder weg döste, daher putzte er sich anschließend nur noch schnell die Zähne, zog sich seine lange Schlafhose an, die er, wenn es Herbst wurde, immer raus holte, und machte sich auf ins Bett. Er war so erledigt, dass er tatsächlich auch schnell in den Schlaf fand und wenigstens in dieser Nacht einige Stunden Schlaf sammeln konnte. Am nächsten, wolkenverhangenen Sonntagmorgen wurde er allerdings wieder viel zu früh wach - zu früh, um für das Frühstück aufzustehen, aber zu spät, um weiterzuschlafen. Als Joey so da lag und versuchte, Motivation für einen neuen Tag zu finden, kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch die dichte Wolkendecke. Es versprach, ein regenreicher Tag zu werden - mal wieder. Seine Gedanken wanderten erneut zum vorherigen Tag. Nun hatten sie also ganz offiziell einen Deal abgeschlossen. Einen Deal, zu dem beide nur unfreiwillig bereit waren. Überrascht stellte Joey fest, dass das wohl wieder etwas war, was sie gemeinsam hatten. Welche Gemeinsamkeiten schlummerten wohl noch unter der Oberfläche? Mit einem Kopfschütteln versuchte er, diese absurden Gedanken abzuschütteln. Okay, er musste versuchen, logisch zu denken. Er kam hier ja so schnell nicht weg, also wollte er sich auf die Dinge konzentrieren, die in seiner Hand lagen. Oder zumindest auf die, von denen er das glaubte. Morgen war Montag und eine neue Schulwoche würde anbrechen. Ob die Nachrichten wohl schon die Runde gemacht hatten? Er war sich sicher, irgendwer würde seine Klappe nicht halten können - auch wenn er erstaunlicherweise nicht damit rechnete, dass Kaiba derjenige wäre. Tristan würde er das schon viel eher zutrauen. Ein ungutes Gefühl überkam Joey, als er an die neue Woche denken musste. Er ging nicht sonderlich gern zur Schule, auch wenn er zugeben musste, dass es schön war, von seinen Freunden umgeben zu sein. In diesem Moment bekam er das Gefühl, als ob sich etwas verändert hätte. Etwas in ihm war anders, seit sein Plan so grundlegend schief gegangen war, Kaiba sei Dank. Wobei, war Kaiba hier nicht auch irgendwie ein Opfer der Umstände? Immerhin hatte Tristan ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Genervt, dass er schon wieder über Kaibas Motive nachgrübelte, drehte sich Joey auf den Bauch und drückte sich ein Kissen über den Kopf und die Ohren, in der Hoffnung, damit seine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Doch schon tauchte der nächste Einfall in seinem Kopf auf - er musste nächste Woche auch wieder bei seinem Nebenjob auftauchen. Wie sollte das jetzt eigentlich werden? Er wohnte nicht mehr bei seinem Vater, und da dieser unfähige Nichtsnutz nichts anderes zu tun hatte, als den ganzen Tag zu saufen, war immer er derjenige gewesen, genügend Geld reinzuholen, um die Miete und alle Nebenkosten zu bezahlen. Vielleicht sollte er das Geld, das er in seinem Nebenjob verdiente, von nun an einfach in seine eigenen Taschen stecken statt es seinem undankbaren Vater in den Rachen zu stopfen. Doch sofort meldete sich sein Verantwortungsgefühl zu Wort. Konnte er seinen Vater einfach so fallen lassen, trotz all dem, was er ihm in den letzten Jahren für körperliche und seelische Schmerzen zugefügt hatte? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Gefühl, sich von einer möglichen Lösung zu entfernen. Seufzend gab er auf, dafür gab es jetzt keine einfache Lösung, und auch, wenn er wusste, dass er sich darüber noch Gedanken machen musste, war jetzt vielleicht einfach nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Wie war das jetzt eigentlich, er wohnte bei den Kaibas, aber war er ihnen zu irgendwas verpflichtet? Musste er Miete zahlen? Musste er Kaiba darüber unterrichten, wohin er ging und was er so tat? Darüber würde er mit ihm reden müssen. Was erwartete Kaiba denn jetzt von ihm? Erneut verärgert darüber, dass Mr. Eisklotz schon wieder seine Gedankengänge dominierte, schnappte sich Joey sein Handy, das auf dem Nachttisch lag. Er hatte sich nicht bei Yugi gemeldet, der ihm gestern eine Nachricht nach der anderen geschickt hatte. Er überflog sie und musste feststellen, dass er wissen wollte, ob er noch lebte, ob es ihm gut ging. Das konnte er ihm nicht unbedingt verübeln, nach all dem Aufsehen der letzten Tage. Er schickte ihm nur eine sehr kurze Nachricht - zumindest, dass er lebte und es ihm den Umständen entsprechend gut ging. Er erzählte nichts von dem Deal oder dass er jetzt gewissermaßen im goldenen Käfig der Kaiba-Brüder lebte. Das würde er seinen Freunden noch erzählen müssen, aber im Moment brauchte er einfach ein wenig Ruhe und Abstand, um die Ereignisse der letzten Tage zu verarbeiten. Nach Absenden der Nachricht stand Joey auf - es konnte nicht viel später als halb sieben Uhr morgens sein, und er brauchte dringend Abstand von seinem eigenen Kopf. Er ging in sein Ankleidezimmer, zog sich Sportklamotten und Sportschuhe an und schnappte sich seinen MP3-Player. Ein kurzer Blick aus der Balkontür machte ihm bewusst, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis es anfing zu regnen, doch er musste unbedingt hier raus und den Kopf frei bekommen, und er hoffte, dass eine kleine Runde Joggen ihm dabei behilflich sein konnte. Gleichzeitig konnte er seine Neugierde befriedigen, wie groß der Garten der Kaiba-Brüder tatsächlich sein würde. Er packte seine Schlüsselkarte in die Hosentasche und lief hinaus in den Hausflur. Kaum setzte er einen Fuß in den Garten, klatschte ihm schon der erste Regentropfen gegen die Wange. Davon ließ er sich aber nicht entmutigen, steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und lief los. Schon nach wenigen Minuten war ihm so warm, dass er das Gefühl des Windes und der Regentropfen in seinem Gesicht als sehr angenehm empfand. Er war außerdem unheimlich begeistert von der Größe des Gartens. Das war schon eher ein Park als nur ein Garten. Wo war er hier nur gelandet, in Versailles? Zugegeben, es war wirklich wunderschön hier draußen. Bunte Blätter lagen überall verstreut, von Weitem konnte er sogar schon einen Gärtner ausmachen, der vergebens versuchte, Herr der Lage über die Blätterberge zu werden, aber der Wind machte ihm da einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Joey genoss die frische Luft, vom Regen gesäubert, und lief eine recht große Runde. Als er wieder am Hintereingang ankam, der die Villa mit dem Garten (oder eher dem Park?) verband, war die Sonne schon komplett aufgegangen, auch wenn sie noch immer gegen die dichten Wolken kämpfte und nur wenige Momente des Sieges verbuchen konnte. Er sah auf seinen MP3-Player, der auch eine Uhrzeit anzeigen konnte - es war fast halb acht, er hatte also noch eine knappe halbe Stunde bis zum Frühstück. Er würde sich ein bisschen beeilen müssen, also schnell unter die Dusche und in frische Klamotten. Und als er die Treppen hoch lief und sich auf den Weg zu seinem Apartment machte, hatte er zum ersten Mal seit Tagen das Gefühl, wieder ein bisschen Herr über seine Gedanken zu sein. Und er hoffte, dass das zumindest eine Weile so bleiben könnte… ~~~~ Seto Kaiba verbrachte den Morgen seit dem Aufstehen vor allem damit, über Wheelers merkwürdiges Verhalten von gestern nachzudenken, als er mit einer Ernsthaftigkeit diesen Deal besiegeln wollte, von der er gar nicht wusste, dass ein Straßenköter wie er solche besitzen konnte. Und wie er ihn verarztet hatte nach dem Angriff seines Vaters… dieser Gedanke löste bei ihm eine Gänsehaut aus, auch wenn er nicht feststellen konnte, warum. Genervt davon, dass Wheeler seine Gedanken schon so früh am Morgen vollkommen einnahm, verließ er früh sein Zimmer und lief mehr oder weniger ziellos durch die Gänge. Irgendwer musste ja sicherstellen, dass alles mit Recht und Ordnung zuging in diesem Haus, also konnte so ein kleiner Kontrollgang ja nicht schaden. Als er sein Apartment im ersten Stockwerk verließ, sah er Wheeler zeitgleich aus seinem eigenen herauskommen, das auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges lag. Beide Gänge wurden getrennt durch den Treppenbereich. Wo wollte dieser Köter zu so früher Stunde hin? Wollte er wohl doch schon die Flucht ergreifen? Kaiba versteckte sich in der sicheren Dunkelheit des Flures und beobachtete Wheeler, der in seine Richtung lief. Für einen kurzen Moment war er besorgt, der Kleinere könnte ihn entdecken, aber er schien vertieft in seine eigenen Gedanken. Was hatte er da in der Hand? Sah aus wie ein kleiner MP3-Player, aber wer besaß denn heute noch so ein altmodisches Teil? Er bemerkte, dass der Blonde Sportklamotten an hatte, und als er außer Sichtweite war, folgte er ihm mit vorsichtigen Schritten, um nicht entdeckt zu werden. Er sah Wheeler durch den Hintereingang direkt in den Park laufen, der zum Kaiba-Anwesen gehörte, und beobachtete, wie er das Tempo erhöhte und mit dem Joggen begann. Interessant, das würde er sich notieren und in seinen Ordner packen, man wusste ja nie, wozu ihm diese Information noch nützlich sein konnte. Pünktlich um acht Uhr betrat Kaiba das Esszimmer. Er nahm sofort den verführerischen Geruch frisch gebrühten Kaffees wahr, genau das, was er jetzt brauchte. Auch in der letzten Nacht fand er nicht viel Ruhe, wenn auch etwas mehr als die Nacht davor. Mokuba saß ebenfalls schon an seinem Platz und begrüßte ihn mit einem Lächeln auf dem Gesicht. “Guten Morgen, Seto. Hast du gut geschlafen?” “Hab’ ich, danke”, erwiderte Kaiba ein wenig geistesabwesend. Was hatte der Köter nicht daran verstanden, zu den Mahlzeiten pünktlich zu erscheinen? Exakt fünf Minuten zu spät erschien Wheeler in der Tür, ein wenig aus der Puste und mit noch nassen Haaren. Er hatte sich wohl etwas verkalkuliert in der Zeit, und seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, den er aufsetzte, als er das Zimmer betrat, war ihm das wohl bewusst. “Morgen”, sagte er ein wenig kleinlaut, bevor er sich auf seinen Platz setzte, der direkt gegenüber von Kaiba war. Mokuba saß seitlich von ihnen. “Na, Köter, bist du… uff.” Kaiba wurde sogleich von Mokuba unterbrochen, der unter dem Tisch energisch sein Bein gegen das von seinem großen Bruder stieß. “Morgen, Joey, hast du gut geschlafen?”, fragte Mokuba nun an Wheeler gerichtet. “Ganz… okay würde ich sagen. Es ist alles ein bisschen ungewohnt”, erklärte Wheeler mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Ihm perlten noch immer ein paar Wassertropfen von den Haaren. Kaiba folgten ihrem Weg, vom Haaransatz über die Haarspitzen, über seinen Hals bis in das T-Shirt, in dem sie verschwanden und einen feuchten Fleck hinterließen. Warum nur war er davon so fasziniert, dass er seinen Blick kaum lösen konnte? Das fragte sich Wheeler offensichtlich auch, denn als Kaiba seinen Blick wieder hob und ihm ins Gesicht schaute, konnte er deutlich die Verwirrung des Hundes wahrnehmen. Sofort entzog er sich seinem Blick und widmete sich erneut seinem Kaffee und dem leichten Frühstück, das er sich hatte bringen lassen, bevor Wheeler aufgetaucht war. Auch ein Hunde musste was essen, und sogleich brachte das Küchenmädchen sein Fresschen, zusammen mit einer Tasse Kaffee. Er schüttete einen Schluck Milch hinein und schaute wie besessen in seine Tasse, während sich schwarz und weiß vermischten. Dann nahm er einen tiefen Atemzug, räusperte sich und sah auf. Was kam denn jetzt? “Ich…”, begann er, aber fand scheinbar nicht die richtigen Worte. Er räusperte sich erneut, bevor er wiederholt ansetzte: “Ich wollte nur sagen, dass nächste Woche ja wieder die Schule anfängt.” Wow, hatte er für diesen Satz jetzt Applaus erwartet? Für wie dumm hielt er Kaiba, dass er das nicht wusste? Mit hochgezogener Augenbraue beobachtete er das Hündchen weiter. Das konnte ja wohl nicht alles gewesen sein, was er zu sagen hatte, das wäre selbst für ihn selten dämlich. Also wartete er ab, und siehe da, der Blonde meldete sich erneut zu Wort. “Ja, und ich wollte nur Bescheid geben, dass ich dann auch wieder meinem Nebenjob nachgehen werde. Ich arbeite als Kellner in einem Café in der Nähe der Schule, werde also wohl an einigen Tagen nicht zum Abendessen Zuhau… wieder hier sein.” “Und warum sollte mich das interessieren, Köter?” Man sah Wheeler an, dass ihn das in Rage brachte. “Ich meine ja nur. Der Deal steht, also keinen Grund sich Sorgen zu machen.” In dem Moment musste Kaiba aufpassen, dass er vor Lachen nicht den Schluck Kaffee in seinem Mund über den gesamten Tisch spuckte. “Sorgen? Du glaubst wirklich, ich würde mir Sorgen über dich machen? Bist du sicher, dass du nicht doch schon einen Teil deines Gehirns verloren hast, als du da oben auf dem Hochhaus gestanden hast?” “Ach, leck mich doch, Kaiba”, gab der Hund knurrend hervor und verließ sogleich eiligen Schrittes das Esszimmer. “Seto! Sag mal, was sollte das denn gerade?”, brachte Mokuba ziemlich aufgebracht hervor. “Was denn? Das war doch wirklich kompletter Unsinn, was Wheeler da hervorgebracht hat.” Mokuba massierte sich mit beiden Händen die Schläfen, bevor er erklärte: “Seto, was genau hast du denn nicht verstanden, als ich dir gesagt habe, keine Beleidigungen?” “Das war doch keine…” “Stop! Ich gehe jetzt in mein Zimmer und mache Hausaufgaben. Und du denkst jetzt mal darüber nach, was du anders machen kannst. Mit deinen Beleidigungen und dem wirklich unangebrachten Tonfall Joey gegenüber wirst du zumindest nicht weit kommen!” Und als Mokuba aus dem Zimmer stürmte, schlug er die Tür mit einer Wucht zu, die seinem Ärger besonderen Ausdruck verlieh. Zurück blieb ein Seto Kaiba, der keine Ahnung hatte, was hier eigentlich gerade passiert war. ~~~~ Der Rest des Wochenendes verging ohne weitere Zwischenfälle, wohl auch, weil Joey nur zum Essen aus seinem Zimmer kam. Die restliche Zeit verbrachte er vorrangig mit Musik hören. Was hatte er sich nur dabei gedacht, als er heute Morgen noch gedacht hatte, er könnte mit Kaiba reden. Wie unglaublich arrogant er sich wieder verhalten hatte. Aber das bestätigte nur mal wieder, was für eine Art Mensch der Typ war - ein hochnäsiger, egozentrischer, unausstehlicher Eisblock. Konnte man sowas noch Mensch nennen? Diese Wut begleitete ihn den gesamten restlichen Tag, auch wenn dieser ganz gut angefangen hatte. Das Joggen am Morgen hatte er sehr genossen und nahm sich vor, das öfter zu tun. Aber je später der Tag wurde, desto stärker mischte sich noch eine andere Emotion in sein Gefühlschaos - Nervosität vor dem ersten Schultag nach… dieser Sache. Er wälzte sich die Hälfte der Nacht hin und her und war froh, als der Wecker ihn am Morgen erlöste und die Zeit zum Aufstehen verkündete. Beim Frühstück waren alle still. Kam nur ihm das so vor, oder waren auch die anderen beiden unsicher, was der Tag bringen würde? “Mein Chauffeur wird uns zur Schule fahren, Mokuba wird von einem anderen Fahrer gefahren, weil er noch auf eine andere Schule geht”, ergriff Kaiba das Wort. Joey war so nervös, dass er kaum etwas essen konnte, und hatte jetzt auch keine Lust, wieder einen Streit vom Zaun zu brechen, also nickte er nur. “Ich lasse mich nach der Schule in die Firma fahren, du wirst also allein nach Hause gefahren, Wheeler.” Erstaunt blickte der Blonde auf. Was denn, keine Beleidigungen á la ‘Köter’ heute Morgen? Na gut, sollte ihm ganz recht sein - zumindest ein Morgen in Frieden durfte ihm ja hoffentlich vergönnt sein. Die nächsten sechs Monate würden schon noch genügend Möglichkeiten eröffnen, sich ordentlich zu zoffen. Nach dem Frühstück packte Joey noch schnell seine Schulsachen in seine Tasche, putzte sich die Zähne und machte sich auf dem Weg nach draußen, wo schon die Limousine mit Kaiba drinnen wartete, um sie zur Schule zu fahren. “Wurde auch Zeit”, begrüßte ihn Kaiba, und Joey ließ das Gefühl nicht los, dass er eigentlich noch was sagen wollte, es sich aber verkniff. Was war denn plötzlich in Kaiba gefahren? Er ließ sich doch sonst nicht den Mund verbieten. Vielleicht hatte Mokuba seine Finger im Spiel, Joey war durchaus schon aufgefallen, dass er seinen Bruder immer dann ermahnte, wenn der mal wieder nicht wusste, wie man sich anderen Menschen gegenüber respektvoll verhielt. Da Joey nichts darauf erwiderte und Kaiba so keine Angriffsfläche bot, schwiegen sie die restliche Fahrt über, die keine zehn Minuten gedauert hatte. Als das Auto vor der Schule Halt machte, wurde Joey von einer erneuten, noch stärkeren Welle an Nervosität erfasst. Vorsichtig stieg er aus dem Wagen und sah sich um. Verdammt, er konnte schon die ersten Gruppen Schüler ausmachen, die sich tuschelnd zusammen schlossen, als sie ihn erblickten. Und er wusste sofort, dass dieser Schultag noch seine Herausforderungen mit sich bringen würde. Obwohl, vielleicht tuschelten sie ja nur, weil er soeben mit seinem Erzfeind Kaiba aus einer Limousine gestiegen war? Seufzend machte er sich auf den Weg nach drinnen. Es blieb ihm ja wenig anderes übrig, als das jetzt einfach durchzustehen, und dabei war es eigentlich ziemlich egal, worüber die anderen Schüler insgeheim so flüsterten. Auf dem gesamten Weg in das Schulgebäude konnte er neben den vielen Blicken der anderen Schüler auch die stechenden, eiskalten Blicke des arroganten Saftsacks wahrnehmen, der ihm mit gebührendem Abstand folgte. Die ersten Schulstunden verliefen erstaunlicherweise normal. Niemand sprach Joey wirklich an, wenn man mal von seinen Freunden absah, die sich natürlich riesig darüber freuten, ihn wiederzusehen. Aber auch sie hielten ein bisschen Abstand, wollten sich ihm nicht aufdrängen. Dafür war er ihnen wirklich dankbar - wenn die Zeit gekommen war, würde er sich ihnen gegenüber auf jeden Fall öffnen, aber im Moment brauchte er Zeit, um seine eigenen Gedanken wieder in Ordnung zu bringen. In der großen Mittagspause ging die Gruppe in die Kantine. Kaiba hatte sich abgesetzt und allein an einen separaten Tisch gesetzt, und kein anderer Schüler wagte sich, auch nur in seine Nähe zu kommen. Während Joey mit seinen Freunden an einem Tisch saß und seine Suppe schlürfte, sah er immer wieder zu dem Braunhaarigen rüber. Es war ganz schön anstrengend, seine Launen zu ertragen. Er hatte ihm geholfen, ja ihn sogar fast verteidigt, als sie bei seinem Vater waren, um seine Sachen einzusammeln. Nur um dann kaum später wieder zur alten Höchstleistung zurückzufinden und ihn ununterbrochen abwertend zu behandeln. Joey hatte sich diese Situation auch nicht freiwillig ausgesucht, und wenn Kaiba glaubte, ihn mit diesem Verhalten in sechs Monaten dazu zu bringen, seine Entscheidung zu überdenken, hatte er sich ja wohl geschnitten. Als er merkte, dass Kaiba stirnrunzelnd seinen Blick erwiderte, wendete er sich ab und widmete sich wieder seiner Suppe. “Hey, Leute, geht doch schon mal vor, ich brauche ein bisschen frische Luft”, erklärte Joey nach dem Essen. Er winkte seinen Freunden noch kurz zu, bevor er die große Eingangstür nach draußen nahm. Das Wetter heute war kühler als am Wochenende und es war wieder bewölkt, allerdings blieb der erwartete Regen noch aus. Joey nahm ein paar Schritte auf dem Schulhof, schloss kurz die Augen und genoss den Wind um seine Nase. Erst, als ihm jemand einen kräftigen Stoß verpasste, öffnete er sie erschrocken wieder. “Hey, Wheeler! Wir haben gehört, du hast Todessehnsucht? Na, da können wir doch nachhelfen. Hab’ ich recht, Jungs?” Verdammt, also hatte es sich doch rumgesprochen. Er war umzingelt von einer Bande Halbstarker, die ihn an eine Mauer des Schulgebäudes drängten. Verwirrt fragte Joey: “Was zum Teufel wollt ihr von mir?!” “Ach komm’, Wheeler, wir wollen doch nur ein bisschen spielen.” Und schon raste die erste Faust auf ihn zu. Joey wurde davon überrascht, sodass die Gruppe einen Treffer in seinem Gesicht landen konnte. Na schön, sie haben es ja nicht anders gewollt. Joey würde hier sicher nicht kampflos rumstehen und sich vermöbeln lassen! Also holte auch er zum Schlag aus, rannte auf einen der Typen zu, versuchte, seinerseits Treffer zu landen, aber sie waren einfach zu sehr in der Überzahl. Jedes Mal, wenn er dachte, er konnte einem eins überbraten, warf sich auch schon der nächste dazwischen und hielt in davon ab. Es war zwecklos, aber Joey gab nicht auf. Jeder Treffer, jeder Schmerz, den sie ihm zufügten, brachte ihn nur noch mehr in Rage. Er würde erst aufhören, wenn sie erledigt waren - oder er selbst bewusstlos am Boden lag. ~~~~ Der Köter verspätete sich - schon wieder. Dass er zum Frühstück mal zu spät erschien, darüber konnte Kaiba ja noch gerade so hinwegsehen, aber dass er nun auch zum Unterricht nicht pünktlich erscheinen wollte, machte ihn wütend. Noch ärgerlicher war es aber, dass es ihn überhaupt interessierte, wo der dumme Kläffer sich gerade befand. Er massierte sich kurz die Schläfen in der Hoffnung, diese nervtötenden Kopfschmerzen, die Wheeler ihm bereitete, so schnell wie möglich wieder loszuwerden, als er das Schulgebäude Richtung Schulhof verließ. Sofort nahm er ganz in der Nähe ein paar Stimmen wahr und folgte ihnen in die Richtung, aus der sie kamen. Er beobachtete eine Gruppe Schüler, die offenbar kurzen Prozess mit einem anderen Schüler machten. Er sah genauer hin - und bemerkte, dass es Wheeler war, über den sie sich her machten. In diesem Moment brannte bei Kaiba irgendeine Sicherung durch. Er stürmte auf die Horde Jungs zu, und bevor sie realisieren konnten, was eigentlich gerade passierte, hatte er einen nach dem anderen in die Knie gezwungen. Die Angst in ihren Augen, als sie Kaiba sahen, war nicht zu ignorieren, und eingezogenen Schwanzes traten sie die Flucht an. “Was fällt dir eigentlich ein, Kaiba!”, schnauzte Wheeler hinter ihm, nachdem sich die Gruppe entfernt hatte. Kaiba drehte sich zu ihm um. Wheeler gab ein miserables Bild ab - seine Haut war gerötet, Blut lief ihm aus Mund und Nase, seine Jacke war an einer Stelle eingerissen worden. Noch immer ging sein Atem schnell und auch Kaibas Atem wurde vom Adrenalin beschleunigt. “Wie wäre es mal mit einem ‘Danke’ dafür, dass ich dir gerade die Haut gerettet habe, Wheeler?” Knurrend und zähnefletschend - ehrlich, musste er ihm immer solche Steilvorlagen für die Hundemetaphern liefern? - antwortete Wheeler: “Ich hätte das ja wohl ganz easy ohne dich geschafft! Ich brauche deine Hilfe nicht, Kaiba!” Daraufhin drückte Kaiba ihn erneut gegen die Wand, seine Arme links und rechts von Wheelers Kopf. “Ach ja? Das sah mir aber nicht so aus, und das klägliche Bild, das du hier gerade abgibst, bestätigt mir meinen Verdacht ja wohl sehr gut!” Kaiba hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden, die Beherrschung zu verlieren. Wie konnte der Köter so dumm sein und sich so in Gefahr begeben, wenn doch offensichtlich war, dass er keine Chance hatte? Eisblaue Augen duellierten sich mit goldbraunen. Er war ihm gefährlich nahe und er konnte Wheelers feuchten Atem in seinem Gesicht spüren, aber keiner wich auch nur einen Zentimeter zurück. Es lag etwas intensives in Wheelers Blick, die Wucht seiner Emotionen führte zu einer regen Bewegung seiner Augenfarbe, die mal strahlend gold und mal mittelbraun war, und alles dazwischen. Kaiba konnte nicht wegschauen, und es sah so aus, als ginge es Wheeler ähnlich. “Hey, Joey! Was ist passiert?” Sofort, als er die Stimmen des ‘Kindergartens’ vernahm, löste er den Blick von Wheeler, drehte sich um und entfernte sich schnellen Schrittes. “Wir sind schnell aus der Klasse gekommen, um nach dir zu sehen. Hat er dir das angetan?”, hörte er Gardner sagen. Er blieb für einen Moment stehen, um Wheelers Reaktion abzuwarten, und als sehr sich umdrehte, sah er, dass Wheeler den Kopf schüttelte. Besser so, er würde es nicht wagen, ihm dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben. Das hatte er schön selbst zu verantworten. Und trotz dessen, dass Kaiba sich schon erheblich von der kleinen Truppe weg bewegt hatte, konnte er dennoch feststellen, dass des Köters Blick aus einer Mischung aus Ärger, Verwirrung und… Sehnsucht (?) bestand. Und er war genauso intensiv wie vorher, als sie noch so nah beieinander gestanden hatten. Als ihn die Erinnerungen daran packen wollten, musste er sich abwenden. Was zur Hölle war da gerade passiert? Kaiba war froh, als der Schultag endlich zu Ende war und er in seine Firma gefahren wurde. Er brauchte unbedingt ein anderes Umfeld, musste sich mit logischen Dingen beschäftigen, die er leicht analysieren konnte. Kaum angekommen, fuhr er seinen Computer hoch und öffnete die Excel-Liste, mit der er sich zuletzt beschäftigt hatte und die ihm eine Übersicht über die Gewinne der einzelnen Produktsparten gab. Eine Stunde später hatte er so gut wie nichts erledigt. Immer wieder drifteten seine Gedanken zu dem Köter ab, und er wollte partout nicht darauf kommen, warum. Er konnte überhaupt nicht verstehen, was da auf dem Schulhof passiert war. Er wusste nur, dass ihn seitdem ein Paar goldbrauner Augen in seinen Gedanken verfolgten. Mit einem Stöhnen gab er auf, er würde sich heute nicht mehr auf die Zahlen konzentrieren können, weshalb er beschloss, nach Hause zu fahren. Vielleicht konnte er da, in der Ruhe seines Arbeitszimmers, noch ein bisschen weiterarbeiten. Zuhause und in seinem Arbeitszimmer angekommen, fuhr er gerade seinen Laptop hoch, als sein kleiner Bruder Mokuba den Kopf in die Tür steckte. Was war das mit dieser neuen Angewohnheit, ihn in seinem Arbeitszimmer zu stören? “Hey, Seto, was ist denn in der Schule passiert? Joey sah ja furchtbar aus, mit all den Pflastern und so im Gesicht!” Vermutlich hatte der ‘Kindergarten’ ihn zur Schulkrankenschwester geschickt, die geflickt hat, was geflickt werden konnte. “Der Köter hat sich mit einem Rudel Wölfe angelegt und den Kürzeren gezogen. Ich bin dazwischen gegangen und durfte mir dann noch Vorwürfe anhören”, beantwortete Kaiba wahrheitsgemäß. Seufzend setzte sich Mokuba auf den Stuhl direkt vor seinem Schreibtisch. Warum auch immer er ihn dort mal platziert hatte, wenn er Geschäftspartner erwartete, fanden die Meetings in aller Regel in der KaibaCorp. statt. “Also echt, ihr habt euch jetzt beide für diesen ominösen Deal entschieden - und ich sage nicht, dass ich das unbedingt gut finde, was du dir da ausgedacht hast - aber ich hab’ das Gefühl, KEINER von euch beiden tut auch nur ein bisschen was dafür, dass es funktioniert, vor allem du nicht!” Kaiba war genervt ob der erneuten Anschuldigungen seines kleines Bruders. “Und was, schlägst du vor, soll ich stattdessen tun? Ich hab ihn doch aus der Misere gerettet!” Mokuba schnappte noch mal tief Luft, bevor er sagte: “Vielleicht müsst ihr beide einfach mal raus aus eurer gewohnten Umgebung. Keine Ahnung, mal was anderes sehen und was anderes machen. Ihr seid so daran gewöhnt, immer zu streiten, und die Orte, an denen ihr normalerweise seid, ziehen diesen Streit automatisch an - weil ihr es immer so macht und die Orte möglicherweise unbewusst damit verbindet. Vielleicht fragst du ihn einfach mal, was er sonst so gerne macht, wo er gern hingeht, und dann macht ihr einen Ausflug, vielleicht am Wochenende oder so. Hey, schau mich nicht so skeptisch an, einen Versuch wäre es doch mal wert.” Nach diesen ausführlichen Schilderungen seines Bruders konnte Kaiba nur mit dem Kopf schütteln. Wenn das so weiterging, musste er aufpassen, dass er keine Gehirnerschütterung davontrug, von den ständigen, hektischen Bewegungen seines Kopfes. ~~~~ Es war schon fast Zeit für das Abendessen. Warum war Joey so nervös? Tatsächlich war er immer noch sehr verwirrt. Was war da zwischen ihnen passiert, heute auf dem Schulhof? Joey war so unfassbar sauer, als Kaiba sich eingemischt hatte. Klar lag er hinten, aber er war ja wohl auf einem guten Weg, die Bande fertig zu machen! Aber dann, als sie weg waren… dieser intensive Augenkontakt… was zur Hölle war das? Er wusste überhaupt nicht mehr, was er fühlen sollte. Klar, die Wut war noch da, aber da war noch mehr… und je mehr er darüber sinnierte, was dieses ‘Mehr’ war, desto weniger konnte er es greifen. Aber es hatte sich was verändert, es lag noch mehr in der Luft als Wut. Wenn er nur verstehen würde, was… Was auch immer es war, er musste versuchen, es zu vergessen. Vermutlich hatte er sich das nur eingebildet, und er würde ganz sicher nicht ein Sterbenswörtchen darüber in Kaibas Gegenwart verlieren. Der würde sich ja eh nur wieder über ihn lustig machen, und das konnte er nach diesem Tag nun wirklich überhaupt nicht gebrauchen. Da es Zeit für das Abendessen war, schleppte sich Joey aus seinem Apartment in Richtung Esszimmer. Er ließ sich Zeit, dieses Mal war er auch wirklich überpünktlich. Als er die Tür in den Essensraum öffnete, war er erleichtert, dass er der Erste war. Er nahm auf seinem gewohnten Stuhl platz, sodass er wie immer mit dem Rücken zur Tür saß. Das Küchenmädchen brachte ihm sogleich ein Glas Wasser. Er musste zugeben, es war ziemlich angenehm, sich von vorne bis hinten bedienen zu lassen. Wenn man dafür aber erst zu einem arroganten Eisklotz werden musste, um sich das leisten zu können, konnte er getrost darauf verzichten. Er hörte, wie die Tür geöffnet wurde, drehte sich aber nicht um. Mokuba und Kaiba kamen zeitgleich zur Tür hinein und setzten sich auf ihre Plätze. Kaibas Blick war kurz auf ihn gerichtet und irgendwie… undurchdringlich. Als Mokuba das Wort ergriff, löste er seinen Blick schnell wieder von Joey. “Wie geht es dir, Joey? Hast du Schmerzen?” Joey setzte ein Lächeln auf, aber es erreichte seine Augen nicht. “Nein, nein, alles gut, ist halb so wild.” Dann wurde es wieder still im Raum, als das Essen aufgetischt wurde. Es war wie immer köstlich und alle genossen die Mahlzeit. Als die Drei fertig waren, wurde der Tisch wieder abgeräumt, aber es blieb still. Joey beobachtete, wie Mokuba immer wieder fordernd zu seinem Bruder blickte. Hatte er irgendwas verpasst? Als Joey schon kurz davor war, sich für die Nacht zu verabschieden, begann Mokuba erneut ein Gespräch. “Hey Joey, kann ich dich mal was fragen?” “Klar, was willst du wissen?” “Na ja, weißt du, ich frage mich… was machst du so, in deiner Freizeit meine ich? Bist du gerne irgendwo draußen?” “Ähm…” Joey war einen Moment überfordert mit der Frage und es überkam ihn erneut das Gefühl, hier irgendwas nicht mitbekommen zu haben. Doch das freundliche Lächeln von Mokuba machte es ihm einfacher, seine Frage zu beantworten. “Ich hab jetzt keine großen Hobbys oder so. Ich bin eigentlich immer viel mit meinen Freunden unterwegs. Außerdem gehe ich gern joggen, da kriege ich den Kopf frei. Oder auch einfach nur spazieren.” “Hast du einen Lieblingsort, an den du gerne gehst?”, fragte er interessiert nach. “Na ja, wenn ich Zeit habe oder Ferien sind, fahre ich gern ans Meer. Das ist ja nicht so weit weg von hier, man ist mit Zug und Bus in knapp zwei Stunden da. Im Sommer kann man da auch richtig schön schwimmen gehen, das finde ich immer toll, aber auch im Herbst oder Winter ist es da wunderschön, weil nicht so viele Menschen da sind und man einfach die Seele baumeln lassen kann.” “Wir haben übrigens ein Schwimmbad im Keller, falls du auch mal im Winter schwimmen gehen willst”, gab Mokuba augenzwinkernd zu. Doch bevor Joey auch nur ein Wort erwidern konnte, stand der ältere Kaiba-Bruder auf und sprach mit großer Entschlossenheit: “Wir machen am Samstag einen Ausflug, Wheeler. Die Details gebe ich dir in den nächsten Tagen. Also halte dich bereit.” Und mit diesen Worten rauschte der Braunhaarige aus dem Raum und hinterließ einen verblüfften Joey Wheeler und einen wissend lächelnden Mokuba Kaiba. Jetzt war er sich ganz sicher, dass hier was im Busch war, auch wenn er noch immer überhaupt keinen Plan hatte, was hier vor sich ging. Konnte dieser Tag eigentlich noch verrückter werden? Kapitel 4: Rescue me... from my memories ---------------------------------------- Die Woche verging langsamer als Joey lieb war. Nachdem Kaiba am Montag mehr oder weniger aufbrausend - aus welchen Gründen auch immer - aus dem Esszimmer gestürmt war, hatte er bis Donnerstag Abend warten müssen, ehe der Braunhaarige so gütig war, ihn in seinen Plan für einen Ausflug einzuweihen. Okay, gut, das konnte auch daran liegen, dass sie sich im Wesentlichen nur zum Frühstück gesehen hatten, da Joey am Dienstag und Mittwoch im Café gearbeitet hatte und erst nach der normalen Abendessenzeit Zuhau… in der Villa war.   Er wusste noch, dass er tatsächlich sehr überrascht war, als Kaiba ihn einweihte - er schlug vor - wobei er eine Widerrede nicht zugelassen hätte - am Samstag ans Meer zu fahren. Joey war deshalb so überrascht, weil Kaiba ihm offensichtlich zugehört hatte. Dass er das noch erleben durfte, dass irgendwas, was er sagte, zu ihm durchdrang, war wirklich erstaunlich!   Wie auch immer, Joey war tatsächlich ziemlich glücklich über diesen Vorschlag, er war schon lange nicht mehr am Strand gewesen. Da sie gerade beim Abendessen saßen, als Kaiba das Vorhaben erläuterte, fragte Joey Mokuba, ob dieser auch mitkommen wollte. Dieser lehnte allerdings dankend ab, wieder mit einem wissenden Schmunzeln auf den Lippen. Langsam ging Joey das wirklich auf den Keks - entweder, Mokuba rückte mit der Sprache raus, oder er konnte sich dieses Grinsen sonstwo hinschieben.   Und jetzt lag Joey in seinem Apartment, in diesem unglaublich bequemen Bett, und starrte Löcher in die Luft. Sein Handy zeigte 2:35 Uhr und er musste sich sehr über sich selbst wundern. Warum war er so aufgeregt? Er redete sich ein, dass er eben lange nicht am Meer war und sich einfach sehr darauf freute, so wie ein Kind sich auch auf seinen Geburtstag freute. Aber war es wirklich nur naive, kindliche Freude, oder steckte mehr dahinter?   Irgendwann musste er es tatsächlich geschafft haben, einzuschlafen. Allerdings klingelte schon um sechs Uhr wieder sein Wecker - die Fahrt würde zwei Stunden dauern und sie wollten früh los, um möglichst nicht noch in einen Stau zu geraten. Noch sehr verschlafen rieb sich Joey die Augen und stand auf. Er ging ins Bad, um eine kurze Katzenwäsche durchzuführen, bei der er sich auch kaltes Wasser ins Gesicht spritzte in der Hoffnung, ein bisschen mehr Leben in seinen Körper zu bekommen. Das Wasser half nur bedingt, aber beim erneuten Gedanken an den bevorstehenden Tag, war er plötzlich hellwach. Er zog sich schnell eine dunkle Jeans, einen dicken Pullover und seine Lieblingssneaker an, bevor er sich auf den Weg zum Frühstück machte.   Kaiba war natürlich vor ihm im Esszimmer, was auch sonst. Von Mokuba war allerdings keine Spur, klar, der Kleine wollte wahrscheinlich, wie es sich für einen ordentlichen Samstagmorgen gehörte, ausgiebig ausschlafen. Kaiba hingegen sah so wach aus, als hätte er drei Tage durchgeschlafen - dann hatte ja wenigstens einer von ihnen ausgiebig Schlaf gefunden in der letzten Nacht.   “Morgen”, sagte Joey, als er den Raum betrat und sich auf seinen Platz setzte. Kaiba blickte nur kurz von der Tageszeitung auf, die er gerade las, murmelte ein kurzes ‘Morgen’ zurück und widmete sich dann wieder den Nachrichten und seinem Kaffee. Ganz schwarz - wohl doch keine so gute Nacht? Mokuba hatte ihm vor ein paar Tagen verraten, dass Kaiba seinen Kaffee eigentlich am liebsten mit einem Schluck Milch trank, außer, er hatte sehr schlecht geschlafen. Wieder etwas, das sie gemeinsam hatten… verdammt.   Schweigend widmete sich Joey seinem Frühstück. Lustlos stocherte er in seinem Rührei rum - es war zwar lecker, aber er war einfach zu nervös um aufzuessen. Was war nur los mit ihm? Die Spannung im Raum war außerdem zum Zerreißen gespannt, so als ob beide darauf warteten, dass etwas passierte, oder dass jemand etwas sagte. Aber was gab es schon zu sagen?   Energisch klappte Kaiba die Zeitung zusammen, legte sie zur Seite und blickte Joey an. “Bist du fertig?”, fragte er, vielleicht ein My zu gebieterisch. In Kaibas Blick lag etwas, das ihm sagte, dass er es so harsch gar nicht sagen wollte. Doch Joey nickte nur. “Klar, wir können los, ich hol’ nur noch meinen Mantel.” Auch Kaiba nickte. “Gut, wir treffen uns dann in zehn Minuten am Eingang.”   Als Joey, warm eingepackt, wenige Minuten später an der Eingangstür stand, stand Kaiba schon da - in einer dünnen Regenjacke. “Äh, Kaiba, du weißt schon, dass wir ans Meer fahren und wir November haben, oder?”   Augenrollend erwiderte er: “Spuck’ schon aus, was du sagen willst, Köter.” Ah, da war wieder der alte Kaiba. Irgendwie beruhigte Joey das, nahm es doch ein bisschen von der unsicheren Spannung des restlichen Morgens. Auch wenn er selbstverständlich nicht mit seiner Ausdrucksweise einverstanden war, aber für jetzt würde er das mal durchgehen lassen.   “Na ja, am Meer ist es deutlich kälter als hier in der Stadt. Du solltest dir lieber was Wärmeres anziehen.”   Mit einem erneuten Augenrollen setzte sich Kaiba in Bewegung, zurück in Richtung erster Stock, wo sich neben Joeys auch das Apartment des großen Eisklotzes befand. Joey wusste nicht so recht, ob er einfach warten sollte, aber stattdessen entschied er sich, ihm einfach zu folgen. Als Kaiba die Zimmertür öffnete, zögerte Joey für einen Moment.   “Was ist, Hündchen, willst du da Wurzeln schlagen?” Hielt Kaiba ihm da gerade wirklich die Tür für sein eigenes Apartment auf? Joey wartete einen Moment ab, doch seine Neugierde siegte und er folgte Kaiba in sein Apartment. Sofort wurde er erschlagen - es sah ganz anders aus als seines, auch wenn der Schnitt und die Anzahl der Zimmer ähnlich war, so glich es sich nicht in der Gesamtgröße und Ausstattung. War sein Apartment doch eher spartanisch und unpersönlich eingerichtet, so war das von Kaiba deutlich luxuriöser ausgestattet. Und auch persönlicher. Er erkannte Bilder von seinem allerliebsten Lieblingsdrachen mit dem eiskalten Blick, aber auch ein kleines Foto von ihm und Mokuba, als sie noch Kinder waren. Während Kaiba in seinem Ankleidezimmer - das wohlgemerkt komplett voll mit Klamotten war - nach einer dickeren Jacke suchte, betrachtete Joey das vor ihm hängende Foto. Wie war er wohl so, als Kind? War er immer schon so… stur, arrogant? Was hatte ihn zu dem werden lassen, der er war?   Seine Gedanken wurden unterbrochen, als Kaiba sich wenige Meter hinter ihm räusperte. Joey drehte sich um und nickte zufrieden lächelnd. Kaiba hatte sich eine dunkelblaue Winterjacke angezogen, die perfekt zu seiner Augenfarbe… okay, stop! Aus! Oh man, beschimpfte er sich gedanklich gerade selbst so, wie man einen Hund schimpfen würde? Vermutlich setzte ihm der Schlafmangel doch mehr zu als er zugeben wollte.   Er schüttelte seine Gedanken beiseite. “Perfekt, dann kann’s ja jetzt losgehen.” Und damit stolzierte er erhobenen Hauptes aus dem Apartment, bevor sich noch weitere, dusselige Ideen in seinen Kopf einbrennen konnten.   Draußen wartete nicht, wie Joey erwartet hatte, die Limousine samt Fahrer. Stattdessen ging Kaiba zielstrebig auf einen schwarzen Audi A8 zu und stieg auf der Fahrerseite ein. Joey nahm auf dem Beifahrersitz platz und fragte überrascht: “Heute gar keine Limo mit Chauffeur?”   Man konnte Kaiba ansehen, dass er mal wieder einen doofen Spruch auf den Lippen hatte, aber aus welchen Gründen auch immer, entschied er sich für eine ziemlich normale Antwort. “Nein, heute nicht. Ich hatte mir sowieso vorgenommen, öfter mal selbst zu fahren, und das hier ist mein Lieblingswagen.” Und während sich Joey anschnallte, war er verblüfft darüber, wie viel er allein durch diesen einen Satz über Kaiba erfahren hatte.   “Wusste gar nicht, dass du schon einen Führerschein hast”, sagte Joey verwundert. Kaibas Blick blieb weiter auf die Straße gerichtet, als er antwortete: “Ich hab’ mit der Fahrschule angefangen als ich 17 war, und einen Tag nach meinem 18. Geburtstag die Prüfung abgeschlossen.”   “Hast du nicht irgendwann Ende Oktober Geburtstag? Heißt das, du bist noch Fahranfänger?” Joey spielte die Bestürzung natürlich nur, aber er musste die Stimmung auflockern, irgendwie normaler machen, damit sich die Spannung des Morgens sich wenigstens ein bisschen löste.   Als Kaiba an einer roten Ampel anhielt, schaute er Joey finster an. “Das nennt man Naturtalent, Köter. Ich bin sicher kein blutiger Anfänger, in überhaupt nichts.”   Joey hob abwehrend die Hände und musste lächeln. “Okay, okay, schon gut, und jetzt Blick wieder auf die Straße. Ich werde zwar im Januar auch 18, habe allerdings nicht vor, so schnell meinen Führerschein zu machen. Bin mir aber trotzdem ziiiiiemlich sicher, dass ‘Grün’ bedeutet, dass man fahren darf.” Frech grinsend sah er Kaiba an, als dieser kurz vor sich hinfluchte und dann die Fahrt wieder aufnahm. Joey war froh, dass die Stimmung wieder zur Normalität zurückgefunden hatte. Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster und merkte plötzlich, wie ihn die Müdigkeit einholte. Er würde nur kurz die Augen schließen, ja, nur für einen kurzen Augenblick...   “Hey, Wheeler, aufwachen, wir sind da.” Verschlafen blinzelte Joey, als er Kaibas Stimme ganz nah an seinem Ohr wahrnahm. Er musste wohl doch eingeschlafen sein. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen, Kaiba noch immer ein wenig zu ihm rübergelehnt, um ihn aufzuwecken. Für einen kurzen Moment schauten sich die beiden einfach in die Augen, eisblau traf auf goldbraun. Und da war sie wieder, diese Spannung, wie vor wenigen Tagen auf dem Schulhof. Joey hielt das nicht aus, daher streckte er sich und öffnete die Tür ins Freie.   Sofort nahm er den salzigen Geruch des Meeres wahr. Der Himmel war wolkenverhangen, aber es sah nicht so aus, als würde es in der nächsten Zeit zu regnen beginnen. Der Wind war hier stärker als in der Stadt, das konnte er schnell erkennen, und er war sich sicher, dass Kaiba nun froh darüber war, sich doch noch für eine dickere Jacke entschieden zu haben.   “Also”, kam es vom Braunhaarigen, “was willst du machen?” Joey war überrascht, dass er eine Wahl hatte und der Andere nicht schon alles bis auf die Minute genau durchgeplant hatte. Aber heute wollte er sich einfach mal darauf einlassen. Wer weiß, vielleicht würde es ja tatsächlich ein richtig schöner Tag werden? Auch wenn das mit seinem Erzfeind an seiner Seite nur schwer vorstellbar war.   Joey stützte sich mit seinen Unterarmen auf einer ungefähr brusthohen Mauer ab. Vor ihm lag der Strand, der Zugang zum Meer gewährte. Ein hölzerner Weg führte über einen kleinen Hügel direkt zum Sand, und er konnte von weitem schon den Steg erkennen, der mitten ins Meer führte. Kaiba konnte das nicht wissen, weil er das nicht erzählt hatte, aber es war exakt dieser Steg, den er immer aufsuchte, wenn er hier war. Eigentlich würde er das für einen ziemlich großen Zufall halten, aber hier hielten eben auch die meisten Busse, sodass auch Joey meist über diesen Zugang den Strand erreichte. Joey sah auf sein Handy, es war noch früh, erst kurz vor neun Uhr morgens und es waren nur wenige Menschen unterwegs. Schnell schoss er ein kurzes Bild vom Horizont und verewigte den wunderschönen Strand und das wellenschlagende Meer auf einem Foto. Dann drehte er sich mit einem seligen Lächeln zu Kaiba um - wo auch immer das gerade herkam - und erklärte: “Lass uns einfach ein bisschen zum Strand gehen und spazieren gehen. Es sind noch nicht so viele Menschen unterwegs und es ist ein tolles Gefühl, den Strand fast ganz für sich allein zu wissen.”   Kaibas Blick blieb undurchdringlich, aber er nickte zustimmend, steckte seine Hände in die Taschen und wartete, bis Joey den ersten Schritt machte. Irgendwas war heute anders an Kaiba, er konnte nur nicht richtig sagen, was genau es war. Er war heute… ja, fast schon ertragbar. Und aus ihm unerfindlichen Gründen machte Joey das ziemlich glücklich. Eigentlich war dieser Tag schon jetzt schöner als so viele andere Tage, die er in letzter Zeit hatte vorbeiziehen sehen. Er würde es niemals laut zugeben, aber Kaibas Vorschlag, einen Tag am Meer zu verbringen, war wirklich ein ziemlich perfekter Einfall.   Joey setzte sich in Bewegung und lief den hölzernen Weg bis runter zum Strand, bis er Sand unter seinen Schuhsohlen spürte. Für einen kurzen Moment hielt er inne, schloss die Augen und atmete tief die salzige, kühle Meeresluft ein. Der Wind machte aus seinen Haaren ein absolutes Chaos, aber das war ihm im Moment egal. Er fühlte sich irgendwie leicht und befreit.   Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander, jeder in seinen Gedanken und mit den Händen in den Jackentaschen. Es war so kühl, dass sich vor ihren Mündern eine kleine feuchte Luftwolke bildete, wann immer sie ausatmeten. Joey bemerkte, dass Kaiba seinen Schritt, ja selbst seinen Atem, an die Geschwindigkeit von ihm selbst anpasste, und irgendwas daran fand er unheimlich beruhigend.   Nach einer Weile blieb Joey stehen. “Hey, könnten wir zurück zu diesem Steg da vorne gehen? Direkt da, wo wir zum Strand gegangen sind?”   “Na klar”, erwiderte der Größere, und Joey war erneut erstaunt, wie zahm er heute war. Aber ihm sollte es nur recht sein, er hoffte, dass dieser Tag so blieb.   Joey war der Erste, der einen Fuß auf den Steg setzte. Die Wellen, die sanft an die Stelzen schlugen, waren vage zu merken, und Joey fiel das Geräusch des knarrenden Holzes auf mit jedem Schritt, den er tat. Je weiter er auf den Steg ging, desto windiger wurde es um seine Nase, aber das störte ihn gar nicht. Vorn am Steg angekommen, und trotz der Tatsache, dass es recht kühl war, setzte sich Joey hin und blickte auf das offene Meer. Kaiba blieb einige Schritte hinter ihm stehen, und Joey konnte in seinem Blick eine gewisse Unsicherheit erkennen.   “Du kannst dich ruhig neben mich setzen, ich beiße nicht”, erklärte der Blonde frech grinsend. Er hörte ein kurzes Lachen von Kaiba - allerdings keines der arroganten, gehässigen Sorte, sondern tatsächlich ein echtes Lachen, wenn es auch nur kurz war. “Da wäre ich mir nicht so sicher, Streuner.” Anschließend nahm Kaiba neben ihm platz und sie schauten gemeinsam auf das offene Meer, blickten in den Horizont.   Irgendwann redete Joey einfach darauf los, verlieh seinen Gedanken einfach Ausdruck, ohne zu viel darüber nachzudenken. Er konnte nicht sagen, warum er das tat, und schon gar nicht, warum gegenüber Kaiba. Aber es fühlte sich einfach richtig an, und der Wind um seine Nase und der Geruch des salzigen Meeres verliehen ihm irgendwie eine Leichtigkeit, die es ihm einfach machten, seine Gedanken auch laut auszusprechen. “Weißt du, ich war hier früher schon, genau hier, als mein Dad und meine Mum noch zusammen waren. Meine Schwester Serenity war noch ganz klein, aber sie gluckste immer so fröhlich rum, wenn wir hier waren. Ich glaube, ihr würde es hier auch heute noch ganz gut gefallen. Man, das fühlt sich an, als wäre es Jahrhunderte her.”   “Wie alt warst du?”   “Als wir das letzte Mal als Familie hier waren? So ungefähr acht oder neun. Kurz darauf ließen sich meine Eltern scheiden, Serenity ging zu Mum und ich, na ja, ich musste bei Dad bleiben. Das hatten sie so vereinbar, die Kinder quasi untereinander aufzuteilen.”   “Hast du denn noch Kontakt zu Serenity?”   “Ja, schon, auch wenn sie nicht mehr in Japan lebt. Meine Mum ist zurück nach Amerika gegangen, da kommt sie nämlich ursprünglich her. Und natürlich hat sie Serenity mitgenommen. Wir texten viel und telefonieren öfter, aber… na ja, es ist nicht dasselbe. Es hat sich einfach sehr viel verändert, seit damals.”   Für einen kurzen Moment war es wieder still, und Joey war wirklich verblüfft. Hatten sie jemals ein so zivilisiertes, ernsthaftes Gespräch geführt, ohne einander anzukeifen? Was auch immer dazu führte, dass es jetzt so war, wie es war - er war sehr glücklich darüber.   “Ich finde das grausam, Geschwister auseinander zu reißen. Mokuba und ich wurden von einer Familie zur nächsten gereicht, bevor wir zu Gozaburo kamen, aber wir waren immer zusammen. Das hat uns Halt gegeben.”   Wow. Joey sah Kaiba mit Erstaunen an. Er schien geistesabwesend, fast als befände er sich gerade an einem ganz anderen Ort. “Danke”, sagte Joey.   Da schien Kaiba wieder in der Realität anzukommen, runzelte die Stirn und schaute Joey ebenfalls an, doch statt Erstaunen konnte man klar seine Verwirrung ablesen. “Wofür bedankst du dich?”   Schulterzuckend antwortete Joey: “Dass du mir das erzählt hast. Ich hätte nicht gedacht, dass du mir gegenüber jemals was Persönliches von dir erzählen würdest.”   Kaiba drehte seinen Kopf wieder Richtung Meer, aber Joey konnte dennoch ganz deutlich das Augenrollen erkennen. “Ist doch keine große Sache. Ich bin nur auf das eingegangen, was du gesagt hast.”   “Ich bin nur überrascht, das ist alles, was ich sagen wollte. Das ist was Positives, Kaiba, kein Grund, gleich in die Defensive zu gehen.”   Joey konnte sehen, wie Kaiba kurz die Augen schloss und einen tiefen Atemzug nahm. Wahnsinn, er schien sich heute wirklich extrem zusammen zu reißen, eigentlich hatte er jetzt mit einem fiesen Konterspruch gerechnet. Aber - nichts. Kaiba blieb still, selbst als er die Augen wieder öffnete. War das hier wirklich derselbe Mensch, der ihn vor ein paar Tagen noch so von oben herab behandelt hatte?   Erst jetzt dachte der Blonde über das nach, was Kaiba ihm gerade anvertraut hatte. Es stimmte, Mokuba und er waren immer zusammen gewesen, und man konnte das starke Band zwischen ihnen spüren, selbst jetzt, obwohl Mokuba gar nicht anwesend war. Joey hatte in der Vergangenheit schon oft gesehen, wie sehr er Mokuba schützen wollte. Er war immer für ihn da und würde niemals zulassen, dass ihm weh getan würde.   Joeys Neugierde wurde geweckt. “Wie war das, als ihr von Gozaburo adoptiert wurdet?” Er wusste, er ging ein kleines Risiko mit seiner Frage ein, die fast schon vertraute Stimmung zwischen ihnen zu zerstören. Aber ein Teil von ihm wollte die Grenzen ausloten, sehen, wie weit er gehen beziehungsweise fragen konnte. Und dennoch hoffte er, dass es der Stimmung keinen Abbruch tun würde.   Schulterzuckend antwortete der Braunhaarige: “So, wie bei allen anderen Adoptionsversuchen vorher auch. Wir wussten, dass auch das nur temporär sein könnte, wir wieder zurück geschickt werden könnten, also haben wir uns nicht viel dabei gedacht. Bis klar war, dass Gozaburo uns nicht mehr würde gehen lassen.”   “Und warum wurdet ihr vorher von einer Familie zur nächsten gereicht?”   Joey nahm ein kurzes Seufzen von Kaiba wahr, ehe er antwortete: “Die meisten fühlten sich mit zwei Adoptivkindern gleichzeitig wohl überfordert und entschieden sich daher, uns wieder abzuschieben und ein anderes Kind zu adoptieren. Irgendwo ohne Mokuba zu bleiben, kam für mich nicht in Frage, und ich konnte mich durchsetzen - jedes Mal. Bis Gozaburo kam und klar war, dass er uns nicht abschieben würde.”   Diese Durchsetzungskraft war heute noch zu spüren, dachte Joey in diesem Moment. Er konnte sich gut vorstellen, wie viel Kraft er dafür aufbringen musste, als er noch so klein war, aber er war auch beeindruckt von dem unbedingten Willen, nirgendwo ohne Mokuba hinzugehen. Er wünschte sich, das wäre ihm damals bei Serenity auch so geglückt.   Er schob seine Gedanken beiseite. “Als du mich aufgesammelt hast, da auf dem Hochhaus vor einer Woche… da hast du gesagt, du wüsstest, wie es ist, in schwierigen Verhältnissen aufzuwachsen. Oder so ähnlich. Ich kann mir das so schwer vorstellen. War Gozaburo denn nicht reich? Am Ende bist du doch nur in dieser Position, weil er euch adoptiert hatte, oder?”   Als Joey die pulsierende Ader an Kaibas Hals auffiel, ergänzte er schnell noch: “Hey, nicht sauer werden, ich meine das nicht so wertend wie es vielleicht rüberkam. Ich will es nur verstehen.”   Und tatsächlich schien sich Kaiba schnell wieder zu beruhigen, denn er erzählte: “Geld allein ist nicht alles, Hündchen. Er hatte Macht über uns, und die wusste er zu nutzen.” Es schien, als wüsste Kaiba in dem Moment nicht, wie weit er gehen konnte, oder besser sollte, wie viel er preisgeben wollte. Vorsichtig und mit fast flüsternder Stimme fragte Joey deshalb nach: “Was hat er getan?”   Mit rätselhaftem Blick, den Joey nicht richtig zu deuten wusste, sah Kaiba ihn an. Er konnte ganz klar den inneren Kampf sehen, den Kaiba gerade mit sich selbst kämpfte. “Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst. Wirklich, ich verstehe das. Du hast heute schon so viel…”   “Mokuba hat er nichts angetan, Gott sei Dank, dafür hätte ich ihn nämlich an Ort und Stelle umgebracht, wenn er ihm auch nur ein Haar gekrümmt hätte”, unterbrach Kaiba Joey. Der Blonde setzte sich ein bisschen mehr zu Kaiba gewandt hin und signalisierte ihm so, dass er ihm zuhörte, ohne unangemessen aufdringlich zu werden. Das schien für Kaiba der letzte Ausschlag zu sein, weiterzuerzählen. “Bei mir sah die Sache ein wenig anders aus. Ich meine, er hat Druck gemacht, wollte immer alle meine Schulsachen kontrollieren, sowas. Das fand ich auch gar nicht so schlimm, wenn auch nervig. Aber er war sehr streng. Wenn auch nur ein Minus vor der Eins stand, konnte ich damit rechnen, dass ich dafür bestraft werden würde. Manchmal sperrte er mich im Keller ein, manchmal war es eine Backpfeife, ab und zu wurde er auch noch etwas gewalttätiger. Das war für Außenstehende aber unmöglich zu sehen, weil er sehr genau wusste, was er da tat, und ich tat mein Übriges, um es möglichst zu verschleiern. Er stand in der Öffentlichkeit, wenn davon auch nur ein bisschen was nach außen gedrungen wäre, wäre die Strafe deutlich schlimmer gewesen - für mich, nicht für ihn, versteht sich. Und wenn Mokuba mal wieder zu wild gespielt hatte und er ihn auch bestrafen wollte, bin ich dazwischen gegangen. Wir hatten quasi einen unausgesprochenen Deal - ich konnte die Strafe von Mokuba auf mich nehmen, musste dann aber das Doppelte an Strafe akzeptieren. Ich hätte auch das Zehnfache auf mich genommen.”   Erst jetzt bemerkte Joey die stummen Tränen, die an seine Wangen herunter liefen. Einige Tropfen wurden vom Wind verweht und gesellten sich zu den Abermillionen Wassertropfen im Meer. “Weinst du, Wheeler?”   “Ich? Quatsch, hab’ nur was im Auge.” Mit diesen Worten entzog sich der Blonde Kaibas Blick. Aber er musste zugeben, das, was Kaiba ihm da gerade erzählte, berührte ihn sehr. Und eigene Erinnerungen kamen hoch…   “Kaiba, es tut mir leid, dass das passiert ist. Niemand hat so eine Kindheit verdient, auch nicht ihr beide.”   “Wir sind nur die, die wir sind, weil wir durch diese harte Schule gegangen sind. Auch wenn ich froh darüber bin, dass Gozaburo nicht mehr unter den Lebenden weilt.”   “Du magst recht haben, aber dennoch - sowas sollte kein Kind erleben. Aber es muss etwas Tröstliches gehabt haben, dass ihr zumindest euch hattet. Ich hatte eigentlich niemanden. Als meine Eltern sich trennten, hatte ich nicht mal mehr Serenity. Meine Mum fehlte mir auch sehr, sie war immer irgendwie der Ruhepol der Familie. Als sie fort war und Serenity mitnahm, schmeckte meinem Dad das gar nicht. Na ja, du hast ja gesehen, was aus ihm geworden ist.”   Und plötzlich war der ganze Schmerz wieder da, und der drohte, Joey zu ersticken.   ~~~~   Kaiba konnte nicht sagen, warum, aber er wollte unbedingt, dass Wheeler weiter redete. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Ehrlich gesagt konnte er nicht sagen, wann oder ob er jemals eine so tiefgründige Unterhaltung geführt hatte. Mit irgendjemandem. Und schon gar nicht mit seinem Erzfeind Joey Wheeler. Schwer vorstellbar zumindest, und doch fühlte sich jedes Wort, jeder Satz richtig an. Als wenn Wheeler genau der Mensch war, dem er das jetzt erzählen wollte. Weil er ihm… vertraute? Nun wollte er testen, wie stark Wheeler ihm schon vertraute, indem er ihn ermutigen wollte, weiter zu sprechen.   “Red’ mit mir, Wheeler. Fang von vorne an, und lass dir Zeit. Aber rede.” Zwar klang seine Stimme stark und bestimmt, aber sie war einen Hauch sanfter als noch vor einigen Minuten. Als sich Wheeler wieder ihm zuwandte, konnte er eine deutliche Rotfärbung seiner sonst so golden leuchtenden Augen erkennen, und er konnte eine sich leicht aufbauende Wut in seiner Magengegend ausmachen, konnte aber nicht genau feststellen, auf was er eigentlich so wütend wurde.   Seufzend nahm Wheeler das Gespräch wieder auf. “Im Prinzip habe ich einiges von dem, was du gerade erzählt hast, wieder erkannt. Zuerst hat er mich nur da geschlagen, wo es niemand sehen konnte. Aber je mehr er trank, und es wurde immer mehr über die Jahre, desto mehr war es ihm egal, ob jemand das mitbekam. Ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist, aber es gibt an unserer Schule eine Vertrauenslehrerin, die das mal bemerkt hatte. Sie kam zu uns nach Hause, weil sie mit meinem Dad darüber sprechen wollte. Aber wenn er will, kann er echt richtig überzeugend sein. Sie hatte sich natürlich vorher angekündigt, er hatte mich gezwungen, die ganze Wohnung vorher picobello zu putzen, hat sich frische Klamotten angezogen, die ganze Bude ausgelüftet und den Alkohol in einem geheimen Fach unter einer Küchendiele versteckt, nur für den Fall, dass sie das kontrollieren wollte. Er hatte sogar einen Tag nichts getrunken, um einen möglichst nüchternen Eindruck zu machen, so als wäre er eben ein ganz normaler, alleinerziehender Vater. Tja, sie kam, ich musste die ganze Zeit daneben sitzen und mir lauter Ausreden einfallen lassen, die meinen Dad entlasten sollten. Keine Ahnung, ich wäre hingefallen, hätte mich beim Fußballtraining verletzt, sowas. Solche Lügen habe ich auch Yugi und den Anderen immer erzählt - sie hatten mich zwischendurch schon mal angesprochen, aber entweder haben sie mir geglaubt - und auch ich konnte das sehr überzeugend erzählen, wenn ich wollte - oder sie haben sich nicht getraut einzugreifen, vielleicht aus Angst, dass mir Schlimmeres blühte oder weil sie einfach nicht so richtig wussten, wie. Ich kann es ihnen überhaupt nicht verübeln, ich hab ja jede Hilfe immer abgelehnt und wollte ihnen weismachen, dass sie sich da was einbildeten. Und ich war ehrlich gesagt froh, als sie aufhörten zu fragen, auch wenn insbesondere Yugi auch heute noch immer wieder betont, dass er für mich da ist, wenn ich was brauche, und er mir zur Seite steht. Na ja, dieser Vorfall mit der Vertrauenslehrerin hatte leider böse Konsequenzen für mich, denn als sie wieder weg war, wusste ich, dass ich verloren war, und sie würde ohne handfeste Beweise nichts machen können. In dieser Nacht trank er noch mehr als er es sonst schon tat, vielleicht um den einen Tag Abstinenz auszugleichen, und ich musste über einen Monat Zuhause bleiben, weil er mir die Nase gebrochen und die Lippe grün und blau geschlagen hatte. Im Krankenhaus hab’ ich dann auch was erzählt von wegen ich wäre die Treppe runtergefallen oder so, und leider war mein Dad wieder so verdammt überzeugend, dass sie uns glaubten. Er ist echt ein verdammt guter Schauspieler, hat denen richtig gut vorspielen können, wie unheimlich besorgt er um sein einziges Kind war, das ihm noch geblieben war, als seine Frau ihn mit seiner Tochter verlassen hatte. So richtig mit Tränen und allem. Einfach widerlich, dieser Kerl. Na ja, in der Zeit, die danach kam, hatte er sich etwas mehr im Griff und hat wieder nur da geschlagen, wo es niemand sehen konnte, sodass weitere Fragen ausblieben. Aber da ist immer noch eine Narbe an meinem linken Nasenflügel, für die allermeisten nicht sichtbar, weil sie nicht wissen, wo sie hinschauen müssen, aber ich sehe sie, jeden Tag, wenn ich mich im Spiegel sehe, und alle Erinnerungen sind wieder da. Manchmal habe ich sie mit einem Abdeckstift überschminkt, aber das Gefühl, dass sie da ist, brennt sich dennoch in meine Haut. Ob ich sie nun sehe oder nicht.”   Kaiba nahm Wheelers Kinn und drehte ihn zu sich. Und tatsächlich - er konnte die kleine Narbe, von der der Blonde gerade erzählt hatte, erkennen. Dieser verdammte…! Eine unbändige Wut stieg in ihm auf, auf diesen Vater, der sein Kind so misshandelt hatte und alles versuchte, um es zu vertuschen. Er schwörte bei Gott, wenn er diesem Wichser noch einmal begegnen würde…   “Es ist in Ordnung, Kaiba. Wirklich.” Doch an Wheelers leisem Schluchzen und der Tatsache, dass jeglicher Glanz aus seinen Augen verschwunden war, konnte Kaiba erahnen, dass es nicht in Ordnung war. Gar nichts war in Ordnung.   “Nein, das ist es nicht. Dieses… verdammte Arschloch…” Kaibas Worte lösten etwas in Joey aus. Alle Dämme brachen zusammen und er krümmte sich schluchzend zusammen, umarmte seine Beine, atmete abgehackt. Verdammt, wie sollte Kaiba damit umgehen, was sollte er machen? Er musste irgendwas tun.   “Wheeler, sieh mich an.” Er nahm seine Arme und zog ihn so, dass Wheeler ihn ansehen musste. Der Kleinere zitterte wie Espenlaub. “Das hätte nicht passieren dürfen. Dieses miese Arschloch… dafür muss er doch irgendwie zur Rechenschaft gezogen werden können.”   Schniefend sagte Joey: “Ich habe irgendwann gelernt, dass das nicht passieren wird, weil er die Beweise ja gut vertuschen konnte. Ich musste auch immer schon irgendwie für ihn sorgen, weil er sich keine Mühe gemacht hat und seinen Tag lieber mit dem Arsch auf der Couch und der Flasche in der Hand verbracht hatte. Putzen, einkaufen, kochen, das ganze Programm. Ich musste ihm auch immer alles, was ich in meinen Nebenjobs verdient habe, geben. Ich musste wirklich früh erwachsen werden.”   “Und das solltest du nicht. Er hat dir deine Kindheit und Jugend genommen.”   Joey schien sich langsam zu beruhigen. “Na ja, irgendwer musste ja dafür sorgen, dass wir über die Runden kommen, was blieb mir übrig?” Und etwas kleinlauter ergänzte er: “Das Geld, was ich diese Woche verdient habe, habe ich ihm auch überwiesen.”   “Was?!” Kaiba war aufgebracht - was dachte Wheeler sich dabei?   “Ich weiß auch nicht… ich fühle mich irgendwie verpflichtet.”   Frustriert strich Kaiba sich durch die Haare und sah Wheeler dann mit intensivem Blick an. “Damit hörst du sofort auf. Du arbeitest hart für dein Geld, und der Dreckssack soll sich nicht noch an dir bereichern. Wenn er die Miete bezahlen will, soll er seinen Arsch selber hochkriegen und arbeiten gehen. Versprich es mir. Versprich mir, dass du ihm kein Geld mehr schicken wirst.”   “Aber…”   “Nein, Hündchen, kein Aber. Er hat dich über Jahre misshandelt. Er hat keinen einzigen Cent von dir verdient.”   Wheelers verletzlicher Blick machte Kaiba fertig, aber er musste standhaft bleiben. Das würde er ihm nicht durchgehen lassen, er musste darauf beharren und Stärke zeigen. Nach einem Moment des Schweigens willigte Wheeler endlich nickend ein und Kaiba stellte fest, dass er die Luft angehalten hatte, die er nun mit einem lauten Schnaufen ausatmete.   “Wo wir gerade von Geld sprechen. Ich sollte dir vielleicht Miete zahlen, ich will euch nicht zur Last fallen.”   “Mach dich nicht lächerlich, Wheeler. Wenn das der Preis ist, den ich zahlen muss, damit du aus diesem Drecksloch rauskommst, bezahle ich ihn gern. Außerdem macht es mich nun wirklich nicht arm, wenn du bei uns wohnst.”   “Aber ich esse doch auch bei euch und alles. Willst du wirklich gar nichts von mir haben?”   “Nein, nichts. Das ist Teil unseres Deals, das lege ich jetzt fest. Das gilt ebenso dafür, dass dein Vater keinen Cent mehr von dir sieht. Und nun Schluss damit, kein Gerede mehr von Geld.”   Noch immer waren sich beide Männer zugewandt. Kaiba hielt weiterhin Wheelers Arme fest, und sie blickten sich mit einer Intensität in die Augen, die an die Situation auf dem Schulhof erinnerte. Kaiba stellte fest, dass ein bisschen was von der goldenen Farbe zurück in Joeys Iris kehrte, wenn auch sehr langsam, und er war froh darüber. Aber eins musste er noch wissen. Er musste einfach fragen und die Offenheit nutzen, die sie in dieser Situation verband.   “War er auch der Grund, warum du springen wolltest, da auf diesem Hochhaus?”   Wheeler musste heftig schlucken. War das zu viel für ihn? Nur noch diese eine Frage…   “Ja, hauptsächlich. Ich habe keinen Ausweg mehr gesehen. Ehrlich gesagt weiß ich heute auch noch nicht, ob es wirklich einen Ausweg für mich gibt. Klar, ich wohne nicht mehr bei ihm, und das hilft, aber die Erinnerungen bleiben. Das werden sie immer. Ich weiß nicht, ob ich damit leben kann.”   “Du musst es versuchen. Meinst du, du kannst es zumindest mal probieren?”   Er stockte und musste seinen Blick abwenden. “Ja, aber… ich denke nicht, dass ich das alleine schaffe.”   Langsam drehte Kaiba Wheelers Kinn wieder in seine Richtung, damit er ihn ansehen musste. “Du bist nicht allein. Ich habe dir versprochen, alles zu versuchen, dich zu überzeugen, dass der Tod nicht dein letzter Ausweg sein muss. Und verdammt noch mal, ich halte mich an meine Versprechen.”   Danach wurde es still. Das Meer unter ihnen rauschte, und mit der Zeit wurde der Wind stärker, Regen kündigte sich an. Aber sie blieben noch eine Weile so sitzen, ab und zu sahen sie sich an, schauten ansonsten in die endlosen Weiten des Meeres. Sie wussten nicht, wie viel Zeit am Ende wirklich vergangen war, ob es Sekunden, Minuten oder Stunden waren. Und je stürmischer das Wetter wurde, desto ruhiger wurden die beiden Männer, die dort einsam auf dem Steg saßen.   Irgendwann fing es an zu nieseln, doch schon nach wenigen Minuten wurde der Sturm und damit der Regen stärker. “Komm, lass uns lieber gehen, bevor du zu sehr nach begossenem Pudel aussiehst”, erklärte Kaiba. Ein leichtes Lächeln umspielte sein Lippen, nur ganz wenig bewegten sich seine Lippen nach oben, aber das Wichtigste war: Es war echt. Wheeler schien heute sowieso erstaunlich wenig gegen die ganzen Hundemetaphern aufzubegehren und antwortete auch dieses Mal nur mit einem Schmunzeln. Er war froh, einen positiven Gesichtszug an ihm zu sehen, nach allem, was er ihm gerade erzählt hatte. Sie erhoben sich und rannten so schnell wie möglich in Richtung Wagen zurück, der ja zum Glück nicht allzu weit weg stand.   ~~~~   Gedankenverloren ließ Joey den heutigen Tag Revue passieren, während Kaiba sie sicher in Richtung Zuhause lotste. Er gab es auf, das Wort ‘Zuhause’ zu vermeiden - Kaibas Villa war in dieser einen Woche mehr sein Zuhause geworden als es die Wohnung mit seinem Dad je war. Noch immer war er überwältigt von seinen Emotionen, aber auch von der Tatsache, wie offen sie heute miteinander gesprochen hatten. Dennoch - er kam nicht umhin festzustellen, dass er das als sehr positiv empfand. Kaiba war so leidenschaftlich wütend, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte Joey das Gefühl, dass nicht er der Grund dafür war. Er war richtig sauer geworden auf Joeys Dad, und auch, wenn er sich nicht richtig erklären konnte, weshalb Kaiba das emotional so mitriss, so war er doch froh. Noch nie hatte er mit jemandem so offen darüber gesprochen. Aber irgendwas sagte ihm, dass er Kaiba vertrauen konnte, und er hoffte, dass dieses Gefühl bleiben würde. Würde sich von jetzt an etwas ändern? Oder würden sie in alte Muster verfallen, sobald sie zurück in der Kaiba-Villa waren?   “Hey”, sagte Kaiba, und Joey blickte sich zu ihm um - er hatte die bisherige Autofahrt wieder damit verbracht, aus dem Fenster zu schauen und die vorbeiziehenden Landschaften zu betrachten.   “Hm?”, erwiderte der Blonde und war gespannt, was jetzt kam. “Ich… es tut mir leid, dass das heute so eine… sagen wir mal, emotionale Achterbahnfahrt war. Ich hatte gehofft, du würdest mal rauskommen und ein bisschen Spaß haben, aber ich hab’ das Gefühl, genau das Gegenteil erreicht zu haben.”   Wow. Joey war für einen Moment sprachlos. Er hatte heute Kaibas emotionale Seite kennengelernt, von der er sicher war, dass sie außer Mokuba bisher noch nie jemand zu Gesicht bekam, oder dass eine solche gar existierte. Und jetzt entschuldigte er sich auch noch. Und das alles an einem einzigen Tag!   “Könntest du mal irgendwo kurz anhalten? Auf dem Seitenstreifen oder so? Wirklich nur kurz.”   Kaibas Blick ließ seine Verwunderung vermuten, aber er folgte Joeys Anweisungen und hielt auf dem Seitenstreifen an.   “Also”, begann Joey, “du musst dich für gar nichts entschuldigen. Nur, weil ich nicht vor Glück rumgehobbst bin, heißt das nicht, dass ich den Tag nicht genossen habe. Ich fand die Idee wirklich schön, und manchmal ist es die beste Medizin, die Emotionen einfach mal rauszulassen.”   “Trotzdem. Ich will, dass der nächste Ausflug etwas positiver ausfällt. Weiß nicht, dass du Spaß hast oder so.”   Joey war wirklich perplex - wer war dieser Mann, und was hatte er mit Mr. Eisklotz gemacht? Bei dem Gedanken musste er unwillkürlich ein wenig schmunzeln. “Und was hast du im Sinn?”   Nachdenklich kratzte sich Kaiba am Kinn, bevor er verlauten ließ: “Ich lass mir was einfallen.” Dann startete er den Motor wieder und sie begaben sich zurück auf die Straße, zurück in die Richtung, aus der sie heute Morgen gekommen waren und noch gar nicht ahnen konnten, wie viel enger ihr Band heute geknüpft werden würde. Kapitel 5: Rescue me... from the attraction ------------------------------------------- “Okay, okay, nochmal langsam zum Mitschreiben… Kaiba hat was?!” Tristan schaute ungläubig auf Joey und konnte gar nicht glauben, was er da hörte. Auch Yugi und Téa betrachteten Joey kritisch, alle Augenpaare waren nun auf ihn gerichtet, während sie hier in der Kantine der Schule saßen.   “Alter, hab ich doch gerade gesagt”, erklärte der Blonde daraufhin genervt. “Kaiba kam mit diesem Deal an und jetzt wohne ich bei ihm. Du warst doch erst derjenige, der ihn in diese Lage gebracht hat!”   “Ach, jetzt bin ich hier der Schuldige, weil ich dir das Leben retten wollte?!”   “Jungs, Jungs, nicht streiten, ist doch gut jetzt”, schritt Téa beschwichtigend ein.   Joey konnte überhaupt nicht nachvollziehen, warum Tristan darüber so aufgebracht war. Okay, klar, dieser Deal und die Tatsache, dass er jetzt bei Kaiba wohnte - wenn auch mit gebührendem Abstand - konnte merkwürdig klingen. Das hatte es für Joey ja anfangs auch. Aber mittlerweile war es einen Monat her, dass all das passiert war, und er hatte sich irgendwie an seine neuen Lebensumstände gewöhnt. Tatsächlich wunderte er sich, dass seine Freunde wohl nichts mitbekommen hatten, immerhin kam er so ziemlich jeden Morgen zusammen mit Kaiba zur Schule. Er konnte sich kaum vorstellen, dass das lang ein Geheimnis geblieben war, immerhin hatte sich das Ereignis seines Selbstmordversuchs auch recht schnell rumgesprochen. Vielleicht hatten sie Vermutungen und er war es, der es nun final bestätigte. Zumindest hatten sie ihn in den letzten Wochen nicht bedrängt oder nachgefragt, hatten ihm Zeit gegeben, sich selbst zu sammeln.   Heute war das erste Mal, dass sie mal wieder so richtig offen sprachen. Joey hatte sich vorgenommen, seinen Freunden heute ein bisschen mehr zu erzählen. Er wusste natürlich, dass sie am liebsten schon vorher mit ihm gesprochen hätten, aber er war einfach noch nicht bereit gewesen. Dennoch wusste er, er würde es nicht auf Dauer verstecken oder verheimlichen können, und es waren immerhin seine besten Freunde, von denen er hier sprach. Sie hatten es verdient, dass er ihnen davon erzählte, was bei ihm gerade so abging.   Was das allerdings nicht beinhaltete, war der Ausflug von Kaiba und Joey ans Meer. Er hatte lange überlegt, ob er sie einweihen sollte, einfach weil er diesen selbst noch nicht so richtig einordnen konnte, nicht wusste, wie er darüber fühlen sollte, und hoffte, seine Freunde könnten ihm dabei helfen. Aber am Ende entschied er sich doch dagegen. Es kam ihm falsch vor, irgendwas in ihm wollte diesen Moment für sich behalten, als Geheimnis quasi, von dem nur er und Kaiba wussten. Sie hatten eine Art Intimität geteilt, die er mit niemand anderem teilen wollte, und er hatte das Gefühl, wenn er seinen Freunden davon erzählte, dann verschwand das Besondere daran. Kaiba und Joey waren in den Wochen danach mehr oder weniger zum Alltag zurückgekehrt, sie hatten auch nicht nochmal darüber gesprochen, was da eigentlich passiert war. Irgendwie hatte sich eine Distanz aufgebaut, die von Unsicherheiten geprägt war. Joey konnte nur von sich sprechen, aber er hatte Angst, dass ein falsches Wort darüber die Einzigartigkeit des Treffens zerstören könnte.   Joey erwachte aus seinen Tagträumen, als er Téas Hand auf seinem Ärmel spürte. “Hey, Joey, alles in Ordnung?”, fragte sie sorgenvoll. “Äh, ja klar, war nur kurz in Gedanken. Worüber habt ihr gesprochen?”   “Na ja”, begann Tristan erneut, “findest du Kaibas Verhalten nicht merkwürdig? Ich meine, klar, ich hab’ schon erwartet, dass er was tut, ansonsten hätte ich ihm ja nicht so gedroht, und Alter, ich bin echt froh, dass er es gemacht hat. Aber dich bei ihm wohnen zu lassen? Und dann dieser komische Deal?”   Joey zuckte mit den Schultern. “Er meinte, er würde sich nur absichern wollen. Falls ich es am Ende doch tue, dass er nachweisen kann, dass er wirklich alles versucht hat, falls die Presse ihn dann trotzdem versucht unter Druck zu setzen.” Als Joey andeutete, er könnte seinen Plan doch noch in die Tat umsetzen, sah er kurz in weit aufgerissene Augen, aber keiner sagte etwas dazu. Weil sie nicht wussten, was? Oder wie? Joey sollte es recht sein, er würde sowieso nur ausweichend antworten - vermutlich ahnten sie das und wollten ihn auch nicht unnötig bedrängen. Sie schienen außerdem froh, dass er sich nun wieder ein Stück geöffnet hatte, und wollten wohl nicht, dass Joey sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog. Er war sich aber sicher, er würde irgendwann noch im Detail erklären müssen, wie es überhaupt zu diesem Plan gekommen war. In den Abschiedsbriefen hatte er das nur vage angedeutet. Und so leicht es ihm fiel, damals am Meer, Kaiba die Gründe darzulegen, so schwer war es doch für ihn, sich seinen besten Freunden dahingehend zu öffnen. Verdammt, sollte es nicht eigentlich genau umgekehrt sein?   Und sowieso, hier ging es um Kaiba, nicht um ihn. Das sah wohl auch Tristan so, als er sagte: “Tja, Business Man durch und durch, hm? Was für ein Arschloch.” Tristans Unmut versetzte Joey einen Stich. Ihm war natürlich bewusst, dass Kaiba das nicht aus purer Selbstlosigkeit und Nächstenliebe machte. Das wäre auch lächerlich zu glauben gewesen, immerhin waren sie Erzfeinde. Aber was, wenn sich nach ihrem Treffen am Meer was geändert hatte? Joey ließ das Gefühl nicht los, dass das was gemacht hatte mit ihrer… ‘Beziehung’ zueinander. Oder war das bloßes Wunschdenken? Ihr Verhalten zueinander hatte sich zumindest nicht wahnsinnig geändert. Manchmal stritten sie, manchmal schwiegen sie, manchmal waren sie einfach höflich distanziert. Nichts war anders als zuvor - oder?   Außerdem hatte Kaiba gesagt, er würde sich Gedanken für einen nächsten Ausflug machen, und bisher war da nicht wahnsinnig viel bei rumgekommen. Allerdings musste man dazu sagen, dass ihm die erste Idee ja auch mehr oder weniger in den Schoß gefallen war, weil Mokuba ihn ausgefragt hatte. Der kleine Kaiba-Bruder hatte in den letzten Wochen jedoch keine weiteren Fragestunden unternommen, sodass Kaiba vielleicht einfach ein richtiger Anhaltspunkt fehlte. Vielleicht sollte Joey sich was einfallen lassen - auch wenn er exakt so ratlos war wie der Braunhaarige. Sie wohnten jetzt seit mehr als einem Monat zusammen, es war Anfang Dezember, und Joey hatte trotzdem keine Ahnung, womit Kaiba seine Freizeit verbrachte. Hatte er denn viel davon? Er nahm sich vor, Mokuba zu fragen, vielleicht würde das helfen. Er wusste nur, dass er nicht weiter würde rumsitzen und warten wollen, bis Kaiba mit einem vermutlich sowieso nur halbgaren Vorschlag um die Ecke kam. Außerdem hatte er das Gefühl, sich revanchieren zu wollen. Aus irgendeinem ihm absolut unerfindlichen Grund war er sehr dankbar für den Tag. Ja, es war emotional aufwirbelnd gewesen und er hatte sich die Blöße gegeben, vor ihm zu weinen, aber statt ihn wegzustoßen, hatte Kaiba ihm zugehört und ihn sogar verstanden. Er war auf seiner Seite - zumindest an diesem einen Tag.   Plötzlich war Joey genervt von dieser ganzen Unterhaltung mit seinen Freunden. “Er wird schon seine Gründe gehabt haben. Versteh’ überhaupt nicht, warum ihr euch plötzlich so für Kaibas Motive interessiert, der geht euch doch sonst auch immer gekonnt am Arsch vorbei.” Joey hatte keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Er hatte sogar das Gefühl, Kaiba hier irgendwie verteidigen zu müssen. Dass er das mal machen würde, hätte er von ein paar Wochen selbst noch nicht geglaubt, aber irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass Kaiba hier Unrecht angetan wurde.   Wütend schnaubend stand er auf, um zurück ins Klassenzimmer zu gehen. Er wollte sich weitere Diskussionen und Fragen ersparen, von denen sicher noch eine ganze Menge kommen würden.   Bevor er aufgebracht davon stapfte, sah er für einen kurzen Moment in Kaibas Richtung, der sich wie üblich an einen einzelnen Tisch gesetzt hatte, alleine. Ihm war bewusst, dass er seine letzten Sätze ziemlich laut gesagt hatte, und Kaibas Blick bestätigte, dass er wohl jedes Wort gehört haben musste. In seinem Blick lag etwas Undefinierbares, und Joey wollte nicht schon wieder in einen Gedankenstrudel versinken, der versuchte zu verstehen, was zur Hölle Seto Kaiba eigentlich dachte. Er musste einfach hier raus und ging auf direktem Wege zurück ins Klassenzimmer.   Er atmete erleichtert auf, als die Schule endlich vorbei war. Seine Freunde hielten den Rest des Schultages mehr oder weniger Abstand, und Joey war gleichermaßen erleichtert wie peinlich berührt davon. Er brauchte nur einen Moment Zeit, um durchzuatmen. Er würde ihnen heute Abend allen eine Entschuldigung schreiben und morgen noch mal mit ihnen reden. Schuldbewusst gestand er sich selbst, dass er wohl ein bisschen zu aufbrausend reagiert hatte, und dafür würde er sich auf jeden Fall entschuldigen.   Kaiba fuhr heute wieder direkt in die Firma, sodass sie sich erst zum Abendessen sehen würden. Joey hatte heute einen freien Abend und fuhr deshalb direkt zurück in die Villa. Dort angekommen, schickte er seinen Freunden direkt eine Nachricht. Er hatte keinen blassen Schimmer, warum er so emotional reagiert hatte. Normalerweise würde er fröhlich einstimmen, wenn es um Beleidigungen in Richtung Kaiba ging. Aber als Tristan sich so abfällig geäußert hatte, ist bei ihm einfach eine Sicherung durchgebrannt. Hoffentlich würden sie ihm das nicht nachtragen.   Beim Abendessen traf er dann Mokuba und Kaiba. Es war erstaunlich ruhig und es wurde eigentlich wenig gesagt. “Hey, Leute, ich geh mal noch Hausaufgaben machen, muss noch einen fetten Aufsatz schreiben”, gab Mokuba stöhnend zu.   “Viel Erfolg, Kleiner. Falls du Hilfe brauchst, frag lieber deinen Bruder, ich befürchte, ich bin in sowas eine ziemliche Niete!” Mit diesen Worten verabschiedete sich Joey von Mokuba, blieb allerdings noch kurz am Tisch sitzen. Als Mokuba gegangen war, machte auch der größere Kaiba-Bruder Anstalten zu gehen.   “Hey, Kaiba”, hielt Joey ihn zurück, “hast du einen Moment?”   “Was willst du, Hündchen?”   Ah, da war es wieder - ‘Hündchen’. Für eine lange Zeit war er immer ein ‘Streuner’ oder ein ‘Köter’ gewesen, mittlerweile hatte sich Kaiba linguistisch aber auf ‘Hündchen’ eingeschossen. Interpretierte Joey zu viel hinein, wenn er dachte, das wäre eine Verbesserung?   “Ich hab’ nachgedacht. Hast du was dagegen, wenn ich mir was ausdenke, bezüglich eines erneuten Ausflugs oder so?”   “Tu’, was du nicht lassen kannst.”   “Cool, gibt es denn irgendwas, das du… ich weiß nicht, gerne machst? In deiner Freizeit oder so?”   Kaiba kniff die Augen zusammen und antwortete ihm murrend: “Ich hab’ eine Firma zu führen, Wheeler, und gehe nebenbei auch noch in dieselbe Schule wie du. Ich hab’ keine Zeit für Freizeit.” Und damit rauschte der Größere ab. Welche Laus war dem denn über die Leber gelaufen? Genervt ging Joey zurück in sein Zimmer.   Lange lag er in dieser Nacht wach. Er hatte gehofft, dass ihm, wenn er sich in sein Bett legte und scharf nachdachte, vielleicht eine zündende Idee kommen würde, aber Fehlanzeige. Er musste irgendwie mit Mokuba sprechen können, vielleicht konnte der ihm noch weiterhelfen.   Wie eine göttliche Fügung, traf er Mokuba am nächsten Morgen auf dem Weg zum Frühstück im Gang. So konnte er ihn kurz abfangen, bevor sie im Esszimmer auf Kaiba trafen.   “Guten Morgen, Joey”, begrüßte der Kleine ihn und wollte sich weiter in Richtung Frühstück aufmachen. “Guten Morgen, hey, hast du kurz Zeit, kann ich dich was fragen?”   “Klar, was gibt’s?”   “Es geht um deinen Bruder. Wir haben ja vor ein paar Wochen diesen Ausflug gemacht und na ja, ich dachte, ich könnte mich vielleicht revanchieren oder so.” Verlegen kratzte Joey sich am Hinterkopf und Mokuba lächelte schon wieder so verschwörerisch, bevor er antwortete: “Klingt nach einem guten Plan!”   “Kannst du mir sagen, ob Kaiba irgendwelche Hobbys hat? Irgendwas, was er gern in seiner Freizeit macht?”   “Hm, mal überlegen. So richtig was einfallen tut mir da eigentlich nicht. So viel Freizeit hat er auch gar nicht.”   Joey seufzte. “Ja, dieselbe Antwort hab’ ich von ihm auch schon bekommen. Er hat es nur etwas anders ausgedrückt.”   Mokuba lachte kurz auf. “Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Also, ich glaube, das Einzige, was er manchmal macht, ist unseren Fitnessraum zu nutzen, so als Ausgleich zum Stress. Ansonsten interessiert ihn Sport aber wenig, also er ist kein besonderer Fan einer bestimmten Sportart oder eines Teams oder so. Entschuldige, ich bin wohl keine große Hilfe.”   Abwehrend hob Joey die Hände. “Nein, nein, das ist völlig okay, du hast mir sehr geholfen, danke. Komm, lass uns zum Frühstück gehen.”   Joey hatte gelogen, denn nichts, was Mokuba sagte, war eine große Hilfe, aber das musste er ihm ja nicht direkt aufs Butterbrot schmieren. Der Kleine hatte es ja wirklich gut gemeint. Aber viel hatte er nicht rausbekommen. Also musste er sich wohl doch selbst irgendwas überlegen.   Nach der Schule machte er sich auf den Weg in das Café, in dem er arbeitete, und während er Bestellungen aufnahm oder Getränke servierte, überlegte er immer wieder fieberhaft, was sie machen könnten, aber ihm wollte einfach nichts einfallen. Er musste einen anderen Weg finden, um zu recherchieren.   Er wusste, er würde Kaiba heute nicht zum Abendessen sehen, weil er zu spät nach Hause kam. Daher schrieb er ihm in seiner Pause kurz eine Nachricht aufs Handy.   ‘Hey, Kaiba, sag mal, gibt es in der Villa irgendwo einen Computer, den ich heute Abend nutzen könnte, wenn ich nach Hause komme?’   Er war überrascht, als schon eine Minute später eine Antwort auf seinem Display erschien.   ‘Kümmer’ mich drum.’   Was sollte das denn jetzt schon wieder heißen? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass es ihm heute beide Kaiba-Brüder unnötig schwer machen wollten. Musste wohl in der Familie liegen.   Geschafft kam er um etwa neun Uhr abends in der Kaiba-Villa an und ging zielstrebig in Richtung seines Apartments. Er würde sich jetzt erst mal eine lange, warme Dusche gönnen, nach dem anstrengenden Tag. Als er ins Schlafzimmer kam und sich aufs Bett setzte, um seine Schuhe loszuwerden, entdeckte er etwas auf dem Schreibtisch. Stirnrunzelnd ging er rüber und konnte nicht glauben, was er da sah: Ein brandneuer, noch originalverpackter Laptop, laut Verpackung mit Betriebssystem vorinstalliert und allem Schnickschnack. Das hatte Kaiba also gemeint mit ‘Ich kümmere mich drum’. Kopfschüttelnd packte er das neue Gerät aus und schaltete es ein. Okay, es musste scheinbar erst mal die ganzen automatischen Ersteinrichtungen vornehmen, also nahm Joey sein Handy raus und schickte Kaiba eine Nachricht.   ‘Danke fürs Kümmern, aber das ist ein bisschen viel. Ich geb’ dir das Geld wieder, sollte ich in ein paar Wochen zusammen haben.’   Er wollte sich gerade auf den Weg in die Dusche machen, als sein Handy aufsummte. Mann, dafür, dass Kaiba keine Freizeit hatte, konnte er echt verdammt schnell Nachrichten beantworten.   ‘Vergiss’ es, Hündchen. Sieh es einfach als Leihgabe an.’   Na toll, dominant wie immer. Augenrollend machte Joey sich in Richtung Dusche auf, während der Laptop weiter ganz automatisch an seiner Ersteinrichtung arbeitete.   Als Joey zurück ins Schlafzimmer trat, fühlte er sich wie ein neuer Mensch. So eine Dusche konnte richtig gut tun. Der Laptop war auch fertig eingerichtet und nach ein paar schnellen Klicks konnte er schon loslegen. Da summte sein Handy erneut.   ‘aL(()$KKLsbjk9’   Äh, was…?   ‘Hast du getrunken, Kaiba? Oder bist du zufällig auf deiner Handy-Tastatur eingeschlafen?’   Bei dem Gedanken musste Joey unwillkürlich lachen.   ‘Das ist das WLAN-Passwort, du Idiot. Also manchmal…’   Oh man, da hätte Joey ja durchaus mal drauf kommen können. Er gab es ein und war sogleich mit dem Internet verbunden.   ‘Danke, Kotzbrocken. Gute Nacht.’   ‘Gute Nacht, Hündchen.’   Kaibas letzte Nachricht wirkte so sanft, irgendwie. Joey musste sich jetzt wirklich mal zusammen reißen, er interpretierte da schon wieder viel zu viel hinein. Wenn Kaiba vor ihm stehen würde, würde er ihn wahrscheinlich wie immer absolut herablassend anschauen. So viel zur Sanftheit seiner Worte.   Jetzt konnte die Recherche losgehen, aber wonach suchte er eigentlich? Das einzige Stichwort, das Mokuba ihm genannt hatte, war Sport. Wobei, ja nicht mal das, eigentlich hatte er ihm nur gesagt, dass Kaiba gern mal den hauseigenen Fitnessraum besuchte. Das brachte ihn nicht wirklich weiter.   Plötzlich schweiften seine Gedanken etwas ab. Das war also schon wieder eine Sache, die sie gemeinsam hatten. Auch Joey war ziemlich sportlich, ging ab und zu mal ins Fitnessstudio, wobei er in letzter Zeit eher Joggen war. Den Fitnessraum der Kaibas hatte er noch nicht genutzt, vielleicht griff er einfach mal die Gelegenheit beim Schopfe und würde es tun. Erstaunlich, wie viel sie gemeinsam hatten. Von dem unfreiwilligen Deal, den sie besiegelt hatten, dem gewalttätigen Vater (auch wenn es in Kaibas Fall der Adoptivvater war), ja, selbst die Präferenzen, wie sie ihren Kaffee am liebsten tranken, waren sehr ähnlich. Hätte ihm noch vor wenigen Wochen jemand gesagt, dass er was mit Seto Kaiba, dem stinkreichen, arroganten Arschloch und Firmenchef gemein hätte, er hätte der Person dreckig ins Gesicht gelacht. Und doch fand er immer mehr Sachen heraus, die sie verbanden. Schon verrückt, wie schnell sich die Dinge ändern konnten.   Und plötzlich kam ihm eine Idee. Eine Gemeinsamkeit fehlte in seiner Aufzählung noch. Und diese würde er jetzt nutzen.   ~~~~   Nervös trommelte Kaiba mit den Fingern auf dem Tisch. Das Hündchen - dieser blöde Spitzname hatte sich in seinen Wortschatz eingeschmuggelt und wollte einfach nicht wieder verschwinden - hatte ihm gestern Abend noch eine Nachricht geschickt, er hätte jetzt einen Vorschlag, den Kaiba nicht ablehnen könnte. Nun wartete er hier am Frühstückstisch, sie hatten ausgemacht, sich zehn Minuten vor der normalen Frühstückszeit zu treffen um das kurz zu besprechen. Und natürlich kam Wheeler wieder zu spät, wenn es drauf ankam, schon zwei Minuten. Oh, toll, jetzt waren es schon drei Minuten.   Genervt rollte Kaiba mit den Augen und wollte sich gerade erheben, um sich einen Kaffee zu holen, da platzte der Blonde ins Zimmer.   “Morgen, Wheeler, auch schon wach?”   “Was bist du denn schon am frühen Morgen so genervt?”   “Vielleicht sollte ich dir das nächste Mal statt einem Laptop eine Uhr schenken. Dann kommst du auch nicht immer zu spät.”   Entsetzt sah ihn der Kleinere an. “Ich bin vielleicht zwei Minuten oder so zu spät. Jetzt sei doch mal nicht so kleinkariert!”   Mit hochgezogener Augenbraue erwiderte Kaiba: “Es sind drei, und da Zeit auch Geld ist, bin ich sehr penibel, was Pünktlichkeit angeht.”   Wheeler musste einmal tief durchatmen, dann hob er abwehrend die Hände. “Schon gut, ich will mich nicht mit dir streiten.”   Mit diesen Worten ging das Hündchen (Argh!) auf die Kaffeemaschine zu. Ah, mit Milch, dann hatte er also zumindest ganz gut schlafen können.   “Wolltest du nicht noch deinen Vorschlag mit mir besprechen?”, fragte Kaiba und war tatsächlich neugierig. Er hatte wochenlang überlegt, was sie machen könnten, aber kein Einfall war gut genug. Ihr Treffen am Meer war trotz der vielen hochgekochten Emotionen von so viel… Verbundenheit (?) geprägt, dass nichts, was ihm einfiel, auch nur ansatzweise mithalten konnte. Und er wollte keine halb-perfekten Vorschläge machen. Mokuba war auch keine große Hilfe gewesen, daher war er sehr überrascht, dass Wheeler es offensichtlich fertig gebracht hatte, innerhalb von 24 Stunden einen Vorschlag auszuarbeiten. Fragte sich nur, wie gut der auch war.   “Schon, aber…”   “Aber, was?”   “Na ja, ich weiß nicht, ob der so gut ist.”   “Lass mich das doch entscheiden. Los, raus mit der Sprache.” Kaiba wurde langsam ungeduldig. Das konnte ja nichts Gutes verheißen…   Wheeler drehte sich zu ihm um und sah ihm direkt in die Augen, die Kaffeetasse schwenkte er in der Hand, um schwarz und weiß zu vermischen. Unfassbar, wie sehr sie sich, was ihr Kaffeeverhalten anging, doch ähnelten.   “Okay. Da du keine große Hilfe warst, hab’ ich Mokuba gefragt. Der hat mir erzählt, dass es hier neben dem Schwimmbad auch einen Fitnessraum gibt, den du gern mal benutzt. Na ja, und da dachte ich, wir könnten eine kleine Sportchallenge machen, im Fitnessraum. Oder so…”   Für einige Sekunden sahen sie sich schweigend an, bis Wheeler sich abwandte. “Ja, ich weiß, blöder Einfall. Ist ja nicht mal wirklich ein Ausflug oder so.”   “Ich mach dich fertig, Hündchen. Wann und wo treffen wir uns?”   Die Überraschung war in Wheelers Augen abzulesen, als er sich wieder zu ihm umdrehte, dicht gefolgt von einem Ausdruck des Kampfgeistes auf seinem Gesicht. “Wie wär’s mit heute Abend? Ich muss nicht arbeiten.”   “Klingt gut, 19 Uhr. Warst du schon mal im Fitnessraum?”   “Nein, aber ich find’s schon.”   “19 Uhr, ich hol’ dich von deinem Apartment ab.” Und damit setzte Kaiba sich wieder auf seinen Platz und ließ keine Widerrede zu. Genau in dem Moment ging die Tür auf, Mokuba trat ein und das Frühstück wurde serviert.   Es war halb sieben, als Kaiba aus der Firma kam. Gerade noch genug Zeit, um kurz in sein Apartment zu gehen und sich ein paar Sportklamotten anzuziehen. Er hatte in der KaibaCorp. noch eine Kleinigkeit gegessen, ihm sollte ja während des Trainings nicht die Puste ausgehen. Er wollte es nicht zugeben, aber der kleine Hund hatte seinen Ehrgeiz geweckt. Er war wirklich gespannt, was er machen würde.   Um Punkt 19 Uhr - einige in diesem Haus wussten Pünktlichkeit eben mehr zu schätzen als andere - stand er vor Wheelers Tür, doch statt zu klopfen, nahm er seine Schlüsselkarte raus, zog sie durch den dafür vorgesehenen Schlitz und betrat die Wohnung. Von Wheeler keine Spur, bis er es aus dem Ankleidezimmer rascheln hörte. Mit schnellen Schritten ging er in die Richtung, aus der die Geräusche kamen und entdeckte Wheeler, der zwar schon Schuhe und Sporthose an, sich aber wohl noch nicht für ein T-Shirt entschieden hatte. Kaiba musste anerkennen, dass Wheeler, der ihm den Rücken zuwandte und ihn wohl noch nicht bemerkt hatte, ziemlich muskulös aussah. Das verhieß, spannend zu werden heute Abend.   Als Wheeler sich ein T-Shirt schnappte und überzog, räusperte sich Kaiba, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Hündchen drehte sich um - und legte sich da etwa ein leichter Rotschimmer über seine Wangen?   “Kaiba, schon mal was von Privatsphäre gehört, du Spanner?”   “Nein, wohl aber von Pünktlichkeit, ganz im Gegensatz zu dir. Können wir dann endlich gehen?”   “Klar, mach dich auf was gefasst!”   Sie verließen das Apartment und nahmen den Fahrstuhl bis in den Keller. Dort befand sich neben dem Schwimmbad und dem Fitnessraum auch noch eine Sauna, die Kaiba aber bisher aber noch nie genutzt hatte.   Er öffnete die Tür zum Fitnessraum mit seiner Schlüsselkarte und trat ein. Er konnte Wheeler hinter sich staunen hören. “Wow, so groß habe ich ihn mir gar nicht vorgestellt.”   “That’s what she said*…”, murmelte Kaiba vor sich hin und hoffte fast, dass Wheeler es nicht gehört hatte - keine Ahnung, was ihn da gerade überkommen hatte, normalerweise machte er nicht einfach irgendwelche platten Witze.   Doch Wheeler hatte es gehört und prustete sogleich laut lachend los. “Okay, den Preis für den größten Flachwitz hast du gewonnen. Mal sehen wer den Preis für die größte Sportlichkeit gewinnt.”   In Wheelers Augen blitzte blanker Ehrgeiz auf, und für einen Moment duellierten sich ihre Augen. Kaiba lehnte sich an die Wand, die Arme vor dem Körper überkreuzt. “Also, dein Spiel, Wheeler.”   “Fangen wir doch mit was Leichtem an. 20 Liegestütze?”   “Ist das alles, was du drauf hast, Hündchen?” Verschmitzt grinsend begab sich Kaiba in Position und wartete darauf, dass der Blonde es ihm gleich tat. Beide gaben alles und wurden etwa zeitgleich fertig. Es war ziemlich offensichtlich, dass das keine echte Herausforderung für sie war.   “Unentschieden, würde ich sagen”, gab Wheeler grinsend zum Besten.   “Gut, wie wäre es mit einer größeren Herausforderung? 30 Wiederholungen an der Schulterpresse, mit, sagen wir, 10 Kilo?”   Wheeler leckte sich über die Lippen, dann willigte er ein. Auch wenn er es nicht zugeben würde, Kaiba war ein wenig von der Angriffslust und dem Kampfgeist des Blonden beeindruckt.   Kaiba fing freiwillig an - schon wesentlich anstrengender als die Liegestütze, aber er konnte es durchziehen. Die ersten Schweißtropfen setzten sich von seiner Stirn ab und flossen an seinen Schläfen Richtung Boden.   Wheeler war dran. Kampfeslustig schaute er Kaiba dabei die ganze Zeit ins Gesicht, der ihm gegenüber lässig an der Wand stand, die Hände in den Hosentaschen. Wheeler hatte ein wenig mehr als er zu kämpfen, konnte am Ende aber ebenfalls einen Erfolg verbuchen. Kaiba beobachtete ihn genau. Er konnte sehen, wie Wheelers Muskeln unter seinem Shirt arbeiteten und sich das Shirt an den entsprechenden Stellen anspannte, wenn er die Gewicht hochdrückte. Und aus irgendeinem Grund konnte er seinen Blick nicht abwenden, auch nicht, als ihm Schweißtropfen auf das Shirt tropften.   Mit einem breiten Lächeln brachte Wheeler die Aufgabe zu Ende. “Okay, wieder unentschieden. Vielleicht sollten wir bei der nächsten Übung die Zeit messen und schauen, wer schneller ist? Ich will einen Wettkampf, keinen ununterbrochenen Gleichstand.” Er trocknete sich den Schweiß mit einem Handtuch von der Stirn ab und wartete Kaibas Antwort ab.   Der nickte. “Was schlägst du vor?” Wheeler kam auf ihn zu, bis er nur noch etwa einen Meter von ihm weg stand, und sah ihm intensiv und angriffslustig in die Augen. “Beinpresse, 15 Kilo, 30 Wiederholungen.”   Und während Kaiba an Wheeler vorbei ging auf dem Weg zu dem aufgerufenen Gerät, beugte er sich kurz zu dem Kleineren runter und flüsterte ihm provokant ins Ohr: “Du hast keine Chance, Hündchen”, woraufhin der Blonde aufsah, sodass sich ihre Gesichter verdächtig nahe kamen. “Was noch zu beweisen wäre, Drache.” Kaiba fühlte sich fast ein bisschen berauscht, und warum bekam er bei dem Wort ‘Drache’ eine Gänsehaut? Er musste sich fassen, das war immer noch ein Wettbewerb, und er würde mit aller Macht versuchen zu gewinnen.   Also machte er sich an die Arbeit, und Wheeler stoppte mit seinem Handy die Zeit. Das Hündchen stand ihm so gegenüber, dass er ihn durch das Gerät hindurch schemenhaft erkennen konnte. Das herausfordernde Grinsen war nicht zu übersehen. Dem würde er es zeigen.   Nach der Übung war er tatsächlich ziemlich aus der Puste, und als er wieder zu Atem kam und sich das Gesicht und den Nacken mit einem Handtuch abwischte, gab ihm Wheeler die Zeit durch. “Nicht schlecht, drei Minuten zwölf Sekunden. Jetzt bin ich dran.” Er drückte Kaiba sein Handy in die Hand, der auf sein Signal wartete und dann den Timer startete. Man sah ihm an, dass er sich abmühte, aber Kaiba musste anerkennend zugeben, dass er sich durchbiss. Ein bisschen beeindruckt war er schon von dem Ehrgeiz und Siegeswillen des Kleineren - eine neue Gemeinsamkeit.   Auch das Hündchen musste nach der Übung erst mal wieder zu Kräften kommen. Kaiba stoppte die Zeit, ging zu Wheeler, der noch am Gerät saß und zeigte ihm seine Zeit.   “Die Runde geht dann wohl an mich, Hündchen. Drei Minuten zwanzig Sekunden. Knapp daneben ist auch vorbei.” Das schien Wheeler nur noch mehr anzustacheln.   “Okay, Showdown. Ich hab da hinten zwei Paar Boxhandschuhe gesehen. Wer seinen Gegner zu Boden kriegt, gewinnt das gesamte Match.”   Kaiba nickte. “Deal.”   Sie zogen sich die Boxhandschuhe über und schauten sich in die Augen, bereit für den Kampf. Beide warteten ein wenig ab, so als ob keiner den ersten Schritt machen wollte. Sollte das Hündchen ruhig erst mal kommen und zeigen, was es drauf hatte.   Und da flog auch schon die erste Faust in seine Richtung, die er mit Leichtigkeit abwehren konnte. Nach kurzer Zeit konnte er sehen, dass es Wheeler ziemlich an Technik fehlte. Er war zu impulsiv und achtete nicht genug auf seine Deckung. Kaiba hielt sich ein wenig zurück, er wollte den Kleineren nicht ernsthaft verletzen. Aber wenn er gewinnen wollte, musste er einen Zahn zulegen. Und tatsächlich - nachdem sie einige Minuten miteinander gekämpft hatten, konnte Kaiba Wheeler mit ein paar geschickten Handbewegungen zu Fall bringen, der laut auffluchte, als er auf dem Boden auftraf.   “Verdammt. Das nächste Mal mach’ ich dich fertig, Drache!”, sagte er und strich sich über seinen Hinterkopf. Noch immer schnell atmend zog sich Kaiba die Handschuhe aus, schmiss sie in die Ecke und hielt Wheeler die Hand hin. Nach einem Anflug von Erstaunen in dessen Augen entledigte auch er sich den Handschuhen und ergriff Kaibas Hand, der ihn wohl mit ein wenig zu viel Kraft hochhievte, denn der Blonde landete fast in seinen Armen. Für einen kurzen Moment bewegten sie sich nicht, Wheelers Hand auf Kaibas Brust. Kaiba redete sich ein, dass sein erhöhter Pulsschlag noch vom Sport herrührte, aber wenn er ehrlich war, löste diese unfreiwillige Berührung ein Gefühl in ihm aus, das er nicht einordnen konnte.   “Gut gekämpft, mein Hündchen. Du kannst die Dusche hier beim Fitnessraum nehmen, ich gehe in die Dusche im Schwimmbad um die Ecke.” Damit löste sich der Größere, schnappte sich sein Duschhandtuch und ging in Richtung Dusche. Er musste unbedingt Distanz zwischen ihnen schaffen, sonst wurde er noch verrückt.   ~~~~   Zurück blieb ein verwirrter Joey Wheeler. Noch immer atemlos, versuchte er sich einen Reim darauf zu machen, was hier heute passiert war. Offensichtlich hatten sie jetzt feste Spitznamen füreinander etabliert, und auch, wenn er ein bisschen genervt davon war, dass er so oft ‘Drache’ zu Kaiba gesagt hatte - als Kaiba ihn ‘mein Hündchen’ nannte, setzte sein Herz für einen Moment aus. Aber schon im nächsten Moment redete er sich ein, dass das noch die Nachwirkungen des Boxkampfes waren, die seinen Herzschlag so beschleunigten. Er atmete ein paar Mal tief durch und begab sich dann in die Dusche. Er ließ das warme Wasser über seinen Körper laufen und genoss den Moment der Ruhe, bis ihn seine Gedanken wieder einholten. Diese Blicke, die Berührung, ‘Hündchen’... erneut ärgerte er sich darüber, dass er das Bild der eisblauen Augen, die ihn kämpferisch anfunkelten, nicht aus seinem Kopf bekam. Er schaltete das Wasser auf eiskalt, und tatsächlich half das, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Schnell beendete er die Dusche, trocknete sich ab, zog sich frische Boxershorts und eine Jeans über und ging rüber zum Spiegel, um seine Haare wieder in Form zu bringen. Dann zog er sich ein frisches T-Shirt über, zog seine Schuhe an und machte sich auf den Weg in den Flur, wo er sogleich auf Kaiba traf. Von seinen nassen Haaren liefen noch ein paar wenige Wassertropfen runter und sie lagen nicht so akkurat wie sonst immer, es sah eher… wild aus. Und mal wieder unterstrich sein dunkelblaues Hemd perfekt seine Augenfarbe. Joey stöhnte leise in sich hinein, er musste unbedingt auf andere Gedanken kommen.   “Nächstes Mal mach ich dich fertig, Kaiba.”   Der lachte kurz auf, bevor er antwortete: “Davon träumst du, Wheeler.”   Und mit diesen Worten machte sich beide auf in ihre jeweiligen Apartments. Joey gab es ungern zu, aber trotz der Niederlage hatte er den Abend wirklich genossen. In dieser Nacht würde er von eisblauen Augen träumen, und nur wenige Meter weiter träumten eisblaue von goldbraunen. Kapitel 6: Rescue me... from the Christmas melancholy ----------------------------------------------------- Und so zogen die Wochen ins Land. Mittlerweile war es Mitte Dezember, nur noch knapp zwei Wochen bis Weihnachten und die Vorweihnachtszeit war auf ihrem Höhepunkt angekommen. Joey mochte die positive Atmosphäre, die von dieser Zeit des Jahres ausging. Die Bäume auf den Straßen waren festlich geschmückt und ein buntes Lichtermeer füllte die Viertel der Stadt. Er hatte auch den Eindruck, dass die Menschen in dieser Zeit irgendwie fröhlicher waren als sonst.   Für ihn war es aber auch eine Zeit der Wehmut, denn ihm wurde sehr bewusst, dass er keine Familie hatte. Er würde seine Mum und Serenity zwar dazu zählen, aber sie waren so weit weg, nicht präsent in dieser Zeit, die viele eng mit ihrer Familie verbrachten. Das war Joey schon lange nicht mehr vergönnt. Seine Mum und Serenity waren ihn hier noch nie besuchen, seit sie in die USA gegangen waren, und er glaubte nicht, dass sich das in naher Zukunft ändern würde. Er versuchte, es nicht so nah an sich ranzulassen und dennoch die positiven Seiten des Festes zu sehen, aber es fiel ihm jedes Jahr ein wenig schwerer.   Zwischen Kaiba und ihm hatte sich nach ihrem letzten gemeinsamen Erlebnis im Fitnessraum nicht wirklich was verändert - es war, als wenn sie nach jedem solcher Treffen nicht so richtig wussten, wie sie miteinander umgehen sollten. Als hätten sie Angst, etwas falsch zu machen und damit die Magie des Augenblicks zu zerstören. Also lebten sie wie immer nebeneinander her, aßen zusammen oder fuhren zusammen zur Schule. Und Joey musste sich fragen, ob sich das jemals ändern würde, ob sich die Atmosphäre dieser besonderen Momente irgendwann auch auf ihren Alltag übertragen würde. Ein kleines bisschen hoffte er es.   “Hey, Joey, ist alles okay?”, fragte Mokuba, der seitlich von ihm am Frühstückstisch saß. Joey stocherte geistesabwesend in seinem Essen rum und kam erst jetzt wieder in die Realität zurück.   “Hm? Ja, klar, hab’ nur gerade über Weihnachten nachgedacht, das ist alles”, erwiderte er lächelnd. Der Glanz in Mokubas Augen zeigte ganz klar seine Begeisterung für das Fest, und enthusiastisch sagte er: “Oh, ich liebe Weihnachten! Wo wir gerade davon sprechen, es gibt dieses Wochenende den legendären Weihnachtsmarkt in Kaiba-Land! Mit Achterbahnen, vielen anderen Fahrgeschäften, gebrannten Mandeln und Glühwein und so. Wir sollten da gemeinsam hin! Joey, du kannst doch auch deine Freunde fragen, ob sie mitkommen wollen.”   Joey war sofort Feuer und Flamme für diese Idee. Das würde seinen Weihnachtsblues vielleicht ein bisschen vertreiben und ihn auf andere Gedanken bringen.   “Klingt super! Ich frag’ heute mal alle in der Schule”, sagte Joey, bevor er zu Kaiba rüberblickte, der ihm gegenüber saß, und fragte: “Kommst du auch mit?”   Der schnaufte nur, antwortete dann aber: “Wenn’s sein muss. Ich muss jetzt los, ich geh’ noch kurz ins Arbeitszimmer, bevor wir in die Schule fahren. Komm ja nicht wieder zu spät, Hündchen!”   Als Kaiba verschwunden war, atmete Joey hörbar aus. Kaiba war wirklich ein ganz schöner Morgenmuffel.   “Mach dir nichts draus, Joey, Seto konnte Weihnachten noch nie leiden”, erklärte Mokuba.   “Warum das?”   Schulterzuckend antwortete der Kleine: “Weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht so richtig. Ich muss ihn immer dazu zwingen, dass wir einen Baum kaufen und ihn schmücken. Er hat zwar jedes Jahr ein Geschenk für mich, und ich für ihn, aber er scheint diese Zeit nie wirklich zu genießen und scheint froh, wenn es endlich vorbei ist. Ist eigentlich mit so ziemlich allen Feierlichkeiten im Jahr so, wenn ich es so recht bedenke.”   Mokuba musste darüber ein bisschen lachen, und Joey stieg mit ein. Ja, das konnte er sich irgendwie lebhaft vorstellen, auch wenn er gern verstehen würde, warum dem so war.   “Los, komm, wir sollten uns langsam auf den Weg machen, sonst köpft mich dieser Drache von deinem Bruder noch.” Grinsend machte sich Joey auf den Weg zum Wagen, der schon vor der Tür auf sie wartete, ebenso wie Kaiba.   In der Mittagspause saßen die Freunde wieder zusammen in der Kantine, und da ergriff Joey die Chance, seine Freunde nach dem Weihnachtsmarkt zu fragen. “Hey, Leute, hört mal, Mokuba hat mich eingeladen, auf den Weihnachtsmarkt im Kaiba-Land zu gehen. Habt ihr Lust, auch mitzukommen? Ist dieses Wochenende.”   Als er in drei begeisterte Gesichter schaute, war klar, dass jeder von ihnen absolut dabei war. “Tolle Idee!”, preschte Yugi als erster nach vorn. Auch Téa und Tristan nickten heftig und er war sehr froh, dass sie dabei sein würden.   Dann fragte Tristan: “Wird der Eisklotz da hinten auch mitkommen?”   Joey schaute zu Kaiba rüber, der an seinem üblichen Tisch saß und in just diesem Moment ebenfalls seinen Blick hob. Joey lächelte etwas verlegen, bevor er seinen Blick wieder abwandte und seine Freunde anschaute. “Schätze schon, wenn auch widerwillig.” Daraufhin musste die Gruppe einen Moment lachen.   Joey sah erneut zu Kaiba rüber, der ihn weiterhin anblickte, und irgendwas in seinem Blick sah… verletzt aus? Dachte er, sie hätten über ihn gelacht? Na ja, streng genommen hatten sie das, aber nicht aus Boshaftigkeit. Joey versuchte, diesen Worten mit seinem Blick Ausdruck zu verleihen, woraufhin Kaibas Augen ein wenig sanfter zu werden schienen. Dann wandten sich beide Männer voneinander ab und wieder ihrem Essen zu.   Joey war die ganze Woche schon total aufgeregt, wenn er an den Weihnachtsmarkt am Wochenende dachte. Irgendwie war es was ganz Besonderes, und er war auch noch nie im Kaiba-Land und freute sich auf die neue Erfahrung. Er freute sich auch, dass seine Freunde mitkommen durften, auch wenn er sehr gespannt war, wie sich das mit Kaiba vertragen würde. Seit er bei ihm wohnte, war er gefühlt Teil von zwei Welten - der Kaiba’schen und der ‘normalen’ Welt, wenn man das so sagen konnte. Was passierte wohl, wenn beide Welten kollidierten? Alles, was er hoffte, war, dass es nicht in einer Prügelei endete.   Samstag, der Tag, an dem die Gruppe sich zum Weihnachtsmarkt aufmachte, war der erste, strahlend helle Sonnentag seit langem. Es hatte in den letzten Wochen viel geregnet, und wenn es nicht geregnet hatte, war es zumindest stark bewölkt. Schnee hatte sich bisher nicht angekündigt, es dürfte aber wohl bald soweit sein, weil die Temperaturen immer weiter sanken und auch heute nur minimal über dem Gefrierpunkt lagen. Daher zog sich Joey sowohl Schal als auch Handschuhe über, zog seinen dicken, grünen Wintermantel und die gefütterten Winterstiefel an. Er zog seine dunkelblaue Jeans über die Stiefel und sah sich noch einmal im Spiegel des Ankleidezimmers an. Perfekt, so konnte er losgehen. Also machte er sich auf den Weg zur Limousine, die ihn, Mokuba und Kaiba zum Kaiba-Land bringen sollte.   Natürlich warteten die Kaiba-Brüder schon ungeduldig auf ihn. Joey stieg ein und nahm neben dem großen Kaiba platz, während der kleine Kaiba ihnen hibbelig gegenüber saß und seine Freude nicht verbergen konnte. Joey musste grinsen, als er den Kleinen so sah.   “Na, freust du dich schon, Mokuba?”, fragte der Blonde.   “Und ob! Ich weiß noch gar nicht, was ich als erstes machen will. Erst in die Achterbahn? Oder doch erst ein paar Lose kaufen? Oh, es ist so aufregend!”   Joey lachte leise, als er sich anschnallte und das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Kaiba hatte bisher weder ein Wort gesagt noch einen Mucks gemacht. Was ihm wohl durch den Kopf ging?   Lange hatte er allerdings nicht Zeit, darüber nachzudenken, denn die Fahrt war schneller vorbei als er gedacht hatte. Sie stiegen aus und schon erblickten sie Yugi, Tristan und Téa, die schon am Eingang auf sie warteten.   “Hey, Leute!”, begrüßte Joey sie winkend. Während sich die Freunde begrüßten, blieb Kaiba immer ein paar Schritte hinter ihnen, dennoch konnte Joey den kalten Blick des Größeren in seinem Rücken spüren. Er versuchte, die Gänsehaut, die sein Blick verursachte, zu ignorieren und stürzte sich freudestrahlend mit den Anderen ins Getümmel.   Kaum waren sie durch das große Eingangstor gegangen - als die Angestellten sahen, dass Kaiba dabei war, durften sie alle kostenlos rein - staunte Joey nicht schlecht. “Wow…” murmelte er vor sich hin und ließ seinen Blick schweifen. Er bewunderte die bunten Lichter und die wunderschöne Dekoration. Es war gar nicht so kitschig, wie er es sich vorgestellt hatte. Es gab Lichterketten, und in den Bäumen, die die Wege säumten, hingen kleine Lampions. Er blickte zu Kaiba auf, der in diesem Moment neben ihm stand. Der Größere war heute ganz in schwarz gekleidet, und auch wenn Joey sich fragte, warum er wie für eine Beerdigung angezogen war, so stand es ihm doch ausgezeichnet, unterstrich seine dunklen Haare und ließ seine Augen in noch intensiverem Blau erstrahlen.   Kaiba erwiderte den Blick und Joey konnte sehen, dass er sich für einen Moment ein bisschen entspannte. Doch dann schrie Tristan “Waaaaaaahnsinn, Leute, mit der Achterbahn müssen wir fahren!”, und sofort straffte sich Kaiba wieder, so als ob er sich dafür wappnen würde, diesen Tag in der Gruppe zu überstehen. Mit seinem Blick wollte Joey ihm sagen: ‘Du schaffst das’ und hoffte, er würde das verstehen. Schon witzig zu sehen, wie sie gelernt hatten, über Blicke statt Worte zu kommunizieren. So stritten sie sich immerhin nicht unentwegt, und Joey freute sich darauf, den Weihnachtsmarkt mit seinen Freunden auszukundschaften.   Zuerst probierten sie die Achterbahn aus, die wie ein chinesischer Drache aussah. Kaiba, der alte Miesepeter, hatte kein großes Interesse daran und wartete vor der Bahn auf sie. Joey hatte den Spaß seines Lebens - in jeder Kurve, bei jedem Looping kreischte er auf wie ein kleines Kind und gluckste vor Glück vor sich hin. Als sie ausstiegen, ließ ihn das Adrenalin zittern und er musste sich erst mal an einem Geländer am Wegesrand festhalten. Seine Freunde fingen an zu lachen und Joey musste in das Gelächter einstimmen. Er genoss die gute Stimmung und ihre gute Laune war einfach ansteckend.    Mittlerweile hatte sich auch Kaiba wieder zu ihnen gesellt, der Joey, noch immer mit festem Griff am Geländer, genau musterte. “Alles okay, Hündchen?”, sagte er so, dass es nur Joey hören konnte.   Joey wischte sich die Lachtränen aus den Augen. “Ja, alles gut, das Teil war echt ziemlich krass. Wie viele Loopings hast du da eingebaut, Kaiba?” Wieder musste Joey loslachen.   “Den Park und die Attraktionen haben andere Leute für mich designt. Ich kümmere mich lieber um die Spiele.”   Joey, der sich langsam vom Geländer weg bewegen konnte, machte einen Schritt auf ihn zu. Das Lächeln würde er heute wohl nicht mehr aus dem Gesicht bekommen. “Bin sicher, die sind genauso cool wie die Attraktionen hier.” Und da war er wieder, dieser intensive Augenkontakt, und Joey hatte das Gefühl, sie wären allein, nur für den einen Moment. Bis plötzlich Téas Stimme ertönte. “Hey, Joey, komm schon, wir wollen weiter!”   “Alles klar, komme!” Und damit wandte er seinen Blick ab und folgte seinen Freunden. Und als er so an Kaiba vorbeiging, streiften sich für eine kleine Sekunde ihre Hände, und Joey konnte die Berührung durch ihre Handschuhe deutlich fühlen. Als Joey bei seinen Freunden ankam, die sich gerade angeregt mit Mokuba unterhielten, drehte er sich noch mal kurz um, um sicherzugehen, dass Kaiba ihnen weiter folgte. Kaiba nickte Joey zu und setzte sich auch wieder in Bewegung, ohne seinen Blick von ihm zu lösen, was Joey nur sanft lächeln ließ. Wer war jetzt das Hündchen hier?   Als nächstes aßen sie an einem Stand Okonomiyaki, bevor sie sich am nächsten Stand ein paar Lose kauften. Joey hatte leider nur Nieten, da hatte Mokuba mehr Glück, der ein kleines Kuscheltier gewann. Dann noch ein paar gebrannte Mandeln, und schon ging es in das nächste Fahrgeschäft, eine Art Weltraumsimulator, der sie schwerelos werden ließ. Anschließend drehten sie alle eine Runde im Autoscooter, bei der Joey ordentlich von seinen Freunden in die Mangel genommen wurde und schon Angst hatte, ein Schleudertrauma zu erleiden.   Als Mokuba, Tristan, Téa und Yugi unbedingt den Freefall-Tower ausprobieren wollten, winkte Joey ab. “Sorry, Leute, ich brauch mal ‘ne Pause. Geht ruhig ohne mich, ich hol’ mir in der Zeit mal was zu trinken.” Also stapften die Freunde davon und Joey blieb mit Kaiba zurück, zu dem er sich nun umdrehte. “Glühwein?”, fragte er ihn lächelnd. Würde er dieses Grinsen heute noch mal aus dem Gesicht bekommen?   Kaiba nickte und wies ihm mit einer Kopfbewegung den Weg. Sie entschieden sich für die alkoholfreie, aber nicht minder leckere Variante, und da Kaiba die beiden Getränke orderte, musste er natürlich wieder nichts dafür bezahlen. Als sie die Becher mit der warmen Flüssigkeit in der Hand hielten, setzten sie sich sich auf eine etwa hüfthohe Mauer etwas abseits vom Trubel.   “Ist echt klasse hier, Kaiba. War echt ‘ne spitzenmäßige Idee von Mokuba.”   “Ja, war vielleicht wirklich nicht so eine schlechte Idee.”   “Wow, das sollte ich Mokuba sagen, dass du heute außer Murren auch noch was anderes von dir gegeben hast.” Belustigt stieß er ihm mit dem Ellenbogen in die Seite und erntete dafür einen finsteren Blick. Aber nichts, auch nicht der grimmige Gesichtsausdruck eines Seto Kaiba, konnte ihn jetzt von seiner guten Laune abbringen.   Für einen Moment saßen sie einfach schweigend nebeneinander, bevor Joey erneut das Wort ergriff. “Hey, Kaiba, kann ich dich mal was fragen?”   “Hätte ich denn überhaupt eine Chance, dich davon abzuhalten?”   Joey lachte auf. “Vermutlich nicht, nein.” Nach kurzem Schweigen sagte Joey: “Mokuba hat erzählt, du kannst Weihnachten nicht leiden. Wieso?”   Kaiba nahm einen großen Schluck von seinem Glühwein. “Ich sehe einfach keinen Sinn darin. Ich weiß, dass Mokuba das schon tut, und schenke ihm daher jedes Jahr was, aber ich erwarte nie eine Gegenleistung. Für mich sind die Weihnachtsfeiertage Tage wie alle anderen auch.”   Joey drehte sich ein wenig zu Kaiba um. “Ach, komm, da steckt doch noch mehr dahinter.” Joey blickte Kaiba neugierig an und hoffte, er würde den wahren Grund preisgeben. Der schien mit sich zu ringen, aber als er den Blick des Blonden erwiderte, begann er zu erzählen. “Wir haben das letzte Mal so richtig Weihnachten gefeiert, als unsere Eltern noch lebten. Und Gozaburo legte da genauso wenig Wert drauf - das ist vermutlich der Grund, warum Mokuba das jetzt so wichtig ist. Ich glaube, er denkt, er hätte da jahrelang was verpasst. Mich erinnert es eher daran, was ich verloren habe, seit sie gestorben sind.”   Joey stellte seinen Glühweinbecher auf der Mauer ab und schaute Kaiba besorgt an. “Tut mir leid, ich wollte nicht…” Doch der hob direkt abwehrend die Hände und stellte seine Tasse ebenfalls auf die Mauer. “Kein Grund, dich zu entschuldigen, Hündchen. Das ist lange her.”   “Mhm. Aber ich weiß, was du meinst. Mir geht es ähnlich, auch wenn meine Eltern noch leben. Wobei ich auf meinen Dad wirklich sehr gut verzichten kann, wie du dir vorstellen kannst. Aber ich vermisse Mum und Serenity sehr. Ich hab’ sie nicht mehr gesehen, seit sie in die USA gegangen sind. Und immer, wenn Weihnachten näher rückt, vermisse ich sie noch ein kleines bisschen mehr.”   Unwissentlich kamen sie sich näher, bis sich ihre behandschuhten Hände berührten. In Joey stieg Hitze auf, so als wenn sich alle Wärme aus Kaibas Hand durch ihre Handschuhe auf ihn übertragen würde. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Er sah, dass Kaiba den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, doch da hörten sie schon Mokuba in der Ferne rufen: “Hey, da seid ihr ja, kommt mit, es geht weiter!”   Sogleich lösten sie die Berührung und sofort hatte Joey das Gefühl, es fehlte was. Was machte Kaiba nur mit ihm? Warum wollte er plötzlich nichts mehr als in seiner Nähe sein? Er war verwirrt und glücklich zugleich. Er brauchte wirklich mal eine Pause von diesem Gefühlschaos.   Sie gaben die leeren Glühweinbecher am nächsten Stand ab, und als sie wieder zur Gruppe stießen, fragte Yugi: “Hey, Joey, hast du mal einen Moment?”   “Klar, was gibt’s?” Sie setzten sich ein bisschen von der Gruppe ab und Kaiba ging rüber zu Mokuba, die dann Arm in Arm weiter gingen. Er erinnerte sich daran, was Kaiba ihm gerade erzählt hatte, dass er für Mokuba trotzdem irgendwie Weihnachten feierte, wenn auch vielleicht nicht in der Größe, wie Mokuba es sich wünschen würde, aber er sprang über seinen Schatten, weil er wusste, es war Mokuba wichtig. Das ließ sein Herz ein bisschen höher schlagen. Mokuba konnte froh sein, einen Bruder wie ihn zu haben.   “Joey?”   “Ah, ja, sorry, war kurz abgelenkt”, grinste der Blonde.   “Ich wollte eigentlich nur wissen, wie es dir so geht? Ich hab’ das Gefühl, wir haben in letzter Zeit gar nicht mehr so richtig gesprochen.”   “Das stimmt, und es tut mir leid, dass ich mich so distanziert habe. Ich brauchte einfach ein bisschen Zeit, um mich zu ordnen. Es war alles einfach ein bisschen… ungewohnt, weißt du?”   “Versteh’ ich gut. Aber geht es dir gerade gut?”   Darüber musste Joey einen Moment nachdenken. “Ehrlich gesagt, geht es mir gerade tatsächlich ganz gut. Ich hab’ hier viel Spaß heute, es fühlt sich irgendwie nach Normalität an. Und ich weiß, dass ihr alle das irgendwie komisch findet, dass ich bei Kaiba wohne, aber es hilft mir, Abstand zu gewinnen von meinem Dad. Das war kein gutes Umfeld mehr für mich, und ich bin froh, dort nicht mehr zu sein.”   Joey konnte sehen, dass Yugi eine Million Fragen auf der Seele brannten, was das Zusammenleben mit seinem Dad betraf. Aber er wusste aus Erfahrung, dass er aus Joey nicht so viel rausbekommen würde, das musste er freiwillig tun. Er hatte es so oft probiert, und dennoch nie eine richtige Antworte erhalten, weil Joey immer ausweichend war - oder eben knallhart gelogen hatte. Joey fühlte sich deswegen auch ziemlich schlecht. Irgendwann würde er die Kraft finden, mit ihm darüber zu sprechen. Vielleicht, wenn noch ein wenig mehr Zeit vergangen war, vielleicht würde er es dann schaffen.    Yugi übersprang also die Fragen, bei denen er wusste, er würde keine - oder nur eine unzureichende - Antwort erhalten, und fragte stattdessen: “Und wie läuft es mit Kaiba? Ehrlich, Joey, wie er dich ansieht - als wenn er jeden umbringen würde, der dir auch nur zu nahe kommt oder dir ein Haar krümmt.”   “Wirklich? Das… das ist mir gar nicht aufgefallen.” Er betrachtete Kaiba, der mit Mokuba noch immer ein paar Schritte vor ihnen lief. Wollte Kaiba ihn tatsächlich beschützen? Aber vor was? Und warum? Plötzlich war da wieder das totale Gefühlschaos, und ihm war irgendwie kalt und heiß zugleich.   “Das ist ja nichts Schlimmes, Joey. Nur komisch, wo ihr euch doch sonst immer angegiftet habt.”   “Stimmt, und hey, falls dich das tröstet, manchmal machen wir das noch immer.” Die beiden Freunde stimmten in ein Lachen ein, und in dem Moment drehte sich Kaiba zu ihnen um. Und anhand seines Gesichtsausdruckes konnte es Joey jetzt auch sehen. Er konnte nicht anders, als glücklich strahlen, Kaibas Blick blieb wie immer undurchdringlich und undefinierbar.   Joey und Yugi gingen langsam zurück zur Gruppe. “Hey, lasst uns noch das Dosenwerfen machen!”, schrie Mokuba fröhlich, und alle stimmten ein. Joey stand etwas hinter ihnen und schaute ihnen dabei zu, er selbst hatte kein großes Interesse an Dosenwerfen. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Kaiba an den Stand daneben ging, an dem man Bogenschießen machen konnte. Er beobachtete jeden seiner Schritte: Wie er erst sanft über den Bogen strich und sich dann einen Pfeil nahm und ihn in den Bogen einspannte. Sein Blick war konzentriert nach vorn gerichtet, als er den Pfeil im Bogen nach hinten zog und mit kontrollierten Handbewegungen los ließ. Und wenn er das von hier richtig erkennen konnte, hatte er mitten ins Schwarze getroffen.   Das hatte seine Neugierde geweckt, und er lief zu Kaiba rüber, um genau zu sehen, wie er das machte. Der Rest seiner Freunde war eh beim Dosenwerfen abgelenkt und beachtete ihn nicht weiter. Kaiba registrierte ihn zwar, spannte aber sogleich den nächsten Pfeil in den Bogen und wiederholte das Spiel. Ein Mitarbeiter des Stands hatte den ersten Pfeil aus der Zielscheibe entfernt, dann setzte Kaiba erneut an - und Boom, wieder voll in die Mitte, dabei war das Zielfeld einige Meter weg und für Joeys Empfinden ziemlich klein.   “Wahnsinn…”, murmelte Joey bewundernd vor sich hin, als er den Pfeil an der Zielscheibe betrachtete. Dann wandte sich Kaiba ihm zu und hielt ihm den Bogen hin.   “Willst du es auch mal probieren?”   Joey senkte verlegen den Kopf. “Lieber nicht, ich glaube, ich kann da nicht mithalten.” Als er wieder aufsah, stand Kaiba ganz nah bei ihm. “Ich helfe dir. Komm.”   Also nahm Joey allen Mut zusammen und ging auf den Stand zu. Skeptisch sah er Bogen und Pfeil an. Er hatte Kaiba zwar gerade ganz genau beobachtet, aber er hatte dennoch keine Ahnung, was er eigentlich machen musste. Er nahm den Bogen in die Hand und betrachtete ihn argwöhnisch. Kaiba stand nun hinter ihm und griff an ihm vorbei nach dem Pfeil. Er positionierte den Bogen korrekt in Joeys Händen und führte den Pfeil für ihn in den Bogen ein. Joeys Rücken berührte Kaiba, und sein ganzer Körper bekam eine Gänsehaut. Er konnte seinen warmen Atem in seinem Nacken spüren.   Als alles so lag, wie es offensichtlich liege musste, umgriff Kaiba Joey so, dass er mit ihm zusammen den Bogen spannen konnte. “Los…”, murmelte Kaiba, und zeitgleich ließen sie den Pfeil vom Bogen - und er traf genau in die Mitte des Ziels, so wie Kaibas erste zwei Versuche auch. Seine Arme waren immer noch um Joeys Körper und er konnte ihn dicht an seinem Ohr atmen hören.   “So macht man das, mein Hündchen”, flüsterte Kaiba ihm ins Ohr, er konnte höchstens ein paar Zentimeter davon entfernt sein und seine Stimme klang ungewohnt rau. “Wow, das… das war…” Joey fehlten die Worte. Er war wie im Rausch, high von den Endorphinen, die seinen gesamten Körper durchströmten. Er wollte, dass dieser Moment nie zu Ende ging, und er konnte nicht sagen, wie lange sie dort so standen. Waren es Sekunden, Minuten, Stunden? Er drehte sich nun zu Kaiba um. Seine Augenfarbe veränderte sich ständig, es war wie ein unruhiges Meer, und er konnte klar seine beschleunigte Atmung ausmachen. Joey fühlte, wie seine Wangen heiß wurden, und er hoffte, dass sie sich unter den kühlen Augen Kaibas wieder abkühlen würden, aber der Plan ging nicht auf, sie wurden eher noch wärmer unter seinem stürmischen, fast fordernden Blick.   Irgendwann blickte Joey zurück zur Gruppe und sah, wie Mokuba sie beobachtete. Sofort nahm Joey ein bisschen Abstand von Kaiba, vermisste aber sogleich die Nähe und Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Er war noch wie in Trance, als die Gruppe zu ihnen stieß.   “Wow, Kaiba, hast du den Pfeil, der da in der Zielscheibe steckt, direkt in der Mitte versenkt?”, fragte Téa anerkennend, doch Kaiba sah nur zu Joey, mit ganz leichtem Schmunzeln auf den Lippen, das nur jemand erkennen konnte, der so nah bei ihm stand wie Joey, und antwortete: “Nein, das war Wheeler.” Das war natürlich glatt gelogen, und er wusste das und ließ Joey trotzdem das ganze Lob einheimsen, das sofort von all seinen Freunden kam. Aber er konnte überhaupt nicht reagieren. Wie sehr sich Kaiba verändert hatte, seit sie zusammen wohnten. Noch immer gab es da diese leise Stimme in ihm, die ihm sagte, er tut das nicht ganz uneigennützig, weil sie doch diesen Deal hatten, aber eine andere, viel lautere Stimme flüsterte ihm ins Ohr, dass der Eisklotz vielleicht kein Eisklotz mehr war. Vielleicht war er mittlerweile nur noch eine kleine Eisscholle.   Mittlerweile sank die Sonne unaufhaltsam am Horizont und es wurde langsam Zeit, sich in Richtung Ausgang zu machen. Aber Joey hatte noch etwas zu erledigen, daher sagte er zu seinen Freunden: “Hey, geht doch schon mal zum Ausgang, ich bin gleich wieder da. Ich treffe euch dann da!” Kaiba wollte Anstalten machen, bei ihm zu bleiben, doch ganz leicht schüttelte Joey den Kopf, sodass nur Kaiba es wahrnehmen konnte, und formte mit den Lippen ein ‘Vertrau mir’. Kaiba nickte kaum merklich und folgte dem ‘Kindergarten’, wie er sie immer so schön nannte, und seinem kleinen Bruder zum Ausgang.   Als sie außer Sichtweite waren, ging Joey an einen Stand mit viel Krimskrams, an dem sie vorhin schon vorbei gelaufen waren. Er wusste nicht, ob sie sich was zu Weihnachten schenken würden, Kaiba hatte ihm heute ja klar gemacht, dass er da keinen großen Wert drauf legte. Und dennoch, er wollte ihm etwas schenken, wenn es auch nur symbolischen Charakter haben würde. Na ja, was sollte man jemandem schon groß schenken, der entweder schon alles hatte oder mehr als genug Geld, um sich alles zu kaufen, was er haben wollte?   Also kaufte er eine Kleinigkeit und hoffte, es würde dem Größeren gefallen. Auch für Mokuba kaufte er etwas, und mit der kleinen Tüte in der Hand machte auch er sich in Richtung Ausgang auf.   Dort traf er zuerst auf Kaibas Augenpaar, das ihn schon ungeduldig erwartete. Mit seinen Augen wollte Joey ihm sagen: ‘So lange war ich nun wirklich nicht weg, beruhig’ dich mal!’, und Kaiba schien zu verstehen. Die Gruppe verabschiedete sich voneinander und Kaiba rief die Limousine, in die er, Joey und Mokuba nacheinander einstiegen. Mokuba saß Kaiba wieder gegenüber und Joey neben Kaiba.   “Was für ein grandioser Tag!”, jubelte Mokuba sofort los, kaum dass sich das Auto in Bewegung gesetzt hatte. “Stimmt, es war einfach richtig toll. Und die vielen Fahrgeschäfte? Wow, die Achterbahn direkt am Anfang hat mich gekillt!” Die beiden Jungs lachten beherzt und unterhielten sich noch ein paar Minuten über alles, was ihnen am besten gefallen hatte. Dabei würde Joey Stillschweigen darüber bewahren, was an diesem Tag wirklich sein Herz hatte höher schlagen lassen.   “Wie hat es dir gefallen, Seto?”, fragte Mokuba an seinen Bruder gerichtet.   Dieser legte wieder diesen undefinierbaren Blick auf. “War ganz okay”, erwiderte der mehr oder weniger monoton. Back to the roots, hm?   Joey strahlte Kaiba an. “Also ich fand es wirklich richtig, richtig toll heute. Unheimlich schön.”   Kaiba blickte ihm wieder in die Augen, und trotz seiner ganzen abwehrenden Körpersprache, die Arme verschränkt vor der Brust, konnte Joey in dessen Augen doch eine ganz andere Sprache erkennen. Er wollte Kaiba mit seinem Satz klar machen, wie sehr er die Zeit vor allem mit ihm allein genossen hatte, und hoffte, dieser würde es verstehen. Was würde er dafür tun, dass er ihn lächeln sehen könnte, wenn auch nur für einen Moment. Und tatsächlich - er hätte es fast nicht bemerkt, wenn er ihn nicht so genau anschauen würde, aber für den Bruchteil einer Sekunde zogen sich Kaibas Mundwinkel ein winziges bisschen nach oben. Es war nur ein minimales Zucken, aber er konnte sehen, dass das Eis in seinen Augen ein bisschen schmolz. In diesem Moment stellte Joey fest, dass er schon lange nicht mehr so glücklich war wie in diesem Augenblick, als der Eisklotz zu schmelzen begann. Kapitel 7: Rescue me... from too many heart beats ------------------------------------------------- Der 24. Dezember brach an und läutete damit die Weihnachtsfeiertage im Hause Kaiba ein. Statt eines Frühstücks oder Mittagessens gab es einen Weihnachtsbrunch, allerdings erst um elf Uhr, sodass Kaibas Frühstück lediglich aus Kaffee bestand, bis er dann beim Brunch das erste Mal feste Nahrung zu sich nahm. Das war so Tradition bei den Kaibas, genau wie das Weihnachtsdinner am Heiligen Abend. Direkt nach dem Brunch hatte Kaiba sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und hatte mehr oder weniger schlechte Laune. Weihnachten nervte ihn, all das Gesinge und Gebimmel, er konnte einfach nicht verstehen, was so besonders an diesen drei Weihnachtstagen sein sollte, die ja, zumindest, wenn man nicht religiös war, doch nur dem Konsum galten. Gut, einen Vorteil hatte es, seine Firma fuhr auch dieses Jahr zur Weihnachtszeit wieder Rekordgewinne ein, weil sie zwei Monate zuvor noch ein ganz neues Virtual Reality Spiel rausgebracht hatten, das die Kids nun unbedingt haben wollten. Aber das würde nicht die Tatsache aufwiegen, dass Mokuba schon seit Wochen tanzend und singend durch die gesamte Villa hüpfte und einen Weihnachtssong nach dem anderen trällerte. Kaiba musste sich für einen Moment die Schläfen massieren. Wenn er nicht aufpasste, würde er noch die Kopfschmerzen seines Lebens bekommen.   Und dann war da auch noch die Sache mit dem Hündchen. Vor knapp zwei Wochen waren sie sich so nahe gewesen, dort auf dem Weihnachtsmarkt, wenn auch nur für wenige, dafür aber umso außergewöhnlichere Momente. Seitdem spürte er eine Sehnsucht in sich, die er nicht ganz definieren konnte, weil er auch nicht wusste, wonach eigentlich. Aber es war ihm besonders nach diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt aufgefallen, und auch wenn er den ganzen Trubel nicht nachvollziehen konnte, so war er für diesen Tag doch dankbar. Er hatte wieder ein bisschen mehr von Wheeler erfahren und war wieder mal erstaunt darüber, wie offen sie beide mittlerweile miteinander sprechen konnten. Auch wenn er zugeben musste, dass er selbst kein Mann der großen Worte war. Aber Kommunikation musste ja nicht immer mit Worten passieren. Als Wheeler ihm auf dem Rückweg in der Limousine erklärte, wieviel Spaß er an diesem Tag gehabt hatte, da hatte er diesen Blick in seinem Gesicht, und es war ganz eindeutig, was er ihm damit sagen wollte. Er musste sich unheimlich beherrschen, sein wahnsinniges Lächeln nicht zu erwidern, aber ein Seto Kaiba lächelt nicht einfach mir nichts, dir nichts so daher. Nachher würde ihm das noch jemand als Schwäche auslegen, da musste er wirklich vorsichtig sein.   Das war auch das letzte Mal gewesen, dass er ihn hatte lächeln sehen. Wheeler zog sich danach ein wenig zurück und wirkte irgendwie abwesend und traurig. Kaiba kam nicht umhin, sich ständig zu fragen, ob das was damit zu tun hatte, was er ihm auf dem Weihnachtsmarkt erzählt hatte, nämlich seine ganz eigenen Gründe, warum er Weihnachten nicht so innig feiern würde wie es beispielsweise Mokuba gern tat. Und auch wenn sich ihre Gründe ein wenig unterschieden - im Kern ging es bei beiden um das Familiäre und die Erinnerung daran, was sie nicht mehr hatten.   Er gestand es sich nur ungern ein, war sogar ein wenig genervt davon und würde das sicherlich niemals laut aussprechen, aber - er wollte den Blonden wieder lächeln sehen. Es war befreiend, als er ihn so glücklich gesehen hatte. Seit diesem Tag nahmen goldbraune Augen immer mehr seine Gedanken ein, und er verfluchte sich dafür, dass es so war, aber je mehr er dagegen ankämpfte, desto hartnäckiger wurden diese Gedanken. Also gab er es irgendwann auf - es war ja immerhin alles in seinem Kopf, und so lange niemand ein Gerät erfand - und er hoffte inständig darauf, dass das noch lange so blieb - das seine Gedanken erkennen konnte, wäre er sicher. Was sich in seinem Kopf abspielte, musste allerdings unter allen Umständen unter Verschluss bleiben.   Er sah auf die Uhr, es war kurz nach 15 Uhr. Seine Überraschung für das Hündchen müsste bald hier eintreffen. Es war nicht ganz einfach gewesen, das zu organisieren, insbesondere nicht, ohne ihn einzuweihen, aber am Ende war er erfolgreich gewesen - was auch sonst. Er erhob sich von seinem aus Leder gefertigten Bürostuhl und machte sich auf die Suche nach Wheeler. Die Suche sollte nicht so lange dauern, denn er hörte Mokuba schon aus der Ferne durchs ganze Haus brüllen.   “Joey, los, die Girlande! Nein, noch ein bisschen höher! Oh, wie schön das alles schon aussieht!”   Bevor er den Festsaal betrat, musste er ein leises Lachen unterdrücken. Auch wenn er mit Weihnachten nicht viel anfangen konnte, Mokuba konnte es, und wenn er ihn so glücklich sah, war er es auch. Komisch, mit Wheeler ging es ihm eigentlich ziemlich ähnlich, wenn er so darüber nachdachte. Was passierte hier nur mit ihm, was machte das Hündchen mit ihm?   Er betrat leise den Festsaal, den sie jedes Jahr als Platz für den Baum ausgewählt hatten. Dort fand auch immer ihr Weihnachtsdinner am Heiligen Abend statt, normalerweise nur mit Seto und Mokuba, aber das wäre dieses Jahr anders. Mokuba lief wie wild hin und her, trug kleine bunte Kugeln zum Baum, Lichterketten oder andere Dekoration, die Wheeler offensichtlich daran befestigte. Kaiba analysierte den Blonden und konnte erneut feststellen, wie abwesend dieser wirkte. Er gab sich alle Mühe, das zu verbergen, und es schien ihm vor Mokuba sogar zu gelingen, aber wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass seine Bewegungen mechanisch wirkten, nicht so natürlich und ausgelassen, wie er es sonst von ihm gewohnt war. Er konnte nur hoffen, dass er den Glanz und die Freude in seine Augen zurück bringen konnte, mit dem, was er vor hatte. In diesem Moment vibrierte sein Handy und er überflog die Nachricht. Es war Zeit.   Er ging auf Wheeler zu, der den Baum, etwa einen Meter größer als er, noch immer wie automatisiert mit bunten Kugeln füllte. “Hey”, sagte Kaiba nur zu ihm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie hatten in den letzten zwei Wochen nicht mehr viel geredet, auch weil der Blonde sich so zurückgezogen hatte. Daher wollte Kaiba sich jetzt vorsichtig rantasten. Das Letzte, was er wollte, war, ihn noch trauriger zu erleben als er offensichtlich eh schon war.   Das Hündchen sah auf, lächelte ihn an, aber Kaiba konnte sehen, dass es nicht echt war, denn es erreichte seine Augen nicht. “Hey, was gibt’s?”, antwortete der Kleinere. “Hast du eine Sekunde? Ich würde dir gern etwas zeigen”, erklärte Kaiba und konnte sofort das Erstaunen in Wheelers Gesicht wahrnehmen. Er war froh, zumindest wieder ein bisschen Leben in seine Gesichtszüge zurückbringen zu können.   “Hey, Mokuba?”, rief der Blonde dem kleinen Kaiba-Bruder zu. “Kannst du hier kurz allein weiter machen?” Mokuba, der noch immer voll im Weihnachtsrausch war, nickte ihm freundlich zu. Kaiba hatte Mokuba nicht gänzlich eingeweiht, weil er nicht wollte, dass er sich aus Versehen verplapperte, aber er hatte ihm schon angekündigt, dass er sich Joey für eine Weile ‘ausleihen’ musste.   Der Blonde ließ vom Weihnachtsbaum ab und folgte Kaiba. Sie nahmen die Treppe nach unten und gingen durch die große Eingangstür nach draußen und dort direkt zur Straße, wo sie dann zum Stehen kamen.   “Was machen wir hier, Kaiba?” Es schneite leicht, und laut Wetterbericht sollte sich der Schneefall am späten Nachmittag und am Abend weiter erhöhen. Einige wenige Schneeflocken landeten auf Wheelers Wange und begannen augenblicklich zu schmelzen und sanft an seinen Wangen runterzulaufen. Innerlich verfluchte er sich für diesen Gedanken, aber Kaiba wollte seine Hand ausstrecken und ihm die Wassertropfen von der Wange wischen. Ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken und er musste wirklich mit seiner Fassung ringen, als er daran dachte. Statt diesem Wunsch nachzugeben, erklärte er: “Das wirst du gleich sehen, Hündchen, kann nicht mehr lange dauern.”   “Gut, mir ist nämlich arschkalt!”   Sie standen vielleicht zwei oder drei Minuten dort, als seine Limousine vorgefahren kam. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Wheeler die Stirn runzelte. Er hatte den Braten noch immer nicht gerochen, und Kaiba wappnete sich innerlich für das, was gleich folgen würde.   Zuerst stieg ein Mädchen mit langen, hellbraunen Haaren aus dem Wagen, gefolgt von einer Frau mittleren Alters. Es war nicht zu übersehen, dass es Wheelers Mum war - sie hatte die gleichen Augen, die so strahlend hell leuchteten, als wäre sie die Sonne höchstpersönlich, und dieselben blonden Haare, auch wenn ihre gelockt waren. Er sah zum Hündchen rüber, dessen Gesichtsausdruck von Verwunderung nun zu einer Schockstarre wechselte.   “Serenity? Mum? Was…” Für einen kurzen Moment blieben alle stehen, auch seine Schwester und seine Mum blieben zunächst beim Wagen. Kaiba sah, wie Wheelers Augen sich langsam mit Tränen füllten. Dann, ganz plötzlich, löste sich der Knoten, und während der Blonde auf Serenity und seine Mum zurannte, schrie er voller Glück: “Oh mein Gott! Serenity! Mum! Oh mein Gott!” Kaiba blieb, wo er war und beobachtete für einen Augenblick die Familienzusammenführung. Sie lagen sich weinend in den Armen und er konnte sehen, dass sein Hündchen ein wenig zitterte und mit der Fassung rang. Auch Kaiba musste zugeben, dass ihn die Szene berührte. Und es machte ihn glücklich, weil es Joey glücklich machte, und er hoffte sehnsüchtig, damit endlich das Glänzen in seinen Augen wieder zu sehen.   Er wollte der Familie etwas Zeit allein geben, sein Job war getan. Er drehte sich um und lief zutiefst zufrieden zurück ins Haus, zurück in sein Arbeitszimmer. Auch wenn an Arbeit jetzt wirklich nicht zu denken war, brauchte er dennoch einen Moment Ruhe, um seine Gedanken und vor allem seine Gefühle zu ordnen.   ~~~~   Joey war noch immer fassungslos. Sie waren hier. Sie waren wirklich hier. Er konnte nicht glauben, was Kaiba da für ihn getan hatte. Als er sich umdrehte, um nach ihm zu sehen, war er verschwunden, und er nahm sich fest vor, mit ihm zu reden. Jedenfalls wenn er irgendwann seine Stimme zurückfand, im Moment war er mehr als sprachlos.   Noch immer lag sich die Familie in den Armen und ließ den Freudentränen einfach ihren Lauf. Joey hatte so viele Fragen, und doch genoss er einfach diesen Moment. Konnte man mehr Glück empfinden als in diesem Augenblick? Zu den vielen Endorphinen, die das höchste Glücksgefühl in ihm auslösten, mischte sich aber noch eine andere Empfindung - grenzenlose Dankbarkeit. Die letzten zwei Wochen waren schwer für ihn gewesen, weil er wusste, er würde an Heiligabend nicht bei seiner Familie sein, und auch wenn das nichts wirklich Neues war, so war da diese Schwere in ihm, dieser Schleier, der alles zu verdunkeln schien. All das löste sich in dem Moment, als Serenity und seine Mum aus der Limousine stiegen, wie in Luft auf, und er hatte das Gefühl, er könnte fliegen, wie ein Luftballon, prall gefüllt mit Helium, der nur den Weg nach oben kannte.   “Wir sind so glücklich, hier sein zu können, Joey”, sagte seine Schwester, wischte sich die Tränen aus den Augen und strahlte ihn an. Seine Mutter konnte nur nicken, strahlte ihn aber nicht minder intensiv an.   “Ich bin auch so unglaublich glücklich, dass ihr hier seid. Ihr habt mir so gefehlt, ehrlich. Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Wie seid ihr überhaupt hergekommen?”   Nun fand auch seine Mum zu ihrer Stimme zurück und antwortete: “Kaiba hat mich angerufen - keine Ahnung, woher er meine Telefonnummer hatte.”   Daraufhin musste Joey grinsen, zum ersten Mal seit Wochen. “Der Typ kriegt alles über dich raus, wenn er will.”   “Ja, kann ich mir gut vorstellen”, erwiderte seine Mum lachend. “Jedenfalls hat er uns eingeladen, herzukommen. Ich wollte erst absagen, weil wir einfach nicht das Geld hatten, um den Flug zu bezahlen, geschweige denn ein Hotelzimmer. Das war ja auch der Grund, warum wir es die letzten Jahre einfach nicht tun konnten, auch wenn es uns beiden das Herz gebrochen hat.” Daraufhin nickte Serenity energisch, um die Worte ihrer Mum zu unterstreichen.   “Aber daraufhin sagte er uns, dass er uns mit seinem Privatjet einfliegen wird und wir bei ihm in der Villa unterkommen könnten, selbstverständlich kostenfrei. Wir waren überwältigt, und ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass er ein Nein überhaupt akzeptiert hätte. Aber das sollte mir recht sein, es war endlich die Chance, auf die wir jahrelang gewartet haben. Und jetzt sind wir hier, und wir sind so unendlich dankbar.” Bei ihren letzten Worten musste sie wieder ein wenig vor Glück schluchzen.   “Mr. Wheeler?” Hinter Joey tauchte nun Roland auf. “Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber Mr. Kaiba bat mich, Ihren Gästen ihre Räumlichkeiten zu zeigen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?”   Joey nickte in seine Richtung und half den Beiden mit ihrem Gepäck. “Ich begleite euch.” “Okay, und dann musst du uns ganz genau erklären, was du hier eigentlich machst. Ich hab’ wirklich versucht, das aus Kaiba rauszukriegen, aber er hat immer wiederholt, dass er dir das überlassen wolle, uns darüber zu informieren. Klang alles ziemlich hochtrabend, war fast schon unheimlich.” Das brachte Joey zum Schmunzeln. Ja, das war er, sein Drache, wie er leibte und lebte. Jetzt fing er auch schon damit an, ihn ‘seinen Drachen’ zu nennen! Das versprach, ein verrückter Tag zu werden.   Sie wurden von Roland zu einem Apartment im zweiten Stockwerk gelotst, das aus zwei Schlafzimmern bestand. Es war ansonsten von der Ausstattung her Joeys Apartment unheimlich ähnlich. Er musste feststellen, dass in seinem Apartment noch gar nichts wirklich Persönliches war und es daher diesem Apartment sehr glich. Er nahm sich vor, das zu ändern, vielleicht würde er einfach mal eine Topfpflanze kaufen, das würde zumindest schon mal für den Anfang reichen und ein wenig Atmosphäre schaffen.   Als sie die Koffer zunächst provisorisch verstaut hatten, setzten sie sich in das zum Apartment gehörende Wohnzimmer, Joey nahm auf dem Sessel platz, seine Mum und Serenity auf dem Sofa ihm gegenüber. Joey wurde ein wenig nervös - er hatte ihnen natürlich auch einen Abschiedsbrief geschrieben, aber in den letzten Wochen nichts von ihnen gehört, und hatte jetzt auch nicht den Eindruck, als würden sie wahnsinnig viel wissen. Aber vielleicht wussten sie es doch? Er musste unbedingt rausfinden, was Sache war, aber bevor er anfangen konnte, sich einen Plan zu machen, wie er das schaffen könnte, legte Serenity auch schon mit ihren Fragen los.   “Hey, Joey, jetzt erzähl doch mal, was machst du hier? Ich kann mich noch genau an unsere Gespräche erinnern, hast du nicht immer gesagt, Seto Kaiba wäre dein Erzfeind?”   “Ist er auch - oder er war es zumindest. Keine Ahnung, da bin ich mir ehrlich gesagt selbst nicht so sicher. Ähm, habt ihr vielleicht in den letzten Wochen einen Brief von mir erhalten?”   Serenity und ihre Mum schauten sich fragend an. “Ich nicht, du, Mum?” Auch sie schüttelte den Kopf. “Nein, tut mir leid, war es ein wichtiger Brief? Wäre leider nicht das erste Mal, dass Post aus Japan nicht ankommt. Ich bekomme ab und zu noch Post von Freunden aus Japan, oder besser gesagt, sollte sie bekommen, aber es ist wie beim Lotto, so groß sind die Chancen, dass ein Brief ankommt.”   Joey war erleichtert. Er würde ihnen davon erzählen, aber nicht jetzt, nicht heute, nicht hier. Er war einfach froh, dass sie nichts von seinem Vorhaben mitbekommen hatten. Hätte er es allerdings in die Tat umgesetzt, hätten sie es nicht erfahren, zumindest nicht sofort und nicht so, wie er es sich für sie gewünscht hätte. Das versetzte ihm einen Stich, und er würde sich für das nächste Mal… Moment, das nächste Mal? Würde es denn ein nächstes Mal geben? Okay, zu viele Gedanken auf einmal. Er schob den Gedanken beiseite, damit würde er sich auch noch beschäftigen müssen, aber heute war nicht die richtige Zeit dafür. Er wollte sich nun erstmal vollständig auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Also wandte er sich erneut seiner Familie zu, um ihnen eine Antwort zu geben, die zwar der Wahrheit entsprach, aber doch weite Teile der Geschichte ausließ.   “Alles gut, ist nicht so wichtig. Also, warum bin ich hier? Sagen wir mal so, ich hatte Stress mit Dad - wird für euch ja keine Überraschung sein. Kaiba hat mich aufgegabelt und mir die Möglichkeit gegeben, für eine Weile hier zu bleiben. Tja, und hier bin ich.” Serenity wusste, dass er immer mal wieder mit ihrem Dad in Konflikt kam, allerdings hatte er nie von Gewalt gesprochen, nur von Auseinandersetzungen. Auch seine Mum wusste nicht, wie weit es ging, und er wollte unbedingt, dass das so blieb. Dass seine Mum sich schlecht fühlte, weil sie ihn bei ihrem Dad gelassen hatte, war das Letzte, was er wollte, denn sie traf keine Schuld bei dem Ganzen. Aber er wusste, würde sie die volle Wahrheit kennen, würde sie enorme Schuldgefühle empfinden.   Serenity lächelte ihn kurz an, wirkte dann aber wieder skeptisch. “Aber warum sollte er das tun? Was hätte er denn für einen Grund, dir das anzubieten, wenn ihr euch nicht ausstehen könnt?”   Himmel, er hatte gehofft, hier jetzt nicht ins Kreuzverhör zu geraten. Er musste sich was einfallen lassen, und zwar schnell.   “Na ja, wisst ihr… keine Ahnung, damit hatten irgendwie auch meine Freunde zu tun. Sie haben gesehen, dass ich da mal für eine Weile weg musste, und haben ihm mehr oder weniger die Pistole auf die Brust gesetzt. Haben ihm gedroht, ihm schlechte Presse zu bescheren, wenn er mir nicht hilft, oder sowas. Also hatte er nicht so wirklich eine Wahl, und ich auch nicht - wenn ein Kaiba sich mal für was entschieden hat, dann macht er kurzen Prozess und lässt keine Widerrede zu.” Sie mussten alle laut lachen, und das nahm die Spannung aus der Situation wieder raus. Er war sehr glücklich drum, denn er hatte die Geschichte nur leicht angepasst und nicht viel gelogen, hatte aber auch nicht alles preisgegeben. Tatsächlich war Kaiba im Moment der Einzige, der die volle Geschichte kannte, weil er ihm an ihrem Tag am Meer davon erzählt hatte. Selbst seine Freunde wussten nur oberflächlich davon, oder hatten vage Vermutungen. Und im Moment war er sehr zufrieden damit, wie es war, auch wenn es immer noch sehr überraschend und verwirrend gleichermaßen für ihn war, dass ausgerechnet der Drache alles wusste.   Weitere Fragen darüber, warum er jetzt ausgerechnet bei seinem Erzfeind wohnte, blieben aus, und Joey war sehr glücklich darüber. Noch eine ganze Weile unterhielten sie sich über ihre Anreise und was so die letzten Wochen bei ihnen los war.   Nach einiger Zeit stand Joey auf. “Hey, kann ich euch ein bisschen allein lassen? Richtet euch doch erstmal in Ruhe ein. Demnächst gibt es ein Dinner, und ich bin sicher, Kaiba hat euch eingeplant. Der plant echt immer alles bis ins kleinste Detail, also rechnet damit, dass euch jemand abholen kommt.”   “Alles klar, Joey, wir sehen uns dann später beim Essen. Wir freuen uns sehr darauf”, erklärte seine Mum mit einem strahlenden Lächeln. Mit diesen Worten verließ Joey das Apartment und machte sich auf zu seinem eigenen. Er wusste, es würde nachher noch eine kleine Bescherung geben - darauf hatte Mokuba vehement bestanden - aber er musste unbedingt vor dem Abendessen mit Kaiba sprechen. Er hatte noch überhaupt keine Ahnung, was er eigentlich sagen sollte, aber er musste ihm danken, und vielleicht würde sein kleines, wenn auch eigentlich unbedeutendes Geschenk ihm in der Situation helfen. Er wusste, er würde nicht mehr viel Zeit haben bis zum Abendessen, wenn er vorher noch mit Kaiba reden wollte, also zog er sich schnell schon mal um. Er trug ein weißes Hemd, schwarze Jeans und seine schwarzen Sneaker, und hoffte, das würde dem Anlass genügen. Dann schnappte er sich das kleine Geschenk aus der Tüte, das er auf dem Weihnachtsmarkt schon hatte verpacken lassen, und machte sich wieder auf den Weg. Er hatte so eine Vermutung, wo er Kaiba womöglich vorfinden würde.   Noch einmal tief Luft holend, trat Joey an Kaibas Bürotür, klopfte und öffnete sie vorsichtig. Es war schon dunkel draußen, und das einzige Licht, das aus dem Raum schien, war das einer Schreibtischlampe. Der Braunhaarige blickte kurz mit mürrischem Gesichtsausdruck auf, bis er erkannte, dass es Joey war, der eintrat, und sogleich wurden seine Gesichtszüge wieder weicher.   “Hey, komm rein”, sagte Kaiba, und ein wenig verlegen trat Joey ins Zimmer. Hier war er noch nie gewesen. Der Raum war an den Seiten gesäumt von Bücherregalen, die alle bis zum Rand gefüllt waren. Es sah schon fast aus wie eine Bibliothek. Sofern er das im seichten Schein der Schreibtischlampe erkennen konnte, war der Raum in dunkles Holz gekleidet und hatte fast etwas herrschaftliches. Passte zu seinem Drachen, das musste er zugeben.   Er schloss die Tür hinter sich und wusste nicht so richtig, wie er anfangen sollte. Er trat von einem Bein aufs Andere, und Kaiba beobachtete ihn intensiv. “Sind deine Schwester und deine Mum zufrieden mit der Auswahl des Apartments?”, fragte Kaiba.   “Oh, ja, auf jeden Fall, du hast ihnen ein tolles Apartment zugewiesen, danke.”   Der Blonde blickte auf das Geschenk in seinen Händen. Vielleicht fing er einfach damit an, möglicherweise half es ihm, irgendwie die richtigen Worte zu finden. Zumindest eine kleine Pause zum Denken würde es ihm verschaffen.   “Hier, das ist für dich”, sagte Joey, trat an den Schreibtisch ran und übergab das kleine Päckchen an Kaiba. Dieser nahm es ihm ab und für eine kurze Sekunde berührten sich ihre Finger dabei, was Joey eine elektrisierende Gänsehaut verpasste. Er beobachtete Kaiba genau, als er das kleine Geschenk auspackte - und einen Schlüsselanhänger mit einem kleinen Plüsch-Kuscheltier vom weißen Drachen mit dem eiskalten Blick in den Händen hielt.   “Das hast du auf dem Weihnachtsmarkt gekauft, oder?” Kaiba drehte den kleinen Drachen in seiner Hand in jede Richtung, um ihn genau zu betrachten. Joey nickte. “Genau. Ich weiß, es ist nicht viel, aber entweder hast du schon alles oder du kannst es dir selber leisten. Aber als ich es gesehen habe, wusste ich, das sollte dir gehören.”   Kaibas lange Finger betrachteten das kleine Kuscheltier noch immer intensiv in seiner Hand. War Joey jemals aufgefallen, wie lang und filigran Kaibas Finger waren? Jetzt, unter dem Licht der Schreibtischlampe, wurde es zumindest ziemlich offensichtlich.   “Danke, Hündchen”, begann der Größere. “Es… es gefällt mir wirklich unheimlich gut. Wirklich, nur…” Joey versetzte das einen kurzen Stich. Hatte er schon eine ganze LKW-Ladung davon Zuhause? War es ihm zu klein? War es nicht perfekt genug?   Kaiba schien seine Zweifel in seinen Augen sehen zu können, als er hoch blickte und sagte: “Es ist nur, ich hab’ gar kein Geschenk für dich.” Joey unterbrach ihn, indem er sich auf dem Schreibtisch abstützte und sich in seine Richtung lehnte. Und plötzlich sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus ihm heraus.   “Du hast kein Geschenk für mich? Ernsthaft, Kaiba? Das ist absoluter Quatsch. Du hast mir heute das beste Geschenk gemacht, das ich jemals bekommen habe. Du hast mir meine Familie geschenkt, und ich werde dir niemals genug dafür danken können. Ich weiß, dass der kleine Drache da keinen großen materiellen Wert hat, und ich hab’ ihn ja auch gekauft, bevor ich wusste, dass du mich so überraschen würdest. Ich habe keine Ahnung, wie ich das jemals wieder gut machen soll. Gott, Kaiba, weißt du eigentlich, was du da für mich getan hast? Und wie viel mir das bedeutet? Und wie unheimlich glücklich du mich damit gemacht hast? Ich… ich weiß nicht… das ist so… so…” Die Tränen kullerten in Bächen von seinen Wangen und sein ganzer Körper zitterte. Er wusste nicht, ob er sich noch lange würde auf den Beinen halten können. Sein Körper war so voll von Dankbarkeit für diesen Mann, der eigentlich sein Erzfeind war und ihm doch das schönste Geschenk seines Lebens gemacht hatte. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich in tausend Teile zerspringen vor lauter Glücksgefühl.   Nur Sekunden später stand Kaiba vor ihm und nahm ihn in den Arm. Eine richtige Umarmung, kein Zögern, kein Warten, einfach nur Joey an Kaibas Brust. Er konnte wahrnehmen, wie der Größere schneller atmete, sein Herz schneller schlug. Joey umarmte ihn nun auch und intensivierte die Umarmung dadurch noch etwas, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. “Shhh, mein Hündchen, es ist alles gut”, hörte er den Braunhaarigen, der etwas mehr als einen halben Kopf größer war als er selbst, an sein Ohr flüstern. Er streichelte ihm sanft durchs Haar, und Joey wurde durch die milde Berührung ein wenig ruhiger.   Kaibas Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, und es schaffte wieder eine Intimität zwischen ihnen, die er, wie er jetzt feststellen musste, die letzten zwei Wochen schmerzlich vermisst hatte. “Kein Grund, dich bei mir zu bedanken. Ich hab’ die letzten zwei Wochen gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und du hattest mir ja auch auf dem Weihnachtsmarkt verraten, was das war. Es war keine große Mühe für mich, das zu tun, wirklich nicht. Ich… ich will nur…”   Joey musste ihn ansehen, musste ihm in die Augen sehen. Er wusste, dass Kaiba keiner war, der sich leicht mit Worten tat, aber seine Augen würden ihm immer sagen, was er dachte. Und im seichten Licht der Lampe konnte er sie genau betrachten, eine Nuance heller als sonst. Joey war erstaunt, dass Kaiba noch weiter sprach, und war noch dankbarer für dieses Situation, weil der Größere so sehr versuchte, über seinen eigenen Schatten zu springen.   “Ich will nur, dass du glücklich bist, mein Hündchen.” Und Joey erkannte an Kaibas Augen, dass er noch viel mehr zu sagen hatte, aber all das war schon so viel mehr, als er sich jemals hätte erhoffen können.   “Ich wünschte nur, ich könnte dir dasselbe Geschenk machen. Dir deine Eltern zurückbringen, dir deine Familie schenken, so, wie du mir heute meine geschenkt hast.”   Kaiba lehnte seine Stirn an die von Joey, als er einen Satz sagte, den Joeys Herz nun final zum Platzen brachte: “Zusammen mit Mokuba bist du längst die Familie für mich, die ich so lange verloren geglaubt hatte.”   Ihre Nasen berührten sich und Joey konnte Kaibas beschleunigte Atmung auf seiner Wange spüren. Er wusste nicht, wieviel Glück er noch würde ertragen können, aber er war süchtig, süchtig nach diesem Schwall an Endorphinen, die seinen Körper durchströmten. Sie öffneten die Augen, und goldbraun mischte sich mit eisblau. Langsam, fast schon in Zeitlupe, näherte sich Joey Kaibas Lippen. Noch zwei Zentimeter lagen zwischen ihnen, Joey konnte Kaibas warmen Atem an seinen Lippen spüren...   “Seeeeeeetooooooo! Das Dinner ist… oh!” Plötzlich stand Mokuba mitten im Arbeitszimmer und sah die beiden Männer, die noch immer sehr nah beieinander standen. Sofort trennten sie sich und Mokubas Gesicht lief hochrot an. Er wandte seinen Kopf ab, und bevor er wieder abzog, sagte er noch: “Sorry, wollte nicht stören. Das Essen ist fertig, kommt einfach runter, wenn ihr soweit seid, okay?” Und damit war er so schnell weg wie er gekommen war.   Joeys Hände zitterten und seine Atmung war noch immer beschleunigt. Adrenalin mischte sich mit den Endorphinen, und er konnte nicht glauben, was sie da beinahe gemacht hatten. Er sah Kaiba an und konnte erkennen, dass es ihm genauso ging. Dennoch konnte der Braunhaarige seine Fassung zuerst zurück gewinnen. Er musste sich einmal räuspern, dann sagte er: “Ich muss nochmal kurz zurück in mein Apartment, ich glaube, ich brauche ein neues Hemd.”   Joey musterte ihn verlegen, bevor er ein kleinlautes ‘Sorry’ von sich gab.   Kaiba schüttelte den Kopf und bedeutete ihm so, dass alles in Ordnung war. “Sehe ich dich dann gleich beim Essen, Hündchen?”   Joey, der noch immer nicht wieder Herr seiner Stimme - und Sinne - war, konnte nur nicken. Kaiba kam noch einmal kurz auf ihn zu, sah ihm tief in die Augen und streichelte seine Wange. Es war nur ein ganz flüchtiger Augenblick, und dennoch, selbst als Kaiba schon zwei Minuten aus der Tür war, brannte seine Berührung noch immer an seiner Wange.   Als er sich einigermaßen gesammelt hatte, machte er sich auf den Weg in den Festsaal. Sein Hemd schien in Ordnung und nicht vollgeheult, also musste er seines nicht noch wechseln gehen. Alle anderen waren schon dort, mit Ausnahme von Kaiba. Als Mokuba ihn sah, kam er sogleich rüber. “Hey, Joey, sorry für gerade eben. Ich wollte nicht…” Damit senkte der Kleine den Kopf und schon wieder färbten sich seine Wangen tiefrot.   “Alles in Ordnung, Mokuba. Es… es war ja gar nichts. Kein Grund, da irgendwas rein zu interpretieren. Komm, lass uns hinsetzen.”   Joey setzte sich an die große Tafel, ihm gegenüber seine Schwester und seine Mum, Mokuba saß zwei Plätze links von ihm. Die Tafel war riesig, vermutlich hätten hier auch 20 Menschen Platz, sodass neben allen bisher anwesenden Personen noch massig Plätze frei waren. Joey konnte in einer Ecke des Raumes ein Klavier mit einem Pianisten erkennen, der dezent Weihnachtslieder spielte. Es klang so wunderschön, und als Joey sich an all die schönen Dinge erinnerte, die heute schon passiert waren, bekam er wieder feuchte Augen. Aber er musste sich zusammenreißen. Er wollte diesen Abend jetzt nicht damit zubringen, Rotz und Wasser zu heulen, sondern einfach nur genießen. Mokuba hatte es außerdem geschafft, den Rest des Baumes zu schmücken, und mit den vielen verschiedenen Farben, Kugeln, Figuren und Lichtern erfüllte er den Raum mit so viel positiver Weihnachtsstimmung, dass Joey gar nicht anders konnte, als sich davon anstecken zu lassen. Und jetzt, wo er seine Familie hier hatte, gelang ihm das auch mit Leichtigkeit.   In diesem Moment ging die Tür erneut auf und Kaiba trat in den Raum. Es war offensichtlich, dass er den Raum nach etwas absuchte, und als seine eisblauen Augen auf die goldbraunen von Joey trafen, schien er gefunden zu haben, was er suchte. Für eine Sekunde blieb für Joey die Zeit stehen. Kaiba hatte sich ein dunkelblaues Hemd angezogen, so blau wie seine Augen. Die Haare lagen ihm ein wenig wild im Gesicht, so als ob er sich beeilt hätte, herzukommen, und er strich sie sich ein wenig aus der Stirn. Joey musste bei Kaibas Anblick schlucken. Er sah atemberaubend schön aus, und sofort vermisste er wieder die Berührung, die sie vorhin geteilt hatten.   Dann schien die Uhr sich wieder weiter zu drehen, und als Kaiba zwischen Mokuba und ihm platz nahm, wusste er, dass dies vermutlich der schönste Tag seines bisherigen Lebens sein würde.   ~~~~   Kaiba gab auf. Er wusste, er konnte nicht anders. Irgendwas zog ihn magisch zu Wheeler, und auch, wenn er nicht wusste, was es war - er hatte lange versucht, es zu ignorieren oder sich dem zu entziehen, aber es war zwecklos. Er wurde einfach magnetisch angezogen. Nichts wollte er jetzt mehr als in seiner Nähe sein.   Er war noch immer atemlos von dem, was gerade in seinem Arbeitszimmer passiert war. Würde er diesen Raum je wieder betreten können, ohne daran denken zu müssen? Sein Herzschlag beschleunigte sich, jedes Mal, wenn er an Wheelers Berührungen dachte. Er konnte seine Gefühle gar nicht in Worte fassen. Sie hatten eine Verbindung aufgebaut, die er so mit noch niemandem hatte. Natürlich hatte er auch ein enges Band mit Mokuba, aber das hier war anders. Es war gewaltig und unheimlich und mystisch und… wunderschön. Er hatte sich noch nie so leicht gefühlt wie heute, und wie ironisch es war, dass es an Weihnachten passierte.   Als Wheeler ihm sagte, er würde ihm gern dasselbe Geschenk machen, ihm seine Familie zurückbringen wollen, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Wie unglaublich und unwirklich zugleich es sich anfühlte, als er verstand, dass Joey zu seiner Familie gehörte, obwohl sie doch noch gar nicht so lang zusammen wohnten. Aber die letzten knapp zwei Monate hatten alles verändert. Der Blonde nahm zu großen Teilen seine Gedankwelt ein, und ja, davon war er oft genervt, aber er konnte nichts dagegen tun. Es war eben so, wie es war.   In diesem Moment wurden seine Gedanken unterbrochen, als der erste Gang aufgetischt wurde. Wheeler nahm den Löffel und fing an, die Suppe zu löffeln, und Kaiba konnte ihm ansehen, wie sehr er sie genoss. Und schon wieder war es da, dieses unendliche Glücksgefühl. Wie viel davon konnte ein Mensch in so kurzer Zeit spüren, wie viel ertragen, ohne vor Glück zu platzen?   “Wie lange wollt ihr eigentlich bleiben?”, fragte Wheeler an seine Familie gerichtet. Seine Mum antwortete nachdenklich: “Na ja, wir wissen nicht, wie lange wir überhaupt bleiben dürfen. Wir würden schon gern ein paar Tage bleiben, müssten uns dann aber auch nach einer preiswerten Unterkunft umschauen und auch noch irgendwie an ein günstiges Rückflugticket kommen.”   Kaiba räusperte sich. “Selbstverständlich könnt ihr solange bleiben, wie ihr wollt. Das Gästeapartment, in dem ihr wohnt, wird nicht so schnell weitervergeben werden müssen und steht euch unbegrenzt zur Verfügung. Und natürlich stelle ich meinen Privatjet auch für euren Rückflug zur Verfügung. Sagt einfach kurzfristig Bescheid, wann ihr fliegen wollt, und ich arrangiere alles.”   Es war unglaublich, wie sehr sich Wheeler und seine Mum ähnelten. Ihre Augen wurden leicht feucht und sie musste gar nichts sagen, man konnte ihr die Dankbarkeit auch so ansehen. “Das ist unheimlich großzügig, Kaiba, vielen herzlichen Dank. Ich weiß gar nicht, wie wir das wieder gut machen können.” Hm, auch die Wortwahl ähnelte seinem Hündchen. Verblüffend.   “Das ist auch absolut nicht notwendig. Ihr seid Joeys Gäste, und damit auch meine, da ist das wirklich selbstverständlich.” Erst danach bemerkte er, dass er gerade zum ersten Mal Wheelers Vornamen benutzt hatte, zumindest außerhalb seiner eigenen Gedanken, und konnte den Blonden scharf einatmen hören, als das passierte. Im nächsten Augenblick spürte er Joeys Hand auf seinem Oberschenkel, und konnte seine Berührung hauchzart durch den Stoff seiner Hose spüren. Für einen kurzen Moment schauten sie sich tief in die Augen, und er erkannte dieselbe Dankbarkeit in seinen Augen wieder. Diese goldbraunen Augen, die ihn so oft schon in seinen Träumen verfolgt hatten, hatten nun endlich zu ihrem ursprünglichen Glanz zurück gefunden. Mit seinen Lippen formte Joey ein ‘Danke’, dann nahm er die Hand wieder weg und sofort vermisste Kaiba seine Berührung. Dennoch widmete er sich erneut seiner Suppe.   “In Ordnung, dann würden wir gern bis Neujahr bleiben, wenn das okay für dich ist, Joey?” Der Blonde strahlte, als er sagte: “Natürlich! Solange ihr wollt, Mum, solange ihr wollt.”   Nach fünf Gängen und mit sehr gefüllten Mägen endete dann das Dinner. Die Stimmung war ausgelassen und alle unterhielten sich miteinander, auch wenn Kaiba sich den Rest des Abends zurückhielt, einfach auch schon deshalb, weil er nicht wusste, was er hätte Sinnvolles beitragen sollen. Wheeler war da einfach anders - er konnte Menschen ohne Schwierigkeiten in ein Gespräch verwickeln, andere einbinden und ohne Probleme neue Themen einbringen. Das bewunderte er an ihm, dass er es schaffte, so offen und ungeniert zu kommunizieren, ohne sich zu viele Gedanken über die Wortwahl zu machen. Bei ihm war das einfach anders - er stand in der Öffentlichkeit und musste sich oft sehr genau Gedanken dazu machen, wie er was sagt, um nicht in die Klatschspalten der hiesigen Zeitschriften zu gelangen. Obwohl er da trotzdem immer mal wieder auftauchte, was ein nerviges, aber leider nicht zu verhinderndes Übel war.   Als nächstes stand die Bescherung an, die im großen Gemeinschaftswohnzimmer stattfinden würde. Mokuba rannte als Erster davon, der Kleine konnte es wie immer nicht abwarten. Joey ging neben seiner Mum als nächstes aus dem Raum, aber nicht, ohne sich noch mal zu ihm umzudrehen und ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Kaiba war in der größeren Gesellschaft nicht zu viel im Stande, aber er versuchte dennoch, ein sanftes Lächeln, wenn auch nur ganz leicht angedeutet, zurückzuschicken, und er hatte das Gefühl, Joey verstand es, denn sein Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. Dann verließ auch er den Raum, und Serenity und er waren die Letzten, die aufbrachen.   “Hey, Kaiba”, sprach sie ihn direkt an. Sie hielt ihn auf, bevor sie den Raum verlassen konnten. “Ich bin dir unheimlich dankbar für das, was du für meinen Bruder getan hast. Er hat vorhin versucht, uns zu erklären, warum er überhaupt hier ist, und ganz ehrlich, ich mag ihn sehr lange nicht gesehen haben, aber ich kenne meinen Bruder. Ich weiß, dass er uns nicht die ganze Wahrheit erzählt hat. Er hat was von einem Brief erzählt, den wir nie erhalten haben, und der scheint Bedeutung zu haben. Ich weiß nicht, was drin steht, und ich weiß nicht, welchen Teil er wirklich ausgelassen hat, aber ich weiß, dass er sich hier wohlfühlt. Also, alles, was ich sagen will, ist, pass gut auf ihn auf, ja? Ich liebe ihn, und ich will, dass es ihm gut geht. Ich habe ihn jetzt natürlich lange Jahre nicht mehr persönlich gesehen, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er jemals so glücklich war wie heute, außer vielleicht, als wir noch Kinder waren. Wir waren viel in Kontakt die letzten Jahre, und er hatte eigentlich immer was zu meckern, aber heute… heute ist er einfach wie der unbeschwerte Junge von damals. Und ich bin froh, dass es so ist.” Und damit verschwand auch sie aus dem Raum. Kaiba brauchte einen Augenblick, um das zu verarbeiten. Er hatte ihnen also nicht die ganze Geschichte erzählt, auch Kaiba war dahingehend sehr diskret gewesen. Er wusste nicht, ob Wheeler sie überhaupt informiert hatte über sein… Vorhaben. Und offensichtlich hatte er es versucht, aber der Brief kam nicht an. Nicht unüblich in der internationalen Post, und etwas in ihm war erleichtert darüber, und er kam nicht umhin zu glauben, dass es seinem Hündchen damit genauso ging.   Nun machte auch er sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Dort angekommen, herrschte ausgelassene Stimmung - Wheeler saß auf dem flauschigen, weißen Teppich am Boden und lehnte sich an das Sofa, ihm gegenüber war Mokuba, der auch auf dem Boden saß. Serenity und ihre Mum saßen jeweils auf einem Sessel. In der Ecke brannte der Kamin und die bodentiefen Fenster ließen den Ausblick auf den Park des Anwesens erahnen, der mittlerweile völlig zugeschneit war. Er konnte sehen, dass noch immer dicke Flocken vom Himmel fielen.   “Seto, da bist du ja endlich!”, holte ihn Mokuba aus seinen Gedanken. “Komm, wir wollen endlich anfangen!”   Er überlegte kurz, dann setzte er sich auf das Sofa, vor dem Joey saß. Sie waren sich sehr nah, Joeys Kopf war nur wenige Zentimeter von seinem Bein entfernt, und Kaiba wusste, das war genau der Platz, an den er jetzt gehörte.   Dann begann die Bescherung. Mokuba schenkte Joey einen Weihnachtspullover in rot, mit Rentieren drauf, absoluter Kitsch. Aber Joey schien er zu gefallen, er zog ihn sich sogar direkt drüber und schaute dann zu ihm auf. War ihm seine Meinung dazu etwa wichtig? Mit einem leisen Schmunzeln, das nur jemand sehen konnte, der so nah saß wie Joey es in diesem Moment tat, erfüllte er seinen fordernden Blick, und der schien zufrieden.   Mokuba bekam von Joey ebenfalls einen kleinen Kuscheltier-Schlüsselanhänger, allerdings mit einem Weihnachtsmann, und dennoch musste Kaiba an den kleinen Drachen denken, den Joey ihm geschenkt hatte, und sein Herz setzte für einen Moment aus. Würde er seine Gefühle heute noch mal in den Griff bekommen?   Serenity und Joeys Mum hatten auch ein Geschenk für ihn mitgebracht, eine Süßigkeitenbox aus den USA. “Wow, Mum, Serenity, das ist ja mega cool, vielen Dank! Vermutlich werde ich das alles gar nicht essen können.” Sein Lachen war wirklich ansteckend, und erneut musste Kaiba sich zur Disziplin ermahnen, um nicht mit einzusteigen. Dann hörte er den Blonden erneut reden. “Da ich nicht wusste, dass ihr kommt”, begann er und legte seinen Kopf nur ganz leicht an Kaibas Beine, “habe ich euch kein Geschenk kaufen können. Aber lasst uns doch in den nächsten Tagen einfach mal irgendwohin gehen, einen Ausflug machen oder so, ich lad’ euch ein!”   “Klingt toll, Joey, das machen wir”, erwiderte Serenity sichtlich begeistert. Auch Serenity und ihre Mum tauschten kleinere Geschenke, bevor Kaiba an der Reihe war, Mokuba seines zu geben. Es war ein QR-Code, der ihn zu einer App führte, die Kaiba entwickelt hatte, und Mokuba würde der Erste sein, der sie zu Gesicht bekam. Es war ein ganz neues Spiel, und sein kleiner Bruder war über die Maßen begeistert. “Danke, Seto, das ist richtig cool! Ich werde es gleich morgen ausprobieren! Hier, das ist dein Geschenk.”   Er hielt ihm einen Umschlag hin, und als er diesen nahm und anschließend öffnete, befanden sich darin zwei Karten für ein Klavierkonzert. Mokuba wusste, dass Kaiba sehr gern Klaviermusik hörte, und tatsächlich freute er sich über das Geschenk. Und er wusste auch schon sehr genau, wen er unbedingt dabei haben wollte. “Danke, Mokuba”, sagte er, und anschließend klatschte sein kleiner Bruder sofort in die Hände. “So, Leute, jetzt sind alle Geschenke verteilt, ich würde sagen, Zeit für ein paar Spiele!” Sein Hündchen zu seinen Füßen hüpfte aufgeregt auf und ab und freute sich offenbar sehr darüber, sich mal wieder einem kleinen Wettbewerb zu stellen, wenn auch nur bei belanglosen Gesellschaftsspielen.   Kaiba nahm lieber die Beobachterposition ein. Sie tranken heißen Tee, für Mokuba gab es einen warmen Kakao und Joeys Mum bekam sogar richtigen Glühwein. Schon nach wenigen Runden konnte er sehen, wie Joey in hohem Bogen aus dem Spiel flog.   “Verdammt”, fluchte dieser lachend, “das war wohl nix. Serenity, mach sie fertig!” Dem Gesichtsausdruck seiner Schwester nach zu urteilen, teilten sie ihren Ehrgeiz zu siegen. Joey stellte seine Tasse Tee neben sich ab und beobachtete noch eine Weile das Geschehen. Dann, als die Anderen nicht mehr auf ihn achteten, erhob er sich und ging zu einem der großen, bodentiefen Fenster und schaute nach draußen. Dann ging er noch einige Schritte weiter nach links, sodass er von ein paar hochgewachsenen Pflanzen verdeckt wurde, die Mokuba unbedingt kaufen wollte, weil Kaiba sich geweigert hatte, noch einen zweiten Weihnachtsbaum zu besorgen. Dass er jedes Jahr zuließ, dass überhaupt ein einziger Weihnachtsbaum in seinem Haus stand, grenzte schon an ein Wunder, aber wenn Mokuba unbedingt noch ein paar Pflanzen mehr im Haus haben wollte, war ihm das egal, solange es nicht noch mehr Weihnachtsbäume waren.   Woran sein Hündchen wohl gerade dachte?   Wenige Minuten nach Joey stand auch Kaiba auf und stellte sich neben ihn ans Fenster, ebenfalls verdeckt hinter den Pflanzen, sodass niemand sie sehen konnte - und er genoss es, weil es sich anfühlte, als wären es nur sie beide in diesem großen Raum. “Ist alles in Ordnung?”, fragte er ihn sanft. Joey schaute zu ihm auf und konnte seine Freude nicht verbergen. “Absolut. Ich glaube kaum, jemals einen so perfekten Tag erlebt zu haben. Danke, Kaiba, echt, ich kann dir überhaupt nicht sagen, wie dankbar ich bin. Aber ich werde es versuchen. Jeden Tag. Um dir hoffentlich irgendwann auch mal einen so perfekten Tag wie heute zu schenken.” Ein kurzer Blick nach hinten zeigte ihm, dass sie unbeobachtet und tatsächlich auch gut versteckt waren, dank Mokuba, der hier offensichtlich einen halben Dschungel aufgestellt hatte. Konnte er es wagen? Er würde das Risiko eingehen. Also lächelte er und konnte das Staunen in Joeys Gesicht sehen, was sein Lächeln noch ein wenig verstärkte.   “Dieser Tag war auch für mich perfekt. Und das an Weihnachten.” Beide lachten leise und waren bemüht, dass niemand sie bemerkte. “Hey”, setzte Kaiba erneut an, “Mokuba hat mir zwei Konzertkarten geschenkt, für ein Klavierkonzert im Januar. Möchtest du mich begleiten?”   “Will Mokuba denn nicht mit dir gehen? Immerhin hat er dir doch die Karten geschenkt.”   Kaiba schüttelte den Kopf. “Nein, Mokuba steht nicht so auf klassische Musik.”   “Okay, ich komme gern mit, ich hab’ aber keinen blassen Schimmer von klassischer Musik. Also wenn dich das stört…”   “Absolut nicht. Ich hätte dich wirklich gern dabei. Wirklich.”   Joey lächelte ihn an. “Okay, dann machen wir das.”    Sie schauten sich in die Augen, während ihre Körper sich immer näher kamen. Irgendwann berührten sich die kleinen Finger von Joeys rechter und Kaibas linker Hand, die sie sanft umeinander legten, ohne die Blicke voneinander zu lösen. Dann kamen die anderen Finger dazu, bis sich all ihre Finger ineinander verschlungen hatten. Joeys Augen waren ein einziger Goldstrom, und selbst, wenn er es versuchen würde, er würde seinen Blick nicht von ihnen lösen können. Das tat Joey für ihn, als er seinen Kopf an Kaibas Schulter legte und auch die anderen, bisher untätigen Hände ineinander verkeilte. Ihr Atem glich sich einander an und sie verwoben die Hände noch ein bisschen enger. Kaiba legte seinen Kopf gegen den von Joey, dessen Haare seine Nase kitzelten. In dieser Position verharrend, schauten sie gemeinsam hinaus und beobachteten die Schneeflocken, die noch immer unermüdlich auf die Erde herab rieselten. Und Kaiba wusste, von diesem Augenblick an, dass er verloren war. Er wusste nicht, was es war, was er fühlte, oder warum, aber er wusste, es war genau richtig so - und Joeys Blicke, seine Berührungen und seine beschleunigte Atmung zeigten ihm, dass es ihm genauso ging. Sie waren wie Ying und Yang, Feuer und Wasser, Himmel und Hölle, und dennoch standen sie hier, eng verbunden, umschlungen von einem Band, gegen das sie machtlos waren. Und so rieselte der Schnee weiter auf die Erde, die für die beiden heute völlig auf den Kopf gestellt wurde. Kapitel 8: Rescue me... from falling for you -------------------------------------------- Mit den Weihnachtsfeiertagen brachen auch die Schulferien an. Joey hatte noch kurzfristig Urlaub von seinem Nebenjob bekommen können, als er seinem Chef die Situation erklärte, dass seine Familie zu Besuch war, die er jahrelang nicht gesehen hatte. Er war sehr froh über die Aussicht gewesen, ein paar Tage einfach frei zu haben und sie mit seiner Familie verbringen zu können - und ja, dazu zählte er mittlerweile auch Kaiba und Mokuba. Es waren noch keine zwei volle Monate, aber er hatte bei ihnen ein Zuhause gefunden, das er so noch nie hatte, außer vielleicht, als seine Eltern noch zusammen waren.    Die Erinnerung an den gestrigen Heiligabend holte ihn ein, und bei diesem Gedanken kribbelte sein ganzer Körper. Sie waren sich so nah gewesen, und auch wenn das erst wenige Stunden zurück lag, so konnte er nicht vermeiden, mit Sehnsucht auf die nächste Gelegenheit zu warten. Aber Kaiba war eben Kaiba - er zog sich immer ein wenig zurück und setzte, insbesondere, wenn viele andere Menschen dabei waren, sein Pokerface auf. Wovor hatte er nur Angst? Er sagte mal, wir alle wären das Produkt von dem, was wir erlebt haben, und vermutlich hatte es etwas damit zu tun, wie er durch Gozaburos Hand geworden war. Dennoch - Joey hoffte, dass er sich ihm wieder öffnen würde, aber er wusste, er müsste dem Größeren Zeit geben.   Die nächsten zwei Weihnachtsfeiertage verbrachte Joey größtenteils mit Serenity und seiner Mum. Sie unternahmen viele Dinge: Manchmal gingen sie einfach nur so durch die Stadt oder gingen im Park spazieren. Einmal lud er sie zum Mittagessen in das Café ein, in dem er arbeitete. Er mochte seine Arbeit dort. Die Kollegen waren total nett, sein Chef war richtig cool, und die Arbeit machte ihm Spaß. Er konnte gut mit den Gästen umgehen und bekam auch immer ziemlich gutes Trinkgeld. Manche Stammgäste kamen bewusst immer dann, wenn er Schicht hatte, und er hatte Spaß daran, sich mit ihnen zu unterhalten. Er hatte sogar das Gefühl, seinen Teil zum Leben anderer beitragen zu können, indem er ihnen leckere Getränke oder Essen servierte, oder auch einfach nur, wenn er sich mit ihnen unterhielt. Es gab da eine ältere Frau, die immer mittwochs abends da war. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Mann vor einigen Jahren gestorben und sie jetzt ganz allein war. Ihre Kinder und Enkelkinder wohnten alle weiter weg. Also hatte sie beschlossen, einfach jeden Tag einen Ort zu besuchen, der ihr Freude bereitete, und das Café, in dem Joey arbeitete, gehörte dazu. Eine tiefe Zufriedenheit überkam ihn, immer wenn er sah, wie glücklich die Frau am Abend das Café verließ.   Serenity, seine Mum und er selbst machten ansonsten alles, was ihr Herz begehrte: Schlittschuhlaufen, ins Kino gehen, die Sehenswürdigkeiten der Stadt besuchen. Einmal standen sie direkt vor der KaibaCorp. und Joey wusste, Kaiba war jetzt irgendwo da drin und machte vermutlich andere Mitarbeiter zur Schnecke. Bei dem Gedanken musste er lachen, und tatsächlich würde er ihn zu gern mal in Aktion erleben. In den letzten Wochen hatte er eine ganz andere Seite an ihm kennen gelernt, aber er war immer noch Firmenchef und wurde nicht müde zu betonen, dass er als solcher eine gewisse Autorität ausstrahlen musste.   Am Morgen des 27. Dezember saßen die beiden Kaiba-Brüder, Joey, Serenity und ihre Mum zusammen am Frühstückstisch. Die Stimmung war so ausgelassen wie die anderen Tage eigentlich auch, aber Joey konnte feststellen, dass Kaiba immer wieder flüchtig zu ihm rüber sah, so als wenn er etwas sagen wollte, es sich im letzten Moment aber anders überlegte.   Doch dann schien dieser allen Mut zusammen zu nehmen, und fragte an sie gerichtet: “Was habt ihr heute vor?” Hatte er dafür wirklich so viel Mut gebraucht? Joey wunderte sich sehr, immerhin war das doch eine ganz normale Frage. Aber gut, Kaiba hatte es eben nicht so mit dem ‘ganz Normalen’.   Joey antwortete zuerst. “Ich weiß nicht, habt ihr auf irgendwas Besonderes Lust?” Serenity schien intensiv darüber nachzudenken, während ihre Mum lächelnd sagte: “Mir ist eigentlich alles recht, solange mein Junge dabei ist.” Dann rubbelte sie ihm durch die Haare, was Joey nur ein genervtes ‘Mum!’ entlockte.   Kaiba räusperte sich, bevor er wieder sprach: “Wie wäre es mit einem Helikopter-Rundflug? Ich hätte heute Nachmittag Zeit und könnte euch ein bisschen rumfliegen.” In diesem Moment schauten ihn so ziemlich alle Augenpaare im Raum verblüfft an. Mokuba war scheinbar der Erste, der seine Stimme wieder fand. “Das ist eine richtig coole Idee, Seto! Darf ich mitkommen?”   Kaiba schaute Joey an - er überließ ihm die Entscheidung. “Hey, na aber klar darfst du mitkommen, Mokuba!”, erklärte Joey freudestrahlend. Dann wandte er sich Kaiba zu. Der hatte natürlich wieder eine undurchdringliche Miene aufgesetzt, aber seine Augen schauten ihn sanft an, und Joey setzte zum Dank ein weiches Lächeln auf. Dann sagte Kaiba: “Gut, wir treffen uns dann einfach um 14 Uhr am Haupteingang. Bis dahin muss ich mich entschuldigen, ich werde nochmal in der Firma gebraucht.” Mit diesem Satz stand er auf, und wie automatisch tat Joey es ihm nach.   “Wir sehen uns dann nachher, ja?”   Kaiba, der schon an der Tür stand, drehte sich noch einmal um, sah ihm für einen Moment in die Augen und nickte ihm dann zu. Für Außenstehende war nichts an diesen Bewegungen außergewöhnlich, einfach nur eine Bestätigung für das, was Joey ihn gerade gefragt hatte. Aber Kaibas Augen verrieten Joey, dass eine gewisse Wärme in diesem Nicken lag, das ausschließlich an Joey gerichtet war. Ein wohliger Schauer überkam seinen ganzen Körper, und er zählte jetzt schon die Stunden, bis es los ging.   Schon zehn Minuten zu früh stand Joey in der Eingangshalle. Eigentlich verwunderlich, war er doch dafür bekannt, eher zehn Minuten zu spät als zu früh da zu sein. Aber er konnte nicht anders, er hatte es in seinem Apartment einfach nicht mehr ausgehalten. In diesem Moment trat Kaiba durch die Tür. Er telefonierte und schien noch die letzten Dinge bei der Arbeit zu klären, bevor es losging, aber seine verschlossene, ernste Miene wandelte sich in pure Überraschung, als er Joey sah. Und während er das Gespräch beendete, kam er auf Joey zu, sein Blick die ganze Zeit auf ihn gerichtet.   “Gut, ich will die Zahlen morgen früh in meinem Postfach haben. Zehn Uhr, und keine Minute später. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt.” Damit beendete er das Telefonat und stand nur noch gut einen halben Meter von Joey entfernt. “Na, Hündchen, heute mal pünktlich?”   Daraufhin knurrte Joey ihn ein wenig an. “Na, Drache, heute mal wieder überheblich wie eh und je?” Egal, welche Erfahrungen sie in den letzten Wochen miteinander geteilt hatten, diese kleinen Sticheleien gehörten einfach zu ihnen, und Joey hatte das Gefühl, keiner von beiden würde jemals so gänzlich ohne auskommen.   “Ich wusste gar nicht, dass du den Heli auch selber fliegen kannst”, sagte Joey und konnte sehen, wie Kaibas Gesichtszüge ein wenig freundlicher wurden. Kaiba lehnte sich noch ein bisschen weiter zu ihm, als er erwiderte: “Tja, du weißt eine ganze Menge nicht über mich, Hündchen.” Joey musste ihm zustimmen, vermutlich hatte er bisher nur an der Oberfläche gekratzt, und eine innere Sehnsucht überkam ihn, alles über den Mann mit den eisblauen Augen herauszufinden.   In dem Moment stieß auch schon der Rest der Gruppe zu ihnen. Serenity und Mokuba wirkten beide unheimlich aufgeregt, während seine Mum nur selig vor sich hin lächelte. Kaiba führte sie zu einem Fahrstuhl, der sie direkt auf das Dach bringen würde, wo der Hubschrauberlandeplatz war, und plötzlich war auch Joey ein bisschen aufgeregt. Er war noch nie geflogen, auch nicht in einem normalen Flugzeug, und ein wenig Bammel hatte er schon. Aber er vertraute Kaiba, würde schon schief gehen.   Sie kamen endlich oben an, und ein paar Menschen wuselten um den Helikopter herum, um ihn startklar zu machen. Ein Mitarbeiter von Kaiba übergab ihm die Headsets, die er sogleich an alle verteilte, dann stieg er als Erster ein und setzte sich auf den Piloten-Platz. Joey war als nächster an der Reihe, und noch während er überlegte, wo er sich hinsetzten sollte, tippte Kaiba schon dezent, fast unmerklich, wenn man nicht darauf achtete, auf den Platz neben ihm, sein Blick war bittend. Joey konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen und nahm neben ihm platz. Und es fühlte sich mehr als richtig an.   Während Kaiba noch irgendwelche Hebel und Knöpfe bediente, setzten sich Mokuba, Serenity und seine Mum auf die hinteren Sitzplätze. Es piepste kurz durchs Headset, und Kaiba fragte: “Könnt ihr mich alle hören?” Alle bejahten, und Kaiba fokussierte sich wieder auf die Kontroll-Panels vor ihm. Joey war fasziniert davon, mit welcher Routine Kaiba augenscheinlich den Helikopter bediente. Irgendwann war Kaiba offensichtlich fertig, doch bevor er den Helikopter final startete, sah er noch mal alle Insassen an, bis sein Blick auf Joey fiel. Für einen Moment verlor er sich in den eisblauen Augen vor ihm, was Kaibas Mundwinkel ein bisschen zucken ließ. Kaiba hielt das Mikro des Headsets für einen Moment zu, dann sagte er, an Joey gerichtet: “Anschnallen, mein Hündchen.”   “Hä?... Oh, ja, natürlich, sorry!” Mit einem leichten Rotschimmer auf dem Gesicht, schnallte sich der Blonde an und Kaiba startete die Motoren.   “Tower, hier ist Kaiba White Dragon, fertig zum Start, bitte um Starterlaubnis.” Joey kam schon wieder aus dem Staunen nicht mehr raus. Irgendwie wirkte Kaiba so unglaublich erwachsen, wie er da so sprach und irgendwelche Tasten betätigte. Das war alles so unwirklich, aber Joey war froh, dass es die Realität war und nicht bloß ein Traum.   “Starterlaubnis erteilt, guten Flug, Mr. Kaiba”, hörten sie durch ihre Headsets die Flugsicherung sagen.   “Na dann, auf geht’s”, flüsterte der Braunhaarige, und schon wenige Sekunden später hoben sie vom Boden ab. Joey musste ruckartig die Luft einziehen. Es war ein überwältigendes Gefühl. Nur Minuten nach dem Start waren sie hoch oben in der Luft, ihre Augen konnten die ganze Stadt überblicken. Aus den hinteren Reihen waren immer mal wieder ‘Oh’s’ und ‘Ah’s’ zu hören, und auch der Blonde war einfach nur sprachlos.   Kaiba flog eine große Runde über die Stadt, und Mokuba erzählte immer mal wieder, was zu sehen war. Es war ein herrlicher Tag mit nur wenigen Wolken am Himmel, sodass sie freie Sicht auf alles hatten, was unter ihnen lag. Dann flogen sie über ein Waldgebiet, und Kaiba analysierte genau die Umgebung. Dann sah er Joey für einen Moment an und setzte ein leichtes, verschmitztes Grinsen auf, und bevor Joey sich wundern konnte, was es damit auf sich hatte, lenkte Kaiba den Helikopter in einen Tiefflug, nur um ihn wenige Momente später wieder hochzuziehen, sodass sie kurz das Gefühl hatten, schwerelos zu sein. Atemlos musste Joey lachen. Das Gefühl war sonderbar und ein warmes Kribbeln breitete sich in seiner Magengegend aus, aber er hatte den Spaß seines Lebens.   “Nochmal?”, fragte Kaiba zu Joey gewandt, der nur heftig nicken konnte. Also wiederholte Kaiba die Aktion, und dann nochmal, und dann noch ein weiteres Mal, bis Joey vor Vergnügen glucksen musste, und auch alle anderen schienen ihren Spaß zu haben. Kaiba stabilisierte den Helikopter wieder, während Joey, noch immer voller Adrenalin, zitterte. Mit weit aufgerissenen Augen sah er seinen Drachen an - zwar schaute dieser schon wieder mit konzentriertem Blick nach vorn, aber er lächelte, eines dieser echten Lächeln, die Joey nur selten an ihm bemerken durfte. Joeys Sehnsucht, den Braunhaarigen zu berühren, wuchs mit jeder Minute, aber er musste sich wirklich beherrschen.   Irgendwann tauchte in der Ferne Wasser auf, und Joey versuchte genau zu sehen, was es war. Bis er erkannte, dass sie auf das Meer zuflogen.   In diesem Moment hörte er Kaiba nach Landeerlaubnis fragen. Würden sie etwa wirklich… ans Meer fliegen?   Und tatsächlich - mit geschickten Flugmanövern landete er den Helikopter sicher auf einem Flugplatz, der sich ganz nahe dem Meer befand. Es war nicht die exakt gleiche Stelle, an der sie gewesen waren, aber dennoch ein ganz wunderbarer Ort.   Als Joey einen Fuß auf den Boden setzte, fühlte er sich plötzlich unheimlich schwer. Als sie noch in der Luft waren, fühlte er diese grenzenlose Freiheit. Ob Kaiba das genauso fühlte, wenn er den Helikopter lenkte?   Mokuba rannte schon vor Glück kreischend auf das Meer zu, während Serenity und ihre Mum sich kurz unterhielten. Er würde gleich mit ihnen reden, aber er wollte zuerst mit Kaiba sprechen. Dieser stand auf der anderen Seite des Helikopters und redete, seinen typischen kühlen Ausdruck auf dem Gesicht, mit einem Mann, vermutlich demjenigen, der den Flugplatz überwachte. Als er Joey auf sich zugehen sah, nickte er dem Mann zu und bedeutete ihm damit, sich zu entfernen - ein typischer Kaiba-Move, dem der Mann sofort Folge leistete.   “Kaiba, was… warum…”, stammelte Joey atemlos vor sich hin. Kaiba kam einen Schritt auf ihn zu, bevor er erklärte: “Als wir hier am Meer waren, da hast du gesagt, du warst hier mit deiner Schwester, als ihr noch Kinder wart. Meinst du nicht, du solltest sie an diesen Platz zurückbringen, der so besonders für euch war?”   Joey merkte, wie ihm schon wieder die ersten Tränen kamen, aber er musste sich zügeln. Er wollte nicht weinen, nicht, wenn seine Mum oder Serenity ihn so sehen können. Komisch, er hätte kein Problem mehr damit, es vor Kaiba zu tun. Wie verrückt war diese Welt geworden?   “Kaiba, das ist… wow, ich kann einfach nichts sagen. Das ist einfach… Wahnsinn.”   Er konnte sehen, wie Kaiba mit seiner Fassung rang, aber seine Augen sprachen Bände. Er schaute sich kurz um, aber Mokuba war schon am Meer und außer Sichtweite, seine Schwester und seine Mum standen auf der anderen Seite des Helikopters, und der Mann von der Flugaufsicht war wieder im Gebäude verschwunden. Niemand beobachtete oder achtete auf sie. Kaiba überwand die restliche Distanz zwischen ihnen und berührte mit seiner Hand Joeys Wange, nur für einen kurzen Moment, aber sehr zärtlich.   “Geh, Hündchen. Zeig ihr, was sie verpasst hat.” Joey konnte einen glücklichen Seufzer nicht unterdrücken. Für einen kurzen Augenblick nahm er Kaibas freie Hand und drückte sie zum Dank, bevor er sich entfernte und auf die andere Seite des Helikopters zu seiner Mum und Serenity stieß.   “Hey, Joey”, wurde er sogleich von seiner Schwester begrüßt, “ist das nicht der Strand, wo wir früher als Kinder immer gespielt haben?”   Sofort musste Joey strahlen. “Genau! Komm, lass uns mal zum Meer gehen. Kannst du dich noch erinnern, wie wir immer Sandburgen gebaut haben?” Schnellen Schrittes liefen sie zum Strand runter. “Oh Gott, ja, und deine sahen immer furchtbar aus, Joey!” Sie musste laut auflachen und Joey ließ sich anstecken. “Stimmt, und du hast immer ganze Schlösser gebaut! Komm, ich fordere dich heraus, wir bauen eine Sandburg, und Mum entscheidet, welche am schönsten aussieht, und der Gewinner kriegt… keine Ahnung, irgendwas, überlegen wir uns noch.” Freudestrahlend nickte Serenity und sie machten sich sogleich ans Werk.   ~~~~   Aus sicherer Entfernung beobachtete Kaiba die beiden Geschwister. Sie wirkten beide so glücklich und ausgeglichen, und es brauchte jedes kleine Bisschen seiner Selbstkontrolle, um nicht wieder zu lächeln. Was machte das Hündchen nur mit ihm? Er musste unbedingt verhindern, dass andere ihn so schwach erlebten. Auf der anderen Seite war das zwecklos, sobald sein Hündchen auch nur in seine Nähe kam. Er verschränkte die Arme vor der Brust und musste laut seufzen. Es war wie verhext. Er musste sich unbedingt einen Plan machen, und zwar schnell.   Aus dem Augenwinkel sah er, wie Joeys Mum auf ihn zukam, mit demselben Lächeln im Gesicht, das der Blonde auch immer trug. Sofort straffte sich Kaiba ein wenig und legte seine desinteressierte Miene auf. Ja, er war wieder auf dem richtigen Weg.   Seine Mum stellte sich neben ihn und für einen Moment beobachteten sie still Joey und Serenity, die offensichtlich großen Spaß dabei hatten, sich gegenseitig ihre Sandburgen kaputt zu machen. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er denken, sie wären beide wieder kleine Kinder. Mokuba stand mehr oder weniger zwischen ihnen und feuerte beide an, ihr Bestes zu geben. Beim Sandburgen bauen. Auf welcher Kinder-Geburtstagsparty war er denn hier gelandet? Dennoch, es amüsierte ihn, die Drei so zu sehen - nur würde er es tunlichst vermeiden, anderen das offen zu zeigen, und solange das Hündchen nicht direkt vor ihm stand, würde er auch genug Selbstbeherrschung haben, damit ihm das gelang.   “Danke, Kaiba”, sagte Wheelers Mum, den Blick noch immer nach vorn auf ihre Kinder gerichtet. Kaiba betrachtete sie für einen Moment von der Seite. Es war wirklich nicht zu übersehen, wie ähnlich Joey seiner Mum war, nicht nur vom Aussehen, irgendwie auch vom Wesen her. Sie war zwar etwas ruhiger und in sich gekehrter, aber das brachte vielleicht auch einfach die Lebenserfahrung mit sich. Aus der Ferne beobachtete sie ihre Kinder, und wenn er sich nicht täuschte, war dieser Blick ganz ähnlich dem, den Joey manchmal aufsetzte, wenn er ihn ansah.   Erst dann realisierte er, was sie da gesagt hatte. “Wofür?”   Sie drehte sich zu ihm um und lächelte ihn freundlich an. “Du scheinst ihm gut zu tun. Ich habe ihn schon lange nicht mehr so glücklich erlebt, nicht mehr seit der Scheidung. Natürlich haben wir uns seitdem auch nicht mehr persönlich gesehen, aber wenn wir telefonierten, wusste ich einfach, wenn was im Busch war. Mütterlicher Instinkt, schätze ich. Aber jetzt, da scheint er einfach nur glücklich zu sein. Und ich weiß nicht, was das zwischen euch ist, vielleicht wisst ihr es ja selbst noch gar nicht, aber ich sehe, wie er dich ansieht. Er bewundert dich, Kaiba, er sieht zu dir auf. Und das macht mich unheimlich glücklich. Wenn er glücklich ist, bin ich es auch.”   “Mrs. Wheeler, ich…”   Lachend unterbrach sie Kaiba. “Oh, bitte, können wir diese Formalitäten nicht ablegen? Eine ‘Mrs.’ bin ich außerdem auch schon lange nicht mehr. Ich bin Elaine.”   Das Talent, schnell Vertrautheit zu schaffen, hatte Joey definitiv von seiner Mum. Kaiba fühlte sich etwas unbehaglich, weil er lieber ein wenig Distanz schaffen wollte, aber es wäre auch unhöflich von ihm, nicht auf ihren Vorschlag einzugehen. Also nickte er ihr zu, als Bestätigung, dass er verstanden hatte. Allerdings hatte sie ihn so aus der Fassung gebracht, dass er jetzt keine Ahnung mehr hatte, was er eigentlich hatte sagen wollen. Und vielleicht gab es auch einfach nichts zu sagen. Vielleicht war es sogar besser, er würde nicht reden, nicht, dass er noch irgendeinen Quatsch erzählen würde.   Mit einem erneuten Lächeln auf den Lippen, ging sie rüber zu ihren Kindern, die sie sogleich mit ihrem albernen Wettbewerb in den Bann zogen. Obwohl Kaiba nicht so richtig was mit sich anzufangen wusste, so war er doch zufrieden damit, einfach nur zu beobachten. Und seine Augen lagen ausschließlich auf einer Person, dem kleinen Wirbelwind mit den goldbraunen Augen, den leuchtend blonden Haaren und dem zutiefst ansteckenden Lachen.   Als sich der Sonnenuntergang vorsichtig ankündigte, ging er nun auch auf die Gruppe zu. “Ich fürchte, wir müssen uns wieder auf den Rückweg machen.”   “Ach, Seto, können wir nicht noch ein bisschen bleiben? Zehn Minuten oder so?”, bettelte Mokuba, aber Kaiba schüttelte den Kopf. “Ich fürchte nicht, Mokuba. Die Sonne wird bald untergehen und es wäre gut, wenn wir vor dem Einbruch der Dunkelheit Zuhause wären.”   “Hmpf, na gut”, lenkte Mokuba ein und machte sich auf den Weg zum Helikopter. Auch alle anderen folgten ihm.   Nachdem alle eingestiegen waren, startete Kaiba den Helikopter, um die Gruppe wieder nach Hause zu fliegen. Mittlerweile war schon der Sonnenuntergang zu erahnen, und er wusste, dass er sich noch intensivieren würde, während sie flogen. Es war still im Helikopter, er konnte Serenity schnarchen hören und es schien fast so, als ob auch Mokuba eingeschlafen wäre. Aus dem Augenwinkel konnte er Joey sehen und… weinte er etwa?   “Hey, alles okay?”, fragte er, und als Joey sich ihm direkt zuwandte, konnte er sehen, dass er recht hatte. “Was ist los?”, fragte Kaiba ihn und konnte einen Anflug von Sorge nicht vermeiden.   “Kannst… kannst du irgendwie machen, dass uns die anderen nicht hören?”, erwiderte Joey. Ziemlich kluger Einfall eigentlich, darauf hätte er auch selbst kommen können. Er drückte die richtigen Tasten, bevor er weiter sprach: “Kannst du mich noch hören?” Joey nickte. “Aber ich rede nur, wenn du den Blick weiter nach vorn richtest! Ich will nicht Schuld sein, wenn du einen Unfall verursachst oder so.”   Kaiba konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken, und auch wenn ihn das ein wenig nervte, so wusste er doch, dass es nur sein Hündchen sehen würde. Er richtete seinen Blick konzentriert wieder nach vorn. “Keine Sorge, Multitasking ist mein Spezialgebiet. Also, was ist los, Hündchen?”   Joey seufzte, bevor er anfing zu sprechen. “Ich kann es auch nicht so richtig sagen. Es ist einfach… einfach ein bisschen viel, weißt du?”   “Oh...” Hatte er etwas falsch gemacht? Sich zu sehr aufgedrängt mit dem Vorschlag, heute mit dem Helikopter zu fliegen? Aber alle waren so begeistert, auch Joey…   Scheinbar verriet Joey sein Stirnrunzeln, dass er sich gerade viel zu viele Gedanken über das Gesagte machte, also sprach er schnell weiter: “Nein, also, nicht so, wie du vielleicht denkst. Der Ausflug war wunderschön. Die ganzen letzten Tage waren wunderschön. Ach was, die ganzen letzten Wochen! Keine Ahnung, ich denke immer, glücklicher als jetzt kann ich nicht sein, und dann kommst du um die Ecke und setzt noch einen oben drauf. Da ist einfach so viel Dankbarkeit und Freude in mir, ich weiß nicht, das musste vielleicht mal raus. Macht das irgendwie Sinn?”   Bei jedem seiner Sätze machte Kaibas Herz einen Sprung. Er wusste nicht, dass er so einen großen Einfluss darauf hatte, wie sich Joey fühlte. Natürlich war er froh darüber, er wollte ihn unbedingt glücklich sehen, aber dass er es so betrachtete, machte ihn irgendwie stolz.   “Also waren das Freudentränen?”   “Mhm, genau”, antwortete Joey. “Tut mir leid, falls das falsch rüberkam.”   “Überhaupt nicht. Wenn du glücklich bist, bin ich es auch”, zitierte er Joeys Mum von vorhin - und musste sich eingestehen, dass er es genauso sah. Aus dem Augenwinkel konnte er ihn wieder lächeln sehen.   Er schaltete alle Headsets wieder ein und sagte dann durch, dass sie gleich da sein würden. Serenity streckte sich und gähnte laut, und auch Mokuba rieb sich die Augen, während Kaiba den Helikopter wieder sicher auf dem Dach der Kaiba-Villa landete.   ~~~~   Nun waren die Weihnachtsfeiertage endgültig vorüber und sie saßen alle gemeinsam am Frühstückstisch. Joey hatte Kaiba in den letzten Tagen intensiv beobachtet und mittlerweile verstanden, dass es im Prinzip zwei Personen in ihm gab. Die Person, die er nach außen vorgab zu sein, also zwar jemand, der seinem eigenen Bruder auch offen Gefühle zeigen konnte, aber ansonsten eher kühl, distanziert, zuweilen arrogant, rechthaberisch und gebieterisch war. Und dann gab es den anderen Kaiba, den, der ein Herz hatte. Der Sachen sagte, die Joeys Herz höher schlugen ließen. Der lächelte, wenn auch nur zaghaft und nur, wenn ihn niemand anderes außer Joey sah. Der ihn ‘mein Hündchen’ nannte, was im Gegensatz zu ‘Köter’ oder ‘Streuner’ eine enorme Steigerung war. Und der ihn berührte und damit ein explosionsartiges Kribbeln in seinem Körper auslöste. Joey glaubte, nein, er war sich sicher, dass nur er diese Seite von Kaiba zu Gesicht bekam, auch weil er unheimlich darauf Acht gab, dass ihn niemand sonst dabei beobachtete. Wobei ihn das Gefühl nicht los ließ, dass seine Selbstkontrolle immer mehr ins Wanken geriet. Dennoch - dieses Gefühl, dass er der Einzige war, der diese Seite von ihm kannte, war unbeschreiblich. Sollte das für immer so bleiben, war es eben so - weil er jetzt wenigstens wusste, dass es diese Seite an seinem Drachen gab.   Nach und nach verabschiedeten sich die Leute vom Frühstückstisch, aber Joey wollte noch etwas mit Kaiba besprechen. Als alle schon draußen waren und sich auch Kaiba von seinem Platz erhob, fragte Joey: “Hey, hast du einen Moment Zeit?”   “Schon, aber nicht viel. Können wir auf dem Weg in mein Arbeitszimmer reden? Ich muss ein paar wichtige Telefonate führen.”   “Oh, Ärger in der Firma?”   Er hörte Kaiba seufzen. “Ein Lieferant, der zu spät geliefert hat. Manchmal frage ich mich, wozu ich eigentlich Personal habe, wenn ich dann doch alles selber machen muss”, sagte er genervt.   Sie machten sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer. Dort angekommen, setzte Joey erneut an: “Wenn das der falsche Zeitpunkt ist, kann ich auch später wiederkommen.”   “Nein, schon gut, ich fürchte, das wird heute ein langer Tag.”   “Okay, ich wollte nur kurz über den Silvesterabend mit dir sprechen.” Erneutes Schnaufen von Kaiba, als dieser antwortete: “Mokuba hat eine Party organisiert, nehme ich an?”   Joey stand recht weit vom Schreibtisch entfernt. Er konnte die Situation nicht richtig einschätzen und er wollte auch nicht, dass Kaiba jetzt wegen sowas an die Decke ging. Er musste irgendwie behutsam an die Sache rangehen.   “Mhm, genau. Meine Freunde würden kommen, Mokuba hat auch ein paar Schulfreunde eingeladen, und meine Mum und Serenity wären natürlich auch hier. Ich… keine Ahnung, ich wollte nur sichergehen, dass das okay für dich ist. Ich weiß, Mokuba würde jetzt sagen, Scheiß drauf. Wobei, so würde er es vermutlich nicht ausdrücken.” Kurz musste Joey schmunzeln, und als er wieder aufsah, konnte er auch ein Zucken an Kaibas Mundwinkeln bemerken.   “Wie auch immer, wenn das ein Problem für dich ist, dann spreche ich mit Mokuba. Wir könnten ja auch woanders feiern, nicht hier, aber…” Joey biss sich leicht auf die Unterlippe. Wie konnte er das am besten formulieren?   “Aber was, Hündchen?” Kaiba war aufgestanden und lehnte sich mit der Hüfte an die Vorderseite seines Schreibtischs, die Arme vor der Brust überkreuzt. Er hatte ein hellblaues Hemd an, zusammen mit einer dunkelblauen Stoffhose, und Joey konnte seinen Blick nicht abwenden. Warum nur wurde er so von dem Braunhaarigen angezogen? Er musste sich räuspern, bevor er mit etwas belegter Stimme weiter reden konnte. “Aber… ich weiß nicht, ich… na ja, wenn du nicht dabei wärst, dann würde… irgendwie was fehlen. Also…”   Joey hatte den Kopf gesenkt und konnte die Hitze in seinen Wangen spüren. Schritte waren zu hören, und Kaiba hob seinen Kopf hoch, damit er ihn ansehen musste. Er war ihm ganz nah. “Also, was, Joey?” Oh Gott, er hatte seinen Vornamen benutzt, schon wieder. Ihm wurde ganz anders, seine Knie fühlten sich an wie Pudding. Kaibas Augen waren so unheimlich intensiv blau, ein Sturm aus verschiedenen Blautönen. Was machte dieser Drache nur mit ihm?   Wie in Trance und bevor er weiter darüber nachgrübeln konnte, wie er es sagen sollte, sagte er einfach: “Bitte, komm auch zur Party. Ich will dich da haben.”   Kaiba ließ ihn noch ein wenig zappeln und schwieg für einige Sekunden, die Joey wie Stunden vorkamen. Es war ihm so unangenehm, und dennoch konnte er zugleich die Anziehung spüren, sein Herz raste und seine Wangen glühten, insbesondere an der Stelle, wo Kaiba ihn berührte. Dann setzte Kaiba ein leichtes Lächeln auf, seine Augen ein wenig zu Schlitzen geformt. “Gut, ich werde da sein. Aber glaub’ ja nicht, dass ich tanze oder sonst irgendeinen Unsinn mache, klar?” Damit ließ er von Joey ab, drehte sich um und ging zurück an seinen Schreibtisch. Okay, das hier war irgendwie anders. Klar, Kaiba hatte viel zu tun und so, und vielleicht interpretierte er da jetzt zu viel hinein, aber… aus der Hitze war ein Feuer geworden, das unermüdlich größer wurde, und Joey hatte keine Ahnung, wie er es stoppen könnte. Vielleicht wollte er auch gar nicht, dass es aufhörte - er würde das Risiko eingehen und sich nur zu gern verbrennen.   “O-okay, d-das klingt gut. I-ich geh dann mal M-mokuba helfen.” Stotternd wandte sich Joey ab und verließ das Arbeitszimmer. Diese Stimmung, diese Wärme - das alles musste er erst mal verarbeiten. Er musste jetzt unbedingt Distanz zwischen ihnen schaffen und irgendwie Abkühlung finden. Auch wenn ein Teil in ihm wusste, dass das nicht möglich sein würde.   Die nächsten Tage bis zum Silvesterabend brachte er damit zu, Mokuba bei den Vorbereitungen zu helfen. Zusammen mit Serenity und seiner Mum hing er Lichterketten auf, verteilte weitere Dekoration, schaffte den Weihnachtsbaum weg, besprach mit Mokuba die Essensplanung und ging auch selbst noch ein paar Snacks einkaufen. Durch die viele Beschäftigung kühlte sein Kopf wieder etwas ab, auch weil Kaiba sich mehr oder weniger in seinem Arbeitszimmer oder in der Firma verschanzt hatte. Joey hoffte trotzdem, dass Kaiba auftauchen würde, so, wie er es gesagt hatte.   Es war der 31. Dezember, und Joey half Mokuba bei den letzten Vorbereitungen. Der Kleine Kaiba-Bruder hatte ihm schon gesteckt, dass es ein phänomenales Feuerwerk geben wird, das sie von der Dachterrasse aus beobachten würden, und Joey freute sich schon sehr darauf. Er nahm sein Handy raus und sah auf die Uhr - es war 19 Uhr, die Gäste würden in etwa einer Stunde ankommen. Zeit, sich zurückzuziehen und fertig zu machen.   Zurück in seinem Apartment, duschte Joey ausgiebig und suchte dann in seinem Ankleidezimmer nach einem passenden Outfit. Er war in den letzten Tagen noch einkaufen gewesen und hatte sich eine Auswahl an Hemden zusammengestellt - wenn man mit Seto Kaiba zusammen wohnte, war es wohl ganz gut, auch ein paar formellere Kleidungsstücke im Schrank zu haben.   Er entschied sich für ein schwarzes Hemd, und da es ein recht lockerer Anlass war, ließ er den Knopf am Kragen und den darunter offen. Dazu trug er eine dunkelblaue Jeans und schwarze Sneaker. Vor dem Spiegel richtete er sich noch mal kurz die Haare - perfekt! Er sah auf sein Handy, kurz vor 20 Uhr. Er nahm schon mal seinen Mantel mit, damit er nicht nochmal herkommen musste, bevor sie zum Feuerwerk rausgingen, und lief dann in Richtung Festsaal, den sie für die Party vorbereitet hatten.   Dort traf er auf Mokuba, Serenity und seine Mum. Alle hatten sich rausgeputzt. Serenity hatte ein bodenlanges, weinrotes Kleid an, und sah einfach traumhaft schön aus. Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie hier war, und in diesem Aufzug sah sie so… erwachsen aus. Er wünschte sich sehr, dass sie sich jetzt öfter sehen würden. Zumindest öfter als alle zehn Jahre wäre ja schonmal eine Verbesserung.   Nach und nach trudelten die Gäste ein. Tristan, Téa und Yugi kamen gemeinsam und hatten sich ebenfalls ziemlich schick gemacht. Téa war in ihrem Glitzerkleid schon von weitem zu sehen und sah aus wie eine Diskokugel, und Joey musste sich ein Lachen verkneifen. “Hey, Leute, schön, dass ihr da seid!”   “Danke für die Einladung, Joey”, erwiderte Yugi freundlich lächelnd. Alle hingen ihre Jacken und Mäntel an die Garderobe, und Tristan war der Erste, der die Snack-Bar plünderte, während sich die Anderen was zu trinken holten. Das ließ Joey erneut auflachen. Manchmal waren seine Freunde wirklich Deppen, aber es waren seine Deppen-Freunde, und nichts würde sich jemals daran ändern.   Mokuba hatte einen DJ organisiert, der im Hintergrund langsam anfing, Musik zu spielen. Joey sah zum gefühlt hundertsten Mal auf sein Handy - schon 30 Minuten nach acht, und noch keine Spur von Kaiba. Hatte er es sich anders überlegt?   Doch in diesem Augenblick ging die Tür auf, Kaiba trat ein und zog sofort alle Blicke auf sich. Augenblicklich wurden Joeys Knie wieder weich und er musste sich an einem Pfeiler abstützten, um nicht gänzlich die Kontrolle zu verlieren. Die andere Hand hielt seinen Becher Cola fest, den er beinahe fallen gelassen hätte. Kaiba sah atemberaubend aus. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Stoffhose und darüber einen langen, weißen Mantel, der vorne geöffnet war. Sein Blick glitt kühl über die Festgemeinde, ein paar Strähnen hingen ihm im Gesicht, und Joey hatte das überwältigende Bedürfnis, ihm diese verdammten Haare aus der Stirn zu streichen. Er musste sich unbedingt beruhigen, aber er konnte seinen Blick einfach nicht abwenden, schon gar nicht, als Kaiba ihn erkannte und mit diesem intensiven Blick belegte, der einen Sturm aus Gefühlen in ihm auslöste. Joey fragte sich, wie er auch nur eine Minute überleben sollte. Wenn Kaiba auch nur im Raum war, wurde ihm schon ganz anders. Was, verdammt noch mal, passierte hier eigentlich mit ihm?   “Pfff, was für ein dramatischer Auftritt, war ja klar, dass Kaiba wieder die ganze Aufmerksamkeit braucht, arroganter Pisser”, hörte er Tristan von der Seite meckern. Das löste in Joey eine unbändige Wut aus. Konnte er denn nicht sehen, was er sah? Aber Téa stieg direkt mit ein, denn sie sagte: “Total der Angeber, dieser Typ. E-kel-haft, mehr sage ich dazu nicht!”   Joey musste sich beruhigen. Offensichtlich sahen sie tatsächlich nicht, was er sah, sonst würden sie so nicht über ihn reden. Aber er konnte seine Wut nicht unterdrücken, daher murmelte er seinen Freunden zu: “Bin gleich wieder da.” Und mit diesen Worten rauschte er aus dem Festsaal und flüchtete in die Küche.   Dort angekommen, musste er erstmal ein paar tiefe Atemzüge nehmen. Warum nahm ihn das so mit? Vor nicht mal zwei Monaten wäre er doch mit Freude drauf eingestiegen. Mal ehrlich, vor zwei Monaten hätte er sich nicht mal vorstellen können, auch nur einen Fuß in dieses Anwesen zu setzen. Und doch hatte sich soviel geändert, seine Welt wurde komplett auf den Kopf gestellt, und das war einzig diesem Idioten mit den verdammt mitreißenden eisblauen Augen zu verdanken.   “Hier steckst du”, hörte er eine Stimme hinter sich, und er wusste sofort, dass diese Stimme nur einem gehören konnte. Joey stützte sich ein wenig vornübergebeugt an einer Küchentheke ab, während er den Blick auf Kaiba richtete. Noch immer war er übermannt von seiner Wut, sein Atem ging schnell, und seine Augen waren leicht zusammengekniffen. “Was willst du, Kaiba?”   Dem Angesprochenen war die Verwirrung sichtlich ins Gesicht geschrieben. Er schloss die Tür hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und verschränkte die Arme vor dem Körper. “Was ist los, Hündchen?”   “Was los ist? Mann, Kaiba, keine Ahnung, was los ist. Ich weiß schon seit Wochen überhaupt nicht mehr, was mit mir los ist!” Joeys Stimme war lauter, als er es eigentlich klingen lassen wollte, aber diese ganzen vielen verschiedenen Gefühle prasselten auf einmal auf ihn ein - Wut, Verwirrung, Angst, Glück, Freude, einfach alles.   Kaiba erwiderte nichts, stand einfach da und beobachtete ihn. Wenigstens einer von beiden, der Herrscher über seine eigenen Gefühle und Sinne war. Erst jetzt wurde Joey sich seiner Präsenz so richtig bewusst. Verdammt noch mal, Kaiba sah von nahem noch viel besser aus. Sein Pullover lag so eng an, dass man darunter seine Muskeln erahnen konnte, und der Mantel schmiegte sich einfach perfekt an seinen Körper an. Und die Hose, diese verfluchte Hose, unterstrich sein ganzes Erscheinungsbild noch. Er war die personifizierte Perfektion.   Joey musste seinen Blick wieder abwenden. Er war nicht sauer auf Kaiba, und es wäre nicht fair, das jetzt an ihm auszulassen, das wusste er. Er musste nur irgendwie wieder Herr seiner Gefühle werden. Aber das hatte er die letzten Wochen schon probiert, und wo hatte es ihn hingeführt? Dass er sich in der Küche verschanzte, während ein paar Räume weiter die Party abging.   Auf einmal spürte er Kaibas Hand auf seiner, noch immer auf der Theke abgestützten Hand. Aber er sagte noch immer nichts, schaute ihn nur fragend an. Und als er ihn so ansah, konnte Joey die Worte nicht mehr zurückhalten.   “Keine Ahnung. Erst hat Tristan irgendwas Bescheuertes über deinen Auftritt gesagt, und dann kam Téa auch noch mit irgendwelchen Beleidigungen. Das hat mich einfach so… so rasend wütend gemacht. Die haben kein Recht…” Joey schnaufte hart und hatte noch immer alle Mühe, sich zu beruhigen. Kaiba zog seine Hand weg und stützte sich mit seiner Hüfte an der Theke ab, sodass sie nun nebeneinander standen.   “Du weißt, dass mir total egal ist, was der ‘Kindergarten’ von sich gibt, oder?”, erwiderte Kaiba monoton. Das machte Joey nur noch wütender.   “Sollte es aber nicht, Kaiba. Die haben nicht das Recht, sowas über dich zu sagen!” Warum konnte Kaiba das denn nicht sehen? Sag mal, waren hier heute alle so bescheuert, oder drehte Joey jetzt völlig durch?   Kaiba gab ein abruptes Lachen von sich, bevor er Joey ganz nah kam und ihm mit rauer Stimme ins Ohr flüsterte: “Wärst du nicht vor zwei Monaten noch an vorderster Front mit dabei gewesen?”   Damit hatte Kaiba definitiv den Nagel auf den Kopf getroffen. “Sieh mich an, Hündchen”, sagte er mit einer gewissen Dominanz, der man nicht einfach so widersprechen konnte. Joey drehte sich um und lehnte sich nun mit dem Po gegen die Theke. Kaiba trat vor ihn, die Arme links und rechts von ihm abgestützt, sein Gesicht nahe des Blonden.   “Hör zu, dein guter Vorsatz in allen Ehren, aber mir ist es wirklich verdammt egal, was deine Freunde über mich sagen. Mir könnte wirklich nichts egaler sein. Aber wenn sie der Grund dafür sind, dass du heute Abend keinen Spaß hast, brauchst du nur ein Wort zu sagen und sie fliegen in hohem Bogen raus und werden hier nie wieder reingelassen.”   Joey wurde erneut überwältigt von seinen Gefühlen. Sein ganzer Körper wurde durchzogen von lodernder Hitze. Kaiba war ihm so nah, und all das, was er sagte, schnürte ihm die Kehle zu, er bekam kaum noch Luft. Er wollte ihn berühren, aber er konnte nicht, weil er keine Macht mehr über seine Gliedmaßen hatte.   Kaiba strich mit seinem Daumen über Joeys Wange, und dann, für einen kurzen Moment, über seine Lippen. Das entlockte Joey einen wohligen Seufzer und er konnte das Feuer in Kaibas Augen lodern sehen.   “Also, du wirst da jetzt zurückgehen und gefälligst Spaß haben, verstanden?” Joey wusste, Kaiba würde keine Widerrede zulassen. Aber dennoch - der Blonde war neugierig. “Sonst was, Drache?”, erwiderte Joey mit erstickter Stimme.   Der Braunhaarige gab ein fast schon teuflisches Lachen von sich, bevor er sein Gesicht dem von Joey noch weiter näherte, sodass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Dann sagte er mit kehliger Stimme: “Willst du das wirklich wissen, Joey?” Dann ließ er von ihm ab und ging seelenruhig aus dem Raum, so als wenn nie etwas passiert wäre.   ~~~~   Was war da gerade passiert? Kaiba konnte Joeys Hitze noch immer förmlich spüren, seinen heißen Atem in seinem Gesicht. In seinem Kopf drehte sich alles, und er konnte sehen, dass es Joey genauso ging, auch wenn Kaiba noch etwas mehr Herr seiner Sinne war.   Mittlerweile war der Blonde, genauso wie Kaiba, wieder im Festsaal angekommen. Er beobachtete ihn genau, wie er wieder zu seinen dummen Freunden ging und sich offensichtlich für sein plötzliches Verschwinden entschuldigte. Es war so lächerlich, dass er so wütend wurde über etwas, das der ‘Kindergarten’ über ihn sagte. Gab es irgendwas im Leben, das noch unwichtiger war als das? Nicht für ihn, aber Joey war die Meinung seiner Freunde wichtig. Und dass er ihn hatte verteidigen wollen, war ja durchaus ehrenhaft von ihm gewesen.   Die Stimmung im Saal war ausgelassen. Es wurde getanzt, gegessen, getrunken, alle hatten Spaß, mittlerweile sogar wieder Joey, der mit seinen Freunden eine heiße Sohle aufs Parkett legte. Als Kaiba vorhin das erste Mal den Festsaal betrat und Joey im Raum entdeckte, wurde ihm sofort heiß. Der Blonde sah sensationell gut aus. Und dann hatte er auch noch die ersten beiden Knöpfe seines Hemdes offen gelassen… Er beruhigte sich, indem er für einen Augenblick die Augen schloss und sich auf seinen Atem konzentrierte. Doch auch mit geschlossenen Augen sah er diese leidenschaftlichen, goldbraunen Augen vor sich. Er bemühte sich, auf andere Gedanken zu kommen, aber er sah nichts, nichts außer ihn.   Also gab er es auf und beobachtete Joey, der ausgelassen tanzte und dabei einfach absurd gut aussah. Irgendwann drehte sich Joey mal für eine kurze Sekunde zu ihm um und schenkte ihm eines seiner strahlenden Lächeln. Der Kerl machte ihn fertig. Und gerade, als er sich zur Ablenkung ein weiteres Getränk holen wollte, erklärte Mokuba dem DJ, die Musik abzustellen und nahm das Mikrofon in die Hand. “Hey, Leute, danke nochmal, dass ihr heute alle hier seid, ich hoffe, ihr habt alle Spaß?” Eine gröhlende Menge stimmte ihm zu, und Kaiba musste sich mal wieder fragen, mit welchen Primitivlingen er es hier zu tun hatte. Er schaute kurz zu Joey, und der schien sich darüber auch sehr zu amüsieren. Kaiba musste ein Lächeln unterdrücken - vor zwei Monaten hätte er Joey ohne mit der Wimper zu zucken zu dieser Gruppe primitiver Affen dazu gezählt, aber er hatte mittlerweile so viel mehr über sein Hündchen gelernt, dass er wusste, dass das absolut ungerechtfertigt wäre. Joey hatte nie und würde nie zu dieser Horde Bekloppter zählen.   “Cool! Es sind noch 30 Minuten bis Mitternacht und ich würde mich freuen, wenn wir uns alle so langsam in Richtung Dachterrasse machen könnten. Also, schnappt euch eure Jacken und Mäntel und auf geht’s! Keine Sorge, da oben gibt es auch zu trinken und zu essen, es ist für alles gesorgt.” Damit schaltete er das Mikro ab und die feierwütige Meute schnappte sich einer nach dem anderen ihre wärmenden Kleidungsstücke von der Garderobe. Kaiba selbst war unter den Letzten, die dies taten, er hatte keine große Eile, nach oben zu kommen.   Langsam erklomm er die Treppe, die ihn nach oben auf die Dachterrasse führen würde. Er öffnete die Tür, die das Treppenhaus mit dem freien Bereich verband, und wurde sofort von kalter Luft begrüßt. Genau das brauchte er jetzt.   Er trat hinaus ins Freie und konnte sofort Joey ausmachen, der lachend im Kreis mit seinen Freunden stand. Kaiba würde in sicherer Entfernung bleiben, er konnte ansonsten für nichts garantieren. Er suchte sich eine Stelle am Rand, von der aus er die Szenerie gut beobachten konnte, aber selbst absolut unbeobachtet blieb.   Dann sah er sich um. Mokuba hatte sich tatsächlich viel Mühe gegeben. Die gesamte Dachterrasse war von Lichterketten umgeben, und überall standen noch weitere Lampen und Lichtquellen, selbst kleinere Lampions, die dem Ganzen ein wenig Farbe einhauchten. Der DJ, den Mokuba engagiert hatte, hatte auch hier oben jegliches Zubehör zur Verfügung und spielte weiter Musik, allerdings deutlich leiser als noch im Festsaal, mehr als Geräuschkulisse im Hintergrund. Aber egal, was er machte, auf was er auch versuchte, sich zu fokussieren, sein Blick glitt immer wieder zu dem Blonden mit den Augen aus Gold.   ~~~~   Joey sah auf sein Handy, es war fünf Minuten vor Mitternacht. Seine Freunde waren in eine lebhafte Diskussion über Hüte und andere Kopfbedeckungen vertieft, und er konnte sich nur zu gut vorstellen, welche Kommentare Kaiba dazu auf der Zunge hätte. Apropos Kaiba, er sollte sich auf die Suche nach ihm machen. Er wollte bei ihm sein, wenn die Uhr Mitternacht schlug, und auch wenn er dagegen ankämpfte, er konnte es einfach nicht mehr. Und etwas sagte ihm, dass es Kaiba damit genauso ging.   Seine Augen schauten über die gesamte Dachterrasse, und gerade, als er dachte, er würde ihn nicht entdecken, konnte er ihn sehen, mit seinem langen, weißen Mantel, versteckt in einer der hintersten Ecken. Téa und Tristan steckten in einer hitzigen Diskussion und achteten nicht auf ihn, deshalb gab er Yugi nur kurz ein Zeichen, dass er für einen Moment weg wäre, und Yugi quittierte das mit einem Daumen nach oben und seinem Yugi-typischen Lächeln.   Joey machte sich auf den Weg zu Kaiba, und schon von weitem konnte er sehen, dass er jeden seiner Schritte beobachtete. Lässig lehnte er an einer Wand, und egal, wie sehr Joey versuchen würde, das abzustreiten, er wurde magisch von ihm angezogen.   “Du hast dich ja wirklich in die allerhinterste Ecke verkrochen, Kaiba”, begrüßte Joey ihn lachend.   “Was, hast du gedacht, ich würde da mit dir stehen und deinen dummen Freunden zuhören?”   Das brachte Joey erneut zum Lachen. “Nie im Leben würdest du das machen. Kannst du dich noch erinnern, wie wütend ich vorhin war?” Kaiba bedachte ihn mit diesem Blick, der ihm schon wieder die Hitze in den Körper schoss. Es war einfach nur krass, was für eine Wirkung und auch Macht er über ihn hatte. Der Braunhaarige nickte. “Tja, Tristan meinte, du würdest nur die Aufmerksamkeit suchen, mit deinem dramatischen Auftritt vorhin und so. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du eigentlich genau das Gegenteil erreichen willst.”   Mit diesen Worten lehnte sich Joey neben Kaiba mit dem Rücken an die Wand und schaute auf den Rest der Leute, die die Party weiter genossen. Tristan und Téa schienen noch immer nicht bemerkt zu haben, dass er weg war, und hier hinten waren sie vor zu großer Aufmerksamkeit sicher.   “Hm, da könntest du ausnahmsweise mal recht haben, Hündchen.” Kaiba drehte seinen Kopf in seine Richtung. Sie standen direkt nebeneinander, Joey konnte Kaibas Körperwärme durch die vielen Schichten Kleidung spüren - oder bildete er sich das etwa nur ein? Frech grinste er den Größeren an. “Ausnahmsweise, ja?” In Kaibas Augen wütete ein Sturm, der Joey sofort gefangen nahm. Zwecklos zu versuchen, den Blick abzuwenden.   Kaiba sah auf sein Handy und zeigte es Joey - eine Minute vor Mitternacht. Ihre Gesichter waren sich immer noch zugeneigt und keiner von beiden machte auch nur ansatzweise Anstalten, Distanz aufzubauen. Ganz im Gegenteil, Kaiba nahm eine Hand von Joey in seine und intensivierte den Blick sogar noch - wenn das überhaupt möglich war. Joey verlor sich in seinem Blick, ihm war heiß, so heiß. Er musste ihn berühren, er konnte nicht mehr anders. Er hob seine Hand und strich nun ihm über die Wange, so wie Kaiba es vorhin in der Küche bei ihm gemacht hatte.   “Noch 15 Sekunden!”, schrie Mokuba von weiter weg, und Joey ließ seinen Daumen über Kaibas Lippen gleiten, und dann an seinem Kinn zur Ruhe kommen. Sie fingen an, abwechselnd zu zählen.   “10…”, fing Joey an. “9…”, kam es dann von Kaiba.   “8…”   “7…”   Kaiba stellte sich nun vor ihn, die Arme links und rechts von Joey abgestützt.   “6…”, zählte Joey mit heiserer Stimme.   “5…” Kaiba näherte sein Gesicht, sodass Joey schon seinen heißen Atem spüren konnte.   “4…” Joeys Stimme war kaum noch mehr als ein zittriges Flüstern.   “3…”   “2…” Ihre Nasenspitzen berührten sich.   “1....”   “Frohes neues Jahr, mein Drache.”   “Frohes neues Jahr, mein Hündchen.”   Und während um sie herum das Feuerwerk in den Himmel schoss und ein Wunder an Farben preisgab, überwand Joey den Rest der Distanz zu Kaibas Lippen und küsste ihn, löste damit sein ganz eigenes Feuerwerk in seinem Körper aus. Kaiba erwiderte den Kuss ohne zu zögern, fordernd stupste seine Zunge gegen Joeys Lippen, der ihm nur zu gern Einlass gewährte. Joey schlang seine Arme um Kaibas Nacken und zog ihn noch enger an sich, gab sich ganz dem Verlangen hin. Es war, als wenn er darauf schon sein ganzes Leben lang gewartet hatte. Er wollte ihn noch näher bei sich spüren und drückte seinen Körper gegen seinen, und ihre Zungen kämpften in ihren Mündern einen hitzigen Kampf, den keiner verlieren, sondern nur gewinnen konnte.   ~~~~   Es war wie die Erlösung, eine Art Absolution. Sein Hündchen drückte sich heftig gegen ihn und ihre Zungen kämpften wild miteinander. Er konnte noch immer den Geschmack von Cola in seinem Mund schmecken, und er roch intensiv nach Minze. Gott, alles in ihm war verrückt nach Joey. Wieso hatte er das nicht vorher gesehen?   Gesehen… verdammt. Er löste sich von ihm und blickte sich um. Scheinbar beachtete sie niemand, alle schauten in den Himmel auf das Feuerwerk, aber er konnte das Risiko nicht eingehen.   “Nicht… hör nicht auf, bitte.” Er sah zurück in diese lodernd goldenen Augen, und das machte ihn fertig. Er wusste, er würde sich nicht beherrschen können, und Joeys fordernder Blick, der so voller Leidenschaft war, machte es ihm nicht einfacher.   “Komm mit.” Er nahm ihn an der Hand und zog ihn möglichst unauffällig ins Treppenhaus. Er wusste, weiter würde er nicht kommen, aber hier waren sie zumindest für eine Weile sicher, weil sich die Partygesellschaft das Feuerwerk ansehen würde.   Kaum war die Tür hinter ihnen geschlossen, drückte er Joey mit einer hitzigen Wucht gegen die Wand und intensivierte ihren gerade unterbrochenen Kuss sogar noch. Joey stöhnte auf, und das brachte ihn fast um den Verstand. Der Blonde schlang sogleich seine Arme wieder um seinen Nacken und forderte mehr, und Kaiba würde alles tun, ihm alles geben. Er war ihm total verfallen.   Kurz unterbrach Kaiba den Kuss, er wollte ihm in die Augen sehen. Joeys Augenlider flackerten, sein Atem ging schnell und seine Augen strahlten in dem hellsten Gold, das er je in seinem Leben gesehen hatte. Würde er jemals genug von diesen Augen bekommen?   Sein Hündchen wurde ungeduldig und drückte ihm fordernd seine Lippen auf den Mund. Leicht biss der Blonde in seine Unterlippe, und er konnte ein wohliges Stöhnen nicht unterdrücken. Gott, er hatte so viel in seinem Leben verpasst, aus dem er das Hündchen bisher so kategorisch ausgeschlossen hatte.   In einem Sturm der Leidenschaft küssten sie sich, keiner von beiden wollte sich lösen. Bis Kaiba Schritte hörte und Stimmen, die sich näherten. Schnell stieß er sich von Joey und der Wand ab, stand nun an der gegenüberliegenden Wand, als sich nur Sekunden später die Tür öffnete und Mokuba mit Joeys Freunden das Treppenhaus betrat. Verdammt, hätten sie nicht eigentlich mehr Zeit haben sollen? Noch immer schaute sein Hündchen ihn hitzig an, und noch immer mussten beide ihren unregelmäßigen Atem unter Kontrolle bringen.   “Joey, da bist du ja! Wir haben dich überall gesucht! Frohes Neeeeues! Hattest du schon wieder Streit mit diesem Idioten von Eisklotz da?” Stirnrunzelnd ging Gardner auf Joey zu, nahm seine Hand und zog ihn mit sich. “Komm, die Party geht unten weiter! Woohoo, wir tanzen die gaaaaanze Nacht!” Joey hatte offensichtlich seine Körperbeherrschung noch nicht wiedergefunden und wurde von Gardner und dem Rest der Idiotentruppe mitgerissen. Er konnte sich noch mal kurz umdrehen und mit seinen Lippen ein kurzes ‘Sorry’ formen, bevor er vollends verschwunden war. Wie verrückt der Abend war, ach, der ganze Tag schon. Diese Lippen… Kaiba wusste, er würde mehr brauchen. Und er würde es sich holen. Er brauchte nur einen Plan, wie er das anstellen sollte. Kapitel 9: Rescue me... from warm, fuzzy feelings ------------------------------------------------- Neujahr. Joey lag die ganze Nacht wach, weil ihn eine Hitze verfolgte, die er einfach nicht wieder los wurde. Dieser Kuss hatte ihn vollkommen eingenommen und alles verändert. Es fühlte sich absolut natürlich an, genau richtig, genau wie es sein sollte, als sie sich küssten. Es riss ihm den Boden unter den Füßen weg und er konnte an nichts anderes denken als an eisblaue Augen, die sein Verlangen noch verstärkten.   Und dann waren seine Freunde gekommen. Seine dummen, bescheuerten, idiotischen Freunde. Sie hatten ihn gefragt, was passiert war, aber er konnte nichts antworten. War mit seinen Gedanken noch immer so völlig bei diesem Mann, der ihn durch seine heißen Küsse so in Besitz genommen hatte. Und er wollte es wieder, Gott, er würde alles dafür tun, ihn wieder so berühren zu können, den Sturm in seinen Augen wahrzunehmen, und noch tiefer in den Strudel aus Verlangen und Leidenschaft zu fallen.   Es war zwecklos, er würde kein Auge mehr zubekommen. Die Party ging bis vier Uhr, und im Rausch der Endorphine tanzte Joey mit seinen Freunden bis zum Schluss. Von Kaiba fehlte seit ihrem Kuss jede Spur, und jede einzelne Sekunde davon fühlte sich an wie kleine Nadelstiche auf seiner Haut. Wieder einmal musste er sich fragen, was der Drache da mit ihm anstellte. War das alles Teil seines Plans, ihn von seinem eigenen abzubringen, einfach nur Teil des Deals? Aber würde er diese Begierde wirklich spielen können? Er wusste, Kaiba konnte skrupellos sein, aber sowas? Das wäre wirklich eine ganz andere Liga, und Joey konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er sich das nur eingebildet hatte. Kaibas Augen sagten ihm immer, was in dem Braunhaarigen wirklich vorging, und er hatte sie gesehen, dieselbe Sehnsucht, die er auch verspürte.   Er sah auf sein Handy, es war kurz nach zehn Uhr morgens. Um elf Uhr sollte es Frühstück geben. Damit jeder nach der langen Nacht einigermaßen Schlaf finden konnte, hatten sie sich auf eine spätere Zeit als üblich geeinigt, und es würde wohl eher auf eine Art Brunch hinauslaufen. Joey konnte sich kaum vorstellen, überhaupt einen Bissen runterzubekommen, schon gar nicht, wenn Kaiba mit im Raum war.   Er musste raus, musste auf andere Gedanken kommen. Er wusste, er würde diese eisblauen Augen nicht aus seinem Kopf bekommen, oder das Brennen von seiner Haut, von seinen Lippen, aber er würde es dennoch auf einen Versuch ankommen lassen. Hastig zog er sich seine Sportklamotten an, schnappte sich seinen MP3-Player und machte sich auf in Richtung Kaiba-Park. Es war ein kalter Januarmorgen, dennoch schien die Sonne gnadenlos auf die Erde und ließ Joey ein paar Mal blinzeln, als er ins Freie trat. Und dann rannte er los, rannte, als wenn es um sein Leben ginge. Er musste an sein Limit gehen. Er wusste nicht, wie lange er rannte, aber als er wieder kurz vor der Tür zum Haus stand, war alle Luft aus seinen Lungen gewichen, und er genoss dieses Gefühl. Er nahm seine Kopfhörer aus den Ohren und hockte sich für einen Moment auf den Boden, um wieder zu Kräften zu kommen, bevor er die Treppen zurück in den ersten Stock und in sein Apartment nehmen wollte. Gedankenverloren sah er vor sich auf den Boden und beobachtete die feuchte Luftwolke, die sich vor seinem Gesicht bildete, jedes Mal, wenn er ausatmete. Die kühle Luft war Balsam für seinen erhitzten Körper.   Nach wenigen Minuten des Erholens stand er auf, er war noch ungefähr zehn Meter von der Eingangstür entfernt - und da sah er ihn. Er hatte die Tür geöffnet und lehnte mit der Hüfte dagegen, die Arme vor der Brust verschränkt. Und trotz der Entfernung, die zwischen ihnen lag, war es für Joey nicht schwer zu erkennen, wie unverschämt gut der Braunhaarige aussah. Er musste gerade geduscht haben, seine Haare waren noch nass und hingen ihm strähnchenweise ins Gesicht. Joey hatte das Gefühl, bei seinem Anblick würde sein Herz für einen Moment stehen bleiben. Wie hatte er ihn überhaupt gefunden? Oder anders: Woher hatte er gewusst, dass er hier war? Na ja, das war immer noch Seto Kaiba, der wusste entweder alles oder wusste, wie er es rausfinden konnte. Hieß das, er wollte ihn finden? Hatte er ihn gesucht? Eindeutig zu viele Gedanken auf einmal.   Er nahm allen Mut zusammen. Er wollte ihm ja gar nicht aus dem Weg gehen, aber er war so nervös, als er auf ihn zuging, weil er nicht wusste, wie Kaiba fühlte, wie er zu ihrem Kuss gestern Nacht stand. Würde er es bereuen? Er wäre verloren, wenn es so wäre. Das würde ihm komplett den Boden unter den Füßen wegziehen. Nein, Joey mochte versucht haben, sich dagegen wehren - aber er wusste, es gäbe kein Zurück mehr, nicht nach dem, was sie gestern Nacht geteilt hatten. Er musste rausfinden, ob Kaiba das genauso sah.   In langsamen Schritten ging er auf ihn zu. Kaiba hatte noch kein Wort gesagt, ihn nur mit diesem mysteriösen Blick angestarrt. Joey musste schlucken, je näher er ihm kam, desto größer wurde sein Verlangen, sich erneut in dessen Augen zu verlieren. Aber er musste irgendwie bei klarem Verstand bleiben. Hilfe…   “Morgen”, sagte Joey mit erstickter Stimme, als er nur noch ungefähr einen Meter von Kaiba weg stand. “Hey”, erwiderte der kalt. Bereute er es doch? Sofort erfasste ihn eine Welle des Schmerzes, die ihm fast die Beine wegzog. Tatsächlich war ihm für einen Moment schwindelig und er hatte das Gefühl zu fallen. Er musste für einen Augenblick die Augen schließen und tief durchatmen - als er plötzlich eine Hand an seiner Wange spürte. Als er aufsah, blickte er in eisblaue Augen, die ihn sorgenvoll anschauten. “Ist alles in Ordnung, Hündchen?” Seine Worte waren nicht mehr als ein Flüstern. Er wusste, sie waren allein und unbeobachtet, sonst würde Kaiba sich nicht so weit vorwagen.   “Ich weiß nicht… ist alles in Ordnung, Kaiba?” Eine stumme Träne lief ihm über die Wange, und Kaiba wischte sie mit einer raschen Bewegung des Daumens weg. Alle Stellen, die er berührte, kribbelten auf seiner Haut. Diese Augen machten Joey wahnsinnig, aber er war doch nicht im Stande, seinen Kopf wegzubewegen. Plötzlich änderte sich etwas in Kaibas Augenfarbe, und er sah Schmerz. Schmerz? Kaiba ließ von ihm ab, aber Joey konnte das noch nicht. Er brauchte das jetzt.   Er hielt ihn am Ärmel fest, sein Blick flehend, obwohl er gar nicht wusste, wofür er eigentlich so bettelte. Kaiba sah ihn wieder intensiv an, aber der Schmerz war noch da. Dann fragte der Größere, wenn auch zögerlich: “Bereust du es?”   “Was?!” Joey konnte überhaupt nicht glauben, was er da gerade hörte. Moment, hatte der große Seto Kaiba etwa… Selbstzweifel?   Joey überwand die Distanz, die mittlerweile wieder zwischen ihnen stand, und schlang seine Arme um Kaiba. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen, oder er würde sich in ihnen verlieren, aber er musste sagen, was er zu sagen hatte, denn wenn er es jetzt nicht tat, hatte er das Gefühl, würde er es nie tun.   “Niemals. Nicht eine Sekunde. Wie kannst du sowas nur für einen winzigen Augenblick glauben? Be-… bereust du es etwa?”   Kaiba hob Joeys Kopf ein wenig an, sodass sie nun Stirn an Stirn standen. “Nein, nicht auch nur für einen Atemzug.” Oh Gott. Joey zitterte wie Espenlaub, und er musste sich weiter an Kaiba festhalten, sonst wäre er umgefallen. Alle Endorphine strömten zurück in seinen Körper, denn das war alles, was er wissen wollte. Es war dumm von ihm zu glauben, Kaiba könnte Zweifel haben, aber noch dümmer war es von Kaiba, auch nur einen Moment zu befürchten, Joey würde es bereuen. Das würde niemals passieren, niemals.   Sie standen einige Minuten so da, dann hob Joey den Kopf und sah Kaiba an. “Wieder okay?”, fragte Kaiba ihn sanft, und Joey nickte. Und auch wenn er genau sehen konnte, dass auch Kaiba die Berührung nicht beenden wollte, so wusste er, dass das unausweichlich war. Wann würde das nächste Mal sein? Warum war es noch nicht so weit? Seine Sehnsucht vereinnahmte ihn schon jetzt vollständig.   “Es gibt gleich Essen, aber du willst sicher vorher noch schnell duschen, oder?”   “Mhm, wenn das okay ist?”   “Natürlich. Du kommst ja sowieso immer zu spät, was macht da schon ein Tag mehr.” Bei diesen Worten lächelte Kaiba ihn an, wenn auch nur ein kleines bisschen. Joey war so froh darüber, weil es die Situation ein wenig auflockerte. Die ganze Anspannung der Nacht und des Morgens verflogen mit diesem einen Lächeln. Wusste Kaiba eigentlich, wie viel Macht er über ihn hatte?   Als Joey unter der Dusche stand und das heiße Wasser seine schlaffen Muskeln erhitzte, verfolgten ihn noch immer diese eisblauen Augen. Aber er war glücklich, glücklich, dass auch Kaiba es nicht bereute, und dass sie das so schnell klären konnten. Vielleicht war es Zufall, vielleicht auch Schicksal, dass sie sich an diesem Morgen getroffen hatten, vielleicht auch von Kaiba geplant, aber was auch immer es war, er fühlte nichts als Dankbarkeit.   Seine Haare waren zwar immer noch leicht nass, aber er wollte nicht zu sehr zu spät kommen. Also zog er sich schnell an und machte sich auf den Weg zum Esszimmer. Natürlich war er der Letzte, und als er den Raum betrat, sog Kaiba für einen kleinen Moment scharf die Luft ein. Joey musste sich beherrschen, er wollte nicht, dass die anderen was ahnten, erst mal mussten die beiden unter sich ausmachen, was das alles zu bedeuten hatte.   “Morgen, zusammen!”, rief Joey und versuchte, ein gut gelauntes Lächeln aufzusetzen.   “Morgen, Joey”, hörte er Mokuba gähnen, und auch Serenity und seine Mum stiegen in ein Gähnen ein. Da war er wohl nicht der Einzige gewesen, der eine kurze Nacht hatte. Das ließ ihn schmunzeln, während er gleichzeitig bemerkte, dass Kaiba ihn nicht aus den Augen ließ.   Dennoch kamen ein paar gute Gespräche zustande. Alle waren begeistert von der Party gestern gewesen. Mokuba war eben ein ziemlich genialer Partyplaner, das musste Joey anerkennend zugeben. Er wusste, was es hieß, ein sehr guter Gastgeber zu sein. Davon könnte sich sein großer Bruder mal eine Scheibe abschneiden, stelle Joey grinsend fest. Es war schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Kaiba-Brüder waren. Der eine quirlig und mitteilsam, der andere verschlossen und distanziert. Aber Joey würde es nicht anders haben wollen.   “Hey, Kaiba”, hörte er seine Mum dann sagen. “Leider müssten wir heute Abend nach Hause fliegen. Serenity hat in ein paar Tagen wieder Schule, und ich muss leider auch in zwei Tagen wieder arbeiten und wir müssen noch einiges vorbereiten. Ich glaube, ihr habt doch auch demnächst wieder Schule, oder?”   Kaibe nickte. “Selbstverständlich, ich lasse den Flieger vorbereiten. Bitte gebt Bescheid, wenn ihr bis dahin noch irgendwas braucht.” Vielleicht war Kaiba doch kein so schlechter Gastgeber wie Joey dachte, einfach nur… anders als Mokuba.   “Müsst ihr wirklich schon wieder los, Mum?”, fragte Joey wehmütig. Er wollte nicht, dass sie schon gingen, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er überhaupt nicht daran gedacht hatte. Der Einzige, der die letzten Stunden seine Gedanken dominiert hatte, war der Mann mit den eisblauen Augen ihm gegenüber gewesen.   “Ich fürchte ja, Joey. Aber wir sehen uns bestimmt bald mal wieder.” Sie lächelte, doch Joey wusste, das wäre unwahrscheinlich. Immerhin hatten sie ihr eigenes Leben in Amerika und konnten ja wohl auch nicht ständig Kaibas Privatjet in Anspruch nehmen. Er hoffte dennoch, dass es nicht wieder zehn Jahre dauern würde, bis sie sich wiedersahen.   “Komm, Serenity, wir sollten so langsam unsere Sachen packen.” Serenity folgte ihr mit gesenktem Blick, und schon waren sie verschwunden.   Am späten Nachmittag stand er an der Straße, wo der Chauffeur gerade die Koffer von seiner Familie in die Limousine packte. Seine Mum kam auf ihn zu und hatte Tränen in den Augen, und auch Joey konnte seine eigenen nicht verbergen. “Mein Junge, pass gut auf dich auf. Ich hab dich so lieb, hörst du? Wir telefonieren ganz viel, okay? Bitte, sei nicht traurig.”   Sie wischte Joey ein paar Tränen von den Wangen. “Ich werd’ euch so vermissen, Mum, Serenity.” Alle drei umarmten sich innig, und Joey wollte nicht loslassen, aber er wusste, es war unvermeidbar.   “Kaiba”, setzte seine Mum wieder an, und ihm war gar nicht aufgefallen, dass dieser plötzlich neben ihm stand. “Wir möchten uns bei dir für deine Gastfreundschaft bedanken. Dass ich meinen Jungen nach so vielen Jahren endlich wiedersehen konnte, ist mit Geld gar nicht zu bezahlen. Wenn wir mal irgendwas für dich tun können, lass es uns bitte wissen. Ihr seid uns jederzeit willkommen, ihr beide, und Mokuba natürlich auch.”   Kaiba nickte und Joey bewunderte, wie sehr er die Fassung bewahrte. “Genauso wie ihr hier. Meine Türen stehen euch stets offen.” Wow, seit wann war Kaiba so ein Gentleman? Er war so überaus höflich, und es erwärmte ihm das Herz zu sehen, wie einfühlsam er mit seiner Familie umging. Joey war sich sicher, das lag daran, dass Kaiba den Wert von Familie zu schätzen wusste, und er war dankbar dafür, dass sie auch das zu ihren Gemeinsamkeiten zählen konnten.   Die Drei umarmten sich noch ein letztes Mal, dann stiegen Serenity und ihre Mum ein und fuhren in der Limousine davon. Joey winkte ihnen noch nach, dann konnte er die Flut an Tränen nicht mehr zurück halten.   “Joey, sieh mich an”, sagte Kaiba. Sie standen mitten auf dem Gehweg, also hielt er sich mit Berührungen zurück, aber die Tatsache, dass er seinen Vornamen benutzt hatte, unterstrich die Sanftheit seiner Worte. Joey sah hoch und blickte in sorgenvolle, blaue Augen. “Ich habe gemeint, was ich gerade sagte. Sie können jederzeit wiederkommen, jederzeit. Du brauchst nur ein Wort zu sagen und ich schicke den Flieger los. Du wirst sie wiedersehen, hörst du?”   Joey platzte fast das Herz. Er hatte recht, er würde sie wiedersehen. Ganz im Gegensatz zu Kaiba, der seine Eltern für immer verloren hatte. Da fasste Joey einen Entschluss - was immer es brauchte, was immer nötig war, er würde versuchen, die Familie für ihn herzustellen, die er verdammt noch mal verdient hatte. Er war so wunderbar mit seiner Mum und seiner Schwester umgegangen, und Joey wollte unbedingt etwas zurückgeben. Kaiba war so unheimlich großzügig, dass es Joey kaum aushielt. Womit hatte er das denn verdient?   “Ich… ich danke dir. Wirklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, es ist einfach so…”   “Du brauchst überhaupt nichts sagen. Familie ist das Wichtigste, und du solltest nicht das Gefühl haben, keine zu haben, nur weil sie nicht hier sind. Weil sie es immer sein können, wann immer du es sagst.”   Noch immer kullerten Joey dicke Krokodilstränen die Wangen hinunter, als er Kaiba ansah. Er wollte ihn so gern berühren, aber er wusste, es ging hier nicht. Aber seine blauen Augen verrieten ihm, dass es ihm genauso ging. Kaibas Mundwinkel zogen sich ganz minimal in die Höhe, und wer nicht direkt vor ihm stand, würde es gar nicht bemerken, aber Joey sah es. Und er sah ihn, so wie nur er ihn sehen konnte.   “Es tut mir leid, ich muss leider heute ein bisschen arbeiten. Wahrscheinlich sogar das ganze Wochenende.” Joey sah in die schuldbewussten Augen des Größeren und schüttelte den Kopf. “Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast so viel für mich getan, und ich stehe so tief in deiner Schuld. Wenn ich irgendwas tun kann, um dir auch nur ansatzweise was zurückzugeben, dann lass es mich bitte wissen. Bitte.”   Sanfte Augen schauten auf ihn, und Kaiba nickte. Dann gingen sie gemeinsam wieder ins Haus und jeder ging mehr oder weniger seiner Wege.   Am Abend klopfte Joey vorsichtig an Kaibas Bürotür und steckte den Kopf hinein. Ihm war bewusst, dass er ihn wahrscheinlich nicht so oft sehen würde die nächsten Tage, da war es das Mindeste, ihm einen Kaffee vorbeizubringen - er wusste, dass Kaiba diesen auch am Abend trank, wenn er noch viel zu tun hatte. Nicht, dass das auch nur im Ansatz aufwiegen würde, was Kaiba für ihn getan hatte, aber wenn es ihm auch nur eine Sekunde Freude brachte, wäre der Anfang zumindest schon mal gemacht.   Joey trat mit der Tasse heißen Gebräus - mit einem Schluck Milch, natürlich - ein. Kaiba hatte ein Headset auf und war offensichtlich gerade in einem Meeting. Er sah gestresst aus und Joey wollte ihn auch gar nicht lange stören. Er stellte die Tasse vor ihm auf dem Schreibtisch ab und legte den Zettel dazu, den er vorbereitet hatte. Auf diesem Stand einfach nur ‘Danke’, zu mehr war er nicht imstande gewesen, aber so hatte Kaiba es wenigstens schwarz auf weiß.   Joey wollte sich gerade auf den Rückweg machen, da hielt Kaiba ihn am Arm fest. Er wusste, er war mitten in einem Arbeitsmeeting, dennoch nahm Kaiba für einen kurzen Moment seine Hand und drückte sie. Joey verlor sich schon wieder in seinen Augen und schenkte ihm ein beseeltes Lächeln. Und Kaiba erwiderte es. Joeys Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass er der Einzige war, der dies jetzt sehen konnte.   ~~~~   Die Tage nach Neujahr vergingen relativ schnell, allein schon der Tatsache geschuldet, dass Kaiba in Arbeit erstickte und zum Teil bis nachts noch ausbügeln musste, was seine Mitarbeiter vergeigt hatten. Außerdem hatte mittlerweile auch die Schule wieder angefangen, und Joey ging nun wieder seinem Nebenjob nach. Sie sahen sich meist nur zum Frühstück, und auch wenn sie in dieselbe Klasse gingen, hielten sie dort Abstand. Kaiba musste zugeben, dass er den Kleineren vermisste, seine Berührungen, seine Blicke. Seine ganze Welt hatte sich verändert, seit sie sich geküsst hatten. Wann immer er nicht arbeitete und so Ablenkung fand, nahmen Joeys Augen und die Erinnerungen daran, wie er sich angefühlt, wie er geschmeckt hatte, sein ganzes Wesen ein. In der Öffentlichkeit konnte er die Fassung bewahren und benahm sich wie immer, aber wenn er abends in seinem Bett lag, allein, da fühlte er diese tiefe Sehnsucht nach seinem Hündchen.   Es war schon fast Mitte Januar, es war ein Mittwochabend und Joey würde heut erst wieder spät von der Arbeit kommen. Kaiba saß an seinem Schreibtisch in der KaibaCorp. und würde vermutlich noch viel später nach Hause kommen als der Blonde. Seufzend nahm er sein Handy und tippte eine Nachricht an Joey.   ‘Hey, Hündchen, das Klavierkonzert ist in zwei Tagen. Bleibt es dabei, dass du mitkommst?’   Dann wartete er. Eine Minute, dann zwei, dann fünf… er hasste Warten und tippte ungeduldig mit seinen Fingern auf seinem Schreibtisch. Dann, endlich, nach zehn Minuten, summte sein Handy auf.   ‘Hey, sorry, viel los heute. Natürlich bin ich dabei, außer natürlich, du hast es dir anders überlegt…?’   Kopfschüttelnd stellte er fest, dass sein Hündchen unbedingt an seinem Selbstbewusstsein arbeiten musste. Hatte er denn keine Ahnung, was für eine Wirkung er auf ihn hatte? Wie sehr er ihn vermisste, wenn sie sich nicht sahen?   ‘Wen sollte ich sonst dabei haben wollen, Hündchen?’   ‘Weiß nicht, deine… Freundin?’   Der Kaffee, den er sich gerade gemacht hatte, um seine Konzentration für den Abend zu stärken, quoll nun aus Mund und Nase. Fluchend wischte er mit einem Papiertuch den Schreibtisch ab. Wo zur Hölle kam das denn nur her? Was für Hirngespinste hatte der Blonde? Er hatte definitiv eine viel zu blühende Fantasie.   Kurz überlegte er, was er antworten sollte, dann tippte er seine Nachricht:   ‘Verdammt, Joey, wenn du nicht gerade eine Geschlechtsumwandlung gemacht hast, wüsste ich nicht, von wem du da sprechen solltest. Ich will dich, nur dich, dabei haben, verstanden?’   War das zu viel? Seine Nachricht implizierte ja schon, dass sie sowas wie eine… ja, wie eine Beziehung hatten? Aber war es so, nach gerade mal einem Kuss? Keine Ahnung, war ja nicht gerade Kaibas Fachgebiet. Er hatte eher andere Kompetenzen. Aber irgendwas fühlte sich richtig an, es so zu schreiben. Und ob sie das jetzt Beziehung nannten oder nicht, war eigentlich auch egal. Das änderte nichts daran, wie er sich fühlte, wenn er auch nur eine Sekunde an ihn dachte.   Sein Handy vibrierte, und er wusste nicht, ob er die Nachricht lesen wollte oder nicht. Was, wenn Joey ganz anders fühlte? Er nahm das Handy in die Hand - er würde es nur wissen, wenn er die Nachricht las.   Ein Bild? Er öffnete es, und analysierte es genauer. Joey lehnte vornübergebeugt auf einer Theke, den Kopf mit einem Ellenbogen abgestützt, mit der anderen Hand betätigte er offensichtlich den Auslöser seiner Kamera am Handy. Hinter ihm schien die Küche zu sein. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und eine weinrote Schürze über allem. Und er lächelte, wie nur er es konnte. Seine Augen waren wie flüssiger Honig, und seine Haare lagen ein wenig durcheinander, sodass Kaiba das große Bedürfnis hatte, ihm durch die Haare zu streicheln und Ordnung zu schaffen. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, doch dann vibrierte das Telefon wieder, und er sah, dass es erneut eine Nachricht von Joey war.   ‘Hättest du dir vor wenigen Monaten vorstellen können, dass ausgerechnet du, du reicher, arroganter, herrischer Schnösel, Mr. Eisklotz in Person, mal deinen Erzfeind Joey Wheeler zum Lächeln bringst? Tja, hier ist der Beweis. Ich hoffe, du kannst mit dieser Schuld leben. ;-) ‘   Nur Joey schaffte es, eine Beleidigung wie ein Kompliment klingen zu lassen. Kaiba musste lächeln, und er hoffte, Joey noch viele, viele Male dieses Lächeln ins Gesicht zaubern zu können.   Zwei Tage später kam er geschafft aus der Firma und war froh, dass er Joey heute endlich mal wiedersehen würde. Er musste sich ein bisschen beeilen, damit er noch genug Zeit hatte, um zu duschen und sich ein Outfit rauszusuchen. Zurück in der Villa ging er zielstrebig in Richtung seines Apartments. Dort angekommen zog er sich das Hemd aus, als es klopfte. Wer konnte das denn sein? Er öffnete die Tür einen Spalt, und sah sein Hündchen nervös von einem Bein aufs andere hüpfen.   “Hey, Kaiba, sorry für die Störung. Ich ähm… könnte ich dich kurz was fragen?” Verlegen blickte Joey ihm in die Augen, und Kaiba benötigte jede Faser an Selbstkontrolle, um nicht laut aufzulachen.   “Klar, komm rein.” Er öffnete die Tür und ließ den Blonden rein, und erst, als er ihn scharf einatmen hörte, wurde er sich wieder darüber bewusst, dass er oberkörperfrei vor ihm stand. Oh, dieses berauschende Gefühl gefiel ihm, daran könnte er sich gewöhnen. Als Joey die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte Kaiba sich gegen einen Sessel und grinste ihn süffisant an. Wie er es liebte, sein Hündchen aus der Reserve zu locken. Würde er davon jemals genug bekommen?   “Was gibt’s, Hündchen?”   Joey musste hart schlucken, bevor er antworten konnte. “Na ja, ich… war noch nie auf so einem Konzert. Hab’ keinen Plan, was ich anziehen soll. Mokuba konnte mir auch nicht helfen, also…”   Quälend langsam ging Kaiba auf Joey zu, der seinen Blick nicht von ihm lösen konnte, genauso wenig, wie Kaiba dieses dämliche Grinsen aus seinem Gesicht bekam. “Also, was, Joey?” Er erinnerte sich an die Situation, als er diesen Satz das letzte Mal benutzt hatte, und ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken.   Joeys Atmung war beschleunigt und er hatte rosige Wangen. Kaiba war überrascht, als er antwortete, er schien wohl doch noch etwas Körperbeherrschung zu haben. “Also wollte ich dich fragen, was ich anziehen könnte. A-aber ich kann auch einfach irgendwas nehmen, wenn du keine Zeit hast.”   Zärtlich strich Kaiba ihm mit dem Daumen über die Wange, dann für einen Moment über seine Lippe, was dem Kleineren einen wohligen Seufzer entlockte. Dieser Abend war jetzt schon mehr als vielversprechend…   “Willst du mir helfen, ein Outfit auszusuchen? Vielleicht hilft dir das als Inspiration.”   Dann ließ er von Joey ab und ging in sein Ankleidezimmer. Alles war ordentlich sortiert, wie immer. Er drehte sich zu Joey um und fragte: “Und, was wäre dein Vorschlag?”   Dieser zuckte nur mit den Schultern. “Weiß nicht, deswegen bin ich ja hier. Ist das eher ein formeller Anlass? Ich stelle es mir ein bisschen so vor. Dann auf jeden Fall ein Hemd. Irgendwie glaube ich, ein Anzug wäre zu formell, oder? Hm, vielleicht ein Sakko… aber keine Krawatte. Aber bei der Hose bin ich unsicher. Geht eine dunkle Jeans? Ich hab’ auch keine schicken Schuhe, da müssen meine schwarzen Sneaker reichen, aber die sind noch recht neu, sollte gehen.”   Kaiba kam aus dem Staunen gar nicht raus. Wahnsinn, wie viele Gedanken sich der Blonde gemacht hatte. “Klingt nach dem, was ich auch auswählen würde. Hemd, Sakko, dunkle Jeans, und die Schuhe sind egal, da schaut sowieso keiner hin. Also, was würdest du für mich aussuchen?”   Joey blickte sich im Raum um. Er schien gefunden zu haben, was er suchte, weil er zielstrebig auf die Hemden zuging. Er zog ein hellblaues heraus und wählte dazu ein dunkelblaues Sakko, dazu eine dunkelblaue Jeans. Das Outfit sah perfekt aus, das musste Kaiba zugeben.   “Blau also, ja?”   Joey trat verlegen auf der Stelle und musste den Blick senken, ehe er antwortete: “Ja, blau steht dir am besten. Es… betont deine Augen und deine Haare kommen dann sehr gut zur Geltung.”   Kaiba trat nahe an ihn heran. Gott, was würde er dafür geben, dass Joey ihn berührte - noch immer stand er ohne Oberteil vor ihm. Dicht an sein Ohr gelehnt, flüsterte Kaiba: “Dann zieh’ ich es an, nur für dich.” Ein kurzes Stöhnen entwich Joeys Kehle, und Kaiba musste sich sehr beherrschen. Was machte der Kleinere nur mit ihm?   Joey hob sanft den Kopf an und sah ihm tief in die Augen. “Okay, ich weiß jetzt genau, was ich anziehen will. Danke, Drache. Wann und wo treffen wir uns?”   “Wie wäre es, wenn ich dich abhole, sagen wir, in einer Stunde?”   “Okay, dann bis in einer Stunde.” Und als Joey an ihm vorbei ging, streifte seine Hand seinen nackten Oberkörper. Wer es nicht besser wüsste, würde das für einen Zufall halten, aber er kannte sein Hündchen mittlerweile besser - das war pure Absicht, und er wollte, dass es wieder passierte, und dann wieder, und dann nochmal, und dann wieder von vorn.   Eine Stunde später stand er an Joeys Tür, und zum ersten Mal, seit sie zusammen wohnten, klopfte er, statt einfach seine Schlüsselkarte zu benutzen. Als Joey die Tür öffnete, konnte er das Erstaunen darüber in seinen Augen sehen, und amüsierte sich sehr darüber.   “Fertig?”, fragte Kaiba den Blonden. “Mhm, geht das so?”   Joey stand mit den Armen in den Hüften vor ihm. Auch er trug eine dunkle Jeans, ein weißes Hemd und ein schwarzes Sakko. Er sah einfach perfekt aus. “Wunderschön... “, murmelte Kaiba und musterte ihn weiter mit ziemlich verklärtem Blick. Joey lächelte ihn sanft an. “Gut, dann können wir los.”   Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss und sie machten sich auf den Weg nach draußen, wo schon die Limousine auf sie wartete.   Das Konzert würde in einer Bar stattfinden, etwa eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt. Während der gesamten Autofahrt redete niemand ein Wort, nur ihre Fingerspitzen berührten sich leicht, während beide in unterschiedliche Richtungen nach draußen schauten, in die Dunkelheit dieses Abends.   “Mr. Kaiba, Mr. Wheeler, guten Abend. Ihre Plätze sind vorbereitet.” Höflich wurden sie begrüßt und diskret an einen Tisch geführt, der auf einer oberen Tribüne stand, isoliert von allen anderen Tischen unter ihnen. Sie waren allein, offenbar hatte Mokuba dafür gesorgt, dass sie ungestört waren, und Kaiba dankte ihm in einem kurzen, stillen Gebet dafür. Joey nahm sich Zeit, sich genau umzuschauen.   “Irgendwie habe ich bei Konzert an eine riesige Halle oder so gedacht. Das hier hat ja schon, keine Ahnung, irgendwie eine intime Atmosphäre, findest du nicht? Ich meine, da unten haben doch vielleicht noch 50 Menschen platz, und hier oben sind wir ganz allein.”   “Bist du enttäuscht darüber?”, fragte Kaiba ehrlich interessiert nach. Doch Joey schüttelte den Kopf. “Nein, überhaupt nicht, ist nur einfach anders, als ich es erwartet habe. Mir gefällt es so aber eigentlich viel besser.” Und da waren sie wieder, diese goldbraunen Augen, die ihn anstrahlten, als wenn es nichts außer ihn gäbe. Sie waren hier oben unbeobachtet, sodass er ein wenig näher rutschen konnte. Die Kellner würden diskret sein - er war nicht das erste Mal hier und wusste, dass diese Bar einen exzellenten Ruf genoss. Er wusste auch, dass er sie mit einem Anruf zerstören könnte, wenn auch nur irgendwas nach außen drang - und dessen waren sich die Angestellten hier wohl auch sehr bewusst. Kaibas Ruf eilte ihm voraus, und er musste dafür sorgen, dass das so blieb.   Man servierte ihnen ihre Getränke, dann wurden sie allein gelassen. Mit einem Blick ermahnte er den Kellner, dass er wünschte, nicht gestört zu werden, der das mit einem verstehenden Nicken quittierte. Endlich war er allein mit seinem Hündchen, und da begann auch schon das erste Stück.   Joey hörte genau hin, beobachtete den Klavierspieler intensiv. Kaiba konnte seinen Blick nicht von ihm lösen. Der Blonde wurde mitgerissen von den Klängen der Musik, die alle möglichen Emotionen in ihm auslöste. Joey kam ihm früher immer wie ein starker Junge vor, den nichts so leicht erschüttern konnte. Und er sah natürlich noch immer die Stärke in ihm, aber er sah auch seine sensible Seite, die Emotionen, die ihn beschäftigten. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass er der Einzige war, der ihn so sah. Er versuchte es mit allen Mitteln, vor allen anderen zu verstecken, und in weiten Teilen gelang ihm das sicherlich. Aber vor ihm würde er sich nicht verstecken können, nicht mehr. Und das musste er auch nicht. Er wollte ihn, und zwar genauso, wie er war.   Als Beethovens 14. Sonate gespielt wurde, konnte er sehen, wie Tränen Joeys Wangen runterliefen. Er war so tief berührt, dass es Kaiba bis ins Mark erschütterte. Er nahm Joeys Hand unter dem Tisch und drückte sie fest, aber er schien weiterhin so tief in Gedanken. Für einen Moment schloss der Blonde die Augen, dann öffnete er sie erneut und wurde sich wieder Kaibas Präsenz bewusst. Kaiba rutschte noch ein Stück näher und flüsterte ihm ins Ohr: “Woran denkst du, mein Hündchen?”   Er wollte ihn nicht so traurig sehen. Ihn so bewegt, so voller Emotionen zu sehen, bescherte ihm eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß.   Joey schluchzte kurz auf, aber dann antwortete er mit einem Flüstern. Ihre Köpfe waren sich ganz nah, damit sie sich gut hören konnten. “Ich… ich fühl mich so blöd, Kaiba. Was ich denke, ist so dumm, ich…”   “Joey, nichts ist dumm, was du fühlst. Bitte, erzähl mir davon.”   Kaiba nahm nun beide Hände von Joey in seine eigenen und wandte sich ihm noch mehr zu. Joey atmete noch einmal tief durch, dann sprach er weiter. “Ich dachte nur, wie vergänglich alles ist. Ich musste an deine Eltern denken, die viel zu früh gestorben sind. Sie hätten euch aufwachsen sehen sollen. Dann hättest du nicht durch die Hölle gehen müssen.”   “Hündchen…”, flüsterte Kaiba, doch Joey setzte erneut an. “Mir geht es ja ähnlich. Hätten sich meine Eltern nicht getrennt, wäre vielleicht noch immer alles gut. Und ich hätte all die Jahre nicht in Gewalt leben müssen. Und dann die letzten zwei Monate - da ist so viel Freude und Dankbarkeit in mir, aber das kann so schnell vorbei sein. Einfach so. Von jetzt auf gleich. Es gibt für Glück keine Garantie. Und ich frage mich, was kann ich tun, um dieses Glück zu erhalten? Ich will nicht, dass es vorbei geht. Ich habe Angst davor. Ich…”   Joey sah ihn erneut an, und sein Blick war so intensiv, dass Kaiba zunächst nichts sagen konnte. Dann fuhr Joey fort: “Ich weiß, das klingt vermutlich total bescheuert. Du hast mal gesagt, wir sind die, die wir sind durch die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Du bist nur du, weil du ertragen musstest, was du ertragen musstest. Und verdammt, Kaiba, du bist gut so wie du bist. Und ich hasse mich dafür, so zu denken, weil um so zu werden, hast du so viel durchmachen müssen. Was für ein Leben hättest du führen können, wären deine Eltern nicht gestorben? Du hättest ein so viel besseres Leben verdient, auch wenn du dann vielleicht anders wärst als du heute bist, und dennoch will ich nicht, dass du anders bist. Und ich fühle mich so mies, weil ich so denke…”   Kaiba konnte nicht mehr denken, nur noch fühlen. Er konnte nicht darüber nachdenken, was er sagte, bevor er es sagte, weil alle Gefühle in ihm die Kontrolle übernahmen. “Deswegen bist du noch lange kein schlechter Mensch, Joey. Neben Mokuba bist du der beste Mensch, den ich kenne. Und es gibt nichts, was du sagen könntest, das meine Meinung dazu ändern könnte. Sieh mich an.” Er nahm sein Kinn und drehte es so, dass er ihn ansehen musste. Ihre Gesichter waren sich so nahe, dass er schon Joeys Atem an seinen Lippen spüren konnte.   “Es gibt ein Sprichwort, ‘Jeder ist seines Glückes Schmied’, und daran glaube ich fest, mein Hündchen. Du hast Angst davor, dass Glück vergänglich ist, und das ist es. Aber du hast es in der Hand. Und ich werde da sein, immer, ob du mich nun brauchst oder nicht, und dafür sorgen, dass du so viel Glück in deinem Leben hast wie du ertragen kannst. Das ist ein Versprechen.”   “Ich brauche dich, immer. Immer.” In Joeys Worten klang so viel Bitten, so viel Flehen mit, dass Kaiba es kaum ertragen konnte. “Ich bin da. Immer.” Und während im Hintergrund die ersten Klänge von Debussys Claire de Lune ertönten, küssten sie sich. Es war anders als beim ersten Mal. Es gab kein Fordern, kein Drängen, stattdessen Ruhe und eine gewisse Sanftheit. Es war ein zärtlicher Kuss, so voller Vertrauen ineinander, und beide steckten all ihre Hoffnungen, Träume und Wünsche hinein. Und die Gewissheit, dass alles zu schaffen war, wenn sie nur zusammen waren.   Als sie sich mit verklärtem Blick wieder voneinander lösten, erklang das Ende des Stücks und läutete damit auch das Ende des Konzerts ein. Von unten erklang enthusiastisches Klatschen, und auch Joey stand nun auf und klatschte energisch mit. Kaiba konnte sich kaum bewegen, konnte nur ihn beobachten und war so fasziniert von der Tatsache, was für ein offenes Buch der Blonde war. Warum war ihm das nur vorher nicht aufgefallen? Wahrscheinlich wurde er noch vor ein paar Monaten von der Fassade geblendet, die Joey stets versuchte, aufrecht zu erhalten. Diesen Fehler würde er nicht noch einmal machen.   Als auch das Klatschen zu Ende war und die Gäste sich langsam auf den Weg nach Hause machten, fragte Kaiba Joey: “Willst du noch irgendwas machen?” Dieser sah ihn an und lächelte. Kaiba war froh, dass er sich wieder beruhigen konnte, und hoffte, dass er was damit zu tun hatte. “Nein”, begann Joey, “lass uns einfach zurück fahren, okay?”   Draußen wartete schon die Limousine auf sie. Da jetzt wieder einige Menschen um sie herum waren, hielten sie ein bisschen Abstand, aber ihr Blickkontakt war noch genauso hingebungsvoll wie einige Minuten zuvor. In der Limousine berührten sich wieder leicht ihre Fingerspitzen, während die beiden Männer raus in die Nacht schauten.   “Kaiba?”   “Hm?”   “Können wir, wenn wir zurück sind, noch ein bisschen in eurem Park spazieren gehen? Nur für ein paar Minuten?”   “Alles, was du willst, mein Hündchen.”   Joey sah verlegen auf und legte ein bisschen mehr von seinem Zeigefinger auf Kaibas. Er fuhr eine dunkle Scheibe hoch, die sie vom Fahrer abschottete, die Seitenfenster waren ebenfalls so getönt, dass man zwar raus, aber nicht reinschauen konnte. Sobald sie sicher waren, zog er Joey in seine Arme und küsste ihn, nahm jede Empfindung in sich auf, seinen Geruch, seinen Geschmack, die Töne, die er von sich gab. Er würde niemals genug davon bekommen, dessen war er sich sicher.   Zurück in der Villa, nahmen sie direkten Kurs auf den Park. Ihre Hände in den eigenen Taschen vergrabend, gingen sie schweigend nebeneinander her und genossen einfach, dass sie zusammen waren. Es war eine sternenklare Nacht. Je weiter sie sich vom Haus entfernten, desto weniger Licht fiel auf sie, wenn man mal vom Mond und den Sternen absah. Sie liefen vorbei an Alleen von Bäumen, die mittlerweile alle ihre Blätter abgelegt hatten, an Büschen und an Hecken. Hinter einer solcher Hecke blieb Joey stehen und schaute sich ausführlich um, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich allein waren. Dann nahm er Kaibas Hände in seine und schaute ihm intensiv in die Augen.   “Danke, Kaiba. Dass du mir zeigst, wer du bist. Und dass du mir zeigst, wer ich bin, und wer ich sein kann, wenn ich es will.” Dann zog er ihn zu sich runter und küsste ihn zärtlich, und während der klägliche Rest seiner Selbstkontrolle schmolz, wurde er sich bewusst, wie sehr das, was er da sagte, auch für ihn galt.   In der Nacht lag Kaiba lange wach und ließ den wunderschönen Abend Revue passieren. Er müsste Mokuba noch mal danken, ohne ihn hätten sie das heute gar nicht erlebt. Und er wollte wieder dafür sorgen, dass es schöne Momente zwischen ihnen gab. Er nahm sein Handy hervor und schaute noch mal das Foto an, das Joey ihm geschickt hatte. Dieser blonde Junge mit der Kellnerschürze war so wunderschön, dass ihm die Spucke weg blieb. Was nur, was konnte er tun, um ihn wieder zum Lachen zu bringen? Wieder und wieder, und immer wieder?   Und da hatte er den Einfall, auf den er gewartet hatte. Mit flinken Fingern tippte er eine Nachricht an Mokuba:   ‘Hey, Mokuba, brauche morgen deine Hilfe. Ich plane da etwas, vielleicht könntest du mir dabei helfen?’   Er war sich sicher, Mokuba wäre nicht mehr wach, aber er würde es direkt am Morgen sehen. Er wusste, mit Mokuba würde das ein tolles Erlebnis für Joey werden. Er musste nur dafür sorgen, dass dieser nichts davon mitbekam.   Bevor er nun doch in den Schlaf fand, vibrierte sein Handy. War Mokuba doch noch wach? Doch dann sah er eine Nachricht von Joey.   ‘Kann ich ein Bild von dir haben? Wäre nur fair, wo du doch schon eins von mir hast und so…’   Er musste grinsen. Er sah vermutlich total müde aus, mit dicken Ringen unter den Augen, aber er war auch verdammt glücklich. Er mochte Fotos von sich selbst nicht, aber wenn es Joey so wichtig war, würde er es tun. Er hatte ein T-Shirt angezogen, damit er in der Nacht nicht fror, und schoss ein Bild von oben, sodass man sah, dass er schon im Bett lag. Er versuchte, ein wenig zu lächeln, aber es war eine so ungewohnte Situation, dass er nicht wusste, ob ihm das wirklich gelang. Immerhin war das hier keines der sonst so professionell einstudierten Pressefotos. Er schickte es ab, ohne noch mal drauf zu schauen.   ‘Wenn das jemand anderes sieht als du, bist du ein toter Mann’, schrieb er noch hinterher, aber er wusste, Joey würde das niemandem zeigen, genauso wenig wie er vor hatte, irgendjemandem das Bild von Joey zu zeigen.   ‘So wunderschön… süße Träume, mein Drache.’   Er würde von ihm träumen, das tat er schon jetzt. Und hoffte, dass es wirklich Realität war, und nicht nur ein Traum. Friedlich glitt er in den Schlaf, und goldbraune Augen verfolgten ihn die ganze Nacht. Kapitel 10: Rescue me... from the heat -------------------------------------- Die letzten Tage waren für Joey mühsamer als er gehofft hatte. Kaiba schien noch beschäftiger als sonst auch schon und kam entweder unheimlich spät erst aus der Firma oder verschanzte sich in seinem Büro in der Villa. Joey bekam ihn eigentlich fast nie zu Gesicht, selbst beim Frühstück war er manchmal nicht zu sehen. Mokuba erklärte ihm, dass er unheimlich viel zu tun hätte in der Firma und es einfach manchmal solche Wochen gab, und auch wenn Joey dafür Verständnis hatte, so wuchs seine Sehnsucht doch mit jedem weiteren Tag ins Unermessliche.   Ab und zu sahen sie sich in der Kantine in der Schule, auch wenn Kaiba wie immer an einem separaten Tisch saß. Oft konnte Joey gar nicht auf die Gespräche seiner Freunde achten, weil sein Blick so oft diesen unheimlich intensiven blauen Augen galt, die ihn mit derselben Kraft zurück ansahen. Es fiel Joey immer schwerer, im Alltag Abstand zu halten, gerade wenn er nicht wusste, wann er ihn das nächste Mal zu Gesicht bekommen würde.   Eines Mittwochabends war Joey wieder im Café arbeiten. Es war weniger los als sonst, auch wenn er noch immer einige Beschäftigung fand. In jeder freien Minute zog er sein Handy hervor und schaute sich das Foto von seinem Drachen an, das er ihm geschickt hatte, und war wie immer geflasht von der Tatsache, wie unheimlich attraktiv er war. Auf dem Foto kamen seine blauen Augen mit einer Intensität rüber, die es Joey schwer machten, den Blick wieder abzuwenden. Das T-Shirt, das er trug, war locker geschnitten und es stand ihm unheimlich gut. Und dann dieser Gesichtsausdruck… er hatte versucht, ein wenig zu lächeln, das konnte man genau sehen, seine Haare fielen ihm kreuz und quer ins Gesicht. Joey wurde heiß, als er das ganze Foto noch mal betrachtete, weil Kaiba darauf einfach… sexy und unwiderstehlich wirkte. Es machte ihn fertig, ihn nicht berühren zu können. Er wollte ihm nah sein, und doch war er für ihn die letzten Tage weiter weg gewesen als er gehofft hatte.   Er entschied, wenn er schon nicht bei ihm sein konnte, dann würde er ihm eben schreiben. Vielleicht half das ja ein wenig, um die Zeit zu überbrücken, bis sie sich endlich wieder sehen würden. Also begann er eine Nachricht an ihn zu tippen:   ‘Hey, wie ist dein Tag? Hab’ hier heute wieder viel zu tun. Muss an dich denken…’   Sein Herz klopfte schneller, als er die Senden-Taste betätigte. Sie hatten sich noch nicht so oft Nachrichten geschickt, immer nur ab und zu, und meistens auch nur, wenn sie was voneinander wissen mussten. Aber Joey wollte sich einfach unterhalten. Er konnte es nicht verbergen, er war einsam, und seine Freunde konnten seine Sehnsucht nicht befriedigen, weil keiner davon sein Drache mit den intensiv blauen Augen war.   Er steckte sein Handy in die Hosentasche und räumte ein paar Tische ab, nahm neue Bestellungen auf und brachte Essen und Getränke an verschiedene Tische. Einige Minuten später stellte er sich wieder in die Küche und sah auf sein Handy - nichts. Ein wenig Enttäuschung machte sich breit. Oder war er zu weit gegangen? Vielleicht mochte Kaiba diese Art Small-Talk einfach nicht. Er wusste ja, dass der Braunhaarige nicht so gut mit Worten war, wobei er sich tatsächlich sehr entwickelt hatte und wenn sie allein waren, dann schien es nicht so ein großes Problem für ihn zu sein. Es war in ihm, daran glaubte Joey fest, aber er ließ es eben nicht jeden wissen oder sehen. Das wiederum fühlte sich für ihn so an, als ob er einzigartig für ihn wäre, weil er ihn teilhaben ließ an dieser Seite von ihm.   Gerade, als sein Chef ihn rief, blinkte das Display auf und zeigte eine Nachricht von ihm - mit Bild. Oh Gott, jetzt rutschte ihm das Herz in die Hose. Er wollte sie unbedingt öffnen, musste aber zunächst ein paar Sachen für seinen Boss erledigen. Noch nie hatte er so schnell Teller von A nach B gebracht und Gäste abkassiert. Atemlos und mit leicht zitternden Händen vor Nervosität öffnete Joey die Nachricht und das Bild. Zuerst sah er die Nachricht:   ‘Hallo, mein Hündchen. Leider viel zu tun, ich wünschte, ich würde einmal mit Profis arbeiten. Viel zu viele inkompetente Idioten hier… wünschte, du wärst hier…’   Er musste überraschend aufstöhnen. Diese Nachricht zeigte ihm, dass der Andere genauso viel Sehnsucht hatte. Ob er ihn wohl wirklich mal irgendwann in seinem Büro besuchen können würde? Wie sah es wohl in seinem Büro aus? Da erinnerte er sich an das Bild, das er mitgeschickt hatte, und öffnete es mit wenigen Klicks.   Kaiba lag quasi mit seinem Oberkörper auf seinem Schreibtisch, den Kopf auf einem seiner angewinkelten Unterarme gebettet, der andere betätigte den Kameraauslöser am Handy. Seine Augen zeigten so viel Sehnsucht und gleichzeitig so viel Leidenschaft, dass er fast rausgerannt und einfach zu ihm gefahren wäre. Aber er wusste natürlich, dass das nicht ging. Vermutlich würde man ihm nicht mal Zugang zum Gebäude gewähren, wer würde da schon seinen Namen kennen? Und an einen Seto Kaiba kam man nicht einfach mal so ohne Termin ran.   Wie gern würde er jetzt durch diese Haare wuscheln. Er sah müde aus, und Joey würde alles dafür geben, ihm jetzt einen Kaffee vorbeizubringen. Jetzt nahm er ein wenig aus der Umgebung des Bildes wahr. Der Schreibtisch ähnelte dem, den er Zuhause hatte, weil er aus dunklem Holz bestand. Kaiba konnte ihm jetzt wahrscheinlich ganz genau erklären, wo da die detaillierten Unterschiede lagen, aber wen interessierte das schon. Hinter ihm erkannte er eine Glasfront, die den Blick auf die Stadt freigab, auch wenn sie verschwommen war, weil der Fokus auf Kaiba gerichtet war - was auch gut so war! Im Hintergrund konnte er dennoch die bunten Lichter der nächtlichen Stadt wahrnehmen, was dem Bild noch mal eine ganz besondere Atmosphäre gab.   Er tippte eine Antwort und sendete sie auch sofort ab:   ‘Ich wäre auch gern bei dir. Ein Wort und ich bin sofort da.’   Dann musste er sich wieder ein bisschen seiner Arbeit widmen, er wurde hier ja schließlich nicht fürs Texten bezahlt, schon gar nicht mit seinem… ja, seinem, was? Wollte er gerade wirklich ‘seinem Freund’ denken? Sie hatten nie darüber gesprochen, ob es für sie eine offizielle Bezeichnung gäbe, und ehrlich gesagt störte ihn das nicht weiter. Denn am Ende war es egal, wie sie es nannten, er wusste, er wollte einfach nur bei ihm sein. Das genügte ihm schon. Er spürte sein Handy in seiner Schürze summen, und sofort fühlte er dieses Kribbeln in den Fingern. Gleich hätte er Feierabend, also wollte er nochmal alles geben, um sich seinen guten Ruf hier nicht kaputt zu machen. Immerhin gab es auch heute wieder einige Stammgäste, die gern von Joey bedient werden wollten, also musste er sich jetzt einfach die letzten 30 Minuten noch konzentrieren.   Mit einem Schnaufen kam er aus dem Café und machte sich auf den Weg nach Hause. Normalerweise konnte er sich nach Hause fahren lassen, aber heute war ihm einfach nach einem Spaziergang. Die kühle Winterluft war jetzt genau das Richtige, um die Hitze seines Körpers wieder ein wenig zu reduzieren. Wobei er das nicht so laut sagen sollte, bevor er Kaibas nächste Nachricht gelesen hatte.   Er zückte sein Handy hervor und sah gleich zwei Nachrichten von seinem Drachen. Er musste schmunzeln. Machte Kaiba sich Sorgen, weil er nicht sofort geantwortet hatte? Hey, manche Leute mussten arbeiten!   Er öffnete die erste Nachricht, und sein Herz machte einen Satz.   ‘Ich wünschte, das ginge… bin gleich wieder im Meeting, aber meine Gedanken sind bei dir. Kriege ich auch noch ein Bild?’   Ungeduldig öffnete Joey auch die zweite Nachricht.   ‘Joey? Alles okay? Du musst kein Bild schicken, wenn du nicht willst, aber sag mir, dass alles okay ist, ja?’   Er überlegte, was für ein Bild er machen könnte. Es war ziemlich kalt heute, also hatte er neben Mantel und Schal auch eine Mütze auf. Er sah sich kurz um - nur um zu bemerken, dass er nur zwei Querstraßen von der KaibaCorp. entfernt war. Grinsend begab er sich dorthin und schoss ein Foto, auf dem er grinste und das Peace-Zeichen machte. Hoffentlich konnte er seinen Drachen ein bisschen aufmuntern.   Er schickte es los und fügte noch ein paar Worte an:   ‘Sorry, war zu viel los die letzten Minuten. Bin jetzt raus, und schau mal, wo ich bin? Du bist so nah, und doch irgendwie unerreichbar… Wann sehe ich dich wieder? Ich will nicht mehr warten…’   Ein bisschen nagte seine Antwort an ihm. War er zu aufdringlich? Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass es so rüberkommen könnte, also schickte er noch eine weitere Nachricht ab:   ‘Entschuldige, ich will keinen Druck machen. Ich habe absolut Verständnis dafür, dass du viel zu tun hast, immerhin bist du hier der CEO von uns beiden. Mach’ mich jetzt auf den Weg nach Hause. Werde vorerst mit deinen Fotos vorliebnehmen. Du bist so schön, weißt du das eigentlich…?’   Damit packte er das Handy in seine Tasche und setzte seinen Weg nach Hause fort. Er vermisste diese blauen Augen, seine Berührungen, seine Küsse, seine Worte, einfach alles. Jede Faser seines Körpers verzehrte sich nach seinem Drachen. Als er es wieder in seiner Tasche vibrieren spürte, nahm er mit einem Seufzen das Handy raus und las die Nachricht.   ‘Oh Gott, Joey, du machst es mir echt schwer. Echt. Ich will bei dir sein. Jetzt. Sofort. Aber nicht mehr lange, mein Hündchen, in Ordnung? Wir werden bald wieder zusammen sein... ‘   Das klang ziemlich mysteriös, und er kam nicht umhin sich zu fragen, was der Größere wohl im Schilde führte.   Es war der Tag vor seinem Geburtstag, morgen war der 25. Januar, ein Sonntag. Er hatte nichts Spezielles geplant, trotz der Tatsache, dass es sein 18. Geburtstag sein würde. Irgendwie war das im Trubel der letzten Wochen untergegangen, aber er wusste, er könnte auch immer nachfeiern, wenn es ihm dann doch so wichtig war. Im Moment wünschte er sich eigentlich nichts sehnlicher, als seinen Drachen wiederzusehen. Aber der war auch heute wieder den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer verschanzt und ließ sich nur selten blicken. Joey merkte, wie ihn schlechte Laune erfasste. Er brauchte Ablenkung, daher setzte er sich an seinen Laptop und versuchte, ein wenig Zerstreuung zu finden.   Leider gelang ihm das nicht, denn das erste, wonach er suchte, waren noch mehr Fotos von Kaiba. Es war schon spannend zu sehen, wie sehr sie sich doch von denen unterschieden, die er von ihm selbst erhalten hatte. Auf den Fotos, die Kaiba ihm selbst geschickt hatte, wirkte er fast ein wenig verletzlich, wohingegen er auf offiziellen Fotos immer Stärke und Dominanz ausstrahlte. Und als er sich so durch die Bildergalerien kämpfte, musste er feststellen, wie sexy das wirkte. Joey knabberte gedankenverloren an seiner Unterlippe. Dieser Blick, der ihn durchbohrte wie ein großer Nagel, war anziehend. Seine Augenfarbe war dunkelblau, nichts an ihm zeigte auch nur ein Körnchen Schwäche. Noch vor wenigen Monaten hätte er das als überheblich und arrogant abgetan, aber heute, da er wusste, was für eine andere Seite noch in ihm schlummerte, war er auch von dieser Seite irgendwie angetan. Er musste den Kopf schütteln, weil er das gleichermaßen absurd wie befriedigend fand. Beim Betrachten der Bilder machte sich eine noch größere Sehnsucht breit, und er konnte nicht abwarten, ihn endlich wiederzusehen.   In diesem Moment vibrierte sein Handy neben ihm. Eine Nachricht von Kaiba, endlich wieder!   ‘Hey, Hündchen, könntest du zehn Minuten früher zum Abendessen kommen? Ich treffe dich dort.’   Es klang so geheimnisvoll, aber alles in ihm kribbelte und ihm war heiß und kalt zugleich. Er schrieb ihm eine kurze Nachricht zurück, dass er da sein würde, und für die restliche Zeit des Tages beobachtete er die Uhr, deren Zeiger sich nur in sehr langsamen Schritten bewegten.   Er war froh, als die Zeit endlich um war, und er sich aufmachen konnte, um Kaiba zu treffen. Er war ein bisschen nervös, immerhin hatten sie sich einige Zeit nur auf Distanz gesehen oder einfach nur geschrieben. Er konnte Kaiba schon von weitem sehen und konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken.   “Hey, Hündchen”, begrüßte ihn Kaiba, und es fühlte sich an, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. “Hi”, gab Joey zurück, fast flüsternd. Er wusste, sie würden sich hier nicht berühren können, aber er war froh, ihm endlich wieder in seine strahlend blauen Augen schauen zu können und erkannte darin genau dieselbe Sehnsucht, die ihn die letzten Tage auch so dominiert hatte.   “Komm, wir müssen in diese Richtung”, erklärte der Größere und führte ihn durch die Gänge. Wo gingen sie denn jetzt hin? Was immer es war, was Kaiba ihm zeigen wollte, er machte noch immer ein großes Geheimnis draus. Sie kamen vor einer großen Tür an, und Joey erkannte, dass es sich dabei um den Festsaal handelte, in dem sie schon Weihnachten und Silvester verbracht hatten.   Kaiba ging ein kleines Risiko ein, indem er ihm ein leichtes Lächeln schenkte, bevor er sagte: “Was ich dir zeigen will, ist dort drin. Mach die Tür auf.”   Joeys Hände zitterten ein wenig vor Nervosität. Er öffnete die Tür, doch der Raum war dunkel. Kaiba schlüpfte hindurch und schaltete das Licht an, und plötzlich…   “Überraschung!” Alle seine Freunde waren hier, genauso wie Mokuba. Luftballons und Konfetti flogen durch die Luft und er verstand wirklich gar nichts mehr. “Was… äh…”   Yugi musste lachen, weil Joey wirklich total auf dem Schlauch stand, trotz der ‘Happy Birthday’ Girlande. “Joey, das ist eine Überraschungsgeburtstagsparty! Wir feiern zusammen in deinen Geburtstag rein!”   Joey war überwältigt. Damit hätte er nie gerechnet. Strahlend rannte er auf seine Freunde zu und umarmte jeden von ihnen, inklusive Mokuba. Als er endlich wieder Herr über seine Stimme wurde, sagte er: “Wow, überrascht habt ihr mich auf jeden Fall. Auf wessen Mist ist das denn gewachsen?”   Tristan zeigte auf eine Person hinter ihm - Kaiba? “Er hat uns angerufen und eingeladen. Glaub mir, wir waren so überrascht wie du. Seid ihr jetzt plötzlich Freunde geworden oder wie?”   Joey drehte sich zu seinem Drachen um, dessen Miene zwar für Außenstehende wieder unergründlich wurde, aber er konnte in seinen Augen das Feuer lodern sehen. Wie gern würde er ihn jetzt berühren, stattdessen formte er mit seinen Lippen ein ‘Dankeschön’. Als Antwort auf Tristans Frage murmelte er nur: “Sowas in der Art…”   Es war eine richtig schöne Party. Mokuba erzählte ihm, dass Kaiba ihn um Hilfe bei der Organisation gebeten hatte, er aber eigentlich nur Ideen geliefert hatte und Kaiba sich im Prinzip um alles gekümmert hatte. Sogar einen DJ und eine Bar samt Barmann hatte er besorgt. Der kleine Kaiba wurde nicht müde zu betonen, dass der größere Kaiba sich richtig reingehangen hatte, und er bestätigte ihm auch, dass das der Grund dafür war, dass der Braunhaarige in letzter Zeit so beschäftigt war, auch wenn er zusätzlich in der Firma viel zu tun hatte. Konnte man noch mehr Dankbarkeit empfinden als in diesem Augenblick?   Ab und zu unterbrachen sie die Musik, weil es auch eine Karaoke-Maschine gab. Joey verzichtete, und Kaiba näherte sich dem Ding nicht mal auf zehn Meter, aber Joey zu Liebe sangen sich seine Freunde und auch Mokuba die Seele aus dem Leib, und Joey musste so viel lachen, dass ihm ständig die Tränen kamen. Es gab auch etliches an Fingerfood, außerdem war der Raum wunderschön dekoriert, vor allem mit Blumen und anderen Pflanzen, aber auch Luftballons und Girlanden. Überall auf dem Boden verstreut lag buntes Konfetti.   Während sie im Anschluss an eine weitere Karaoke-Session erneut ausgelassen auf der Tanzfläche tanzten, konnte Joey aus dem Augenwinkel wahrnehmen, wie Kaiba ihn von der Bar aus, an der er die ganze Zeit saß, unablässig beobachtete. Andere würden das vielleicht seltsam finden, aber er genoss seine Blicke. Er wollte seine ganze Aufmerksamkeit für sich und fühlte sich besonders, jedes Mal, wenn er ihn ansah, und nur ihn. Zwar hatte er wieder seine unergründliche Kaiba-Miene aufgesetzt, aber Joey kannte die Wahrheit, die sich dahinter verbarg.   Irgendwann brauchte er eine Pause und ging zu Kaiba rüber an die Bar. Er bestellte sich einen alkoholfreien Cocktail, und als er das bunte Gemisch in der Hand hielt, setzte er sich auf einen der Hochstühle und drehte sich zu Kaiba um.   “Danke. Ehrlich. Und immer wenn ich denke, es geht nicht besser…” Kaibas Mundwinkel zuckten leicht und Joey wusste, dass dieser gerade seine komplette Körperbeherrschung beanspruchte. Alles zog Joey zu ihm, er war wie ein Magnet, keine Chance, ihm zu entkommen. Das war wie ein Naturgesetz, Physik, Chemie und Biologie vereint. Nicht, dass er in der Schule in diesen - oder anderen - Fächern wahnsinnig viel aufgepasst hätte. Aber er wusste, dass er sich ihm nicht würde entziehen können, und Kaibas Blick und seine leicht geöffneten Lippen signalisierten ihm, dass es ihm ähnlich ging.   “Hast du das hier alles selbst besorgt?”, fragte Joey neugierig. Offensichtlich brachte Kaiba das an den Rand seiner Selbstbeherrschung, und Joey sah ihm an, dass er nur mit sehr viel Mühe ein Grinsen unterdrücken konnte. “Hündchen, kannst du dir vorstellen, wie oft ich in meinem Leben wohl schon in einem Blumenladen oder einem Laden für Partyartikel gestanden habe?” Joey hatte nicht so viel Selbstbeherrschung und musste breit grinsen. “Wahrscheinlich ungefähr so oft wie ich im Matheunterricht aufgepasst habe.” Natürlich wusste Joey, dass er das alles delegiert hatte, aber er war derjenige, der sich Gedanken gemacht hatte, was es zu besorgen galt, und allein das zählte für ihn.   “Joey, gleich ist es Mitternacht!”, rief Téa ihm zu, und lachend ging er zur Gruppe zurück, auch wenn er eigentlich lieber bei Kaiba geblieben wäre, der sich nicht von der Stelle rührte. Als die Uhr Mitternacht schlug und seinen Geburtstag nun offiziell einläutete, holte jeder seiner Freunde die Konfettikanonen raus und übergoss den Blonden mit Millionen von bunten Papierstücken, sodass er davon völlig übersät war.   Er kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus, als einer nach dem anderen ihm gratulierte. Eine Torte wurde reingefahren, sogar mit einer Kerze obendrauf. Joey überlegte kurz, was er sich wünschen sollte, dann fiel ihm etwas ein und er pustete die Kerze aus. Er war gespannt, ob sein Wunsch noch heute Abend in Erfüllung gehen würde…   Jeder von seinen Freunden hatte sogar Geschenke mitgebracht. “Leute, das wäre echt nicht nötig gewesen”, gab er zu verstehen, aber seine Freunde und Mokuba widersprachen vehement. Sie überreichten ihm Duel Masters Karten, Kino-Gutscheine und vieles weiteres, und eine nicht zu zählende Anzahl an Glückwunschkarten. Er war überrascht, als er sah, dass Kaiba auf ihn zukam. Mokuba bot an, ihm die Geschenke kurz abzunehmen, als Kaiba ihm ein kleines Päckchen in beide Hände legte. Dabei berührten sich ihre Finger für eine Millisekunde und schickten einen elektrisierten Impuls durch Joeys gesamten Körper.   Vorsichtig öffnete er das kleine Päckchen - ein Schlüsselanhänger mit einem Flugzeug dran. Er betrachtete es von allen Seiten, konnte sich aber nicht so richtig einen Reim drauf machen. Dann sah er, dass ein kleiner Brief beigelegt war. Mokuba nahm ihm auch den Schlüsselanhänger ab, damit er sich in Ruhe dem Brief widmen konnte. Er wandte sich ein bisschen von seinen Freunden ab, um ihn ganz für sich zu haben.   ‘Joey,   ich sitze jetzt seit ungefähr zwei Stunden an diesem Brief, habe ihn etliche Male neu geschrieben und habe dann doch wieder alles verworfen. Ich will dir eigentlich nur alles Gute zu deinem Geburtstag wünschen, aber finde nicht die richtigen Worte, um das auch gebührend zu machen. Einfach nur Happy Birthday - wird das dir überhaupt gerecht? Ich denke nicht.   Du hast mir gerade dieses wunderschöne Bild von dir vor der KaibaCorp geschickt, und alles in mir will dich hier hoch holen, dich gegen die Wand drücken und dich küssen. Aber ich habe es mir nunmal zum Ziel gemacht, dir eine schöne Feier zu organisieren, und auch wenn Mokuba sehr hilfreich ist, das meiste übernehme dann doch ich.   Mein Hündchen, ich habe dir versprochen, dir so viel Glück zu geben wie du ertragen kannst, und ich hoffe, dafür ist noch Platz. Du wirst dein Geschenk mittlerweile ausgepackt haben. Und nein, ich schenke dir keinen Privatjet - jedenfalls noch nicht. Willst du einen?   Ich komme schon wieder vom Thema ab und habe keine Lust, schon wieder neu anzufangen. Was ich eigentlich sagen wollte: Das Geschenk, das ich dir mache, wird dir hoffentlich gut gefallen. Ich schenke dir eine Reise in die USA, zu deiner Mum und deiner Schwester. Du kannst mitnehmen, so viele und wen du willst, und auch wenn ich mir wünschte, du würdest mich auswählen, so liegt die Entscheidung einzig bei dir.   Happy Birthday, Joey. Ich weiß, dass ich vermutlich gerade wie ein totaler Idiot neben dir stehe und dich dabei beobachte, wie du diesen Brief liest. Ich werde sicherlich wieder eine neutrale Miene machen, damit der ‘Kindergarten’ nicht irgendwelche dummen Bemerkungen macht. Deshalb, wenn du das hier liest, stell dir vor, wie ich deine Hand nehme, meine andere Hand deine Wange berührt und ich dich küsse.   Seto’   Joey musste atmen. Atmen! Er konnte nicht glauben, was er da gerade gelesen hatte. Hatte das wirklich der Typ geschrieben, der da gerade neben ihm stand und absolut unbeteiligt wirkte? Das war nicht nur ein Geschenk, das war eine Offenbarung. Er wollte es wieder und wieder lesen. Wie dumm war Kaiba zu glauben, dass er ihn nicht mitnehmen würde? Wenn er sich für eine Person im gesamten Universum entscheiden müsste, er würde ihn wählen, ihn und immer wieder ihn.   Oh Gott, er hatte mit seinem Vornamen unterschrieben. Joey wurde heiß und er hatte Angst, gleich in Ohnmacht zu fallen. Wann war er eigentlich zu so einem Schwächling geworden?   “Hey, Joey, zeig mal, was steht denn da?”, rief ihm Téa zu, aber er faltete das Blatt schnell und steckte es sich in seine Hosentasche. Niemals würde er zulassen, dass jemand anderes das in die Hände bekam. Das war für ihn, und nur für ihn bestimmt.   “Hmpf, und er hat dir jetzt nur diesen Schlüsselanhänger geschenkt? Ziemlich langweilig, wenn du mich fragst”, sagte Tristan, und Joey hatte schon wieder das außergewöhnliche Bedürfnis, ihn umzubringen.   Er nahm Mokuba das kleine Flugzeug wieder ab und drehte es hin und her, betrachtete es nochmal von allen Seiten, und dann nochmal. “Er hat mir eine Reise zu meiner Familie geschenkt”, murmelte Joey. Sie sollten es wissen, sie sollten wissen, was für ein besonderes Geschenk Kaiba ihm gerade gemacht hatte, auch wenn er nicht wusste, ob er nun den Brief oder doch die Reise einzigartiger finden sollte.   “Was? In die USA?”, fragte Téa, und die Münder aller seiner Freunde standen weit geöffnet. Joey konnte nur nicken, und Mokubas wissendes Lächeln sagte ihm, dass er da auch seine Finger mit im Spiel hatte.   “Wow, Kaiba, das ist aber ein richtig schönes Geschenk”, sagte Yugi, und Kaiba zog laut schnaufend ab. Irgendwann würde Joey herausfinden wollen, warum genau Kaiba es so wichtig war, diese Fassade um jeden Preis aufrecht erhalten wollte, aber dafür war hier weder der richtige Ort noch war es die richtige Zeit.   Joey erwachte wieder aus der Art Trance, die er gerade durchlebt hatte. “Leute, vielen Dank für die wunderbaren Geschenke und die Glückwünsche, ihr seid die Besten!” Nachdem er jeden einzeln gedrückt hatte, blieb nur noch Kaiba übrig, der sich wieder an die Bar gesetzt hatte. Wie konnte dieser Kerl so ruhig wirken, wo in Joey doch gerade ein riesiger Sturm tobte? Er ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb aber in sicherer Entfernung, er konnte sonst für gar nichts garantieren. Er versuchte, alles, was ihm auf dem Herzen lag, in einen einzigen Blick zu packen. Seine Freunde waren die Besten, aber er war der Allerbeste. Hoffentlich verstand er, was er ihm mitteilen wollte. Bevor er sich wieder zu seinen Freunden umdrehte, konnte er Sehnsucht und Begierde in Kaibas Augen aufblitzen sehen, und er fühlte absolut genauso. Noch nie hatte er das Ende einer Party so sehr herbeigesehnt wie in diesem Augenblick.   Es war ungefähr zwei Uhr nachts, als die Ersten anfingen, sich zu verabschieden. Sie hatten nach Mitternacht noch ausgelassen getanzt, und Joeys ganzer Körper prickelte von all den Endorphinen und Kaibas durchschlagenden Blicken, die ihn nicht mal für eine Sekunde aus den Augen ließen. Zuerst verabschiedete sich Yugi, ein wenig später dann auch Téa und Tristan, und anschließend machte auch Mokuba Anstalten zu gehen.   “Mokuba”, sagte Joey, als der Kleine gerade gehen wollte. “Ich wollte mich noch bei dir bedanken. Ich bin sicher, du hast deinem Bruder bei dieser Party sehr geholfen, und es war einfach fantastisch!”   Mokuba lächelte ihn an. “Hab’ ich gern gemacht, Joey. Und jetzt sprecht verdammt noch mal miteinander.” Diese letzten Worte sagte Mokuba laut lachend, dann winkte er ihnen zu und war verschwunden.   Plötzlich war es ruhig im Raum. Der DJ und der Barmann waren gegangen und es waren nur noch Kaiba und er im Festsaal. Joey, der noch mit dem Rücken zu Kaiba stand, drehte sich um, und jeder Schritt, den er in Kaibas Richtung unternahm, hallte in dem nun so leeren Festsaal wider, bis er direkt vor ihm stand.   Dann wusste er nicht, was er tun sollte. Er war so voller Gefühle und fand doch keine richtige Form, um diesen Ausdruck zu verleihen. Aber er musste es versuchen.   “Danke.” Seine Worte waren kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Kaiba saß noch immer auf dem Hochstuhl, den er ein wenig nach unten gefahren hatte, damit beide auf Augenhöhe waren. Begierde flackerte erneut in seinen Augen auf. Er streckte die Arme in Joeys Richtung aus, die er nur zu gern annahm. Dann zog ihn Kaiba zwischen seine Beine und Joeys Herz machte einen Satz. Joey sah dem Braunhaarigen intensiv in die Augen und konnte dem Drang, ihn endlich zu berühren, nicht mehr widerstehen. Seine Hände legten sich an Kaibas Wangen, die zu glühen schienen, während Kaibas Hände sich an Joeys Hüften legten.   “Du bist unglaublich, weißt du das?”, sagte Joey und strich seinem Drachen endlich diese verdammte Strähne aus der Stirn. Kaibas Mund war leicht geöffnet, und Joey fuhr mit dem Daumen drüber, was dem größeren sogleich ein kehliges Stöhnen entlockte. Dann fing er an, an Joeys Daumen zu knabbern, und Joey hatte schon wieder das Gefühl, sich nicht mehr länger auf den Beinen halten zu können, weil das Adrenalin vollständig Besitz von seinem Körper ergriff.   “Gott, ich hab’ dich so vermisst”, flüsterte Joey in Kaibas Ohr, der daraufhin laut Luft ausatmete. “Und ich dich erst”, antwortete Kaiba, der nun wohl endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. “Kannst du dir vorstellen, wie schwer es für mich war, dich so viele Tage quasi nur auf Fotos zu sehen? Ich hab’ mir immer wieder vorgestellt, du wärst bei mir, und was ich dann mit dir gemacht hätte.” Joey musste hart schlucken.   “Ja? Erzähl mir, was du dir mit mir vorgestellt hast.” Joey wollte, dass sein Drache weiter redete. Stattdessen zog er ihn an sich und küsste ihn innig, und Joey konnte die Hitze in seinem Körper nicht mehr kontrollieren. Immer wieder stöhnte er in den Kuss hinein. Kaibas Hände wanderten unter sein Shirt, und seine kühlen Finger brannten auf seinem Rücken. Dann löste Kaiba den leidenschaftlichen Kuss und fing an, Joeys Hals zu küssen, aber der Blonde wollte ihn unbedingt reden hören, sagen hören, was er sich vorgestellt hatte, als er nicht da war.   “Was hast du dir vorgestellt, als du im Büro warst? Als ich dir geschrieben habe und dir das Foto vor der KaibaCorp geschickt habe?”, fragte Joey mit erstickter Stimme. Kaiba ließ von seinem Hals ab und wanderte mit seinen Lippen zu seinem Ohr, an dem er ein wenig knabberte, bevor er sagte: “So vieles, Joey, so vieles. Wie viel willst du wissen?” Das war offensichtlich eine ernst gemeinte Frage. Ja, wie viel wollte Joey wissen? Er hielt es nicht mehr aus, er brauchte alles, sonst würde er platzen.   “Alles, mein Drache, alles. Gib mir alles.” Mit tiefer Stimme stöhnte Kaiba auf, als er begann zu erzählen.   “Ich hab’ mir vorgestellt, wie du in mein Büro kommst und hinter dir die Tür abschließt. Dann kommst du mit langsamen Schritten auf mich zu. Ich komme dir entgegen und drücke dich gegen die Wand, und dann küsse ich dich, wie ich dich noch nie geküsst habe.”   “Oh, ja, Gott… mehr…”, bettelte Joey.   In dem Moment stand Kaiba auf, umfasste ihn und hob ihn hoch, und zeitgleich umschloss Joey ihn mit seinen Beinen. Er konnte Kaibas große Hände an seinem Hintern spüren und schlang die Arme um seinen Nacken. Während Kaiba ihn trug, küsste Joey ihn innig. Dann presste Kaiba ihn gegen eine Wand, die Hände noch immer an seinem Arsch.   “Dann hab ich dich hochgehoben, so wie jetzt”, erzählte er weiter, und Joeys Stöhnen wurde immer lauter. Selbst, wenn er wollte, könnte er sich jetzt nicht in Zurückhaltung üben. Alles, was Kaiba sagte, heizte ihm nur noch mehr ein, und er war gierig, wollte alles haben, was der Größere zu geben bereit war.   “Und dann?”   Eisblaue Augen trafen auf goldbraune, und ihre beiden Münder vereinten sich erneut zu einem hitzigen Zungengefecht. Joey knabberte leicht an Kaibas Unterlippe und brachte ihn damit fast um den Verstand.   “Und dann habe ich dich an den Rand des Wahnsinns gebracht. Du hast immer wieder meinen Namen gesagt, erst leise, und am Ende hast du ihn geschrien.”   “Das ist so heiß, Kaiba.”   Der Braunhaarige ließ von dem Hals des Blonden ab und sah ihm wieder begierig in die Augen. “Sag ihn, Joey, sag meinen Namen.” Das war keine Bitte, das war ein Befehl. “Kaiba…”, stöhnte Joey, was ihm ausschließlich ein diabolisches Lachen einbrachte. Kaiba war ganz nah an seinem Ohr, und Joey konnte seinen heißen Atem überall spüren, als er flüsterte: “Du weißt, dass ich den nicht gemeint habe, Joey.”   Kaiba öffnete Joeys Lippen mit seinem Daumen, Joey leckte und saugte ungeduldig daran. Er war so süchtig nach diesem Mann, und er würde alles machen, was er ihm sagte, einfach alles.   “Seto…” Das erste Mal seinen Vornamen zu sagen, fühlte sich irgendwie schmutzig an, und es erregte ihn nur noch mehr. “Lauter, Joey”, befahl er, und sein dominanter Tonfall machte Joey so an.   Joey stöhnte laut auf. “Seto”, rief er noch lauter, und jeder im Raum hätte es gehört, wenn noch jemand hier gewesen wäre. Es sah so aus, als würde Joeys Wunsch von vorhin heute tatsächlich in Erfüllung gehen...   ~~~~   Seto hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. Alles an ihm wollte Joey, jede seiner Berührungen brannte sich in seine Haut ein und hinterließ eine heiße Spur. Er schmeckte so gut, und wie er immer wieder seinen Namen sagte, machte ihn verdammt an. Er war süchtig nach seinem Hündchen und verlor sich in der Leidenschaft ihrer Körper.   “Aaah… Seto… bitte”, flehte ihn sein Hündchen an. Ja, genauso wollte er ihn haben. “Sag mir, zu wem du gehörst, Joey”, sagte er mit bestimmendem Ton. “Dir… Seto… ich gehöre dir, nur dir”, stöhnte der Blonde an sein Ohr, und er konnte sich kaum noch zurückhalten.   “Was willst du, Joey?”   “Dich. Bei mir, auf mir, an mir, in mir. Ich will dich spüren, überall. Bitte, Seto, ich kann nicht länger warten. Bitte.” Seto würde ihm diesen Wunsch nur zu gern erfüllen. Er ließ für einen Moment ab von ihm, woraufhin sein Hündchen winseln musste. Er beugte sich daher noch mal ganz nah an ihn dran, um in sein Ohr zu flüstern: “Wenn du glaubst, ich lass’ dich diese Nacht auch nur eine Sekunde allein, hast du dich geschnitten.” Joey wurde ungeduldig, das merkte er sofort. Er zog mit seinem Daumen Kreise um Joeys Lippen, der immer wieder versuchte, ihn mit seiner Zunge zu erwischen. Dann hob er sein Kinn hoch, und die Intensität in seinen Augen war atemberaubend. “Wir müssen irgendwie in mein Apartment kommen. Glaubst du, du schaffst das?” Atemlos schüttelte Joey den Kopf und Seto musste lachen. Erneut nahm er sein Kinn zwischen seine Finger, dann sagte er verlangend: “Du musst. Hast du mich verstanden?” Joey nickte energisch mit dem Kopf, und Seto wurde das Gefühl nicht los, dass ihn seine Dominanz anmachte. Interessant, wie sich die Dinge wandeln konnten.   Seto öffnete die Tür und schaute nach, ob die Luft rein war. Dann nickte er Joey zu. “Okay, hier lang.” Er konnte sein Hündchen laut hecheln hören, und auch er musste sich selbst beherrschen, ihn nicht sofort hier auf dem Flur zu nehmen. Seine Erregung war schon schmerzlich zu spüren und er war sich sicher, Joey würde es nicht anders gehen. Er erwischte ihn dabei, wie er versuchte, seine Hand zu nehmen und bedachte ihn mit einem finsteren Blick, was dazu führte, dass Joey sich erregt in die Unterlippe biss. Verdammt, der Kleinere wurde davon wirklich geil. Er machte es Seto wirklich unheimlich schwer. Aber es waren nur noch ein paar Meter…   Endlich an seiner Tür angekommen, holte er seine Schlüsselkarte raus und bugsierte den Blonden hindurch. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, sein Atem ging schnell, und für eine Sekunde sahen sie sich nur an. Dann stürzten sie aufeinander zu. Joey presste seine Lippen auf Setos, bat mit seiner Zunge um Einlass und verursachte sofort ein heißes Feuer in seinem Mund. Setos Hände wanderten wieder unter Joeys T-Shirt.   Mit erstickter Stimme hörte er Joey sagen: “Sag mir, was du mit mir machen willst, Seto.” Sein Hündchen stand also nicht nur auf seine Dominanz, sondern auch auf Dirty Talk? Konnte das hier eigentlich noch heißer und sinnlicher werden, als es eh schon war? Er würde Joey alles geben, was er hatte.   “Erst mal will ich dich von diesem lästigen T-Shirt befreien.” Er zog erst dem Blonden sein T-Shirt über den Kopf, danach entledigte er sich seinem eigenen Hemd, um gleiche Bedingungen für alle zu schaffen. Joeys Hände glitten gierig über seinen nun nackten Oberkörper. “Du bist so heiß, Seto. Schon an dem Abend von dem Konzert konnte ich meine Finger nur mit Mühe von dir halten, weißt du das?”   “Oh, ja, das hab’ ich gemerkt, aber ganz geschafft hast du’s nicht, oder, Hündchen?”   “Wie auch? Du bist so wunderschön, und ich will dich überall berühren.”   “Ja, Joey, sag mir, wo du mich überall berühren willst.”   Der Blonde schaute ihm hungrig in die Augen, als seine Finger langsam in Richtung seines Hosenbundes wanderten. Dort angekommen, fuhr er erst mit einem, dann mit weiteren Fingern darunter, nur ganz leicht, sodass er den Bund seiner Boxershorts erreichte, und Seto legte den Kopf in den Nacken und stöhnte. Der Kleinere machte ihn fertig, und jede Berührung löste in seinem Körper eine hitzige Explosion aus. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Er wollte Joey, und er wollte ihn ganz.   “Bist du sicher, dass du das willst, Joey? Noch kann ich aufhören, aber es wird immer schwerer für mich, dich nicht einfach aufs Bett zu werfen und zu nehmen.”   Die Finger noch immer an seinem Hosenbund, ging Joey nun rückwärts, zusammen mit ihm, und langsam in Richtung Bett. Nein, er würde nicht aufhören wollen, und das entlockte Seto ein wohliges Seufzen.   Als sie am Bett ankamen, sagte Joey: “Ich gehöre ganz dir, Seto. Zeig mir, was es heißt, dir zu gehören.” Kaum hatte er das gesagt, hatte er schon den Knopf von Setos Hose geöffnet. Der Kleine ließ wirklich nichts anbrennen, und Seto sollte es recht sein. Er würde ihm zeigen, was es hieß, sein zu sein.   Er schubste Joey aufs Bett, und dieser lag nun unter ihm und wartete begierig auf die nächsten Schritte. Seto kniete über ihm, und er spürte, wie die Hitze in ihm die ersten Schweißtropfen zu Tage förderte, und Joey schien ein ähnliches Schicksal zu ereilen. Seto vereinigte ihre Münder und Zungen miteinander, bevor er sich weiter an seinen Hals machte. Dann küsste er sich seinen Weg bis zu den Brustwarzen, an denen er genüsslich sog und so seinem Hündchen ein heißes Stöhnen entlockte. “Ja, Joey, so ist es richtig, stöhn für mich. Zeig mir, dass es dir gefällt.”   “Aah, Seto… mehr… mehr…” Sein Betteln vernebelte ihm die Sinne und er fuhr mit seiner Zunge weiter seinen Körper entlang. Dann fuhr er mit der Zunge leicht unter Joeys Hosenbund, was mit einem erneuten Aufstöhnen vom Blonden quittiert wurde. Seto richtete sich wieder ein wenig auf und fuhr mit Zeige- und Mittelfinger über Joeys Lippen, der diese gierig ableckte und ihn dabei mit hitzigen Blicken bedachte. “Wir sollten dich erstmal von diesen lästigen Klamotten befreien, meinst du nicht?” Joey nahm Setos Finger nun in seine Hand, um sie noch intensiver lecken zu können, und ohne den Blick abzuwenden, flüsterte er ein heiseres ‘Ja’.   Daraufhin entzog Seto Joey seine Finger und öffnete mit quälender Langsamkeit den Knopf seiner Hose, zog den Reißverschluss runter und wartete ab, wie Joey reagieren würde. Er konnte seine Ungeduld spüren, also zog er ihm die Hose aus, und mit einem Ruck war auch die Boxershorts verschwunden. Für einen Moment schien Joey sich der Situation voll bewusst zu werden und versuchte, mit seinen Armen und Händen so viel wie möglich zu bedecken. Als Antwort presste Seto Joeys Beine auseinander, und sagte dann mit einem Anflug von Zärtlichkeit: “Du bist wunderschön, Joey, die Perfektion in Person. Du brauchst dich nicht zu verstecken oder zu schämen, schon gar nicht vor mir. Ich will dich so, wie du bist, okay?” Joey atmete abgehackt, nickte ihm aber zu, was Seto mit einem leisen Lachen belohnte. Noch immer kniete er über ihm, als eine seiner Hände über Joeys Erregung strich. Er küsste ihn wieder am Hals, während seine Hand sich an Joeys Schaft langsam auf und ab bewegte. “Wie fühlt sich das an, Joey?”   “Heiß… Seto, gib mir mehr… aaah…”   Joey krallte sich mit seinen Händen in die Bettlaken und streckte ihm sein Becken entgegen. “So ist es gut, mein Hündchen. Du willst mehr?”   “Ja, viel mehr… ich will dich in mir spüren, Seto… bitte, ich brauche das, ich brauche dich.”   “Gott, Joey, du machst mich so an, weißt du das eigentlich?”   Mit diesen Worten stand Kaiba auf, und erst wollte Joey protestieren, doch dann sah er, dass Kaiba den Reißverschluss seiner Hose öffnete. Joeys Blick war göttlich - er hatte sich auf seine Arme abgestützt und sah ihn mit geöffnetem Mund und verklärtem Blick an.   “Soll ich weitermachen, Joey?”   “Fuck, Seto, wenn du es nicht machst, mach ich es”, sagte der Blonde ungeduldig, und Seto konnte ein erneutes Stöhnen nicht unterdrücken. Er wollte alles von Joey, er wollte ihn seinen Namen schreien hören, so wie in seiner Fantasie.   Er entledigte sich zuerst seiner Hose, dann, ganz langsam, auch seiner Shorts. Joeys Augen sagten ihm alles, was er wissen musste, aber mitteilsam, wie sein Hündchen eben war, konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen. “Du bist so atemberaubend schön, Seto. So heiß…”   Seto verlor sich in Joeys Worten und kniete nun wieder über ihm. Er griff an ihm vorbei in seinen Nachtschrank, um das Gleitgel rauszuholen. Das hatte er erst vor ein paar Tagen besorgt (und zwar so gut es ging verkleidet, um bloß nicht als Seto Kaiba aufzufallen), als er bemerkte, welche Fantasien sich mit dem Blonden entwickelt hatten. Es war mehr ein Wunschdenken gewesen, er hätte nie geglaubt, dass er so schnell hier in seinem Bett landen würde. Aber er konnte nicht anders, als einsehen, dass Joey in der Realität noch viel heißer war als er es sich jemals hätte vorstellen können.   Was Seto wirklich erstaunte, war, dass er nicht einen winzigen Hauch Nervosität bei Joey ausmachen konnte. Er konnte sich kaum vorstellen, dass dieser das hier schon mal gemacht hatte - er selbst ja auch nicht. Und doch fühlte es sich so natürlich an, er wusste einfach genau, was er machen musste, und wenn sein Hündchen hier so willig unter ihm lag, konnte er sich einfach auch nicht beherrschen. Er war ihm vollkommen verfallen, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen.   “Du sagst es mir, wenn du irgendwas nicht willst. Ich höre dann sofort auf. Verstanden?” Joey leckte sich die Lippen und nickte. Er stand wirklich auf diesen gebieterischen Ton, und Seto fühlte sich in dieser Rolle ebenfalls sehr wohl.   “Aber Seto, ich glaube nicht, dass du irgendwas machen kannst, was ich nicht will. Ich will alles von dir, und ich will es jetzt.” Seto lehnte sich wieder etwas weiter über ihn, küsste ihn flüchtig und flüsterte dann in sein Ohr: “Du wirst alles von mir kriegen, Joey, und ich werde nicht aufhören, bis du meinen Namen schreist.” Mit diesen Worten benetzte er den ersten Finger mit Gleitgel und führte ihn langsam, aber bestimmt, in Joey ein. Dieser sog scharf die Luft ein und Seto beobachtete ihn genau. So sehr er den Dirty Talk mit Joey auch genoss, er würde ihm niemals absichtlich weh tun. Der Kleinere krallte sich wieder in die Bettlaken, bevor er Seto erneut anflehte: “Ah, genauso, gib mir mehr, Seto!”   Also nahm er einen zweiten Finger dazu, den er zuvor ebenfalls mit genügend Gleitgel versorgt hatte. Er ließ ihn, wie schon den ersten, in Joey hineingleiten und fing dann an, sich in ihm zu bewegen. Erst langsam, damit sein Hündchen sich an das Gefühl gewöhnen konnte, dann immer fordernder und schneller. “Seto…!” Sein Stöhnen wurde lauter, und Seto konnte sich nur mit großer Mühe noch zurückhalten. Er musste noch einen Moment Geduld haben, dann würde er Joey ganz zu seinem machen.   Als er merkte, dass Joey sein Becken gegen seine Finger bewegte, nahm er noch den dritten Finger dazu. Dafür brauchte Joey ein wenig länger, um sich daran zu gewöhnen, und Seto passte das Tempo ein bisschen an. Sie mussten ja nichts überstürzen, und er wollte unbedingt, dass es Joey gefiel, er ihm das geben konnte, was er so wollte und brauchte.   Als er merkte, dass sich Joeys Muskeln entspannten, bewegte er seine Finger wieder schneller, bis Joey plötzlich sagte: “Stop! Genug der Vorspeise, ich will den Hauptgang!”   “Weißt du eigentlich, wie sexy jedes Wort ist, das du sagst, Joey?” Seto entfernte langsam seine Finger. Sein Hündchen war bereit, und oh, er war es auch. Langsam setzte er seine Erregung an Joeys Eingang an, und als dieser das spürte, lächelte er süffisant und biss sich auf die Unterlippe.   “Wenn du dir weiter so auf die Unterlippe beißt, werde ich mich nicht beherrschen können, mein Hündchen”, sagte Seto mit glühender Stimme. Mit Mühe und Not konnte Joey ihm in die Augen blicken, die so voller Ekstase waren, und ihm antworten: “Dann tu’ es nicht, Seto.”   Das war genug. Er konnte nicht mehr länger warten. Langsam drang er in Joey ein, der ein wenig das Gesicht vor Schmerzen verzog. Er gab ihm die Zeit, die er brauchte, um sich an das Gefühl zu gewöhnen. Verdammt, er war so eng, und Seto musste tief durchatmen, um nicht sofort zu kommen. Er wollte das hier richtig auskosten.   Seto streichelte seinem Hündchen durch die Haare und sah ihn zärtlich an. “Sag mir, wenn ich aufhören soll.”   Doch Joey lachte nur teuflisch auf. “Verstehst du es immer noch nicht? Nimm mich, Seto, bitte!”   Nun drang er vollständig in ihn ein, und Joey schrie laut auf. Seto hatte erst Angst, es wäre doch ein wenig viel gewesen, aber als er das Grinsen auf dem Gesicht seines Hündchens sah, sein ersticktes Stöhnen hörte, wurde ihm klar, dass er es gern so hatte. Wahnsinn, niemals hätte er gedacht, dass er so gierig sein würde. Und wie er ihn nehmen würde, immer und immer und immer wieder, bis er seinen eigenen Namen vergessen hatte.   Joey stöhnte wollüstig auf und auch Seto hatte sein Stöhnen nicht mehr unter Kontrolle. Er bewegte sich erst langsam, und als er merkte, dass es Joey so gefiel, wurde er schneller. Er lotete weiter die Grenzen aus, seine Stöße wurden härter, und Joeys Stöhnen immer lauter.   “Sag ihn, sag meinen Namen, Joey”, befahl er dem Blonden, der sich vor lauter Lust unter ihm wand. “Aaah, Se-to… Seto… Seto… SETO…!” Gott, wie er es liebte, sein Stöhnen zu hören. Er schien einen guten Punkt getroffen zu haben, weil Joey sich nun in seinen Rücken krallte und unaufhörlich stöhnen musste, immer nur minimal unterbrochen von heftigem Keuchen und dem Versuch, noch irgendwie an Sauerstoff zu gelangen.   Er merkte, er würde nicht mehr lange können, aber er würde sicherstellen, dass sein Hündchen zuerst kam. Also stieß er noch härter, noch schneller zu, bis er merkte, dass sich Joeys ganzer Körper verkrampfte.   “Komm für mich, Joey”, sagte Seto und nahm Joeys Erregung in die Hand, die er nun zusätzlich sanft liebkoste, rauf und runter strich. Als er merkte, dass es nur noch Sekunden sein konnten, machte auch er sich bereit für seinen eigenen Orgasmus.   “SEEETOOOO!” Er schrie seinen Namen, als er kam, und es war eine Million Mal besser als in allen Fantasien zusammen.   “Oh, Gott, Joey”, war das einzige, was er noch sagen konnte, bevor er sich in ihm ergoss.   ~~~~   Für einen Moment herrschte Stille. Seto war noch immer in ihm und er konnte nicht glauben, dass sie das gerade gemacht hatten. Das war so heiß gewesen und er wusste jetzt schon, dass er davon nie genug kriegen würde.   Langsam glitt Seto aus ihm raus und legte seinen Kopf auf seinen Bauch. Selbst wenn sie wollten, sie müssten jetzt erst mal wieder zu Atem kommen. Joey fand zuerst die Kraft zu sprechen: “Wahnsinn, das war… atemberaubend… so gut… du musst Übung darin haben, das war ja nicht normal.”   Noch immer schwer atmend, stützte sich Seto auf einem Ellenbogen auf und sah Joey an. “Ob du’s mir glaubst oder nicht, ich hatte bisher kein anderes Übungsobjekt. Und ich hätte mir kein Besseres für das erste Mal wünschen können.”   Joey wurde überwältigt von seinen Gefühlen. Er war noch immer so berauscht und zitterte am ganzen Körper. Er lehnte sich ein wenig vor, um Seto küssen zu können, dann sagte er: “Versprich mir, dass es nicht die letzte Übung sein wird. Mit mir, meine ich. Und keine Übung mit anderen! Ach, du weißt was ich meine.” Setos herzliches Lachen war ansteckend. Er fühlte so viel Wärme in sich. “Versprochen”, sagte Seto und küsste ihn zärtlich auf die Stirn.   Als er aufstehen wollte, merkte er die Nachwirkungen dessen, was sie gerade gemacht hatten. “Na, haben wir ein paar Schwierigkeiten, Hündchen?” Auf diese Stichelei würde er sich nicht einlassen - klar, Seto hatte recht, aber diese Genugtuung würde er ihm nicht geben. Frech grinsend und hoch erhobenen Hauptes verschwand er im Bad, nur um wenige Minuten später gesäubert wieder herauszukommen.   Joey beobachtete Seto, der offensichtlich gerade in den letzten Zügen war, die Bettwäsche zu wechseln. “Wusste gar nicht, dass du weißt, wie man Bettlaken wechselt, Seto. Ich dachte, du hast für jeden Scheiß Personal.” Grinsend trat er an den Größeren ran und umarmte ihn von hinten. Ihre Haut hatte sich abgekühlt und war übergegangen zu einer wohligen Wärme.   Seto drehte sich um und nahm Joeys Gesicht in beide Hände, bevor er sagte: “Hab’ ich normalerweise auch, aber möchtest du wirklich, dass ich jetzt jemanden vom Personal hole?” Setos Grinsen war auch noch in dem folgenden Kuss zu spüren. Joey sammelte seine Klamotten auf und zog sich Shorts und Shirt an, Seto tat es ihm gleich. Dann machte sich eine Unsicherheit in Joey breit. Seto schien das sofort bemerken und fragte ihn: “Alles in Ordnung, mein Hündchen?”   Der umarmte Seto und nahm mit einem tiefen Atemzug seinen ganzen Duft in sich auf. Für einen kurzen Moment schwieg er, dann fragte er: “Soll ich gehen?” Seto löste die Umarmung und hob Joeys Kopf an, sodass sie sich in die Augen sehen mussten. “Auf gar keinen Fall, hast du verstanden?” Joey musste grinsen ob des grimmigen Gesichtsausdruck des Großen, und erwiderte: “Zu Befehl, Mr. Kaiba, Sir!” Das entlockte dem Braunhaarigen ein wohliges Lachen. “Daran könnte ich mich auch gewöhnen, wenn ich ehrlich bin. Aber nun ab ins Bett, bevor ich nochmal über die herfalle.”   Und nachdem auch Seto noch mal kurz im Bad verschwunden war, stiegen beide unter die frisch bezogene Bettdecke, verschlungen Arme und Beine miteinander, und schliefen das erste Mal seit Monaten friedlich ein, mit dem absoluten Wissen, dass sie genau da waren, wo sie sein wollten. Kapitel 11: Rescue me... from the heat [ZENSIERT] ------------------------------------------------- Die letzten Tage waren für Joey mühsamer als er gehofft hatte. Kaiba schien noch beschäftiger als sonst auch schon und kam entweder unheimlich spät erst aus der Firma oder verschanzte sich in seinem Büro in der Villa. Joey bekam ihn eigentlich fast nie zu Gesicht, selbst beim Frühstück war er manchmal nicht zu sehen. Mokuba erklärte ihm, dass er unheimlich viel zu tun hätte in der Firma und es einfach manchmal solche Wochen gab, und auch wenn Joey dafür Verständnis hatte, so wuchs seine Sehnsucht doch mit jedem weiteren Tag ins Unermessliche. Ab und zu sahen sie sich in der Kantine in der Schule, auch wenn Kaiba wie immer an einem separaten Tisch saß. Oft konnte Joey gar nicht auf die Gespräche seiner Freunde achten, weil sein Blick so oft diesen unheimlich intensiven blauen Augen galt, die ihn mit derselben Kraft zurück ansahen. Es fiel Joey immer schwerer, im Alltag Abstand zu halten, gerade wenn er nicht wusste, wann er ihn das nächste Mal zu Gesicht bekommen würde. Eines Mittwochabends war Joey wieder im Café arbeiten. Es war weniger los als sonst, auch wenn er noch immer einige Beschäftigung fand. In jeder freien Minute zog er sein Handy hervor und schaute sich das Foto von seinem Drachen an, das er ihm geschickt hatte, und war wie immer geflasht von der Tatsache, wie unheimlich attraktiv er war. Auf dem Foto kamen seine blauen Augen mit einer Intensität rüber, die es Joey schwer machten, den Blick wieder abzuwenden. Das T-Shirt, das er trug, war locker geschnitten und es stand ihm unheimlich gut. Und dann dieser Gesichtsausdruck… er hatte versucht, ein wenig zu lächeln, das konnte man genau sehen, seine Haare fielen ihm kreuz und quer ins Gesicht. Joey wurde heiß, als er das ganze Foto noch mal betrachtete, weil Kaiba darauf einfach… sexy und unwiderstehlich wirkte. Es machte ihn fertig, ihn nicht berühren zu können. Er wollte ihm nah sein, und doch war er für ihn die letzten Tage weiter weg gewesen als er gehofft hatte. Er entschied, wenn er schon nicht bei ihm sein konnte, dann würde er ihm eben schreiben. Vielleicht half das ja ein wenig, um die Zeit zu überbrücken, bis sie sich endlich wieder sehen würden. Also begann er eine Nachricht an ihn zu tippen: ‘Hey, wie ist dein Tag? Hab’ hier heute wieder viel zu tun. Muss an dich denken…’ Sein Herz klopfte schneller, als er die Senden-Taste betätigte. Sie hatten sich noch nicht so oft Nachrichten geschickt, immer nur ab und zu, und meistens auch nur, wenn sie was voneinander wissen mussten. Aber Joey wollte sich einfach unterhalten. Er konnte es nicht verbergen, er war einsam, und seine Freunde konnten seine Sehnsucht nicht befriedigen, weil keiner davon sein Drache mit den intensiv blauen Augen war. Er steckte sein Handy in die Hosentasche und räumte ein paar Tische ab, nahm neue Bestellungen auf und brachte Essen und Getränke an verschiedene Tische. Einige Minuten später stellte er sich wieder in die Küche und sah auf sein Handy - nichts. Ein wenig Enttäuschung machte sich breit. Oder war er zu weit gegangen? Vielleicht mochte Kaiba diese Art Small-Talk einfach nicht. Er wusste ja, dass der Braunhaarige nicht so gut mit Worten war, wobei er sich tatsächlich sehr entwickelt hatte und wenn sie allein waren, dann schien es nicht so ein großes Problem für ihn zu sein. Es war in ihm, daran glaubte Joey fest, aber er ließ es eben nicht jeden wissen oder sehen. Das wiederum fühlte sich für ihn so an, als ob er einzigartig für ihn wäre, weil er ihn teilhaben ließ an dieser Seite von ihm. Gerade, als sein Chef ihn rief, blinkte das Display auf und zeigte eine Nachricht von ihm - mit Bild. Oh Gott, jetzt rutschte ihm das Herz in die Hose. Er wollte sie unbedingt öffnen, musste aber zunächst ein paar Sachen für seinen Boss erledigen. Noch nie hatte er so schnell Teller von A nach B gebracht und Gäste abkassiert. Atemlos und mit leicht zitternden Händen vor Nervosität öffnete Joey die Nachricht und das Bild. Zuerst sah er die Nachricht: ‘Hallo, mein Hündchen. Leider viel zu tun, ich wünschte, ich würde einmal mit Profis arbeiten. Viel zu viele inkompetente Idioten hier… wünschte, du wärst hier…’ Er musste überraschend aufstöhnen. Diese Nachricht zeigte ihm, dass der Andere genauso viel Sehnsucht hatte. Ob er ihn wohl wirklich mal irgendwann in seinem Büro besuchen können würde? Wie sah es wohl in seinem Büro aus? Da erinnerte er sich an das Bild, das er mitgeschickt hatte, und öffnete es mit wenigen Klicks. Kaiba lag quasi mit seinem Oberkörper auf seinem Schreibtisch, den Kopf auf einem seiner angewinkelten Unterarme gebettet, der andere betätigte den Kameraauslöser am Handy. Seine Augen zeigten so viel Sehnsucht und gleichzeitig so viel Leidenschaft, dass er fast rausgerannt und einfach zu ihm gefahren wäre. Aber er wusste natürlich, dass das nicht ging. Vermutlich würde man ihm nicht mal Zugang zum Gebäude gewähren, wer würde da schon seinen Namen kennen? Und an einen Seto Kaiba kam man nicht einfach mal so ohne Termin ran. Wie gern würde er jetzt durch diese Haare wuscheln. Er sah müde aus, und Joey würde alles dafür geben, ihm jetzt einen Kaffee vorbeizubringen. Jetzt nahm er ein wenig aus der Umgebung des Bildes wahr. Der Schreibtisch ähnelte dem, den er Zuhause hatte, weil er aus dunklem Holz bestand. Kaiba konnte ihm jetzt wahrscheinlich ganz genau erklären, wo da die detaillierten Unterschiede lagen, aber wen interessierte das schon. Hinter ihm erkannte er eine Glasfront, die den Blick auf die Stadt freigab, auch wenn sie verschwommen war, weil der Fokus auf Kaiba gerichtet war - was auch gut so war! Im Hintergrund konnte er dennoch die bunten Lichter der nächtlichen Stadt wahrnehmen, was dem Bild noch mal eine ganz besondere Atmosphäre gab. Er tippte eine Antwort und sendete sie auch sofort ab: ‘Ich wäre auch gern bei dir. Ein Wort und ich bin sofort da.’ Dann musste er sich wieder ein bisschen seiner Arbeit widmen, er wurde hier ja schließlich nicht fürs Texten bezahlt, schon gar nicht mit seinem… ja, seinem, was? Wollte er gerade wirklich ‘seinem Freund’ denken? Sie hatten nie darüber gesprochen, ob es für sie eine offizielle Bezeichnung gäbe, und ehrlich gesagt störte ihn das nicht weiter. Denn am Ende war es egal, wie sie es nannten, er wusste, er wollte einfach nur bei ihm sein. Das genügte ihm schon. Er spürte sein Handy in seiner Schürze summen, und sofort fühlte er dieses Kribbeln in den Fingern. Gleich hätte er Feierabend, also wollte er nochmal alles geben, um sich seinen guten Ruf hier nicht kaputt zu machen. Immerhin gab es auch heute wieder einige Stammgäste, die gern von Joey bedient werden wollten, also musste er sich jetzt einfach die letzten 30 Minuten noch konzentrieren. Mit einem Schnaufen kam er aus dem Café und machte sich auf den Weg nach Hause. Normalerweise konnte er sich nach Hause fahren lassen, aber heute war ihm einfach nach einem Spaziergang. Die kühle Winterluft war jetzt genau das Richtige, um die Hitze seines Körpers wieder ein wenig zu reduzieren. Wobei er das nicht so laut sagen sollte, bevor er Kaibas nächste Nachricht gelesen hatte. Er zückte sein Handy hervor und sah gleich zwei Nachrichten von seinem Drachen. Er musste schmunzeln. Machte Kaiba sich Sorgen, weil er nicht sofort geantwortet hatte? Hey, manche Leute mussten arbeiten! Er öffnete die erste Nachricht, und sein Herz machte einen Satz. ‘Ich wünschte, das ginge… bin gleich wieder im Meeting, aber meine Gedanken sind bei dir. Kriege ich auch noch ein Bild?’ Ungeduldig öffnete Joey auch die zweite Nachricht. ‘Joey? Alles okay? Du musst kein Bild schicken, wenn du nicht willst, aber sag mir, dass alles okay ist, ja?’ Er überlegte, was für ein Bild er machen könnte. Es war ziemlich kalt heute, also hatte er neben Mantel und Schal auch eine Mütze auf. Er sah sich kurz um - nur um zu bemerken, dass er nur zwei Querstraßen von der KaibaCorp. entfernt war. Grinsend begab er sich dorthin und schoss ein Foto, auf dem er grinste und das Peace-Zeichen machte. Hoffentlich konnte er seinen Drachen ein bisschen aufmuntern. Er schickte es los und fügte noch ein paar Worte an: ‘Sorry, war zu viel los die letzten Minuten. Bin jetzt raus, und schau mal, wo ich bin? Du bist so nah, und doch irgendwie unerreichbar… Wann sehe ich dich wieder? Ich will nicht mehr warten…’ Ein bisschen nagte seine Antwort an ihm. War er zu aufdringlich? Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass es so rüberkommen könnte, also schickte er noch eine weitere Nachricht ab: ‘Entschuldige, ich will keinen Druck machen. Ich habe absolut Verständnis dafür, dass du viel zu tun hast, immerhin bist du hier der CEO von uns beiden. Mach’ mich jetzt auf den Weg nach Hause. Werde vorerst mit deinen Fotos vorliebnehmen. Du bist so schön, weißt du das eigentlich…?’ Damit packte er das Handy in seine Tasche und setzte seinen Weg nach Hause fort. Er vermisste diese blauen Augen, seine Berührungen, seine Küsse, seine Worte, einfach alles. Jede Faser seines Körpers verzehrte sich nach seinem Drachen. Als er es wieder in seiner Tasche vibrieren spürte, nahm er mit einem Seufzen das Handy raus und las die Nachricht. ‘Oh Gott, Joey, du machst es mir echt schwer. Echt. Ich will bei dir sein. Jetzt. Sofort. Aber nicht mehr lange, mein Hündchen, in Ordnung? Wir werden bald wieder zusammen sein... ‘ Das klang ziemlich mysteriös, und er kam nicht umhin sich zu fragen, was der Größere wohl im Schilde führte. Es war der Tag vor seinem Geburtstag, morgen war der 25. Januar, ein Sonntag. Er hatte nichts Spezielles geplant, trotz der Tatsache, dass es sein 18. Geburtstag sein würde. Irgendwie war das im Trubel der letzten Wochen untergegangen, aber er wusste, er könnte auch immer nachfeiern, wenn es ihm dann doch so wichtig war. Im Moment wünschte er sich eigentlich nichts sehnlicher, als seinen Drachen wiederzusehen. Aber der war auch heute wieder den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer verschanzt und ließ sich nur selten blicken. Joey merkte, wie ihn schlechte Laune erfasste. Er brauchte Ablenkung, daher setzte er sich an seinen Laptop und versuchte, ein wenig Zerstreuung zu finden. Leider gelang ihm das nicht, denn das erste, wonach er suchte, waren noch mehr Fotos von Kaiba. Es war schon spannend zu sehen, wie sehr sie sich doch von denen unterschieden, die er von ihm selbst erhalten hatte. Auf den Fotos, die Kaiba ihm selbst geschickt hatte, wirkte er fast ein wenig verletzlich, wohingegen er auf offiziellen Fotos immer Stärke und Dominanz ausstrahlte. Und als er sich so durch die Bildergalerien kämpfte, musste er feststellen, wie sexy das wirkte. Joey knabberte gedankenverloren an seiner Unterlippe. Dieser Blick, der ihn durchbohrte wie ein großer Nagel, war anziehend. Seine Augenfarbe war dunkelblau, nichts an ihm zeigte auch nur ein Körnchen Schwäche. Noch vor wenigen Monaten hätte er das als überheblich und arrogant abgetan, aber heute, da er wusste, was für eine andere Seite noch in ihm schlummerte, war er auch von dieser Seite irgendwie angetan. Er musste den Kopf schütteln, weil er das gleichermaßen absurd wie befriedigend fand. Beim Betrachten der Bilder machte sich eine noch größere Sehnsucht breit, und er konnte nicht abwarten, ihn endlich wiederzusehen. In diesem Moment vibrierte sein Handy neben ihm. Eine Nachricht von Kaiba, endlich wieder! ‘Hey, Hündchen, könntest du zehn Minuten früher zum Abendessen kommen? Ich treffe dich dort.’ Es klang so geheimnisvoll, aber alles in ihm kribbelte und ihm war heiß und kalt zugleich. Er schrieb ihm eine kurze Nachricht zurück, dass er da sein würde, und für die restliche Zeit des Tages beobachtete er die Uhr, deren Zeiger sich nur in sehr langsamen Schritten bewegten. Er war froh, als die Zeit endlich um war, und er sich aufmachen konnte, um Kaiba zu treffen. Er war ein bisschen nervös, immerhin hatten sie sich einige Zeit nur auf Distanz gesehen oder einfach nur geschrieben. Er konnte Kaiba schon von weitem sehen und konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. “Hey, Hündchen”, begrüßte ihn Kaiba, und es fühlte sich an, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen. “Hi”, gab Joey zurück, fast flüsternd. Er wusste, sie würden sich hier nicht berühren können, aber er war froh, ihm endlich wieder in seine strahlend blauen Augen schauen zu können und erkannte darin genau dieselbe Sehnsucht, die ihn die letzten Tage auch so dominiert hatte. “Komm, wir müssen in diese Richtung”, erklärte der Größere und führte ihn durch die Gänge. Wo gingen sie denn jetzt hin? Was immer es war, was Kaiba ihm zeigen wollte, er machte noch immer ein großes Geheimnis draus. Sie kamen vor einer großen Tür an, und Joey erkannte, dass es sich dabei um den Festsaal handelte, in dem sie schon Weihnachten und Silvester verbracht hatten. Kaiba ging ein kleines Risiko ein, indem er ihm ein leichtes Lächeln schenkte, bevor er sagte: “Was ich dir zeigen will, ist dort drin. Mach die Tür auf.” Joeys Hände zitterten ein wenig vor Nervosität. Er öffnete die Tür, doch der Raum war dunkel. Kaiba schlüpfte hindurch und schaltete das Licht an, und plötzlich… “Überraschung!” Alle seine Freunde waren hier, genauso wie Mokuba. Luftballons und Konfetti flogen durch die Luft und er verstand wirklich gar nichts mehr. “Was… äh…” Yugi musste lachen, weil Joey wirklich total auf dem Schlauch stand, trotz der ‘Happy Birthday’ Girlande. “Joey, das ist eine Überraschungsgeburtstagsparty! Wir feiern zusammen in deinen Geburtstag rein!” Joey war überwältigt. Damit hätte er nie gerechnet. Strahlend rannte er auf seine Freunde zu und umarmte jeden von ihnen, inklusive Mokuba. Als er endlich wieder Herr über seine Stimme wurde, sagte er: “Wow, überrascht habt ihr mich auf jeden Fall. Auf wessen Mist ist das denn gewachsen?” Tristan zeigte auf eine Person hinter ihm - Kaiba? “Er hat uns angerufen und eingeladen. Glaub mir, wir waren so überrascht wie du. Seid ihr jetzt plötzlich Freunde geworden oder wie?” Joey drehte sich zu seinem Drachen um, dessen Miene zwar für Außenstehende wieder unergründlich wurde, aber er konnte in seinen Augen das Feuer lodern sehen. Wie gern würde er ihn jetzt berühren, stattdessen formte er mit seinen Lippen ein ‘Dankeschön’. Als Antwort auf Tristans Frage murmelte er nur: “Sowas in der Art…” Es war eine richtig schöne Party. Mokuba erzählte ihm, dass Kaiba ihn um Hilfe bei der Organisation gebeten hatte, er aber eigentlich nur Ideen geliefert hatte und Kaiba sich im Prinzip um alles gekümmert hatte. Sogar einen DJ und eine Bar samt Barmann hatte er besorgt. Der kleine Kaiba wurde nicht müde zu betonen, dass der größere Kaiba sich richtig reingehangen hatte, und er bestätigte ihm auch, dass das der Grund dafür war, dass der Braunhaarige in letzter Zeit so beschäftigt war, auch wenn er zusätzlich in der Firma viel zu tun hatte. Konnte man noch mehr Dankbarkeit empfinden als in diesem Augenblick? Ab und zu unterbrachen sie die Musik, weil es auch eine Karaoke-Maschine gab. Joey verzichtete, und Kaiba näherte sich dem Ding nicht mal auf zehn Meter, aber Joey zu Liebe sangen sich seine Freunde und auch Mokuba die Seele aus dem Leib, und Joey musste so viel lachen, dass ihm ständig die Tränen kamen. Es gab auch etliches an Fingerfood, außerdem war der Raum wunderschön dekoriert, vor allem mit Blumen und anderen Pflanzen, aber auch Luftballons und Girlanden. Überall auf dem Boden verstreut lag buntes Konfetti. Während sie im Anschluss an eine weitere Karaoke-Session erneut ausgelassen auf der Tanzfläche tanzten, konnte Joey aus dem Augenwinkel wahrnehmen, wie Kaiba ihn von der Bar aus, an der er die ganze Zeit saß, unablässig beobachtete. Andere würden das vielleicht seltsam finden, aber er genoss seine Blicke. Er wollte seine ganze Aufmerksamkeit für sich und fühlte sich besonders, jedes Mal, wenn er ihn ansah, und nur ihn. Zwar hatte er wieder seine unergründliche Kaiba-Miene aufgesetzt, aber Joey kannte die Wahrheit, die sich dahinter verbarg. Irgendwann brauchte er eine Pause und ging zu Kaiba rüber an die Bar. Er bestellte sich einen alkoholfreien Cocktail, und als er das bunte Gemisch in der Hand hielt, setzte er sich auf einen der Hochstühle und drehte sich zu Kaiba um. “Danke. Ehrlich. Und immer wenn ich denke, es geht nicht besser…” Kaibas Mundwinkel zuckten leicht und Joey wusste, dass dieser gerade seine komplette Körperbeherrschung beanspruchte. Alles zog Joey zu ihm, er war wie ein Magnet, keine Chance, ihm zu entkommen. Das war wie ein Naturgesetz, Physik, Chemie und Biologie vereint. Nicht, dass er in der Schule in diesen - oder anderen - Fächern wahnsinnig viel aufgepasst hätte. Aber er wusste, dass er sich ihm nicht würde entziehen können, und Kaibas Blick und seine leicht geöffneten Lippen signalisierten ihm, dass es ihm ähnlich ging. “Hast du das hier alles selbst besorgt?”, fragte Joey neugierig. Offensichtlich brachte Kaiba das an den Rand seiner Selbstbeherrschung, und Joey sah ihm an, dass er nur mit sehr viel Mühe ein Grinsen unterdrücken konnte. “Hündchen, kannst du dir vorstellen, wie oft ich in meinem Leben wohl schon in einem Blumenladen oder einem Laden für Partyartikel gestanden habe?” Joey hatte nicht so viel Selbstbeherrschung und musste breit grinsen. “Wahrscheinlich ungefähr so oft wie ich im Matheunterricht aufgepasst habe.” Natürlich wusste Joey, dass er das alles delegiert hatte, aber er war derjenige, der sich Gedanken gemacht hatte, was es zu besorgen galt, und allein das zählte für ihn. “Joey, gleich ist es Mitternacht!”, rief Téa ihm zu, und lachend ging er zur Gruppe zurück, auch wenn er eigentlich lieber bei Kaiba geblieben wäre, der sich nicht von der Stelle rührte. Als die Uhr Mitternacht schlug und seinen Geburtstag nun offiziell einläutete, holte jeder seiner Freunde die Konfettikanonen raus und übergoss den Blonden mit Millionen von bunten Papierstücken, sodass er davon völlig übersät war. Er kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus, als einer nach dem anderen ihm gratulierte. Eine Torte wurde reingefahren, sogar mit einer Kerze obendrauf. Joey überlegte kurz, was er sich wünschen sollte, dann fiel ihm etwas ein und er pustete die Kerze aus. Er war gespannt, ob sein Wunsch noch heute Abend in Erfüllung gehen würde… Jeder von seinen Freunden hatte sogar Geschenke mitgebracht. “Leute, das wäre echt nicht nötig gewesen”, gab er zu verstehen, aber seine Freunde und Mokuba widersprachen vehement. Sie überreichten ihm Duel Masters Karten, Kino-Gutscheine und vieles weiteres, und eine nicht zu zählende Anzahl an Glückwunschkarten. Er war überrascht, als er sah, dass Kaiba auf ihn zukam. Mokuba bot an, ihm die Geschenke kurz abzunehmen, als Kaiba ihm ein kleines Päckchen in beide Hände legte. Dabei berührten sich ihre Finger für eine Millisekunde und schickten einen elektrisierten Impuls durch Joeys gesamten Körper. Vorsichtig öffnete er das kleine Päckchen - ein Schlüsselanhänger mit einem Flugzeug dran. Er betrachtete es von allen Seiten, konnte sich aber nicht so richtig einen Reim drauf machen. Dann sah er, dass ein kleiner Brief beigelegt war. Mokuba nahm ihm auch den Schlüsselanhänger ab, damit er sich in Ruhe dem Brief widmen konnte. Er wandte sich ein bisschen von seinen Freunden ab, um ihn ganz für sich zu haben. ‘Joey, ich sitze jetzt seit ungefähr zwei Stunden an diesem Brief, habe ihn etliche Male neu geschrieben und habe dann doch wieder alles verworfen. Ich will dir eigentlich nur alles Gute zu deinem Geburtstag wünschen, aber finde nicht die richtigen Worte, um das auch gebührend zu machen. Einfach nur Happy Birthday - wird das dir überhaupt gerecht? Ich denke nicht. Du hast mir gerade dieses wunderschöne Bild von dir vor der KaibaCorp geschickt, und alles in mir will dich hier hoch holen, dich gegen die Wand drücken und dich küssen. Aber ich habe es mir nunmal zum Ziel gemacht, dir eine schöne Feier zu organisieren, und auch wenn Mokuba sehr hilfreich ist, das meiste übernehme dann doch ich. Mein Hündchen, ich habe dir versprochen, dir so viel Glück zu geben wie du ertragen kannst, und ich hoffe, dafür ist noch Platz. Du wirst dein Geschenk mittlerweile ausgepackt haben. Und nein, ich schenke dir keinen Privatjet - jedenfalls noch nicht. Willst du einen? Ich komme schon wieder vom Thema ab und habe keine Lust, schon wieder neu anzufangen. Was ich eigentlich sagen wollte: Das Geschenk, das ich dir mache, wird dir hoffentlich gut gefallen. Ich schenke dir eine Reise in die USA, zu deiner Mum und deiner Schwester. Du kannst mitnehmen, so viele und wen du willst, und auch wenn ich mir wünschte, du würdest mich auswählen, so liegt die Entscheidung einzig bei dir. Happy Birthday, Joey. Ich weiß, dass ich vermutlich gerade wie ein totaler Idiot neben dir stehe und dich dabei beobachte, wie du diesen Brief liest. Ich werde sicherlich wieder eine neutrale Miene machen, damit der ‘Kindergarten’ nicht irgendwelche dummen Bemerkungen macht. Deshalb, wenn du das hier liest, stell dir vor, wie ich deine Hand nehme, meine andere Hand deine Wange berührt und ich dich küsse. Seto’ Joey musste atmen. Atmen! Er konnte nicht glauben, was er da gerade gelesen hatte. Hatte das wirklich der Typ geschrieben, der da gerade neben ihm stand und absolut unbeteiligt wirkte? Das war nicht nur ein Geschenk, das war eine Offenbarung. Er wollte es wieder und wieder lesen. Wie dumm war Kaiba zu glauben, dass er ihn nicht mitnehmen würde? Wenn er sich für eine Person im gesamten Universum entscheiden müsste, er würde ihn wählen, ihn und immer wieder ihn. Oh Gott, er hatte mit seinem Vornamen unterschrieben. Joey wurde heiß und er hatte Angst, gleich in Ohnmacht zu fallen. Wann war er eigentlich zu so einem Schwächling geworden? “Hey, Joey, zeig mal, was steht denn da?”, rief ihm Téa zu, aber er faltete das Blatt schnell und steckte es sich in seine Hosentasche. Niemals würde er zulassen, dass jemand anderes das in die Hände bekam. Das war für ihn, und nur für ihn bestimmt. “Hmpf, und er hat dir jetzt nur diesen Schlüsselanhänger geschenkt? Ziemlich langweilig, wenn du mich fragst”, sagte Tristan, und Joey hatte schon wieder das außergewöhnliche Bedürfnis, ihn umzubringen. Er nahm Mokuba das kleine Flugzeug wieder ab und drehte es hin und her, betrachtete es nochmal von allen Seiten, und dann nochmal. “Er hat mir eine Reise zu meiner Familie geschenkt”, murmelte Joey. Sie sollten es wissen, sie sollten wissen, was für ein besonderes Geschenk Kaiba ihm gerade gemacht hatte, auch wenn er nicht wusste, ob er nun den Brief oder doch die Reise einzigartiger finden sollte. “Was? In die USA?”, fragte Téa, und die Münder aller seiner Freunde standen weit geöffnet. Joey konnte nur nicken, und Mokubas wissendes Lächeln sagte ihm, dass er da auch seine Finger mit im Spiel hatte. “Wow, Kaiba, das ist aber ein richtig schönes Geschenk”, sagte Yugi, und Kaiba zog laut schnaufend ab. Irgendwann würde Joey herausfinden wollen, warum genau Kaiba es so wichtig war, diese Fassade um jeden Preis aufrecht erhalten wollte, aber dafür war hier weder der richtige Ort noch war es die richtige Zeit. Joey erwachte wieder aus der Art Trance, die er gerade durchlebt hatte. “Leute, vielen Dank für die wunderbaren Geschenke und die Glückwünsche, ihr seid die Besten!” Nachdem er jeden einzeln gedrückt hatte, blieb nur noch Kaiba übrig, der sich wieder an die Bar gesetzt hatte. Wie konnte dieser Kerl so ruhig wirken, wo in Joey doch gerade ein riesiger Sturm tobte? Er ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb aber in sicherer Entfernung, er konnte sonst für gar nichts garantieren. Er versuchte, alles, was ihm auf dem Herzen lag, in einen einzigen Blick zu packen. Seine Freunde waren die Besten, aber er war der Allerbeste. Hoffentlich verstand er, was er ihm mitteilen wollte. Bevor er sich wieder zu seinen Freunden umdrehte, konnte er Sehnsucht und Begierde in Kaibas Augen aufblitzen sehen, und er fühlte absolut genauso. Noch nie hatte er das Ende einer Party so sehr herbeigesehnt wie in diesem Augenblick. Es war ungefähr zwei Uhr nachts, als die Ersten anfingen, sich zu verabschieden. Sie hatten nach Mitternacht noch ausgelassen getanzt, und Joeys ganzer Körper prickelte von all den Endorphinen und Kaibas durchschlagenden Blicken, die ihn nicht mal für eine Sekunde aus den Augen ließen. Zuerst verabschiedete sich Yugi, ein wenig später dann auch Téa und Tristan, und anschließend machte auch Mokuba Anstalten zu gehen. “Mokuba”, sagte Joey, als der Kleine gerade gehen wollte. “Ich wollte mich noch bei dir bedanken. Ich bin sicher, du hast deinem Bruder bei dieser Party sehr geholfen, und es war einfach fantastisch!” Mokuba lächelte ihn an. “Hab’ ich gern gemacht, Joey. Und jetzt sprecht verdammt noch mal miteinander.” Diese letzten Worte sagte Mokuba laut lachend, dann winkte er ihnen zu und war verschwunden. Plötzlich war es ruhig im Raum. Der DJ und der Barmann waren gegangen und es waren nur noch Kaiba und er im Festsaal. Joey, der noch mit dem Rücken zu Kaiba stand, drehte sich um, und jeder Schritt, den er in Kaibas Richtung unternahm, hallte in dem nun so leeren Festsaal wider, bis er direkt vor ihm stand. Dann wusste er nicht, was er tun sollte. Er war so voller Gefühle und fand doch keine richtige Form, um diesen Ausdruck zu verleihen. Aber er musste es versuchen. “Danke.” Seine Worte waren kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Kaiba saß noch immer auf dem Hochstuhl, den er ein wenig nach unten gefahren hatte, damit beide auf Augenhöhe waren. Begierde flackerte erneut in seinen Augen auf. Er streckte die Arme in Joeys Richtung aus, die er nur zu gern annahm. Dann zog ihn Kaiba zwischen seine Beine und Joeys Herz machte einen Satz. Joey sah dem Braunhaarigen intensiv in die Augen und konnte dem Drang, ihn endlich zu berühren, nicht mehr widerstehen. Seine Hände legten sich an Kaibas Wangen, die zu glühen schienen, während Kaibas Hände sich an Joeys Hüften legten. “Du bist unglaublich, weißt du das?”, sagte Joey und strich seinem Drachen endlich diese verdammte Strähne aus der Stirn. Kaibas Mund war leicht geöffnet, und Joey fuhr mit dem Daumen drüber, was dem größeren sogleich ein kehliges Stöhnen entlockte. Dann fing er an, an Joeys Daumen zu knabbern, und Joey hatte schon wieder das Gefühl, sich nicht mehr länger auf den Beinen halten zu können, weil das Adrenalin vollständig Besitz von seinem Körper ergriff. “Gott, ich hab’ dich so vermisst”, flüsterte Joey in Kaibas Ohr, der daraufhin laut Luft ausatmete. “Und ich dich erst”, antwortete Kaiba, der nun wohl endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. “Kannst du dir vorstellen, wie schwer es für mich war, dich so viele Tage quasi nur auf Fotos zu sehen? Ich hab’ mir immer wieder vorgestellt, du wärst bei mir, und was ich dann mit dir gemacht hätte.” Joey musste hart schlucken. “Ja? Erzähl mir, was du dir mit mir vorgestellt hast.” Joey wollte, dass sein Drache weiter redete. Stattdessen zog er ihn an sich und küsste ihn innig, und Joey konnte die Hitze in seinem Körper nicht mehr kontrollieren. Immer wieder stöhnte er in den Kuss hinein. Kaibas Hände wanderten unter sein Shirt, und seine kühlen Finger brannten auf seinem Rücken. Dann löste Kaiba den leidenschaftlichen Kuss und fing an, Joeys Hals zu küssen, aber der Blonde wollte ihn unbedingt reden hören, sagen hören, was er sich vorgestellt hatte, als er nicht da war. “Was hast du dir vorgestellt, als du im Büro warst? Als ich dir geschrieben habe und dir das Foto vor der KaibaCorp geschickt habe?”, fragte Joey mit erstickter Stimme. Kaiba ließ von seinem Hals ab und wanderte mit seinen Lippen zu seinem Ohr, an dem er ein wenig knabberte, bevor er sagte: “So vieles, Joey, so vieles. Wie viel willst du wissen?” Das war offensichtlich eine ernst gemeinte Frage. Ja, wie viel wollte Joey wissen? Er hielt es nicht mehr aus, er brauchte alles, sonst würde er platzen. “Alles, mein Drache, alles. Gib mir alles.” Mit tiefer Stimme stöhnte Kaiba auf, als er begann zu erzählen. “Ich hab’ mir vorgestellt, wie du in mein Büro kommst und hinter dir die Tür abschließt. Dann kommst du mit langsamen Schritten auf mich zu. Ich komme dir entgegen und drücke dich gegen die Wand, und dann küsse ich dich, wie ich dich noch nie geküsst habe.” “Oh, ja, Gott… mehr…”, bettelte Joey. In dem Moment stand Kaiba auf, umfasste ihn und hob ihn hoch, und zeitgleich umschloss Joey ihn mit seinen Beinen und schlang seine Arme um seinen Nacken. Während Kaiba ihn trug, küsste Joey ihn innig. Dann drückte Kaiba ihn kraftvoll gegen die Wand. “Dann hab ich dich hochgehoben, so wie jetzt”, erzählte er weiter, und Joeys Stöhnen wurde immer lauter. Selbst, wenn er wollte, könnte er sich jetzt nicht in Zurückhaltung üben. Alles, was Kaiba sagte, heizte ihm nur noch mehr ein, und er war gierig, wollte alles haben, was der Größere zu geben bereit war. “Und dann?” Eisblaue Augen trafen auf goldbraune, und ihre beiden Münder vereinten sich erneut zu einem hitzigen Zungengefecht. Joey knabberte leicht an Kaibas Unterlippe und brachte ihn damit fast um den Verstand. “Und dann habe ich dich an den Rand des Wahnsinns gebracht. Du hast immer wieder meinen Namen gesagt, erst leise, und am Ende hast du ihn geschrien.” “Das ist so heiß, Kaiba.” Der Braunhaarige ließ von dem Hals des Blonden ab und sah ihm wieder begierig in die Augen. “Sag ihn, Joey, sag meinen Namen.” Das war keine Bitte, das war ein Befehl. “Kaiba…”, stöhnte Joey, was ihm ausschließlich ein diabolisches Lachen einbrachte. Kaiba war ganz nah an seinem Ohr, und Joey konnte seinen heißen Atem überall spüren, als er flüsterte: “Du weißt, dass ich den nicht gemeint habe, Joey.” “Seto…” Das erste Mal seinen Vornamen zu sagen, fühlte sich irgendwie schmutzig an, und es erregte ihn nur noch mehr. “Lauter, Joey”, befahl er, und sein dominanter Tonfall machte Joey so an. Joey stöhnte laut auf. “Seto”, rief er noch lauter, und jeder im Raum hätte es gehört, wenn noch jemand hier gewesen wäre. Es sah so aus, als würde Joeys Wunsch von vorhin heute tatsächlich in Erfüllung gehen... ~~~~ Seto hatte das Gefühl, gleich zu explodieren. Alles an ihm wollte Joey, jede seiner Berührungen brannte sich in seine Haut ein und hinterließ eine heiße Spur. Er schmeckte so gut, und wie er immer wieder seinen Namen sagte, machte ihn verdammt an. Er war süchtig nach seinem Hündchen und verlor sich in der Leidenschaft ihrer Körper. “Aaah… Seto… bitte”, flehte ihn sein Hündchen an. Ja, genauso wollte er ihn haben. “Sag mir, zu wem du gehörst, Joey”, sagte er mit bestimmendem Ton. “Dir… Seto… ich gehöre dir, nur dir”, stöhnte der Blonde an sein Ohr, und er konnte sich kaum noch zurückhalten. “Was willst du, Joey?” “Dich. Bei mir, auf mir, an mir, in mir. Ich will dich spüren, überall. Bitte, Seto, ich kann nicht länger warten. Bitte.” Seto würde ihm diesen Wunsch nur zu gern erfüllen. Er ließ für einen Moment ab von ihm, woraufhin sein Hündchen winseln musste. Er beugte sich daher noch mal ganz nah an ihn dran, um in sein Ohr zu flüstern: “Wenn du glaubst, ich lass’ dich diese Nacht auch nur eine Sekunde allein, hast du dich geschnitten.” Joey wurde ungeduldig, das merkte er sofort. Kaiba hob sein Kinn hoch, und die Intensität in Joeys Augen war atemberaubend. “Wir müssen irgendwie in mein Apartment kommen. Glaubst du, du schaffst das?” Atemlos schüttelte Joey den Kopf und Seto musste lachen. Erneut nahm er sein Kinn zwischen seine Finger, dann sagte er verlangend: “Du musst. Hast du mich verstanden?” Joey nickte energisch mit dem Kopf, und Seto wurde das Gefühl nicht los, dass ihn seine Dominanz anmachte. Interessant, wie sich die Dinge wandeln konnten. Seto öffnete die Tür und schaute nach, ob die Luft rein war. Dann nickte er Joey zu. “Okay, hier lang.” Er konnte sein Hündchen laut hecheln hören. Aber es waren nur noch ein paar Meter… Endlich an seiner Tür angekommen, holte er seine Schlüsselkarte raus und bugsierte den Blonden hindurch. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss, sein Atem ging schnell, und für eine Sekunde sahen sie sich nur an. Dann stürzten sie aufeinander zu und küssten sich innig. Kaiba befreite Joey von seinem mehr als lästigen T-Shirt, und kurz darauf ließ er auch sein eigenes Hemd von seinem Körper verschwinden, um gleiche Bedingungen für alle zu schaffen. Joeys Hände glitten gierig über seinen nun nackten Oberkörper. “Du bist so heiß, Seto. Schon an dem Abend von dem Konzert konnte ich meine Finger nur mit Mühe von dir halten, weißt du das?” “Oh, ja, das hab’ ich gemerkt, aber ganz geschafft hast du’s nicht, oder, Hündchen?” “Wie auch? Du bist so wunderschön, und ich will dich überall berühren.” Der Blonde schaute ihm hungrig in die Augen, als seine Finger langsam seinen Oberkörper entlang wanderten. Der Kleinere machte ihn fertig, und jede Berührung löste in seinem Körper eine hitzige Explosion aus. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Er wollte Joey, und er wollte ihn ganz. “Bist du sicher, dass du das willst, Joey? Noch kann ich aufhören, aber es wird immer schwerer für mich, dich nicht einfach aufs Bett zu werfen.” Joey legte die Finger an Setos Hosenbund und begann, zusammen mit ihm, rückwärts zu gehen, langsam in Richtung Bett. Nein, er würde nicht aufhören wollen, und das entlockte Seto ein wohliges Seufzen. Als sie am Bett ankamen, sagte Joey: “Ich gehöre ganz dir, Seto. Zeig mir, was es heißt, dir zu gehören.” Seto lächelte - und wie er ihm das zeigen würde. ~~~~ Für einen Moment herrschte Stille. Joey konnte nicht glauben, dass sie das gerade gemacht hatten. Das war so heiß gewesen und er wusste jetzt schon, dass er davon nie genug kriegen würde. Seto legte seinen Kopf auf Joeys Bauch. Selbst wenn sie wollten, sie müssten jetzt erst mal wieder zu Atem kommen. Joey fand zuerst die Kraft zu sprechen: “Wahnsinn, das war… atemberaubend… so gut… du musst Übung darin haben, das war ja nicht normal.” Noch immer schwer atmend, stützte sich Seto auf einem Ellenbogen auf und sah Joey an. “Ob du’s mir glaubst oder nicht, ich hatte bisher kein anderes Übungsobjekt. Und ich hätte mir kein Besseres für das erste Mal wünschen können.” Joey wurde überwältigt von seinen Gefühlen. Er war noch immer so berauscht und zitterte am ganzen Körper. Er lehnte sich ein wenig vor, um Seto küssen zu können, dann sagte er: “Versprich mir, dass es nicht die letzte Übung sein wird. Mit mir, meine ich. Und keine Übung mit anderen! Ach, du weißt was ich meine.” Setos herzliches Lachen war ansteckend. Er fühlte so viel Wärme in sich. “Versprochen”, sagte Seto und küsste ihn zärtlich auf die Stirn. Als er aufstehen wollte, merkte er die Nachwirkungen dessen, was sie gerade gemacht hatten. “Na, haben wir ein paar Schwierigkeiten, Hündchen?” Auf diese Stichelei würde er sich nicht einlassen - klar, Seto hatte recht, aber diese Genugtuung würde er ihm nicht geben. Frech grinsend und hoch erhobenen Hauptes verschwand er im Bad, nur um wenige Minuten später gesäubert wieder herauszukommen. Joey beobachtete Seto, der offensichtlich gerade in den letzten Zügen war, die Bettwäsche zu wechseln. “Wusste gar nicht, dass du weißt, wie man Bettlaken wechselt, Seto. Ich dachte, du hast für jeden Scheiß Personal.” Grinsend trat er an den Größeren ran und umarmte ihn von hinten. Ihre Haut hatte sich abgekühlt und war übergegangen zu einer wohligen Wärme. Seto drehte sich um und nahm Joeys Gesicht in beide Hände, bevor er sagte: “Hab’ ich normalerweise auch, aber möchtest du wirklich, dass ich jetzt jemanden vom Personal hole?” Setos Grinsen war auch noch in dem folgenden Kuss zu spüren. Joey sammelte seine Klamotten auf und zog sich Shorts und Shirt an, Seto tat es ihm gleich. Dann machte sich eine Unsicherheit in Joey breit. Seto schien das sofort bemerken und fragte ihn: “Alles in Ordnung, mein Hündchen?” Der umarmte Seto und nahm mit einem tiefen Atemzug seinen ganzen Duft in sich auf. Für einen kurzen Moment schwieg er, dann fragte er: “Soll ich gehen?” Seto löste die Umarmung und hob Joeys Kopf an, sodass sie sich in die Augen sehen mussten. “Auf gar keinen Fall, hast du verstanden?” Joey musste grinsen ob des grimmigen Gesichtsausdruck des Großen, und erwiderte: “Zu Befehl, Mr. Kaiba, Sir!” Das entlockte dem Braunhaarigen ein wohliges Lachen. “Daran könnte ich mich auch gewöhnen, wenn ich ehrlich bin. Aber nun ab ins Bett, bevor ich nochmal über die herfalle.” Und nachdem auch Seto noch mal kurz im Bad verschwunden war, stiegen beide unter die frisch bezogene Bettdecke, verschlungen Arme und Beine miteinander, und schliefen das erste Mal seit Monaten friedlich ein, mit dem absoluten Wissen, dass sie genau da waren, wo sie sein wollten. Kapitel 12: Rescue me... from misunderstandings ----------------------------------------------- Joey wurde von den Sonnenstrahlen wach, die ihn in der Nase kitzelten. Im ersten Moment musste er sich erstmal orientieren - wo war er hier? Dann hörte er plötzlich ein Geräusch neben sich - Seto, der sich auf die Seite drehte, sodass Joey nun sein Gesicht sehen konnte, die Augen aber noch immer geschlossen. Und plötzlich erinnerte sich Joey an alles, an jedes einzelne Detail.   Das war wohl der beste Start in seinen Geburtstag, den er jemals hatte. Schon bei dem Gedanken an all die Worte und Berührungen wurde ihm wieder heiß. Er legte sich ebenfalls auf die Seite und betrachtete den Braunhaarigen, der neben ihm noch seelenruhig schlief. Alles Arrogante oder Gebieterische war aus seinen Gesichtszügen verschwunden und machte einer Sanftheit Platz, die Joey einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Sein Mund war leicht geöffnet, und Joey konnte nicht anders, als zu denken, dass sein Drache einfach bezaubernd aussah. Und wunderschön. Und sexy. Ihm würden vermutlich noch eine Million andere Adjektive einfallen, aber keines wäre gut genug, um auch nur im Ansatz zu beschreiben, was er sah, wenn er ihn beobachtete.   Joey seufzte leise auf, ohne den Blick von dem Größeren zu lösen. Der Abend war wunderschön gewesen, und er rief sich noch mal den atemberaubenden Brief ins Gedächtnis, den Seto ihm geschrieben hatte. Er war sich sicher, Seto würde noch immer denken, der Brief war nicht so perfekt wie er ihn hatte schreiben wollen, aber für Joey war er einfach alles. Und noch viel mehr. Es war Ausdruck dessen, wie sehr sich Seto ins Zeug legte. Joey würde das niemals alles zurückgeben können, niemals.   Er schaute Seto an, dem in diesem Moment eine Strähne ins Gesicht fiel, die er sich, noch immer schlafend, selbst aus der Stirn strich. Er wollte ihn so gern berühren, aber er schlief so friedlich, also beherrschte er sich.   Joey seufzte auf. Es war alles ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Plötzlich wurde er von einem mächtigen Gedankenstrudel erfasst, von einem ganz bestimmten Gedanken gefangen genommen, der leider immer wieder auftauchte. Ja, alles, was sie getan hatten, war umwerfend gewesen. Aber je schöner es mit Seto wurde - und er konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass es zur letzten Nacht noch eine Steigerung gäbe - desto mehr besorgte ihn der Gedanke, das alles könnte fake sein. Alles nur Teil des Deals, des Plans, sich abzusichern, sollte Joey an seinem eigenen festhalten wollen.   Joey wollte so gern glauben, dass Seto sich verändert hatte. Aber stimmte das denn? Konnte sich ein Mensch in so kurzer Zeit um 180 Grad drehen? Oder steckte all das eigentlich schon in ihm, nur sah er es vorher einfach nicht? Seto hatte keine Probleme damit, in der Öffentlichkeit eine Fassade aufzusetzen, und Joey genoss es, dass nur er die andere Seite des Seto Kaiba kannte, aber was, wenn auch diese Seite, die er glaubte zu kennen, nur Fassade war? Wenn jemand eine harte Maske für die Öffentlichkeit erschaffen konnte, konnte derselbe Mensch nicht mit Leichtigkeit auch eine weichere, sanftere Version von sich selbst kreieren, um andere Leute zu täuschen? Seto war immerhin bekannt dafür, alles zu tun, um seine Ziele zu erreichen. Aber würde er wirklich so skrupellos sein und Joey so etwas antun?   Es war noch früh am Morgen und Joey war schon total fertig mit den Nerven. Er war hin- und hergerissen, und am Ende stand die einfache Frage im Raum, ob das hier alles echt war oder doch Teil einer großen Lüge, eines großen Kaiba-Plans, und er tappte ihm ahnungslos in die Falle. Joey wollte einfach nur glücklich sein, das hier genießen, und er versuchte es mit aller Macht, aber die Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass er nicht wirklich sicher sein konnte, dass Seto es ernst mit ihm meinte, wurde von Woche zu Woche lauter. War es am Anfang nur ein dezentes Flüstern, so hatte Joey das Gefühl, sie schrie ihm jetzt direkt ins Ohr.   Als er wieder annähernd in der Realität ankam, sah er zwei strahlend blaue Augen, die ihn sanft ansahen, und schon wieder spürte ein Kribbeln in seiner Magengegend. Konnte jemand, der so wunderschön war, so schreckliche Dinge tun? Aber das war Seto Kaiba, der könnte dich mich einem einzigen Wort vernichten - und Joey wusste, Seto brauchte gar nichts sagen, um ihn den Abgrund hinunter zu schubsen. Und das würde Joey nicht ertragen.   Seto streckte den Arm nach ihm aus, und Joey versteifte sich. Er würde diese Gedanken jetzt erst mal für sich behalten, musste sie sortieren und die nächsten Tage abwarten. Er würde Seto genau analysieren, er wollte herausfinden, was das hier war. Und dann die Konsequenzen daraus ziehen.   ~~~~   Diese goldbraunen Augen machten ihn fertig. Seto war gerade erst wach geworden und hatte schon jetzt den unbändigen Drang, sein Hündchen zu berühren. Die letzte Nacht war mehr, als er sich je zu träumen gewagt hatte. Dabei hatte er von… so einer Art ‘Beziehung’ noch nie geträumt. Er war allein sehr gut klar gekommen, und dann kam der Blonde und hatte seine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Jede einzelne Pore verzehrte sich nach ihm und er konnte an nichts anderes mehr denken. Er wusste, wenn er bei ihm war, war alles gut, und auch wenn sie in der Öffentlichkeit die Fassade wahren mussten - zu ihrer beider Schutz - so hatte er das Gefühl, konnten sie einfach sie selbst sein, wenn sie zusammen waren.   Er sah die kleine Narbe am linken Nasenflügel seines Hündchens und musste seine Wut runterschlucken. Der Kleinere hatte schon so viel Schlimmes im Leben erfahren, also musste er ihm zeigen, dass er bei ihm sicher war. Er streckte die Hand aus, um Joey an der Wange zu berühren - und dieser zuckte ein wenig zurück. Was…   “Hündchen, was ist los?”, flüsterte er ihm sanft zu. Hatte er was falsch gemacht? Hatte er ihm letzte Nacht doch irgendwie weh getan? Er sah Joey in die Augen und konnte genau sehen, dass er gerade einen inneren Kampf führte. Er wusste nur nicht, wogegen.   “Guten Morgen. Es ist nichts, ich war nur in Gedanken und hab’ mich erschreckt.” Das war eine Lüge, das erkannte Seto sofort. Aber warum log er?   “Hab’ ich was falsch gemacht, Joey? Hab’ ich dir weh getan?”, sprach er seine Gedanken nun laut aus. Was war nur los? Gestern Abend und auch in der Nacht war er so ausgelassen gewesen, und plötzlich war alle Freude, alles Leben aus seinem Gesicht verschwunden. Der Glanz aus seinen Augen war mattem Braun gewichen.   Der Kleinere schüttelte den Kopf. “Nein, Seto, es ist wirklich alles okay. Ich bin vielleicht nur ein bisschen müde.” Joey berührte Setos Hand, die noch immer an seiner Wange lag, und sofort war die Hitze wieder da. Er wollte ihn näher an sich ziehen, aber der Blonde ging auf Distanz.   “Hey, ich muss heute noch ein bisschen was erledigen”, sagte Joey, zog die Bettdecke von sich und fing an, sich anzuziehen. Er machte Anstalten zu gehen, da stieg Seto aus dem Bett und umarmte ihn von hinten. “Ich weiß nicht, was los ist, mein Hündchen, aber wenn du reden willst, weißt du, wo du mich findest.” Er drehte ihn um und sah in schmerzvolle Augen. Hatte er ihm das angetan? Was nur war passiert? Joey zog ihn zu sich runter, um ihm einen kurzen Kuss auf den Mund zu geben, es war nur ein Hauch einer Berührung. Dann lief er los und war nur Sekunden später verschwunden. Was war hier gerade passiert?   Er bekam ihn auch den restlichen Tag nicht zu Gesicht, außer beim Essen, wo er sehr damit beschäftigt war, Mokuba in lange Gespräche zu verwickeln und Seto so auf Distanz zu halten. Er wusste nicht, warum Joey Abstand brauchte oder was sich plötzlich verändert hatte, aber er würde ihm Zeit geben, wenn es das war, was er wollte, auch wenn es ihm unheimlich schwer fiel. Sein Verlangen nach ihm wurde mit jeder Sekunde, die verstrich, größer, und damit meinte er gar nicht mal das körperliche Verlangen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie gefühlt, was er für diesen blonden Mann fühlte, noch nie solch tiefe Gespräche geführt, wie sie sie führten. Er wollte in jeder Minute seines Lebens einfach nur bei ihm sein, auch wenn er wusste, dass es nicht ging. Deswegen hoffte er, sein Hündchen würde wieder einen Schritt auf ihn zugehen, aber vor allem erklären, was er falsch gemacht hatte. Er würde alles tun, um das auszubügeln, wenn er nur wüsste, was es war.   Am nächsten Tag fuhren sie schweigend zusammen zur Schule. Seto wollte ihn nicht bedrängen und ließ ihm deshalb den Abstand, den er brauchte. Joey sah nur aus dem Fenster, aber Seto konnte seine Blicke nicht von ihm lassen.   “Hey, Joey!”, rief ihm Taylor zu, als sie aus dem Wagen stiegen, und Seto war schon wieder mehr als genervt von diesem ‘Kindergarten’. Der Braunhaarige war verwirrt und verstimmt, dieses dämliche Herumgeblödel von den Leuten, die Joey seine Freunde nannte, konnte er gerade wirklich nicht haben. Immerhin fiel es ihm jetzt nicht schwer, seinen üblichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.   “Na, was hast du in deiner Geburtstagsnacht noch gemacht?”, fragte Yugi ihn in seiner typisch jugendlichen Unschuld, was Joeys Gesicht rot wie eine Tomate anlaufen ließ. Seto musste sich enorm zusammenreißen, bei seinem Anblick nicht lauthals loszulachen.    “Hab’ nur geschlafen, nix Besonderes”, hörte er den Blonden sagen. Auch wenn Seto absolut verstehen konnte, warum Joey das sagte, ging den dämlichen ‘Kindergarten’ ja auch überhaupt nichts an - es verpasste ihm einen Stich. Vielleicht war es für Joey wirklich nichts Besonderes gewesen? Innerlich wünschte er sich, dass er seinen Freunden da einen Bären aufgebunden hatte, dass es für Joey besonders gewesen war - für ihn war es das auf jeden Fall. Er hatte sich nie zu irgendjemandem hingezogen gefühlt, weder Mann noch Frau, und war immer davon ausgegangen, asexuell zu sein. Und dann kam Joey. Es brauchte nur einen Augenaufschlag von ihm und er war ihm verfallen.   Damit ließ er den ‘Kindergarten’ hinter sich und setzte seine übliche, teilnahmslose Miene auf. Joey wollte offensichtlich Distanz, und Seto hatte nicht das Gefühl, hier gerade viel ausrichten zu können. Auch wenn er nichts lieber tun würde als genau das.   ~~~~   Joey versuchte, die folgenden Tage zu nutzen, um Ordnung in sein Gefühlschaos zu bringen, aber er bemerkte, dass sich auch Seto zurückzog. War das die Bestätigung für seine Theorie, dass das alles nur ein Spiel für ihn war? Auf der anderen Seite sah er seine Blicke, im Wagen neben ihm, beim Frühstück, in der Kantine der Schule. Noch immer zog er seine ganze Aufmerksamkeit an. Joey verschanzte sich hinter Arbeit, legte Überstunden im Café ein, die er niemals bezahlt bekommen würde, oder ging an den Abenden einfach durch die Stadt. Aber nichts davon half auch nur im Entferntesten. Er wurde aus Seto einfach nicht schlau. Und er vermisste ihn, so sehr, dass es ihm die Luft zum Atmen nahm.   Es war ein Dienstagabend mitten im Februar und es hatte wieder angefangen zu schneien. Joey stand im Café und war gerade dabei, einige Gäste zu bedienen, als ihm die weißen Flocken, die vom Himmel rieselten, auffielen, und es erinnerte ihn sehr an Weihnachten, als er mit Seto am Fenster gestanden hatte. Seine Hände fühlten sich damals so warm an, und er konnte sich noch genau daran erinnern, dass er fand, dass er nach Orange roch. Joey sehnte sich nach diesem Moment zurück, als sein Herz so viel höher schlug. Wieso konnte es nicht immer so sein?   Er brauchte ihn. Es war jetzt knapp drei Wochen her seit dieser Nacht, nach der er so abrupt geflüchtet war, und wie viele Wörter sie seitdem gewechselt hatten, konnte man an zwei Händen abzählen. Aber Joey konnte nicht mehr. Je mehr er versuchte, sich von ihm fernzuhalten, desto mehr musste er an ihn denken. Überall gab es etwas, das ihn an den Braunhaarigen erinnerte - sei es auch nur ein Geruch. Er musste mit ihm reden, aber er wusste nicht, wie. Konnte er es denn riskieren? Immerhin konnte Seto doch einfach alles abstreiten und ihn dazu bringen, weitere Lügenmärchen zu glauben. Wenn es diese denn gab. Das war wie verhext!   Er musste es auf einen Versuch ankommen lassen. Er würde es nicht noch einen Tag ohne ihn schaffen, er musste einfach seine Stimme hören. Er ging in die Küche und holte sein Handy raus. Was sollte er ihm schreiben? Minutenlang überlegte er hin und her. Ihm wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen.   Er seufzte. So würde das nichts werden. Er durfte nicht so viel darüber nachdenken, welche Worte er wählen sollte, aber er wusste, wenn er jetzt eine Nachricht tippte, würde er sie wieder und wieder und dann wieder ändern, um am Ende vermutlich gar nichts zu schicken. Ob Seto das mit seinem Geburtstagsbrief auch so ergangen war?   Aus einem Impuls heraus drückte er die grüne Hörer-Taste neben Setos Namen und hielt sich das Handy ans Ohr. Mit klopfendem Herzen wartete er ab, und als er schon dachte, dass er vermutlich beschäftigt war und nicht rangehen würde, hörte er seine Stimme, und es fühlte sich an wie eine himmlische Erlösung. Er hatte sie so vermisst.   “Joey?”   Er signalisierte einem Kollegen, dass er mal kurz draußen sein würde, dann trat er vor die Tür und ließ den Schnee auf sich niederieseln, bevor er antwortete.   “Hey…” Mehr bekam er nicht raus. Er wusste noch immer nicht, was er tun, was er sagen sollte. Warum war das plötzlich so kompliziert zwischen ihnen? Es war doch immer irgendwie einfach gewesen, selbst als sie den ganzen Tag nur gestritten hatten.   “Ich hab’ das Gefühl, deine Stimme Jahre nicht mehr gehört zu haben”, hörte er Seto am anderen Ende sagen und traf damit präzise die Gedanken, die auch Joey hatte. “Wo bist du? Ist alles in Ordnung?”   “Ja, ich… ich stehe vor dem Café. Können wir uns sehen?”   “Natürlich, unbedingt. Ich bin noch in der Firma und befürchte, das wird ein langer Abend. Macht es dir was aus, herzukommen? Ich sage am Empfang Bescheid, dass sie dir die A-Berechtigung geben sollen.”   “Was soll das denn sein?”, fragte Joey verwirrt.   “Das heißt, dass du nicht abgewimmelt wirst, wenn du sagst, dass du zu mir willst und keinen Termin hast.”   “Ah, verstehe, und mit welchem Berechtigungsschein bekommt man einen Termin bei dir? Und wie oft muss man dafür mit dir Sex haben?” Joey musste kichern. Er hatte Setos Stimme so unendlich vermisst, und als er sie jetzt hörte, kamen all die Glücksgefühle zurück, die ihn in den letzten drei Wochen verlassen hatten, trotz all der Zweifel, die er noch immer hatte. Nein, es gab kein Zurück, er konnte sich nicht einfach weiter von ihm abschotten. Wenn er ein Spiel spielte, musste er es wissen, und dann würde er es auch schaffen, sich von ihm zu entfernen. Aber solange die Möglichkeit im Raum stand, dass er es ehrlich meinen könnte, würde er es nicht können. Niemals.   Am anderen Ende der Leitung hörte er ein leises, diabolisches Lachen. “Willst du’s rausfinden?” Oh, er würde nur zu gern, und trotz der eisigen Kälte hier draußen wurde Joey in diesem Moment heiß. Nur Seto hatte die Macht, ihn mit so wenigen Worten so sehr aus dem Konzept zu bringen, dass er sprachlos war.   “Wann kannst du hier sein, mein Hündchen?”, fragte Seto und sein Ton war liebevoll. Er sah zurück ins Café - er hatte die letzten Wochen so viele Überstunden geschrubbt, wenn er jetzt früher gehen wollte, würde ihm das keiner übel nehmen. “Ich mach’ mich sofort auf den Weg.” Mit diesen Worten legte er auf, ging erneut ins Café, um Bescheid zu geben - wie erwartet, kein Problem - und lief schnellen Schrittes in Richtung KaibaCorp.   Als er vor dem imposanten Glasgebäude stand, wurde er plötzlich nervös. Er hatte schon ein Foto von Seto aus seinem Büro bekommen und konnte daher ahnen, dass sein Büro ganz oben war. Wo auch sonst, alles andere würde dem großen Seto Kaiba ja auch nicht gerecht werden. Überheblicher Kotzbrocken. Er musste lachen, als er ihn wie in alten Zeiten in seinen Gedanken beleidigte. Das, gepaart mit ihrer einigermaßen witzigen Unterhaltung vorhin am Telefon, fühlte sich fast ein bisschen nach Normalität an. Außerdem war er sein überheblicher Kotzbrocken, und er hoffte, heute nichts zu erfahren, was daran etwas ändern könnte.   Er betrat die große Eingangshalle und ging auf den Empfang zu, als plötzlich eine blonde Frau auf ihn zutrat. “Mr. Wheeler, guten Abend. Mr. Kaiba erwartet Sie schon. Ich bin eine seiner persönlichen Assistentinnen, Miyako Watanabe. Ich begleite Sie nach oben.”   Joey staunte nicht schlecht. Seto hatte offenbar in Windeseile alles vorbereitet - so viel zu dieser ominösen A-Berechtigung, das hier sah Joey doch eher nach der Ich-hatte-Sex-mit-Seto-Kaiba-Berechtigung aus. Und er fragte lieber nicht, woher sie eigentlich wusste, wie er aussah. Sie führte ihn zu einem ebenfalls gläsernen Fahrstuhl und sie fuhren in den obersten Stock. Um dorthin zu gelangen, musste sie ihre Schlüsselkarte an einen Sensor halten, und Joey konnte nur vermuten, dass nur ausgewählte Personen Zugang zu seinem Stockwerk hatten. Oben angekommen, gingen sie einen langen Flur entlang, bis sie vor einer großen Holztür stehen blieben. “Mr. Kaiba hatte mich gebeten, Sie direkt bis zur Tür zu führen.” In diesem Moment hörte er ein Brüllen aus dem Zimmer. “Wie oft soll ich Ihnen das denn jetzt noch vorkauen, bis Sie es, verdammt noch mal, verstanden haben!” Ms. Watanabe sah ihn mitfühlend an, und mit den Worten “Viel Glück” verabschiedete sie sich.   Joey wusste nicht, was ihn erwarten würde. War Seto nicht allein? Er hatte keine andere Stimme gehört. Also telefonierte er wahrscheinlich? Wäre er wütend, wenn er jetzt reinkommen würde? Aber sie hatten es ja so verabredet…   Joey war schon wieder unheimlich genervt von sich selbst. Er ließ sich viel zu sehr von seinen Gedanken einnehmen. Aber er war hier, um endlich Klarheit zu schaffen. Also nahm er allen Mut zusammen, klopfte an und trat ein.   Der Raum war dunkel, die Schreibtischlampe die einzige Lichtquelle. Er sah Seto, wie er seinen Kopf auf dem Ellenbogen abstützte und energisch den Kopf schüttelte. Dann nahm er Joey wahr, hob seinen Kopf ein bisschen an und sein Blick wurde ein wenig sanfter, nur um direkt danach wieder wütend zu werden.   “Okay, ich sage das jetzt ein allerletztes Mal. Das ist nicht der Preis, den wir ausgehandelt haben. So schwer von Begriff sind doch sonst nicht mal Sie.” Joey war in dem Moment echt froh, dass er da nicht so von Seto in die Mangel genommen wurde. Wobei, nicht mehr, wenn er es sich recht überlegte. Gerade der letzte Satz war eigentlich ein Klassiker, und Joey amüsierte sich darüber, dass er wohl nicht der einzige Mensch in diesem Universum war, der von Seto so angegangen wurde.   Er sah sich ein wenig im Raum um. Hier sah es fast genauso aus wie in Setos Büro Zuhause, vielleicht ein bisschen moderner, und die große Glasfront hinter ihm bot einen fantastischen Ausblick über die Stadt. Die Menschen am Boden krabbelten wie kleine Ameisen durch die Gegend, und Joey wusste, er könnte hier nicht arbeiten, ohne ständig von irgendwas abgelenkt zu werden. Aber das galt ja eigentlich auch so schon, dafür brauchte er keine Glasfassade.   “Habe ich Ihnen nicht gestern gesagt, dass Sie das gefälligst bis heute erledigt haben sollten? Vielleicht sollte ich mir einen neuen Technikchef suchen, wenn Sie zu unfähig sind, auch nur die kleinsten Anweisungen zu befolgen!” Joey lehnte sich, die Arme vor dem Körper verschränkt, seitlich an die Wand und beobachtete Seto grinsend. Der beachtete ihn gar nicht, weil er sich immer mehr in Rage redete, und Joey konnte die Ader an seinem Hals pulsieren sehen.   “Oh, schön, hat denn vielleicht auch irgendwas geklappt, von dem Sie berichten können? Keiner braucht ausführliche Erläuterungen über Ihre dummen Misserfolge!”   Er konnte nicht so genau sagen, was es war, aber irgendwas faszinierte Joey unheimlich daran, wie Seto so sprach. Überhaupt war seine ganze Körpersprache so… dominant. Wenn er ihn da so reden hörte, vergaß Joey total, weswegen er eigentlich hier war. Er konnte sich nur auf diese leidenschaftlich-blauen Augen konzentrieren, die vor Wut aufloderten. Verdammt sexy...   “Was mischen Sie sich denn da jetzt ein? Sie sind Praktikantin, verdammt!” Der Blonde stand noch immer drei Meter weg von Seto, und dennoch war die Hitze des Braunhaarigen durch den gesamten Raum zu spüren, wahrscheinlich sogar noch auf dem Flur. Joey wollte näher ans Feuer, wollte sich verbrennen und komplett einnehmen lassen.  Er ging zu ihm, und als er sich vor ihn auf den Schreibtisch setzte, schaute Seto erstaunt auf. Er setzte sich bewusst nicht vor den Computermonitor, er wollte ja immerhin nicht auch von Seto zugeschnauzt werden. Aber er musste ihm nah sein und wollte diese Augen in voller Aktion erleben.   Seto legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel, die Joey nahm und drückte. Seto sah ihn nur an und rollte mit den Augen. “Was soll das heißen, er steht nicht zur Verfügung? Haben Sie eine Ahnung, mit wem Sie hier reden?”   Oh, wie Joey diesen Tonfall liebte. Er musste ihn jetzt gerade vermutlich mit offenem Mund begaffen und konnte schon froh sein, wenn ihm keine Sabberfäden aus dem Mund liefen. Aber das war einfach so gut, und er wollte mehr, wollte, dass er weiter sprach.   “Hören Sie sich eigentlich gerade selbst zu? Das muss doch selbst in Ihren Ohren lächerlich klingen. Das war absolut perfekt ausgearbeitet, immerhin kam die Idee von mir höchstpersönlich.”   Mehr, mehr… an was anderes konnte Joey nicht denken. Er nahm Setos Hände - er trug ein Headset und hatte daher glücklicherweise beide frei - und zog sie noch ein Stück mehr seine Beine hoch, sodass sie an seiner Hüfte zum Erliegen kamen. Nein, das war nicht genug. Joey stand für einen kurzen Moment auf, nur um im nächsten Moment seine Knie neben ihm auf dem dankenswerterweise sehr breiten Bürostuhl abzulegen und sich auf seinen Schoß zu setzen, das Gesicht nun ganz dicht vor Setos. Seto legte eine Hand auf Joeys Wange und fuhr mit seinem Finger über seine Lippen, die sofort von der Hitze brannten, die die Berührung hinterließ.   “Sie dummer… Idiot…” Seto verhaspelte sich etwas, als Joey ihm, kaum hatte der Braunhaarige weiter gesprochen, in das Ohr stöhnte, das nicht vom Headset verdeckt wurde - denn nur Setos rechtes Ohr wurde von einem Ohrpolster verdeckt, sodass Joey freien Zugang zu seinem linken hatte. Dann nahm er Joeys Kinn in die Hand und sah ihm intensiv in die Augen. Gott, diese Augen machten ihn wahnsinnig. Seto drückte irgendeinen Knopf an seinem Headset, dann sagte er mit heißer, heiserer Stimme zu Joey: “Macht dich das an, Hündchen? Wenn ich so rede?” Setos leises Lächeln auf den Lippen verführte Joey dazu, an dessen Unterlippe zu knabbern. Wenn er ihm antwortete, würde er dann endlich weitermachen?   “Mhm… klingt so, als wenn da jemand nicht wüsste, wie er mit dir sprechen muss. Immerhin bist du Seto Kaiba… Lass dich nicht so behandeln Seto… Mach sie fertig…” Joey zog Seto in einen leidenschaftlichen Kuss, ihre hitzigen Zungen kämpften für einen Moment wild miteinander, doch dann löste er sich von ihm. Er drückte den Knopf, den Seto gerade an seinem Headset gedrückt hatte und zwang ihn damit dazu, weiter zu sprechen - und Joey konnte sehen, und fühlen, wie geil das den Größeren machte. Setos Grinsen nach zu urteilen, würde er Joey den Wunsch gern erfüllen, die Menschen am anderen Ende der Leitung fertig zu machen.   ~~~~   Was passierte hier eigentlich gerade? Sein Hündchen war gekommen, um zu reden, jedenfalls war er bisher davon ausgegangen, und nun würde er ihn vögeln, während er sich mal wieder mit absolut inkompetenten Mitarbeitern rumschlagen musste. Und er würde es zulassen. Er hatte ihn drei Wochen nicht berührt, kaum mit ihm gesprochen, und er brauchte ihn, wollte ihn spüren. Und wenn er seinem Hündchen geben konnte, was er wollte, und dafür auch noch mit Zärtlichkeiten belohnt wurde, dann konnte das ja nur eine Win-Win-Situation sein.   “Sie hören mir jetzt gefälligst mal genau zu! Ihre Probleme interessieren mich einen Scheißdreck!”   Oh Gott, schon spürte er Joeys Zunge überall an seinem Hals. Wie lange würde er das aufrechterhalten können, ohne dass seine Gesprächspartner was mitbekamen? Er versuchte, ein wenig Beherrschung zurück zu gewinnen, aber dann sah er in diese goldenen Augen und war verloren. Joey hatte noch seinen Mantel an, den er ihm hektisch vom Leib riss und in die nächste Ecke warf. Scheiß auf das Ding, wenn das kaputt ging, kaufte er ihm eben einen neuen. Er hatte einen Pullover mit Reißverschluss an, und auch der war schnell weg, wobei er den Reißverschluss langsam ziehen musste, um nicht allzu viele Geräusche zu machen, was Joey offensichtlich noch geiler machte. Seto war verrückt nach ihm, und er würde es ihm jetzt zeigen.   Während seine Hände an Joeys Hosenbund zugange waren, brüllte er ins Telefon - sogar noch lauter, als er es sonst tat, um Joey noch mehr anzuheizen. “Wir sind hier nicht die Wohlfahrt! Wenn Sie mit meinem Geld nicht ordentlich umgehen können, sind Sie gefeuert!” Er konnte sehen, wie sehr Joey sich bemühte, nicht zu laut zu stöhnen, und wenn er an ihre erste gemeinsame Nacht dachte und die Lautstärke, mit der Joey immer wieder seinen Namen gerufen hatte, konnte er sich gut vorstellen, wie viel Selbstbeherrschung ihn das jetzt kosten musste. Seto zog seinem Hündchen das Shirt über den Kopf und konnte nun endlich wieder seinen nackten Oberkörper berühren. In Joeys Blick konnte er eine Bitte lesen, ein Flehen. Er wollte mehr, und oh, Seto wollte es genauso.   Joey nahm Setos rechte Hand und steckte sich jeden Finger einzeln in den Mund, leckte sie genüsslich ab, und Seto wurde fast wahnsinnig vor Hitze. Aber er musste weitermachen, er wollte seinem Hündchen alles geben, was er konnte.   “Gibt es in diesem Call eigentlich auch jemanden mit ein wenig Restintelligenz, oder spreche ich hier nur mit Toastbrot?” In dem Moment nahm er ein lautes Geräusch wahr - Joey hatte Setos Hemd einfach aufgerissen, sodass alle Knöpfe mit dumpfen Geräuschen auf dem Boden landeten. Nichts konnte ihm gerade egaler sein. Er würde auch nackt nach Hause krabbeln, wenn er dafür seinem gierigen Hündchen Befriedigung verschaffen konnte. Wie besessen berührten Joeys Hände jede Stelle seines nackten Oberkörpers, während er heiße Küsse auf Hals und Schulter verteilte. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um nicht laut aufzustöhnen. Dann spürte er Joeys Hände an seinem Hosenknopf, und er stoppte, ließ ihn zappeln. Sein Blick zeigte auf das Headset. Seto machte es kurz per Knopfdruck stumm.   “Willst du mehr, Joey? Sag mir, was ich tun soll.” Er fühlte, wie Joeys Hände leicht anfingen zu zittern, als er das sagte. Er setzte sich ein wenig auf, und während er den obersten Knopf von Setos Hose öffnete, sagte er, ihm direkt ins Gesicht blickend: “Fick mich, Seto.”   Das war keine Bitte, das war ein Befehl, und Joeys obszöne Worte machten Seto noch schärfer als er eh schon war - was erstaunlich war, dachte er doch, es gäbe keine Steigerung mehr. Seto wollte aufstehen, doch Joey schubste ihn zurück in den Stuhl. Wie verrückt es war, als er sah, dass sie hier beide irgendwie dominant waren - nur anders. Und während Joey sich weiter an seiner Hose zu schaffen machte, flüsterte er ihm ins Ohr: “Soll ich aufhören? Du hast ja schließlich auch aufgehört.” Seto zog ihn in einen heißen, leidenschaftlichen Kuss, bevor er das Headset wieder einschaltete.   “Welcher von Ihnen Volltrotteln hatte eigentlich die glorreiche Idee, die beiden Produktlinien gleichzeitig zu verkaufen?” Joey war wie in Ekstase, endlich hatte er alle Knöpfe und den Reißverschluss seiner Hose geöffnet. Seto war ungeduldig, sein Blick flehend, aber Joey hatte andere Pläne. Er stand nun vollständig vom Stuhl auf und Seto schob den Stuhl ein bisschen vom Tisch weg, damit Joey Platz hatte. Er stand zwischen Setos Beinen, und mit genüsslicher Langsamkeit öffnete er den obersten Knopf seiner eigenen Hose. Als Seto ihm helfen wollte, wurden seine Hände weggeschoben. Joey wollte ihn bis aufs Äußerste provozieren, und verdammt noch mal, er machte das so gut…   Fragend hob der Blonde eine Augenbraue. Oh nein, er durfte nicht aufhören, er wollte alles von ihm sehen. Er musste weiterreden. Gott sei Dank war er so multitaskingfähig, er wollte ja nicht auch noch an die lange Liste der inkompetentesten Mitarbeiter des Monats angereiht werden.   “Warum ist die Ware noch nicht hier? Ich hatte doch ganz klar gesagt, bis gestern, und heute ist immer noch nichts hier. Wozu, zum Teufel nochmal, bezahle ich Sie eigentlich so fürstlich?” Seto musste sich in seine Unterlippe beißen, als Joey die letzten Knöpfe und dann langsam den Reißverschluss öffnete. In seinem Kopf drehte sich alles, dieser Mann vor ihm war einfach purer Sex. Er schwor sich, dass es nie wieder drei Wochen werden würden, das würde er nicht noch mal aushalten, nicht hiernach.   Er wollte ihn berühren und formte mit seinen Lippen ein ‘Bitte!’, und dieses Mal ließ Joey ihn gewähren. Setos Augen flackerten, als er seinem Hündchen die Hose runterzog und die Shorts gleich mit. Jetzt stand er hier, nackt wie Gott ihn schuf, und er würde ihn niemals anders haben wollen. Schon wieder wurde Joey verlegen, als er so nackt vor ihm stand. Nein, das konnte er nicht unkommentiert lassen. Er schaltete das Mikro kurz aus, bevor er sagte: “Nicht, Joey. Du bist so heiß, du machst mich fertig. Komm her.” Nun war er es, der an Joeys Unterlippe knabberte, ihn überall berührte, seine Erregung in die Hand nahm und sanft massierte. Joey wusste, dass das Mikro aus war, also gönnte er sich, etwas lauter zu stöhnen. Dann schaltete der Blonde es wieder für ihn ein. Verdammt, er war so unersättlich… und das war wunderbar.   Während er sich den nächsten fiesen Spruch überlegte, konnte es Joey nun nicht schnell genug gehen, ihm die Hose und die Shorts zu entfernen. Schneller als gedacht war nun auch Seto nackt und Joey krabbelte zurück auf seinen Schoß. Nach diesem Abend würde er sich wohl ein Gleitgel fürs Büro besorgen müssen. Dass er diesen Satz jemals so sagen würde…   Joey schien sich dieser Tatsache auch ziemlich bewusst, also nahm er Setos Mittelfinger und benetzte ihn genüsslich mit seinem Speichel, von dem er gerade reichlich zu produzieren schien, während er darauf wartete, dass Seto nachlegte. Joeys Gesicht war seinem so nah.   “Ich will hier nur einmal mit Profis zusammen arbeiten! Warum habe ich die Unterlagen noch nicht auf meinem Schreibtisch? Denkt hier auch mal irgendjemand mit?”   Joey konnte nicht länger warten. Er führte Setos Hand zu seinem Eingang und ließ erst einen Finger reingleiten, kurze Zeit später folgten Finger Nummer zwei und drei. Kein Schmerz, nur absolute Lust strahlten aus seinem Gesicht. Und auch Seto konnte nicht mehr warten. Er holte zum Dolchstoß aus. Mit seiner freien Hand zog er Joeys Kinn so, dass er ihm direkt in die Augen sehen musste. Dann sagte er, in absolut kühlem und beherrschtem Ton: “Sie sind alle gefeuert.” Dann beendete er das Telefonat und zog sein Hündchen endlich an sich, der sofort anfing, laut zu wimmern.   “Aah… Seto…”   “So ist es gut, Hündchen, sag meinen Namen. Los, nochmal!”   “Se...to...ah!” In dem Moment entzog er Joey die Finger und drang endlich vollständig in ihn ein. Er wartete ab, ob das ohne Gleitgel auch okay war, aber Joey schien sich daran überhaupt nicht zu stören. Er bewegte sich ihm sofort entgegen, und er hatte das Gefühl, nicht der Einzige in diesem Raum zu sein, dem drei Wochen Abstinenz deutlich zu viel waren.   Innig bewegten sie sich miteinander, Joeys Stöhnen immer lauter an seinem Ohr, immer wieder unterbrochen von lauten Rufen seines Namens. Dann nahm Seto sein Hündchen von seinem Schoß und drehte ihn um, sodass er nun mit dem Rücken zu ihm stand. Er legte eine Hand um seine Erregung und massierte ihn mit schnellen, aber beherrschten Bewegungen, während er ihm ins Ohr flüsterte: “Wo, Joey, wo willst du, dass ich dich nehme?”   Tatsächlich sah sich der Kleinere kurz im Raum um, aber dann beugte er sich einfach nach vorn, sodass er nun vornüber auf dem Schreibtisch lag. Jetzt bekam sein Spitzname ‘Hündchen’ also doch noch eine ganz andere Bedeutung - und Seto liebte es, liebte alles an dieser Situation. Er legte seine Hände auf Joeys Hintern und drang vorsichtig wieder in ihn ein, was dem Blonden ein erneutes Wimmern entlockte.   Joey hielt sich an der Vorderkante des Schreibtisches fest, während Setos Stöße immer härter, immer fordernder wurden. Er merkte, wie Joey sich zusammen krampfte, und auch er wäre gleich soweit. Joey stützte sich auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte seinen Rücken an Setos Körper, ohne dass Seto seine Stöße verlangsamen musste. Der Braunhaarige legte die Hand wieder um Joeys Erregung und knabberte an seinem Ohr. “Komm für mich, mein Hündchen.” Und schon wenige Momente später kam Joey in seiner Hand, während er in seinem Hündchen explodierte.   Als das Zittern allmählich nachließ und sie beide wieder einigermaßen im Besitz ihrer eigenen Sinne waren, lösten sie sich langsam voneinander. Seto drehte Joey um und küsste ihn innig. Als er sich löste, sagte er: “Da hinten ist ein Badezimmer.” Joey sah ihn total verblüfft an. “Du hast ein eigenes Badezimmer? In deinem Büro?”   Seto musste lachen. “Hast du vorhin nicht selber gesagt, ich bin der große Seto Kaiba, oder sowas? Und da wunderst du dich darüber, dass ich hier ein Badezimmer habe?”   Joey war so schnell verschwunden, so schnell konnte er gar nicht gucken, und das brachte ihn wieder zum lachen. Mit ihm war er so befreit und machte sich weniger Gedanken über all den anderen Mist. Er war einfach glücklich. Endlos und bedingungslos glücklich.   ~~~~   Joey kam aus dem Badezimmer und zog sich hastig seine Klamotten an. Deswegen war er bestimmt nicht hergekommen, aber er konnte sich nicht beherrschen. Er wurde von Seto einfach magisch angezogen. Er war wie eine Motte, und Seto war das Licht.   Als auch der Braunhaarige aus dem Bad kam, fragte Joey schüchtern: “Sag mal, hat… hat man uns hören können? Ich hab außerdem vergessen, die Tür zu verschließen.” Seto lachte laut, dann sammelte er seine Klamotten ein, zog sich an - wobei er das Hemd offen ließ, blieb ihm ja nicht viel übrig - und sah an seinem Computer nach.   “Keine Sorge, Ms. Watanabe hat dich nach oben gebracht und ist danach sofort wieder runtergefahren. Danach war niemand mehr hier. Sie ist auch die Einzige mit einer Karte hier hoch, neben mir natürlich, und ich habe vorhin gesehen, dass sie ihre Karte zur Runterfahrt wieder benutzt hat. Siehst du, ich kriege dann hier so ein Pop-up auf dem Laptop. Deswegen habe ich mir keine Sorgen gemacht.”   Joey atmete erleichtert aus. Er sah zu Seto hoch und war sofort wieder versunken in seinen Augen, seinem unglaublichen Lächeln. Aber er musste noch mit ihm sprechen, er musste einfach.   Doch bevor er anfangen konnte, roch Seto offenbar den Braten. “Ich nehme mal an, du wolltest mich eigentlich wegen was anderem sehen? Oder hast du mich so vermisst?” Dieses süffisante Grinsen gab ihm den Mut, offen zu reden. “Beides, ehrlich gesagt”, lachte Joey. “Aber es gibt eine Menge, worüber ich mit dir reden wollte. Ich.. hab’ mir Gedanken gemacht…”   Seto setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. Er lehnte mit dem Po gegen den Schreibtisch und zog Joey nun an seinen Armen näher zu sich. Dann strich er ihm eine Strähne aus der Stirn und sagte: “Red mit mir, mein Hündchen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es war, mich so lange von dir fernzuhalten. Aber ich habe gemerkt, dass du den Abstand brauchtest. Ich weiß nur nicht, warum. Habe ich was falsch gemacht?”   Joey hielt seinem Blick nicht stand. Er senkte den Kopf, atmete tief durch und sagte dann einfach, ohne groß nachzudenken, was Phase war.   “Nein, oder doch? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Seto. Ich habe Angst. Angst, dass das hier alles nur Show ist, wegen diesem dämlichen Deal. Dass alles, was ich fühle, Teil eines abgefuckten Plans ist, mich am Ende doch nur zu vernichten.”   Seto hob sein Kinn wieder an und Joey konnte sehen, wie geschockt er war. Ehrlich geschockt. Nein, das war nicht gespielt, das war authentisch, das konnte er in seinen Augen ganz genau sehen. “Joey, was… wie kommst du darauf? Weißt du eigentlich, wie wichtig du mir bist? Weißt du, wie ich gelitten habe die letzten drei Wochen, weil du nicht wirklich bei mir warst? Ich hatte so Angst, dass ich dir weh getan hätte, in dieser Nacht, irgendwas nicht richtig gemacht habe, und du deswegen geflüchtet bist. Du hast recht, dieser Deal ist dämlich. Weil ich dich auch ohne irgendeinen formalisierten Rahmen glücklich sehen will. Wenn du mich anstrahlst, geht buchstäblich die Sonne auf. Und ich will das sehen, immer, überall. Gott, Joey, ich mag ja vor drei Monaten noch der Idiot gewesen sein, der dich nicht gesehen hat, aber jetzt sehe ich dich, und ich werde dich nicht wieder gehen lassen.”   Joey liefen bächeweise die Tränen an den Wangen hinab. Er konnte nicht glauben, dass er ihn, Seto Kaiba, jemals sowas sagen hören würde. Könnte er das alles bitte noch mal schriftlich kriegen?   Er wischte sich ein paar Tränen von den Wangen, die im Anschluss direkt wieder von neuen ersetzt wurden. “Aber in der Öffentlichkeit, da bist du so… distanziert. Ich weiß nicht, das stört mich eigentlich nicht unbedingt. Irgendwie finde ich es auch schön, diese Seite ganz für mich zu haben, aber... ich dachte, du setzt in der Öffentlichkeit diese Maske auf, zum Schutz oder so, und wenn wir allein sind, dann bist du… so. Na, eben so wie jetzt. Wie kann ich dir glauben, dass das nicht einfach eine neue Maske ist, die du dir gebastelt hast und jetzt immer aufsetzt?”   “Moment”, begann Seto stirnrunzelnd. “Ist das der Grund, warum du mich die letzten drei Wochen gemieden hast? Weil du denkst, ich hätte mir irgendeine verdammte Fassade zugelegt, die ich dann einfach auf Knopfdruck auflege, wenn wir zusammen sind?” Joey konnte sehen, dass der Größere etwas aufgebracht war. Joey nickte zögerlich und Seto ließ von ihm ab, ging hinter seinen Schreibtisch und sah für einen Moment aus der Glasfassade hinaus. Er seufzte, und Joey hatte Angst, jetzt irgendwas zwischen ihnen kaputt gemacht zu haben.   “Du vertraust mir nicht”, sagte Seto, noch immer in die nächtliche Stadt rausblickend, und Joey konnte genau hören, wie verletzt er war. Das hielt er nicht aus, er musste ihm in die Augen sehen. Mit schnellen Schritten ging er zu ihm und drängte sich zwischen ihn und das Glas, sodass sie sich nun wieder ganz nah waren.   “Doch, doch, das tue ich! Ich… ich weiß doch auch nicht. Du hast mir eigentlich nie Anlass gegeben, zu zweifeln, aber irgendwie… keine Ahnung, ich hab’ einfach so Angst, dass das nicht echt ist, dass ich am Ende verletzt werde. Verdammt, Seto, ich bin einfach so unheimlich verwirrt, vielleicht traue ich auch einfach meinen eigenen Gefühlen nicht. Vielleicht machen sie mir auch einfach Angst. Ich habe sowas noch nie gefühlt, und dann auch noch mit dir… keine Ahnung, ob das alles irgendwie Sinn ergibt.”   Dann hob Seto sein Kinn an, und er sah ihm tief in die Augen. Er sah ihn so sinnlich an, so voller Leidenschaft und Zärtlichkeit, dann sagte er: “Dann erzähl’ mir von deinen Gefühlen. Und ich sage dir, ob du ihnen vertrauen kannst.”   Joey musste schlucken. Wie zur Hölle sollte er das denn mit Worten beschreiben? Gab es dafür überhaupt die richtigen Worte? Würde auch nur irgendeines davon dem gerecht werden? Aber als Seto ihn so ansah, da musste er es einfach probieren.   “Ich weiß nicht, es ist… manchmal, da schaust du mich nur an und mir ist heiß, und dann wann anders, da ist mir heiß und kalt gleichzeitig. Oder ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich deinen Blick in meinem Rücken spüre. Wenn ich dir in die Augen sehe, dann kann ich meinen Blick einfach nicht mehr lösen, egal wie sehr ich es auch versuche. Und wenn du mich berührst, dann… dann wird mir schwindelig und ich hab’ das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Dafür brauchst du eigentlich nur in den Raum kommen. Oh man, damals an Silvester, als du so dramatisch durch die Tür gekommen bist… ich hatte das Gefühl, ich kippe gleich um. Ich…”    Joey konnte nicht weiterreden, weil Seto ihn in einen zärtlichen Kuss verwickelte. Und da war es wieder, dieses Bauchkribbeln, das er nie los wurde, wenn er bei ihm war, es wurde nur besonders intensiv, wenn sie sich küssten. Setos Zunge bat um Einlass und Joey öffnete leicht seine Lippen. Ihre Zungen kämpften nicht so fordernd wie noch vorhin, es war eher eine sanfte Liebkosung, wie eine ständig wechselnde Umarmung. Als sie den Kuss wieder lösten, ergänzte Joey: “Und wenn du mich küsst, kann ich an nichts anderes denken. Nur an dich, immer nur an dich.”   Setos Augen waren ein Sturm aus verschiedenen Blautönen. Joey war ihm total verfallen, sich ihm entziehen zu wollen, war vollkommen zwecklos.   “Mein Hündchen…”, flüsterte er zärtlich, hörte aber nicht auf, ihn so intensiv zu betrachten. Dann sprach Joey weiter. “Ich meine, ist das normal, dass ich mich so fühle, Seto? Soll das so sein? Es ist so intensiv, dass ich Angst habe zu platzen.”   Seto streichelte ihm zärtlich über die Wange, dann sagte er: “Ich weiß nicht, ob das normal ist. Aber es klingt alles genau wie das, was ich fühle. Ich kann dir auch gar nicht sagen, ob das normal wäre, weil ich das auch noch nie so gefühlt habe. Der Einzige, für den ich immer was empfunden habe, war Mokuba. Aber bei dir, das ist einfach so…” Joey wusste, dass Seto das richtige Wort nicht finden würde. Und Joey würde es auch nicht. “Ich weiß nur nicht, wie ich es schaffen kann, dass du mir glaubst. Dass ich das nicht mache, weil wir diesen Deal haben, sondern weil ich es möchte. Verdammt, selbst wenn ich es nicht wollte, könnte ich mich nicht dagegen wehren. Was kann ich tun, Joey?”   Joey rannen schon wieder vereinzelte Tränen über die Wangen. Er war einfach so berührt von dem, was Seto ihm gerade erzählt hatte, und er wusste, das hatte ihn enorme Überwindung gekostet. Er musste ihm einfach glauben, es ging nicht anders. Er war einfach so überwältigt von seinem Drachen, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihm vollends zu vertrauen.   “Nichts, Seto, gar nichts. Ich glaube dir. Es tut mir leid, dass ich so dumm war, das anzuzweifeln. Tu’ mir nur nicht weh, in Ordnung?”   “Niemals, mein Hündchen. Weißt du, du hast vorhin doch gesagt, ich hätte da diese Fassade, in der Öffentlichkeit. Aber das bin auch ich. Mir ist das wichtig, zum einen, weil ich hier in der Firma einfach eine gewisse Persönlichkeit sein möchte.” Und plötzlich legte sich ein verschwörerisches Lächeln auf Setos Lippen, eher er weitersprach. “Und es sah mir vorhin auch nicht danach aus, als ob du da grundsätzlich viel dagegen hättest.”   Joey wurde leicht rot und musste nun doch verlegen den Kopf senken. Seto lachte leise, dann setzte er erneut zum Reden an. “Und zum anderen mache ich das zum Schutz. Jede Gefühlsregung ist für die Presse ein gefundenes Fressen, und ich habe keine Lust, mir ständig irgendwelchen Schmutz in der Schmuddelpresse von mir durchlesen zu müssen. Ich will lieber etwas über meine Firma und von deren Erfolgen in der seriösen Presse lesen.”   Joey nickte und sah ihn wieder an. “Ja, das verstehe ich.” Einen kurzen Moment lang sagten beide gar nichts. Auch Joey musste für einen Augenblick seine Gedanken sammeln. Dann fragte er: “Und wie geht es jetzt weiter? Was machen wir jetzt? Ich meine, wie gehen wir miteinander um? Ich will auf gar keinen Fall wieder drei Wochen von dir getrennt sein, wenn es nach mir ginge, nicht mal für eine Sekunde.”   Joey konnte Setos warmes Lächeln sehen und war sofort wieder in seinem Bann. “Also, in der Öffentlichkeit bleibt alles wie immer. Das ist das Beste, Joey, auch um dich zu schützen. Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn die Presse erfahren würde, dass ich eine Beziehung habe? Die stürzen sich wie die Aasgeier auf dich. Und… Joey, alles okay?”   Joey starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, die Kinnlade fiel ihm runter. “Eine.. eine Beziehung?” Offensichtlich hatte Seto nicht so richtig über seine Worte nachgedacht, bevor er sie sagte, und sah ebenfalls geschockt aus, wenn auch vielleicht ein wenig milder als Joey. Zumindest fasste er sich schneller wieder. “Mir ist es eigentlich ziemlich egal, wie wir das nennen. Ehrlich, ich will wirklich nur bei dir sein. Und es ist jetzt auch nicht so, als ob ich viel Ahnung von Beziehungen hätte. Außer zu meinem Bruder vielleicht, für den ich aber auch oft der Vater sein musste, also ist das nun auch nicht gerade ein Paradebeispiel dafür.”   Mittlerweile brannte Joeys Magengegend, offenbar feierten die Schmetterlinge in seinem Bauch gerade eine fette Party. “Mir gefällt die Bezeichnung eigentlich ganz gut…”, sagte Joey schüchtern. Setos Lächeln verstärkte sich und Joey konnte sehen, wie sich die Wärme in seinen Augen nun sogar noch verstärkte. “Mir auch, mein Hündchen. Und irgendwann können wir es sicherlich auch öffentlich machen, aber dazu braucht es einen eng ausgearbeiteten Plan. Und vermutlich ein Dutzend mehr Sicherheitskräfte, mindestens.” Beide mussten in dem Moment lachen, und die Endorphine in Joeys Körper legten ein paar Überstunden ein.   Noch einmal streichelte Seto ihm sanft über die Wange und fragte ihn: “Ist das okay für dich?” Joey nickte lächelnd. “Ist es, unter einer Bedingung.” Erstaunen blitzte in Setos Augen auf. “Und die wäre?” Aus Joeys Lächeln wurde ein Grinsen. “Ich will nachts bei dir sein. Auch wenn du bis spät arbeitest, oder wenn ich spät von der Arbeit komme. Ich will bei dir sein. Deal?”   In dem Moment umarmte er Joey und flüsterte ihm ins Ohr: “Deal.”   Und während sie sich nach wenigen Momenten - oder waren es Stunden? - wieder voneinander lösten, fügte Seto hinzu: “Außer, wenn ich mal auf Geschäftsreise bin, dann bin ich nämlich nicht Zuhause. Jetzt schau nicht wie ein begossener Pudel, hast du nicht mal sowas geschrieben wie, ich wäre hier der CEO, oder so?” Und daraufhin mussten beide schon wieder herzlich lachen. Aber sie waren glücklich. Und es gab nichts, was daran etwas hätte ändern können. Kapitel 13: Rescue me... from misunderstandings [ZENSIERT] ---------------------------------------------------------- Joey wurde von den Sonnenstrahlen wach, die ihn in der Nase kitzelten. Im ersten Moment musste er sich erstmal orientieren - wo war er hier? Dann hörte er plötzlich ein Geräusch neben sich - Seto, der sich auf die Seite drehte, sodass Joey nun sein Gesicht sehen konnte, die Augen aber noch immer geschlossen. Und plötzlich erinnerte sich Joey an alles, an jedes einzelne Detail.   Das war wohl der beste Start in seinen Geburtstag, den er jemals hatte. Schon bei dem Gedanken an all die Worte und Berührungen wurde ihm wieder heiß. Er legte sich ebenfalls auf die Seite und betrachtete den Braunhaarigen, der neben ihm noch seelenruhig schlief. Alles Arrogante oder Gebieterische war aus seinen Gesichtszügen verschwunden und machte einer Sanftheit Platz, die Joey einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. Sein Mund war leicht geöffnet, und Joey konnte nicht anders, als zu denken, dass sein Drache einfach bezaubernd aussah. Und wunderschön. Und sexy. Ihm würden vermutlich noch eine Million andere Adjektive einfallen, aber keines wäre gut genug, um auch nur im Ansatz zu beschreiben, was er sah, wenn er ihn beobachtete.   Joey seufzte leise auf, ohne den Blick von dem Größeren zu lösen. Der Abend war wunderschön gewesen, und er rief sich noch mal den atemberaubenden Brief ins Gedächtnis, den Seto ihm geschrieben hatte. Er war sich sicher, Seto würde noch immer denken, der Brief war nicht so perfekt wie er ihn hatte schreiben wollen, aber für Joey war er einfach alles. Und noch viel mehr. Es war Ausdruck dessen, wie sehr sich Seto ins Zeug legte. Joey würde das niemals alles zurückgeben können, niemals.   Er schaute Seto an, dem in diesem Moment eine Strähne ins Gesicht fiel, die er sich, noch immer schlafend, selbst aus der Stirn strich. Er wollte ihn so gern berühren, aber er schlief so friedlich, also beherrschte er sich.   Joey seufzte auf. Es war alles ein bisschen zu schön, um wahr zu sein. Plötzlich wurde er von einem mächtigen Gedankenstrudel erfasst, von einem ganz bestimmten Gedanken gefangen genommen, der leider immer wieder auftauchte. Ja, alles, was sie getan hatten, war umwerfend gewesen. Aber je schöner es mit Seto wurde - und er konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass es zur letzten Nacht noch eine Steigerung gäbe - desto mehr besorgte ihn der Gedanke, das alles könnte fake sein. Alles nur Teil des Deals, des Plans, sich abzusichern, sollte Joey an seinem eigenen festhalten wollen.   Joey wollte so gern glauben, dass Seto sich verändert hatte. Aber stimmte das denn? Konnte sich ein Mensch in so kurzer Zeit um 180 Grad drehen? Oder steckte all das eigentlich schon in ihm, nur sah er es vorher einfach nicht? Seto hatte keine Probleme damit, in der Öffentlichkeit eine Fassade aufzusetzen, und Joey genoss es, dass nur er die andere Seite des Seto Kaiba kannte, aber was, wenn auch diese Seite, die er glaubte zu kennen, nur Fassade war? Wenn jemand eine harte Maske für die Öffentlichkeit erschaffen konnte, konnte derselbe Mensch nicht mit Leichtigkeit auch eine weichere, sanftere Version von sich selbst erschaffen, um andere Leute zu täuschen? Seto war immerhin bekannt dafür, alles zu tun, um seine Ziele zu erreichen. Aber würde er wirklich so skrupellos sein und Joey so etwas antun?   Es war noch früh am Morgen und Joey war schon total fertig mit den Nerven. Er war hin- und hergerissen, und am Ende stand die einfache Frage im Raum, ob das hier alles echt war oder doch Teil einer großen Lüge, eines großen Kaiba-Plans, und er tappte ihm ahnungslos in die Falle. Joey wollte einfach nur glücklich sein, das hier genießen, und er versuchte es mit aller Macht, aber die Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte, dass er nicht wirklich sicher sein konnte, dass Seto es ernst mit ihm meinte, wurde von Woche zu Woche lauter. War es am Anfang nur ein dezentes Flüstern, so hatte Joey das Gefühl, sie schrie ihm jetzt direkt ins Ohr.   Als er wieder annähernd in der Realität ankam, sah er zwei strahlend blaue Augen, die ihn sanft ansahen, und schon wieder spürte ein Kribbeln in seiner Magengegend. Konnte jemand, der so wunderschön war, so schreckliche Dinge tun? Aber das war Seto Kaiba, der könnte dich mich einem einzigen Wort vernichten - und Joey wusste, Seto brauchte gar nichts sagen, um ihn den Abgrund hinunter zu schubsen. Und das würde Joey nicht ertragen.   Seto streckte den Arm nach ihm aus, und Joey versteifte sich. Er würde diese Gedanken jetzt erst mal für sich behalten, musste sie sortieren und die nächsten Tage abwarten. Er würde Seto genau analysieren, er wollte herausfinden, was das hier war. Und dann die Konsequenzen daraus ziehen.   ~~~~   Diese goldbraunen Augen machten ihn fertig. Seto war gerade erst wach geworden und hatte schon jetzt den unbändigen Drang, sein Hündchen zu berühren. Die letzte Nacht war mehr, als er sich je zu träumen gewagt hatte. Dabei hatte er von… so einer Art ‘Beziehung’ noch nie geträumt. Er war allein sehr gut klar gekommen, und dann kam der Blonde und hatte seine ganze Welt auf den Kopf gestellt. Jede einzelne Pore verzehrte sich nach ihm und er konnte an nichts anderes mehr denken. Er wusste, wenn er bei ihm war, war alles gut, und auch wenn sie in der Öffentlichkeit die Fassade wahren mussten - zu ihrer beider Schutz - so hatte er das Gefühl, konnten sie einfach sie selbst sein, wenn sie zusammen waren.   Er sah die kleine Narbe am linken Nasenflügel seines Hündchens und musste seine Wut runterschlucken. Der Kleinere hatte schon so viel Schlimmes im Leben erfahren, also musste er ihm zeigen, dass er bei ihm sicher war. Er streckte die Hand aus, um Joey an der Wange zu berühren - und dieser zuckte ein wenig zurück. Was…   “Hündchen, was ist los?”, flüsterte er ihm sanft zu. Hatte er was falsch gemacht? Hatte er ihm letzte Nacht doch irgendwie weh getan? Er sah Joey in die Augen und konnte genau sehen, dass er gerade einen inneren Kampf führte. Er wusste nur nicht, wogegen.   “Guten Morgen. Es ist nichts, ich war nur in Gedanken und hab’ mich erschreckt.” Das war eine Lüge, das erkannte Seto sofort. Aber warum log er?   “Hab’ ich was falsch gemacht, Joey? Hab’ ich dir weh getan?”, sprach er seine Gedanken nun laut aus. Was war nur los? Gestern Abend und auch in der Nacht war er so ausgelassen gewesen, und plötzlich war alle Freude, alles Leben aus seinem Gesicht verschwunden. Der Glanz aus seinen Augen war mattem Braun gewichen.   Der Kleinere schüttelte den Kopf. “Nein, Seto, es ist wirklich alles okay. Ich bin vielleicht nur ein bisschen müde.” Joey berührte Setos Hand, die noch immer an seiner Wange lag, und sofort war die Hitze wieder da. Er wollte ihn näher an sich ziehen, aber der Blonde ging auf Distanz.   “Hey, ich muss heute noch ein bisschen was erledigen”, sagte Joey, zog die Bettdecke von sich und fing an, sich anzuziehen. Er machte Anstalten zu gehen, da stieg Seto aus dem Bett und umarmte ihn von hinten. “Ich weiß nicht, was los ist, mein Hündchen, aber wenn du reden willst, weißt du, wo du mich findest.” Er drehte ihn um und sah in schmerzvolle Augen. Hatte er ihm das angetan? Was nur war passiert? Joey zog ihn zu sich runter, um ihm einen kurzen Kuss auf den Mund zu geben, es war nur ein Hauch einer Berührung. Dann lief er los und war nur Sekunden später verschwunden. Was war hier gerade passiert?   Er bekam ihn auch den restlichen Tag nicht zu Gesicht, außer beim Essen, wo er sehr damit beschäftigt war, Mokuba in lange Gespräche zu verwickeln und Seto so auf Distanz zu halten. Er wusste nicht, warum Joey Abstand brauchte oder was sich plötzlich verändert hatte, aber er würde ihm Zeit geben, wenn es das war, was er wollte, auch wenn es ihm unheimlich schwer fiel. Sein Verlangen nach ihm wurde mit jeder Sekunde, die verstrich, größer, und damit meinte er gar nicht mal das körperliche Verlangen. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie gefühlt, was er für diesen blonden Mann fühlte, noch nie solch tiefe Gespräche geführt, wie sie sie führten. Er wollte in jeder Minute seines Lebens einfach nur bei ihm sein, auch wenn er wusste, dass es nicht ging. Deswegen hoffte er, sein Hündchen würde wieder einen Schritt auf ihn zugehen, aber vor allem erklären, was er falsch gemacht hatte. Er würde alles tun, um das auszubügeln, wenn er nur wüsste, was es war.   Am nächsten Tag fuhren sie schweigend zusammen zur Schule. Seto wollte ihn nicht bedrängen und ließ ihm deshalb den Abstand, den er brauchte. Joey sah nur aus dem Fenster, aber Seto konnte seine Blicke nicht von ihm lassen.   “Hey, Joey!”, rief ihm Taylor zu, als sie aus dem Wagen stiegen, und Seto war schon wieder mehr als genervt von diesem ‘Kindergarten’. Der Braunhaarige war verwirrt und verstimmt, dieses dämliche Herumgeblödel von den Leuten, die Joey seine Freunde nannte, konnte er gerade wirklich nicht haben. Immerhin fiel es ihm jetzt nicht schwer, seinen üblichen Gesichtsausdruck aufzusetzen.   “Na, was hast du in deiner Geburtstagsnacht noch gemacht?”, fragte Yugi ihn in seiner typisch jugendlichen Unschuld, was Joeys Gesicht rot wie eine Tomate anlaufen ließ. Seto musste sich enorm zusammenreißen, bei seinem Anblick nicht lauthals loszulachen.    “Hab’ nur geschlafen, nix Besonderes”, hörte er den Blonden sagen. Auch wenn Seto absolut verstehen konnte, warum Joey das sagte, ging den dämlichen ‘Kindergarten’ ja auch überhaupt nichts an - es verpasste ihm einen Stich. Vielleicht war es für Joey wirklich nichts Besonderes gewesen? Innerlich wünschte er sich, dass er seinen Freunden da einen Bären aufgebunden hatte, dass es für Joey besonders gewesen war - für ihn war es das auf jeden Fall. Er hatte sich nie zu irgendjemandem hingezogen gefühlt, weder Mann noch Frau, und war immer davon ausgegangen, asexuell zu sein. Und dann kam Joey. Es brauchte nur einen Augenaufschlag von ihm und er war ihm verfallen.   Damit ließ er den ‘Kindergarten’ hinter sich und setzte seine übliche, teilnahmslose Miene auf. Joey wollte offensichtlich Distanz, und Seto hatte nicht das Gefühl, hier gerade viel ausrichten zu können. Auch wenn er nichts lieber tun würde als genau das.   ~~~~   Joey versuchte, die folgenden Tage zu nutzen, um Ordnung in sein Gefühlschaos zu bringen, aber er bemerkte, dass sich auch Seto zurückzog. War das die Bestätigung für seine Theorie, dass das alles nur ein Spiel für ihn war? Auf der anderen Seite sah er seine Blicke, im Wagen neben ihm, beim Frühstück, in der Kantine der Schule. Noch immer zog er seine ganze Aufmerksamkeit an. Joey verschanzte sich hinter Arbeit, legte Überstunden im Café ein, die er niemals bezahlt bekommen würde, oder ging an den Abenden einfach durch die Stadt. Aber nichts davon half auch nur im Entferntesten. Er wurde aus Seto einfach nicht schlau. Und er vermisste ihn, so sehr, dass es ihm die Luft zum Atmen nahm.   Es war ein Dienstagabend mitten im Februar und es hatte wieder angefangen zu schneien. Joey stand im Café und war gerade dabei, einige Gäste zu bedienen, als ihm die weißen Flocken, die vom Himmel rieselten, auffielen, und es erinnerte ihn sehr an Weihnachten, als er mit Seto am Fenster gestanden hatte. Seine Hände fühlten sich damals so warm an, und er konnte sich noch genau daran erinnern, dass er fand, dass er nach Orange roch. Joey sehnte sich nach diesem Moment zurück, als sein Herz so viel höher schlug. Wieso konnte es nicht immer so sein?   Er brauchte ihn. Es war jetzt knapp drei Wochen her seit dieser Nacht, nach der er so abrupt geflüchtet war, und wie viele Wörter sie seitdem gewechselt hatten, konnte man an zwei Händen abzählen. Aber Joey konnte nicht mehr. Je mehr er versuchte, sich von ihm fernzuhalten, desto mehr musste er an ihn denken. Überall gab es etwas, das ihn an den Braunhaarigen erinnerte - sei es auch nur ein Geruch. Er musste mit ihm reden, aber er wusste nicht, wie. Konnte er es denn riskieren? Immerhin konnte Seto doch einfach alles abstreiten und ihn dazu bringen, weitere Lügenmärchen zu glauben. Wenn es diese denn gab. Das war wie verhext!   Er musste es auf einen Versuch ankommen lassen. Er würde es nicht noch einen Tag ohne ihn schaffen, er musste einfach seine Stimme hören. Er ging in die Küche und holte sein Handy raus. Was sollte er ihm schreiben? Minutenlang überlegte er hin und her. Ihm wollten einfach nicht die richtigen Worte einfallen.   Er seufzte. So würde das nichts werden. Er durfte nicht so viel darüber nachdenken, welche Worte er wählen sollte, aber er wusste, wenn er jetzt eine Nachricht tippte, würde er sie wieder und wieder und dann wieder ändern, um am Ende vermutlich gar nichts zu schicken. Ob Seto das mit seinem Geburtstagsbrief auch so ergangen war?   Aus einem Impuls heraus drückte er die grüne Hörer-Taste neben Setos Namen und hielt sich das Handy ans Ohr. Mit klopfendem Herzen wartete er ab, und als er schon dachte, dass er vermutlich beschäftigt war und nicht rangehen würde, hörte er seine Stimme, und es fühlte sich an wie eine himmlische Erlösung. Er hatte sie so vermisst.   “Joey?”   Er signalisierte einem Kollegen, dass er mal kurz draußen sein würde, dann trat er vor die Tür und ließ den Schnee auf sich niederieseln, bevor er antwortete.   “Hey…” Mehr bekam er nicht raus. Er wusste noch immer nicht, was er tun, was er sagen sollte. Warum war das plötzlich so kompliziert zwischen ihnen? Es war doch immer irgendwie einfach gewesen, selbst als sie den ganzen Tag nur gestritten hatten.   “Ich hab’ das Gefühl, deine Stimme Jahre nicht mehr gehört zu haben”, hörte er Seto am anderen Ende sagen und traf damit präzise die Gedanken, die auch Joey hatte. “Wo bist du? Ist alles in Ordnung?”   “Ja, ich… ich stehe vor dem Café. Können wir uns sehen?”   “Natürlich, unbedingt. Ich bin noch in der Firma und befürchte, das wird ein langer Abend. Macht es dir was aus, herzukommen? Ich sage am Empfang Bescheid, dass sie dir die A-Berechtigung geben sollen.”   “Was soll das denn sein?”, fragte Joey verwirrt.   “Das heißt, dass du nicht abgewimmelt wirst, wenn du sagst, dass du zu mir willst und keinen Termin hast.”   “Ah, verstehe, und mit welchem Berechtigungsschein bekommt man einen Termin bei dir? Und wie oft muss man dafür mit dir Sex haben?” Joey musste kichern. Er hatte Setos Stimme so unendlich vermisst, und als er sie jetzt hörte, kamen all die Glücksgefühle zurück, die ihn in den letzten drei Wochen verlassen hatten, trotz all der Zweifel, die er noch immer hatte. Nein, es gab kein Zurück, er konnte sich nicht einfach weiter von ihm abschotten. Wenn er ein Spiel spielte, musste er es wissen, und dann würde er es auch schaffen, sich von ihm zu entfernen. Aber solange die Möglichkeit im Raum stand, dass er es ehrlich meinen könnte, würde er es nicht können. Niemals.   Am anderen Ende der Leitung hörte er ein leises, diabolisches Lachen. “Willst du’s rausfinden?” Oh, er würde nur zu gern, und trotz der eisigen Kälte hier draußen wurde Joey in diesem Moment heiß. Nur Seto hatte die Macht, ihn mit so wenigen Worten so sehr aus dem Konzept zu bringen, dass er sprachlos war.   “Wann kannst du hier sein, mein Hündchen?”, fragte Seto und sein Ton war liebevoll. Er sah zurück ins Café - er hatte die letzten Wochen so viele Überstunden geschrubbt, wenn er jetzt früher gehen wollte, würde ihm das keiner übel nehmen. “Ich mach’ mich sofort auf den Weg.” Mit diesen Worten legte er auf, ging erneut ins Café, um Bescheid zu geben - wie erwartet, kein Problem - und lief schnellen Schrittes in Richtung KaibaCorp.   Als er vor dem imposanten Glasgebäude stand, wurde er plötzlich nervös. Er hatte schon ein Foto von Seto aus seinem Büro bekommen und konnte daher ahnen, dass sein Büro ganz oben war. Wo auch sonst, alles andere würde dem großen Seto Kaiba ja auch nicht gerecht werden. Überheblicher Kotzbrocken. Er musste lachen, als er ihn wie in alten Zeiten in seinen Gedanken beleidigte. Das, gepaart mit ihrer einigermaßen witzigen Unterhaltung vorhin am Telefon, fühlte sich fast ein bisschen nach Normalität an. Außerdem war er sein überheblicher Kotzbrocken, und er hoffte, heute nichts zu erfahren, was daran etwas ändern könnte.   Er betrat die große Eingangshalle und ging auf den Empfang zu, als plötzlich eine blonde Frau auf ihn zutrat. “Mr. Wheeler, guten Abend. Mr. Kaiba erwartet Sie schon. Ich bin eine seiner persönlichen Assistentinnen, Miyako Watanabe. Ich begleite Sie nach oben.”   Joey staunte nicht schlecht. Seto hatte offenbar in Windeseile alles vorbereitet - so viel zu dieser ominösen A-Berechtigung, das hier sah Joey doch eher nach der Ich-hatte-Sex-mit-Seto-Kaiba-Berechtigung aus. Und er fragte lieber nicht, woher sie eigentlich wusste, wie er aussah. Sie führte ihn zu einem ebenfalls gläsernen Fahrstuhl und sie fuhren in den obersten Stock. Um dorthin zu gelangen, musste sie ihre Schlüsselkarte an einen Sensor halten, und Joey konnte nur vermuten, dass nur ausgewählte Personen Zugang zu seinem Stockwerk hatten. Oben angekommen, gingen sie einen langen Flur entlang, bis sie vor einer großen Holztür stehen blieben. “Mr. Kaiba hatte mich gebeten, Sie direkt bis zur Tür zu führen.” In diesem Moment hörte er ein Brüllen aus dem Zimmer. “Wie oft soll ich Ihnen das denn jetzt noch vorkauen, bis Sie es, verdammt noch mal, verstanden haben!” Ms. Watanabe sah ihn mitfühlend an, und mit den Worten “Viel Glück” verabschiedete sie sich.   Joey wusste nicht, was ihn erwarten würde. War Seto nicht allein? Er hatte keine andere Stimme gehört. Also telefonierte er wahrscheinlich? Wäre er wütend, wenn er jetzt reinkommen würde? Aber sie hatten es ja so verabredet…   Joey war schon wieder unheimlich genervt von sich selbst. Er ließ sich viel zu sehr von seinen Gedanken einnehmen. Aber er war hier, um endlich Klarheit zu schaffen. Also nahm er allen Mut zusammen, klopfte an und trat ein.   Der Raum war dunkel, die Schreibtischlampe die einzige Lichtquelle. Er sah Seto, wie er seinen Kopf auf dem Ellenbogen abstützte und energisch den Kopf schüttelte. Dann nahm er Joey wahr, hob seinen Kopf ein bisschen an und sein Blick wurde ein wenig sanfter, nur um direkt danach wieder wütend zu werden.   “Okay, ich sage das jetzt ein allerletztes Mal. Das ist nicht der Preis, den wir ausgehandelt haben. So schwer von Begriff sind doch sonst nicht mal Sie.” Joey war in dem Moment echt froh, dass er da nicht so von Seto in die Mangel genommen wurde. Wobei, nicht mehr, wenn er es sich recht überlegte. Gerade der letzte Satz war eigentlich ein Klassiker, und Joey amüsierte sich darüber, dass er wohl nicht der einzige Mensch in diesem Universum war, der von Seto so angegangen wurde.   Er sah sich ein wenig im Raum um. Hier sah es fast genauso aus wie in Setos Büro Zuhause, vielleicht ein bisschen moderner, und die große Glasfront hinter ihm bot einen fantastischen Ausblick über die Stadt. Die Menschen am Boden krabbelten wie kleine Ameisen durch die Gegend, und Joey wusste, er könnte hier nicht arbeiten, ohne ständig von irgendwas abgelenkt zu werden. Aber das galt ja eigentlich auch so schon, dafür brauchte er keine Glasfassade.   “Habe ich Ihnen nicht gestern gesagt, dass Sie das gefälligst bis heute erledigt haben sollten? Vielleicht sollte ich mir einen neuen Technikchef suchen, wenn Sie zu unfähig sind, auch nur die kleinsten Anweisungen zu befolgen!” Joey lehnte sich, die Arme vor dem Körper verschränkt, seitlich an die Wand und beobachtete Seto grinsend. Der beachtete ihn gar nicht, weil er sich immer mehr in Rage redete, und Joey konnte die Ader an seinem Hals pulsieren sehen.   “Oh, schön, hat denn vielleicht auch irgendwas geklappt, von dem Sie berichten können? Keiner braucht ausführliche Erläuterungen über Ihre dummen Misserfolge!”   Er konnte nicht so genau sagen, was es war, aber irgendwas faszinierte Joey unheimlich daran, wie Seto so sprach. Überhaupt war seine ganze Körpersprache so… dominant. Wenn er ihn da so reden hörte, vergaß Joey total, weswegen er eigentlich hier war. Er konnte sich nur auf diese leidenschaftlich-blauen Augen konzentrieren, die vor Wut aufloderten. Verdammt sexy...   “Was mischen Sie sich denn da jetzt ein? Sie sind Praktikantin, verdammt!” Der Blonde stand noch immer drei Meter weg von Seto, und dennoch war die Hitze des Braunhaarigen durch den gesamten Raum zu spüren, wahrscheinlich sogar noch auf dem Flur. Joey wollte näher ans Feuer, wollte sich verbrennen und komplett einnehmen lassen.  Er ging zu ihm, und als er sich vor ihn auf den Schreibtisch setzte, schaute Seto erstaunt auf. Er setzte sich bewusst nicht vor den Computermonitor, er wollte ja immerhin nicht auch von Seto zugeschnauzt werden. Aber er musste ihm nah sein und wollte diese Augen in voller Aktion erleben.   Seto legte ihm eine Hand auf den Oberschenkel, die Joey nahm und drückte. Seto sah ihn nur an und rollte mit den Augen. “Was soll das heißen, er steht nicht zur Verfügung? Haben Sie eine Ahnung, mit wem Sie hier reden?”   Oh, wie Joey diesen Tonfall liebte. Er musste ihn jetzt gerade vermutlich mit offenem Mund begaffen und konnte schon froh sein, wenn ihm keine Sabberfäden aus dem Mund liefen. Aber das war einfach so gut, und er wollte mehr, wollte, dass er weiter sprach.   “Hören Sie sich eigentlich gerade selbst zu? Das muss doch selbst in Ihren Ohren lächerlich klingen. Das war absolut perfekt ausgearbeitet, immerhin kam die Idee von mir höchstpersönlich.”   Mehr, mehr… an was anderes konnte Joey nicht denken. Er nahm Setos Hände - er trug ein Headset und hatte daher glücklicherweise beide frei - und zog sie noch ein Stück mehr seine Beine hoch, sodass sie an seiner Hüfte zum Erliegen kamen. Nein, das war nicht genug. Joey stand für einen kurzen Moment auf, nur um im nächsten Moment seine Knie neben ihm auf dem dankenswerterweise sehr breiten Bürostuhl abzulegen und sich auf seinen Schoß zu setzen, das Gesicht nun ganz dicht vor Setos. Seto legte eine Hand auf Joeys Wange und fuhr mit seinem Finger über seine Lippen, die sofort von der Hitze brannten, die die Berührung hinterließ.   “Sie dummer… Idiot…” Seto verhaspelte sich etwas, als Joey ihm, kaum hatte der Braunhaarige weiter gesprochen, in das Ohr stöhnte, das nicht vom Headset verdeckt wurde - denn nur Setos rechtes Ohr wurde von einem Ohrpolster verdeckt, sodass Joey freien Zugang zu seinem linken hatte. Dann nahm er Joeys Kinn in die Hand und sah ihm intensiv in die Augen. Gott, diese Augen machten ihn wahnsinnig. Seto drückte irgendeinen Knopf an seinem Headset, dann sagte er mit heißer, heiserer Stimme zu Joey: “Macht dich das an, Hündchen? Wenn ich so rede?” Setos leises Lächeln auf den Lippen verführte Joey dazu, an dessen Unterlippe zu knabbern. Wenn er ihm antwortete, würde er dann endlich weitermachen?   “Mhm… klingt so, als wenn da jemand nicht wüsste, wie er mit dir sprechen muss. Immerhin bist du Seto Kaiba… lass dich nicht so behandeln Seto… mach sie fertig…” Joey zog Seto in einen leidenschaftlichen Kuss, ihre hitzigen Zungen kämpften für einen Moment wild miteinander, doch dann löste er sich von ihm. Er drückte den Knopf, den Seto gerade an seinem Headset gedrückt hatte und zwang ihn damit dazu, weiter zu sprechen - und Joey konnte sehen, und fühlen, wie das den Größeren erregte. Setos Grinsen nach zu urteilen, würde er Joey den Wunsch gern erfüllen, die Menschen am anderen Ende der Leitung fertig zu machen.   ~~~~   Was passierte hier eigentlich gerade? Sein Hündchen war gekommen, um zu reden, jedenfalls war er bisher davon ausgegangen, und nun würde er ihn verführen, während er sich mal wieder mit absolut inkompetenten Mitarbeitern rumschlagen musste. Und er würde es zulassen. Er hatte ihn drei Wochen nicht berührt, kaum mit ihm gesprochen, und er brauchte ihn, wollte ihn spüren. Und wenn er seinem Hündchen geben konnte, was er wollte, und dafür auch noch mit Zärtlichkeiten belohnt wurde, dann konnte das ja nur eine Win-Win-Situation sein.   “Sie hören mir jetzt gefälligst mal genau zu! Ihre Probleme interessieren mich einen Scheißdreck!”   Oh Gott, schon spürte er Joeys Zunge überall an seinem Hals. Wie lange würde er das aufrechterhalten können, ohne dass seine Gesprächspartner was mitbekamen? Er versuchte, ein wenig Beherrschung zurück zu gewinnen, aber dann sah er in diese goldenen Augen und war verloren. Joey hatte noch seinen Mantel an, den er ihm hektisch vom Leib riss und in die nächste Ecke warf. Scheiß auf das Ding, wenn das kaputt ging, kaufte er ihm eben einen neuen. Er hatte einen Pullover mit Reißverschluss an, und auch der war schnell weg, wobei er den Reißverschluss langsam ziehen musste, um nicht allzu viele Geräusche zu machen, was Joey offensichtlich noch mehr erregte. Seto war verrückt nach ihm, und er würde es ihm jetzt zeigen.   Während seine Hände an Joeys Hosenbund zugange waren, brüllte er ins Telefon - sogar noch lauter, als er es sonst tat, um Joey noch mehr anzuheizen. “Wir sind hier nicht die Wohlfahrt! Wenn Sie mit meinem Geld nicht ordentlich umgehen können, sind Sie gefeuert!” Er konnte sehen, wie sehr Joey sich bemühte, nicht zu laut zu stöhnen, und wenn er an ihre erste gemeinsame Nacht dachte und die Lautstärke, mit der Joey immer wieder seinen Namen gerufen hatte, konnte er sich gut vorstellen, wie viel Selbstbeherrschung ihn das jetzt kosten musste. Seto zog seinem Hündchen das Shirt über den Kopf und konnte nun endlich wieder seinen nackten Oberkörper berühren. In Joeys Blick konnte er eine Bitte lesen, ein Flehen. Er wollte mehr, und oh, Seto wollte es genauso.   “Gibt es in diesem Call eigentlich auch jemanden mit ein wenig Restintelligenz, oder spreche ich hier nur mit Toastbrot?” In dem Moment nahm er ein lautes Geräusch wahr - Joey hatte Setos Hemd einfach aufgerissen, sodass alle Knöpfe mit dumpfen Geräuschen auf dem Boden landeten. Nichts konnte ihm gerade egaler sein. Er würde auch nackt nach Hause krabbeln, wenn er dafür seinem gierigen Hündchen Befriedigung verschaffen konnte. Wie besessen berührten Joeys Hände jede Stelle seines nackten Oberkörpers, während er heiße Küsse auf Hals und Schulter verteilte. Er musste den Kopf in den Nacken legen, um nicht laut aufzustöhnen. Dann spürte er Joeys Hände an seinem Hosenknopf, und er stoppte, ließ ihn zappeln. Sein Blick zeigte auf das Headset. Seto machte es kurz per Knopfdruck stumm.   “Willst du mehr, Joey? Sag mir, was ich tun soll.” Er fühlte, wie Joeys Hände leicht anfingen zu zittern, als er das sagte. Er setzte sich ein wenig auf, und während er den obersten Knopf von Setos Hose öffnete, sagte er, ihm direkt ins Gesicht blickend: “Nimm mich, Seto.”   Das war keine Bitte, das war ein Befehl, und Seto war mehr als bereit, ihm alles zu geben, was er zu bieten hatten.   Es dauerte ungefähr 30 Minuten, bis sie ihr Liebesspiel beendet hatten, das so intensiv und heiß war, dass es noch immer ihre kompletten Sinne benebelte. Seto hatte das Telefonat mit seinen Mitarbeitern irgendwann einfach beendet und bekam jetzt schon den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass sie hier immerhin noch in seinem Büro waren. Er würde Business Calls nie wieder machen können, ohne an das zurückzudenken, was sie gerade geteilt hatten, so viel war sicher…   Als beide wieder einigermaßen im Besitz ihrer eigenen Sinne waren, lösten sie sich langsam voneinander. Seto drehte Joey um und küsste ihn innig. Als er sich löste, sagte er: “Da hinten ist ein Badezimmer.” Joey sah ihn total verblüfft an. “Du hast ein eigenes Badezimmer? In deinem Büro?”   Seto musste lachen. “Hast du vorhin nicht selber gesagt, ich bin der große Seto Kaiba, oder sowas? Und da wunderst du dich darüber, dass ich hier ein Badezimmer habe?”   Joey war so schnell verschwunden, so schnell konnte er gar nicht gucken, und das brachte ihn wieder zum lachen. Mit ihm war er so befreit und machte sich weniger Gedanken über all den anderen Mist. Er war einfach glücklich. Endlos und bedingungslos glücklich.   ~~~~   Joey kam aus dem Badezimmer und zog sich hastig seine Klamotten an. Deswegen war er bestimmt nicht hergekommen, aber er konnte sich nicht beherrschen. Er wurde von Seto einfach magisch angezogen. Er war wie eine Motte, und Seto war das Licht.   Als auch der Braunhaarige aus dem Bad kam, fragte Joey schüchtern: “Sag mal, hat… hat man uns hören können? Ich hab außerdem vergessen, die Tür zu verschließen.” Seto lachte laut, dann sammelte er seine Klamotten ein, zog sich an - wobei er das Hemd offen ließ, blieb ihm ja nicht viel übrig - und sah an seinem Computer nach.   “Keine Sorge, Ms. Watanabe hat dich nach oben gebracht und ist danach sofort wieder runtergefahren. Danach war niemand mehr hier. Sie ist auch die Einzige mit einer Karte hier hoch, neben mir natürlich, und ich habe vorhin gesehen, dass sie ihre Karte zur Runterfahrt wieder benutzt hat. Siehst du, ich kriege dann hier so ein Pop-up auf dem Laptop. Deswegen habe ich mir keine Sorgen gemacht.”   Joey atmete erleichtert aus. Er sah zu Seto hoch und war sofort wieder versunken in seinen Augen, seinem unglaublichen Lächeln. Aber er musste noch mit ihm sprechen, er musste einfach.   Doch bevor er anfangen konnte, roch Seto offenbar den Braten. “Ich nehme mal an, du wolltest mich eigentlich wegen was anderem sehen? Oder hast du mich so vermisst?” Dieses süffisante Grinsen gab ihm den Mut, offen zu reden. “Beides, ehrlich gesagt”, lachte Joey. “Aber es gibt eine Menge, worüber ich mit dir reden wollte. Ich.. hab’ mir Gedanken gemacht…”   Seto setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf. Er lehnte mit dem Po gegen den Schreibtisch und zog Joey nun an seinen Armen näher zu sich. Dann strich er ihm eine Strähne aus der Stirn und sagte: “Red mit mir, mein Hündchen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es war, mich so lange von dir fernzuhalten. Aber ich habe gemerkt, dass du den Abstand brauchtest. Ich weiß nur nicht, warum. Habe ich was falsch gemacht?”   Joey hielt seinem Blick nicht stand. Er senkte den Kopf, atmete tief durch und sagte dann einfach, ohne groß nachzudenken, was Phase war.   “Nein, oder doch? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, Seto. Ich habe Angst. Angst, dass das hier alles nur Show ist, wegen diesem dämlichen Deal. Dass alles, was ich fühle, Teil eines abgefuckten Plans ist, mich am Ende doch nur zu vernichten.”   Seto hob sein Kinn wieder an und Joey konnte sehen, wie geschockt er war. Ehrlich geschockt. Nein, das war nicht gespielt, das war authentisch, das konnte er in seinen Augen ganz genau sehen. “Joey, was… wie kommst du darauf? Weißt du eigentlich, wie wichtig du mir bist? Weißt du, wie ich gelitten habe die letzten drei Wochen, weil du nicht wirklich bei mir warst? Ich hatte so Angst, dass ich dir weh getan hätte, in dieser Nacht, irgendwas nicht richtig gemacht habe, und du deswegen geflüchtet bist. Du hast recht, dieser Deal ist dämlich. Weil ich dich auch ohne irgendeinen formalisierten Rahmen glücklich sehen will. Wenn du mich anstrahlst, geht buchstäblich die Sonne auf. Und ich will das sehen, immer, überall. Gott, Joey, ich mag ja vor drei Monaten noch der Idiot gewesen sein, der dich nicht gesehen hat, aber jetzt sehe ich dich, und ich werde dich nicht wieder gehen lassen.”   Joey liefen bächeweise die Tränen an den Wangen hinab. Er konnte nicht glauben, dass er ihn, Seto Kaiba, jemals sowas sagen hören würde. Könnte er das alles bitte noch mal schriftlich kriegen?   Er wischte sich ein paar Tränen von den Wangen, die im Anschluss direkt wieder von neuen ersetzt wurden. “Aber in der Öffentlichkeit, da bist du so… distanziert. Ich weiß nicht, das stört mich eigentlich nicht unbedingt. Irgendwie finde ich es auch schön, diese Seite ganz für mich zu haben, aber... ich dachte, du setzt in der Öffentlichkeit diese Maske auf, zum Schutz oder so, und wenn wir allein sind, dann bist du… so. Na, eben so wie jetzt. Wie kann ich dir glauben, dass das nicht einfach eine neue Maske ist, die du dir gebastelt hast und jetzt immer aufsetzt?”   “Moment”, begann Seto stirnrunzelnd. “Ist das der Grund, warum du mich die letzten drei Wochen gemieden hast? Weil du denkst, ich hätte mir irgendeine verdammte Fassade zugelegt, die ich dann einfach auf Knopfdruck auflege, wenn wir zusammen sind?” Joey konnte sehen, dass der Größere etwas aufgebracht war. Joey nickte zögerlich und Seto ließ von ihm ab, ging hinter seinen Schreibtisch und sah für einen Moment aus der Glasfassade hinaus. Er seufzte, und Joey hatte Angst, jetzt irgendwas zwischen ihnen kaputt gemacht zu haben.   “Du vertraust mir nicht”, sagte Seto, noch immer in die nächtliche Stadt rausblickend, und Joey konnte genau hören, wie verletzt er war. Das hielt er nicht aus, er musste ihm in die Augen sehen. Mit schnellen Schritten ging er zu ihm und drängte sich zwischen ihn und das Glas, sodass sie sich nun wieder ganz nah waren.   “Doch, doch, das tue ich! Ich… ich weiß doch auch nicht. Du hast mir eigentlich nie Anlass gegeben, zu zweifeln, aber irgendwie… keine Ahnung, ich hab’ einfach so Angst, dass das nicht echt ist, dass ich am Ende verletzt werde. Verdammt, Seto, ich bin einfach so unheimlich verwirrt, vielleicht traue ich auch einfach meinen eigenen Gefühlen nicht. Vielleicht machen sie mir auch einfach Angst. Ich habe sowas noch nie gefühlt, und dann auch noch mit dir… keine Ahnung, ob das alles irgendwie Sinn ergibt.”   Dann hob Seto sein Kinn an, und er sah ihm tief in die Augen. Er sah ihn so sinnlich an, so voller Leidenschaft und Zärtlichkeit, dann sagte er: “Dann erzähl’ mir von deinen Gefühlen. Und ich sage dir, ob du ihnen vertrauen kannst.”   Joey musste schlucken. Wie zur Hölle sollte er das denn mit Worten beschreiben? Gab es dafür überhaupt die richtigen Worte? Würde auch nur irgendeines davon dem gerecht werden? Aber als Seto ihn so ansah, da musste er es einfach probieren.   “Ich weiß nicht, es ist… manchmal, da schaust du mich nur an und mir ist heiß, und dann wann anders, da ist mir heiß und kalt gleichzeitig. Oder ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich deinen Blick in meinem Rücken spüre. Wenn ich dir in die Augen sehe, dann kann ich meinen Blick einfach nicht mehr lösen, egal wie sehr ich es auch versuche. Und wenn du mich berührst, dann… dann wird mir schwindelig und ich hab’ das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Dafür brauchst du eigentlich nur in den Raum kommen. Oh man, damals an Silvester, als du so dramatisch durch die Tür gekommen bist… ich hatte das Gefühl, ich kippe gleich um. Ich…”    Joey konnte nicht weiterreden, weil Seto ihn in einen zärtlichen Kuss verwickelte. Und da war es wieder, dieses Bauchkribbeln, das er nie los wurde, wenn er bei ihm war, es wurde nur besonders intensiv, wenn sie sich küssten. Setos Zunge bat um Einlass und Joey öffnete leicht seine Lippen. Ihre Zungen kämpften nicht so fordernd wie noch vorhin, es war eher eine sanfte Liebkosung, wie eine ständig wechselnde Umarmung. Als sie den Kuss wieder lösten, ergänzte Joey: “Und wenn du mich küsst, kann ich an nichts anderes denken. Nur an dich, immer nur an dich.”   Setos Augen waren ein Sturm aus verschiedenen Blautönen. Joey war ihm total verfallen, sich ihm entziehen zu wollen, war vollkommen zwecklos.   “Mein Hündchen…”, flüsterte er zärtlich, hörte aber nicht auf, ihn so intensiv zu betrachten. Dann sprach Joey weiter. “Ich meine, ist das normal, dass ich mich so fühle, Seto? Soll das so sein? Es ist so intensiv, dass ich Angst habe zu platzen.”   Seto streichelte ihm zärtlich über die Wange, dann sagte er: “Ich weiß nicht, ob das normal ist. Aber es klingt alles genau wie das, was ich fühle. Ich kann dir auch gar nicht sagen, ob das normal wäre, weil ich das auch noch nie so gefühlt habe. Der Einzige, für den ich immer was empfunden habe, war Mokuba. Aber bei dir, das ist einfach so…” Joey wusste, dass Seto das richtige Wort nicht finden würde. Und Joey würde es auch nicht. “Ich weiß nur nicht, wie ich es schaffen kann, dass du mir glaubst. Dass ich das nicht mache, weil wir diesen Deal haben, sondern weil ich es möchte. Verdammt, selbst wenn ich es nicht wollte, könnte ich mich nicht dagegen wehren. Was kann ich tun, Joey?”   Joey rannen schon wieder vereinzelte Tränen über die Wangen. Er war einfach so berührt von dem, was Seto ihm gerade erzählt hatte, und er wusste, das hatte ihn enorme Überwindung gekostet. Er musste ihm einfach glauben, es ging nicht anders. Er war einfach so überwältigt von seinem Drachen, dass es keine andere Möglichkeit gab, als ihm vollends zu vertrauen.   “Nichts, Seto, gar nichts. Ich glaube dir. Es tut mir leid, dass ich so dumm war, das anzuzweifeln. Tu’ mir nur nicht weh, in Ordnung?”   “Niemals, mein Hündchen. Weißt du, du hast vorhin doch gesagt, ich hätte da diese Fassade, in der Öffentlichkeit. Aber das bin auch ich. Mir ist das wichtig, zum einen, weil ich hier in der Firma einfach eine gewisse Persönlichkeit sein möchte.” Und plötzlich legte sich ein verschwörerisches Lächeln auf Setos Lippen, eher er weitersprach. “Und es sah mir vorhin auch nicht danach aus, als ob du da grundsätzlich viel dagegen hättest.”   Joey wurde leicht rot und musste nun doch verlegen den Kopf senken. Seto lachte leise, dann setzte er erneut zum Reden an. “Und zum anderen mache ich das zum Schutz. Jede Gefühlsregung ist für die Presse ein gefundenes Fressen, und ich habe keine Lust, mir ständig irgendwelchen Schmutz in der Schmuddelpresse von mir durchlesen zu müssen. Ich will lieber etwas über meine Firma und von deren Erfolgen in der seriösen Presse lesen.”   Joey nickte und sah ihn wieder an. “Ja, das verstehe ich.” Einen kurzen Moment lang sagten beide gar nichts. Auch Joey musste für einen Augenblick seine Gedanken sammeln. Dann fragte er: “Und wie geht es jetzt weiter? Was machen wir jetzt? Ich meine, wie gehen wir miteinander um? Ich will auf gar keinen Fall wieder drei Wochen von dir getrennt sein, wenn es nach mir ginge, nicht mal für eine Sekunde.”   Joey konnte Setos warmes Lächeln sehen und war sofort wieder in seinem Bann. “Also, in der Öffentlichkeit bleibt alles wie immer. Das ist das Beste, Joey, auch um dich zu schützen. Kannst du dir vorstellen, was passieren würde, wenn die Presse erfahren würde, dass ich eine Beziehung habe? Die stürzen sich wie die Aasgeier auf dich. Und… Joey, alles okay?”   Joey starrte ihn mit weit geöffneten Augen an, die Kinnlade fiel ihm runter. “Eine.. eine Beziehung?” Offensichtlich hatte Seto nicht so richtig über seine Worte nachgedacht, bevor er sie sagte, und sah ebenfalls geschockt aus, wenn auch vielleicht ein wenig milder als Joey. Zumindest fasste er sich schneller wieder. “Mir ist es eigentlich ziemlich egal, wie wir das nennen. Ehrlich, ich will wirklich nur bei dir sein. Und es ist jetzt auch nicht so, als ob ich viel Ahnung von Beziehungen hätte. Außer zu meinem Bruder vielleicht, für den ich aber auch oft der Vater sein musste, also ist das nun auch nicht gerade ein Paradebeispiel dafür.”   Mittlerweile brannte Joeys Magengegend, offenbar feierten die Schmetterlinge in seinem Bauch gerade eine fette Party. “Mir gefällt die Bezeichnung eigentlich ganz gut…”, sagte Joey schüchtern. Setos Lächeln verstärkte sich und Joey konnte sehen, wie sich die Wärme in seinen Augen nun sogar noch verstärkte. “Mir auch, mein Hündchen. Und irgendwann können wir es sicherlich auch öffentlich machen, aber dazu braucht es einen eng ausgearbeiteten Plan. Und vermutlich ein Dutzend mehr Sicherheitskräfte, mindestens.” Beide mussten in dem Moment lachen, und die Endorphine in Joeys Körper legten ein paar Überstunden ein.   Noch einmal streichelte Seto ihm sanft über die Wange und fragte ihn: “Ist das okay für dich?” Joey nickte lächelnd. “Ist es, unter einer Bedingung.” Erstaunen blitzte in Setos Augen auf. “Und die wäre?” Aus Joeys Lächeln wurde ein Grinsen. “Ich will nachts bei dir sein. Auch wenn du bis spät arbeitest, oder wenn ich spät von der Arbeit komme. Ich will bei dir sein. Deal?”   In dem Moment umarmte er Joey und flüsterte ihm ins Ohr: “Deal.”   Und während sie sich nach wenigen Momenten - oder waren es Stunden? - wieder voneinander lösten, fügte Seto hinzu: “Außer, wenn ich mal auf Geschäftsreise bin, dann bin ich nämlich nicht Zuhause. Jetzt schau nicht wie ein begossener Pudel, hast du nicht mal sowas geschrieben wie, ich wäre hier der CEO, oder so?” Und daraufhin mussten beide schon wieder herzlich lachen. Aber sie waren glücklich. Und es gab nichts, was daran etwas hätte ändern können. Kapitel 14: Rescue me... from Mokuba ------------------------------------ “Wie lange musst du denn noch arbeiten? Komm endlich ins Bett, Seto.” Joey umarmte seinen Drachen von hinten und küsste ihn zärtlich in den Nacken. Seto hatte vor zwei Stunden gesagt, sich nur noch mal kurz an den Laptop setzen zu wollen, und seitdem saß er da, am Schreibtisch in seinem Schlafzimmer. Es sollte ja nur kurz sein, daher hatte er sich nicht in sein Arbeitszimmer verzogen - tja, soviel dazu.   Wie sie es ausgemacht hatten, verbrachten sie jede Nacht zusammen - mal in Joeys, mal in Setos Apartment. Sie achteten natürlich darauf, dass sie niemand sah oder jemand was von ihrer Abmachung mitbekam, aber sie hatten es die ganzen zwei Wochen, seitdem sie das beschlossen hatten, immer geschafft, auch wenn es sehr spät wurde und es im Zweifel nur hieß, dass sie nebeneinander im Bett schlafen konnten.   Joey sah auf die Uhr auf Setos Laptop - es war schon nach Mitternacht und sie hatten morgen wieder Schule und mussten daher früh raus. Außerdem wurde er ungeduldig, er wartete jetzt schon seit Stunden im Bett seines Drachen auf ihn, und auch wenn er es noch immer total faszinierend fand, Seto beim Arbeiten zuzusehen, so wollte er seine Aufmerksamkeit doch gänzlich für sich haben. Wobei er sich darüber eigentlich nicht beschweren konnte - selbst in der Öffentlichkeit konnte er sich dessen Aufmerksamkeit sicher sein. Natürlich versuchte der Größere es so gut es ging zu verstecken, aber Joey konnte es immer ganz deutlich sehen. Die heimlichen Blicke, die vermeintlich unbeabsichtigten, flüchtigen Berührungen ihrer Hände, wenn sie im Schulgang aneinander vorbei gingen… niemand schöpfte auch nur ansatzweise Verdacht, und irgendwie genoss Joey dieses Geheimnisvolle, auch wenn er sich manchmal wünschte, ihn noch mehr berühren zu können, ihn lächeln zu sehen.   Seto drehte sich seufzend zu ihm um und zog Joey so zu sich, sodass dieser nun auf seinem Schoß saß. Sofort legte der Blonde die Arme um Setos Nacken und zog ihn in einen zärtlichen Kuss. Als sie sich wieder lösten, sagte Seto: “Ich weiß, mein Hündchen, ich hatte nicht damit gerechnet, dass das jetzt noch so lange gehen würde. Ganz ehrlich, ich brauche definitiv einen neuen Personalchef, der jetzige stellt wirklich die größten Dummköpfe ganz Japans ein.” Joey musste leicht lachen und flüsterte ihm dann ins Ohr: “Lass mich dabei sein, wenn du ihn feuerst.” Seto grinste. “Bist du sicher, dass du das willst? Ich weiß nicht, wie toll er das fänd, wenn ich ihn rauswerfe und du dich mir dann sofort an den Hals wirfst.”   “Hm, okay, da hast du auch wieder recht. Nimm es wenigstens auf Video auf, damit ich es mir mit dir zusammen anschauen kann und dann über dich herfallen kann.” Seto zog Joey erneut in einen Kuss, dieses Mal etwas fordernder, und Joey konnte ganz deutlich die Leidenschaft und die Hitze in sich aufsteigen fühlen. Seto löste sich von ihm, strich ihm ein wenig die Haare aus der Stirn, bevor er mit sanfter Stimme sagte: “Zehn Minuten, okay?” Joey legte für einen winzigen Augenblick seinen Kopf auf Setos Schulter ab, genoss die Nähe und sog seinen ganzen Duft in sich ein. “Aber keine Minute länger.” Dann ging er zurück ins Bett, und tatsächlich kam Seto exakt zehn Minuten später zu ihm. Er hatte wieder ein weißes T-Shirt an, was Joey liebte, weil es Seto irgendwie weicher machte, nahbarer. Wobei an ihm eigentlich alles gut aussah, nur eben anders - seine Hemden und langen Mäntel waren sexy und Ausdruck für die Stärke des Größeren, aber wenn Seto so bei ihm lag, mit einem ganz normalen, weißen Shirt, da war er einfach unglaublich süß und einfach nur sein Seto, und Joey wusste, dies war ein Teil seines Drachens, den nur er und niemand anderes jemals zu Gesicht bekam. Joey zog den Braunhaarigen zu sich, und als sie da so eng umschlungen im Bett lagen, konnte Joey endlich friedlich in den Schlaf gleiten. Ohne Seto war es einfach nicht mehr dasselbe, und Joey wunderte sich jeden Tag darüber, wie sehr er sich schon daran gewöhnt hatte.   Am nächsten Tag fuhren sie, wie immer, gemeinsam zur Schule. Mittlerweile war es zur Gewohnheit geworden, dass Seto die Scheibe zum Fahrer der Limousine hochfuhr, sodass sie die Zweisamkeit bis zur letzten Minute auskosten konnten. Und bevor sie ausstiegen, küssten sie sich noch einmal zärtlich, denn kaum waren beide raus aus dem Auto, setzte Seto wieder diese unergründliche Kaiba-Miene auf. Joey war jedes Mal aufs Neue verblüfft, wie er sich so unter Kontrolle halten konnte. Ihm selbst fiel es etwas schwerer, aber zum Glück hatte er ja seine Freunde, die er sogleich freudestrahlend begrüßte und sich somit etwas ablenken konnte. Aber er konnte Setos Blicke in seinem Rücken deutlich spüren, als sich alle gemeinsam auf den Weg ins Schulgebäude machten.   Mittags in der Kantine unterhielten sie sich darüber, wie unglaublich doof sie ihre Mathelehrerin fanden, während Seto natürlich wie üblich an seinem einsamen Tisch am anderen Ende des Raumes saß. Joeys Blicke schweiften von der Gruppe zu seinem Drachen, der ihn wie selbstverständlich beobachtete. Joeys Blicke wurden weich und er konnte seine Augen einfach nicht von ihm lassen. Er zog ihn an wie ein Magnet. Er konnte seinen Blick erst abwenden, als er merkte, wie sein Handy in seiner Tasche vibrierte. Als er sah, von wem die Nachricht kam, musste er grinsen.   ‘Selbstkontrolle, mein Hündchen. Auch wenn ich natürlich weiß, wie atemberaubend gut ich aussehe.’   Joey überlegte grinsend, wie er darauf antworten könnte. Er hatte im Alltag sowieso schon so viel Sehnsucht nach Seto, dass er das Gespräch unbedingt aufrecht erhalten wollte. Vielleicht wäre das sogar ein guter Weg für beide, um trotzdem irgendwie beieinander zu sein, wenn sie von anderen Menschen umgeben waren. Joey würde es auf einen Versuch ankommen lassen und hoffte, seinen Wunsch nach Nähe somit zumindest etwas befriedigen zu können.   ‘Sagt der, der mich unablässig mit seinen Blicken durchlöchert? Obwohl ich es dir nicht verübeln kann, wenn ich du wäre, würde ich mich auch die ganze Zeit anstarren ;-) ‘   Joey hob unauffällig den Kopf, um Setos Reaktion zu sehen, aber dessen Gesichtsausdruck blieb neutral. Verdammt, wie konnte der Größere sich nur so gut im Griff haben? Joeys Herz machte einen Sprung, als er schon eine neue Nachricht von ihm auf dem Handy hatte.   ‘Touché. Wobei ich meinen Blick zumindest ein bisschen besser unter Kontrolle habe. Aber du hast recht, es ist schwer, dich nicht anzuschauen…’   Er sah kurz auf zu seinen Freunden, Tristan regte sich noch immer über seine schlechte Mathe-Note auf und keiner beachtete Joey. Dann atmete er tief durch und verfasste eine neue Nachricht an Seto.   ‘Dito. Ich würde so gern zu dir rüberkommen und in diese wunderschönen Augen schauen. Und dich küssen. Und dich berühren. Und von dir berührt werden. Überall.’   Bei dem Gedanken daran, ihm jetzt nah zu sein, bekam Joey überall eine Gänsehaut. Ob es dem Braunhaarigen gerade wohl genauso ging?   ‘Joey… dann stell dir doch einfach vor, es wäre so. Stell dir vor, ich berühre sanft deine Wange. Meine Lippen berühren deine, unsere Nasenspitzen streifen sich. Ich ziehe dich auf meinen Schoß, so wie gestern Abend…’   Worauf lief das denn hier hinaus? Joey wusste es nicht, aber er fand es wunderbar. Sie hatten gerade erst angefangen zu schreiben, und er war jetzt schon süchtig.   ‘Seto… ich erwidere den Kuss, lehne mich ganz nah an dich. Umarme deinen Nacken und ziehe doch noch enger an mich. Und dann öffne ich den ersten Knopf deines Hemdes, das übrigens wunderschön ist… genauso wie du…’   Joeys Herz pochte heftig in seiner Brust. War er damit zu weit gegangen? Während er eine Antwort abwartete, versuchte er sich ein wenig abzulenken und sich am Gespräch seiner Freunde zu beteiligen, aber er hatte überhaupt nicht zugehört und keine Ahnung mehr, worum es jetzt eigentlich ging. Also tat er einfach so, als würde er die Unterhaltung gespannt verfolgen und nickte dann energisch an den richtigen Stellen. Das Vibrieren seines Handys zog ihn allerdings wieder zurück in den Gedankenstrudel, aus dem er gerade vergeblich versucht hatte auszubrechen.   ‘Meine rechte Hand schiebt sich unter dein Shirt und streicht dir erst über den Rücken, dann deinen Bauch. Der Daumen meiner linken Hand streift deine Lippen und ich will dir dieses Seufzen entlocken, nach dem ich so süchtig bin…’   Joeys Atem ging schneller und er musste aufpassen, nicht tatsächlich aufzustöhnen. Dieser Drache machte ihn fertig.   ‘Ich öffne weitere Knöpfe an deinem Hemd, bis es endlich vollständig auf ist und ich es dir über die Schultern schieben kann. Dann küsse ich deinen Nacken und arbeite mich zu deinem Ohr vor…’   ‘Oh, Gott, Joey, ich fürchte, wir müssen hier aufhören. Ich kann sonst nicht mehr aufstehen. Musst du heute Abend arbeiten?’   Joey konnte den Gedankengang sehr gut nachvollziehen, ging es ihm doch ähnlich. Er wollte nicht aufhören, aber er wusste, er musste. Diese Geheimniskrämerei würde sich als noch schwieriger erweisen als er gedacht hatte… Er hatte Blut geleckt, und wenn sich die Gelegenheit ergab, würde er ihm wieder Nachrichten schicken. Heiß oder nicht, das war eigentlich egal, solange er das Gefühl hatte, mit ihm sprechen zu können, war ihm das schon genug. Zumindest für jetzt, für den Alltag. Was abends hinter verschlossenen Türen passierte, stand auf einem ganz anderen Blatt…   ‘Ich muss leider zustimmen, so schwer es mir fällt. Ich muss heute nicht arbeiten, und du bist heute Abend gefälligst auch Zuhause, zu einer Uhrzeit, zu der ich noch nicht aussehe wie ein Zombie!’   Joey musste über sich selbst grinsen. Normalerweise war nicht er derjenige, der hier die Befehle gab, aber er konnte sich einfach nicht beherrschen.   ‘Natürlich, ich will schließlich wissen, wie es weiter geht…’   Die Schulklingel ertönte und läutete das Ende der Mittagspause ein. Joey, der noch immer das Grinsen nicht los wurde, erhob sich und ging zusammen mit seinen Freunden in das Klassenzimmer.   Die nächsten Tage gestalteten sich eigentlich immer gleich, mit dem nun einzigen Unterschied, dass sie unablässig Nachrichten hin und her schickten, wann immer irgendjemand dabei war. Sie waren wie besessen davon, einfach immer mehr von dem Anderen zu kriegen, quasi jede Sekunde zusammen zu sein, auch wenn sie es nicht waren oder nicht sein konnten.   Mittlerweile war das auch schon am Frühstückstisch zur Gewohnheit geworden. Sie waren so sehr eingenommen, dass kaum noch reale Gespräche zustande kamen. Unaufhörlich tippten sie in ihre Geräte und warteten gespannt darauf, endlich wieder eine Antwort zu erhalten.   Mokuba war das nicht entgangen, und er hatte in den letzten Tagen immer wieder versucht, irgendwelche Gespräche anzufangen, hatte aber nur mäßig Erfolg. Auch an diesem Morgen versuchte er sein Glück wieder.   “Hey, Seto, wem schreibst du da?”   Seto schaute kaum von seinem Telefon auf und antwortete ganz trocken: “Ist für die Arbeit, Mokuba.”   Nun hob auch Joey den Kopf und nahm das Stirnrunzeln in Mokubas Gesicht wahr, als er zwischen Joey und Seto hin und her schaute. Er sah verstimmt aus, irgendwie wütend. Da vibrierte Joeys Handy wieder, also widmete er seine ganze Aufmerksamkeit erneut der Nachricht, die ihre letzte Nacht Revue passieren ließ.   Plötzlich stand Mokuba schwungvoll auf, und während er so aus dem Raum rauschte, konnte man seine wütenden Schritte noch auf dem Gang hören. Er hinterließ zwei sehr verwirrte Männer, die sich in diesem Moment nicht so richtig einen Reim drauf machen konnten.   Joey ließ der Vorfall des Morgens den ganzen Tag in der Schule nicht los. Was war passiert? Hatte Mokuba vielleicht einfach nur schlecht geschlafen? Hatte er Stress mit irgendwem? Hatte er Streit mit seinem Bruder und Seto hatte es Joey einfach nicht erzählt? Letzteres hielt Joey eigentlich für unwahrscheinlich, Mokuba und Seto wirkten immer wie ein Herz und eine Seele, wie zu einer Einheit verschmolzen. Er hatte sie noch nie richtig streiten sehen.   Auch abends machte sich Joey noch viele Gedanken, als er sich auf den Weg zu Setos Apartment machte. Vielleicht sollte er mit dem Braunhaarigen darüber sprechen, möglicherweise konnte der sich mittlerweile einen Reim darauf machen. Joey zog seine Schlüsselkarte durch den Schlitz von Setos Apartment - Seto hatte sie zwischenzeitlich dafür freigeschaltet - und als er die Tür öffnete, hörte er plötzlich ein Geräusch. Er drehte sich noch mal um, sah in alle Richtungen, aber - nichts. Der Gang war dunkel und schien verlassen. Hatte er sich verhört? Schulterzuckend ging er zu Seto ins Apartment, den er auf dem Sofa sitzend vorfand und der offensichtlich schon sehnsüchtig auf sein Hündchen wartete.   Joey gesellte sich zu ihm und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund.   “Hey, was ist los, mein Hündchen? Ich sehe doch, dass du über irgendwas nachdenkst. Du warst heute den ganzen Tag schon so abwesend.”   Joey legte sich mit dem Rücken auf die Couch und bettete seinen Kopf in Setos Schoß, der ihm sogleich sanft durch die Haare strich. “Weiß auch nicht, ich mache mir Gedanken, was das heute Morgen mit Mokuba war. Hast du eine Ahnung, was los ist?”   “Nicht wirklich”, erklärte Seto. “Hast du eine Theorie?”   Plötzlich kam dem Blonden ein Einfall. “Meinst du, er ahnt vielleicht was? Ich meine, er ist dein Bruder, er kennt dich wie seine Westentasche. Würde er nicht merken, wenn was anders wäre? Ist ja auch nicht so, als hätte es in den letzten Monaten nicht genug Anzeichen gegeben dafür...”   Seto überlegte einen kurzen Moment. “Schon möglich. Erzählt habe ich es ihm nicht, aber er hat eine ziemlich gute Antenne dafür, wenn sich Stimmungen verändern.”   Joey streckte eine Hand aus, um seinen Drachen im Gesicht zu berühren und ihm sanft über die Wange zu streicheln. “Meinst du, wir sollten es ihm erzählen?”   Seto nahm Joeys Hand und küsste dessen Handrücken, bevor er sagte: “Ich bin nicht sicher, Hündchen. Sollten wir nicht lieber noch ein bisschen abwarten? Ich vertraue Mokuba, daran liegt es nicht, ich weiß nur nicht... “   “Wann der richtige Zeitpunkt ist?”, vervollständigte Joey seinen Satz. Seto nickte, und der Blonde konnte das nachvollziehen. So, wie er Seto kannte, würde der sich einen ganz detaillierten Plan machen wollen, um die Situation möglichst gut kontrollieren zu können, selbst wenn - oder vielleicht gerade weil - es um seinen eigenen Bruder ging. Gedankenverloren gingen beide zu Bett und grübelten diese Nacht noch viel über die Frage nach, was sie tun sollten.   Der nächste Morgen war der letzte Samstag im Februar. Der März stand vor der Tür und Joey freute sich schon darauf, das kalte Wetter des Winters bald hinter sich lassen zu können und konnte es nicht abwarten, dass der Frühling seine Pforten öffnete. Auch wenn der Winter wunderschön gewesen war, er mochte die Wärme eben doch lieber. Es war ruhig im Esszimmer, Mokuba setzte genau wie sein Bruder eine neutrale Miene auf. Ob er sich wohl bewusst war, wie sehr er Seto jetzt gerade ähnelte?   Joey verfasste eine Nachricht an Seto.   ‘Ganz ehrlich, irgendwas ist mit Mokuba. Er wirkt doch sonst nicht so ernst.’   Er sah, wie Seto sein Handy in die Hand nahm und sogleich eine Antwort schickte.   ‘Stimmt, da ist was im Busch. Was sollen wir tun?’   Doch gerade, als Joey eine Antwort verfassen wollte, nahm Mokuba ihnen beiden diese schwierige Frage ab.   “Warum sagt ihr mir nicht endlich, was da zwischen euch abgeht?” Mokuba war aufgestanden und stützte sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab. Er sah abwechselnd zwischen Seto und Joey hin und her, und es war nicht zu übersehen, wie aufgebracht er war, er zitterte sogar ein bisschen. Joey sah Seto an, und der schaute zurück, aber beide waren heillos überfordert mit der Situation.   “Kommt schon, glaubt ihr, ich bin dumm oder so? Ich sehe doch, dass ihr euch hier offensichtlich die ganze Zeit Nachrichten schickt. Außerdem habe ich Joey gestern in dein Apartment gehen sehen, Seto. Mit seiner eigenen Schlüsselkarte.”   Verdammt, das war also das Geräusch, er hatte sich also nicht getäuscht. Er ärgerte sich sehr darüber, doch so unvorsichtig gewesen zu sein, aber er hatte so über die Geschehnisse des Morgens nachgedacht, dass er wohl nicht so sehr darauf geachtet hatte. Außerdem war es schon nach 22 Uhr gewesen, das Personal war zu dieser Zeit schon lange nicht mehr unterwegs, und Joey fühlte sich sicher. Offensichtlich zu sicher.   “Joey, dir kann ich das gar nicht übel nehmen, aber Seto, dass du mir nichts erzählst, das enttäuscht mich. Ich bin dein Bruder und wir erzählen uns immer alles. Wirklich alles! Ich verstehe nicht, was ich falsch gemacht habe, dass du das jetzt plötzlich nicht mehr machst.”   Joey sah, wie dem Kleinen Tränen in die Augen stiegen. “Mokuba…”, sagte er und wollte aufstehen und zu ihm rüber gehen, ihn irgendwie trösten, doch Mokuba wehrte sofort ab. “Ich finde das echt unfair, Seto. Ich will meinen Bruder zurück.”   Mokuba entfernte sich vom Frühstückstisch und ging weinend hinaus. Mit einem Seufzen setzte sich Joey wieder hin, und es war für einen Moment still im Raum. Die beiden Männer mussten das Ganze jetzt erst mal sacken lassen. Doch dann ergriff Joey wieder das Wort. “Okay, er hat also offensichtlich doch geahnt, was los ist.”   Seto nickte nur, sah Joey an und die Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben. “Ich verstehe nur nicht, warum er darauf jetzt so aufbrausend reagiert. Ich meine, klar, ich habe ihn nicht eingeweiht, aber das heißt ja nicht, dass ich das niemals gemacht hätte.”   “Na ja”, antwortete Joey, “ich kann es schon irgendwie verstehen. Das Band zwischen euch ist sehr stark, und ich glaube schon, dass ihr euch immer alles erzählt habt. Jetzt fühlt er sich vielleicht einfach ausgeschlossen und hat möglicherweise das Gefühl, ihr distanziert euch voneinander. Außerdem - er ist 13 Jahre alt, und wenn ich mir überlege, wie ich mit 13 war, war das hier noch gar nichts.” Das brachte sowohl Seto als auch Joey ein wenig zum Schmunzeln.   “Vielleicht sollte ich mit ihm reden?”, fragte Seto, doch Joey antwortete kopfschüttelnd: “Lass mich das machen. Er scheint wütender auf dich als auf mich zu sein, vielleicht kann ich eher zu ihm durchdringen. Aber wir müssen die Karten offen auf den Tisch legen, es wäre ungerecht, ihn jetzt anzulügen. Außerdem ist er dein Bruder, wir können ihm total vertrauen, weil ich weiß, dass er nie irgendwas machen würde, was dich verletzen oder in Gefahr bringen könnte.”   Seto nickte zustimmend. “Darf ich wenigstens dabei sein, wenn du mit ihm redest?”   “In Ordnung, aber halte dich bitte zurück. Egal was passiert, okay? Gut, wo könnte er denn hingegangen sein?”   “Vermutlich in sein eigenes Apartment. Das ist in der zweiten Etage.”   Sie nickten sich zu und machten sich auf den Weg.   Vor dem Apartment angekommen, holte Seto seine Schlüsselkarte raus und zog sie durch den Schlitz. Joey öffnete die Tür einen Spalt, drehte sich dann aber nochmal für einen Augenblick zu Seto um und sagte: “Du hältst dich im Hintergrund, während ich mit ihm rede, ja?” Seto willigte erneut ein und sie betraten das Apartment.   Sie fanden Mokuba auf dem Sofa sitzend vor, er spielte ein Videospiel auf seiner Konsole und sah noch immer ziemlich sauer aus. Sein Apartment war ungefähr so groß wie Joeys, aber deutlich liebevoller und persönlicher eingerichtet. Überall hingen Poster, Fotos mit seinen Freunden, und auch viele, viele Bilder, auf denen Seto drauf war. Joey hatte große Lust, sie sich alle genauer anzusehen, es schien, als ob es sowohl ältere als auch neuere Bilder von den Beiden gab. Aber heute war er in einer anderen Mission hier, auf die er sich jetzt voll konzentrieren musste.   Joey wusste nicht so recht, wie er anfangen sollte. Seto schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, sodass er ein wenig Abstand hielt. Joey atmete ein Mal tief durch und machte einen Schritt auf den kleineren Kaiba-Bruder zu.   “Hey, Mokuba, was spielst du da?”   Der zuckte nur mit den Schultern und antwortete, ohne Joey anzusehen: “Irgendwas, ist doch egal.” Seufzend setzte sich Joey neben Mokuba und schaute ihm ein paar Minuten lang beim Spielen zu. Dann setzte er wieder an. “Möchtest du darüber reden, was du da gerade gesagt hast?”   Mokuba sah nun endlich auf, allerdings an Joey vorbei, und schickte einen bösen Blick in Richtung seines Bruders. Tja, auch das Talent, andere mit einem einzigen Blick zu vernichten, lag wohl in der Familie. Dieser Gedanke brachte Joey etwas zum Schmunzeln. Dann sagte er: “Seto, kannst du uns für einen Moment alleine lassen?”   Joey sah, wie der Gedanke daran dem Größeren widerstrebte, aber er nickte kurz und ging in Mokubas Schlafzimmer. Allerdings schloss er die Tür nicht, sodass er noch immer mithören konnte. Dennoch schien Mokuba sich jetzt ein bisschen zu entspannen, auch wenn ihm nicht entgangen war, dass die Schlafzimmertür noch leicht offen stand. Er legte den Controller auf den Tisch und setzte sich im Schneidersitz auf das Sofa. Seine Hände spielten nervös miteinander und er betrachtete sie traurig, bevor er sagte: “Wehe, du tischst mir jetzt irgendwelche Lügen auf. Dann kannst du gleich wieder gehen.”   Das ließ Joeys Herz einen Moment aussetzen. Er hatte gar nicht so richtig gemerkt, wie ihm der Kleine in den letzten Monaten ans Herz gewachsen war. Und wenn man mal ehrlich war, wären Seto und Joey heute vielleicht gar nicht da, wo sie jetzt waren, wäre Mokuba nicht gewesen. Er hatte den Stein ja erst so richtig ins Rollen gebracht, mit seinen Ideen und Partys und seiner leidenschaftlichen Liebe für Weihnachten. Er war es ihm schuldig, jetzt ganz offen und ehrlich zu sein.   Joey setzte sich ebenfalls in den Schneidersitz, aber Mokuba zugewandt, um ihm vollkommene Offenheit zu signalisieren. “Versprochen, Mokuba, keine Lügen. Was willst du wissen?”   Mokuba schien einen Moment zu überlegen, dann fragte er schüchtern: “Was ist das zwischen euch?”   Auch Joey brauchte nun einen Moment, um über diese Frage nachzudenken. “Ganz ehrlich, Mokuba, es ist sehr schwer zu erklären. Und das liegt nicht daran, dass wir nicht wissen, was wir fühlen, sondern einfach daran, dass wir beide sowas noch nie erlebt haben. Aber falls das deine Frage beantwortet: Wir sind zusammen.”   Joeys Ehrlichkeit schien den Kleinen aus seinem Schneckenhäuschen herauszuholen, denn nun wandte auch er sich dem Blonden zu und spiegelte seine Sitzposition. Joey wartete ab, er wollte dem kleinen Kaiba alle Fragen beantworten, die er hatte.   “Seit wann?”, fragte Mokuba nun.   “Oh man, ich hab’ das Gefühl, ich werde jetzt jeden Satz anfangen mit den Worten: ‘Das ist sehr schwer zu erklären’.” Daraufhin musste Joey kurz auflachen, und auch in Mokubas Gesicht konnte er ein schiefes Grinsen erkennen. “Okay, aber jetzt mal im Ernst. Offiziell festgemacht haben wir das vor zwei oder drei Wochen. Und wenn du jetzt denkst, das wäre auf meinem Mist gewachsen, muss ich dich enttäuschen - dein Bruder hat das Wort ‘Beziehung’ das erste Mal ins Spiel gebracht.” Joey musste grinsen, als er Mokubas Erstaunen in seinem Gesicht ablesen konnte. Lachend gab Joey aber zu: “Nicht, dass es mich gestört hätte. Ehrlich gesagt war es auch schon davor klar, wir hatten nur noch keine offizielle Bezeichnung dafür gefunden.”   “Und wie hat das angefangen? Und wann wusstest du, dass es mehr ist?” Wow, der Kleine wollte ja wirklich alles wissen. Aber hey, Joey hatte versprochen, nicht zu lügen, und außer der Tatsache, dass sie wilden, hemmungslosen Sex hatten, würde er ihm auch alles erzählen. Er konnte sich sowieso kaum vorstellen, dass der Kleine an den dreckigen Bettgeschichten seines Bruders wirklich interessiert war. Beim Gedanken daran überkam ihn kurz ein wohliger Schauer. Er musste sich jetzt wirklich mal konzentrieren!   “Na ja, sagen wir mal so, du warst nicht ganz unschuldig daran. Ach komm, jetzt sieh mich nicht so an, als ob du nicht wüsstest, dass du uns einander in die Arme getrieben hättest mit deinen Ausflugsideen und Partys und allem.” Joey musste lachen, als er sah, wie Mokuba ein bisschen rot wurde. Er hatte schon das Gefühl, dass Mokuba für sein Alter sehr reif war - auf jeden Fall reifer als er selbst mit 13 - aber die kindliche Naivität war offensichtlich immer noch vorhanden. Und das war auch ganz gut so. Seto hatte seine Kindheit geopfert, damit Mokuba sie haben konnte, und wieder wurde ihm warm bei dem Gedanken, wie viel Seto für Mokuba aufgegeben hatte.   “Ich würde sagen, wirklich angefangen hatte es damals, als wir zusammen am Meer waren. Hat dir Seto je irgendwas davon erzählt, was auf diesem Ausflug passiert ist?” Der Kleinere schüttelte nur den Kopf, also fuhr Joey fort. “Wir haben eigentlich nur geredet. Über das, was ich so erlebt habe, in meiner Kindheit, und er hat mir von eurer Kindheit erzählt, und von Gozaburo.” Mokubas Augen weiteten sich. “Davon hat er dir erzählt?”   Joey nickte. “Ich war so überrascht wie du, glaub mir. Ich war aber auch von mir selbst überrascht. Ich habe ihm Dinge erzählt, die weiß sonst niemand über mich, nicht mal Yugi oder Serenity, nichtmal meine Mum. Bis heute nicht. Ich hatte das Gefühl, er hat mich an diesem einen Tag besser kennengelernt als es je sonst jemand getan hatte. Und ich glaube, das hat uns verbunden.”   Mokuba war die Überraschung noch immer ins Gesicht geschrieben. Und Joey wollte ihm unbedingt sagen, wie viel Mokuba Seto bedeutete. “Er liebt dich sehr, weißt du. Das wurde mir da erst richtig klar. Du warst gar nicht anwesend, aber seine ganze Aura, alles, was er sagte, war so voll von Gefühlen für dich, dass es keine Zweifel offen ließ.” Mokuba kamen vereinzelt die Tränen, aber er bedeutete Joey, weiterzuerzählen.   “Und dann gab es viele kleine Momente, immer dann, wenn wir unbeobachtet waren. Oder glaubten, es zu sein - damals im Kaiba-Land, da hattest du uns gesehen, wie wir nah beieinander standen, aber ich weiß gar nicht, ob du da so viel reininterpretiert hattest. Kannst du dich daran überhaupt noch erinnern?”   “Klar kann ich das. Das war ein richtig schöner Tag, den vergesse ich so schnell nicht.” Endlich hatte Mokuba sein Lachen wiedergefunden, was Joey umso glücklicher machte. Und als er ihn so lachen sah, war die Ähnlichkeit zu seinem großen Bruder wieder unverkennbar offensichtlich. Mokuba sprach weiter: “Ich hab’ euch schon gesehen und auch gemerkt, wie Seto immer wieder nach dir Ausschau gehalten hat. Aber so richtig was dabei gedacht habe ich mir ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, ich war einfach auch so abgelenkt von dem ganzen Trubel auf dem Weihnachtsmarkt.”   “Kann ich gut verstehen, war ja auch richtig cool da! Vielleicht machen wir das irgendwann noch mal? Nur du und ich, ein Kumpels-Tag oder so?” Sofort antwortete ihm Mokuba freudestrahlend: “Das wäre so cool, Joey!” Lächelnd nickte ihm der Blonde zu.   “Und gab es auch an Weihnachten solche Momente? Ich war echt überrascht, als Seto deine Familie eingeflogen hatte.”   “Mhm, ich glaube, rückblickend betrachtet war das der Moment, der alles verändert hat. Weißt du, in meinem ganzen Leben hat mir noch nie jemand ein Geschenk gemacht, das mir so viel bedeutet hat. Und ich Idiot habe ihm einen Schlüsselanhänger vom Weihnachtsmarkt geschenkt. Kannst du dir vorstellen, wie dumm ich mir vorkam?” Beide brachen in ein lautes Lachen aus, bevor Joey weitersprach. “Das war ein ganz besonderer Abend. Und dann dieser Helikopterflug zwischen Weihnachten und Neujahr? Da bleibt mir heute noch die Spucke weg, ehrlich. Das war einfach… wunderschön, anders kann ich es gar nicht beschreiben.”   Joey verlor sich für einen Moment in den Gedanken, war plötzlich von Erinnerungen vereinnahmt und ließ noch mal alles Revue passieren, was in diesen wenigen Wochen vor Neujahr passiert war. Gedankenverloren sprach er weiter: “Und dann kam Silvester. Und ich wusste, ich war verloren. Ich glaube, da ist es mir zum ersten Mal auch richtig bewusst gewesen, weil ich vorher versucht habe, es zu verdrängen. Weißt du noch, als du mit meinen Freunden ins Treppenhaus gekommen bist und uns dort gesehen hast? Ihr habt uns bei unserem ersten Kuss unterbrochen.”   Mokuba schlug seine Hände vor seinen Mund. “Joey, das tut mir leid, echt, wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich…” Doch Joey unterbrach ihn, als er abwehrend seine Hände hob. “Keine Sorge, Mokuba. Es war auch so richtig schön. Tja, ich glaube, das war dann so richtig unser Anfang. War jetzt eine recht lange Antwort, ich weiß, aber du wolltest alles wissen, jetzt weißt du alles. Danach gab es noch einige andere schöne Momente, das Klavierkonzert zum Beispiel, das war einfach toll, und da wären wir wieder dabei, wieviel Einfluss du auf das Ganze hattest.” Für einen kurzen Moment stockte er, dann sah er den Kleineren wieder an, legte die Stirn ein wenig in Falten und fragte: “Aber sag mal, Mokuba, wieso hast du denn nicht schon früher was geahnt? Zumindest aus meiner Sicht gab es in den letzten Wochen und Monaten ja genügend Anzeichen. Ich meine, hallo, du hast uns doch schon an Heiligabend dabei erwischt, wie wir uns fast geküsst hätten, nur dass du da früh genug reingekommen bist, bevor wir es eigentlich getan hatten.” Joey musste wieder lachen, als er Mokubas schockiertes Gesicht sah.   “Ja, das stimmt schon, und ich habe dann schon gedacht, dass da was ist. Aber dann gab es auch wieder Wochen, wo ihr so distanziert wart, dass ich dann wieder dachte, ich hätte mir das eingebildet oder zu viel reininterpretiert. Das hast du ja an Heiligabend auch so gesagt. Erst in den letzten Wochen habe ich gemerkt, dass sich was verändert hat, dass ihr euch verändert habt.”   Joey setzte ein sanftes Lächeln auf. “Das stimmt wohl, und es war vielleicht auch ein steiniger Weg bis hierhin. Aber ich bin froh, dass wir jetzt da sind, wo wir sind, wirklich.”   Plötzlich hörte er Mokuba schluchzen, die Tränen rannen ihm über das Gesicht, als er sagte: “Ich freue mich so für euch, Joey. Ehrlich. Wenn Seto glücklich ist, dann macht mich das auch glücklich. Ist er glücklich?”   Joey streichelte Mokuba tröstend über den Kopf, dann erwiderte er: “Das fragst du ihn sicher lieber nochmal selbst, aber mir kommt er so vor. Und ich bin es auch, sehr sogar.”   “Aber Joey, warum hat Seto es mir nicht erzählt? Ich meine, was ich vorhin sagte, dass wir uns immer alles erzählt haben und so, das stimmte. Vertraut er mir nicht?”   Joey versetzte das einen Stich. “So ist das nicht, Mokuba. Ich glaube, wir wollten beide einfach rausfinden, was das ist zwischen uns, bevor wir dich einweihen. Er vertraut dir, bedingungslos, mehr als irgendjemand anders auf der Welt. Auf der anderen Seite müssen wir einfach auch vorsichtig sein, weißt du. Seto steht in der Öffentlichkeit und wir wissen nicht, wie sich das auf sein Image oder auf seine Firma - oder sogar auf dich - auswirken könnte. Er will dich beschützen, nicht dir weh tun. Wir haben gerade gestern darüber gesprochen, wann und wie wir es dir vielleicht sagen könnten. Glaub mir, er liebt dich wirklich, sehr sogar.”   Noch immer schluchzend, fragte Mokuba: “Stimmt das, Seto?” In dem Moment bemerkte Joey, dass Seto neben ihnen stand. Er ging in die Hocke, um auf der Höhe der beiden zu sein, bevor er zu Mokuba gewandt sagte: “Ja, alles, was Joey gesagt hat, stimmt. Auch wenn ich bei seinem Weihnachtsgeschenk vehement widersprechen möchte.” Joey bemerkte das sanfte Lächeln auf Setos Gesicht, als er seinem Bruder liebevoll über den Kopf streichelte. Er beobachtete diese tiefe Geschwisterliebe und kam nicht umhin zu glauben, dass es genau so sein musste. Er bewunderte Seto für das, was er für seinen Bruder getan hatte, und er war sich sicher, dass Mokuba nicht mal die Hälfte davon wusste, auch wenn dieser es vielleicht glaubte.   Seto übernahm wieder das Wort. “Aber, Mokuba, es stimmt auch, dass wir vorsichtig sein müssen. Das heißt, kein Wort zu niemandem, zumindest noch nicht, okay?”   Dieser nickte seinem großen Bruder zu. “Ich weiß. Aber bitte, versucht es nicht mehr, vor mir zu verheimlichen, in Ordnung?” Seto lächelte erst Mokuba und dann Joey an, eines dieser Lächeln, das sonst nur er sah. Doch statt Eifersucht, weil er das jetzt teilen musste, stellte sich ein ganz anderes Gefühl bei Joey ein, das ihn vollkommen vereinnahmte - das Gefühl von Geborgenheit. Das Gefühl, dass es genau so richtig war, wie es war. Das Gefühl von Familie.   Dann stand er auf. “Ich lasse euch mal allein, damit ihr auch noch etwas reden könnt.” Als Joey Anstalten machte zu gehen, fühlte er Setos Hand an seiner eigenen, und als er sich zu dem Größeren umdrehte, stand dieser hinter ihm und zog ihn näher an sich. “Joey…”, flüsterte er und konnte dann nichts mehr sagen. Vielleicht, weil sein Bruder dabei war, vielleicht auch, weil ihm nicht die richtigen Worte einfallen wollten. Am Ende war es auch egal, weil Joey alles, was er wissen musste, in Setos Augen ablesen konnte - und seinen Blick genauso intensiv erwiderte. Dann küssten sie sich zärtlich, und es lag so viel Zuneigung in dieser Vereinigung, dass Joey schon wieder Angst hatte, zu platzen. Dann lösten sie sich mit einem Lächeln voneinander und Joey verließ das Apartment. Und er war erleichtert, dass Mokuba jetzt die Wahrheit kannte.   ~~~~   Seto blieb mit Mokuba allein zurück, und schon jetzt vermisste er Joeys Anwesenheit. Noch immer klopfte sein Herz schneller, wenn er daran dachte, wie Joey ihre Geschichte beschrieben hatte. Es war gleichermaßen so akkurat wie liebevoll gewesen, dass es ihn unheimlich berührt hatte. Außerdem war er beeindruckt davon gewesen, wie rücksichtsvoll und achtsam er mit seinem kleinen Bruder umgegangen war. Er musste anerkennend feststellen, dass es tatsächlich eine gute Idee gewesen war, dass Joey zuerst mit ihm gesprochen hatte. Er wusste nicht, ob er dieses Gespräch auch so hätte führen können. Wieder einmal bewunderte er sein Hündchen für seine Wortgewandtheit, die Seto zwar auch hatte, beispielsweise auf Pressekonferenzen, aber wenn es um emotionale Angelegenheiten ging, war er doch oft überfordert. Sein Hündchen mit den goldenen Augen war da einfach ganz anders, und das war wundervoll.   Er drehte sich zu Mokuba um - und statt, wie er erwartet hatte, in glückliche Augen zu schauen, sah er Mokubas bedrückten Gesichtsausdruck. Sofort setzte er sich wieder neben ihn auf das Sofa. “Was ist denn los, Mokuba?” Mokuba sah ihm für eine Sekunde in die Augen, dann wandte er seinen Blick ab und blickte in seinen Schneidersitz, spielte nervös mit seinen Fingern. “Du wirst ihm weh tun.” Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Hatte Seto hier irgendwas nicht mitbekommen von dem, was Mokuba und Joey gerade besprochen hatten?   “Warum sollte ich das tun?”, fragte Seto verwirrt.   Da sah Mokuba ihn wieder an, und sein Blick war so intensiv, dass Seto Mühe hatte, diesem standzuhalten. Es war eben ein echter Kaiba-Blick.   “Hast du dein Ziel jetzt nicht erreicht? Du wolltest, dass Joey dir vertraut und sich in dich verliebt, und für mich sieht alles danach aus, als ob du geschafft hast, was du schaffen wolltest. Heißt das, dein nächster Schritt ist darauf ausgelegt, dass du ihn wieder abstößt?” Er sah Schmerz und auch ein bisschen Wut in Mokubas Augen aufblitzen.   Und plötzlich erinnerte auch Seto sich wieder an seinen Plan. Im selben Moment stellte er fest, dass er schon sehr lange keine Gedanken mehr daran verschwendet hatte. Eigentlich hatte er nur bis zu ihrem Tag am Meer bewusst daran gedacht, denn danach war alles anders gewesen. Es fiel ihm zunächst schwer, es zu sehen oder sich einzugestehen, aber es ging immer weniger darum, seinen Plan in die Tat umzusetzen, als vielmehr darum, mehr über sein Hündchen zu erfahren. Damals, als die Wellen so unerbittlich gegen den Steg schlugen, da hatte er gesehen, dass sie eigentlich gar nicht so verschieden waren. Sie haben nur unterschiedliche Wege eingeschlagen, wie sie mit dem Schmerz, den sie erlebt hatten, umgegangen waren. Während es Seto verschlossen, kühl und distanziert machte - zumindest für jeden außer Mokuba - so wuchs in Joey eine unbändige Wut, aber gleichzeitig auch das Gefühl der Machtlosigkeit, und er konnte damit nicht mehr umgehen, was ihn fast dazu bewogen hätte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Als er ihn davor bewahrt hatte, da hatte es ihn noch nicht auf einer emotionalen Ebene berührt, es wäre ihm tatsächlich egal gewesen, ob er gesprungen wäre oder nicht. Und als er diesen Gedanken zu Ende führte, fragte er sich, was für eine Art Mensch er geworden war. Ließ ihn seine Vergangenheit doch nicht so kalt, wie er gedacht hatte? Hatte er einen Hass auf alles und jeden entwickelt und konnte das erst jetzt sehen? Oder warum wäre es ihm so egal gewesen, einen Menschen vor seinen Augen sterben zu sehen? Wenn er sich vorstellen würde, jetzt noch mal in derselben Situation zu sein, Joey so nah am Abgrund, da schmerzte sein ganzer Körper und seine Kehle schnürte sich zu. Er hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, weil das, was ihm die Luft zum Atmen gab, plötzlich fehlen würde. Und da wurde es ihm auf einmal bewusst. Als er diesen Plan gefasst hatte, kam er ihm wirklich gut durchdacht vor, aber leider hatte er eine Komponente außer acht gelassen - Joey. Den blonden, quirligen, liebenswerten, süßen, gleichzeitig sexy und leidenschaftlichen Wirbelwind, der ihn mittlerweile so vollkommen um den Finger gewickelt und vollständig vereinnahmt hatte.   Dann fiel ihm auf, was Mokuba da gerade eigentlich gesagt hatte. War sein Hündchen… verliebt in ihn? Wie sah man denn aus, wenn man verliebt war? Und wie verhielt man sich dann? Woran sollte er das denn erkennen, er, der von Liebe doch nun überhaupt nichts verstand?   Er musste diesen Gedanken auf einen späteren Zeitpunkt schieben, weil er wusste, dass ihm eine Antwort darauf nicht einfach vor die Füße fallen würde, und er bemerkte, dass Mokuba ihn erwartungsvoll anschaute. “Nein, Mokuba, vergiss den Plan, der ist Geschichte. Wobei, nur teilweise, wenn ich so recht drüber nachdenke. Ich habe Joey versprochen, ihm all das Glück zu geben, das er ertragen kann, und diesen Teil des Plans werde ich verfolgen, egal was kommt. Der Rest ist passé. Mokuba, alles, was Joey gesagt hat, stimmt. Und er bedeutet mir alles, hörst du? Ich würde ihm niemals weh tun, das könnte ich gar nicht. Ich will, dass er glücklich ist, denn dann bin ich es auch. Ergibt das alles irgendeinen Sinn?”   Und als er wieder in Mokubas Gesicht blickte, da sah er, wie der Kleine schon wieder ein paar Tränen unterdrückte. Aber er sah auch, dass das Strahlen in seine Augen zurückgekommen war. “Ja, tut es, Seto. Und ich bin wirklich froh, echt. Joey sah gerade so glücklich aus, ich hatte echt Angst, du würdest ihn verletzen. Aber ich sehe es jetzt - du hast dich verändert.”   Seto musste lächeln. “Stimmt, das haben wir beide. Er hat mich verändert.”   Und als Mokuba ihn in eine heftige Umarmung zog, war er plötzlich erleichtert darüber, dass sie darüber gesprochen hatten. Dass Mokuba jetzt wusste, dass das kein Spiel war, zumindest nicht mehr. Dass er wirklich bei Joey sein wollte, dass das alles auf Gegenseitigkeit beruhte.   Mokuba löste die Umarmung ein wenig und fragte dann an Seto gerichtet: “Weiß Joey davon, was du eigentlich vorgehabt hast?”   Plötzlich wurde Setos Miene finster. “Nein, und ich halte es auch für keine gute Idee, ihn einzuweihen.”   Nun schaute ihn sein kleiner Bruder skeptisch an. “Aber meinst du nicht, Joey hätte die Wahrheit verdient?”   Seto zögerte. Wenn Joey wüsste, was er eigentlich vorgehabt hatte, würde er dann noch bei ihm sein wollen? Er konnte dieses Risiko einfach nicht eingehen. Zumindest nicht jetzt. “Vielleicht erzähle ich es ihm irgendwann mal, Mokuba, aber im Moment will ich nichts riskieren. Versprichst du mir, dass du mir das überlässt und du ihm nichts erzählst? Ich habe wirklich ehrliche Absichten, Mokuba, und auch wenn das am Anfang nicht so war, so ist es doch jetzt so.”   Mit einem leichten Lächeln und einem liebevollen Ausdruck auf dem Gesicht antwortete der Kleinere: “Ja, das kann ich sehen. In Ordnung, solange du es jetzt vollkommen ehrlich mit ihm meinst, ist das ja auch alles, was zählt.”   Seto lächelte und streichelte Mokuba noch mal sanft über den Kopf, der sich daraufhin wieder eng an seinen großen Bruder kuschelte. Ja, Joey war ihm unheimlich wichtig geworden, und er durfte nicht riskieren, ihn zu verlieren. Er würde es ihm vielleicht wirklich irgendwann erzählen, aber im Moment wollte er nichts mehr, als ihn glücklich sehen. Und er würde alles tun, was in seiner - wohlgemerkt sehr großen - Macht stand, um genau das zu erreichen. Kapitel 15: Rescue me... from the wounds ---------------------------------------- Einige Tage später saß Seto noch spät in seiner Firma. Er wusste, Joey würde heute auch lange arbeiten müssen, und auch Seto hatte noch ein bisschen Arbeit vor sich. Er sah auf sein Handy, es war schon nach 22 Uhr. Er brauchte eine kurze Pause, bevor er sich wieder voll auf die Arbeit konzentrieren konnte, und scrollte noch mal durch die wunderschönen Nachrichten, die sie sich heute wieder geschickt hatten. Würde sich das jemals ändern? Würden sie jemals anders miteinander umgehen? Er hoffte nicht, weil er glücklich war, wie es gerade war. Er würde nichts, wirklich rein gar nichts ändern wollen.   Dann legte er seufzend das Handy weg. Er musste unbedingt noch diese Tabelle fertig machen, sonst würde er die ganze Nacht hier sitzen, und er hatte Joey versprochen, jede Nacht bei ihm zu sein. Und er war und blieb ein Kaiba, und ein Kaiba brach keine Versprechen.   Und gerade, als er sich an diese nervtötende Tabelle machen wollte, blinkte sein Handy auf - Joey rief an. Er überlegte kurz, nicht ranzugehen, um das hier noch schnell fertig zu machen, entschied sich dann aber doch dagegen. Er akzeptierte den Anruf und sagte: “Hey, mein Hündchen, kann ich dich in 30 Minuten zurückrufen? Ich muss das hier dringend noch fertig machen, sonst…”   “Seto?” Joeys Stimme traf ihn in Mark und Bein. Er weinte, das konnte er genau hören, auch wenn seine Stimme nicht mehr als ein Flüstern war. Erst dann nahm er die Hintergrundgeräusche wahr, er war wohl an einer Straße. Außerdem bemerkte er das Plätschern des Regens.   “Joey, was ist los? Was ist passiert?”   “Seto, er… er…” Er hatte sein Hündchen noch nie so sprachlos erlebt. Alles in ihm krampfte sich zusammen vor Sorge, als er plötzlich ein Rascheln wahrnahm, und dann eine andere Stimme. “Kaiba? Hier ist Yugi. Joey sagt immer wieder deinen Namen und… am besten kommst du selbst her, ist schwer am Telefon zu erklären.” Noch immer war Seto geschockt, weil er nicht wusste, was mit Joey passiert war. Und warum war Yugi bei ihm? Er musste sofort los, musste bei ihm sein, und wenn es das Letzte war, was er tat.   “Wo seid ihr?”, fragte Seto atemlos. Er schnappte sich seinen Mantel und rannte los, in einer Schnelligkeit, die er noch nie an sich gesehen hatte. Er musste jetzt unbedingt zu Joey, wollte wissen, was passiert war. Oh Gott, war er verletzt? Würde er sterben? Setos Gedanken überschlugen sich und ihm wurde schlecht, hatte kurzzeitig das Gefühl, sich übergeben zu müssen, konnte es aber gerade noch zurückhalten.   “Bist du gerade in der KaibaCorp? Wir sind nicht weit weg davon, ich schicke dir den Standort aufs Handy.” Während sie den Anruf weiter aufrecht erhielten, schickte Yugi ihm den Standort mit Joeys Handy, und tatsächlich waren sie nur zwei Querstraßen entfernt. In diesem Augenblick trat Seto auf die Straße, überlegte kurz, welcher Weg am schlausten war, dann beeilte er sich, so schnell wie möglich zu seinem Hündchen zu kommen.   “Bin gleich da”, sagte Seto und legte auf. Nur wenige Augenblicke später bog er in die richtige Straße ein - und konnte schon von weitem erkennen, dass sein geliebtes Hündchen umgeben war von seinem ‘Kindergarten’. Na toll, er dachte, er müsste sich jetzt nur mit Yugi rumschlagen, und jetzt waren auch noch die Anderen da. Aber das war jetzt einfach egal, er musste einfach wissen, was passiert war.   Mit schnellen Schritten ging er auf die Gruppe zu. Joey saß auf dem Boden in einer Seitengasse, war triefend nass, vermutlich durch den unaufhaltsamen Regen, und lehnte an einer Hausmauer. Wegen des Wetters und der Uhrzeit waren kaum andere Menschen auf der Straße, und der ‘Kindergarten’ versuchte zusätzlich, ihn ein bisschen vor den Blicken zu schützen, aber so richtig bemerken tat sie sowieso niemand, schon allein deshalb, weil sie sich in einer Seitengasse befanden. Je näher er kam, desto mehr sah er, was mit Joey passiert war. Er war blutüberströmt, hatte Wunden im Gesicht, seine Kleidung war zerrissen. Er hielt den Kopf gesenkt und Seto konnte trotz des Regens hören, wie er schnell atmete.   Er trat näher, die Gruppe hatte ihn mittlerweile bemerkt, und er fragte: “Was ist passiert?”   Yugi drehte sich zu ihm um. “Wir wissen es auch nicht so genau. Wir sind auch erst vor ungefähr fünf Minuten angekommen - Tristan, Téa und ich waren hier in der Nähe zusammen was essen, wir haben Joey nur durch Zufall entdeckt. Tristan hat gerade einen Krankenwagen gerufen, der sollte also gleich da sein. Gesagt hat Joey bisher nichts, außer deinen Namen, immer wieder deinen Namen. Dann hat er sein Handy rausgeholt und dich angerufen, aber auch nicht wirklich was rausbekommen.” Yugi sah ihn besorgt an, er konnte Gardner weinen hören, Taylors Gesichtsausdruck war geschockt. Dann ergriff Yugi erneut das Wort. “Ich weiß nicht, warum er deinen Namen gesagt hat, aber vielleicht kannst du zu ihm durchdringen?”   Seto gingen so viele Sachen durch den Kopf. Eigentlich müsste er vorsichtig sein. Sie hatten zwar Mokuba eingeweiht, aber sie waren sich einig, dass sie es dabei erstmal belassen würden. Wie sollte er sich jetzt am besten verhalten? Was sollte er tun? Er war für einen Moment so in Schockstarre, dass er gar nichts machen konnte, sich nicht bewegen konnte. Alle Augenpaare waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet.   Dann hob Joey, nur ganz wenig, seinen Kopf an. “Se-...Seto?” Seine Stimme war weinerlich, verletzt, und jegliche Selbstkontrolle wich aus Setos Körper. Er musste für Joey da sein, musste wissen, was passiert war, und wenn das bedeutete, dass der ‘Kindergarten’ was ahnte, dann war das ein Problem, dem er sich noch widmen müsste, aber es war eben auch ein Problem der Zukunft.   Also überwand er die Distanz zwischen sich und Joey und kniete sich vor ihn hin, sodass sie nun auf einer Höhe waren. Dass seine eigene Kleidung dadurch nun komplett durchnässt wurde, störte ihn wenig, wenn er dafür nur rausfinden konnte, was Joey angetan wurde. Und vor allem von wem. Noch immer spürte er die Blicke von Yugi und den anderen in seinem Rücken, aber davon konnte er sich jetzt nicht beeinflussen lassen. Joey war alles für ihn, und er musste ihm beistehen, was immer das auch für andere Probleme mit sich brächte.   Mit der rechten Hand nahm er Joeys Hand, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, doch er wirkte noch immer apathisch. Mit der linken Hand hob er Joeys Kopf so, dass er ihn anschauen musste. Oh Gott… er hatte überall Wunden im Gesicht, und noch immer lief ihm das Blut über die Wangen. Sein rechtes Auge war geschwollen und verfärbte sich langsam blau, seine Lippen wiesen Risse und Wunden auf, und auch aus seiner Nase lief das Blut. Setos Atmung beschleunigte sich und er rang damit, den Tränen in seinen Augen nicht freien Lauf zu lassen.   “Joey, was ist passiert?”   Sein Hündchen fing an zu schluchzen und drückte sich gegen ihn. Er zitterte am ganzen Körper und brachte auch nur ein Wort raus, aber dieses Wort reichte aus, um Seto alles zu sagen, was er wissen musste: “Dad…”   Seto musste sich beherrschen. Aber er konnte es nicht. Joey hier so zu sehen, das war einfach zu viel für ihn. Verdammt, scheiß auf die Selbstkontrolle. “Dieser verdammte… du weißt, ich bringe ihn um, Joey.”   Dann sah der Blonde zu ihm auf. All der Glanz war aus seinen Augen verschwunden, noch immer flossen die Tränen in Rinnsalen seine Wangen hinab. Dieser Bastard von einem Vater hatte Joey die ganze Lebensenergie ausgesaugt, und auch wenn Seto den genauen Grund dafür nicht kannte, oder warum das gerade jetzt passiert war - er würde es ihm nicht durchgehen lassen. Viel zu oft war er damit durchgekommen, aber jetzt war Seto Kaiba an diesem Fall dran, und er würde dafür sorgen, dass er büßte für alles, was er seinem Hündchen jemals angetan hatte.   “Seto, nicht… bitte, tu das nicht…”   Seto seufzte. In dem Moment hörten sie die Sirenen des Krankenwagens. Wurde ja auch, verdammt noch mal, Zeit! “Kannst du aufstehen, mein Hündchen?” Er wusste nicht, ob er es laut genug gesagt hatte, damit der ‘Kindergarten’ ihn hörte, aber es war ihm jetzt einfach auch egal. Er war rasend vor Wut und das vernebelte ihm alle Sinne. Er musste dafür sorgen, dass es seinem Hündchen jetzt besser ging, und danach würde er dafür sorgen, dass es seinem Vater nicht mehr gut ging. Nie wieder.   Er stützte Joey ein wenig und dieser stand mit ihm zusammen auf, knickte aber sofort wieder ein. Setos ganzer Körper tat weh und er hatte das Gefühl, das zu fühlen was Joey fühlte. Den ganzen Schmerz, all die Qualen, und er wollte einfach nur machen, dass es aufhörte, dass Joey wieder Glück und Freude empfinden konnte. Er erinnerte sich an sein Versprechen, ihm so viel Glück zu geben wie er ertragen konnte, und er würde dafür sorgen, dass er es wieder fühlte. Würde ihn in Zukunft vor allem Schmerz beschützen wollen, wollte für ihn da sein. Immer.   “Warte, du bist zu schwach, Joey.” Dann hob er ihn hoch, hielt mit dem einen Arm seine Beine, mit dem anderen stützte er seinen Rücken, und sogleich schlang der Blonde seine Arme um Setos Nacken und drückte sich eng an ihn, was den beiden verwirrte Blicke von Joeys Freunden einbrachte. Aber das war jetzt unwichtig, das musste es jetzt einfach.   Der Krankenwagen hielt am Straßenrand und Seto ging vorsichtig mit Joey im Arm auf die Notfallsanitäter zu. “Was ist passiert?”, fragte einer von ihnen an Seto gewandt, und er konnte nicht sagen, wie er es schaffte, so beherrscht zu klingen, aber er tat es, als er antwortete: “Das hat ihm sein Vater angetan. Ich kann nicht sagen, ob hier oder woanders, aber es kann noch nicht lange her sein, er blutet noch immer.” Er legte ihn auf eine Trage und sein Herz zerbrach in tausend Einzelteile. Sein Hündchen so zu sehen, war einfach zu viel, und er merkte schon wieder, wie Galle in ihm aufstieg.   Für einen Moment entfernten sie sich von ihm, um Joey die notwendige Versorgung zu geben und zu analysieren, wie tief die Wunden waren. Er musste für einen Augenblick durchatmen, aber schon kurze Zeit später stand der ‘Kindergarten’ um ihn herum.   “Was ist los, Kaiba? Er hat ‘Dad’ gesagt, hat ihm sein Vater das angetan?”, fragte Yugi. Seto sah ihn an, die Arme vor dem Körper verschränkt. “Wieviel wisst ihr über Joeys Verhältnis zu seinem Vater?” Er benutzte Joeys Vornamen, und er konnte in den Gesichtern seiner Freunde ablesen, dass das noch zu Fragen führen würde. Aber Yugi übersprang diese Fragen, hier ging es gerade einfach auch um etwas anderes, und Seto war froh, dass sie sich da offensichtlich einig waren.   “Nicht so viel”, begann Yugi. “In seinem Abschiedsbrief hat er vage angedeutet, dass sein Dad Schuld daran trägt, dass er sich… umbringen wollte.” Seto konnte sehen, wie Yugi mit seiner Fassung rang und ihm ein paar Tränen über die Wangen liefen. “Und mir ist schon früher aufgefallen, dass irgendwas nicht stimmte, zum Beispiel wenn er verletzt zur Schule kam oder lange fehlte. Aber Joey hat immer alles abgestritten oder irgendeine Ausrede gefunden. Ich wusste nicht, dass es so schlimm war. Oh Gott, ich hätte was tun sollen, hätte noch mehr eingreifen müssen.”   “Ich sage das jetzt nur ein Mal, und ich werde es nicht wiederholen”, sagte Seto, sein Blick kurz kühl auf Yugi gerichtet, bevor er sich wieder abwandte. “Aber du hättest vermutlich nichts tun können. Das hättet ihr alle nicht. Wem so etwas passiert, der kann es in der Regel sehr gut verbergen, und ich kenne Joey mittlerweile gut genug um zu wissen, dass er genau das getan hat. Ihr hättet nichts tun können, vielleicht hättet ihr es sogar noch schlimmer gemacht, wenn ihr ernsthaft eingegriffen hättet. Es ist nicht eure Schuld.”   Seto sah Yugi wieder ins Gesicht und konnte sein Erstaunen sehen. Ja, jetzt war er sich sicher, es würde viele Fragen geben, und innerlich wappnete er sich schon dafür. Als Yugi gerade den Mund öffnete, um vermutlich eine jener Fragen zu stellen, die das Verhältnis zwischen Joey und Seto thematisierten, hörten sie Joey leise rufen: “Seto?”   Mit schnellen Schritten lief er los und ließ Joeys Freunde hinter sich, die ihm zwar auch folgten, aber wesentlich langsamer als er. Joey lag noch immer auf der Trage und sah ihn  mit tränenverschleierten Augen an. Seto konnte sehen, dass die meisten Wunden mittlerweile versorgt waren und auch die Blutungen gestoppt wurden, und er war froh, eine kleine Verbesserung zu sehen, auch wenn er noch immer tief geschockt von dem Anblick seines Hündchens war. Er streichelte ihm zärtlich durch das Haar und nahm mit seiner freien Hand eine von Joeys.   “Ich bin hier, Joey, ich gehe nicht weg.” Dann kam eine Notfallsanitäterin auf ihn zu und auch die Gruppe hatte sich nun zu ihnen gesellt, aber Seto ließ nicht von Joey ab. Er konnte einfach nicht, egal, wie sehr er sich auch bemüht hätte. Jetzt war es sowieso schon zu spät. Gut, dass die Notfallsanitäter zumindest zum Schweigen verpflichtet waren, von ihnen würde keine Gefahr ausgehen. Ganz im Gegensatz zum ‘Kindergarten’, dessen fragende Blicke er noch immer in seinem Rücken spüren konnte.   “Einige seiner Wunden würden wir gern näher untersuchen, Mr. Kaiba, daher müssen wir ihn mit ins Krankenhaus nehmen.”   Joey verstärkte seinen Händedruck, sah ihn intensiv an, wollte nicht, dass er ging. Und er würde keinen Zentimeter von seiner Seite weichen. “In Ordnung, ich werde mitkommen.”   “Tut mir leid, Mr. Kaiba, wir dürfen leider nur Familienangehörige mitnehmen”, erwiderte die Sanitäterin, doch bevor Seto eine wütende und herablassende Antwort formulieren konnte, kam Joey ihm zuvor. “Er ist Familie. Er kommt mit, oder ich bleibe hier.” Und auch wenn es sich ein wenig fehl am Platz fühlte, so spürte er doch das Glücksgefühl, das von Joeys Worten ausgelöst wurde. Wieder einmal musste er feststellen, wie viel ihm der Blonde bedeutete. Er würde ihm niemals von der Seite weichen, niemals.   Die Sanitäterin sah verwirrt aus, ließ sie aber gewähren. Also stieg Seto mit in den Wagen ein, doch dann hörte er noch mal Yugi rufen: “Kaiba, ruf mich bitte an, wenn du mehr weißt, ja?” Seto überlegte kurz, aber dann nickte er ihm zu, die Türen schlossen sich und der Krankenwagen setzte sich in Bewegung in Richtung Krankenhaus. Er würde es niemals laut aussprechen, aber heute hatte er das Gefühl, Yugi war wirklich ein guter Freund für Joey.   “Seto?” Er musste blinzeln und sich kurz orientieren. Es war kaum Licht im Raum und er hörte ein leises Piepsen, von einer Maschine? Er selbst saß in einem Stuhl, und dann sah er Joey, in einem Krankenhausbett, und sofort waren alle Erinnerungen wieder da, auch das Gefühlschaos feierte ein wildes Comeback in seinem Körper. Er musste eingeschlafen sein, aber jetzt war er hellwach.   Er zog seinen Stuhl näher an das Krankenbett heran. “Hey, mein Hündchen. Wie geht es dir?” Auch Joey sah so aus, als hätte er ein wenig geschlafen, und trotz der vielen Wunden in seinem Gesicht konnte Seto sehen, dass der Kleinere wieder etwas mehr Farbe im Gesicht hatte. Joey fasste sich an den Kopf. “Hab’ ziemliche Kopfschmerzen. Aber ich bin froh, dass du da bist.” Der Blonde schien auch wieder etwas ruhiger, vermutlich hatten sie ihm hier auch ein paar Beruhigungsmittel gegeben. Seto musste einfach die Chance ergreifen und fragen.   “Willst du mir erzählen, was genau passiert ist?” Er nahm Joeys Hände in seine und streichelte behutsam darüber. Er wusste, dass ihn das viel Überwindung kosten würde. Aber er musste unbedingt verhindern, dass sein Hündchen sich wieder in sein Schneckenhäuschen zurückzog, denn das würde ihm nicht helfen, im Gegenteil, es wäre absolut kontraproduktiv.   Er merkte, wie Joeys Erinnerungen zurückkamen und ihm sofort wieder die Tränen in die Augen stiegen. Besorgnis zeichnete sich auf Setos Gesicht ab, und er streichelte Joey sanft durch seine Haare, weil ihn das normalerweise beruhigte. Auch dieses Mal verfehlte es seine Wirkung nicht, und als Joey ihm dann wieder tief in die Augen sah, fand er den Mut zu sprechen.   “Ich war auf meinem Weg nach Hause. Ich wollte noch einen kleinen Spaziergang machen. Es war viel los im Café und ich brauche das manchmal zum Runterkommen.” Er stockte kurz, aber Seto wollte, dass er weiter redete. Er küsste seinen Handrücken, bevor er sagte: “Du machst das gut, mein Hündchen. Ich weiß, es ist schwer, aber bitte, versuch es.”   Joey schluckte hart, fuhr aber fort. “Und dann kam ich in diese Straße, wo ihr mich dann ja auch gefunden habt. Irgendein betrunkener Penner rempelte mich an, bis ich merkte, dass das mein Dad war. Ich hab’ ihn im ersten Moment gar nicht erkannt, er sah so runtergekommen aus, alle seine Sachen waren dreckig, und dann dieser bestialische Gestank. Einfach abartig. Und dann…”   Plötzlich musste Joey schluchzen und Seto zog ihn in seine Arme, streichelte ihm behutsam über den Rücken. Er musste ihn unbedingt beruhigen. “Shhh, mein Hündchen, es ist alles gut, ich bin da. Er kann dir nichts mehr tun. Ich bin bei dir, und ich lasse dich keine Sekunde allein, hörst du?” Joeys Schluchzen wurde allmählich wieder leiser und er schien sich in Setos Umarmung wieder ein bisschen zu entspannen. Also löste sich Seto wieder ganz leicht von ihm, dennoch berührten sich ihre Hände noch immer.   Joey nahm allen Mut zusammen und begann erneut zu erzählen. “Und dann hat er mir all diese Sachen an den Kopf geworfen. Wie nutzlos ich wäre, was für ein Stück Scheiße, weil ich ihn einfach habe sitzen lassen und ihm kein Geld mehr geschickt habe. Er hat erzählt, dass er seine Wohnung verloren hatte, weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte, seitdem lebt er auf der Straße, offensichtlich genau in der Ecke, in die ich gerade gegangen war. Normalerweise ging ich da nicht lang, aber ich wollte mal eine neue Ecke ausprobieren, mal ein bisschen Abwechslung reinbringen. Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, hätte ich das niemals gemacht. Tja, eine Flasche Alkohol hatte er trotzdem in der Hand, dafür schien er dann doch irgendwie das Geld auftreiben zu können.” Joey schnaufte und machte seiner Verachtung für den Mann, der sich sein Vater schimpfte, Luft.   “Und diese Wunden? Was hat er dir angetan, mein Hündchen?”, fragte Seto sorgenvoll und hoffte, dass er damit nicht zu weit gegangen war. Aber als der Blonde seinen Kopf wieder hob und ihm in die Augen sah, da konnte er sehen, wieviel Vertrauen der Kleinere in ihn hatte, und er nahm auch eine Wärme wahr, die wohl nur ihm galt.   “Ich war ziemlich schockiert, ihn so zu sehen. Natürlich war er sturzbetrunken, aber ich war so im Schock, dass ich mich kaum bewegen konnte. Es ist schwer zu beschreiben, aber er hat diese… Macht über mich, das war schon immer irgendwie so. Jedenfalls zerbrach er die Flasche und rannte auf mich zu. Deswegen die vielen Wunden im Gesicht. Dann wurde er rasend wütend und schlug mich mit der Faust ins Gesicht, immer und immer wieder. Dann trat er mich in den Bauch… und als ich am Boden lag, ist er einfach abgehauen. Ich… das… Seto, ich…” Joey verdeckte sein Gesicht nun mit beiden Händen, ließ die Tränen durch seine Finger fließen. Seto hielt das nicht aus, alles in ihm explodierte vor Sorge, wenn er sein Hündchen so sah. Also setzte er sich ebenfalls auf das Bett und schlang seine Arme um ihn, drückte ihn fest an sich. “Ich bin da, Joey, ich werde immer bei dir sein. Er wird dir nie wieder etwas antun können, hörst du? Ich werde dafür sorgen, dass er verdammt noch mal kriegt, was er verdient hat. Er hat dich lange genug davon abgehalten, das Leben zu leben, das du leben solltest. Jetzt ist Schluss damit.”   Verzweifelt löste sich Joey aus der Umarmung, zog Seto an seinem Kragen zu ihm runter, sodass sich ihre Gesichter sehr nahe kamen, kurz vor der Berührung standen. “Aber Seto, du… du darfst nichts Illegales tun, hörst du? Ich will nicht, dass du… im Gefängnis landest oder so. Ich brauche dich bei mir!” Das brachte Seto ein bisschen zum Schmunzeln. Er strich dem Blonden eine Strähne aus der Stirn und sagte: “Das werde ich natürlich nicht tun. Ich würde mich nie auf sein Niveau herabbegeben. Aber ich kenne die besten Anwälte der Stadt, habe sehr gute Beziehungen zur hiesigen Polizei, und mit dem Staatsanwalt war ich auch schon ein paar Mal essen. Er hat keine Chance, Joey. Er wird für sehr, sehr lange Zeit kein Tageslicht mehr sehen.”   Joey schien das sehr zu beruhigen, und das machte Seto unendlich glücklich. Er wollte ihn berühren, aber er wusste nicht, wieviel Joey ertragen konnte, also hielt er sich zurück. Doch dann sah er in Joeys Augen und wusste, dass es ihm wohl genauso ging, denn dieser hatte noch immer seine Hände an seinem Kragen und zog ihn jetzt etwas in seine Richtung. Wie in Zeitlupe näherten sich ihre Gesichter, doch da Joeys Lippe noch immer stark geschwollen war, lehnten sie sich nur Stirn an Stirn aneinander, und trotz dieser nur leichten Berührung explodierten die Schmetterlinge in Setos Bauch.   Sie wurden von einem Vibrieren unterbrochen - Setos Handy klingelte, und als er es rausholte und darauf sah, konnte er Mokubas Namen erkennen. Es wurde langsam hell, was bedeutete, dass er die ganze Nacht weg gewesen war. Vermutlich machte sich der Kleine unendlich Sorgen, und Seto überkam ein schlechtes Gewissen.   Widerwillig löste er sich von seinem Hündchen. Zwar nahm er Mokubas Anruf nicht an, er konnte aber sehen, dass dieser es offensichtlich schon ein Dutzend Mal bei ihm probiert hatte, und auch von Yugi hatte er unzählige Nachrichten. Darum würde er sich jetzt kümmern müssen, aber zuallererst wollte er Mokuba anrufen.   Noch einmal nahm er Joeys Hand und drückte sie leicht. “Kann ich dich für einen Moment alleine lassen, mein Hündchen? Ich fürchte, Mokuba will wissen, wo wir stecken, und Yugi nervt auch rum.” Und da sah er es, ein ganz leichtes Lächeln auf Joeys Gesicht, ganz sanft nur, und er konnte nicht anders als ihn ganz vorsichtig auf die Nasenspitze zu küssen. Dann stand er auf und verließ für ein paar Minuten den Raum, um zu erledigen, was erledigt werden musste.   ~~~~   Nun war Joey allein und noch immer überschlugen sich seine Gedanken heftig. In den letzten Monaten hatte er versucht, zu verdrängen, zu vergessen, was ihn sein Leben lang verfolgt hatte, aber die heutige Nacht brachte all die Schmerzen, all die Erinnerungen mit einer nie dagewesenen Wucht zurück. Es war viel mehr als der körperliche Schmerz. Diese Macht, die sein Dad über ihn hatte, die Angst, die er spürte, wenn er auch nur in seiner Nähe war, die Unfähigkeit, sich zu wehren, all das wurde ihm heute wieder richtig bewusst. Er hatte das Gefühl, machtlos zu sein, und selbst wenn er versucht hätte, sich zu wehren, so hatte er trotzdem die Befürchtung, dass es am Ende doch zwecklos gewesen wäre.   Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass Yugi und die Anderen ihn gefunden hatten. Er war wie in Trance, gefangen in all den Erinnerungen, denen er plötzlich nicht mehr entfliehen konnte. Es war, als wäre er wieder das Kind, das seinem gewalttätigen Vater schutzlos ausgeliefert war. Und irgendwie war es ja auch heute noch so. Und dann konnte er an nichts anderes denken als an Seto. Er brauchte ihn, wusste, ohne ihn würde er fallen und nicht mehr aufstehen können. Irgendwie musste er es geschafft haben, sein Handy hervorzuholen und seine Nummer zu wählen. Aber er konnte kaum etwas sagen. Nur wenig später wurde ihm das Handy aus der Hand genommen, jetzt wusste er, dass es Yugi gewesen sein musste, und er wusste nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, aber als er Setos Stimme gehört hatte, kam er wieder in der Realität an. Sah ihn vor sich, fühlte seine Berührungen, aber auch gleichzeitig all den Schmerz, körperlich und psychisch. Aber er hatte ihn gerettet, davor, in seinen Gedanken zu versinken und nie wieder herauszukommen.   Plötzlich spürte er, wie sich erneut Arme um ihn legten. Er sah auf und schaute in Setos stürmische, blaue Augen, und erst da merkte er, wie er sich wieder zusammengezogen hatte und wie die Tränen in Strömen sein Gesicht verließen. Doch kaum berührte ihn sein Drache, war neben der ganzen Verzweiflung auch noch die Wärme zu spüren, die nur Seto in ihm auslösen konnte, und er beruhigte sich ein wenig.   “Seto, bring mich weg, ganz weit weg. So weit weg, wie es geht, ja?” Er musste wieder schluchzen, er war einfach so erschöpft, dass er seine Emotionen nicht mal im Ansatz kontrollieren konnte.   “Wohin du willst, mein Hündchen. Aber erstmal müssen wir sichergehen, dass deine Wunden versorgt sind. Ich habe der Schwester Bescheid gegeben, dass sie den Arzt holen soll, damit wir erfahren können, wie schlimm es ist. Ist das okay für dich?”   Joey nickte und hielt sich an Setos Arm fest. Das gab ihm etwas Kontrolle und Stärke zurück, wenn auch nur in ganz leichten Ansätzen, aber es war immernoch besser als gar nichts. In dem Moment ging auch schon die Tür auf und ein Arzt trat ein. Als er Seto sah, hob er eine Augenbraue - klar, sie hielten jetzt auch keine Distanz, aber er wusste, dass der Mann im weißen Kittel unter ärztlicher Schweigepflicht stand und nichts hiervon nach außen dringen würde.   “Mr. Kaiba, bitte entschuldigen Sie, aber ich muss leider mit meinem Patienten allein reden.”   “Nein!”, schrie Joey sofort los, etwas lauter als er es eigentlich vor hatte. Er räusperte sich und versuchte, in etwas gemäßigterem Ton nochmal zu beginnen. “Nein, er bleibt hier. Er darf alles hören, was Sie mir zu sagen haben.” Der Arzt sah Joey stirnrunzelnd an, aber dann nickte er.   “In Ordnung. Mr. Wheeler, Sie haben großes Glück gehabt. Ihre Verletzungen sind rein oberflächlich. Die meisten Wunden sollten innerhalb von einer Woche verheilt sein. Wenn Sie möchten, können Sie das Krankenhaus noch heute verlassen, ich würde Ihnen noch ein paar Medikamente und Antibiotika aufschreiben, um zu verhindern, dass sich die Wunden entzünden, aber auch um die Wundheilung zu beschleunigen.”   Das waren gute Nachrichten, und Joey war tatsächlich auch ein wenig erleichtert. Er konnte gute Nachrichten gerade wirklich gebrauchen. “Ich möchte gern nach Hause, vielen Dank für die Informationen.”   Doch der Arzt verließ das Zimmer noch nicht. Skeptisch blickte er zwischen den beiden Männern hin und her, dann ergänzte er: “Die Notfallsanitäter haben mich darüber aufgeklärt, was passiert ist. Mr. Wheeler, ich habe einen Bericht geschrieben und alles dokumentiert, den gebe ich Ihnen auch mit. Ich würde Ihnen dringend raten, damit zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Natürlich ist das Ihre Entscheidung, aber was Ihnen angetan wurde, ist absolut rechtswidrig und gehört bestraft.” Damit zog sich der Arzt zurück und ließ Joey und Seto wieder allein zurück.   Seto holte ihn aus seinen Gedanken, als er ihm eine Strähne hinters Ohr strich. “Er hat recht, Joey. Wir sollten zur Polizei gehen. Meinst du, du schaffst das?” Joey sah zu ihm auf und blickte in sein sanftmütiges Gesicht, das nur er zu sehen bekam. “Wenn du mitkommst, dann schaffe ich es, da bin ich sicher”, erwiderte Joey, was Seto ein leises Lächeln entlockte. Und Joey kam nicht umhin zu denken, wie wunderschön er seinen Drachen doch fand, trotz der widrigen Umstände, in denen sie sich gerade befanden. Er brauchte ihn einfach, heute mehr denn je.   Seto setzte erneut zum Sprechen an. “Was hältst du davon, wenn wir in ein paar Tagen zu deiner Familie in die USA fliegen? Ich glaube auch, dass du hier mal raus musst. Ich kümmere mich um alle Formalitäten mit der Schule und so, aber ich denke, eine Woche könnten wir schon mal rauskommen. Was meinst du, wäre das weit genug weg?”   Joey kamen schon wieder die Tränen, aber dieses Mal nicht aus Trauer, Wut oder Verzweiflung, sondern aus diesem tiefen Gefühl, das er für seinen Drachen empfand. Er konnte nichts sagen, konnte einfach nur nicken, und war so unendlich dankbar dafür, ihn in seinem Leben zu haben, dass er es fast nicht ertrug.   Am Mittag verließen sie das Krankenhaus, die Taschen vollgepackt mit Medikamenten und dem Bericht des Arztes. Seto hatte seinen Kontakt bei der Polizei bereits angerufen und Bescheid gegeben, dass sie kommen würde. Er hat auch die Zeugen namentlich erwähnt, seine Freunde. Ob er sie dort wohl treffen würde? Er könnte sich vorstellen, dass er dafür gesorgt hatte, dass sie nun sehr, sehr viele Fragen haben würden, nicht nur in Bezug auf seinen Dad, sondern auch in Bezug auf Seto und ihn. Und er wusste, es war unausweichlich, dass sie nun endlich die ganze Wahrheit erfuhren.   Bei der Polizeistation wurde seine Aussage aufgenommen, der Bericht des Arztes kopiert und auch noch Fotos gemacht - noch waren seine Wunden frisch. Seto klärte im Revier außerdem ab, dass sie in ein paar Tagen für ungefähr eine Woche außer Landes sein würden, und gab ihnen seine Telefonnummer, die auch im Ausland freigeschaltet war, falls sie mehr Informationen bräuchten. Und gerade, als sie das Polizeirevier wieder verlassen wollten, um sich auf den Weg nach Hause zu machen, begegneten sie seinen Freunden.   Für einen Moment herrschte Stille, doch dann ergriff Yugi das Wort. “Joey, wie geht es dir?” Sein Gesichtsausdruck war besorgt, und Joey war froh, ihn zu seinen engsten Freunden zählen zu dürfen. Er antwortete: “Den Umständen entsprechend gut. Ich muss mich bei dir bedanken, bei euch allen. Dafür, dass ihr mich gefunden habt und alles. Ich stehe sehr in eurer Schuld.” Doch Yugi schüttelte nur den Kopf. “Das war doch selbstverständlich, Joey. Ich bin sicher, du hättest dasselbe für jeden von uns gemacht.” Bestätigend nickte Joey ihm zu.   Yugis Blick wechselte von ihm zu Seto und dann wieder zurück. Joey wusste, dass er Fragen haben würde, und dass er es sich mehr als verdient hatte, die ganze Geschichte zu kennen. Joey hatte gehofft, den Zeitpunkt selbst festlegen zu können, aber er wusste, besondere Situationen erforderten im Zweifel auch besondere Maßnahmen. Also holte er einmal tief Luft, bevor er erklärte: “Seto und ich werden für ein paar Tage zu meiner Familie in die USA fliegen. Wenn wir wieder da sind, erkläre ich euch alles, in Ordnung? Und mit alles meine ich alles. Keine Geheimnisse mehr.” Yugis Blick wurde weicher und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. “In Ordnung, Joey. Ich will, dass du weißt, dass du uns allen vertrauen kannst, und was immer all das hier auch zu bedeuten hat” - in dem Moment glitt sein Blick wieder rüber zu Seto, dann wieder zurück zu ihm - “du weißt, du kannst dich auf uns verlassen.”   Joey war gerührt und wusste, dass er recht hatte. Er hoffte, er hatte jetzt keine Grenze überschritten, wusste er doch, dass Seto das auch lieber anders vorbereitet hätte, aber er hatte das Gefühl, dass auch der Braunhaarige wusste, dass sie nun mehr oder weniger mit dem Rücken zur Wand standen. Und Joey wollte seinen Freunden keine Lügen auftischen, nicht mehr. Es war an der Zeit, und als er Seto in die Augen sah, konnte er sehen, dass er es offensichtlich auch wusste.   Joey umarmte Yugi, Téa und Tristan nochmal, dann ließen sie die Polizeistation hinter sich und machten sich auf den Weg nach Hause, wo Mokuba vermutlich schon wie auf heißen Kohlen sitzend auf sie wartete. Kapitel 16: Rescue me... from the emptiness ------------------------------------------- Leere - das war alles, was Joey in der letzten Zeit gefühlt hatte. Wo er noch vor wenigen Tagen den Schmerz gespürt hatte, ausgehend von seinen Wunden, aber auch von all den Erinnerungen, die ihn kaum atmen ließen, breitete sich jetzt eine Dunkelheit in ihm aus, die er alleine nicht stoppen konnte. Auch in diesem Augenblick starrte er wieder gedankenlos an die Decke und wartete ab. Auch wenn er immer wieder versuchte, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren, so gelang es ihm nicht. Selbst einen Punkt an der Wand zu fokussieren, war eine fast unlösbare Aufgabe, denn immer, wenn er es mit aller Macht probierte, verschwamm sein Blick vor seinen Augen und alles wurde trüb. Es war, als wäre er plötzlich in einer anderen Welt aufgewacht, einer Welt, die ihm nichts zu bieten hatte - nichts außer seinem bloßen Dasein.   Die Tränen, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit seine Wangen benetzt hatten, waren getrocknet, nichts erinnerte mehr an sie. Joey versuchte, sich an ihren salzigen Geschmack zu erinnern, an das Gefühl der Nässe in seinen Augen, auf seinem Gesicht, aber auch das wollte ihm einfach nicht gelingen. Und er wünschte sich nichts mehr, als darüber wütend zu werden, weil es einfach nicht klappen wollte, aber schon wieder - nichts.   Was ihm blieb, war seine Wahrnehmung von dem, was aktuell geschah. Er konnte seinen Atem spüren, wie die Luft in seinen Körper eindrang und angewärmte Luft wieder ausströmte. Merkte, wie sich seine Nasenflügel bewegten, wie sein Bauch und seine Brust sich hoben. Aber nichts von dem, was er spürte, erreichte sein Herz, nichts davon löste auch nur die geringste Empfindung in ihm aus. Es war, als hätte er verlernt, die Dinge, die er bemerkte, zu bewerten. Sein Kopf war nicht mehr in der Lage, den Geschehnissen Gefühle zuzuordnen. Er existierte, und das war auch schon alles, was es darüber zu sagen gab.   In den letzten Tagen hatte er viel Zeit alleine verbracht. Seto war quasi ununterbrochen mit den Vorbereitungen für ihre bevorstehende Reise beschäftigt gewesen, sodass der Blonde im Wesentlichen nicht mehr tat, als den ganzen Tag im Bett zu liegen und Löcher in die Luft zu starren. Für Joey fühlte sich das Bett so groß an, wenn Seto nicht da war, und er wünschte sich, es würde ihn traurig machen, ihm endlich die Tränen geben, die er so dringend weinen wollte, aber einfach nicht konnte.    Seto und er sahen sich gelegentlich zum Essen, aber meist bemerkte Joey ihn erst gar nicht, wenn er versuchte, ihn zum Essen zu holen. Es dauerte dann immer eine Weile, bis er realisierte, dass noch jemand im Raum war. Wenn er dann versuchte, sich auf Seto zu konzentrieren, dauerte es wieder einige Zeit, bis er ihn sehen konnte, also, wirklich sehen konnte, nicht die verpixelte Version, die er sah, wenn ihn die Leere gefangen nahm. Dann sah er seine eisblauen Augen, den sorgenvollen Blick, die Strähnen, die ihm in die Stirn fielen, vor allem, wenn er seine Haare gerade frisch gewaschen hatte. Als nächstes konnte er seinen Duft wahrnehmen, bevor er irgendwann auch hörte, was er sagte. Und wenn Seto länger bei ihm war, nicht bloß ein paar Minuten, dann merkte er, wie ganz langsam auch wieder ansatzweise Empfindungen zurückkamen, wenn auch zunächst nur vage angedeutet. Das Erste, woran er dann denken konnte, noch bevor er selbst wieder des Sprechens mächtig wurde, war, wie schön er ihn fand. Wenn Seto sich abends neben ihn ins Bett legte und gemeinsam mit ihm noch eine Weile wach blieb, legte sich irgendwann der Nebel vor seinen Augen und er konnte ihn sehen, ihn mit seinem Blick fixieren, dann auch wieder mit ihm sprechen und Setos Hand auf seiner Wange wahrnehmen. Dann kehrte er ins Leben zurück und war nicht mehr nur ein Schatten seiner selbst.   Joey konnte nicht sagen, wie viel Zeit bis zu diesem Punkt normalerweise verging. Dass es nur Sekunden waren, konnte er fast ausschließen, er war sich ziemlich sicher, dass es mindestens einige Minuten dauern musste, bevor er überhaupt wusste, dass Seto sich im Raum befand. Aber er war da, jeden Abend, schlief jede Nacht neben ihm ein, und wenn Joey dann langsam wieder anfing, Regungen in seinem Herzen zu spüren, da wusste er, dass Seto ihn aus diesem Zustand retten konnte. Und er wusste, Seto würde ihn immer retten, egal, wie tief er auch gefallen war.   Aber er war viel allein. Wenn Seto morgens ging, um sich den Vorbereitungen zu widmen, blieb von Joey bloß eine leere Hülle zurück. Erneut wich alles Leben, jegliches Gefühl aus seinen Gliedern. Die ersten Minuten, wenn Seto ihn verlassen hatte, spürte er vor allem eine ihn übermannende Kraftlosigkeit. Er konnte dann nichts anderes mehr tun, als im Bett zu liegen und erneut die Wand anzustarren. Er war dann gefangen im Käfig seiner eigenen Gedanken, aber wenn er in diesem Augenblick versuchte, einen bestimmten Gedanken zu greifen, war er auch schon wieder verschwunden und er wurde wiederholt Sklave seiner eigenen Apathie, unfähig, sich selbst daraus zu befreien.   Er fragte sich, ob das jetzt immer so sein würde. Ob er sich nur besser fühlen würde, wenn Seto bei ihm war. Er wusste, es war gut, dass es offensichtlich überhaupt noch einen Ausweg gab, und dieser hatte eisblaue Augen. Er wünschte sich einfach, wieder irgendwas zu fühlen, auch ohne Seto. Manchmal wünschte er sich sogar, der Schmerz würde ihn hemmungslos treffen, damit er sich dem endlich stellen konnte, aber er wusste nicht, wie. Er lebte, atmete, aß ein bisschen was - aber war das wirklich leben? Würde das jetzt immer so sein, wenn er allein war? Seto war immerhin CEO eine Multimilliarden-Firma, er war auch im Alltag viel beschäftigt, sodass Joey sowieso oft Zeit ohne ihn verbringen musste. Wie sollte er einen Alltag überstehen, in dem er nichts außer Leere und Dunkelheit in sich spürte?   Noch vor wenigen Wochen hatte er vor, dem Schmerz ein Ende zu bereiten, sein eigenes Leben auszulöschen, um den Qualen, die es mit sich brachte, zu entkommen. Vielleicht war es also doch nicht besser, alles zu fühlen, vielleicht war es einfach eine natürliche Abwehrreaktion seines Körpers und seiner Psyche. Aber Seto hatte ihm in den letzten Monaten gezeigt, dass er lernen konnte, mit dem Schmerz umzugehen. Dass er ein Leben haben konnte, in dem er glücklich sein würde. Und er war glücklich gewesen, bis zu dem Tag, an dem sein Dad ihn auf den harten Boden der Realität zurückgeholt hatte.   Hatte er es vielleicht nicht anders verdient? Vielleicht war es einfach das Schicksal, das ihm sagen wollte, dass es für ihn in diesem Leben keine Freude geben konnte. Aber wäre das ein Leben, das er leben wollte? Die letzten Monate hatte ihm Seto gezeigt, dass es im Leben einen Sinn geben könnte. Sie hatten eine Verbindung aufgebaut, die vermeintlich alles überwinden konnte. Aber wäre das genug, würde das auch für jetzt reichen? Er hatte ihm versprochen, es zu versuchen, damals am Meer, und genauso, wie ein Kaiba nie seine Versprechen brach, würde auch ein Wheeler nicht kampflos aufgeben. Aber dieses Mal war alles anders, weil er statt einer Masse an Schmerz einfach gar nichts mehr fühlte und wie ein Geist durch den Tag glitt, zumindest wenn Seto länger nicht bei ihm war. Und er fragte sich, ob das nicht sogar schlimmer wäre, als alles zu fühlen.   ~~~~   Seto drückte den roten Hörer und legte auf. Die Polizei hatte Joeys Dad noch immer nicht gefunden, und er fragte sich, in welchem Rattenloch sich dieser Aasgeier wohl versteckt hielt. Er war sich aber auch bewusst darüber, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte. Er hatte Mittel in Aussicht gestellt, die helfen würden, mehr Personal für den Fall abzuziehen. Joeys Dad würde gefunden werden, die Uhr tickte unaufhörlich, und er würde sicherstellen, dass er jede nur erdenkliche Strafe bekam. Er würde nicht davonkommen, nicht mehr.   Seto war aufgefallen, wie in sich gekehrt sein Hündchen in den letzten Tagen war. Der Glanz war vollständig aus seinen Augen verschwunden, und auch wenn seine körperlichen Wunden allmählich heilten, so sah es bei Joeys Psyche doch ganz anders aus. Joey taute ein bisschen auf, immer wenn er etwas länger bei ihm war, aber Seto war die letzten Tage leider sehr beschäftigt gewesen, um alles Notwendige zu organisieren. Gestern hatte er Joeys Mum angerufen, um sie auf ihre Ankunft vorzubereiten, und er hatte ihr durch die Blume auch schon angekündigt, dass was passiert war. Natürlich war sie neugierig und wollte mehr wissen - das hatte sein Hündchen dann wohl von ihr - aber er sagte ihr, dass sie ihr und Serenity alles erklären würden, sobald sie da waren. Sie hatten außerdem abgesprochen, dass Seto und Joey in der Nähe in ein Hotelzimmer gehen würden, weil die Wohnung der beiden nicht für Besuch ausgelegt war. Er konnte das sehr gut verstehen, Wohnungen in Los Angeles waren unheimlich teuer, weshalb sie auch am äußersten Stadtrand lebten. Aber Seto war eigentlich ganz froh darüber, so konnte er immer für genügend Zweisamkeit mit seinem Hündchen sorgen, und er war sich sicher, das brauchte nicht nur er, sondern auch Joey jetzt ganz dringend.   Seto wusste, dass die Gespräche mit seiner Familie auch schwer werden würden für sein Hündchen, aber er war sich ganz sicher, es würde zu seiner Heilung beitragen. Und er würde jeden Schritt begleiten, immer bei ihm sein, und zusammen würden sie das schaffen können. Jedenfalls hoffte er es sehr - er merkte, wie die Apathie immer häufiger von Joey Besitz ergriff. Er würde jeden Menschen jetzt brauchen, der ihm etwas bedeutete, und Seto wusste, dass seine Mum und Serenity ganz oben auf dieser Liste standen. Und er hoffte, so schwer es auch werden würde, dass sie ihn aus seinem Kopf rausholen konnten, ihm aufzeigen konnten, dass es so nicht sein muss, dass es einen Ausweg gab.   Als sein Handy vibrierte und er die Nachricht las, dass der Flieger endlich bereit war, machte er sich auf den Weg zu Joeys Apartment. Endlich war es soweit, und er hoffte, Joey damit wieder aus seinem Schneckenhaus rauszukriegen. Ihn so zu sehen, brach ihm das Herz. Niemals im Leben hatte er so etwas gefühlt, außer vielleicht für Mokuba. Aber das hier war ganz anders, weil es Joey war, und seine Gefühle für ihn ganz anders waren als die, die er für Mokuba hegte.   An Joeys Apartment angekommen, klopfte er und verschaffte sich dann mit seiner Schlüsselkarte Zugang. Er fand sein Hündchen, wie schon so oft in den letzten Tagen, in seinem Bett vor, während er Löcher in die Luft starrte. Er bemerkte Seto im ersten Moment gar nicht. Der Größere wollte ihn einfach schütteln, wachrütteln, ihn wieder in die Realität zurückholen, und er würde jede einzelne Sekunde der nächsten Tage genau das versuchen. Er musste ihm zeigen, dass das nicht sein Leben war, dass er es in der Hand hatte. Und egal, was er dafür tun musste, er würde alles tun. Alles. Nichts war zu groß oder zu klein oder zu schwierig, für Joey würde er alles versuchen. Und der erste Schritt in die richtige Richtung war, hier wegzukommen.   Er ging zum Bett und legte sich für einen Moment neben ihn, nahm seine Hand und küsste den Handrücken. “Hey, mein Hündchen. Wie geht es dir?” Er hörte ihn noch nicht. Das kannte Seto jetzt schon und er wusste, er musste ihm die Zeit geben, die er brauchte, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Und während er zärtlich Joeys Hand streichelte, machte sich die Hoffnung in ihm breit, dass die nächsten Tage, in denen sie viel zusammen sein würden, dafür sorgen könnten, dass er diesem Zustand schneller entkommen konnte.   Irgendwann drehte Joey den Kopf so, dass sie sich jetzt ansehen konnten. Erstaunlich, wie schnell die Wunden verheilt waren, auch wenn sein Auge noch immer geschwollen und auch ein bisschen blau war, so war der Rest doch schon fast nicht mehr sichtbar. Als er ihm in die Augen sah, konnte er für eine Millisekunde Wärme aufblitzen sehen, aber so schnell es gekommen war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Aber Seto klammerte sich an diese winzigen Sekunden, in denen er sehen konnte, dass sein Hündchen, so wie er es kennengelernt hatte, noch irgendwo da drin steckte. Er wusste, dass Joey in diesen Tagen einfach etwas mehr Zeit brauchte, um wieder ganz präsent zu sein.   Seto drehte sich auf die Seite, und Joey tat es ihm gleich. Dann legte der Braunhaarige ihm einen Arm über die Hüfte und zog ihn ein wenig näher zu sich, legte seine Stirn an die von Joey, berührte ganz sanft seine Wange. “Seto…”, hörte er ihn flüstern, doch noch immer fehlte jeglicher Glanz in seinen Augen, so als ob er schlafwandeln würde.   “Ich bin hier, Joey. Und jetzt gehe ich auch nicht mehr weg.” Er streichelte ihm sanft durchs Haar, gab ihm ein paar Minuten. Als er Joeys Hand an seiner Wange spürte, wusste er, dass er sich jetzt wieder etwas besser auf ihn konzentrieren konnte, und er konnte ein Lächeln nicht verbergen, weil er so glücklich darüber war, dass er die Macht dazu hatte, ihn ins Leben zurück zu holen. Denn auch wenn seine aktuelle Verfassung ihm unheimlich war, so gab ihm das doch die Gewissheit, dass sie es schaffen konnten - gemeinsam.   Als er das Gefühl hatte, dass Joey ihn wieder hören und besser wahrnehmen konnte, sagte er: “Wenn du möchtest, können wir los. Ich habe alles geregelt, deine Mum weiß Bescheid, und sie und Serenity freuen sich auf dich.”   “Auf dich nicht?” Zuerst war der Braunhaarige überrascht, weil Joey so schnell antworten konnte, aber dann musste Seto ein bisschen lachen. So gruselig Joeys Erscheinung im Moment auch war, aber in diesem Zustand sagte er einfach manchmal Dinge, die er fast schon kindlich-naiv fand, süß irgendwie. “Doch, natürlich auch auf mich. Aber sie wissen ja noch nichts von uns, deswegen hat deine Mum eher die Freude darüber erwähnt, dich wiederzusehen. Willst du es ihnen erzählen, das von uns?” Neugierig schaute er in Joeys Augen, und wieder war für einen kurzen Augenblick die goldene Farbe zurück, bevor sie mattem Braun wich.   “Weiß nicht, sollte ich denn?”   “Das ist nicht die Frage, Joey.” Seto zog ihn mit sich hoch, umarmte ihn sitzend von hinten und schlang die Beine um ihn herum, während er kurz seinen Nacken mit leichten Küssen bedeckte. “Die richtige Frage, mein Hündchen, ist doch, ob du es willst.” Seto war erleichtert, als er merkte, dass Joey sich in seine Berührung reinlehnte - er war noch da, sein Hündchen, und er würde ihn mehr und mehr zurück an die Oberfläche holen, komme, was da wolle.   Joey drehte sich ein bisschen zu ihm um, bevor er sagte: “Aber darf ich denn? Müssen wir nicht vorsichtig sein?” Seto strich ihm ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor er sagte: “Grundsätzlich hast du recht, aber meine Familie - also, Mokuba - weiß es ja auch, wie könnte ich dir da verbieten, es deiner Familie zu erzählen? Wie wäre es, wenn wir im Flieger überlegen, wie wir das machen könnten? Vorausgesetzt, du willst es ihnen erzählen, natürlich.”   Ganz plötzlich, unerwartet schnell, kam Leben in sein Hündchen zurück, und Seto blieb für einen Moment die Luft weg, als er seinen intensiven Blick sah. Sofort verlor sich Seto in seinen Augen. “Ja, ich will es ihnen unbedingt erzählen. Aber du musst bei mir sein, hörst du? Ich… ich will nicht allein sein. Wenn ich allein bin, dann…” Und mit einem Mal war Joey wieder in seinem Schneckenhaus. Nein, er musste weiter reden, er durfte sich nicht verstecken.   “Joey, sieh mich an, red mit mir. Was ist, wenn du alleine bist?”   “Dann… dann fühle ich einfach gar nichts. Ich fühle mich leer. Wenn ich wenigstens Schmerz empfinden könnte, Trauer, irgendwas, damit könnte ich vielleicht umgehen, aber einfach nichts zu fühlen, da weiß ich einfach nicht, was ich machen soll. Ergibt das irgendeinen Sinn?”   Seto nickte. “Natürlich, alles, was du sagst, ergibt einen Sinn. Hör zu, ich bin da, okay? Es tut mir leid, dass ich die letzten Tage nicht so viel bei dir war, aber ich habe alles so vorbereitet, auch in der Firma, dass ich mich wirklich voll und ganz auf dich konzentrieren kann. Und Joey, bitte vergiss nicht, dass ich immer da sein will für dich. Weil du mir unheimlich wichtig bist und mir alles bedeutest. Okay?”   Joey traten Tränen in die Augen, und Seto konnte sehen, dass es Freudentränen waren. Er strich ihm vorsichtig ein paar Tränen von den Wangen, dann fragte er: “Fühlst du denn etwas, wenn ich bei dir bin?”   Joey nickte. “Ja. Was du gesagt hast… das war wunderschön, Seto.”   “Erzähl mir, was du dann fühlst.”   Er sah, wie Joey für einen kurzen Moment überlegen musste. “Ich fühle Wärme, und wenn ich die Augen schließe, dann sehe ich dich noch. Das ist schön… es fühlt sich gut an. Ich bin so gerne bei dir.” Seto war überrascht, als er Joey sogar ein wenig lächeln sah, und von der Reinheit seiner Worte. Es war noch nicht das Hündchen, das er vor diesem Vorfall war, aber es ließ ihn noch ein wenig mehr hoffen.   Er gab ihm einen Kuss auf die Stirn, dann sagte er: “Und ich bin unheimlich gern bei dir, mein Hündchen. Es gibt keinen Ort, wo ich lieber wäre.” Joey wurde sogar ein wenig rot - Mann, sie hatten einfach viel zu wenig Zeit zusammen verbracht die letzten Tage. Vielleicht würde es ihm schon besser gehen, wäre Seto nicht so abwesend gewesen? Er fühlte sich schuldig, wusste aber zugleich, dass er jetzt so viel Zeit freigeschaufelt hatte, dass er sich voll und ganz Joey widmen konnte. Und er würde das Beste daraus machen.   “Können wir jetzt von hier weg?”, fragte Joey, und Seto nickte lächelnd. Sie verließen das Apartment in Richtung Flugplatz auf dem Dach - sie würden mit dem Hubschrauber zum größeren Flugplatz geflogen werden, wo sein Privatflugzeug stand - und Seto gab dem Personal Bescheid, ihr Gepäck einzuladen.   Als sie nur wenig später mit dem Helikopter auf dem großen Flugplatz landeten, wirkte Joey schon etwas befreiter. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, ihn von hier wegzubringen, das konnte Seto jetzt ganz deutlich sehen. Ihre Sachen wurden im Flieger verstaut und der Pilot begrüßte beide persönlich. Es gab außerdem zwei Flugbegleiter an Bord, die sie mit Essen und Getränken versorgen würden, aber ansonsten sehr diskret waren - außerdem gab es zwei separate, private Schlafräume, in die sie sich zurückziehen konnten. Er ließ Joey zuerst die Treppe hochgehen, und sein Erstaunen war ihm ins Gesicht geschrieben. Seto konnte gar nicht beschreiben, wie glücklich es ihn machte, wieder irgendeine Empfindung im Gesicht des Blonden zu sehen.   ~~~~   Als sie auf dem Flugplatz ankamen und nur noch wenige Meter vom Eingang von Setos Privatflugzeug entfernt standen, war Joey plötzlich ganz befreit. Seto hatte ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen, seit er vorhin zu ihm gekommen war, und Joey konnte spüren, wie ihn das ins Leben zurückholte. Langsam kamen die Empfindungen zurück, es war ihm wieder möglich, die Sachen, die er sah, zu bewerten. Er war dankbar für jedes Gefühl, das er nun wahrnehmen konnte, ganz gleich, welches es jetzt auch war.   Und in genau dem Augenblick, als sie das Flugzeug betraten, war er vor allem verblüfft. Er war noch nie geflogen - wenn man mal von den Flügen mit dem Helikopter absah - und konnte sich kaum vorstellen, dass ein Linienflug so aussehen würde. Alles sah so edel aus und auch die Sitze, auf denen sie Platz nehmen würden, sahen bequemer aus als alles, worauf er so bisher gesessen hatte.   Ein Flugbegleiter führte sie zu ihren Plätzen und Joey ließ sich auf dem Fensterplatz nieder, Seto setzte sich direkt neben ihn. Vor ihnen war ein großer Tisch und dahinter befanden sich noch mal zwei Sitze, die in die entgegengesetzte Flugrichtung positioniert wurden, sodass sich hier jeweils zwei Personen gegenüber sitzen konnten. Joey sah für einen Moment aus dem Fenster und auf das Rollfeld. Er konnte reges Treiben beobachten und war tatsächlich auch ein bisschen aufgeregt.   Erneut machte sich Erleichterung in ihm breit. Er fühlte wieder, konnte einzelne Gedanken fassen, auch wenn es ihm noch ein bisschen schwer fiel, viele zusammenhängende Gedanken wahrzunehmen. Er war sich nicht sicher, ob Seto sich darüber bewusst war, wie viel Einfluss er auf ihn hatte. Joey fand es ja selbst total merkwürdig - im einen Moment fühlte er sich leer und apathisch, und schon im nächsten fühlte er diese Verbindung zu seinem Drachen, wenn er auch nur im selben Raum wie er selbst war - auch wenn das zugegebenermaßen eine Weile dauerte, bis er zurück in diesem Zustand des Fühlens war. Es war, als wäre Seto seine Brücke zum Leben, das Seil, das ihn hochzog, wenn er wieder mal zu tief gefallen war. Und er nahm es gerne an. Er würde es gar nicht anders haben wollen.   Er sah Seto jetzt direkt an und verlor sich in seinen wunderschönen, eisblauen Augen. Er wusste, solange um sie herum noch so viel Trubel war, würde er ihn nicht berühren können, aber er hatte Sehnsucht nach ihm. Er hatte ihn die letzten Tage wirklich nur spärlich zu Gesicht bekommen, und er kam auch immer sehr spät erst ins Bett, auch wenn er sich daran hielt, dass sie jede Nacht zusammen verbringen würden. Er wurde ungeduldig, weil er ihn unbedingt küssen wollte. Auch das hatten sie die letzten Tage vermieden, einfach schon, weil seine Lippe noch ein bisschen geschwollen war, aber mittlerweile war sie vollständig verheilt. Das konnte man von seinem Auge leider noch nicht sagen, aber es war auf einem guten Weg. Es war komisch, plötzlich wieder diese Sehnsucht zu fühlen, weil er die letzten Tage einfach gar nichts gefühlt hatte - aber es machte ihm Mut, dass es Licht am Horizont gab. Und dieses Licht war eisblau.   Sie hörten den Piloten durchsagen, dass sie sich anschnallen sollten, weil es gleich losgehen würde. Er sah die beiden Flugbegleiter ebenfalls zu ihren Plätzen gehen, die separat und außerdem außer Sichtweite von ihnen waren. Joey hatte - aus welchen dämlichen Gründen auch immer - Probleme damit, seinen Gurt richtig einzustellen. Er wollte schon genervt aufgeben, da spürte er Setos Hände an seinen - er war ihm sehr nah und sah ihm die ganze Zeit in die Augen, während er Joeys Gurt richtete und fest zog. Joeys Haut kribbelte unter Setos Berührungen.    Langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung, doch die Beiden bewegten sich nicht, ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt. Zu Joeys Aufregung wegen des Flugs mischte sich plötzlich wieder diese Hitze, die noch vor einer Woche so selbstverständlich zu seinem Alltag gehörte, wann immer er Setos Blicke auf sich spürte. Er hatte sie vermisst. Er wusste, dass alle Gespräche mit seiner Familie, die noch vor ihm lagen, auch schwierig werden würden - er hatte sich vorgenommen, ihnen die Wahrheit zu erzählen, nicht nur über Seto und ihn, auch wenn er das nicht abwarten konnte, sondern auch über seinen Dad. Er wusste, was er damit auslösen würde, und es machte ihm eine unheimliche Angst. Aber er war sich zweifellos sicher, dass Seto da war und ihm beistehen würde, einspringen würde, wann immer er strauchelte oder Hilfe brauchte. Und jetzt, in diesem Augenblick, wo sie sich so nah waren, wollte er die Sorgen, die jetzt noch in der Zukunft lagen, einfach vergessen, einfach bei ihm sein, seine Berührungen spüren, jetzt, wo er sie endlich wieder in Gänze wahrnehmen konnte.   Und in dem Moment, als sie abhoben, wusste er, dass niemand sie mehr würde sehen können. Er überwand die geringe Distanz zwischen ihren Gesichtern und küsste Seto mit einer Leidenschaft, die mehr forderte. Das entlockte Seto ein wohliges Seufzen und Joey wusste, dass auch Seto ihn vermisst hatte. In Joeys Magen kribbelte alles, zum einen wegen des immer höher steigenden Flugzeugs, aber auch, weil er endlich wieder die Schmetterlinge fühlen konnte. Schnell atmend löste er den Kuss und wischte sich einige Tränen aus den Augen, und Seto sah ihn besorgt an. “Was ist los, mein Hündchen?”   Joey schüttelte den Kopf und lächelte. “Ich fühle etwas, Seto. Weißt du eigentlich, wie befreiend das ist? Ich hatte solche Angst, ich würde das nicht mehr können. Ich hatte Angst, nicht mehr so für dich fühlen zu können. Aber es ist noch da. Ich bin noch da.”   Er sah, wie berührt Seto war. “Joey, ich sorge dafür, dass du da bleibst, hörst du? Wann immer du dich leer fühlst, und sei es auch nur für eine Sekunde, dann kommst du zu mir, ja? Egal ob ich arbeite oder schlafe oder was auch immer mache, okay?”   “Ja…”, raunte er nur kurz, bevor er Seto wieder in einen Kuss verwickelte. Dieses Mal war er zärtlicher, so voller Vertrauen und Zuneigung füreinander. Und während er Seto küsste, kamen plötzlich alle Sinne und Empfindungen zurück - er nahm Setos Geruch mit einer Wucht wahr, wie er es vorher nie gefühlt hatte, so als ob sein Körper alles in sich aufsaugen würde, was er die letzten Tage so angestrengt unterdrückt hatte. Er löste den Kuss und legte seinen Kopf auf der Schulter des Braunhaarigen ab, wollte sich ganz auf seinen Duft konzentrieren. Er roch irgendwie blumig, süß, aber im Hintergrund nahm er auch einen ganz dezenten Minzduft wahr. Es war betörend und gleichzeitig spürte Joey die Erleichterung, diese Gedanken greifen und die vielen Eindrücke genau spüren zu können. Er versuchte, sich diesen Moment genau einzuprägen und nahm sich vor, wenn er sich das nächste Mal leer und melancholisch fühlte, würde er versuchen, genau an diesen Moment zurückzudenken. Vielleicht hatte er Probleme damit, irgendeinen Gedanken zu fassen, wenn er sich so fühlte, aber wenn er exakt wusste, woran er denken musste, würde das möglicherweise helfen, ihn nicht abdriften zu lassen. Einen Versuch wäre es allemal wert.   Als die Stimme des Kapitäns wieder ertönte, der durchsagte, dass sie nun an ausreichender Flughöhe gewonnen hätten und sie sich daher abschnallen konnten, wichen sie kurz erschrocken auseinander, einfach aufgrund des Geräusches, das sie nicht erwartet hatten. Dann lächelte Seto ihn an. “Soll ich dich ein bisschen rumführen?” Joey erwiderte das Lächeln und nickte, dann schnallte er sich ab und Seto und er erhoben sich von ihren Plätzen.   “Also, wo wir hier stehen, sind die Plätze, die wir bei Start und Landung einnehmen müssen. Weiter vorne im Flieger ist eine kleine Bar, wo immer ein Flugbegleiter stehen wird und uns Getränke macht, wenn wir Lust auf welche haben. Und hier hinten” - Seto zeigte in Richtung des hinteren Flugzeugs - “sind zwei private Schlafräume. Sie sind nicht riesig, bergen aber pro Schlafraum Platz für zwei Personen.”   “Das heißt, wir können uns dahin zurückziehen, wann immer wir wollen?”, fragte Joey.   Seto sah sich kurz um, und als er niemanden erblickte, strich er ihm über die Wange und für einen kurzen Moment über die Lippe, bevor er sagte: “Wann immer wir wollen. Sie sind sogar extra geräuschbeständig.” Joey lief rot wie eine Tomate an, was Seto zum Lachen brachte. “Weil es dort drinnen Fernseher gibt, die man auch laut anschalten kann, wenn man nicht mit Kopfhörern hören möchte. Keine Ahnung, woran du jetzt gleich wieder gedacht hast…”   Joey stieg in sein Lachen ein und fühlte sich so glücklich und frei. Er wusste, er musste das jetzt genießen, und dass die negativen Gefühle, oder vielleicht sogar wieder diese Leere, schneller wiederkommen konnten als ihm lieb war. Aber er würde Seto die nächsten Tage nur für sich haben, und er hoffte, in dieser Zeit genug Kraft tanken zu können, um danach nicht wieder in das Loch zurückzufallen, aus dem Seto ihn gerade so mühsam rausgezogen hatte.   Der Braunhaarige öffnete eine Tür zu einem der Schlafräume und Joey staunte nicht schlecht - er hatte nicht gelogen, wahnsinnig groß war es nicht, aber bot dennoch mehr als genug Platz, um ein Doppelbett, einen kleinen Klapptisch, eine noch kleinere Kommode und eben den Fernseher, der an der Wand befestigt war, zu beherbergen. Es sah genauso edel aus wie schon ihre Sitzplätze. Joey trat einen Schritt hinein und sah sich einen Moment um, als er plötzlich Setos Arme um sich spürte. Joey lehnte sich ein wenig an ihn und genoss die Berührung. Es war wirklich erstaunlich, wie intensiv er ihn jetzt spürte - er hatte das Gefühl, das, was er in den letzten Tagen nicht gespürt hatte, das fühlte er jetzt mit noch größerer Intensität. Und er würde jede Sekunden auskosten, bis zum Äußersten.   Seto hatte die Tür hinter sich geschlossen und sie waren ganz für sich. “Wir sollten uns ein bisschen hinlegen, mein Hündchen, der Flug wird insgesamt ungefähr zehn Stunden dauern. Und bereite dich schon mal auf einen heftigen Jetlag vor, wir haben 17 Stunden Zeitverschiebung nach LA.”   “17 Stunden? Was… wie geht denn sowas?”, fragte Joey fast schon entsetzt. Er nahm Setos leichtes Lachen an seinem Ohr wahr. “Ich weiß, verrückt, oder? Und weißt du, was noch verrückter ist? Es sind 17 Stunden früher. Das heißt, wenn wir ankommen, ist es immer noch früher als wir losgeflogen sind.” In Joeys Kopf drehte sich plötzlich alles, nun war er vollends verwirrt. “Also, das kann doch gar nicht gehen. So biologisch oder so. Ich dachte, das wäre ein Privatjet und keine Zeitmaschine.” Lachend ließen sie sich rückwärts aufs Bett fallen und schauten für ein paar Minuten einfach nur an die Decke. Dennoch fühlte es sich für Joey anders an als in den letzten Tagen, wo er so oft allein Löcher in die Luft gestarrt hat. Er konnte Setos Präsenz ganz nah bei sich spüren und wurde vollständig davon eingenommen. So als ob der Größere eine Blase um sie herum errichten würde, die sie vor allen Außeneinflüssen schützen würde.    Aber Joey wusste, das war nur ein temporärer Zustand. Wenn er ehrlich war, hatte er Angst, wieder aus diesem Flugzeug zu steigen, weil er wusste, was ihn erwarten würde. Wie würde seine Mum reagieren? Er wollte unbedingt ehrlich sein, aber würde er das wirklich schaffen? Er wusste, dass sie unheimliche Schuldgefühle haben würde, und auch wenn Joey das für absurd hielt, weil sie einfach überhaupt keine Schuld traf, so kannte er seine Mum doch gut genug um zu wissen, dass genau das passieren würde. Könnte er sie auffangen? Würde er die Kraft finden, gedanklich alles nochmal zu erleben und danach noch für sie da sein zu können? Er musste sich eingestehen, dass er das nicht wusste. Er versuchte, es sich vorzustellen, aber er konnte den Gedanken einfach nicht greifen. Joey hatte solche Angst davor, sie fallen zu sehen - denn daran wäre er Schuld.   “Hey, Joey, sieh mich an.” Joey hatte gar nicht gemerkt, wie er mit seinen Augen abgedriftet war und einen Punkt anvisierte, der gefühlt Lichtjahre entfernt zu sein schien. Er sah Seto an, aber er hatte Schwierigkeiten, ihn zu fokussieren. Er fühlte, wie die Leere in ihm die Kontrolle übernahm - schon wieder.   Wie gedämpft hörte er Setos Stimme, so als wäre sie ganz weit weg. “Joey, bleib bei mir. Erzähl mir, was in dir vorgeht.” Wieder versuchte Joey sich auf ihn zu konzentrieren, und es gelang ihm ein bisschen besser, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er spürte Setos Hände an seinen Wangen und Joey richtete seine ganze Aufmerksamkeit nun auf diese Berührung, analysierte sie genau, und schloss dabei die Augen. Setos Daumen strichen ihm leicht über die Wangen, kurz unter dem Auge. Seine Hände waren warm und groß und er spürte einige Finger auch an seinem Hals. Dann dehnte sich seine Aufmerksamkeit langsam auf die Geräusche aus. Er hörte Seto atmen und spürte ein wenig der warmen Luft auf seinem Gesicht, wann immer der Größere ausatmete. Er roch noch immer so wie vorhin, als Joey vehement versuchte, sich seinen Geruch einzuprägen. Er nahm den Minzgeruch jetzt intensiver wahr als er vorhin noch war. Dann hörte er plötzlich Setos Stimme, ganz nah an seinem Ohr, nicht mehr als ein Flüstern.   “Joey, ich bin hier. Du bist nicht allein. Versuch dich auf meine Stimme zu konzentrieren.” Joeys Wahrnehmung wurde besser, aber er wusste, wenn Seto nicht weiter redete, würde er wieder verschwinden. Er brachte ein kurzes, fast unmerkliches Nicken zustande und hoffte, Seto würde verstehen.   “Möchtest du, dass ich was erzähle? Würde das helfen?”, fragte Seto und hatte Joey damit offensichtlich verstanden. Noch immer konnte Joey nicht sprechen, also wiederholte er das Nicken unter großer Anstrengung. Er wollte hier raus, wollte nach dem Seil greifen, das Seto ihm zuwarf, aber er war noch zu weit weg.   “Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas Bestimmtes gibt, über das ich reden sollte, was dir helfen könnte. Aber ich rede einfach, und wenn ich aufhören oder lieber über was anderes sprechen soll, dann tipp’ mich einfach kurz mit dem Zeigefinger an. Schaffst du das?” Joey brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was Seto da gerade gesagt hatte. Noch immer hatte er das Gefühl, er wäre so weit weg, doch dann merkte er, dass Seto seine Hände genommen hatte und sie nicht mehr an seiner Wange waren. Er tippte kurz mit seinem Zeigefinger auf Setos Hand und versuchte sich wieder auf Setos Atem zu konzentrieren, dann wieder auf seine Worte, als dieser erneut anfing zu sprechen.   ~~~~   Seto wusste noch immer nicht so genau, worüber er sprechen sollte. Bevor er es richtig realisieren konnte, wurde Joey wieder in diesen apathischen Zustand gezogen und schien sich nicht selbst befreien zu können. Seto fühlte sich ein wenig hilflos. War er genug, um ihm da rauszuhelfen? Könnte er es schaffen, Joey wieder zurück in die Realität zu holen? Er musste es versuchen, und wenn nötig würde er den gesamten Flug über reden, wenn es das war, was dem Blonden half.   Er atmete einmal tief durch. Und wenn er einfach seinen Gedanken freien Lauf ließ? Joey würde es ihn wissen lassen, wenn es das falsche Thema war, er war offensichtlich präsent genug um zu verstehen, was Seto sagte, und konnte sich bemerkbar machen, indem er mit dem Finger tippte. Also fing Seto einfach an zu erzählen, was ihm gerade einfiel.   “Weißt du, dass ich noch nie jemanden getroffen habe wie dich? Bevor du kamst, da waren Mokuba und die Firma mein Leben, und ich war ehrlich gesagt sehr zufrieden damit, so wie es war. Aber du hast alles verändert. Damals am Meer, da hast du mich dich sehen lassen. Den echten Joey, nicht den, den du allen immer zeigen willst. Ich habe angefangen zu verstehen, wer du wirklich bist. Und ich habe dir Dinge erzählt, die niemand über mich weiß und von denen auch niemand wissen soll. Aber ich hatte einfach das Gefühl, dir kann ich es erzählen, so als ob ich dich schon mein ganzes Leben lang kennen würde. Danach hast du immer häufiger meine Gedanken eingenommen. Ich habe wirklich versucht, es zu verdrängen, aber je mehr ich dagegen angekämpft habe, desto aufdringlicher wurden die Bilder in meinem Kopf. Es war zwecklos, es überhaupt noch zu versuchen. Jedes Mal, wenn du lächelst, dann macht mich das glücklich, und deswegen wollte ich versuchen, dir so viel Freude zu schenken, dass du ununterbrochen lächeln musst. Gott, ich war so glücklich, als du an Weihnachten so befreit warst, weil deine Familie bei dir war. Du hast mir immer wieder gesagt, dass du nicht wusstest, wie du das wieder gut machen solltest, aber das brauchtest du nicht. Alles, was ich wollte, war, dich lächeln zu sehen. Weißt du, ich kann auch heute noch nicht mein Büro in der Villa betreten, ohne an diesen Moment an Weihnachten zu denken. Ich weiß, dass du glaubst, du hättest mir mit diesem Schlüsselanhänger ein absolut belangloses Geschenk gemacht, aber es war so viel größer als du dir das vorstellen konntest. Weil ich wusste, dass du dir Gedanken gemacht hast, und ich war glücklich darüber, dass du an mich gedacht haben musstest. Ich wollte, dass ich deine Gedanken genauso einnehme wie du meine. Und als wir uns fast geküsst hätten - und wäre Mokuba nicht reingestürmt, dann hätte ich dich geküsst - da war mir klar, dass ich alles dafür tun musste, um dir immer wieder dieses Lachen zu entlocken. Und ich habe mir ständig alles Mögliche einfallen lassen, damit das klappte. Weißt du eigentlich, wie sehr du mich verändert hast? Außer für Mokuba habe ich noch nie irgendwas für irgendjemanden gemacht, weil es einfach total unwichtig für mich war. Und dann kommst du, und alles, was ich denken kann, ist, wann ich dich das nächste Mal strahlen sehen kann, und wie ich es erreichen kann, dir das zu geben, was du dafür benötigst. Bisher hat das gut geklappt, aber jetzt… ich habe Angst, nicht genug zu sein, Joey, alles falsch zu machen und dich noch tiefer in diese Leere zu führen statt dir zu helfen. Was immer es ist, was ich machen muss, ich werde es tun, aber ich weiß einfach nicht, was es ist, das ich tun kann. Ich weiß nicht, ob es reicht, einfach bei dir zu sein, ob ich ausreiche. Ich will alles für dich sein, Joey, so wie du alles für mich bist. Aber wird das genügen? Das Schlimmste, was ich mir vorstellen könnte, wäre, dich zu verlieren, dich nicht mehr in meinem Leben zu haben. Das würde mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich habe Angst, dass du eines Tages aufwachst und feststellst, dass ich dir nicht genug helfen konnte, gerade jetzt. Ich…”   Und plötzlich spürte Seto von Tränen benässte Wangen an seinen und zarte Lippen, die seine eigenen berührten. Sie lagen beide auf der Seite, doch Joey hatte andere Pläne und warf sich nun schwungvoll über ihn, drückte Setos Hände in die Matratze und kniete nun über ihm, während er ihn unablässig küsste. Seto schloss sofort die Augen, um diese innige Berührung noch intensiver zu spüren. Alles, was er gerade gesagt hatte, stimmte, weil er seinen Gedanken einfach freien Lauf gelassen hatte, was ihm leichter gefallen war, als er es jemals gedacht hätte. Ja, Joey hatte ihn wirklich verändert, das war jetzt noch deutlicher spürbar als sonst schon. Und er wusste, er würde niemals ohne sein Hündchen auskommen, ohne seine Berührungen und seine Nähe wäre er erledigt.   Langsam löste Joey den Kuss und Seto öffnete seine Augen erneut, blickte erstaunt in Joeys Augen, die golden leuchteten. Er war wieder bei ihm, sein Hündchen war zurückgekehrt. Seto streckte eine Hand aus und wischte ihm die restlichen Tränen von den Wangen, die mittlerweile zumeist getrocknet waren. Noch immer war er über ihm, seine Haare kreuz und quer im Gesicht.   “Seto… ich... “ Er schien mit den Worten zu hadern, aber Seto ließ ihm Zeit, sich zu sammeln. “Wie kannst du nur denken, du wärst nicht genug? Du darfst sowas niemals glauben, niemals, hörst du? Ich werde dich niemals verlassen, und das ist ein Versprechen. Weil ich nicht ohne dich kann, nicht mehr. Das macht mir auch ein bisschen Angst, weil ich so abhängig davon bin, dich in meinem Leben zu haben, aber da es dir genauso zu gehen scheint, macht es mich wiederum sehr glücklich. Wärst du jetzt nicht hier, wäre ich längst in die Tiefen gestürzt, und das meine ich sowohl metaphorisch als auch wörtlich. Wenn du nicht wärst, wäre ich tot. Ohne dich hätte ich gar kein Leben mehr. Du bist mein Leben, Seto. Ich…”   Es war, als wenn er noch etwas sagen wollte, aber nicht richtig wusste, wie. Aber für Seto war das genug, mehr als genug, mehr als er verdient hatte, zumindest fühlte es sich so an. Er zog ihn an sich und spürte, wie Joey wieder die Tränen kamen, die sich sogleich in seinem Hemd sammelten und einen nassen Fleck hinterließen. Nichts konnte Seto gerade egaler sein.   “Und du bist meins, Joey.” Der Blonde war seine Droge, denn er war genauso abhängig von ihm, süchtig und voller Sehnsucht nach dem nächsten Schuss, der unausweichlich kommen würde. Er würde sein ganzes Leben damit zubringen, so viel von seiner Droge zu bekommen, wie er konnte - mit dem absoluten Wissen, dass er es nie schaffen würde, eine Überdosis einzunehmen, weil es unmöglich war, diesen Zustand überhaupt zu erreichen.   ~~~~   “Guten Tag, hier spricht Ihr Kapitän. Wir möchten Sie nun bitten, wieder Ihre Plätze einzunehmen, weil wir zum Landeanflug angesetzt haben.” Joey schreckte hoch - er musste eingeschlafen sein. Er sah zu seinem Drachen rüber, dem es wohl ähnlich gegangen war. Er sah, wie Seto sich die Augen rieb, gähnte und dann fragte: “Wann sind wir denn eingeschlafen?” Joey musste lachen. “Keine Ahnung, ehrlich gesagt.” Dann sah Seto ihn wieder an und auch er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.   Für einen Moment fragte sich Joey, ob er das vorhin nur geträumt hatte. Er war schon wieder so tief vergraben gewesen in der Leere, die ihn umgab, doch dann kam sein mutiger Drache und zog ihn aus dem Strudel des Nichts, holte ihn zurück an die Oberfläche. Joey konnte noch immer nicht glauben, dass Seto so viel erzählt hatte, immerhin war er nicht gerade bekannt dafür, so offen über seine Gefühle zu reden. Aber Joey konnte sehen, wie sehr er sich verändert hatte, wieviel Mühe er sich gab, wenn es um ihn ging. Noch immer konnte er fühlen, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, wenn er daran zurück dachte. Er war so dankbar, Seto in seinem Leben und an seiner Seite zu wissen. Niemals würde er ihn gehen lassen, und er würde jeden Tag seines Lebens damit zubringen, ihm das Gefühl zu geben, dass er diese Angst nicht haben brauchte.   Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er Setos Lippen an seinen spürte, wenn auch nur für einen kurzen Moment. “Wir sollten nach vorne gehen, mein Hündchen.” Joey sah auf und konnte diese wunderschönen blauen Augen sehen. Würde er sich jemals satt sehen können? Vermutlich nicht.   Mit einem Nicken stand auch er auf, streckte sich und erweckte seine Glieder wieder zum Leben. Sie gingen nach vorne und Joey kam nicht umhin sich zu fragen, was wohl die Flugbegleiter die ganze Zeit gemacht hatten. Viel zu tun hatten sie ja nicht gehabt, nachdem Seto und er sich zurückgezogen hatten.   Zurück an ihren Plätzen nahm Joey einen Schluck aus der Wasserflasche, die für sie bereitgestellt worden war, und merkte erst jetzt, wie durstig er gewesen war. Seto setzte sich neben ihn und tat es ihm gleich. Für einen Moment sah Joey aus dem Fenster und konnte sehen, wie der Boden immer näher kam, wenn auch nur stückweise. Bald würde er seine Familie wiedersehen, was ihm gemischte Gefühle bescherte. Natürlich war er glücklich, sie so schnell wiedersehen zu können, aber er wusste, dass das hier kein leichter Besuch werden würde. Noch immer wusste er nicht, wie weit er gehen sollte, wie viel er wirklich preis geben sollte.   Doch dann stoppte er seine Gedanken. Nein, wenn er jetzt weiter machte, würde alles nur wieder so enden wie vorhin, als ihn die Leere gefangen nahm. Er drehte sich zu Seto um, der ihn ein wenig sorgenvoll betrachtete, aber nichts sagte. Vorhin hatte er ihm gesagt, dass er sich hilflos fühlte, weil er nicht wusste, was er tun konnte. Also wollte Joey ihn einbinden, ihm zeigen, dass er helfen konnte, denn er brauchte seine Hilfe, wenn er das irgendwie heil überstehen wollte.   Joey seufzte kurz auf und atmete dann noch einmal tief durch, bevor er fragte: “Wie viel soll ich ihnen erzählen, Seto? Meine Mum wird sich furchtbare Vorwürfe machen, aber das will ich nicht.” Er konnte sehen, dass Seto sich sehr bemühte, ihn nicht wieder zu berühren, aber da die Flugbegleiter schon wieder hin und her liefen, um das Flugzeug für die Landung vorzubereiten, hielt er sich zurück.   Der Braunhaarige überlegte einen Moment, dann antwortete er: “Erzähl ihnen das, was du ihnen erzählen willst. Konzentrier’ dich auf dich selbst, ich bin da und kann einschreiten, wenn etwas ist.”   In diesem Moment ging die Lampe an, die ihnen signalisierte, dass sie sich wieder anschnallen mussten. In wenigen Minuten würden sie wieder festen Boden unter den Füßen haben, und er sah, wie auch die beiden Flugbegleiter zu ihren Plätzen gingen. Offenbar bekam Seto mit, dass sie nun wieder unbeobachtet waren, denn er nahm eine von Joeys Händen und mit der anderen Hand zog er sein Gesicht am Kinn in seine Richtung. Er sah ihn intensiv an, ihre Nasenspitzen berührten sich leicht. “Du bist stark, mein Hündchen, viel stärker, als du glaubst. Ich kenne dich mittlerweile gut genug um zu wissen, was für ein Kampfgeist in dir steckt. Ich weiß, dass das nicht leicht wird, dass es vielleicht weh tun wird, aber ich bin da, jede Sekunde, und ich werde dich immer auffangen, wenn du fällst. Du schaffst das, ich glaube an dich.” Und als Joey die letzten Zentimeter überbrückte und ihre Lippen vereinigte, setzte das Flugzeug auf dem Boden auf. Und auch wenn er eine große Unsicherheit in sich spürte, was jetzt passieren würde, so wusste er doch, dass sein Drache alles tun würde, um ihn vor zu großen Schmerzen zu beschützen. Er konnte nur hoffen, dass er so stark sein könnte, wie Seto es sagte. Kapitel 17: Rescue me... from the dark -------------------------------------- Gemeinsam stiegen sie aus dem Flugzeug, Seto ganz dicht hinter Joey, sodass dieser fast schon seinen Atem in seinem Nacken spüren konnte. Das Erste, was Joey wahrnehmen konnte, war die Wärme. Es war früher Nachmittag und er konnte die warme Luft ganz deutlich auf seiner Haut spüren, musste seinen Mantel öffnen, damit ihm nicht zu heiß wurde. Er stieg die Treppen hinunter und kam nicht umhin zu glauben, dass etwas anders war. Vielleicht war es, weil er das erste Mal in seinem Leben im Ausland war, vielleicht auch, weil das Wetter in Los Angeles sich so anders anfühlte als in Japan. Auch der Geruch war anders. Vielleicht hatte es auch was damit zu tun, was er vor sich hatte. Aber er wusste, was immer passieren würde, würde passieren. Er war jetzt hier - und es würde kein Zurück mehr geben.   Zusammen mit Seto stieg er in eine schwarze Limousine ein, die bereits auf dem Rollfeld auf sie wartete. Er zog sich seinen Mantel aus und legte ihn sich auf den Schoß. Kaum war das Auto gestartet, schaute Joey aus dem Fenster, sah den Flugplatz sich immer weiter entfernen. Die Sonne blendete ihn trotz der getönten Scheiben und er versuchte, sich mit der Hand über den Augen ein wenig davor zu schützen und dennoch rausschauen zu können. Auf seiner anderen Hand konnte er die von Seto spüren, und als er ihn kurz ansah, konnte er die Sorge in seinen Augen aufblitzen sehen. Ob diese Empfindung wohl berechtigt war? Was würde das alles mit Joey machen, wer wäre er, wenn es vorbei war? Würde es ihn erneut verändern, so wie er sich in den letzten Monaten verändert hatte? Würde er wieder das Gefühl bekommen, keinen Ausweg zu sehen? Er wusste es nicht, er konnte es gar nicht wissen, nicht bevor er es nicht getan hatte. Und er wusste, er würde es tun müssen - weil es sicher war, dass er es nie schaffen würde, von seinen Erinnerungen loszukommen, wenn er das jetzt nicht tat. Das Einzige, worauf er hoffen konnte, war, dass Seto ihm die nötige Kraft gab, den Willen, ins Leben zurückzukehren statt sich in die Dunkelheit fallen zu lassen, die ihn unausweichlich erwarten würde.   Nach etwa einer Stunde kamen sie an einem Hotel an, das sehr luxuriös aussah. Ein winziges Lächeln, das Joey aber nicht vollkommen spüren konnte, legte sich auf seine Lippen. Seto würde wohl nie in ein einfaches, ganz normales Hotel gehen, hm? Der Größere hatte noch nichts gesagt, seit sie aus dem Flugzeug gestiegen waren, und Joey musste feststellen, dass dasselbe ja auch für ihn galt. Es lag etwas in der Luft, das Joey nicht richtig greifen konnte. Es war schwer, legte sich über ihn, wie ein starkes Gewicht, das seine Schultern und sein Rücken tragen mussten.   Er merkte, dass sie mittlerweile im Hotelzimmer angekommen waren. War er so in Gedanken gewesen, dass er nicht mitbekommen hatte, wie Seto sie beide eingecheckt hatte? Gedankenverloren ging er ins Zimmer, und natürlich war es kein Zimmer, sondern eine luxuriös ausgestattete Suite. Was auch sonst. Er ging direkt auf ein Fenster zu, zog die Vorhänge ein Stück zur Seite und beobachtete die Welt da draußen. Es waren noch immer viele Menschen auf den Straßen, und auch wenn die Sonne mittlerweile schon etwas tiefer stand, so hatte sie noch nicht viel an Strahlkraft verloren. Wohin gingen wohl all diese Menschen? Was beschäftigte sie in ihrem Leben? Was würde er dafür geben, mit einem von ihnen zu tauschen, nur für einen Tag, um zu wissen, wie sich ein Leben anfühlte, das noch nie Dunkelheit gekannt hatte.   In diesem Moment spürte er Setos Kopf auf seiner Schulter, seine Arme schlangen sich um Joeys Körper und zogen ihn fester an sich. Mit ruhiger, leiser Stimme flüsterte er ihm ins Ohr: “Möchtest du dich ein bisschen hinlegen, Joey?”   Joey atmete ein Mal tief durch und dachte über diese Frage nach. Warum fühlte er plötzlich schon wieder nichts? Warum lösten Setos Berührungen nicht das Kribbeln aus, das er üblicherweise bekam? Wenn es eines gab, worauf sich Joey in den letzten Tagen, so leer und verschwommen sich diese auch angefühlt hatten, verlassen konnte, dann war es, dass Seto ihn etwas fühlen lassen konnte. Brauchte er vielleicht einfach etwas mehr Zeit, jetzt, wo sie sich einige Zeit lang nicht so viel berührt hatten, seit sie das Flugzeug verlassen hatten? Wieder musste Joey feststellen, dass es sich anders anfühlte als die letzten Tage. Hier fehlte alles, was er kannte, er hatte nicht das Umfeld um sich, an das er sich die letzten Monate so gewöhnt hatte. Seto war sein einziger Pfeiler hier, und es blieb ihm nichts anderes übrig als zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass das ausreichen würde.   “Joey?”, hörte er wieder ein leises Flüstern an seinem Ohr. Ah, ja, er hatte die Frage noch nicht beantwortet. Seinen Blick hatte er in Richtung seiner Schuhe gesenkt. Als er ihn jetzt wieder anhob und nach draußen schaute, da wusste er, was zu tun war. Er wollte nicht warten, weil es keinen Grund dafür gab, das Unausweichliche nicht gleich hinter sich zu bringen. “Nein. Lass uns gleich zu meiner Familie gehen.” Er konnte die Überraschung in Setos Atmung wahrnehmen, und als sich der Größere von ihm löste, spürte er, wie die Dunkelheit wieder stärker Besitz von ihm ergriff.   “In Ordnung, wenn es das ist, was du willst, rufe ich deine Mum an.” Joey drehte sich kurz zu Seto um und nickte ihm zu. Er konnte die Sorge, die Unruhe, die Bedenken in Setos Blick sehen, aber Joey wusste, dass es die richtige Entscheidung war, schließlich war er deswegen hier. Dennoch - sein Herz spürte nichts, als er Setos Blick erwiderte. Also drehte er sich wieder um, zu dem Fenster, das das Licht gnadenlos ins Zimmer scheinen ließ, während Seto den Anruf machte.   Wenig später kam der Braunhaarige wieder zu ihm und nahm sanft seine Hand, stand einfach neben ihm und sah gemeinsam mit ihm aus dem Fenster. Joey schloss die Augen, hoffte, dass wenn er sich auf die Berührung konzentrierte, dass die Emotionen dann zurückkommen würden. Mit einem Seufzen musste er feststellen, dass dem nicht so war. Er fühlte, wie sein eigenes Herz regelmäßig hinter seiner Brust schlug, spürte den gleichmäßig ein- und ausströmenden Atem in seinen Lungen, aber nichts davon löste auch nur den Anflug einer Erregung aus.   Seto drehte ihn nun so, dass er ihn anschauen musste. Seine Hände legte er um Joeys Gesicht, während er sprach: “Wir können los, sobald du bereit bist. Lass dir alle Zeit, die du brauchst. Und Joey, vergiss niemals, dass ich bei dir bin. Ich werde dir nicht von der Seite weichen.” Seto streichelte ihm leicht über das Haar, was normalerweise eine beruhigende Wirkung auf Joey hatte, aber er war bereits ruhig, zu ruhig für das, was sich gleich ereignen würde.   Joey nickte, dann sagte er: “Dann lass uns losgehen.” Er nahm direkten Kurs auf die Tür und spürte Setos Blicke in seinem Rücken, die ihm normalerweise einen wohligen Schauer bescherten, aber dieses Mal blieben die feinen Härchen auf seinem Körper ruhig, blieben von der intensiven Gänsehaut verschont. Als Joey die Tür öffnete, da wusste er, dass sich erneut etwas verändern wurde. Er wusste nur noch nicht, was, oder ob es gut wäre. Oder ob es das wert wäre. Alles in seinem Kopf sprach im Konjunktiv, und er musste jetzt dafür sorgen, wieder Klarheit und Bestimmtheit zu schaffen.   Sie liefen zu Fuß zur Wohnung seiner Familie, die nicht weit weg von ihrem Hotel war. Das Haus sah von außen in jedem Fall schöner aus als das, in dem Joey seine Jugend verbracht hatte, und er war sich auch ziemlich sicher, dass die Wohnung sauberer war und nicht so nach Alkohol stinken würde wie die von seinem Dad. Nachdem sie den Summer der Haustür hörten, hielt Seto ihm die Tür auf und Joey ging vor, stieg die Treppen hoch, und er wusste nicht, ob er da geradewegs in sein Verderben lief. Wie in Trance nahm er eine Stufe nach der anderen, bis sie offensichtlich die richtige Haustür erreicht hatten.   Seine Mum sah ihn an und ihr Blick ähnelte dem von Seto in erstaunlich großem Ausmaß, nur dass sich in ihren Augen einige Tränen bildeten. Vermutlich hatte sie bemerkt, dass sein Auge noch immer geschwollen und leicht blau war, und Joey musste denken, dass es wohl besser gewesen war, nicht direkt hierher zu kommen, als die Wunden noch frisch waren. Das hätte es ihm heute vermutlich noch schwerer gemacht als es eh schon war.   Sie sagte etwas, aber er konnte sie kaum hören, so als ob sie Lichtjahre von ihm entfernt stand, dabei konnte er ihre Arme um seinen Körper spüren, ihre Körperwärme, ihre Berührungen. Aber auch davon löste nichts irgendwelche Empfindungen in ihm aus.   Sie gingen in ein Zimmer, das offenbar das Wohnzimmer war, und Joey setzte sich auf ein Sofa, Seto direkt neben ihm, seine Mum und Serenity ihnen gegenüber auf jeweils einem Sessel. Seto rutschte noch etwas näher an ihn ran, was bemerkenswert war, weil er sonst so penibel darauf achtete, Abstand zu halten, wenn jemand Anderes dabei war. Aber Joey konnte sich kaum auf etwas konzentrieren. Allerdings hörte er Seto dann sprechen, und anders als bei seiner Mum, deren Worte er nur wie aus der Ferne wahrnehmen konnte, konnte er genau ausmachen, dass er nicht so weit weg war, auch wenn er auch seine Worte nur gedämpft wahrnahm.   “Joey, lass dir Zeit, okay? Wir sind alle hier und hören dir zu.”   War das sein Startsignal? Offenbar, denn drei Augenpaare waren auf ihn gerichtet, und in allen konnte er die Besorgnis erkennen. Joey hatte sich, als er die letzten Tage darüber nachgedacht hatte, wie sich dieser Moment wohl anfühlen würde, immer ausgemalt, dass er einen Fluchtimpuls spüren würde, oder etwas, das ihn davon abhalten wollte, etwas zu sagen. Selbst, als sie noch im Flugzeug saßen, konnte er spüren, wie Unsicherheit und Angst sich in ihm ausbreiteten, aber jetzt - gar nichts.    Er sah auf und schaute seine Schwester und seine Mum an. “Bevor ich anfange”, begann Joey, “möchte ich, dass ihr wisst, dass nichts davon eure Schuld ist, auch nicht deine, Mum. Nichts davon hättet ihr verhindern können, und es war meine Entscheidung, bis heute zu schweigen. Habt ihr das verstanden?”   Seine Mum und Serenity tauschten unsichere Blicke aus, doch Joey wollte ihre Antwort abwarten, vorher würde er sich nicht äußern. Vorsichtig nickten beiden, und Joey spürte, wie Seto ihm kurz über den Rücken streichelte, bevor er die Berührung wieder löste. Dennoch baute er keine Distanz auf und blieb nah an Joey sitzen.   Der Blonde nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er anfing zu sprechen. Seine Sicht verschwamm vor seinen Augen, er dachte nicht darüber nach, was er sagte, bevor er es tat - er hätte sowieso nicht genug Konzentration dafür gehabt. Also ließ er los - und hoffte, der Sturz würde ihn nicht zu hart auf dem Boden aufprallen lassen.   “Es fing ungefähr ein Jahr, nachdem ihr in die USA gegangen seid, an. Dad hatte seinen Job verloren, und auch mindestens die Hälfte seines Verstands. In den letzten Jahren seitdem hatte er immer mal wieder irgendwelche Gelegenheitsjobs, aber nie wirklich was Langfristiges. Ich hab es ihm aber auch nicht einfach gemacht. Ihr könnt euch bestimmt noch erinnern, wie wild ich als Kind war, irgendwie bin ich das ja heute noch, wenn auch nicht mehr so stark ausgeprägt wie damals. Ich glaube, am Anfang war er einfach mit mir überfordert, wusste nicht so richtig, wie er mich einfangen konnte. Und er hat euch sehr vermisst, das haben wir beide. Zu der Zeit sind wir wohl beide ein bisschen verrückt geworden, schätze ich.”   Joey machte eine kurze Pause und versuchte, sich genau an diese Zeit zurückzuerinnern. “Ich habe so ziemlich jeden Unsinn verzapft, den ein 10-jähriger in dieser Zeit eben so anstellen konnte. Habe Sachen aus Supermärkten geklaut, meinem Dad Geld aus dem Portemonnaie gezogen und hatte definitiv die falschen Freunde, die mich zu noch mehr Blödsinn angestiftet haben. Und ich glaube heute, dass Dad einfach nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, weil ich überhaupt nicht auf ihn gehört habe. Zu der Zeit hat er dann angefangen zu trinken. Und dann nahm das Ganze seinen Lauf.”   Joey spürte kurz in sich hinein, aber er konnte einfach nichts fühlen. Wieso lösten denn diese ganzen Erinnerungen nichts in ihm aus? Er schaute kurz auf, in Setos Gesicht, das unverändert sorgenvoll auf ihn blickte. Ah, ja, diesen Teil der Geschichte hatte er ihm ja auch noch gar nicht erzählt, nur die mehr oder weniger verkürzte Form. Unter großer Anstrengung versuchte Joey sich daran zu erinnern, wo er gerade stehen geblieben war, dann fuhr er fort.   “Das erste Mal war eigentlich noch harmlos. Er hat mir eine Backpfeife verpasst, weil ich mich geweigert hatte, mein Zimmer aufzuräumen. Ich bin sofort in Tränen ausgebrochen und habe mich in mein Zimmer eingesperrt. Ich glaube, Dad hatte Gewissensbisse. Er hat an meine Zimmertür geklopft und gesagt, dass es ihm leid täte. Ich habe erst wieder aufgemacht, als mein Zimmer aufgeräumt war. Und als er das sah, da konnte ich es genau von seinem Gesicht ablesen - er hatte einen Weg gefunden, den Wildfang zu kontrollieren, der sein Sohn war.”   Er merkte, wie einzelne Tränen über seine Wangen liefen und fing sie mit seinen Händen auf, bevor sie sich auf seinem Shirt verewigen konnten. Das musste eine rein körperliche Reaktion auf das sein, was er da sagte, weil er immer noch gar keine Emotionen in sich spürte. Als er seine Hand wieder auf dem Sofa ablegte, spürte er, wie Seto seine Hand auf diese legte. Kurz schaute Joey auf, sah ihm in die von Entsetzen geprägten blauen Augen, bevor er seinen Blick wieder abwandte und weitersprach.   “Von da an passierte es immer häufiger, eigentlich immer, wenn ich irgendwas nicht machen wollte. Er veränderte sich immer mehr, zog sich noch mehr zurück, in sich selbst und den Alkohol, sodass ich zunehmend für alles verantwortlich wurde. Mit zwölf habe ich im Prinzip den gesamten Haushalt geschmissen. Ich habe gekocht, geputzt, die Wäsche gewaschen, mich eben um alles gekümmert, was so anfiel. Doch auch ich habe mich verändert. Ich habe aufgehört, nein zu sagen, einfach gemacht, was er mir befohlen hatte. Vielleicht hatte ein Teil von mir gehofft, er würde mich dann nicht mehr so oft schlagen, aber er schien sich an das Gefühl gewöhnt zu haben, es trotzdem zu tun. Immer, wenn er es tat, da war er wie im Rausch. Ich weiß nicht, ob das nur vom Alkohol kam, aber auch wenn ich glaube, dass der eine Rolle dabei gespielt hatte, so glaube ich doch, dass er irgendwann einfach Gefallen daran gefunden hatte. Und eines Tages hörte ich auf mich zu wehren, weil ich wusste, dass es das nur noch schlimmer machen würde.”   Er hörte seine Mum schluchzen und konnte Seto neben sich schnell atmen hören. Wieso war er der Einzige im Raum, der nicht so aufgebracht war wie alle anderen? Wieso konnte er nicht fühlen, was sie fühlten? Die Tränen an seinen Wangen waren zwar ein Zeichen dafür, dass es ihn berührte, aber warum konnte er es nicht wirklich spüren? Was war falsch mit ihm? Dabei lag der schwerste Part noch vor ihm. Doch er würde nicht drum herum kommen, es war Zeit. Joey atmete tief durch, dann sprach er weiter.   “Ich wusste irgendwann, dass es keinen Ausweg mehr geben würde, dass das mein Leben war und immer sein würde. Ich wollte dieses Leben nicht. Also habe ich beschlossen, dem ein Ende zu setzen - mir selbst ein Ende zu setzen.” In diesem Moment konnte er spüren, wie sich die Atmosphäre im Raum veränderte, und er fragte sich erneut, warum er das feststellen konnte, aber noch immer nichts in ihm auf veränderte Emotionen hinwies. Er konnte nicht mal klar darüber nachdenken, wie weit er gehen sollte, es war, als wenn die Worte sich ihren eigenen Weg aus seinem Mund bahnten, als wäre er nicht mehr im Besitz seiner vollständigen Kräfte, um das zu kontrollieren. Es ging nicht anders, er war wie gezwungen, weiter zu sprechen.   “Daher die Briefe. Ich glaube, das hatten wir an Weihnachten kurz besprochen. Das waren Abschiedsbriefe. Ihr habt einen bekommen, genauso wie meine Freunde. Er war sehr vage gehalten. Ich habe zwar gesagt, dass mein Dad da irgendwie eine Rolle spielte, aber ich bin nicht ins Detail gegangen. Meine Freunde haben in den vergangenen Jahren immer mal wieder Verdacht geschöpft, aber ich war ziemlich gut darin, das zu überspielen, wobei Yugi ziemlich hartnäckig war, das ist er heute noch. Aber ich habe es dennoch geschafft, es für mich zu behalten - bis Seto kam. Es stimmte, was ich euch erzählt habe, an Weihnachten, jedenfalls größtenteils. Seto hat von mir keinen Brief bekommen, weil wir damals noch nicht befreundet waren. Das hat sich geändert, sehr sogar.”   Als Joey Setos Hand an seiner Wange spürte, sah er zu ihm auf. Er sah so traurig aus, aber in seinen Augen konnte er auch noch etwas anderes wahrnehmen: Zuneigung. Joey hatte das ganz kurze Gefühl, dass sein Herz für einen Schlag ausgesetzt hatte - oder hatte er sich das nur eingebildet? Schon im nächsten Moment war jeder Anflug von Empfindungen zumindest wieder verschwunden.   “Es stimmte, was ich gesagt hatte, dass Seto mich nicht freiwillig bei sich aufgenommen hatte. Meine Freunde haben ihm Druck gemacht, ihm gedroht, und er stand mit dem Rücken zur Wand, genau wie ich. Er war derjenige, der mich davor bewahrt hatte, zu springen, von diesem Hochhaus. Es war irgendwie komisch, da oben zu stehen und zu wissen, dass gleich alles vorbei wäre. Ich hatte auch ein bisschen Angst, ich meine, wer hat keine Angst vor dem Tod? Ich glaube, auch Menschen, die selbst die Entscheidung treffen zu sterben, haben Angst davor, was sie erwartet. Ob es weh tun würde. Ob es sowas wie Himmel und Hölle oder die Wiedergeburt gibt. Ich hatte, ehrlich gesagt, eher Angst davor, wiedergeboren zu werden und im Zweifel all das noch mal durchleben zu müssen. Tja, und dann war plötzlich derjenige da, mit dem ich am wenigsten gerechnet habe. Also, nicht, dass ich überhaupt mit irgendjemandem gerechnet hatte, weil niemand wusste, wo ich mich aufhielt, aber dann musste unbedingt mein Erzfeind Seto Kaiba auftauchen. Und tatsächlich ist er mehr oder weniger in letzter Sekunde aufgetaucht. Hat mich zurück aufs Haus gezogen, als ich meine Hände schon vom Geländer gelöst hatte und dabei war, zu fallen. Er ist der Grund, warum ich heute noch hier sitze. Warum ich noch lebe.”   Joey sah auf und musste feststellen, dass er ihre Gesichter wieder klarer sehen konnte, ihre Stimmen wieder näher dran und nicht mehr so gedämpft waren. Kamen seine Empfindungen zurück?   “Er hat mich gerettet”, fuhr Joey fort, “auf mehr Arten als ich es mir jemals hätte vorstellen können, denn er hat mich nicht nur an diesem Tag gerettet. Es war komisch, weil wir uns eigentlich überhaupt nicht leiden konnten, aber ich habe irgendwie Vertrauen zu ihm aufgebaut. Und eines Tages, da habe ich es ihm erzählt. Er war der erste Mensch, dem ich die Wahrheit anvertraut habe, und ich kann noch immer nicht sagen, warum eigentlich. Vielleicht, weil er mir auch Dinge erzählt hat, die niemand von ihm wusste, nicht mal sein eigener Bruder. Und wir mussten feststellen, dass wir gar nicht so verschieden sind, in vielerlei Hinsicht. Dass es vieles gibt, dass uns eint, seien es die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, oder einfach irgendwelche belanglosen Angewohnheiten. Er hat mir gezeigt, wie ein Leben aussehen kann, in dem man glücklich ist. Mit ihm fühle ich mich befreit, lebendig, irgendwie wertvoll. Es ist, als kenne ich ihn schon mein ganzes Leben lang, dabei sind es erst ein paar Monate, seitdem wir die Seiten aneinander kennen, die sonst niemand sieht. Erst durch ihn habe ich verstanden, was es eigentlich bedeutet, zu leben.”   Er stockte kurz, dann sagte er: “Bis letzte Woche… bis…” Und ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, da spürte er es, fühlte, wie alle Emotionen zurück in seinen Körper strömten, mitsamt allen Erinnerungen, mit einer Wucht, die er nicht kontrollieren konnte, hundertfach potenziert. Noch nie hatte er sie so intensiv wahrgenommen wie jetzt, und es fühlte sich an, als wenn auch sein Körper komplett mitgerissen wurde. Er konnte nicht mehr atmen, hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen tat sich auf und er würde fallen. Und er fiel, so tief wie noch nie.   ~~~~   Seto war an seinem Limit. Jede Faser seines Körpers schmerzte. Er konnte sehen, wie sein Hündchen wie in Trance von seiner Vergangenheit berichtete, und in Seto wuchs eine Wut heran, die er nur mit Mühe und Not kontrollieren konnte. Er kannte ja schon einen nicht unerheblichen Teil dessen, was ihm passiert war, aber es jetzt noch einmal in so detaillierter Form zu hören, brachte ihn fast um den Verstand. Er wollte Joey all den Schmerz nehmen, den er in den letzten Jahren erfahren hatte, ihm alles geben, was er konnte, und wenn er sein Leben lang dafür kämpfen müsste, dass Joey dieses Leben als lebenswert erachtete, würde er es tun.   Doch plötzlich veränderte sich was, Joey veränderte sich. Er hatte das bei ihm schon mal gesehen, das war der Moment, in dem er wieder anfing, etwas zu fühlen, aber es war doch ganz anders als sonst. Es war, als wenn alles auf einmal auf ihn hereinbrach, und Seto konnte genau sehen, dass Joey das nicht kontrollieren konnte. Er würde fallen, wenn Seto jetzt nicht eingriff. Aber er würde das nicht zulassen, niemals würde er ihn fallen lassen - oder er würde mit ihm fallen.   Er nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihn an. Er hatte einen panischen Gesichtsausdruck, seine Wangen waren unheimlich gerötet und sein Atem ging abgehackt. Er hatte Todesangst.   Seto schüttelte ihn ein bisschen. “Joey, ich bin hier, ich bin da. Wir sind alle hier, hörst du? Du bist nicht allein.” Doch das schien kein bisschen zu helfen, es hatte absolut keinen Effekt. Noch immer war seine Atmung unregelmäßig und die Angst war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seto wusste nicht, was er tun sollte. Was konnte er machen, um Joey zurückzuholen? Er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, weil Joey jetzt sofort Hilfe benötigte, und es blieb ihm auch nicht viel übrig, er würde einfach das versuchen, was er das letzte Mal auch versucht hatte - reden. Auch wenn ihm das unheimlich schwer fiel, weil noch andere Menschen im Raum waren, aber er konnte nicht zulassen, dass das mit Joey passierte. Er hatte ihn einmal gerettet, er würde es wieder tun, genau jetzt.   “Joey, ich bin’s. Seto. Hörst du mich? Siehst du mich? Spürst du meine Hand an deiner Wange? Er ist nicht hier, mein Hündchen, und ich werde nicht zulassen, dass er dir jemals wieder zu nahe kommt. Es tut mir so leid, dass ich dich nicht davor beschützt habe, dass er letzte Woche die Chance hatte, dir noch mal weh zu tun, aber das wird er nie wieder können. Niemals. Dafür werde ich sorgen. Er wird für alles büßen, was er dir angetan hat. Hörst du mich? Joey, bleib bei mir, verlass mich nicht. Du bist das Wichtigste in meinem Leben, ich brauche dich.”   Plötzlich spürte Seto, wie eine einsame Träne seine Wange hinunter lief. Weinte er etwa? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals auch nur eine einzige Träne vergossen zu haben, egal was auch passiert war. Aber Joey hier so zu sehen, brach ihm nicht nur das Herz, sondern auch sämtliche Knochen, und jeglicher Versuch, sich in Selbstkontrolle zu üben, war absolut zwecklos. Es war richtig, was er sagte, er brauchte ihn in seinem Leben, wie er nichts anderes brauchte, außer vielleicht Mokuba.   Er durfte jetzt nicht auf sich selbst achten, er musste Joey helfen. Er zog ihn an sich, bettete seinen Kopf an seine Brust, hinter der sein Herz so heftig schlug wie noch nie. Er legte seinen eigenen Kopf auf Joeys Haare, atmete für einen kurzen Moment seinen Duft ein, bevor er weitersprach.   “Ich werde immer bei dir sein. Ich habe dir versprochen, dass du glücklich sein wirst, und ich verspreche es dir noch mal, das wirst du. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue, du wirst glücklich sein. Du bist stark, Joey, viel stärker als du selbst glaubst. Ich bin so stolz auf dich, weißt du das eigentlich? Weißt du, was du heute geschafft hast? Wie viel du erreicht hast? Wie viel Mut das erfordert?”   Aus dem Augenwinkel konnte er Serenity und Joeys Mum sehen, die beide ein Meer aus Tränen weinten. Er sah Elaine kurz in die Augen und konnte sie sehen, die Liebe für ihren Sohn, wenn auch versteckt hinter all der Verzweiflung. Aber da war noch was - Seto konnte es erst nicht richtig deuten, doch es sah danach aus, als ob ein Teil dieser Zuneigung, die sie ihrem Sohn mit ihren Blicken sendete, auch Seto galt. Er wusste nicht genau, warum ihm das Mut gab, um weiterzumachen, konnte sich aber vorstellen, dass es daran lag, dass sie sich so ähnlich waren, sie und sein Hündchen. Wenn Seto in ihre Augen schaute, war es, als wenn er geradewegs auch in die Seele von Joey sah. War das auch der Grund, warum er jetzt gerade überhaupt so offen reden konnte, auch wenn fremde Menschen dabei waren? Er hatte einfach angefangen zu sprechen, war ihm bewusst näher gekommen, ohne groß darauf zu achten, wer um sie herum war. Natürlich war das hier auch eine absolute Ausnahmesituation, und Seto war gezwungen, zu agieren, sonst würde sein Hündchen untergehen, und mit ihm auch er selbst. Noch vor ein paar Monaten hätte er nie gedacht, solche Gedanken überhaupt zu denken, und jetzt sprach er sie einfach aus. War es komisch, dass ihn das nicht so viel Überwindung kostete, wie er eigentlich vermutet hatte?   Joey war noch immer an seiner Brust und unterbrach ihn in seinen Gedanken, als er die Arme um Setos Körper schlang. Seto konnte die Tränen auf seinem Hemd spüren, das Zittern in Joeys Gliedern, und er wusste, er wurde übermannt von all dem Schmerz der letzten Jahre. Und er konnte es jetzt auch fühlen. Alles, was Gozaburo ihm angetan hatte, all den Schmerz, den er solange weggeschlossen hatte. Sie teilten ein ähnliches Schicksal und denselben Schmerz, und auch wenn das normalerweise etwas Tröstliches hatte, so war es jetzt doch eher so, als wenn sich ihr Schmerz noch verdoppelte. Er fühlte, was Joey fühlte, all die Wut, Angst, Verwirrung über all das, was ihnen passiert war. Aber Seto konnte sich auf den Beinen halten, er musste einfach, er musste Joey aus diesem Loch ziehen, egal wie viel Schmerz er jetzt selbst fühlen konnte.   “Sie werden uns nicht mehr weh tun können, Joey. Niemand wird uns mehr weh tun. Wir sind stärker als das. Alles, was ich für dich fühle, ist stärker als der Schmerz, den ich empfinde, den du empfindest. Wir können das schaffen, gemeinsam besiegen wir all das.”   Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Blonde bedeutete ihm mehr, als es Worte jemals hätten beschreiben können, jedenfalls dachte er das bist jetzt. Bis er merkte, was all das bedeutete, was er für ihn fühlte. Joey war seine Luft zum Atmen, wie das Wasser für die Fische, wie die Erde für die Pflanzen. Seit er ihn kannte, war alles anders, er war anders, und er mochte, wer er war, wenn Joey bei ihm war. Joey machte ihn glücklich, so glücklich wie er nie zuvor war. Wenn sie getrennt waren, fehlte etwas, er fühlte sich nicht komplett, konnte an nichts denken außer an ihn und seine wunderschönen, goldfarbenen Augen. In der Nacht träumte er von ihm, selbst wenn er neben ihm lag. Er wusste, ohne ihn wäre er verloren. Wenn Joey lachte, ging für ihn die Sonne auf, und wenn er weinte, fühlte er Nadelstiche überall an seinem Körper. Erst mit ihm erkannte Seto, was in seinem Leben bisher gefehlt hatte. Es war, als wäre Joey das, wonach er immer gesucht hatte - und er hatte es gefunden.   Es war schwer, all das in einem Satz zusammenzufassen, aber er wusste jetzt genau, welcher Satz der richtige war, um all den verschiedenen Empfindungen für Joey zumindest ansatzweise gerecht zu werden. Noch immer war Joeys Kopf an seiner Brust und Seto lehnte sich ein bisschen dagegen, spürte seine Haare in seinem Gesicht, bevor er wieder ansetzte. “Ich liebe dich, Joey. Zusammen schaffen wir das, wir werden die Schmerzen besiegen können. Aber ich brauche dich dafür. Komm zu mir zurück…” Eine zweite Träne floss über seine Wangen und verewigte sich in Joeys Haaren. Noch immer zitterte Joey wie Espenlaub in seinen Armen und er wusste nicht, ob der Blonde ihn überhaupt gehört hatte. Sein Hündchen brauchte einen Weg, die Schmerzen rauszulassen, um sich nicht mehr in ihre Gefangenschaft begeben zu müssen. Da kam ihm ein Einfall und er hoffte, das könnte den Knoten in Joeys Kopf lösen, damit er den Schmerz endlich freilassen konnte.   “Schrei, Joey. Schrei alles raus, den ganzen Schmerz, die Wut, alles was du fühlst, egal was es ist. Lass zu, dass es deinen Körper verlässt. Schrei!” Und Joey schrie - erst war es nur ein zaghaftes Aufstöhnen, dann wurde es lauter und lauter, mischte sich mit seinem Schluchzen. Es ging Seto durch Mark und Bein, ließ ihn selbst erzittern. Joey krallte sich in sein Hemd, weinte und stieß immer wieder laute Schreie aus. Bis er wieder leiser wurde, sein Griff lockerer. Irgendwann legte er seinen Kopf in Setos Schoß, und der Größere konnte sehen, dass alle Kraft aus dem Blonden gewichen war, alles, was er die letzten Jahre in sich getragen hatte, hatte er rausgelassen. Sein Atem ging noch immer schnell, wurde aber mit jeder Minute, die er da so lag, gleichmäßiger. Seto strich ihm sanft über den Kopf, was Joey zu beruhigen schien, und Seto war froh, wieder so eine Wirkung auf ihn zu haben.   Seto stand auf und hob Joey mit sich hoch, eine seiner Hände in Joeys Kniekehlen, die andere seinen Rücken stützend. Joeys Körper war schwach und schlaff, aber dennoch konnte Seto sehen, wie der Schmerz seinen Körper verlassen hatte. Dann sah Joey zu ihm auf, seine Augenlider flackerten ein bisschen aufgrund der Anstrengung, aber er hörte ihn sagen: “Se...to…”   Seto stützte seinen Kopf etwas und sah ihm tief in die Augen. “Ich bin so unheimlich stolz auf dich.” Dann küsste er ihn, und er merkte, wie Joey den Kuss leicht erwiderte, so sehr es ihm eben gerade möglich war. Als Seto den Kuss löste, kam er wieder mehr oder weniger in der Realität an, die er die letzten Minuten stark ausgeblendet hatte, weil er sich nur auf Joey fokussiert hatte. Er hatte völlig ausgeblendet, dass sie nicht alleine waren - aber das war egal, das waren keine Fremden, sondern Joeys Familie. Und keiner wusste besser, wie wichtig Familie war, als Seto Kaiba.   Seto merkte, wie Joeys Erschöpfung die Kontrolle über seinen Körper übernahm. Er wandte sich an Elaine. “Kann sich Joey hier irgendwo ein bisschen ausruhen?” Sie brauchte wohl selbst einen Moment, um zu verstehen, dass sie gerade angesprochen wurde. Dann nickte sie. “Ja, mein Schlafzimmer. Da hinten.” Es schien, als wenn sie noch nicht wieder richtig im Besitz ihrer stimmlichen Fähigkeiten war, aber Seto verstand und brachte Joey in das Zimmer, das Elaine ihm gerade gezeigt hatte.   Er schloss hinter ihnen die Tür und sie waren für einen kurzen Moment allein. Joey war schon fast nicht mehr anwesend, er war so geschwächt, dass keine Kraft mehr in seinen Gliedmaßen war. Er legte ihn auf das Bett und deckte ihn ein bisschen zu. Für einen Moment kniete Seto sich neben das Bett, streichelte ihm über die Wange und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Er brauchte jetzt Ruhe mehr als alles andere, das wusste Seto, und doch fiel es ihm unheimlich schwer, sich zu lösen. Als er gerade aufstehen wollte, spürte er Joeys Finger, die ihn kraftlos versuchten zu halten. Seine Augen konnte er kaum noch aufhalten, aber dennoch sagte er, flüsternd und abgehackt: “Se...to… Danke…” Dann wurden auch seine Finger schlaff und er schlief ein.   Seto verließ das Schlafzimmer, und als er die Tür hinter sich zuzog, lehnte er sich für einen Moment mit dem Rücken daran, fühlte die Anstrengung der letzten Stunde in sich aufkommen. Aber es war wichtig gewesen, dass er Stärke bewies, er wusste nicht, ob Joey selbst die Kraft gehabt hätte, sich allein wieder aus der Dunkelheit zu befreien. Er fühlte sich aber auch befreit, einfach weil er das Gefühl hatte, dass Joey nun endlich all den Schmerz zugelassen hatte und sich selbst damit die Möglichkeit eröffnet hatte, es loszulassen. Und auch Setos eigener Schmerz, von dem er gar nicht so richtig gewusst hatte, dass er überhaupt in ihm existiert hatte, war ein bisschen aus seinem Körper gewichen. Wie zwei Schmetterlinge im Wind flogen ihre Schmerzen jetzt dahin, ohne nochmal den Blick zurück zu werfen. Sie ließen sich vom Wind tragen, wurden von den Luftströmen mitgerissen und blickten nach vorn, in eine Zukunft, in der ihr Schmerz zwar immer ein Teil von ihnen sein würde, aber nicht mehr genügend Macht hatte, um sie zu dominieren.   Seto nahm noch einen tiefen Atemzug, bevor er ins Wohnzimmer zurückkehrte. Serenity und ihre Mum lagen sich weinend in den Armen, und er konnte hören, wie Elaine murmelte, dass sie etwas hätte tun sollen, ihn niemals hätte da lassen sollen. Seto stellte sich in ihre Nähe, ohne aufdringlich zu werden, als er erklärte: “Elaine, du darfst dir keine Vorwürfe machen. Glaub mir, es ist nicht deine Schuld. Schuld allein ist dieser Bastard von Vater, der es gewagt hat, sowas mit Joey zu machen. Glaub mir, er wird nicht davon kommen, nicht mehr, dafür habe ich schon gesorgt.” Sie sahen ihn jetzt beide an, und trotz des Schmerzes, der ganz klar den Blick in ihren Augen dominierte, sah er doch auch noch ein anderes Gefühl: Hoffnung.   Und als er Elaine so anschaute, da überkam ihn ein Gefühl, dass er schon bei seinem Hündchen spürte - dass er ihr vertrauen konnte. Schon wieder musste er denken, dass das vermutlich daran lag, dass sie sich einfach so ähnlich waren, sie und Joey, und auch der Blonde hatte ein riesiges Talent dafür, im Handumdrehen Vertrautheit zu schaffen. Eine Sache, die Seto wahnsinnig an ihm bewunderte.   Er trat noch einen Schritt näher an Elaine und Serenity ran, war aber noch immer gut einen Meter von ihnen entfernt. Dann sagte er: “Joey hat doch vorhin von Gemeinsamkeiten gesprochen. Das ist eine davon. Ich habe ähnliches erlebt, wenn auch nicht ganz so heftig wie Joey, wobei er mir da vermutlich widersprechen würde. Glaubt mir, wenn ich sage, euch trifft keine Schuld. Ihr hättet es beide nicht wissen können, und ich bin mir sehr sicher, dass du, Elaine, bei deiner Trennung von seinem Dad nur das Beste für Joey im Sinn hattest, und für Serenity. Wenn so etwas passiert, ist das oft ein sehr gut gehütetes Geheimnis, aus unterschiedlichsten Gründen, das wissen Joey und ich besser als jeder Andere. Aber ich glaube, das hier heute hat ihm unheimlich geholfen, deswegen möchte ich mich bei euch beiden bedanken, dass wir hier sein durften.”   Um seinen Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, verbeugte Seto sich sogar ganz leicht, wenn auch nur andeutungsweise. Als er sich wieder gerade aufrichtete, rannte Serenity auf ihn zu und umarmte ihn innig, was ihn nicht nur sehr überraschte, damit konnte er auch absolut nicht umgehen. Dass er hier gerade überhaupt so viel von sich selbst preisgegeben hatte, grenzte schon an eines der sieben Weltwunder, aber mit so viel Nähe konnte er dann doch nicht umgehen. Aber er ließ es zu, weil er wusste, dass es auch für Joeys Familie jetzt schwer war, und wenn es das war, was seine Schwester jetzt brauchte, dann würde er sich nicht wehren. Eine Erwiderung der Umarmung durfte sie aber trotzdem nicht erwarten.   Serenity ließ von ihm ab, und trotz allem, was sie heute erfahren hatte, lächelte sie leicht. “Danke, Kaiba, dass du so gut für meinen Bruder sorgst. Ich wusste nicht, dass ihr euch so nahe steht, auch wenn ich es damals ein wenig geahnt habe, als wir euch zu Weihnachten besucht haben, aber jetzt sehe ich es ganz deutlich, und ich bin sehr froh darüber, dass er dich hat.” Wieder traten ihr leicht Tränen in die Augen, die sie sich weg wischte, und dann sagte: “Ich mache uns mal eine Kanne Tee. Ich denke, das können wir alle jetzt gut gebrauchen.” Und während Serenity sich auf in die Küche machte, um Tee zu kochen, setzte sich Elaine wieder auf ihren Sessel zurück. Auch Seto setzte sich auf das Sofa, und sofort vermisste er die Präsenz seines Hündchens, das für ihn die Welt bedeutete.   ~~~~   Als Joey wieder wach wurde, war es draußen stockdunkel, und er hatte Mühe zu verstehen, wo er sich hier gerade befand. Es war nicht das Hotelzimmer, so viel konnte er erkennen. In einem kurzen Anflug von Panik fragte er sich, wo Seto war, doch dann fiel ihm alles wieder ein, alles, was die letzten Stunden so passiert war, und er sank zurück in seine Kissen, um diese Gedanken erstmal zu verarbeiten.   Seine Familie wusste jetzt Bescheid, aber er hatte sich so sehr auf sich selbst konzentriert, dass er ihre Reaktion überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Und wenn er nicht bei sich selbst gewesen war, dann war es Seto, dessen Worte und Berührungen er spüren konnte, neben all dem Schmerz, der seinen ganzen Körper zu vereinnahmen schien. Er hatte geschrien, so wie er noch nie geschrien hatte, und es hatte sich gut angefühlt. Er konnte jetzt fühlen, wie trocken sein Mund war, vermutlich von den vielen Tränen und den lauten und leisen Schreien.    Ja, er hatte vorher gehofft, er würde wieder alles fühlen können, aber als es dann soweit war, war es schlimmer als alles, was er bisher gespürt hatte. Aber neben dem Gefühl der Schmerzen und auch der Wut und all der Angst war da auch wieder alles, was er für Seto empfand. Und er war da gewesen, hatte ihn, wie er es versprochen hatte, nicht alleine gelassen. Hatte selbst so viel gesagt, obwohl sie doch gar nicht allein waren. Joeys Herz machte einen Sprung. Er wusste allerdings nicht, ob er sich wirklich an alles richtig erinnern konnte, weil er einfach so eingenommen war von all den Gefühlen, die gleichzeitig auf ihn einprasselten.   Plötzlich stockte er - hatte Seto ihm gesagt, dass er ihn liebte? Oder hatte Joey sich das eingebildet? Seine Wangen wurden heiß bei dem Gedanken daran, dass er das wirklich gesagt haben könnte, aber es konnte genauso gut ein Produkt seiner Fantasie sein. Aber wenn er es gesagt hatte, wenn Seto es wirklich gesagt hatte - wie stand Joey dazu? War all das, was er für Seto fühlte… Liebe?   Er atmete tief durch. Joey hatte für einen Tag definitiv mehr als genug Gefühlschaos erlebt, er würde diesen Gedanken auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Langsam stand er auf und merkte, wie sich Kopfschmerzen ankündigten. Noch immer war er sehr erschöpft, als er die Tür öffnete und zurück ins Wohnzimmer ging. Dort saßen alle und schienen sich zu unterhalten, dabei tranken sie Tee, und plötzlich hatte Joey unheimlichen Durst.   Als Seto ihn bemerkte, kam er auf ihn zu und drückte ihm seine Tasse in die Hand, die er nahm und gierig trank. Als er sie wieder absetzte, sah er Seto in die Augen. Der Braunhaarige hatte noch nichts gesagt, genauso wenig wie irgendjemand Anderes. Joey wusste selbst nicht so richtig, wie es ihm ging, aber er merkte, dass er nicht mehr so überladen war von all den Gefühlen, und auch, dass er wieder klare Gedanken fassen konnte. So qualvoll diese Erfahrung heute auch gewesen war, so heilsam schien sie auf der anderen Seite gewesen zu sein, und Joey war glücklich darüber, dass Seto die ganze Zeit bei ihm gewesen war. Also versuchte er, ein wenig zu lächeln. Setos Augen weiteten sich und er legte eine Hand an Joeys Wange, bevor er fragte: “Wie geht es dir, Joey?”   Joey lehnte sich ein wenig gegen die Berührung. Er konnte nicht beschreiben, wie glücklich er war, wieder zu fühlen, ihn wieder zu fühlen, und all die Wärme, die das in ihm auslöste. “Besser”, antwortete er und versuchte, seine Mundwinkel noch ein wenig weiter nach oben zu ziehen. Dann löste er sich von Seto und ging zu seiner Familie. Er wusste nicht so recht, wie er mit ihnen umgehen sollte. Also stand er nur da und schaute sie an. Für einige Sekunden herrschte Stille, dann rannten sie auf Joey zu und zogen ihn in eine wilde Umarmung. Seine Mum fand zuerst zu ihrer Sprache zurück. Sie strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht, dann sagte sie: “Danke, dass du uns das erzählt hast, Joey. Ich hatte keine Ahnung, was du durchmachen musstest, und es tut mir unheimlich leid. Ich hatte dir zwar versprochen, dass ich mir keine Vorwürfe machen würde, aber das kann ich einfach nicht verhindern. Ich wünschte einfach, ich hätte etwas gemerkt und hätte dir helfen können, denn das hätte ich getan, hörst du?”   Joey musste hart schlucken und unterdrückte die schon wieder aufsteigenden Tränen. “Ich weiß, Mum. Das habe ich immer gewusst. Und genau deswegen trifft dich keine Schuld. Weil ich, egal wie schlimm es auch war, immer wusste, dass du mich liebst, und dass du das nie für mich gewollt hättest. Aber jetzt wird es besser, das kann ich spüren. Als ich heute herkam, da wusste ich, dass sich was verändern würde. Es lag irgendwie in der Luft. Keine Ahnung, schwer zu beschreiben. Und es war nicht einfach, das alles zu erzählen und es nochmal zu durchleben, aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe und ihr jetzt die Wahrheit kennt. Es… es hat mir geholfen, und ich glaube, jetzt wird alles besser, auch wenn es noch immer nicht so leicht werden wird.”   Da spürte er Setos Hand an seinem Rücken. Joey drehte seinen Kopf um und sah ihm in die Augen, und auch wenn er nichts sagte, so wusste er, dass Seto bei ihm sein würde, um diesen Kampf zu kämpfen, bis zum bitteren Ende, wie auch immer das aussehen mochte.   Sie lösten sich alle wieder voneinander und Joey musste gähnen. Er hatte zwar gerade geschlafen, auch wenn er nicht wusste, wie lange eigentlich, aber er konnte jetzt zusätzlich zu seiner Erschöpfung auch noch den Jetlag spüren. Seto nahm seine Hand, dann fragte er: “Sollen wir zurück ins Hotel?” Joey drückte seine Hand ein wenig und nickte ihm leicht lächelnd zu. Dann wandte er sich erneut an seine Mum und Serenity. “Danke, dass wir heute hier sein durften. Ich weiß, es war nicht leicht, das alles zu hören, das ist mir klar, und ihr werdet sicher auch eine Weile brauchen, das zu verarbeiten. Aber von jetzt an keine Geheimnisse mehr. Bitte scheut euch nicht zu fragen, wenn ihr noch was wissen wollt. Ich habe das Gefühl, ich bin jetzt bereit dazu, mich dem zu stellen. In Ordnung?”   Sowohl seine Mum als auch Serenity nickten energisch und die Tränen in ihren Augen fanden unter dieser Bewegung noch schneller den Weg zum Boden. Joey ließ Setos Hand los und umarmte seine Familie innig. Er hatte sie wirklich lieb und war froh, dass Seto vorgeschlagen hatte, herzukommen. Er hoffte, den Optimismus, den er jetzt gerade spürte, auch noch zu spüren, wenn sie wieder Zuhause waren, aber für den Moment genügte ihm das.   “Seto und ich sind noch ein paar Tage hier. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihr habt, aber vielleicht können wir ja noch was unternehmen, wo wir jetzt schon hier sind. Ich war auch noch nie im Ausland und würde mir gern ein paar Sachen ansehen.”   Seine Mum lächelte ihn an. “Das machen wir, Joey, aber jetzt ruht euch erst mal aus. Das war auch für euch ein anstrengender Tag.” Joey nickte und sah zurück zu Seto. “Sollen wir?”    Als Joey die Haustür öffnete, winkte er Serenity und seiner Mum noch ein letztes Mal zu, dann fiel die Tür ins Schloss und sie standen im Treppenhaus, das komplett dunkel war. Seto machte Anstalten, den Lichtschalter zu drücken, doch Joey hielt ihn davon ab, zog ihn ein wenig zu sich herunter und küsste ihn zärtlich. Er legte alles, was er für seinen Drachen empfand, in diesen Kuss, schloss die Augen, um alles noch intensiver zu spüren und war froh, als dieser Plan aufging. Als sich ihre Lippen wieder voneinander trennten, sagte Joey: “Danke, Seto. Ohne dich hätte ich das niemals geschafft.” Als Antwort darauf zog Seto ihn nochmal in einen zärtlichen Kuss, und als sie sich erneut lösten, nahm Joey seine Hand und sie liefen durch das dunkle Treppenhaus nach unten, bevor sie dieses verließen und sich ihre Finger wieder trennten. Auf dem ganzen Weg zurück zum Hotel konnte Joey an nichts anderes denken als an das, was Seto heute für ihn getan hatte. Und an die grenzenlose Dankbarkeit, die er verspürte, und der er niemals genug Ausdruck würde verleihen können. Kapitel 18: Rescue me... from 50 Shades of Kaiba ------------------------------------------------ Als Seto am nächsten Morgen wach wurde, konnte er Joey neben sich noch leise schnarchen hören. Seine blonden Haare lagen ihm kreuz und quer im Gesicht und er sah so friedlich aus, sodass Seto sich sehr bemühte, keinen Mucks zu machen. Würde er jemals genug davon bekommen, Joey beim Schlafen zuzusehen? Seto war schon fast süchtig danach und war immer froh, wenn er früher wach wurde als der Kleinere, damit er ihn noch einige Momente betrachten konnte.    Nach ein paar Minuten stand Seto auf und war weiterhin darauf bedacht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und er schien Erfolg zu haben, denn Joey schlief weiter. Er zog im Schlaf die Decke noch ein wenig mehr unters Kinn und seine Beine umschlungen einen Teil der Bettdecke. Sein Shirt rutschte ein Stück nach oben und gab einen Teil seines athletischen Oberkörpers frei. Das war Setos Stichwort - wenn er jetzt hier weiter stehen und dem Blonden dabei zusehen würde, wie er sich im Schlaf bewegte und noch mehr nackte Haut freilegte, würde er sich sicher nicht beherrschen können. Es war einfach schon zu lange her, seit er ihn das letzte Mal so berührt hatte.   Der Braunhaarige ging auf direktem Weg ins Bad, entledigte sich seiner Klamotten und öffnete die Tür zur Dusche, die vermutlich Platz für eine ganze Fußballmannschaft bot. Er drehte das Wasser an und ließ die warme Flüssigkeit von der Regendusche über seinen ganzen Körper laufen, während er in Gedanken den gestrigen Tag Revue passieren ließ.   Er hatte viele gemischte Gefühle, wenn er daran zurück dachte, was gestern alles geschehen war. Zum einen war da die Bestürzung darüber, was Joey alles angetan wurde, nun, da er die ganze Geschichte kannte. Das wiederum erzeugte eine Wut auf diesen Unmenschen von Vater, und sein guter Vorsatz, ihn so lange wie möglich hinter Gittern bringen zu wollen, verstärkte sich nur noch mehr. Aber da war noch viel mehr an Empfindungen, Gefühle für sein Hündchen, das sich so tapfer dem Schmerz entgegengestellt hatte. Er war einfach so stolz darauf, wie er das gemeistert hatte. Seto war sich vorher schon bewusst gewesen, dass es nicht einfach werden würde, und er hatte sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Und am Ende war genau das eingetroffen, was er befürchtet hatte - Joey wurde von Leere erfasst und rutschte wieder weiter in die Apathie hinein, schien nichts zu fühlen, bis zu dem Punkt als das Erlebnis der letzten Woche zur Sprache kam. Seto hatte sich im ersten Moment so hilflos gefühlt, weil er nicht wusste, wie er Joey helfen konnte, aber er schien es instinktiv richtig gemacht zu haben, weil es Joey im Anschluss, so ausgelaugt dieser dann auch war, besser zu gehen schien.   Und dann war da noch dieses alles überragende Gefühl, das alle anderen Empfindungen so vollkommen in den Schatten stellte - Liebe. Er hatte das in einem Moment größten Schmerzes festgestellt, in dem auch er das fühlen konnte, was ihm selbst angetan worden war. Aber die Gewissheit, dass er das hinter sich lassen konnte, wenn sein Hündchen bei ihm war, machte es offensichtlich - er liebte ihn, bedingungslos. Er hatte es Joey sogar gesagt, aber er war sich nicht sicher, wie viel der Blonde wirklich mitbekommen hatte, wie viele seiner Worte insgesamt überhaupt zu ihm durchgedrungen waren. Wenn er es gehört hätte, hätte er ihn nicht längst darauf angesprochen? Gestern Abend hatte er das zumindest nicht getan, auch wenn Seto zugeben musste, dass Joey nach dem Tag nur noch mehr oder weniger ins Bett gefallen war, auch weil ihn der Jetlag zusätzlich ziemlich ausgelaugt haben musste. Eigentlich war es auch ziemlich egal, ob er es gehört hatte oder nicht, denn die alles entscheidende Frage war doch: Wollte er es ihm nochmal sagen wollen, wenn er völlig sicher war, dass Joey bei vollem Bewusstsein war?   Als er hinter sich die Duschtür aufgehen hörte, wurde er jäh in seinen Gedanken unterbrochen. Er drehte sich um und sah durch den warmen Wassernebel und das noch immer auf ihn herunterprasselnde Wasser in zwei honigbraune Augen, die ihn neugierig - oder doch nur gierig? - anstarrten. Joey schloss die Glastür hinter sich und lehnte sich kurz mit dem Rücken dagegen, die Hände in die Hüften gestemmt. Seto war glücklich darüber, dass sich sein Hündchen seiner eigenen Nacktheit endlich nicht mehr schämte, denn dafür gab es absolut keinen Grund. Er war wunderschön, und der Braunhaarige war süchtig nach jedem einzelnen Zentimeter dieses unwiderstehlichen Körpers.   “Meine Augen sind hier oben, Seto”, sagte Joey mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen, und Seto musste feststellen, dass er ihn gerade tatsächlich von oben bis unten gemustert hatte. Als er ihm wieder in die Augen sah, konnte er die verschiedenen Strömungen in seiner Iris erkennen und war so geflasht, dass er kaum ein Wort rausbekam. “Komm her”, antwortete er, fast flüsternd, und streckte dem Blonden seine Arme entgegen, der sie lächelnd annahm und sich von Seto in die warme Regendusche ziehen ließ.   Setos Körper reagierte sofort auf die Berührungen, seine Haut wurde heiß von der sich ausströmenden Hitze, und er merkte, dass es Joey genauso ging. Er zog den Blonden dicht an sich, dessen nasse Haare ihm im Gesicht klebten. Sein Blick war lustvoll, und schon jetzt hatte Seto Mühe, sich zu beherrschen. Noch während der Brünette so in Gedanken war, zog Joey ihn in einen leidenschaftlichen Kuss, biss ihm ein bisschen in die Unterlippe und signalisierte ihm damit, dass er nicht nur gekommen war, um zu duschen. Nein, der Kleinere wollte mehr, und Seto ging es genauso, aber er wollte sichergehen, dass er das Richtige tat.   Er knabberte dem Kleineren ein wenig am Ohr, als er fragte: “Bist du sicher, dass du das willst, Joey?” Der Blonde hatte gestern eine emotionale Achterbahnfahrt erlebt und Seto wollte unbedingt verhindern, dass er das aus den falschen Gründen machte, wollte, dass er es wirklich tun wollte. Als Antwort bekam er zunächst ein Stöhnen, das er noch bis in die Zehenspitzen fühlen konnte. Dann verteilte Joey zärtliche Küsse an seinem Hals, küsste sich seinen Weg runter zu Setos Schulter und biss ihn leicht.   Das war genug. Seto presste Joey stürmisch gegen die Wand, der Rücken des Blonden an den kalten Fliesen. Sie standen nun nicht mehr direkt unter dem warmen Wasser, aber der Nebel umhüllte sie dennoch mit einer warmen Hitze, die sich zu ihrem inneren Feuer dazu gesellte.   Seto stand ein wenig von Joey weg, der ihm gierig in die Augen sah. Und während der Größere die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen, sagte er als Antwort auf den Biss in seine Schulter: “Aus, böser Hund.” Joey leckte sich die Lippen, und als Seto direkt vor ihm stand, hob er das Kinn des Blonden an, sodass sie sich nun intensiv in die Augen schauen konnten. Dann ergänzte er: “Du weißt wohl nicht, wie du mit deinem Herrchen umzugehen hast, hm? Vielleicht sollte ich dich ein bisschen disziplinieren?” Joeys Augen weiteten sich, aber Seto konnte genau sehen, dass es sich hierbei nicht um Angst handelte - nein, es war das pure Verlangen.   Kurz auflachend, als er sah, welche Wirkung seine Dominanz auf den Kleineren hatte, drehte er ihn um, sodass er nun mit der Vorderseite seines Körpers an den Fliesen stand. Er drückte ihn noch ein wenig näher an die Wand, während seine Hände Joeys Körper entlang wanderten. Sie hielten kurz vor seiner Erregung an, was dem Blonden ein kurzes Winseln entlockte.   “Wenn du dich gut benimmst, dann belohne ich dich”, sagte Seto und drückte sich noch näher an sein Hündchen ran, umgriff Joeys Erregung und fing an, sanft seine Hand zu bewegen, was dem Blonden ein kehliges Stöhnen entlockte. Dann löste er die Berührung erneut und fragte: “Und wenn nicht, was, glaubst du, wird dann passieren?”   Joey drückte sich voller Verlangen ihm entgegen, sein Blick verschleiert, bevor er antwortete: “Du bestrafst mich?” Seto lachte diabolisch auf. “Ich sehe, du kannst mir folgen. Also, Regel Nummer eins: Sein Herrchen beißt man nicht. Hast du das verstanden?” Joey drehte seinen Kopf leicht in seine Richtung, sodass er ein wenig mehr seines Gesichtsausdrucks wahrnehmen konnte. Ein leichtes Lächeln lag auf Joeys Lippen und er knabberte an seiner Unterlippe, was Seto an den Rand des Wahnsinns brachte. Dann sagte der Blonde: “Diese Regel habe ich gerade schon gebrochen. Musst du mich jetzt nicht bestrafen?”   Oh Gott, das war wohl eher Strafe für Seto, dessen Sinne nun komplett benebelt waren, und er hatte das Gefühl, Joey war weniger an der Belohnung als vielmehr an der Bestrafung interessiert. Seto legte erneut seine Hand um Joeys Erregung und fing langsam an, sie zu bewegen. Er ging mit seinen Lippen ganz nah an Joeys Ohr, dann flüsterte er: “Glaub nicht, dass das jetzt eine Belohnung ist. Ich verbiete dir, zu kommen. Das darfst du erst, wenn ich es dir erlaube.”   Joey fing laut an zu stöhnen, da gab ihm Seto einen deutlich spürbaren Klaps auf den Hintern. “Regel Nummer zwei: Keiner mag bellende Hunde. Ich will keinen Mucks hören.” Er konnte merken, wie viel körperliche Anstrengung das von Joey abverlangte. Fast hielt er den Atem an, während Seto ihn immer und immer weiter massierte, die Geschwindigkeit mal erhöhte, nur um dann wieder langsamer zu werden. Er wollte das hier so lange es ging hinaus zögern und auskosten, auch wenn das auch für Seto eine Mutprobe war. Wie lange würde er es selbst durchhalten, ohne über Joey herzufallen?   Er drückte dem Kleineren hitzige Küsse auf den Nacken und konnte Joey abrupt atmen hören. Seto zog seine Hand wieder zurück und drehte Joeys Kopf so, dass er ihn genau ansehen musste. Er konnte Bedauern aufblitzen sehen, aber er würde Joey noch ein wenig länger quälen, bevor er ihm endgültige Befriedigung verschaffte. “Und jetzt, mein Hündchen, will ich, dass du es dir selbst machst. Und ich will, dass du es genießt, dass ich dir dabei zusehe.”   Er konnte sehen, wie Joeys rote Gesichtsfarbe sich noch ein wenig intensivierte und er für einen kurzen Moment zögerte, bevor er seine eigene Hand an seine Männlichkeit führte und sich selbst befriedigte. Das war so heiß, dass Seto sich fragen musste, für wen das jetzt hier eigentlich eine Bestrafung war. Joey legte den Kopf in den Nacken und atmete laut, aber unterdrückte noch immer das laute Stöhnen, das unwillkürlich den gesamten Raum einnehmen würde. Und Seto würde es hören wollen, aber noch nicht gleich, er musste noch ein wenig Geduld aufbringen…   Dennoch - sein Hündchen folgte seinen Anweisungen ohne mit der Wimper zu zucken. Seto streichelte Joeys Rücken hinab, vom Kopf bis zum Po, bevor er lobend sagte: “Braves Hündchen. Ich möchte, dass du jetzt aufhörst. Du wirst nun deine Arme auf dem Rücken verschränken und warten, bis ich wiederkomme. Du darfst dich nicht mehr selbst berühren, und keinen Mucks, verstanden?”   Joey biss sich in die Unterlippe und gehorchte. Seto stellte sich für einen Moment seitlich von ihm und küsste ihn voller Begierde - was Joey offensichtlich dazu verleitete, seine Stellung aufzugeben und eine Hand an Setos Oberkörper entlangstreifen zu lassen. Also gab Seto Joey erneut einen Schlag auf den Hintern, dieses Mal ein wenig fester als noch zuvor. “Was habe ich gerade gesagt, Hündchen?” Joey kämpfte mit aller Macht dagegen an, laut aufzustöhnen und verschränkte die Arme wieder hinter dem Rücken. “Seto, bitte…”, flehte er, was dem Braunhaarigen ein überhebliches Grinsen entlockte. Ja, genauso wollte er ihn haben. Mit festem Handgriff nahm er Joeys Kinn zwischen seine Finger und kam ihm so nah, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. “Keine Geräusche, hast du gehört? Wenn du nicht gehorchst, lass ich dich hier stehen, ohne dass du kommen darfst. Und nochmal, du darfst dich nicht selbst berühren. Du wirst jetzt in dieser Position bleiben, bis ich wieder da bin, ist das klar?” Setos Tonfall ließ keine Widerrede zu, und Joey nickte, noch immer schnell atmend.   Zufrieden drehte Seto sich um und verließ die Duschkabine. Das Wasser ließ er weiter laufen, damit es seinem Hündchen nicht zu kalt wurde, während er weg war. So gern er ihn auch auf die Folter spannte, aber so sehr quälen wollte er ihn dann doch nicht. Er schnappte sich ein Handtuch, um sich ein wenig trocken zu reiben, bevor er das Schlafzimmer betrat und zielstrebig auf den Kleiderschrank zuging. Er nahm eine seiner Krawatten aus seinem Koffer - wofür auch immer er sie mitgenommen hatte, aber jetzt war er unheimlich froh darüber - und stellte sich für einen Moment mit dem Rücken an den Schrank. Er nahm sich Zeit, selbst kurz durchzuatmen, und er hatte das Gefühl, ihm verlangte diese Situation noch viel mehr Selbstkontrolle ab als Joey. Dann ging er zum Nachtschrank und holte das Gleitgel raus, bevor er sich auf den Rückweg ins Badezimmer machte.   Joey hatte sich tatsächlich an seine Anweisungen gehalten, er stand noch immer genauso da, wie er ihn hatte stehen lassen. Seto trat erneut an Joey heran und machte das Wasser aus - seine eigene Hitze würde ausreichend sein, um Joey zu wärmen, da war er sich sicher, und sie würden trotz allem noch einige Minuten vom warmen Wasserdampf umgeben sein.   Während er Joeys Kopf so drehte, dass er ihn in einen wilden Kuss verwickeln konnte, zog er seine Arme an seinem Rücken noch enger zusammen, was dem Kleineren einen lauten Seufzer entweichen ließ. Seto biss Joey daraufhin leicht in die Unterlippe. “Was habe ich dir gesagt? Kein Geräusch. Das war die letzte Warnung, hast du mich verstanden?” In seinen Augen konnte Seto absolute Ekstase sehen, und der Braunhaarige musste tief durchatmen. Nur noch ein bisschen länger…   Er band die Krawatte so um Joeys Arme, dass er sie nicht mehr bewegen konnte. Dann ließ er von ihm ab und ging ein paar Schritte weiter zur Duschablage, wo er das Gleitgel platziert hatte. Es war nun totenstill im Bad, seitdem das Wasser ausgeschaltet war, und jeder seiner Schritte hallte in der Duschkabine wider. Er nahm das Gleitgel in die Hand und sagte im gewohnten Befehlston: “Kopf nach vorne, Hündchen. Sieh mich nicht an.” Joey gehorchte sofort und richtete seinen Blick nach vorn auf die Fliesen, wartete geduldig ab, auch wenn im gesamten Raum zu spüren war, wie dringend er ihn wollte.   Mit einem lauten Klick öffnete Seto das Gleitgel und ging in quälend langsamen Schritten wieder auf Joey zu. Er benetzte einen Finger mit dem Gel, führte ihn an Joeys Eingang und hielt kurz inne. “Kein einziger Laut, oder ich höre sofort auf.” Und trotz dessen Joey seinen Kopf abgewandt hatte und gegen die Wand starrte, konnte Seto sehen, wie er sich auf die Lippe biss, um Setos Anweisungen möglichst Folge leisten zu können. Braves Hündchen…   Seto fuhr den ersten Finger ein und bewegte sich sogleich mit mäßiger Geschwindigkeit. Er spürte, wie der Blonde leicht anfing zu zittern, weil er seine sonst sofort auftretenden Schreie krampfhaft zu unterdrücken versuchte. Dann nahm Seto den zweiten Finger dazu, und Joey ballte seine Hände zu Fäusten, kniff die Augen fest zusammen. Seto konnte spüren, wie sich sein Schließmuskel langsam dehnte, dennoch gab er dem Kleineren noch etwas Zeit, sich an die Bewegung zu gewöhnen. Erst nach einigen Minuten nahm er auch den dritten Finger dazu und Joey musste den Kopf in den Nacken werfen, sein Gesicht war gezeichnet von den stummen Schreien, die er nicht laut äußern durfte. Setos Bewegungen wurden immer schneller und er konnte spüren, wie Joey sich heftig gegen ihn warf.   Und dann war auch Setos Limit überschritten. Er konnte es nicht mehr ertragen, einfach nur hier zu stehen und seinem Hündchen dabei zuzusehen, wie er Setos Bewegungen genoss. Er entfernte seine Finger und nahm ihn sofort mit seiner eigenen Erregung in Besitz. “Verdammt, Joey, du bist zu gut für diese Welt. Lass los, schrei für mich.” Und genau das tat er - ließ allen Geräuschen freien Lauf, die er die letzte halbe Stunde so bemüht unterdrückt hatte. “Seto, aaah… bitte, schneller… aah… bitte…!”   Setos Stöße wurden härter, ließen Joeys Stöhnen noch lauter werden, und die Geräusche wurden durch den Widerhall in der Duschkabine nur noch verstärkt. Während sie sich weiterhin im Gleichklang bewegten, öffnete Seto die Krawatte und schmiss sie in die hinterste Ecke. Dann löste er sich von Joey, nur um ihn im nächsten Moment zu sich umzudrehen, hochzuheben und wieder hitzig gegen die Wand zu pressen. Joey schlang die Beine um ihn und Seto drang erneut in ihn ein, und es fühlte sich noch intensiver an als vorher schon. Er sah Joey in die Augen und küsste ihn stürmisch, ließ ihre Zungen miteinander tanzen.   Joeys Schreie wurden immer lauter, bis er sagte: “Seto… ich… ich…” Seto legte seinen Kopf auf Joeys Schulter ab und stieß mit unveränderter Intensität zu. Er konnte fühlen, wie alles in Joey sich anspannte und küsste ihn heftig am Hals. Heiser flüsterte er: “Komm für mich, Joey. Jetzt!” Und er kam, wie er noch nie gekommen war, und schrie dabei Setos Namen. Nur Sekunden nach seinem Hündchen fand auch Seto Erlösung und zog Joeys Körper währenddessen noch näher zu sich, drückte ihn heftig an sich, bis sein Körper sukzessive wieder anfing sich zu entspannen.   Als er sich langsam von Joey löste und ihn wieder auf seine Beine stellte, musste er für eine Weile heftig atmen. Dem Blonden schien es nicht anders zu gehen, er stützte sich an der Wand ab, um einigermaßen die Balance halten zu können, fand aber als Erster seine Stimme wieder. “Seto, das… das war... “ Weiter kam er allerdings nicht und Seto konnte es ihm nicht verübeln - gab es dafür überhaupt Worte, die beschreiben konnten, wie unheimlich intensiv sich das gerade angefühlt hatte?   “Ich weiß, mein Hündchen. Ich weiß…” Und während ihre Herzschläge sich langsam wieder in einen normalen Rythmus einordneten, schaltete Seto das Wasser wieder ein und zog Joey an sich. Für ein paar Minuten ließen sie einfach das warme Wasser über sich laufen, keiner sagte auch nur ein Wort. Seto umarmte Joey und genoss seine Nähe, zog den Kopf des Blonden näher an seine Brust. Joey löste sich als Erster wieder und griff zum Duschgel, verteilte ein bisschen was in seinen Händen und fing an, Seto einzuseifen, und wenn sie nicht gerade schon diesen phänomenalen Sex gehabt hätten, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, aber Seto erholte sich noch immer von dem, was sie da gerade getan hatten. Also ließ er Joey machen, der erst ihn und dann sich selbst einseifte, bevor der Blonde ihn wieder in seine Arme zog und das Wasser die Seifenreste an ihren Körpern in den Abfluss beförderte.   Seto stellte das Wasser ab, doch bevor sie die Duschkabine verließen, zog er Joey noch mal näher zu sich und küsste ihn, dieses Mal allerdings zärtlich und gefühlvoll. Als sie sich wieder voneinander lösten, da fühlte er es wieder, diese unheimliche Verbindung zu seinem Hündchen, und er hoffte, es würde für immer so bleiben.   ~~~~   Joey kuschelte sich noch mal fester in die Kissen und zog die Bettdecke enger an seinen Körper. Er brauchte jetzt einen Moment Zeit, um sich von dem, was sie gerade getan hatten, zu erholen.    Als er vorhin aufgewacht war und Seto nicht neben ihm lag, da überkam ihn für einen kurzen Augenblick ein Anflug von Panik, bis er ganz leise die Geräusche der Dusche hörte. Er dachte kurz darüber nach, einfach im Bett liegen zu bleiben und auf seinen Drachen zu warten, aber dann überkam ihn das dringende Bedürfnis nach Nähe. Also stand er auf, und als er ihn da so in der Dusche stehen sah, noch durch die geschlossene Duschtür, in warmen Dampf gehüllt, das heiße Wasser über ihn laufend, da wich jede Selbstbeherrschung aus seinem Körper und er wurde sich schmerzlich bewusst, wie lange es jetzt schon her war, dass sie sich berührt hatten. Also, so richtig berührt, nicht nur einen kurzen, zärtlichen Kuss auf die Lippen.   Die letzte Woche war sehr anstrengend für Joey gewesen und Seto hatte sich mit Liebkosungen entsprechend zurückgehalten. Aber als er heute Morgen aufgewacht war, da spürte er ein Gefühl von Erleichterung. Er hatte gar nicht gemerkt, wie unheimlich anstrengend es gewesen war, dieses Geheimnis so lang für sich zu behalten, und jetzt, da seine Familie endlich Bescheid wusste, war es, als hätte ein Teil des Schmerzes seinen Körper verlassen. Natürlich nahm es ihn sehr mit, dass seine Mum sich einen Teil der Schuld gab, und er konnte sich gar nicht vorstellen, was sie sich jetzt für Gedanken machen musste. Aber sie würden noch ein paar Tage hier sein, und er hatte das Gefühl, jetzt die Kraft zu haben, für sie da zu sein, genauso wie für seine Schwester, auch wenn er glaubte, dass sie es besser verkraftet hatte als seine Mum.   In diesem Moment kam Seto zurück ins Schlafzimmer, der sich gerade die Zähne geputzt hatte und jetzt auf den Kleiderschrank zuging, um sich frische Klamotten zu holen. Er hatte nur Unterwäsche an und Joey hatte einen Moment Zeit, ihn genau zu betrachten und zum millionsten Male festzustellen, wie sexy und wunderschön der Braunhaarige war. Würde er es jemals anders empfinden? Würde dieses Gefühl jemals nachlassen? Innerlich schüttelte Joey den Kopf. Nein, das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Das würde niemals passieren.   Seto zog sich eine etwa knielange Hose und ein legeres T-Shirt an und Joeys Augen weiten sich ein bisschen. Als Seto sich zu ihm umdrehte und das sah, konnte er ein amüsiertes Lächeln nicht verbergen. “Was ist los, Hündchen? Gefällt dir, was du siehst?” Joey konnte erst gar nicht antworten und signalisierte dem Braunhaarigen mit ausgestreckten Armen, dass er zu ihm ins Bett kommen sollte. Seto legte sich neben ihn und stützte sich seitlich auf dem Ellenbogen ab, was Joey ihm sogleich nach machte, sodass sie sich nun von nahem betrachten konnten.   “Natürlich gefällt mir, was ich sehe, du Idiot”, antwortete Joey grinsend. “Und ich bin überrascht. Ich glaube, ich hab’ dich noch nie in kurzer Hose gesehen. Oder überhaupt so locker gekleidet. Hast du nicht Angst, was man von dem ach so großen Seto Kaiba denken könnte, wenn man dich so sieht?” Sein Grinsen verstärkte sich noch ein wenig, als er das Erstaunen in Setos Gesicht wahrnehmen konnte, so als hätte er gar nicht richtig darüber nachgedacht. Dann fasste er sich wieder und sah selbstsicher aus wie eh und je, bevor er erwiderte: “Hier wird mich niemand erkennen, weil ich in den USA nicht so bekannt bin wie in Japan. Oder stört es dich?”   Mit einem Ruck warf sich Joey mit vollem Körpereinsatz auf Seto, der überrascht aufkeuchen musste. Joey küsste ihn hektisch am Hals und auf die Wange, dann erklärte er: “Niemals. Du kannst anziehen, was du willst, ich werde dich immer schön finden.” Joey lag jetzt direkt auf Seto, der den Kopf des Blonden in beide Hände nahm und ihn sinnlich küsste. War Joey schon erholt genug für eine zweite Runde? Doch bevor er diesen Gedanken weiterspinnen konnte, klingelte Setos Handy auf dem Nachttisch und Joey ließ von ihm ab, aber nicht, ohne seiner Genervtheit aufgrund der plötzlichen Störung durch einen Seufzer Ausdruck zu verleihen.   Seto sah aufs Display und zeigte es Joey - seine Mum? Der Brünette reichte ihm das Telefon, damit er selbst rangehen konnte, und Joey tippte auf den grünen Hörer, um das Gespräch anzunehmen.   “Hey, Mum!”, sagte er fröhlich und merkte, dass das keine Show war - er fühlte sich tatsächlich so, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, dass er nach dem gestrigen Tag, ach, eigentlich nach der ganzen letzten Woche doch zumindest noch ein bisschen was an negativen Gefühlen in sich tragen sollte. Vielleicht war das auch einfach diesem wahnsinnig tollen Morgen geschuldet, und er wollte jetzt nicht schon wieder alles übergenau analysieren - er wollte einfach nur glücklich sein, und wenn das nur für einen Tag war, dann war das schon mehr, als er sich vor ein paar Tagen noch hätte vorstellen können.   “Hey, Joey”, hörte er seine Mum am anderen Ende antworten und war erleichtert zu merken, dass auch ihre Stimme einen Anflug von Fröhlichkeit mit sich brachte. “Ich habe mir heute spontan frei nehmen können und Serenity hat auch schon mittags Schulschluss. Daher wollte ich fragen, ob wir uns nachher alle zum Mittagessen treffen und danach vielleicht noch ein bisschen die Stadt erkunden wollen?”   Joey war sofort Feuer und Flamme. “Unbedingt! Darf Seto auch mit?” Ihr darauf ertönendes Lachen war fast ansteckend. “Natürlich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du ohne ihn auch nur einen Schritt machen würdest. Ganz ehrlich, ich hab’ gestern doch gesehen, was für eine Einheit ihr bildet, und wer bin ich, das auseinander reißen zu wollen.” Joey errötete - wirkten sie so auf andere? Sie hatten sich immer allergrößte Mühe gegeben, es so gut es ging zu verstecken, aber gestern hatte Seto die Mauern fallen gelassen, auch wenn Joey noch nicht so richtig verstand, warum eigentlich. Aber es hatte ihm einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie es sein könnte, wenn sie es nicht mehr verheimlichen müssten, aber er war sich sehr wohl darüber bewusst, dass es noch lange nicht so weit war, es der breiten Öffentlichkeit mitzuteilen. Joey seufzte, wenn er Geduld doch wenigstens zu seinen Stärken zählen könnte…   “Gut, schickst du mir die Adresse, wo wir uns treffen? Wobei, äh, schick sie lieber an diese Nummer hier, das ist Setos Handy. Bin mir gar nicht sicher, ob mein Handy hier so gut funktioniert.” Dann verabschiedeten sie sich und Joey freute sich wie ein kleines Kind darauf, den Tag mit seiner Familie verbringen zu dürfen - und all das mit Seto teilen zu können, fühlte sich fast schon unwirklich an.   Die Adresse, die seine Mum ihm geschickt hatte, war ganz in der Nähe des Hollywood Walk of Fame, und sie nahmen die Metro, weil Joey vehement darauf bestanden hatte - immerhin gehörte das doch dazu, wenn man eine Stadt wirklich kennenlernen wollte. Die ganze Fahrt über musste er sich unheimlich das Lachen verkneifen, weil Seto so deplatziert wirkte, denn auch wenn er locker gekleidet war, so konnte er nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er eigentlich ein reicher, arroganter Schnösel war, der sich niemals dazu herablassen würde, freiwillig die U-Bahn zu nehmen.   Als sie ankamen, wurden sie schon lächelnd von Serenity und Elaine begrüßt, die sie in eine ruhige Seitengasse und zu einem italienischen Restaurant führten. “Das hier ist noch immer ein ziemlicher Geheimtipp”, erzählte Elaine, “weil sich Touristen nur selten hierher verirren. Außerdem ist das Restaurant ziemlich klein und unscheinbar, man übersieht es schnell, wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss. Aber glaubt mir, hier gibt es die weltbeste Pizza!” Gut gelaunt folgte Joey seiner Familie ins Restaurant, Seto ein paar Schritte hinter ihm. Sie waren in der Öffentlichkeit, daher bemühte sich der Braunhaarige nach allen Kräften, Abstand zu halten, und auch wenn Joey seine Nähe schon jetzt vermisste, obwohl er doch eigentlich bei ihm war, konnte er verstehen, dass Seto nicht komplett über seinen Schatten springen konnte - oder wollte, immerhin hatte er mit seiner Kleidung heute ja schonmal einen Schritt in die richtige Richtung gemacht und ja auch selbst gesagt, dass ihn hier niemand kannte. Aber wer wusste schon, was der Tag noch bringen würde, vielleicht würde er ihn ja doch noch überraschen. Bei Seto Kaiba konnte man ja nie wissen.   Sie bestellten, was ihr Herz begehrte, in Joeys Fall war das die größte Pizza, die auf der Karte stand. Er hatte nicht gefrühstückt weil sie… anderweitig beschäftigt gewesen waren und danach nicht mehr genügend Zeit war, weil die Metro-Fahrt in die Stadt recht lange gedauert hatte. Alle schienen das Thema von gestern zu meiden, vermutlich, weil keiner so richtig wusste, was es dazu noch zu sagen gab, und um der fröhlichen Stimmung keinen Abbruch zu tun. Als ihre Bestellung kam, stürzte Joey sich gierig drauf - nach diesem Morgen konnte er jeden Energieschub gut gebrauchen, den er kriegen konnte. Und während sie ihr Essen genossen, redeten sie über Gott und die Welt, darüber, wie Serenity ihre Schule gefiel, wie seine Mum vor ein paar Tagen einen neuen Mitarbeiter anlernen musste und wie schön das Wetter in Los Angeles war.   Kaum hatten sie aufgegessen, klingelte Setos Handy, und als er auf das Display blickte, konnte Joey in seinem Gesicht ein wenig Besorgnis erkennen. Er versuchte, zu sehen, wer ihn anrief, aber Seto hatte das Handy schon so gedreht, dass er es nicht mehr erfassen konnte. “Entschuldigt ihr mich einen kurzen Moment?”, fragte der Braunhaarige höflich, stand auf und verließ das Restaurant, um draußen in Ruhe telefonieren zu können. Joey kam nicht umhin sich zu fragen, warum er so ein Geheimnis daraus machte, wer ihn anrief - er hatte genau gemerkt, dass Seto das Handy absichtlich ein wenig von ihm weggedreht hatte - aber er musste ihm vertrauen. Wenn es etwas gab, das er wissen sollte, würde er ihm das schon mitteilen.   Gesättigt und durch seinen vollen Magen ein wenig schläfrig legte Joey seinen Kopf für einen Moment auf seinen Armen ab, die er auf den Tisch gelegt hatte. Er schloss kurz die Augen und atmete durch, als seine Mum erneut das Gespräch anfing. “Hey, Joey, sag mal, warum ist Kaiba denn heute so anders?”   Neugierig hob Joey den Kopf erneut an. “Inwiefern?”   “Na ja, er wirkt heute irgendwie so förmlich. Und auch distanziert. Als ich euch gestern zusammen gesehen habe, da habe ich gedacht, man würde euch gar nicht auseinander halten können, aber heute, da ist es eher wieder so wie an Weihnachten.” Joey seufzte, bevor er antwortete: “Das ist immer so. Und ich verstehe es ja auch. Er steht eben in der Öffentlichkeit, Mum.”   Da stieg auch Serenity ins Gespräch ein. “Aber wollt ihr es denn immer vor der Welt geheim halten? Ich meine, jetzt mag das noch okay sein, aber glaubst du nicht, dass es immer schwieriger wird, je länger ihr zusammen seid?”   “Das ist es jetzt schon”, erwiderte Joey mit einem erneuten Aufstöhnen. “Wenn wir zurückkommen, werden wir es zumindest meinen Freunden sagen müssen.” Da stockte er für einen Moment. “Hat Seto euch erzählt, was letzte Woche passiert ist? Ich glaube, ich hatte das gestern nicht mehr ansprechen können…” Er wurde ein wenig rot und musste den Blick senken. Er hatte eigentlich keine große Lust, darüber zu sprechen, aber als seine Mum ihm eine Hand auf seine eigene legte, hob er den Kopf wieder und sah, dass sie lächelte. “Mach dir keine Gedanken, Joey. Kaiba hat uns das erzählt, als du geschlafen hast. Und bitte mach dir auch keine Sorgen um uns, ich sehe doch, dass dich das bedrückt.” Joey war überrascht. War er wirklich so ein offenes Buch? “Wirklich”, versicherte seine Mum ihm, “es ist alles in Ordnung. Natürlich war es ein Schock, das ist es immer noch, ich würde lügen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Aber ich weiß, dass es für dich noch viel schwerer war. Und ich habe Kaibas Gesicht gesehen - ganz ehrlich, Joey, wenn einer dich davor bewahren kann, dass sich das alles wiederholt, dann er. Er hat natürlich versucht, all das zu verstecken, als wir geredet haben, während du geschlafen hast, aber ich bin eben eine Mum, ich habe für sowas einen siebten Sinn.” Sie intensivierte ihr Lächeln und Joey konnte gar nicht anders, als es zu erwidern, und nickte ihr bestätigend zu.   Plötzlich schien seine Mum in ihre eigenen Gedanken abzuschweifen. Ihr Blick wurde unfokussiert, allmählich verschwand auch ihr Lächeln und sie wirkte abwesend. “Mum, alles okay?”, fragte der Blonde besorgt, und sie erwiderte seinen Blick mit identischer Sorge. “Joey, ich würde dich gern etwas fragen, wenn das okay ist? Ich weiß nicht, ob du darüber reden willst, und ich kann dich das auch wann anders fragen, wenn du möchtest.”   Ein Teil von Joey wollte definitiv nicht reden, aber seine Neugierde war mal wieder stärker als alles andere. Also nickte er erneut und bedeutete ihr, fortzufahren. Sie atmete einmal tief durch, dann sagte sie: “Du hast gestern davon gesprochen, dir… das Leben zu nehmen.” Sie musste für einen kurzen Moment unterbrechen und Joey konnte sehen, wie ihr für eine Sekunde die Luft wegblieb. Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Das gab ihr offensichtlich den Mut, weiterzusprechen. “Wie stehst du heute dazu? Ich meine, hast du es noch vor?”   Joey musste über diese Frage kurz nachdenken. So genau hatte er sich das noch gar nicht überlegt. Natürlich hatte er sich diese Frage selbst schon gestellt, aber er war bisher immer so sehr mit seinen Gefühlen für Seto beschäftigt gewesen, dass er sie bisher erfolgreich verdrängen konnte. Aber jetzt, wo er direkt damit konfrontiert wurde, konnte er das nicht mehr. Und wo er so darüber nachdachte, war die Antwort auf diese Frage eigentlich auch gar nicht so schwer, was ihm ein befreiendes Gefühl gab.   “Nein, Mum, das habe ich hinter mir gelassen. Seto hat mir gezeigt, dass es ein Leben für mich geben kann, und auch wenn mich die letzte Woche ein bisschen aus der Bahn geworfen hat, so weiß ich doch, dass das eigentlich vorbei ist. Ich habe immer gedacht, ich würde mit den Erinnerungen nicht leben können. Aber weißt du, Seto hat ähnliches erlebt. Ich will nicht zu sehr in die Tiefe gehen, weil ich nicht weiß, ob und was er euch erzählt hat, und ich kann mir vorstellen, dass er nicht möchte, dass andere Menschen viel darüber wissen, aber uns hat das verbunden, das tut es noch. Schon an dem Abend, als er mich gerettet hat, von diesem Hochhaus, da hat er angedeutet, dass er nachvollziehen kann, warum ich es tun wollte, und dass es eben Menschen gibt, die an ihrem Schmerz zerbrechen, und Menschen, die daraus gestärkt hervorgehen. Seto gehört definitiv zur letzten Gruppe, während ich fast daran zugrunde gegangen wäre. Aber heute weiß ich, dass es so nicht sein muss, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, wie ich mein Leben gestalte. Natürlich werden die Erinnerungen immer zu mir gehören, aber ich weiß, ich habe jetzt jemanden, mit dem ich diesen Schmerz teilen kann. Und das gibt mir die Kraft, weiterzumachen.”   Joey hatte gar nicht gemerkt, wie er gedankenverloren Löcher in die Luft gestarrt hatte. Als sein Blick sich wieder auf seine Mum fokussierte, konnte er sehen, wie ihr die Tränen über die Wangen strömten. Sofort streckte er seine Hand wieder aus und drückte ihre, um sie zu trösten. “Mum, was ist los?”   Sie schüttelte hektisch den Kopf und versuchte sich zu beruhigen, damit sie wieder sprechen konnte. “Ich weiß nicht, ich bin traurig, dass dir das passiert ist und dass du das überhaupt in Erwägung gezogen hast, aber ich bin auch glücklich, weil ich sehe, wie glücklich du jetzt bist. Wie glücklich er dich macht.” Sie holte ein Taschentuch raus und tupfte sich die Tränen von den Wangen, atmete tief durch und setzte wieder ihr Lächeln auf, das Joey sogleich erwidern musste. Und zustimmen musste er ihr auch - Seto machte ihn glücklich, sehr sogar. Er war gestern sehr über seinen Schatten gesprungen, um Joey aus der Tiefe hochzuziehen und hatte so viele wunderschöne Sachen gesagt...   Und da fiel es ihm wieder ein. Zögernd blickte er seine Mum an, die den Braten sofort riechen konnte. “Was ist los, Joey? Komm schon, ich kann doch sehen, dass dir was auf der Seele brennt.” Noch einmal dachte er darüber nach, ob er sie das fragen sollte. Falls er sich geirrt hatte, könnte er sich hier komplett zum Deppen machen, aber was, wenn es stimmte? Würde er es dann nicht wissen wollen? Er hatte sowieso keine Wahl, denn erneut überwog seine Neugierde, sodass er gar nicht drum herum kam, die Frage laut auszusprechen.   Dennoch - peinlich berührt musste er seinen Blick ein wenig abwenden, bevor er fragte: “Was… was hat Seto denn gestern alles so gesagt? Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles mitbekommen habe, weil ich einfach so bei mir war.”   Als niemand etwas sagte, drehte er seine Augen so, dass er aus dem Augenwinkel ihre Mimiken wahrnehmen konnte - und sah zwei wissend lächelnde Gesichter. Erstaunt hob er nun den gesamten Kopf wieder an und wartete darauf, dass jemand was sagte. Irgendwer. Er wurde ungeduldig. “Na kommt schon, was wisst ihr?”   Serenity grinste ihn an. “Hatte er es dir davor etwa noch nicht gesagt?” Oh Gott, sie wollten ihn offenbar quälen. Und verdammt, es gelang ihnen. “Was gesagt, Serenity? Kann mal einer Klartext sprechen?”   Da klinkte sich seine Mum wieder ein. “Oh, er hat viel gesagt, Joey. Dass er für dich da ist, dich glücklich machen will und dich beschützen wird. Hm, war da nicht noch was?” Joeys Gesicht wurde wieder rot, dieses Mal allerdings nicht aus Scham, sondern vor Wut. Wenn sie nicht langsam mit der Sprache rausrückten, könnte er für nichts mehr garantieren. Er musste ein paar Mal durchatmen. Es blieb ihm nicht viel übrig, er musste die Frage aussprechen, sonst würden sie die ganze Zeit um den heißen Brei reden.   “Hat er mir gesagt, dass er mich liebt?”, brachte er hinter dem Zähneknirschen hervor. Dann war es wieder für einen Moment still und er hörte Serenity kichern, die er sogleich mit einem vernichtenden Blick bedachte. Augenrollend erwiderte sie darauf: “Ach, komm schon, Joey, wir machen doch nur Spaß. Ja, er hat gesagt, dass er dich liebt. Und wenn du mich fragst, hat er es auch genauso gemeint.”   Joeys Herz machte einen Sprung. Er hatte sich nicht verhört, er hatte ihm tatsächlich seine Liebe gestanden. Als andere dabei waren. Oder wollten sie ihn hier etwa gerade verarschen, und er tappte ihnen schnurstracks in die Falle? Er sah in ihre Gesichter - nein, er konnte genau sehen, dass sie die Wahrheit sprachen, er kannte sie gut genug, um das einschätzen zu können. Erneut setzte sein Herz für einen Schlag aus. Er wusste nicht so richtig, was er mit dieser Information anfangen sollte. War Seto sich denn überhaupt darüber bewusst, dass er es gehört haben könnte? Und wie stand er selbst dazu? Was wäre gewesen, wenn er nicht in dieser Dunkelheit gesteckt hätte? Hätte er es dann erwidert? Wäre er weggerannt? Hätte er geweint? Na ja, Letzteres hatte er ja eh schon getan, zumindest bei dieser einen Sache hätte es keinen Unterschied gemacht.   Joey konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er musste das erstmal sacken lassen und hoffte, dass es ihm irgendwann einfach wie Schuppen von den Augen fallen würde, wie er dazu stehen würde. Er hatte auch kaum Zeit, weiter darüber zu grübeln, denn von draußen konnte er einen aufgebrachten Seto Kaiba hören, der wohl schon wieder irgendeinen Mitarbeiter zur Schnecke machte. Joey hob den Kopf und sah raus, beobachtete Seto, wie er hektisch auf und ab lief, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das war eine gute Möglichkeit, hier mal rauszukommen und vielleicht auf ein paar andere Gedanken zu kommen. Also griff er die Gelegenheit beim Schopfe, stand auf, verabschiedete sich kurz mit einem flüchtigen Winken und ging nach draußen, um nach Seto zu sehen.   Dort angekommen, legte Seto gerade auf. Genervt griff er sich in die Haare und Joey konnte sehen, dass seine Atmung beschleunigt war. Er schien wütend, und Joey war zum einen belustigt darüber, wie emotional Seto in Bezug auf seine Firma werden konnte, auf der anderen Seite beunruhigte ihn das auch ein wenig. Er wollte nicht, dass die schlechte Stimmung auf den heutigen Tag übersprang, er wollte, dass auch sein Drache glücklich war.    Vorsichtig und mit langsamen Schritten ging er auf Seto zu, der den Kopf hob und ihn jetzt auch wahrnahm. Beide streckten für einen kurzen Moment die Arme nacheinander aus - bis sie merkten, wo sie hier waren, und dass sie nicht allein waren. Sie ließen ihre Arme wieder neben ihre Körper sinken, als Joey fragte: “Ist alles in Ordnung, Seto?” Erneut genervt aufseufzend, antwortete der Braunhaarige: “Es gab nur etwas Wichtiges, das ich entscheiden musste und nicht warten konnte. Echt, Joey, ich kann so viel vorbereiten wie ich will, am Ende geht doch immer irgendwas schief. Ich verstehe wirklich nicht, was daran so schwer sein soll, die einfachsten Anweisungen zu befolgen.”   Joey verschränkte grinsend die Arme vor dem Körper. “Na ja, vielleicht würde es helfen, deinen Mitarbeitern mehr Freiraum zu geben, statt sie so einzuengen? Ich meine, ist dein Führungsstil nicht irgendwie auch wie aus den 50er Jahren?”   Seto funkelte ihn aggressiv an. “Du bist also der Meinung, wenn ich den größten Idioten dieser Welt quasi meine Firma überlasse, würde da irgendwas Gutes bei rumkommen?”   Joey zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete: “Ich meine ja nur. Wenn sie nicht lernen, selber zu denken beziehungsweise mitzudenken, sondern immer nur Anweisungen befolgen, wie soll ihnen da auffallen, wenn sie einen Fehler machen? Wie sollen sie reflektieren können, was sie machen, wenn du sie immer so unter deiner Kontrolle hast?”   Setos Augen verformten sich zu Schlitzen, dann erwiderte er, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken: “Nein.”   Joey winkte abwehrend ab und musste kurz auflachen. “Schon gut, schon gut, zerfleisch mich nicht gleich. Es ist deine Firma und ich weiß schon, dass es mir auch gar nicht zusteht, etwas dazu zu sagen. Am Ende ist das alles deine Entscheidung. Und ganz ehrlich, wir mögen bei dem Punkt zwar verschiedener Meinung sein, aber letztendlich ist deine Firma enorm erfolgreich, und das sicherlich nicht ohne Grund. Du wirst es am besten wissen.”   Als Joey nach seinem Monolog wieder zu Seto aufsah, konnte er die Überraschung in seinen Augen sehen, die schon kurze Zeit später Belustigung wich. “Seit wann wurde denn aus meinem Hündchen so ein zahmes Kätzchen? Wärst du nicht früher total auf mich losgegangen, wenn auch nur ein winziges Bisschen deiner eigenen Meinung von meiner abwich?”   Joey musste lächelnd zustimmen. Und obwohl dieses ‘Früher’ erst ein paar Monate her war, so hatten sie sich doch so angenähert, dass sie heute tatsächlich zivilisierte Gespräche führen konnten. Wenn der Blonde so richtig darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er tatsächlich nicht mehr bei den kleinsten Dingen an die Decke ging. Seto hatte ihn irgendwie geerdet, ihm eine Ruhe gegeben, die er vorher nie hatte. Und er hatte ihm ein Umfeld und ein Leben geschenkt, das ihm dabei half, zu einer besseren Version von sich selbst zu werden.   Nach einem kurzen Moment der Stille nahm Seto die Konversation wieder auf. “Der erste Anruf, den ich bekam, war allerdings nicht von der Firma. Joey, können wir kurz über was reden?” Er zeigte mit der Hand auf eine Bank gegenüber des Restaurants und sie nahmen darauf platz. Die kleine Gasse, in der das Restaurant lag, war komplett leer und nur dezent wurden die Geräusche der Hauptstraße bis zu ihnen getragen. Joey fragte sich, was es mit diesem ominösen Anruf auf sich haben würde, den er vorhin noch vor ihm geheim halten wollte, als er das Handy von ihm wegdrehte. Joey war ganz Ohr und drehte sich etwas in Setos Richtung, um ihm genau das zu signalisieren.   Noch einmal tief durchatmend, sagte Seto: “Der erste Anruf kam von der Polizei. Joey, sie haben deinen Dad gefunden.” Das hatte er verheimlichen wollen? Wieso? Joey stand die Verwirrung wohl ins Gesicht geschrieben. War das denn nicht etwas Gutes, dass sie ihn gefunden hatten?   “Und?”, fragte Joey, weil er wirklich verstehen wollte, warum Seto daraus so ein großes Drama machte. Setos Blick wurde weicher, als er antwortete: “Ich wusste nur nicht, wie du darauf reagierst. Ob das was bei dir triggert oder so. Deswegen wollte ich vorsichtig sein. Wie geht es dir damit?”   Joey dachte kurz über diese Frage nach, bevor er erwiderte: “Ganz gut, denke ich. Wurde er denn festgenommen?” Seto nickte. “Ja, sie haben ihn direkt in Gewahrsam genommen. Die Beweislage ist schlicht und ergreifend sehr erdrückend. Ich wollte nachher noch mit dem Staatsanwalt telefonieren, um die nächsten Schritte zu besprechen, aber es wird alles auf einen Gerichtsprozess hinauslaufen, den er gar nicht gewinnen kann.” Plötzlich veränderte sich etwas in Setos Gesichtsausdruck und er sah den Blonden unsicher an. “Joey, du wirst wahrscheinlich eine Aussage gegen ihn machen müssen. Da du ein Verwandter bist, kannst du die Aussage auch ablehnen, aber aus meiner Sicht würde es sicher helfen, um ihn so lange wie möglich hinter Gittern zu bringen. Aber ich will dir keinen Druck machen, und du musst das ja auch nicht jetzt entscheiden.”   Joey zuckte mit den Schultern. “Wieso nicht? Um es mal in deinen Lieblingsmetaphern zu sagen: Ich werde sicherlich nicht den Schwanz einziehen und mich wie ein räudiger Köter in die Ecke verkrümeln.” Joey legte sein bestes, selbstsicherstes Grinsen auf und Seto hatte ganz offensichtlich große Probleme, sich zu beherrschen, das nicht einfach zu erwidern. Dann ergänzte er: “Außerdem wirst du doch bei mir sein, nehme ich an?” Seto nickte und seine Gesichtszüge wurden wieder weicher. Joeys Lächeln intensivierte sich, als er sagte: “Dann kann nichts schief gehen. Und jetzt komm, lass uns wieder reingehen, ich hab Lust auf ein Dessert!”   Voller Elan stand Joey zuerst auf und rannte vor, konnte Seto hinter sich aber noch leise flüstern hören: “Ich auch, aber keines davon steht auf der Karte…”   Nach dem Essen machten sie sich auf zu ihrer Sightseeing-Tour. Es war bereits früher Nachmittag, aber die Sonne schien noch immer mit unveränderter Kraft auf sie nieder, als sie den Hollywood Walk of Fame erreichten. Hier tummelten sich die Touristen, und trotz der Tatsache, dass relativ viel los war, wurde Joey sofort begeistert mitgerissen. Die altrosafarbenen Sterne glänzten und zogen Joey sogleich in ihren Bann. Viele der Namen auf den Sternen sagten ihm gar nichts, aber es waren durchaus ein paar Persönlichkeiten dabei, von denen vermutlich jeder schon mal was gehört hatte. Und als sie sich so ihren Weg auf dem Hollywood Boulevard bahnten und dem Weg der Sterne folgten, konnte Joey aus dem Augenwinkel wahrnehmen, dass Seto wohl nach einem ganz speziellen Stern suchte.   “Suchst du was Bestimmtes?”, fragte Joey den Braunhaarigen, der kurz zu ihm aufsah, aber sogleich seine Suche fortführte. “Ja, ich dachte, er müsste eigentlich hier irgendwo sein.” Plötzlich erhellten sich seine Augen, als er scheinbar gefunden hatte, wonach er suchte. “Da ist er.” Sie traten näher an den Stern heran. Rudolf Serkin. Den Namen hatte Joey noch nie gehört. Verwirrt sah er zu Seto auf und wartete darauf, dass der Größere ihn erleuchten würde, wer dieser Mensch sein sollte.   “Serkin ist ein Pianist, oder sagen wir besser, war. Er ist Anfang der 90er Jahre gestorben”, erklärte Seto.   “Und du magst seine Musik gern?”   Seto nickte zustimmend. “Ja, er war ein herausragender Pianist. Aber mach dir dein eigenes Bild.” Seto holte sein Handy raus sowie die Kopfhörer, dessen Kabel er vorsichtig entknotete. Er zeigte mit dem Kopf zu einer Bank, auf die sich sich setzten. Joey sah sich kurz nach seiner Familie um, aber Serenity und seine Mum waren noch immer einige Schritte hinter ihnen und sahen sich die Sterne genauer an. Der Blonde  fand das ziemlich amüsant, immerhin wohnten sie doch hier schon seit knapp zehn Jahren und konnten sich noch immer so dafür begeistern, auch wenn Joey sicher war, dass sie hier schon dutzende Male gewesen sein mussten.   Seto reichte ihm einen Kopfhörer, den er sich in das linke Ohr steckte, und Seto tat es ihm gleich und steckte seinen Kopfhörer in das rechte Ohr. Er öffnete seine Musik-App und suchte offenbar nach dem richtigen Lied. Als er es gefunden hatte, erklärte er Joey: “Das ist 24 Préludes, Op. 28 No. 4 von Chopin, gespielt von Serkin. Das mag ich am liebsten.” Dann drückte er ‘Play’ und Joey nahm die ersten Töne des Klavierstücks wahr.   Joey dachte, dass es irgendwie etwas Melancholisches hatte, aber auch etwas Romantisches. Es wurde immer mal wieder langsamer und mal schneller, mal lauter und mal leiser, und Joey hatte das Gefühl, dass das Ende eigentlich irgendwie traurig wirken müsste, aber gleichzeitig fühlte es sich für ihn so hoffnungsvoll an, friedlich. So als wenn am Ende einfach alles gut werden würde, und Joey hoffte, dass das auch auf das Leben übertragbar wäre.   Es war nur ein kurzes Stück und sie hörten es sich einfach in Endlosschleife an. Saßen nur nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. Joey ließ den bisherigen Tag Revue passieren. Es war schon erstaunlich, wie viele verschiedene Seiten er heute wieder von Seto gesehen hatte. Sowieso musste er feststellen, dass der Größere unheimlich viele unterschiedliche Facetten in sich trug. Er konnte arrogant und gebieterisch sein, schien aber auch einen ausgeprägten Beschützerinstinkt zu haben, wenn es um Joey oder um Mokuba ging - oder um seine Firma. Er konnte liebevoll und zärtlich sein, aber auch sexy und unheimlich heiß. Joey amüsierte sich über sich selbst, als er Seto gedanklich den Ausdruck ‘50 Shades of Kaiba’ verlieh. Dabei war der Vergleich gar nicht so falsch, wenn er so darüber nachdachte. Eigentlich hatte er sogar erschreckend viel mit Christian Grey gemeinsam - attraktiv, stinkreich, eigene Firma, dominantes Auftreten, adoptiert, schwierige Kindheit. Wobei sich bei Grey alles änderte, als er adoptiert wurde, und das tat es auch bei Seto, im Gegensatz zu Grey entwickelte sich sein Leben allerdings zunächst in eine negative Richtung, bis er diesem aus eigener Kraft heraus wieder eine positive Wendung gab. Okay, gut, Grey stand außerdem nicht auf Männer, das konnte man also auch nicht zu den Gemeinsamkeiten zählen.   Joey dachte weiter über die Kindheit der beiden nach. Greys erste Lebensjahre waren geprägt von einer drogensüchtigen Mutter, die sich nicht um ihr Kind gesorgt hatte und ihn einfach sich selbst überlassen hatte. Wie waren Setos Eltern gewesen? Ihm wurde klar, dass Seto zwar über Gozaburo gesprochen hatte, aber nie so richtig über seine leiblichen Eltern. Er musste auf jeden Fall schon alt genug gewesen sein, um tiefgreifende Erinnerungen mit ihnen aufzubauen. Ab und an hatte er durchklingen lassen, dass er noch immer an sie dachte, zum Beispiel, wenn es um Weihnachten ging. Aber wie hatten sie ihn aufgezogen? Was für ein Kind war Seto gewesen? Hatten sie ihn und Mokuba geliebt? Wie hatte Seto sich gefühlt, als sie gestorben waren? Und wie genau hatte ihn das verändert?    Der Blonde zog seine Beine zu sich hoch auf die Bank, umschlang sie mit seinen Armen und legte seinen Kopf auf seinen Knien ab. Joey wurde klar, dass es noch immer so viele Fragen gab in Bezug auf Seto, die unbeantwortet blieben. Vielleicht würde er die Antworten irgendwann erfahren, aber er würde ihn nicht drängen. Seto hatte ihn auch nie bedrängt, Joey hatte immer selbst entschieden, wieviel er zu erzählen bereit war, jedenfalls kam es ihm bisher immer so vor. Und auch wenn seine Neugierde ihn fast umbrachte, er würde es mit Seto genauso handhaben wollen. Außerdem - sie waren noch gar nicht so lange offiziell zusammen. Was waren schon ein paar Monate im Vergleich zu der Zeit, die noch vor ihnen lag?   Joey legte seinen Kopf nun seitlich auf seine Knie, sodass er Seto ansehen konnte, und musste überraschend feststellen, dass dieser ihn sanft betrachtete. Um sie herum war noch immer viel los, sodass sie weiterhin auf Abstand blieben und Setos Miene für alle anderen auch eher unergründlich wirkte, aber Joey konnte die feinen Nuancen in seinen Augen sehen, die ihm Wärme und Vertrauen signalisierten. Joey legte ein leichtes Lächeln auf die Lippen und für einen Moment sahen sie sich einfach nur in die Augen und kommunizierten so die verschiedenen Gefühle, die sie füreinander hegten. Dann sagte Joey: “Ich würde dich jetzt wahnsinnig gern küssen, weißt du das?” Kaum wahrnehmbar, wenn man nicht direkt vor ihm stand oder saß, hoben sich Setos Mundwinkel, nur ganz minimal und auch wieder nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber Joey machte es glücklich, weil er genau sehen konnte, dass Seto den Kuss erwidern würde.   Sie ließen das Lied noch ein letztes Mal durchspielen, dann packte Seto die Kopfhörer und sein Handy wieder zurück in seine Taschen und sie erhoben sich von der Bank, um nach Joeys Familie zu sehen, die offensichtlich mittlerweile an ihnen vorbei gezogen war und ein paar Meter weiter bei einem Stern zum Stehen kam, der augenscheinlich einem sehr berühmten Schauspieler gewidmet war.   Nachdem die Gruppe noch in einem netten Café war und sich ein leckeres Eis gegönnt hatte - bei Außentemperaturen über 20° Celsius war das auch absolut notwendig, in Japan konnten sie schon froh sein, wenn sie gerade die 10° Marke überschritten und es mal einen Tag nicht regnete - machten sie sich auf den Weg zum Venice Beach, um dort den Sonnenuntergang zu beobachten. Als sie dort ankamen, war die Sonne schon auf einem absteigenden Ast, und Joey und Serenity rannten sofort auf den Strand zu. Seto blieb dicht hinter ihm, aber doch genug auf Abstand, um kein Aufsehen zu erregen. Joey war bester Laune, und der Brünette stellte sich neben ihn ans Wasser. Serenity hatte ihre Mum auch ans Wasser gezogen, aber sie standen einige Meter weiter weg und waren außerhalb ihrer Reichweite. Joey fing an, Seto mit Wasser zu bespritzen und kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus. Er fühlte sich so frei und sorglos, und das, obwohl er gestern einen der schwersten Tage in seinem Leben durchmachen musste. Der Blonde stoppte mit dem Wasserspiel, als er sah, dass Seto mittlerweile aussah wie ein begossener Pudel - wer war jetzt das Hündchen hier?   Noch immer intensiv lächelnd, trat er einen Schritt näher an Seto heran. Er würde ihn so gern berühren, aber er respektierte, dass Seto das nicht konnte - noch nicht. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann anders sein würde. Dann sagte er mit liebevoller Stimme: “Danke, Seto, dass du gestern bei mir warst und mich so weit gebracht hast. Dass du mir geholfen hast, den Schmerz zuzulassen und ihn damit ein wenig rauszulassen. Er wird immer ein Teil von mir sein, aber ich weiß, du wirst immer da sein, mir zuhören und mich verstehen..”   Setos Augen weiteten sich und Joey konnte die Sehnsucht, die in seinem Blick lag, förmlich spüren. Der Blick des Braunhaarigen wurde noch einen Hauch weicher, als er erwiderte: “Kein Grund mir zu danken, mein Hündchen. Ich werde immer bei dir sein, wann immer du mich brauchst. Und vermutlich auch dann, wenn du es nicht tust. Und den Schmerz tragen wir beide in uns, all das, was wir erlebt haben. Man sagt, geteiltes Leid ist halbes Leid, und ich muss zustimmen. Ich habe vor dir nur noch nie jemanden getroffen, mit dem ich es teilen wollte.”   Joeys Herz machte einen Sprung und er musste erkennen, wie sehr das, was Seto gerade gesagt hatte, auch für ihn galt.   Auch die nächsten Tage verbrachte die Familie viel Zeit zusammen. Am darauffolgenden Tag besuchten sie den Rodeo Drive, wo Seto ihm alles mögliche an Klamotten kaufen wollte, die mehr als sein Jahreseinkommen im Café wert gewesen wären, weshalb Joey sich strikt geweigert hatte, das anzunehmen. Sie waren außerdem noch in den Universal Studios, wo es Joey vor allem die Achterbahnen richtig angetan hatten und er sich wieder zurück an den Tag erinnern musste, als sie auf dem Weihnachtsmarkt waren. Sie waren auch häufiger am Strand, so auch an ihrem letzten Abend. Sie würden am nächsten Morgen sehr früh zurück fliegen, sodass sie sich schon abends von seiner Familie verabschieden mussten. Dieser Abschied war wie erwartet tränenreich, aber Joey war froh, dass sie sich so schnell wiedersehen konnten. Es war genau das, was er nach der letzten Woche gebraucht hatte, und er war froh, diese glücklichen Erinnerungen mit Seto teilen zu können.   Als sie an ihrem letzten Abend wieder im Bett ihres Hotelzimmers lagen, unterhielten sie sich darüber, was sie Zuhause erwarten würde, wenn der Alltag sie wieder in Besitz nehmen würde. Joey legte sich mit dem Hinterkopf auf Setos Bauch und schaute in Gedanken vertieft an die Decke, als er plötzlich Setos elegante Finger in seinem Haar spürte. Diese so vertraute Berührung schickte noch immer einen wohligen Schauer in seinen ganzen Körper und seine Kopfhaut kribbelte, wo auch immer er sie, selbst wenn nur ganz leicht, berührte. Er musste kurz die Augen schließen, einfach um den Moment in vollen Zügen zu genießen.   “Worüber denkst du nach, mein Hündchen?”, fragte Seto, ohne mit den Liebkosungen aufzuhören. Joey öffnete die Augen wieder und antwortete seufzend: “Ich dachte nur gerade daran, was uns Zuhause erwarten wird. Wir werden es Yugi, Tristan und Téa sagen müssen. Das bin ich ihnen schuldig, Seto.”   Auch der Braunhaarige seufzte auf. “Ich weiß. Ich habe es mir ein bisschen anders erhofft, aber mit dir verläuft so einiges nicht nach Plan.”   “Hä? Wie meinst du denn das?” Spielte Seto auf irgendwas Bestimmtes an? Er wirkte in Gedanken und schien tatsächlich innerlich zerrissen. Gab es etwas, das er ihm nicht erzählt hatte? Hatte er irgendwas verpasst? Seto zögerte und antwortete nicht gleich, was Joeys Eindruck eher noch bestätigte. Aber er wusste, dass er ihn nicht würde zum Reden bringen können, wenn er es ihm nicht freiwillig sagen wollte. Er konnte nur darauf vertrauen, dass es nichts war, was sie belasten würde, sie beide.   Dann schüttelte Seto den Kopf. “Nicht so wichtig. Ich würde vorschlagen, wir laden deine Freunde in die Villa ein und sagen es ihnen dort.”   Joey nickte. “Ich weiß, dass das vermutlich schwierig ist, weil du sie ja nicht ausstehen kannst und so. Aber ich hätte dich wirklich gern dabei. Ich will ihnen auch von meinem Dad erzählen. Nicht in der Tiefe wie Mum und Serenity, aber ich finde, ein bisschen mehr Infos haben sie sich wirklich verdient, nach allem, was sie für mich getan haben.”   Seto setzte sich auf und zog Joey mit sich hoch. Sie saßen sich jetzt beide jeweils im Schneidersitz gegenüber, und während Setos linke Hand die rechte von Joey hielt, fuhr er mit seiner rechten Hand sanft über die Wange des Blonden. “Wenn du möchtest, dass ich dabei bin, dann bin ich das. Ich habe dir gesagt, dass ich da bin, wenn du mich brauchst. Auch wenn ich zustimmen muss, dass es, sagen wir mal, eine Herausforderung für mich wird.”   Joey lächelte, nahm Setos Hand von seiner Wange und küsste sie zärtlich. “Ich weiß, Seto, und ich weiß das wirklich zu schätzen. Am Ende werde ich ja sowieso viel mehr reden, lass mich das nur machen, aber es hilft enorm, wenn du einfach nur anwesend bist. Keine Ahnung, du machst mir Mut, auch wenn du gar nichts sagst. Macht das Sinn?”   Seto erwiderte sein Lächeln, als er sagte: “Macht es, mein Hündchen. Und mir geht es genauso.” Seto zog Joey an seinem Shirt näher zu sich ran, und als sich ihre Lippen sanft berührten, tanzten die Schmetterlinge in ihren Bäuchen Tango. Kapitel 19: Rescue me... from 50 Shades of Kaiba [ZENSIERT] ----------------------------------------------------------- Als Seto am nächsten Morgen wach wurde, konnte er Joey neben sich noch leise schnarchen hören. Seine blonden Haare lagen ihm kreuz und quer im Gesicht und er sah so friedlich aus, sodass Seto sich sehr bemühte, keinen Mucks zu machen. Würde er jemals genug davon bekommen, Joey beim Schlafen zuzusehen? Seto war schon fast süchtig danach und war immer froh, wenn er früher wach wurde als der Kleinere, damit er ihn noch einige Momente betrachten konnte.    Nach ein paar Minuten stand Seto auf und war weiterhin darauf bedacht, so wenig Lärm wie möglich zu machen, und er schien Erfolg zu haben, denn Joey schlief weiter. Er zog im Schlaf die Decke noch ein wenig mehr unters Kinn und seine Beine umschlungen einen Teil der Bettdecke. Sein Shirt rutschte ein Stück nach oben und gab einen Teil seines athletischen Oberkörpers frei. Das war Setos Stichwort - wenn er jetzt hier weiter stehen und dem Blonden dabei zusehen würde, wie er sich im Schlaf bewegte und noch mehr nackte Haut freilegte, würde er sich sicher nicht beherrschen können. Es war einfach schon zu lange her, seit er ihn das letzte Mal so berührt hatte.   Der Braunhaarige ging auf direktem Weg ins Bad, entledigte sich seiner Klamotten und öffnete die Tür zur Dusche, die vermutlich Platz für eine ganze Fußballmannschaft bot. Er drehte das Wasser an und ließ die warme Flüssigkeit von der Regendusche über seinen ganzen Körper laufen, während er in Gedanken den gestrigen Tag Revue passieren ließ.   Er hatte viele gemischte Gefühle, wenn er daran zurück dachte, was gestern alles geschehen war. Zum einen war da die Bestürzung darüber, was Joey alles angetan wurde, nun, da er die ganze Geschichte kannte. Das wiederum erzeugte eine Wut auf diesen Unmenschen von Vater, und sein guter Vorsatz, ihn so lange wie möglich hinter Gittern bringen zu wollen, verstärkte sich nur noch mehr. Aber da war noch viel mehr an Empfindungen, Gefühle für sein Hündchen, das sich so tapfer dem Schmerz entgegengestellt hatte. Er war einfach so stolz darauf, wie er das gemeistert hatte. Seto war sich vorher schon bewusst gewesen, dass es nicht einfach werden würde, und er hatte sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Und am Ende war genau das eingetroffen, was er befürchtet hatte - Joey wurde von Leere erfasst und rutschte wieder weiter in die Apathie hinein, schien nichts zu fühlen, bis zu dem Punkt als das Erlebnis der letzten Woche zur Sprache kam. Seto hatte sich im ersten Moment so hilflos gefühlt, weil er nicht wusste, wie er Joey helfen konnte, aber er schien es instinktiv richtig gemacht zu haben, weil es Joey im Anschluss, so ausgelaugt dieser dann auch war, besser zu gehen schien.   Und dann war da noch dieses alles überragende Gefühl, das alle anderen Empfindungen so vollkommen in den Schatten stellte - Liebe. Er hatte das in einem Moment größten Schmerzes festgestellt, in dem auch er das fühlen konnte, was ihm selbst angetan worden war. Aber die Gewissheit, dass er das hinter sich lassen konnte, wenn sein Hündchen bei ihm war, machte es offensichtlich - er liebte ihn, bedingungslos. Er hatte es Joey sogar gesagt, aber er war sich nicht sicher, wie viel der Blonde wirklich mitbekommen hatte, wie viele seiner Worte insgesamt überhaupt zu ihm durchgedrungen waren. Wenn er es gehört hätte, hätte er ihn nicht längst darauf angesprochen? Gestern Abend hatte er das zumindest nicht getan, auch wenn Seto zugeben musste, dass Joey nach dem Tag nur noch mehr oder weniger ins Bett gefallen war, auch weil ihn der Jetlag zusätzlich ziemlich ausgelaugt haben musste. Eigentlich war es auch ziemlich egal, ob er es gehört hatte oder nicht, denn die alles entscheidende Frage war doch: Wollte er es ihm nochmal sagen wollen, wenn er völlig sicher war, dass Joey bei vollem Bewusstsein war?   Als er hinter sich die Duschtür aufgehen hörte, wurde er jäh in seinen Gedanken unterbrochen. Er drehte sich um und sah durch den warmen Wassernebel und das noch immer auf ihn herunterprasselnde Wasser in zwei honigbraune Augen, die ihn neugierig - oder doch nur gierig? - anstarrten. Joey schloss die Glastür hinter sich und lehnte sich kurz mit dem Rücken dagegen, die Hände in die Hüften gestemmt. Seto war glücklich darüber, dass sich sein Hündchen seiner eigenen Nacktheit endlich nicht mehr schämte, denn dafür gab es absolut keinen Grund. Er war wunderschön, und der Braunhaarige war süchtig nach jedem einzelnen Zentimeter dieses unwiderstehlichen Körpers.   “Meine Augen sind hier oben, Seto”, sagte Joey mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen, und Seto musste feststellen, dass er ihn gerade tatsächlich von oben bis unten gemustert hatte. Als er ihm wieder in die Augen sah, konnte er die verschiedenen Strömungen in seiner Iris erkennen und war so geflasht, dass er kaum ein Wort rausbekam. “Komm her”, antwortete er, fast flüsternd, und streckte dem Blonden seine Arme entgegen, der sie lächelnd annahm und sich von Seto in die warme Regendusche ziehen ließ.   Setos Körper reagierte sofort auf die Berührungen, seine Haut wurde heiß von der sich ausströmenden Hitze, und er merkte, dass es Joey genauso ging. Er zog den Blonden dicht an sich, dessen nasse Haare ihm im Gesicht klebten. Sein Blick war lustvoll, und schon jetzt hatte Seto Mühe, sich zu beherrschen. Noch während der Brünette so in Gedanken war, zog Joey ihn in einen leidenschaftlichen Kuss, biss ihm ein bisschen in die Unterlippe und signalisierte ihm damit, dass er nicht nur gekommen war, um zu duschen. Nein, der Kleinere wollte mehr, und Seto ging es genauso, aber er wollte sichergehen, dass er das Richtige tat.   Er knabberte dem Kleineren ein wenig am Ohr, als er fragte: “Bist du sicher, dass du das willst, Joey?” Der Blonde hatte gestern eine emotionale Achterbahnfahrt erlebt und Seto wollte unbedingt verhindern, dass er das aus den falschen Gründen machte, wollte, dass er es wirklich tun wollte. Als Antwort bekam er zunächst ein Stöhnen, das er noch bis in die Zehenspitzen fühlen konnte. Dann verteilte Joey zärtliche Küsse an seinem Hals, küsste sich seinen Weg runter zu Setos Schulter und biss ihn leicht.   Das war genug. Seto presste Joey stürmisch gegen die Wand, der Rücken des Blonden an den kalten Fliesen. Sie standen nun nicht mehr direkt unter dem warmen Wasser, aber der Nebel umhüllte sie dennoch mit einer warmen Hitze, die sich zu ihrem inneren Feuer dazu gesellte.   Seto stand ein wenig von Joey weg, der ihm gierig in die Augen sah. Und während der Größere die letzte Distanz zwischen ihnen überbrückte, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen, sagte er als Antwort auf den Biss in seine Schulter: “Aus, böser Hund.” Joey leckte sich die Lippen, und als Seto direkt vor ihm stand, hob er das Kinn des Blonden an, sodass sie sich nun intensiv in die Augen schauen konnten. Dann ergänzte er: “Du weißt wohl nicht, wie du mit deinem Herrchen umzugehen hast, hm? Vielleicht sollte ich dich ein bisschen disziplinieren?” Joeys Augen weiteten sich, aber Seto konnte genau sehen, dass es sich hierbei nicht um Angst handelte - nein, es war das pure Verlangen.   Kurz auflachend, als er sah, welche Wirkung seine Dominanz auf den Kleineren hatte, drehte er ihn um, sodass er nun mit der Vorderseite seines Körpers an den Fliesen stand. Er drückte ihn noch ein wenig näher an die Wand, während seine Hände Joeys Körper entlang wanderten.   “Wenn du dich gut benimmst, dann belohne ich dich”, sagte Seto und drückte sich noch näher an sein Hündchen ran. Dann löste er die Berührung erneut und fragte: “Und wenn nicht, was, glaubst du, wird dann passieren?”   Joey drückte sich voller Verlangen ihm entgegen, sein Blick verschleiert, bevor er antwortete: “Du bestrafst mich?” Seto lachte diabolisch auf. “Ich sehe, du kannst mir folgen. Also, Regel Nummer eins: Sein Herrchen beißt man nicht. Hast du das verstanden?” Joey drehte seinen Kopf leicht in seine Richtung, sodass er ein wenig mehr seines Gesichtsausdrucks wahrnehmen konnte. Ein leichtes Lächeln lag auf Joeys Lippen und er knabberte an seiner Unterlippe, was Seto an den Rand des Wahnsinns brachte. Dann sagte der Blonde: “Diese Regel habe ich gerade schon gebrochen. Musst du mich jetzt nicht bestrafen?”   Oh Gott, das war wohl eher Strafe für Seto, dessen Sinne nun komplett benebelt waren, und er hatte das Gefühl, Joey war weniger an der Belohnung als vielmehr an der Bestrafung interessiert. Aber er würde seinem Hündchen jetzt schon beibringen, wie man seinem Herrchen gehorchte...   Als sie sich nach ihrer hitzigen Vereinigung wieder langsam voneinander lösten, musste Seto für eine Weile heftig atmen. Dem Blonden schien es nicht anders zu gehen, er stützte sich an der Wand ab, um einigermaßen die Balance halten zu können, fand aber als Erster seine Stimme wieder. “Seto, das… das war... “ Weiter kam er allerdings nicht und Seto konnte es ihm nicht verübeln - gab es dafür überhaupt Worte, die beschreiben konnten, wie unheimlich intensiv sich das gerade angefühlt hatte?   “Ich weiß, mein Hündchen. Ich weiß…” Und während ihre Herzschläge sich langsam wieder in einen normalen Rythmus einordneten, schaltete Seto das Wasser wieder ein und zog Joey an sich. Für ein paar Minuten ließen sie einfach das warme Wasser über sich laufen, keiner sagte auch nur ein Wort. Seto umarmte Joey und genoss seine Nähe, zog den Kopf des Blonden näher an seine Brust. Joey löste sich als Erster wieder und griff zum Duschgel, verteilte ein bisschen was in seinen Händen und fing an, Seto einzuseifen, und wenn sie nicht gerade schon diesen phänomenalen Sex gehabt hätten, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, aber Seto erholte sich noch immer von dem, was sie da gerade getan hatten. Also ließ er Joey machen, der erst ihn und dann sich selbst einseifte, bevor der Blonde ihn wieder in seine Arme zog und das Wasser die Seifenreste an ihren Körpern in den Abfluss beförderte.   Seto stellte das Wasser ab, doch bevor sie die Duschkabine verließen, zog er Joey noch mal näher zu sich und küsste ihn, dieses Mal allerdings zärtlich und gefühlvoll. Als sie sich wieder voneinander lösten, da fühlte er es wieder, diese unheimliche Verbindung zu seinem Hündchen, und er hoffte, es würde für immer so bleiben.   ~~~~   Joey kuschelte sich noch mal fester in die Kissen und zog die Bettdecke enger an seinen Körper. Er brauchte jetzt einen Moment Zeit, um sich von dem, was sie gerade getan hatten, zu erholen.    Als er vorhin aufgewacht war und Seto nicht neben ihm lag, da überkam ihn für einen kurzen Augenblick ein Anflug von Panik, bis er ganz leise die Geräusche der Dusche hörte. Er dachte kurz darüber nach, einfach im Bett liegen zu bleiben und auf seinen Drachen zu warten, aber dann überkam ihn das dringende Bedürfnis nach Nähe. Also stand er auf, und als er ihn da so in der Dusche stehen sah, noch durch die geschlossene Duschtür, in warmen Dampf gehüllt, das heiße Wasser über ihn laufend, da wich jede Selbstbeherrschung aus seinem Körper und er wurde sich schmerzlich bewusst, wie lange es jetzt schon her war, dass sie sich berührt hatten. Also, so richtig berührt, nicht nur einen kurzen, zärtlichen Kuss auf die Lippen.   Die letzte Woche war sehr anstrengend für Joey gewesen und Seto hatte sich mit Liebkosungen entsprechend zurückgehalten. Aber als er heute Morgen aufgewacht war, da spürte er ein Gefühl von Erleichterung. Er hatte gar nicht gemerkt, wie unheimlich anstrengend es gewesen war, dieses Geheimnis so lang für sich zu behalten, und jetzt, da seine Familie endlich Bescheid wusste, war es, als hätte ein Teil des Schmerzes seinen Körper verlassen. Natürlich nahm es ihn sehr mit, dass seine Mum sich einen Teil der Schuld gab, und er konnte sich gar nicht vorstellen, was sie sich jetzt für Gedanken machen musste. Aber sie würden noch ein paar Tage hier sein, und er hatte das Gefühl, jetzt die Kraft zu haben, für sie da zu sein, genauso wie für seine Schwester, auch wenn er glaubte, dass sie es besser verkraftet hatte als seine Mum.   In diesem Moment kam Seto zurück ins Schlafzimmer, der sich gerade die Zähne geputzt hatte und jetzt auf den Kleiderschrank zuging, um sich frische Klamotten zu holen. Er hatte nur Unterwäsche an und Joey hatte einen Moment Zeit, ihn genau zu betrachten und zum millionsten Male festzustellen, wie sexy und wunderschön der Braunhaarige war. Würde er es jemals anders empfinden? Würde dieses Gefühl jemals nachlassen? Innerlich schüttelte Joey den Kopf. Nein, das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Das würde niemals passieren.   Seto zog sich eine etwa knielange Hose und ein legeres T-Shirt an und Joeys Augen weiten sich ein bisschen. Als Seto sich zu ihm umdrehte und das sah, konnte er ein amüsiertes Lächeln nicht verbergen. “Was ist los, Hündchen? Gefällt dir, was du siehst?” Joey konnte erst gar nicht antworten und signalisierte dem Braunhaarigen mit ausgestreckten Armen, dass er zu ihm ins Bett kommen sollte. Seto legte sich neben ihn und stützte sich seitlich auf dem Ellenbogen ab, was Joey ihm sogleich nach machte, sodass sie sich nun von nahem betrachten konnten.   “Natürlich gefällt mir, was ich sehe, du Idiot”, antwortete Joey grinsend. “Und ich bin überrascht. Ich glaube, ich hab’ dich noch nie in kurzer Hose gesehen. Oder überhaupt so locker gekleidet. Hast du nicht Angst, was man von dem ach so großen Seto Kaiba denken könnte, wenn man dich so sieht?” Sein Grinsen verstärkte sich noch ein wenig, als er das Erstaunen in Setos Gesicht wahrnehmen konnte, so als hätte er gar nicht richtig darüber nachgedacht. Dann fasste er sich wieder und sah selbstsicher aus wie eh und je, bevor er erwiderte: “Hier wird mich niemand erkennen, weil ich in den USA nicht so bekannt bin wie in Japan. Oder stört es dich?”   Mit einem Ruck warf sich Joey mit vollem Körpereinsatz auf Seto, der überrascht aufkeuchen musste. Joey küsste ihn hektisch am Hals und auf die Wange, dann erklärte er: “Niemals. Du kannst anziehen, was du willst, ich werde dich immer schön finden.” Joey lag jetzt direkt auf Seto, der den Kopf des Blonden in beide Hände nahm und ihn sinnlich küsste. War Joey schon erholt genug für eine zweite Runde? Doch bevor er diesen Gedanken weiterspinnen konnte, klingelte Setos Handy auf dem Nachttisch und Joey ließ von ihm ab, aber nicht, ohne seiner Genervtheit aufgrund der plötzlichen Störung durch einen Seufzer Ausdruck zu verleihen.   Seto sah aufs Display und zeigte es Joey - seine Mum? Der Brünette reichte ihm das Telefon, damit er selbst rangehen konnte, und Joey tippte auf den grünen Hörer, um das Gespräch anzunehmen.   “Hey, Mum!”, sagte er fröhlich und merkte, dass das keine Show war - er fühlte sich tatsächlich so, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, dass er nach dem gestrigen Tag, ach, eigentlich nach der ganzen letzten Woche doch zumindest noch ein bisschen was an negativen Gefühlen in sich tragen sollte. Vielleicht war das auch einfach diesem wahnsinnig tollen Morgen geschuldet, und er wollte jetzt nicht schon wieder alles übergenau analysieren - er wollte einfach nur glücklich sein, und wenn das nur für einen Tag war, dann war das schon mehr, als er sich vor ein paar Tagen noch hätte vorstellen können.   “Hey, Joey”, hörte er seine Mum am anderen Ende antworten und war erleichtert zu merken, dass auch ihre Stimme einen Anflug von Fröhlichkeit mit sich brachte. “Ich habe mir heute spontan frei nehmen können und Serenity hat auch schon mittags Schulschluss. Daher wollte ich fragen, ob wir uns nachher alle zum Mittagessen treffen und danach vielleicht noch ein bisschen die Stadt erkunden wollen?”   Joey war sofort Feuer und Flamme. “Unbedingt! Darf Seto auch mit?” Ihr darauf ertönendes Lachen war fast ansteckend. “Natürlich. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du ohne ihn auch nur einen Schritt machen würdest. Ganz ehrlich, ich hab’ gestern doch gesehen, was für eine Einheit ihr bildet, und wer bin ich, das auseinander reißen zu wollen.” Joey errötete - wirkten sie so auf andere? Sie hatten sich immer allergrößte Mühe gegeben, es so gut es ging zu verstecken, aber gestern hatte Seto die Mauern fallen gelassen, auch wenn Joey noch nicht so richtig verstand, warum eigentlich. Aber es hatte ihm einen Vorgeschmack darauf gegeben, wie es sein könnte, wenn sie es nicht mehr verheimlichen müssten, aber er war sich sehr wohl darüber bewusst, dass es noch lange nicht so weit war, es der breiten Öffentlichkeit mitzuteilen. Joey seufzte, wenn er Geduld doch wenigstens zu seinen Stärken zählen könnte…   “Gut, schickst du mir die Adresse, wo wir uns treffen? Wobei, äh, schick sie lieber an diese Nummer hier, das ist Setos Handy. Bin mir gar nicht sicher, ob mein Handy hier so gut funktioniert.” Dann verabschiedeten sie sich und Joey freute sich wie ein kleines Kind darauf, den Tag mit seiner Familie verbringen zu dürfen - und all das mit Seto teilen zu können, fühlte sich fast schon unwirklich an.   Die Adresse, die seine Mum ihm geschickt hatte, war ganz in der Nähe des Hollywood Walk of Fame, und sie nahmen die Metro, weil Joey vehement darauf bestanden hatte - immerhin gehörte das doch dazu, wenn man eine Stadt wirklich kennenlernen wollte. Die ganze Fahrt über musste er sich unheimlich das Lachen verkneifen, was Seto so deplatziert wirkte, denn auch wenn er locker gekleidet war, so konnte er nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass er eigentlich ein reicher, arroganter Schnösel war, der sich niemals dazu herablassen würde, freiwillig die U-Bahn zu nehmen.   Als sie ankamen, wurden sie schon lächelnd von Serenity und Elaine begrüßt, die sie in eine ruhige Seitengasse und zu einem italienischen Restaurant führten. “Das hier ist noch immer ein ziemlicher Geheimtipp”, erzählte Elaine, “weil sich Touristen nur selten hierher verirren. Außerdem ist das Restaurant ziemlich klein und unscheinbar, man übersieht es schnell, wenn man nicht weiß, wonach man suchen muss. Aber glaubt mir, hier gibt es die weltbeste Pizza!” Gut gelaunt folgte Joey seiner Familie ins Restaurant, Seto ein paar Schritte hinter ihm. Sie waren in der Öffentlichkeit, daher bemühte sich der Braunhaarige nach allen Kräften, Abstand zu halten, und auch wenn Joey seine Nähe schon jetzt vermisste, obwohl er doch eigentlich bei ihm war, konnte er verstehen, dass Seto nicht komplett über seinen Schatten springen konnte - oder wollte, immerhin hatte er mit seiner Kleidung heute ja schonmal einen Schritt in die richtige Richtung gemacht und ja auch selbst gesagt, dass ihn hier niemand kannte. Aber wer wusste schon, was der Tag noch bringen würde, vielleicht würde er ihn ja doch noch überraschen. Bei Seto Kaiba konnte man ja nie wissen.   Sie bestellten, was ihr Herz begehrte, in Joeys Fall war das die größte Pizza, die auf der Karte stand. Er hatte nicht gefrühstückt weil sie… anderweitig beschäftigt gewesen waren und danach nicht mehr genügend Zeit war, weil die Metro-Fahrt in die Stadt recht lange gedauert hatte. Alle schienen das Thema von gestern zu meiden, vermutlich, weil keiner so richtig wusste, was es dazu noch zu sagen gab, und um der fröhlichen Stimmung keinen Abbruch zu tun. Als ihre Bestellung kam, stürzte Joey sich gierig drauf - nach diesem Morgen konnte er jeden Energieschub gut gebrauchen, den er kriegen konnte. Und während sie ihr Essen genossen, redeten sie über Gott und die Welt, darüber, wie Serenity ihre Schule gefiel, wie seine Mum vor ein paar Tagen einen neuen Mitarbeiter anlernen musste und wie schön das Wetter in Los Angeles war.   Kaum hatten sie aufgegessen, klingelte Setos Handy, und als er auf das Display blickte, konnte Joey in seinem Gesicht ein wenig Besorgnis erkennen. Er versuchte, zu sehen, wer ihn anrief, aber Seto hatte das Handy schon so gedreht, dass er es nicht mehr erfassen konnte. “Entschuldigt ihr mich einen kurzen Moment?”, fragte der Braunhaarige höflich, stand auf und verließ das Restaurant, um draußen in Ruhe telefonieren zu können. Joey kam nicht umhin sich zu fragen, warum er so ein Geheimnis daraus machte, wer ihn anrief - er hatte genau gemerkt, dass Seto das Handy absichtlich ein wenig von ihm weggedreht hatte - aber er musste ihm vertrauen. Wenn es etwas gab, das er wissen sollte, würde er ihm das schon mitteilen.   Gesättigt und durch seinen vollen Magen ein wenig schläfrig legte Joey seinen Kopf für einen Moment auf seinen Armen ab, die er auf den Tisch gelegt hatte. Er schloss kurz die Augen und atmete durch, als seine Mum erneut das Gespräch anfing. “Hey, Joey, sag mal, warum ist Kaiba denn heute so anders?”   Neugierig hob Joey den Kopf erneut an. “Inwiefern?”   “Na ja, er wirkt heute irgendwie so förmlich. Und auch distanziert. Als ich euch gestern zusammen gesehen habe, da habe ich gedacht, man würde euch gar nicht auseinander halten können, aber heute, da ist es eher wieder so wie an Weihnachten.” Joey seufzte, bevor er antwortete: “Das ist immer so. Und ich verstehe es ja auch. Er steht eben in der Öffentlichkeit, Mum.”   Da stieg auch Serenity ins Gespräch ein. “Aber wollt ihr es denn immer vor der Welt geheim halten? Ich meine, jetzt mag das noch okay sein, aber glaubst du nicht, dass es immer schwieriger wird, je länger ihr zusammen seid?”   “Das ist es jetzt schon”, erwiderte Joey mit einem erneuten Aufstöhnen. “Wenn wir zurückkommen, werden wir es zumindest meinen Freunden sagen müssen.” Da stockte er für einen Moment. “Hat Seto euch erzählt, was letzte Woche passiert ist? Ich glaube, ich hatte das gestern nicht mehr ansprechen können…” Er wurde ein wenig rot und musste den Blick senken. Er hatte eigentlich keine große Lust, darüber zu sprechen, aber als seine Mum ihm eine Hand auf seine eigene legte, hob er den Kopf wieder und sah, dass sie lächelte. “Mach dir keine Gedanken, Joey. Kaiba hat uns das erzählt, als du geschlafen hast. Und bitte mach dir auch keine Sorgen um uns, ich sehe doch, dass dich das bedrückt.” Joey war überrascht. War er wirklich so ein offenes Buch? “Wirklich”, versicherte seine Mum ihm, “es ist alles in Ordnung. Natürlich war es ein Schock, das ist es immer noch, ich würde lügen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Aber ich weiß, dass es für dich noch viel schwerer war. Und ich habe Kaibas Gesicht gesehen - ganz ehrlich, Joey, wenn einer dich davor bewahren kann, dass sich das alles wiederholt, dann er. Er hat natürlich versucht, all das zu verstecken, als wir geredet haben, während du geschlafen hast, aber ich bin eben eine Mum, ich habe für sowas einen siebten Sinn.” Sie intensivierte ihr Lächeln und Joey konnte gar nicht anders, als es zu erwidern, und nickte ihr bestätigend zu.   Plötzlich schien seine Mum in ihre eigenen Gedanken abzuschweifen. Ihr Blick wurde unfokussiert, allmählich verschwand auch ihr Lächeln und sie wirkte abwesend. “Mum, alles okay?”, fragte der Blonde besorgt, und sie erwiderte seinen Blick mit identischer Sorge. “Joey, ich würde dich gern etwas fragen, wenn das okay ist? Ich weiß nicht, ob du darüber reden willst, und ich kann dich das auch wann anders fragen, wenn du möchtest.”   Ein Teil von Joey wollte definitiv nicht reden, aber seine Neugierde war mal wieder stärker als alles andere. Also nickte er erneut und bedeutete ihr, fortzufahren. Sie atmete einmal tief durch, dann sagte sie: “Du hast gestern davon gesprochen, dir… das Leben zu nehmen.” Sie musste für einen kurzen Moment unterbrechen und Joey konnte sehen, wie ihr für eine Sekunde die Luft wegblieb. Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Das gab ihr offensichtlich den Mut, weiterzusprechen. “Wie stehst du heute dazu? Ich meine, hast du es noch vor?”   Joey musste über diese Frage kurz nachdenken. So genau hatte er sich das noch gar nicht überlegt. Natürlich hatte er sich diese Frage selbst schon gestellt, aber er war bisher immer so sehr mit seinen Gefühlen für Seto beschäftigt gewesen, dass er sie bisher erfolgreich verdrängen konnte. Aber jetzt, wo er direkt damit konfrontiert wurde, konnte er das nicht mehr. Und wo er so darüber nachdachte, war die Antwort auf diese Frage eigentlich auch gar nicht so schwer, was ihm ein befreiendes Gefühl gab.   “Nein, Mum, das habe ich hinter mir gelassen. Seto hat mir gezeigt, dass es ein Leben für mich geben kann, und auch wenn mich die letzte Woche ein bisschen aus der Bahn geworfen hat, so weiß ich doch, dass das eigentlich vorbei ist. Ich habe immer gedacht, ich würde mit den Erinnerungen nicht leben können. Aber weißt du, Seto hat ähnliches erlebt. Ich will nicht zu sehr in die Tiefe gehen, weil ich nicht weiß, ob und was er euch erzählt hat, und ich kann mir vorstellen, dass er nicht möchte, dass andere Menschen viel darüber wissen, aber uns hat das verbunden, das tut es noch. Schon an dem Abend, als er mich gerettet hat, von diesem Hochhaus, da hat er angedeutet, dass er nachvollziehen kann, warum ich es tun wollte, und dass es eben Menschen gibt, die an ihrem Schmerz zerbrechen, und Menschen, die daraus gestärkt hervorgehen. Seto gehört definitiv zur letzten Gruppe, während ich fast daran zugrunde gegangen wäre. Aber heute weiß ich, dass es so nicht sein muss, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, wie ich mein Leben gestalte. Natürlich werden die Erinnerungen immer zu mir gehören, aber ich weiß, ich habe jetzt jemanden, mit dem ich diesen Schmerz teilen kann. Und das gibt mir die Kraft, weiterzumachen.”   Joey hatte gar nicht gemerkt, wie er gedankenverloren Löcher in die Luft gestarrt hatte. Als sein Blick sich wieder auf seine Mum fokussierte, konnte er sehen, wie ihr die Tränen über die Wangen strömten. Sofort streckte er seine Hand wieder aus und drückte ihre, um sie zu trösten. “Mum, was ist los?”   Sie schüttelte hektisch den Kopf und versuchte sich zu beruhigen, damit sie wieder sprechen konnte. “Ich weiß nicht, ich bin traurig, dass dir das passiert ist und dass du das überhaupt in Erwägung gezogen hast, aber ich bin auch glücklich, weil ich sehe, wie glücklich du jetzt bist. Wie glücklich er dich macht.” Sie holte ein Taschentuch raus und tupfte sich die Tränen von den Wangen, atmete tief durch und setzte wieder ihr Lächeln auf, das Joey sogleich erwidern musste. Und zustimmen musste er ihr auch - Seto machte ihn glücklich, sehr sogar. Er war gestern sehr über seinen Schatten gesprungen, um Joey aus der Tiefe hochzuziehen und hatte so viele wunderschöne Sachen gesagt...   Und da fiel es ihm wieder ein. Zögernd blickte er seine Mum an, die den Braten sofort riechen konnte. “Was ist los, Joey? Komm schon, ich kann doch sehen, dass dir was auf der Seele brennt.” Noch einmal dachte er darüber nach, ob er sie das fragen sollte. Falls er sich geirrt hatte, könnte er sich hier komplett zum Deppen machen, aber was, wenn es stimmte? Würde er es dann nicht wissen wollen? Er hatte sowieso keine Wahl, denn erneut überwog seine Neugierde, sodass er gar nicht drum herum kam, die Frage laut auszusprechen.   Dennoch - peinlich berührt musste er seinen Blick ein wenig abwenden, bevor er fragte: “Was… was hat Seto denn gestern alles so gesagt? Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles mitbekommen habe, weil ich einfach so bei mir war.”   Als niemand etwas sagte, drehte er seine Augen so, dass er aus dem Augenwinkel ihre Mimiken wahrnehmen konnte - und sah zwei wissend lächelnde Gesichter. Erstaunt hob er nun den gesamten Kopf wieder an und wartete darauf, dass jemand was sagte. Irgendwer. Er wurde ungeduldig. “Na kommt schon, was wisst ihr?”   Serenity grinste ihn an. “Hatte er es dir davor etwa noch nicht gesagt?” Oh Gott, sie wollten ihn offenbar quälen. Und verdammt, es gelang ihnen. “Was gesagt, Serenity? Kann mal einer Klartext sprechen?”   Da klinkte sich seine Mum wieder ein. “Oh, er hat viel gesagt, Joey. Dass er für dich da ist, dich glücklich machen will und dich beschützen wird. Hm, war da nicht noch was?” Joeys Gesicht wurde wieder rot, dieses Mal allerdings nicht aus Scham, sondern vor Wut. Wenn sie nicht langsam mit der Sprache rausrückten, könnte er für nichts mehr garantieren. Er musste ein paar Mal durchatmen. Es blieb ihm nicht viel übrig, er musste die Frage aussprechen, sonst würden sie die ganze Zeit um den heißen Brei reden.   “Hat er mir gesagt, dass er mich liebt?”, brachte er hinter dem Zähneknirschen hervor. Dann war es wieder für einen Moment still und er hörte Serenity kichern, die er sogleich mit einem vernichtenden Blick bedachte. Augenrollend erwiderte sie darauf: “Ach, komm schon, Joey, wir machen doch nur Spaß. Ja, er hat gesagt, dass er dich liebt. Und wenn du mich fragst, hat er es auch genauso gemeint.”   Joeys Herz machte einen Sprung. Er hatte sich nicht verhört, er hatte ihm tatsächlich seine Liebe gestanden. Als andere dabei waren. Oder wollten sie ihn hier etwa gerade verarschen, und er tappte ihnen schnurstracks in die Falle? Er sah in ihre Gesichter - nein, er konnte genau sehen, dass sie die Wahrheit sprachen, er kannte sie gut genug, um das einschätzen zu können. Erneut setzte sein Herz für einen Schlag aus. Er wusste nicht so richtig, was er mit dieser Information anfangen sollte. War Seto sich denn überhaupt darüber bewusst, dass er es gehört haben könnte? Und wie stand er selbst dazu? Was wäre gewesen, wenn er nicht in dieser Dunkelheit gesteckt hätte? Hätte er es dann erwidert? Wäre er weggerannt? Hätte er geweint? Na ja, Letzteres hatte er ja eh schon getan, zumindest bei dieser einen Sache hätte es keinen Unterschied gemacht.   Joey konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er musste das erstmal sacken lassen und hoffte, dass es ihm irgendwann einfach wie Schuppen von den Augen fallen würde, wie er dazu stehen würde. Er hatte auch kaum Zeit, weiter darüber zu grübeln, denn von draußen konnte er einen aufgebrachten Seto Kaiba hören, der wohl schon wieder irgendeinen Mitarbeiter zur Schnecke machte. Joey hob den Kopf und sah raus, beobachtete Seto, wie er hektisch auf und ab lief, und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das war eine gute Möglichkeit, hier mal rauszukommen und vielleicht auf ein paar andere Gedanken zu kommen. Also griff er die Gelegenheit beim Schopfe, stand auf, verabschiedete sich kurz mit einem flüchtigen Winken und ging nach draußen, um nach Seto zu sehen.   Dort angekommen, legte Seto gerade auf. Genervt griff er sich in die Haare und Joey konnte sehen, dass seine Atmung beschleunigt war. Er schien wütend, und Joey war zum einen belustigt darüber, wie emotional Seto in Bezug auf seine Firma werden konnte, auf der anderen Seite beunruhigte ihn das auch ein wenig. Er wollte nicht, dass die schlechte Stimmung auf den heutigen Tag übersprang, er wollte, dass auch sein Drache glücklich war.    Vorsichtig und mit langsamen Schritten ging er auf Seto zu, der den Kopf hob und ihn jetzt auch wahrnahm. Beide streckten für einen kurzen Moment die Arme nacheinander aus - bis sie merkten, wo sie hier waren, und dass sie nicht allein waren. Sie ließen ihre Arme wieder neben ihre Körper sinken, als Joey fragte: “Ist alles in Ordnung, Seto?” Erneut genervt aufseufzend, antwortete der Braunhaarige: “Es gab nur etwas Wichtiges, das ich entscheiden musste und nicht warten konnte. Echt, Joey, ich kann so viel vorbereiten wie ich will, am Ende geht doch immer irgendwas schief. Ich verstehe wirklich nicht, was daran so schwer sein soll, die einfachsten Anweisungen zu befolgen.”   Joey verschränkte grinsend die Arme vor dem Körper. “Na ja, vielleicht würde es helfen, deinen Mitarbeitern mehr Freiraum zu geben, statt sie so einzuengen? Ich meine, ist dein Führungsstil nicht irgendwie auch wie aus den 50er Jahren?”   Seto funkelte ihn aggressiv an. “Du bist also der Meinung, wenn ich den größten Idioten dieser Welt quasi meine Firma überlasse, würde da irgendwas Gutes bei rumkommen?”   Joey zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete: “Ich meine ja nur. Wenn sie nicht lernen, selber zu denken beziehungsweise mitzudenken, sondern immer nur Anweisungen befolgen, wie soll ihnen da auffallen, wenn sie einen Fehler machen? Wie sollen sie reflektieren können, was sie machen, wenn du sie immer so unter deiner Kontrolle hast?”   Setos Augen verformten sich zu Schlitzen, dann erwiderte er, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken: “Nein.”   Joey winkte abwehrend ab und musste kurz auflachen. “Schon gut, schon gut, zerfleisch mich nicht gleich. Es ist deine Firma und ich weiß schon, dass es mir auch gar nicht zusteht, etwas dazu zu sagen. Am Ende ist das alles deine Entscheidung. Und ganz ehrlich, wir mögen bei dem Punkt zwar verschiedener Meinung sein, aber letztendlich ist deine Firma enorm erfolgreich, und das sicherlich nicht ohne Grund. Du wirst es am besten wissen.”   Als Joey nach seinem Monolog wieder zu Seto aufsah, konnte er die Überraschung in seinen Augen sehen, die schon kurze Zeit später Belustigung wich. “Seit wann wurde denn aus meinem Hündchen so ein zahmes Kätzchen? Wärst du nicht früher total auf mich losgegangen, wenn auch nur ein winziges Bisschen deiner eigenen Meinung von meiner abwich?”   Joey musste lächelnd zustimmen. Und obwohl dieses ‘Früher’ erst ein paar Monate her war, so hatten sie sich doch so angenähert, dass sie heute tatsächlich zivilisierte Gespräche führen konnten. Wenn der Blonde so richtig darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass er tatsächlich nicht mehr bei den kleinsten Dingen an die Decke ging. Seto hatte ihn irgendwie geerdet, ihm eine Ruhe gegeben, die er vorher nie hatte. Und er hatte ihm ein Umfeld und ein Leben geschenkt, das ihm dabei half, zu einer besseren Version von sich selbst zu werden.   Nach einem kurzen Moment der Stille nahm Seto die Konversation wieder auf. “Der erste Anruf, den ich bekam, war allerdings nicht von der Firma. Joey, können wir kurz über was reden?” Er zeigte mit der Hand auf eine Bank gegenüber des Restaurants und sie nahmen darauf platz. Die kleine Gasse, in der das Restaurant lag, war komplett leer und nur dezent wurden die Geräusche der Hauptstraße bis zu ihnen getragen. Joey fragte sich, was es mit diesem ominösen Anruf auf sich haben würde, den er vorhin noch vor ihm geheim halten wollte, als er das Handy von ihm wegdrehte. Joey war ganz Ohr und drehte sich etwas in Setos Richtung, um ihm genau das zu signalisieren.   Noch einmal tief durchatmend, sagte Seto: “Der erste Anruf kam von der Polizei. Joey, sie haben deinen Dad gefunden.” Das hatte er verheimlichen wollen? Wieso? Joey stand die Verwirrung wohl ins Gesicht geschrieben. War das denn nicht etwas Gutes, dass sie ihn gefunden hatten?   “Und?”, fragte Joey, weil er wirklich verstehen wollte, warum Seto daraus so ein großes Drama machte. Setos Blick wurde weicher, als er antwortete: “Ich wusste nur nicht, wie du darauf reagierst. Ob das was bei dir triggert oder so. Deswegen wollte ich vorsichtig sein. Wie geht es dir damit?”   Joey dachte kurz über diese Frage nach, bevor er erwiderte: “Ganz gut, denke ich. Wurde er denn festgenommen?” Seto nickte. “Ja, sie haben ihn direkt in Gewahrsam genommen. Die Beweislage ist schlicht und ergreifend sehr erdrückend. Ich wollte nachher noch mit dem Staatsanwalt telefonieren, um die nächsten Schritte zu besprechen, aber es wird alles auf einen Gerichtsprozess hinauslaufen, den er gar nicht gewinnen kann.” Plötzlich veränderte sich etwas in Setos Gesichtsausdruck und er sah den Blonden unsicher an. “Joey, du wirst wahrscheinlich eine Aussage gegen ihn machen müssen. Da du ein Verwandter bist, kannst du die Aussage auch ablehnen, aber aus meiner Sicht würde es sicher helfen, um ihn so lange wie möglich hinter Gittern zu bringen. Aber ich will dir keinen Druck machen, und du musst das ja auch nicht jetzt entscheiden.”   Joey zuckte mit den Schultern. “Wieso nicht? Um es mal in deinen Lieblingsmetaphern zu sagen: Ich werde sicherlich nicht den Schwanz einziehen und mich wie ein räudiger Köter in die Ecke verkrümeln.” Joey legte sein bestes, selbstsicherstes Grinsen auf und Seto hatte ganz offensichtlich große Probleme, sich zu beherrschen, das nicht einfach zu erwidern. Dann ergänzte er: “Außerdem wirst du doch bei mir sein, nehme ich an?” Seto nickte und seine Gesichtszüge wurden wieder weicher. Joeys Lächeln intensivierte sich, als er sagte: “Dann kann nichts schief gehen. Und jetzt komm, lass uns wieder reingehen, ich hab Lust auf ein Dessert!”   Voller Elan stand Joey zuerst auf und rannte vor, konnte Seto hinter sich aber noch leise flüstern hören: “Ich auch, aber keines davon steht auf der Karte…”   Nach dem Essen machten sie sich auf zu ihrer Sightseeing-Tour. Es war bereits früher Nachmittag, aber die Sonne schien noch immer mit unveränderter Kraft auf sie nieder, als sie den Hollywood Walk of Fame erreichten. Hier tummelten sich die Touristen, und trotz der Tatsache, dass relativ viel los war, wurde Joey sofort begeistert mitgerissen. Die altrosafarbenen Sterne glänzten und zogen Joey sogleich in ihren Bann. Viele der Namen auf den Sternen sagten ihm gar nichts, aber es waren durchaus ein paar Persönlichkeiten dabei, von denen vermutlich jeder schon mal was gehört hatte. Und als sie sich so ihren Weg auf dem Hollywood Boulevard bahnten und dem Weg der Sterne folgten, konnte Joey aus dem Augenwinkel wahrnehmen, dass Seto wohl nach einem ganz speziellen Stern suchte.   “Suchst du was Bestimmtes?”, fragte Joey den Braunhaarigen, der kurz zu ihm aufsah, aber sogleich seine Suche fortführte. “Ja, ich dachte, er müsste eigentlich hier irgendwo sein.” Plötzlich erhellten sich seine Augen, als er scheinbar gefunden hatte, wonach er suchte. “Da ist er.” Sie traten näher an den Stern heran. Rudolf Serkin. Den Namen hatte Joey noch nie gehört. Verwirrt sah er zu Seto auf und wartete darauf, dass der Größere ihn erleuchten würde, wer dieser Mensch sein sollte.   “Serkin ist ein Pianist, oder sagen wir besser, war. Er ist Anfang der 90er Jahre gestorben”, erklärte Seto.   “Und du magst seine Musik gern?”   Seto nickte zustimmend. “Ja, er war ein herausragender Pianist. Aber mach dir dein eigenes Bild.” Seto holte sein Handy raus sowie die Kopfhörer, dessen Kabel er vorsichtig entknotete. Er zeigte mit dem Kopf zu einer Bank, auf die sich sich setzten. Joey sah sich kurz nach seiner Familie um, aber Serenity und seine Mum waren noch immer einige Schritte hinter ihnen und sahen sich die Sterne genauer an. Der Blonde  fand das ziemlich amüsant, immerhin wohnten sie doch hier schon seit knapp zehn Jahren und konnten sich noch immer so dafür begeistern, auch wenn Joey sicher war, dass sie hier schon dutzende Male gewesen sein mussten.   Seto reichte ihm einen Kopfhörer, den er sich in das linke Ohr steckte, und Seto tat es ihm gleich und steckte seinen Kopfhörer in das rechte Ohr. Er öffnete seine Musik-App und suchte offenbar nach dem richtigen Lied. Als er es gefunden hatte, erklärte er Joey: “Das ist 24 Préludes, Op. 28 No. 4 von Chopin, gespielt von Serkin. Das mag ich am liebsten.” Dann drückte er ‘Play’ und Joey nahm die ersten Töne des Klavierstücks wahr.   Joey dachte, dass es irgendwie etwas Melancholisches hatte, aber auch etwas Romantisches. Es wurde immer mal wieder langsamer und mal schneller, mal lauter und mal leiser, und Joey hatte das Gefühl, dass das Ende eigentlich irgendwie traurig wirken müsste, aber gleichzeitig fühlte es sich für ihn so hoffnungsvoll an, friedlich. So als wenn am Ende einfach alles gut werden würde, und Joey hoffte, dass das auch auf das Leben übertragbar wäre.   Es war nur ein kurzes Stück und sie hörten es sich einfach in Endlosschleife an. Saßen nur nebeneinander und hingen ihren Gedanken nach. Joey ließ den bisherigen Tag Revue passieren. Es war schon erstaunlich, wie viele verschiedene Seiten er heute wieder von Seto gesehen hatte. Sowieso musste er feststellen, dass der Größere unheimlich viele unterschiedliche Facetten in sich trug. Er konnte arrogant und gebieterisch sein, schien aber auch einen ausgeprägten Beschützerinstinkt zu haben, wenn es um Joey oder um Mokuba ging - oder um seine Firma. Er konnte liebevoll und zärtlich sein, aber auch sexy und unheimlich heiß. Joey amüsierte sich über sich selbst, als er Seto gedanklich den Ausdruck ‘50 Shades of Kaiba’ verlieh. Dabei war der Vergleich gar nicht so falsch, wenn er so darüber nachdachte. Eigentlich hatte er sogar erschreckend viel mit Christian Grey gemeinsam - attraktiv, stinkreich, eigene Firma, dominantes Auftreten, adoptiert, schwierige Kindheit. Wobei sich bei Grey alles änderte, als er adoptiert wurde, und das tat es auch bei Seto, im Gegensatz zu Grey entwickelte sich sein Leben allerdings zunächst in eine negative Richtung, bis er diesem aus eigener Kraft heraus wieder eine positive Wendung gab. Okay, gut, Grey stand außerdem nicht auf Männer, das konnte man also auch nicht zu den Gemeinsamkeiten zählen.   Joey dachte weiter über die Kindheit der beiden nach. Greys erste Lebensjahre waren geprägt von einer drogensüchtigen Mutter, die sich nicht um ihr Kind gesorgt hatte und ihn einfach sich selbst überlassen hatte. Wie waren Setos Eltern gewesen? Ihm wurde klar, dass Seto zwar über Gozaburo gesprochen hatte, aber nie so richtig über seine leiblichen Eltern. Er musste auf jeden Fall schon alt genug gewesen sein, um tiefgreifende Erinnerungen mit ihnen aufzubauen. Ab und an hatte er durchklingen lassen, dass er noch immer an sie dachte, zum Beispiel, wenn es um Weihnachten ging. Aber wie hatten sie ihn aufgezogen? Was für ein Kind war Seto gewesen? Hatten sie ihn und Mokuba geliebt? Wie hatte Seto sich gefühlt, als sie gestorben waren? Und wie genau hatte ihn das verändert?    Der Blonde zog seine Beine zu sich hoch auf die Bank, umschlang sie mit seinen Armen und legte seinen Kopf auf seinen Knien ab. Joey wurde klar, dass es noch immer so viele Fragen gab in Bezug auf Seto, die unbeantwortet blieben. Vielleicht würde er die Antworten irgendwann erfahren, aber er würde ihn nicht drängen. Seto hatte ihn auch nie bedrängt, Joey hatte immer selbst entschieden, wieviel er zu erzählen bereit war, jedenfalls kam es ihm bisher immer so vor. Und auch wenn seine Neugierde ihn fast umbrachte, er würde es mit Seto genauso handhaben wollen. Außerdem - sie waren noch gar nicht so lange offiziell zusammen. Was waren schon ein paar Monate im Vergleich zu der Zeit, die noch vor ihnen lag?   Joey legte seinen Kopf nun seitlich auf seine Knie, sodass er Seto ansehen konnte, und musste überraschend feststellen, dass dieser ihn sanft betrachtete. Um sie herum war noch immer viel los, sodass sie weiterhin auf Abstand blieben und Setos Miene für alle anderen auch eher unergründlich wirkte, aber Joey konnte die feinen Nuancen in seinen Augen sehen, die ihm Wärme und Vertrauen signalisierten. Joey legte ein leichtes Lächeln auf die Lippen und für einen Moment sahen sie sich einfach nur in die Augen und kommunizierten so die verschiedenen Gefühle, die sie füreinander hegten. Dann sagte Joey: “Ich würde dich jetzt wahnsinnig gern küssen, weißt du das?” Kaum wahrnehmbar, wenn man nicht direkt vor ihm stand oder saß, hoben sich Setos Mundwinkel, nur ganz minimal und auch wieder nur für den Bruchteil einer Sekunde. Aber Joey machte es glücklich, weil er genau sehen konnte, dass Seto den Kuss erwidern würde.   Sie ließen das Lied noch ein letztes Mal durchspielen, dann packte Seto die Kopfhörer und sein Handy wieder zurück in seine Taschen und sie erhoben sich von der Bank, um nach Joeys Familie zu sehen, die offensichtlich mittlerweile an ihnen vorbei gezogen war und ein paar Meter weiter bei einem Stern zum Stehen kam, der augenscheinlich einem sehr berühmten Schauspieler gewidmet war.   Nachdem die Gruppe noch in einem netten Café war und sich ein leckeres Eis gegönnt hatte - bei Außentemperaturen über 20° Celsius war das auch absolut notwendig, in Japan konnten sie schon froh sein, wenn sie gerade die 10° Marke überschritten und es mal einen Tag nicht regnete - machten sie sich auf den Weg zum Venice Beach, um dort den Sonnenuntergang zu beobachten. Als sie dort ankamen, war die Sonne schon auf einem absteigenden Ast, und Joey und Serenity rannten sofort auf den Strand zu. Seto blieb dicht hinter ihm, aber doch genug auf Abstand, um kein Aufsehen zu erregen. Joey war bester Laune, und der Brünette stellte sich neben ihn ans Wasser. Serenity hatte ihre Mum auch ans Wasser gezogen, aber sie standen einige Meter weiter weg und waren außerhalb ihrer Reichweite. Joey fing an, Seto mit Wasser zu bespritzen und kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus. Er fühlte sich so frei und sorglos, und das, obwohl er gestern einen der schwersten Tage in seinem Leben durchmachen musste. Der Blonde stoppte mit dem Wasserspiel, als er sah, dass Seto mittlerweile aussah wie ein begossener Pudel - wer war jetzt das Hündchen hier?   Noch immer intensiv lächelnd, trat er einen Schritt näher an Seto heran. Er würde ihn so gern berühren, aber er respektierte, dass Seto das nicht konnte - noch nicht. Er gab die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann anders sein würde. Dann sagte er mit liebevoller Stimme: “Danke, Seto, dass du gestern bei mir warst und mich so weit gebracht hast. Dass du mir geholfen hast, den Schmerz zuzulassen und ihn damit ein wenig rauszulassen. Er wird immer ein Teil von mir sein, aber ich weiß, du wirst immer da sein, mir zuhören und mich verstehen..”   Setos Augen weiteten sich und Joey konnte die Sehnsucht, die in seinem Blick lag, förmlich spüren. Der Blick des Braunhaarigen wurde noch einen Hauch weicher, als er erwiderte: “Kein Grund mir zu danken, mein Hündchen. Ich werde immer bei dir sein, wann immer du mich brauchst. Und vermutlich auch dann, wenn du es nicht tust. Und den Schmerz tragen wir beide in uns, all das, was wir erlebt haben. Man sagt, geteiltes Leid ist halbes Leid, und ich muss zustimmen. Ich habe vor dir nur noch nie jemanden getroffen, mit dem ich es teilen wollte.”   Joeys Herz machte einen Sprung und er musste erkennen, wie sehr das, was Seto gerade gesagt hatte, auch für ihn galt.   Auch die nächsten Tage verbrachte die Familie viel Zeit zusammen. Am darauffolgenden Tag besuchten sie den Rodeo Drive, wo Seto ihm alles mögliche an Klamotten kaufen wollte, die mehr als sein Jahreseinkommen im Café wert gewesen wären, weshalb Joey sich strikt geweigert hatte, das anzunehmen. Sie waren außerdem noch in den Universal Studios, wo es Joey vor allem die Achterbahnen richtig angetan hatten und er sich wieder zurück an den Tag erinnern musste, als sie auf dem Weihnachtsmarkt waren. Sie waren auch häufiger am Strand, so auch an ihrem letzten Abend. Sie würden am nächsten Morgen sehr früh zurück fliegen, sodass sie sich schon abends von seiner Familie verabschieden mussten. Dieser Abschied war wie erwartet tränenreich, aber Joey war froh, dass sie sich so schnell wiedersehen konnten. Es war genau das, was er nach der letzten Woche gebraucht hatte, und er war froh, diese glücklichen Erinnerungen mit Seto teilen zu können.   Als sie an ihrem letzten Abend wieder im Bett ihres Hotelzimmers lagen, unterhielten sie sich darüber, was sie Zuhause erwarten würde, wenn der Alltag sie wieder in Besitz nehmen würde. Joey legte sich mit dem Hinterkopf auf Setos Bauch und schaute in Gedanken vertieft an die Decke, als er plötzlich Setos elegante Finger in seinem Haar spürte. Diese so vertraute Berührung schickte noch immer einen wohligen Schauer in seinen ganzen Körper und seine Kopfhaut kribbelte, wo auch immer er sie, selbst wenn nur ganz leicht, berührte. Er musste kurz die Augen schließen, einfach um den Moment in vollen Zügen zu genießen.   “Worüber denkst du nach, mein Hündchen?”, fragte Seto, ohne mit den Liebkosungen aufzuhören. Joey öffnete die Augen wieder und antwortete seufzend: “Ich dachte nur gerade daran, was uns Zuhause erwarten wird. Wir werden es Yugi, Tristan und Téa sagen müssen. Das bin ich ihnen schuldig, Seto.”   Auch der Braunhaarige seufzte auf. “Ich weiß. Ich habe es mir ein bisschen anders erhofft, aber mit dir verläuft so einiges nicht nach Plan.”   “Hä? Wie meinst du denn das?” Spielte Seto auf irgendwas Bestimmtes an? Er wirkte in Gedanken und schien tatsächlich innerlich zerrissen. Gab es etwas, das er ihm nicht erzählt hatte? Hatte er irgendwas verpasst? Seto zögerte und antwortete nicht gleich, was Joeys Eindruck eher noch bestätigte. Aber er wusste, dass er ihn nicht würde zum Reden bringen können, wenn er es ihm nicht freiwillig sagen wollte. Er konnte nur darauf vertrauen, dass es nichts war, was sie belasten würde, sie beide.   Dann schüttelte Seto den Kopf. “Nicht so wichtig. Ich würde vorschlagen, wir laden deine Freunde in die Villa ein und sagen es ihnen dort.”   Joey nickte. “Ich weiß, dass das vermutlich schwierig ist, weil du sie ja nicht ausstehen kannst und so. Aber ich hätte dich wirklich gern dabei. Ich will ihnen auch von meinem Dad erzählen. Nicht in der Tiefe wie Mum und Serenity, aber ich finde, ein bisschen mehr Infos haben sie sich wirklich verdient, nach allem, was sie für mich getan haben.”   Seto setzte sich auf und zog Joey mit sich hoch. Sie saßen sich jetzt beide jeweils im Schneidersitz gegenüber, und während Setos linke Hand die rechte von Joey hielt, fuhr er mit seiner rechten Hand sanft über die Wange des Blonden. “Wenn du möchtest, dass ich dabei bin, dann bin ich das. Ich habe dir gesagt, dass ich da bin, wenn du mich brauchst. Auch wenn ich zustimmen muss, dass es, sagen wir mal, eine Herausforderung für mich wird.”   Joey lächelte, nahm Setos Hand von seiner Wange und küsste sie zärtlich. “Ich weiß, Seto, und ich weiß das wirklich zu schätzen. Am Ende werde ich ja sowieso viel mehr reden, lass mich das nur machen, aber es hilft enorm, wenn du einfach nur anwesend bist. Keine Ahnung, du machst mir Mut, auch wenn du gar nichts sagst. Macht das Sinn?”   Seto erwiderte sein Lächeln, als er sagte: “Macht es, mein Hündchen. Und mir geht es genauso.” Seto zog Joey an seinem Shirt näher zu sich ran, und als sich ihre Lippen sanft berührten, tanzten die Schmetterlinge in ihren Bäuchen Tango. Kapitel 20: Rescue me... from playing hide and seek --------------------------------------------------- Seto und Joey packten noch die letzten Sachen in ihre Koffer, dann verließen sie ihr Hotelzimmer. Der Blonde wusste nicht so richtig, wie er sich fühlen sollte. Er freute sich darauf, Mokuba wiederzusehen, und tatsächlich auch auf seine Freunde. Aber wie würden sie auf das alles reagieren, was er zu sagen hatte? Er war zumindest davon überzeugt, dass es nicht ganz so nervenaufreibend werden würde, wie es seiner Familie zu erzählen. Dennoch - ein wenig Angst vor ihrer Reaktion hatte er trotzdem, und er war froh, dass Seto eingewilligt hatte, bei ihm zu sein, auch wenn es ihm schwerfiel.   Als sie in die Limousine stiegen, die sie zum Flugplatz bringen sollte, konnte er Setos Handy ununterbrochen vibrieren hören. Dem Braunhaarigen selbst war die Genervtheit darüber ins Gesicht geschrieben, vermutlich weil er dachte, dass es mal wieder etliche Probleme in der Firma gab. Doch kaum hatte er den Blick auf sein Handydisplay gesenkt, wurde daraus Überraschung. Neugierig lehnte sich Joey ein wenig zu ihm rüber, in der Hoffnung, erspähen zu können, was seinen Drachen so erstaunte. Dieses Mal versteckte er die Informationen nicht, hielt Joey das Handy sogar noch etwas näher heran - und der Blonde konnte ganz viele Nachrichten von seiner Mum aufploppen sehen. Was zum…   Und als Seto mit noch immer von Erstaunen geprägtem Gesichtsausdruck die Nachrichten öffnete, tauchten plötzlich viele Bilder auf dem Display auf, die eines gemeinsam hatten: Sie zeigten Seto und Joey, zusammen. Joey klappte die Kinnlade runter, als sie sich so durch die Bilder scrollten. Seine Mum hatte offensichtlich jede Gelegenheit genutzt, die letzten Tage eine nicht zu zählende Anzahl an Fotos von ihnen beiden zu machen. Natürlich wurden die Bilder gemacht, als sie in der Öffentlichkeit waren, weshalb sie einen angemessenen Sicherheitsabstand wahrten, aber dennoch wurden sie in den verschiedensten Situationen fotografiert - Joey und Seto in der Metro, Joey und Seto beim Eisessen im Café, Joey, als er die überdimensioniert große Pizza beim Italiener verspeiste, und Setos faszinierter Blick dazu, als er krampfhaft versuchte, die Fassung zu wahren und nicht in Gelächter auszubrechen, Joey und Seto auf der Bank auf dem Hollywood Boulevard, als sie sich zusammen klassische Musik anhörten, Joey und Seto am Strand, Joey, wie er Seto nass spritzte und Seto augenscheinlich teilnahmslos daneben stand - Joey und Seto, in allen existierenden Formen und Farben. Joey kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus, und Seto schien es ähnlich zu gehen. Wann hatte seine Mum diese Bilder alle gemacht, und noch viel wichtiger: Warum hatten sie das überhaupt nicht mitbekommen?   Doch dann wurde Joey plötzlich bewusst, was ihm diese Bilder bedeuteten. Sie hatten zwar vorher schon Bilder voneinander gehabt, aber nie welche, wo sie beide drauf waren. Das waren ihre ersten Fotos als Paar, auch wenn es von außen nicht als solche zu erkennen war. Schlagartig wurde Joey von einer tiefen Freude eingenommen, die er gar nicht fassen oder beschreiben konnte. Er fing an zu quietschen und vor Freude rumzuhopsen. Während der gesamten Fahrt schaute er sich die Fotos immer wieder an, und dann noch mal und dann wieder von vorn. Und auch Seto schien sich darüber zu freuen, auch wenn er diese Freude deutlich besser verbergen konnte als Joey.   Bevor sie ins Flugzeug stiegen, wies Joey den Braunhaarigen an: “Sobald wir wieder in Japan sind, schickst du mir all die Bilder, verstanden?” Mit einem ganz leicht angedeuteten Lächeln nickte er und wollte Joey das Handy wieder aus der Hand nehmen, doch Joey kam überhaupt nicht auf die Idee, sich diesen kostbaren Schatz jetzt wegnehmen zu lassen. Er wollte den gesamten Rückflug alles nochmal betrachten und die vielen schönen Erinnerungen der letzten Tage wieder und wieder durchgehen. Denn er wusste, das würde ihm helfen, die Nervosität davor, was ihn zuhause erwarten würde, ein wenig zu verdrängen.   Kaum hatten sie wieder japanischen Boden berührt, konnte er sie allerdings doch spüren, diese Unruhe vor dem, was passieren würde. Noch während des Helikopterflugs zurück in die Kaiba-Villa überlegte er hin und her, was der beste Weg wäre, aber nichts, was ihm einfiel, fühlte sich wie die richtige Lösung an. Er gab es ungern zu, aber in diesem Fall würde der Kaiba-Weg wohl der Beste sein: Erst überlegen, einen Plan machen, und dann handeln. Joey handelte normalerweise eher aus einem Impuls heraus und plante die Dinge in den seltensten Fällen genau durch. Aber dieses Mal war es ihm wichtig, zumindest ein Grundgerüst zu haben.   Zurück in der Villa, wurden sie sogleich stürmisch von Mokuba begrüßt, der freudestrahlend auf sie zurannte und erst seinen großen Bruder, dann Joey umarmte. “Ich bin so froh, dass ihr wieder hier seid! War richtig langweilig ohne euch.” Joey musste lachen und wuschelte dem Kleineren durch die Haare. Dieser zog Joey an der Hand durch die Gänge, und durch die jugendliche Ungestümtheit des kleineren Kaiba-Bruders hatte Joey Mühe, mitzuhalten. “Los, ich will jetzt erst mal alles über euren Trip hören!”, rief er und zog sie ins Esszimmer, wo er das Mittagessen schon hatte bringen lassen. Und als Joey seinen Magen knurren hörte, war er ziemlich glücklich darüber, endlich wieder was zwischen die Zähne zu bekommen.   Joey setzte sich auf seinen gewohnten Platz, Seto wählte den Stuhl direkt neben ihm. Der Blonde sah zu Seto und legte ihm lächelnd eine Hand auf den Oberschenkel, der sie für einen kurzen Moment nahm und drückte. In Setos Blick lag so viel Zuneigung, dass Joey seinen Blick nicht abwenden konnte. Er hatte das unglaubliche Bedürfnis, sein Gesicht in beide Hände zu nehmen und ihn zu küssen, aber dann fiel ihm wieder ein, dass sie nicht alleine waren, und auch wenn Mokuba über sie Bescheid wusste, Zärtlichkeiten vor ihm auszutauschen fühlte sich trotzdem nicht richtig an - wäre zwar nicht das erste Mal, aber es war ihm trotzdem lieber so. Also widmete er sich seinem Essen, so schwer es ihm auch fiel.   Während sie aßen, erzählte Joey Mokuba so ziemlich alles, was sie gemacht hatten. Das Gespräch mit seiner Familie riss er nur vage an, weil er nicht so genau wusste, wie viel er davon wirklich preisgeben wollte. Und als alles gesagt war, führten ihn seine Gedanken wieder auf das Bevorstehende zurück. Die Teller wurden abgeräumt, dann sah er Seto an und erklärte: “Wir sollten uns einen Plan machen, glaube ich, für Yugi und die anderen.” Seto hob erstaunt eine Augenbraue. “Dass ich das nochmal erleben darf. Du willst einen Plan machen?” Amüsiert zuckten Setos Mundwinkel, wofür er einen Stoß mit Joeys Ellenbogen erntete und Mokuba belustigt auflachte.   “Aber im Ernst, du hast recht”, erwiderte Seto in nunmehr ernstem Tonfall. Mokuba schaute verwirrt zwischen beiden hin und her. “Was denn für einen Plan denn?”   Joey seufzte auf, bevor er antwortete: “Bevor wir zu meiner Familie geflogen sind, sind wir Yugi, Téa und Tristan auf dem Polizeirevier begegnet. Und ehrlich, nach allem, was sie mitbekommen haben, sind wir ihnen mehr als eine Erklärung schuldig. Nicht nur, was meine Vergangenheit betrifft, sondern auch in Bezug auf Seto und mich.” Er legte seinen Kopf auf seinen Arm ab, die er auf dem Tisch vor sich hingelegt hatte. “Ich hab’ nur überhaupt keine Ahnung, wie ich anfangen soll.”   “Hm”, überlegte Mokuba laut. “Also soweit ich es verstanden habe, ist die Situation so wie sie jetzt ist ja nur dadurch entstanden, was du eigentlich vor gehabt hattest, bevor Seto dich aufgehalten hat. Zumindest ist das ja der Grund, warum du bei uns wohnst. Und das wiederum ist nur zustande gekommen durch das, was du erlebt hast, nehme ich an, auch wenn ich natürlich nicht alle Details kenne. Wieso fängst du nicht ganz von vorne an? Dann können sie dir sicher am besten folgen.”   Der Blonde hob den Kopf und war nicht zum ersten Mal erstaunt darüber, wie einfach es Mokuba offensichtlich fiel, Pläne zu schmieden. Das war normalerweise Setos Job, und er war verdammt gut darin, das musste Joey ihm lassen, aber vermutlich war er emotional zu involviert in die Sache, als dass er hier komplett neutral sein konnte. Und Mokuba war eben auch ein Kaiba, das wurde den beiden wahrscheinlich schon in die Wiege gelegt. Und wieder einmal kam Joey nicht umhin sich zu fragen, wie die ersten Lebensjahre der beiden wohl ausgesehen haben mögen, aber er musste sich zusammenreißen. Er konnte sich jetzt wirklich nur auf ein Elend gleichzeitig konzentrieren, und dieses im Speziellen betraf leider nun mal ihn selbst.   “Aber wie viel soll ich erzählen?”, sprach Joey die Frage, die ihm am meisten auf der Seele brannte, laut aus und legte seinen Kopf wieder auf seinen Armen ab. Er war frustriert, weil das dieselbe Frage war, die ihm immer am meisten Kopfschmerzen bereitete. Nur, als er Seto damals am Meer davon erzählt hatte, was passiert war, gab es irgendwie keine Fragen. Er hatte es ihm einfach erzählt, ohne groß darüber nachzudenken. Vielleicht, weil er noch keine Gefühle für ihn hatte und sich deswegen keine Gedanken darüber machte, was der Andere danach von ihm denken würde? Oder wie es ihm damit gehen würde, wenn er das über Joey wusste? Vielleicht war das ein Teil der Antwort, aber lag nicht eigentlich noch mehr dahinter? Hatte er zu dem Zeitpunkt wirklich noch nur Verachtung für ihn übrig gehabt, oder hatte er unbewusst nicht doch schon angefangen, Seto in anderem Licht als zuvor zu sehen?   Schon wieder spürte er schlechte Laune in sich aufsteigen, weil er den Ausgang in seinem Gedankenkarussell nicht fand, als er Setos Hand auf seinem Kopf spürte, die ihm sanft durchs Haar streichelte. Joey drehte seinen Kopf in seine Richtung, um ihn ansehen zu können. “Da gilt eigentlich dasselbe wie für deine Familie auch”, erklärte der Braunhaarige, ohne das Streicheln auf Joeys Kopf zu stoppen. “So viel du bereit bist zu erzählen. Auch wenn ich dir dankbar dafür wäre, nicht zu sehr ins Detail zu gehen, was uns betrifft.” Joey musste grinsen - er wusste genau, was Seto zu sagen versuchte, aber so viel würde er sicher nicht preisgeben wollen.   Seufzend hob Joey seinen Kopf erneut an und holte sein Handy aus seiner Hosentasche. “Ich denke, ich sollte erstmal damit anfangen, sie hierher einzuladen. Warum aufschieben, wenn es eh unausweichlich ist, oder? Soll ich sie fragen, ob sie gleich heute Nachmittag Zeit haben? Immerhin ist heute Sonntag, morgen ist wieder Schule, und ich will, dass sie es vorher wissen und dass ab morgen nichts mehr zwischen uns steht. Und, ehrlich gesagt, will ich es einfach hinter mich bringen.” Seto nickte, und Joey konnte auch in seinen Augen einen Anflug von Anspannung sehen, als er das Handy entsperrte und eine Nachricht an seine Freunde tippte.   Glücklicherweise hatte die Gruppe tatsächlich noch am selben Tag Zeit und Seto und er besprachen noch etwas mehr im Detail, wie es ablaufen würde. Joeys Nerven lagen blank und sein Nervosität stieg von Minute zu Minute ins Unermessliche an. Sie warteten im Gemeinschaftswohnzimmer auf die Ankunft seiner Freunde, und Joey lief angespannt auf und ab, als Seto ihm eine Hand auf den Rücken legte. “Wir haben das besprochen, Joey, es wird alles gut gehen.” Beruhigend strich er ihm mit seiner Hand über den Rücken, und normalerweise würde ihn das entspannen, aber es hatte in diesem Augenblick nur wenig Wirkung.   Und dann betrat jemand vom Personal den Raum und kündigte Yugi, Téa und Tristan an, die sogleich das Zimmer betraten. Für den Blonden fühlte sich das irgendwie unwirklich an. Klar, er war schon mal mit ihnen zusammen in der Villa gewesen, zu Silvester oder seinem Geburtstag zum Beispiel, aber das waren ganz andere Anlässe. Das hier heute war ernst, und er war froh, wenn er es endlich hinter sich bringen konnte. Trotzdem, war es nicht irgendwie komisch, seine Freunde ins Haus der Kaibas einzuladen, wo er ja eigentlich auch nur Gast war? Aber wenn er es sich recht überlegte, passte das schon ganz gut zu der aktuellen Situation und auch zu den letzten Monaten, die sich für ihn ebenso surreal angefühlt hatten. Außerdem: Als ob die letzten Monate auch nur ansatzweise als normal beschrieben werden könnten.   Er bemerkte, dass Seto wieder seine typische Maske aufgesetzt hatte und etwas Abstand von ihm nahm, kaum hatten seine Freunde den Raum betreten. Als ob das jetzt noch irgendwas bringen würde, immerhin würden sie es ja nicht mehr lange geheim halten. Aber er war eben Seto Kaiba und konnte alte Gewohnheiten wohl nicht so schnell ablegen. Und die Verachtung gegenüber seinen Freunden stand ihm obendrein mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben. Na toll, das konnte ja heute was werden...   Joey straffte die Schultern ein wenig und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, hatte aber das Gefühl, damit nicht so richtig erfolgreich zu sein. Er atmete tief durch, bevor er sie begrüßte. “Hey, Leute, schön euch zusehen.”   “Hey, Joey! Du bist ja richtig braun geworden”, sagte Yugi, und sein Lächeln nahm ein wenig der Anspannung aus der Situation, und auch Joeys Lächeln fühlte sich jetzt ein wenig echter an. Er nickte und bedeutete der Gruppe, platz zu nehmen. Sie setzten sich auf das Sofa, während Joey ihnen gegenüber im Schneidersitz auf einem Sessel platz nahm. Seto hielt wie immer Abstand, stand an der Wand gelehnt neben der Tür, die Arme vor dem Körper verschränkt und eine undurchdringliche Miene im Gesicht. “Ja, die Sonne in Los Angeles war echt toll, genau, was ich gebraucht habe. Da kann dieses olle Regenwetter hier in Japan echt nicht mithalten, das kann ich euch sagen.” Joey grinste seine Freunde an, die sein Strahlen erwiderten. “Schön, dass es dir offensichtlich wieder etwas besser geht, Joey”, sagte Téa, aber in ihren Augen konnte er die Neugierde erkennen, herausfinden zu wollen, weswegen sie eigentlich hier waren.   Es half nichts, er kam aus dieser Geschichte nicht mehr raus, und er hatte auch langsam keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel, zumindest nicht vor seinen allerbesten Freunden, auch wenn er sich gewünscht hätte, es wäre in etwas geordneteren Bahnen abgelaufen. Er konnte sich gut vorstellen, dass Yugi und die Anderen sich schon ihre eigenen Ideen in ihren Köpfen zusammen gesponnen hatten, was das alles zu bedeuten hatte, und der Blonde wollte für eine Sekunde zu gern Mäuschen spielen.    Joey sah Seto für einen Moment an, und mit seinem Blick wollte er ihm sagen, dass er es ja nicht wagen sollte, auch nur darüber nachzudenken, zu flüchten. Da mussten sie jetzt gemeinsam durch. Für einen kurzen Moment wurde Setos Blick wieder weicher und er nickte kaum merklich. Dann drehte sich Joey wieder zu seinen Freunden um und nahm noch einmal einen tiefen Atemzug, bevor er zu erzählen begann.   “Also, ich habe ja schon kurz geschrieben, worum es geht. Ich denke, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Einen Haufen Erklärungen, ehrlich gesagt. Bevor ich anfange, möchte ich nur nochmal kurz sagen, wie dankbar ich euch bin. Dass ihr euch um mich gekümmert habt. Nicht nur letzte Woche, sondern all die Jahre, die wir befreundet sind. Ich weiß, ich hab’ es euch nicht immer einfach gemacht, aber ihr wart immer da, auch wenn ich es oft abgeblockt habe.”   “Das war doch selbstverständlich, Alter”, sagte Tristan, der sein ältester Freund aus der Runde war. Joey hatte seinen Blick auf seine überkreuzten Beine gesenkt, doch nun hob er seinen Blick wieder und schaute in drei erwartungsvolle, aber auch aufmunternde Augenpaare. Der Blonde rief sich wieder ins Gedächtnis, dass das hier seine Freunde waren, die ihn nicht einfach so hängen lassen würden, egal, was er sagen würde. Und Seto war auch hier bei ihm, was ihm Kraft gab, weiterzureden.   Joey nickte lächelnd, als er fortfuhr. “Gut, ich fange ganz von vorne an, weil es wichtig ist, zu verstehen, warum ich heute überhaupt hier bin, und warum das letzte Woche passiert ist. Ich habe durchaus die Gerüchte gehört, die man sich über mich erzählt - oder besser, über meinen Dad. Und was ich euch sagen kann, ist: Sie sind wahr. Mein Dad hat angefangen zu trinken, kurz nachdem sich meine Eltern scheiden ließen, und da fing auch die Gewalt an. Ich will euch zu viele Details ersparen, aber es war zum Teil so schlimm, dass ich nicht zur Schule gehen konnte, weil ich einfach zu stark verletzt war.” Für einen kurzen Moment musste er pausieren und tief durchatmen. Er konnte spüren, wie ihm das alles wieder zusetzte und sein Herz raste. Vereinzelte Tränen liefen ihm über die Wangen und er sah kurz zu Seto rüber - er hatte sich zwar keinen Zentimeter bewegt, ihm stand die Sorge aber ins Gesicht geschrieben, sogar so, dass es auch andere Menschen außer Joey erkennen würden. Das sagte ihm, dass es ihm wirklich nahe ging, wie es ihm gerade ging, und irgendwie beruhigte ihn das. Er war nicht alleine, weil Seto an seiner Seite war, und das musste ihm jetzt einfach den Mut geben, den er brauchte, um sich seinen Freunden gegenüber zu öffnen.   Dann richtete er seinen Blick wieder auf seine Freunde, deren Gesichtsausdrücke nicht minder besorgt waren. Joey nahm allen Mut zusammen und sprach weiter. “Er ist damit ziemlich gut durchgekommen, all die Jahre, und ganz ehrlich, ich habe da auch zu beigetragen. Habe für ihn gelogen, in der Schule ein Grinsen aufgesetzt und alles überspielt. Ich weiß, dass ihr es immer wieder versucht habt, die Wahrheit aus mir rauszukriegen, aber ich hatte halt jahrelange Übung. Und ich wusste, wenn das irgendwie rauskommt, blüht mir im Zweifel noch Schlimmeres. Ich bin euch wirklich dankbar, dass ihr es immer und immer wieder versucht habt, aber ihr hättet nichts tun können. Vermutlich hättet ihr alles sogar noch schlimmer gemacht, wenn ihr, keine Ahnung, zur Polizei gegangen wärt oder so.”   Für einen Moment legte sich Stille zwischen sie und Joey musste kurz darüber nachdenken, wie er jetzt weitermachen wollte. Zu seiner Vergangenheit hatte er gesagt, was gesagt werden musste, er würde nicht weiter in die Tiefe gehen, außer seine Freunde würden ihm konkrete Fragen stellen. Es sah allerdings eher so aus, als wollten sie ihn reden lassen und akzeptieren, dass er nur so viel preisgeben wollte, wie er es selber entschieden hatte. Der Blonde atmete tief durch. Es half nichts, er musste darüber sprechen, was er geplant hatte, um seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen.   “Am Ende hatte ich einfach das Gefühl, es würde nicht mehr gehen. Selbst wenn die Gewalt irgendwann aufhören würde, so würden die Erinnerungen bleiben, und zwar für immer. Damit konnte ich nicht leben, denn noch viel schlimmer als die körperlichen Schmerzen war all das, was er mir psychisch angetan hat. Er hatte sehr große Macht über mich, konnte mich kontrollieren und manipulieren. Und ein bisschen kann er das immer noch, das habe ich letzte Woche gemerkt, als er mich ehrlich gesagt ziemlich überraschend angegriffen hat.  Ich hatte nicht erwartet, ihn wiederzusehen, zumindest nicht so schnell und schon gar nicht unfreiwillig. Wie auch immer, jedenfalls hatte ich dann damals entschieden, dass ich so nicht weiterleben will. Und was ich dann vor hatte, wisst ihr ja…”   Ein wenig beschämt senkte Joey den Kopf. Er wusste, wie viel er auch seinen Freunden damit angetan hatte, wie viel Kummer er ihnen bereitet haben musste, und dafür schämte er sich. Aber am Ende kam ja eh alles anders, als er es geplant hatte, im Endeffekt saß er nur noch hier, weil seine Freunde seine Entscheidung nicht akzeptieren wollten - und heute wusste er, dass es gut so war, dass sie so hartnäckig gewesen waren, und es machte ihn glücklich zu wissen, wie viel er ihnen offensichtlich bedeutete.   Yugi brach als Erstes die Stille, die sich erneut im Raum ausgebreitet hatte. “Und wie… stehst du heute dazu?” Diese Frage konnte er ihm nicht verübeln, seine Familie hatte ihn das ja auch gefragt, aber mittlerweile wusste er, welche Antwort er darauf geben würde. Und dass er das so genau wusste, gab ihm ein wenig seiner Selbstsicherheit zurück, und ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen, auch wenn er dennoch das Gefühl hatte, dass der nächste Teil, den er zu erzählen hatte, noch schwieriger wäre als das, was er gerade schon preisgegeben hatte.   “Heute stehe ich dem etwas anders entgegen. Und das hat vor allem etwas damit zu tun, was die letzten Monate passiert ist. Ich…”   “Joey”, wurde er unvermittelt von Seto unterbrochen, den er nun auf sich zukommen sah. Der Braunhaarige stand jetzt direkt neben ihm und reichte ihm einen kleinen Stapel Papier, doch Joey weigerte sich zunächst, diesen anzunehmen. “Muss das wirklich sein?”, fragte er gereizt. Seto zog eine Augenbraue hoch, bevor er antwortete: “Wir haben das doch besprochen.”   Für einen kurzen Moment duellierten sich ihre Augen, aber am Ende wusste Joey, dass er keine Chance haben würde. Er musste sich dem beugen, wenn auf widerwillig. Also nahm er ihm das Papier aus der Hand. “Schön, von mir aus, aber du setzt dich jetzt gefälligst da hin!” Er zeigte bestimmend auf den Sessel neben ihm, der dennoch genug Abstand zwischen ihnen gewährleisten würde, wenn Seto es denn unbedingt so wollte. Das war doch wohl wirklich nicht zu viel verlangt!   Augenrollend gab Seto nach und setzte sich auf den Sessel neben ihm, Beine und Arme überkreuzt, und sein Missfallen war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Doch Joey lächelte, weil er sich durchsetzen konnte. Eine Beziehung war immerhin voll von Kompromissen, und dieser hier sollte nur einer von vielen sein, die sie vermutlich auch in Zukunft würden eingehen müssen. Ein bisschen amüsierte sich Joey über seine eigenen Gedanken - als ob er viel von Beziehungen verstehen würde.   Joey erhob sich von seinem Platz und ging zu seinen Freunden rüber, denen er jeweils mehrere Seiten des Papiers in die Hand drückte. Während er Stifte verteilte, löste er ihre Verwirrung auf, indem er erklärte: “Das sind Verschwiegenheitsvereinbarungen, weil der reiche Schnösel da drüben Angst hat, dass irgendwas von dem, was ich euch gleich erzählen werde, nach außen dringt.” Er konnte Seto hinter sich wütend schnaufen hören, ignorierte ihn aber. Wenn es nach ihm ginge, bräuchten sie das nicht, weil er wusste, er könnte seinen Freunden blind vertrauen. Seto tat das allerdings nicht, und da er mehr zu verlieren hatte als Joey, musste er Seto hierbei Folge leisten.   Keiner seiner Freunde machte auch nur ansatzweise Anstalten, sich das Ganze in Ruhe durchlesen zu wollen. Vielmehr waren sie neugierig darauf zu erfahren, was es hiermit auf sich hatte, wollten die ganze Geschichte erfahren und es verstehen. Schnell signierten sie die Dokumente an den dafür vorgesehenen Stellen, und Joey sammelte die nun unterschriebenen Pamphlete wieder ein, ging damit auf Seto zu und überreichte sie ihm. “Zufrieden?”, fragte er ihn ein wenig genervt, und nachdem Seto sich vergewissert hatte, dass sie alle auch tatsächlich unterschrieben hatten, nickte er. Mit einem lauten Rumms ließ sich Joey erneut neben ihm auf dem Sessel nieder, verschränkte die Arme vor der Brust, dann sagte er, was ihn am heutigen Tag am meisten Überwindung kostete:   “Seto und ich sind zusammen.”   “WAS?!”, fragten seine Freunde gleichzeitig, und Joey war nicht entgangen, wie unglaubwürdig er klingen musste. Immerhin hatten sie sich alle Mühe gegeben, es zu verbergen, zumindest in der Öffentlichkeit, und da waren sie schließlich auch noch als Erzfeinde bekannt. Obwohl der Blonde eigentlich davon ausgegangen war, dass sie sich nach der ganzen Sache letzte Woche schon einen Teil denken konnten, so konnte er ihnen auch nicht verübeln, dass sie das überraschte. Vielleicht hatten sie auch einfach nur vermutet, dass sie befreundet waren, aber nicht, dass es so weit gehen würde.   “Ganz ehrlich Leute”, fuhr Joey fort, “wenn ich mich hier so reden hören würde, ich würde es wohl auch nicht glauben. Aber es stimmt. Das kann ich euch versichern.”   “Aber… wie…?”, hörte er Téa ungläubig fragen.   Joey konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er all die letzten Monate gedanklich noch einmal durchlebte. “Es ist einfach passiert, Téa. Ich hab’ euch ja schon von diesem Deal erzählt, den Seto mir damals unterbreitet hatte. Na ja, besser aufgedrängt hatte. Als ob ich je eine realistische Chance gehabt hätte, nein zu sagen, immerhin sprechen wir hier von Seto Kaiba.” Joey musste lachen und er konnte hören, wie auch seine Freunde in ein kurzes Gelächter verfielen.   “Und dann nahm das alles seinen Lauf. Wir haben gemerkt, dass wir gar nicht so verschieden sind. Also, in vielen Dingen natürlich schon, aber nicht in denen, die wichtig sind. Uns beiden ist unsere Familie zum Beispiel wichtiger als alles andere auf der Welt.” Joey blickte zu Seto rüber und konnte sehen, dass er ihn gebannt anstarrte, und irgendwas in seinem Blick ließ ihm einen wohligen Schauer über den Rücken laufen. “Und wir haben ähnliche Erfahrungen sammeln müssen, in unserem Leben. Und heute sind wir das, was wir sind, weil wir erlebt haben, was wir erlebt haben.” Als Joey Setos Worte zitierte, wurden dessen Blick ein wenig weicher, seine Augen ein bisschen heller. Für eine kurze Sekunde schien die Zeit still zu stehen und es gab nur ihn und den Braunhaarigen in diesem Raum. Er konnte seinen Herzschlag in seinen Ohren rauschen hören, und die Schmetterlinge breiteten sich von seinem Magen in den ganzen Körper aus. Er erwachte erst wieder aus dieser Trance, als er Tristan lauthals lachen hörte.   Verwirrt drehte er sich zu Tristan um, der immer noch Mühe hatte, sich wieder einzukriegen. Er sah, wie er sich die Lachtränen aus den Augen rieb, bevor er sagte: “Okay, Joey, du hast gewonnen. Wo sind die versteckten Kameras?”   Joey legte die Stirn in Falten. “Kameras? Wovon sprichst du, Alter?” Noch immer versuchte Tristan vergeblich, sich das Lachen zu unterdrücken, und Joey konnte sehen, wie auch Téa und Yugi ein schiefes Grinsen im Gesicht hatten. “Ach, komm schon”, begann Tristan erneut. “Du willst uns allen Ernstes weismachen, du und der Eisklotz da seid ein Paar? Jetzt mal ehrlich, für wie dämlich hältst du uns?”   Tristan überkreuzte die Arme vor dem Körper und legte ein angriffslustiges Grinsen auf die Lippen. Joey merkte, wie Hitze in ihm aufstieg, aber nicht die der guten Sorte, wie wenn Seto ihn berührte, nein, er war sauer. Und wie er das war.   Er knurrte auf und musste sich selbst dazu ermahnen, Seto nicht wieder genügend Anlass dazu zu geben, die Hundemetaphern rauszukramen, bevor er antwortete: “Ist das so schwer zu glauben?” Er sah erneut zu Seto und flehte ihn mit seinem Blick an, ihn hier irgendwie zu unterstützen, und Joey konnte ihn ganz leise aufstöhnen hören.   “Okay, ihr Loser, nochmal für die richtig Dummen unter euch”, sagte der Braunhaarige, womit er sich einen ermahnenden Blick des Blonden einfing, den er aber gekonnt ignorierte, als er weitersprach. “Joey sagt die Wahrheit. Oder glaubt ihr, ich fertige Verschwiegenheitsvereinbarungen einfach so zum Spaß an? Weil ich sonst nichts mit mir anzufangen weiß?” Der Blonde war zwar nicht mit der Wortwahl seines Drachen einverstanden, musste ihm aber lassen, dass er ein gutes Argument vorgebracht hatte. Dennoch konnte er sehen, dass Tristan noch immer erhebliche Zweifel zu haben schien, was die Echtheit ihrer Aussagen betraf.   “Ganz ehrlich, Kaiba, bei dir kann man doch nie wissen. Als ob irgendeiner von uns sich den Dreck überhaupt durchgelesen hat, bevor wir das unterschrieben haben.” Joey beobachtete, wie Seto und Tristan sich mit ihren Blicken duellierten, und er spürte dieselbe Wut in sich aufsteigen, wie er sie damals an Silvester auch gespürt hatte. Nur konnte er jetzt schlecht in die Küche flüchten. Wie konnte er seinen Freunden beweisen, dass es stimmte, was er sagte?   Und dann hatte er die zündende Idee, auf die er gewartet hatte. Er erhob sich von seinem Platz, und in einem dominanten Tonfall, den man von ihm eigentlich nicht gewohnt war, sagte er, dem Braunhaarigen zugewandt: “Seto, aufstehen. Jetzt! Mach doch nur ein Mal das, was man dir sagt, bitte!” Es war nicht schwer auszumachen, wie verwirrt Seto von Joeys plötzlichem Verhalten war, doch er tat wie ihm geheißen. Joey nickte ihm bestätigend zu und bedeutete ihm gleichzeitig, sich nicht von der Stelle zu bewegen, als er selbst ein paar Schritte auf seine Freunde zuging. Er hatte seine Arme vor dem Körper verschränkt, sein Blick war durchdringend und seine Augen ein wenig zu Schlitzen geformt, als er, vor allem an Tristan gerichtet, verkündete: “Ihr wollt also einen Beweis, ja? Den könnt ihr haben.”   Und mit diesen Worten drehte er sich wieder um, stellte sich neben Seto, zog ihn an seinem Hemd zu ihm runter und verwickelte ihn in einen leidenschaftlichen Kuss. Keinen von der zärtlichen, zurückhaltenden Sorte. Seine Freunde wollten ihnen nicht glauben? Fein, vielleicht würde das sie ja endlich überzeugen.   Absurderweise blendete Joey sofort alles aus, als er Setos Zunge an seinen Lippen spürte. Es war krass, dass er nach all den Monaten, in denen sie schon so viele heiße Küsse ausgetauscht hatten, noch immer diese Wirkung in ihm entfalten konnte. Im Hinterkopf hatte der Blonde dennoch, dass sie nicht allein waren, sonst hätte Seto sicherlich schon längst keine Hose mehr an. Aber er kam nicht umhin zuzugeben, dass er die Berührung genoss. Joey war erstaunt, dass es Seto wohl nicht anders ging, denn er spürte seine warme Hand an seiner Wange, und als Joey seine Augen nur einen klitzekleinen Spalt öffnete, konnte er sehen, dass der Größere seine vollständig geschlossen hatte. Auch Joey schloss seine Augen für einen weiteren Augenblick und kostete den Moment aus, in dem sie sich in ihrer eigenen Blase, in ihrer eigenen Realität befanden.   Doch alle schönen Momente nahmen mal ein Ende. Als Joey sich von seinem Drachen löste, konnte er in dessen Augen sehen, welchen Sturm der Gefühle er in ihm ausgelöst hatte, und ihm selbst ging es dabei nicht anders. Tatsächlich musste er sich erst mal wieder orientieren, warum sie das gerade gemacht hatten. Dann fiel es ihm wieder ein und ein leichter, beschämter Rotschimmer legte sich auf seine Wangen, bevor er sich straffte und zu altem Selbstbewusstsein zurückfand.   Die Hände in die Hüften stemmend, drehte er sich zu seinen Freunden um, die ihn mit offenen Mündern anstarrten. Joey legte ein Siegerlächeln auf seine Lippen, als er sagte: “Und, habt ihr’s jetzt kapiert?” Als keiner etwas darauf erwiderte, fragte er sich, ob er zu weit gegangen war. Er stand noch immer ganz nah bei Seto und konnte fühlen, wie sich dessen kleiner Finger immer wieder unauffällig - oder eben doch nicht ganz so unauffällig - an seine Finger legte. Joey atmete laut aus und nahm dann Setos Hand. “Leute, ich kann ja verstehen, dass das überraschend kommt. Aber glaubt ihr wirklich, dass wir euch so sehr verarschen wollen? Ganz ehrlich, wenn wir uns noch immer hassen würden, könnt ihr euch auch nur ansatzweise vorstellen, dass wir uns vor euch geküsst hätten?”   Das schien Leben in seine Freunde zurückzubringen. Tristans Gesicht war immer noch ziemlich blass, aber Yugi und Téa schienen sich schon wieder einigermaßen beruhigt zu haben. Joey konnte erkennen, wie Yugi langsam sein typisches Lächeln zurückgewann, und erwiderte es vorsichtig.   “Tja, Joey”, sagte Yugi, der als Erster seine Stimme wiedergefunden hatte, “ich weiß gar nicht so richtig, was ich dazu sagen soll. Was sagt man denn in so einer Situation, Leute? Glückwunsch?” Yugis Naivität brachte sie alle zum Lachen, und zum ersten Mal heute hatte Joey das Gefühl, wieder befreit durchatmen zu können.   Dann übernahm Téa das Wort - Tristan war wohl der Einzige, der noch zu geschockt war, um etwas zu sagen. “Okay, und ich nehme mal an, ihr wollt das nicht so schnell publik machen? Sonst hätten wir ja vermutlich nicht diesen Wisch unterschreiben müssen, oder?” Joey nickte. “Genau. Das heißt nicht, dass es nicht irgendwann so weit ist, aber eben noch nicht heute. Vermutlich auch nicht nächste Woche.” Und bevor er weitersprach, sah er Seto in die Augen, dessen Hand er noch immer in seiner hielt. “Außerdem - für Seto steht mehr auf dem Spiel als für mich. Ich habe eigentlich nichts mehr wirklich, seit ich mich von meinem Dad abgekapselt habe. Nichts außer euch, meine Mum und Serenity. Und dich.” Es war klar, für wen die letzten Worte gedacht waren, und Joey konnte spüren, wie sich Setos Händedruck ein wenig verstärkte. Es war ziemlich offensichtlich, dass nicht nur Joeys Selbstkontrolle stark ins Wanken geriet.   “Ihr könnt euch auf uns verlassen”, hörte er dann plötzlich Tristan sagen, und als Joey sich ihm zuwandte, konnte er die Ernsthaftigkeit sehen, die in seinen Augen lag und diese Aussage unterstrich. Das mochte er so an Tristan. Er konnte rumblödeln und absoluten Blödsinn labern, aber wenn es drauf ankam, konnte man sich zu 100 Prozent auf ihn verlassen. Joey lächelte Seto noch einmal kurz an, bevor er sich von ihm löste und auf seine Freunde zuging. Alle erhoben sich von ihren Plätzen und stellen sich in einen Kreis. Und wie durch eine Macht, die sie nicht kontrollieren konnten, streckte jeder seine Hand nach vorne aus, sodass sie wieder so zusammen waren wie damals, als sie sich die Freundschaftszeichen auf die Hände gemalt hatten*, als Symbol dafür, dass sie immer füreinander da waren, selbst, wenn irgendjemand nicht anwesend war. Und Joey hätte nicht glücklicher sein können als genau in diesem Augenblick, als sein Leben so vollkommen schien.   *Anspielung auf die allererste Folge der Serie Kapitel 21: Rescue me... from injustice --------------------------------------- “Verdammt!” Fluchend gab Joey auf. Diese dämliche Krawatte wollte einfach nicht so, wie er wollte. Nicht, dass er in seinem Leben schon viele Krawatten gebunden hätte, aber heute kam auch noch die Nervosität dazu. Eigentlich war es ein recht schöner Tag - es war mittlerweile Ende März, und auch wenn die Temperaturen noch immer nicht über 15 Grad hinausgingen, so wurden doch zumindest die Regentage weniger. Außerdem säumten Kirschblüten die Wege und wurden durch den Wind in alle Richtungen geweht.   Joey liebte diese Zeit des Jahres. Eigentlich. Denn heute würde er ihn wiedersehen und er wusste nicht, was das mit ihm machen würde. Würde er wütend werden, ihm auf offener Straße eins überbraten wollen, sich rächen wollen für das, was er ihm vor ein paar Wochen, ach, sein ganzes Leben lang angetan hatte? Würde er weinen müssen, weil es ihn emotional so bewegte? Oder würde er wieder in eine Leere verfallen, die dazu führen würde, dass er vor Gericht kein Wort rausbrachte?   “Lass mich das machen, Hündchen.” Plötzlich war Seto neben ihm aufgetaucht, der seine Frustration offenbar ganz deutlich erkannt hatte. Mit geschickten Handbewegungen band er die Krawatte so, wie sie sitzen sollte, während Joey wie ein trotziges Kind vor sich hin glotzte, weil er es nicht selbst geschafft hatte. Als Seto fertig war, betrachtete er sein Werk zufrieden und schenkte dem Blonden ein sanftes Lächeln. Joey seufzte, denn er wusste, noch würde er das sehen können, weil sie hier immerhin in seinem Apartment und daher allein waren, aber er war sich sicher, kaum hätten sie einen Schritt hieraus gemacht, wäre er wieder der kalte, unnahbare Kaiba, den er allen vorspielte. Dabei brauchte er ihn heute mehr denn je an seiner Seite.   Der Braunhaarige hob sein Kinn an und sah ihm zärtlich in die Augen. “Rede mit mir, Joey. Bist du nervös?” Joey sah ihm für einen Moment in seine wunderschönen, eisblauen Augen, bevor er seinen Kopf an seine Brust legte und erwiderte: “Ja, bin ich. Ich hab’ Angst davor, ihm zu begegnen. Ich wollte ihn in meinem Leben nie wiedersehen, Seto.”   Er spürte, wie Setos kräftige Arme sich um ihn schlangen, und sein gleichmäßiger Atem beruhigte ihn auf magische Weise. “Du weißt, du kannst die Aussage immer noch verweigern, weil er ein Familienmitglied ist, und dann lassen wir das die Anwälte klären.”   Joey schnappte sich Setos Hände und löste sich wieder ein wenig von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können. “Aber was würde das bringen? Ich renne nicht weg, nicht mehr. Ich kann nicht mein ganzes Leben lang unter seiner Macht stehen. Genug ist genug, und wenn ich helfen kann, dass er seine gerechte Strafe bekommt, dann tue ich alles, was nötig ist.”   Seto legte ihm eine Hand auf seine Wange, dann strich er ihm zärtlich durchs Haar und sagte mit verklärtem Blick: “Du bist so stark, mein Hündchen. Ich habe dir das schon ganz oft gesagt, aber ich bin wirklich stolz auf dich.” Er gab dem Blonden einen liebevollen Kuss auf die Stirn und zog ihn noch mal ganz nah an sich, und Joey sog seinen Duft ein und versuchte, ihn abzuspeichern, um sich daran erinnern zu können, wenn es nachher schwierig werden sollte.   Seufzend beendete Joey den Körperkontakt erneut. “Sollen wir langsam los? Es wird Zeit.” Seto nickte. “Und denk daran, ich bin immer da. Wenn du deine Aussage machst, werde ich nicht im Raum sein dürfen, aber ich bin in Gedanken bei dir, hörst du? Du darfst nicht für eine Sekunde denken, dass du allein bist, denn das bist du nicht.” Mit diesen Worten flogen die Schmetterlinge, die es sich zu tausenden in seinem Magen bequem gemacht hatten, los und verteilten das Glücksgefühl darüber, dass sein Drache nur ihm gehörte, überall in seinem Körper.   Als sie aus der Limousine stiegen und vor dem Gerichtsgebäude ankamen, musste Joey blinzeln. Es war ein sehr sonniger Tag und er konnte die Kirschblüten überall durch die Luft fliegen sehen. Eigentlich würde er jetzt viel lieber auf einem der vielen Kirschblütenfeste sein, die ihm eine Abwechslung vom Alltag bieten könnten, aber nun musste er sich zunächst auf das konzentrieren, was ihm unmittelbar bevorstand. Und er wusste, das würde keine leichte Aufgabe werden.   Plötzlich nahm er Blitzlichtgewitter wahr und eine nicht zu überschauende Masse an Menschen kam auf Seto, der mittlerweile neben ihm stand, und ihn zu. Sie riefen alle durcheinander und Joey hatte große Probleme damit, zu verstehen, was hier überhaupt vor sich ging, aber er bemerkte, dass es wohl Journalisten waren. Klar, immerhin stand er hier neben Seto Kaiba, und wenn der in einen Gerichtsprozess verwickelt war, würde das eben für Aufsehen sorgen. Seto stellte sich ein wenig vor ihn - um ihn zu schützen? Dann wechselte er Blicke mit Roland, und sofort tauchten um sie herum Sicherheitsleute auf, die sie von den aggressiven Pressevertretern abschirmten, sodass sie sich nun endlich den Weg in Richtung Gerichtsgebäude bahnen konnten.   Am imposanten Gebäude, das vollständig aus Marmor zu bestehen schien, angekommen, trafen sie auf Joeys Freunde, die sich ebenfalls ziemlich rausgeputzt hatten und ihn lächelnd begrüßten. “Hey, Alter, alles klar?”, fragte Tristan als Erster, und auch wenn sie alle fröhlich aussahen, konnte Joey dennoch einen Anflug von Sorge in ihren Augen erkennen. “Bis jetzt ja”, antwortete der Blonde zögerlich und setzte ein schiefes Grinsen auf. Seto stand direkt neben ihm, was ihm ein wenig mehr Kraft gab. Seitdem sie es seinen Freunden gesagt hatten, hielt er nicht mehr so viel Abstand, wenn sie in der Gruppe standen, aber immer noch genug, damit niemand anderes Fragen stellte. Aber es war ein Fortschritt, über den Joey sehr glücklich war, und das davon ausgehende Glücksgefühl würde er heute festhalten wollen, weil er wusste, er würde es brauchen.   “Mr. Kaiba, Mr. Wheeler”, wurden sie dann von der Seite angesprochen, und Seto gab dem älteren, grauhaarigen Mann die Hand. Joey hatte ihn bisher nur ein Mal getroffen, seinen Anwalt, um die Details für die Verhandlung durchzusprechen. Allerdings war auch bei diesem Treffen Seto dabei gewesen.   “Mr. Wheeler, es ist alles so, wie wir besprochen haben. Zuerst werden Sie vernommen, dann die Zeugen, erst zum Schluss Ihr Vater. Sie werden während der gesamten Verhandlung anwesend sein, die Zeugen dürfen nur unabhängig voneinander im Saal sein, und auch nicht während Ihrer Befragung oder der Ihres Vaters.” Als er offenbar Joeys Unsicherheit bemerkte, ergänzte er: “Es wird alles gut gehen, Mr. Wheeler. Ich mache das hier schon sehr lange, das sieht man vermutlich an den wenigen Haaren, die mir überhaupt noch geblieben sind, und ich kann mittlerweile gut einschätzen, wie ein Fall ausgehen wird. Und bei diesem hier sehe ich ehrlich gesagt keine Anzeichen dafür, dass was schief geht. Neben all Ihren Zeugenaussagen gibt es ja auch noch den Arztbericht, und tatsächlich hat eine Verkehrskamera an einer nahe gelegenen Ampel den Vorfall aufgezeichnet. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen Letzteres bisher vorenthalten habe, aber ich habe die Aufnahmen selbst erst vor etwa zwei Tagen sehen dürfen, aber seien Sie versichert, man erkennt genug. So einfach kommt er uns nicht davon.” Mit einem fast freundschaftlichen Klopfer auf den Rücken verabschiedete sich sein Anwalt, und Joey versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen und nickte ihm zu, als er sich ins Gebäude bewegte. Dennoch - seine Unsicherheit blieb, auch wenn ihn die Beweislage eigentlich beruhigen sollte.   Aus einem Impuls heraus drehte Joey sich um - und da sah er ihn auf das Gebäude zukommen. Er sah nicht ganz so heruntergekommen aus, wie er ihn in Erinnerung hatte, und er hatte sogar einen Anzug an, wo auch immer er den aufgetrieben hatte. Der Anwalt seines Dads sah deutlich jünger aus als der, den Seto ihm selbst besorgt hatte, und irgendwas daran erleichterte ihn. Und plötzlich trafen sich ihre Augen, als sie an ihnen vorbei ins Gericht gingen - und Joey konnte all den Hass sehen, den sein Dad in seinen Blick legte, all die Verachtung spüren, denn mehr hatte dieser nicht für seinen Sohn übrig, so schien es zumindest. Joey wollte ihm keine Macht mehr über sich geben, ihm zeigen, dass er keine Kontrolle mehr über ihn hatte und dass er nun seine gerechte Strafe für all das bekommen würde, was er ihm angetan hatte, aber dennoch wurden seine Knie weich. Es war wie ein Automatismus, dem er sich nicht entziehen konnte, und gerade, als er das Gefühl hatte, er würde fallen, legte ihm Seto seinen Arm über die Hüfte, um ihn zu stützen. Joey wusste, welches Risiko er damit einging, und er war unheimlich dankbar dafür, dass er jetzt einfach bei ihm war.   “Alles in Ordnung, Hündchen. Er kann dir nichts mehr tun.” Setos Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber der Blonde konnte es dennoch genau wahrnehmen. Ihm war nach Weinen zumute und er wollte flüchten, ganz weit weg rennen, aber er wusste, das würde es nicht besser machen. Vermutlich würden die Geister der Vergangenheit ihn dann sogar noch länger belagern. Nein, er musste sich dem stellen und musste auf das vertrauen, was sein Anwalt ihm gerade gesagt hatte. Und während auch sie das Gerichtsgebäude betraten, legte ihm Seto, ganz leicht nur, die Hand auf den Rücken, und diese Berührung brannte noch unter seiner Kleidung, als er seine Freunde hinter sich ließ und allein mit seinem Anwalt in den Verhandlungssaal trat.   ~~~~   Seto wurde langsam unruhig. Er wusste, er wäre der erste Zeuge, der aufgerufen werden würde, und die Verhandlung hatte schon vor etwa 30 Minuten begonnen. Er hatte es nicht zeigen wollen, wollte für Joey stark sein, aber er hatte Angst davor, was dieser Tag mit seinem Hündchen machen würde. Aber egal, was es war, er würde bei ihm sein, was immer kommen mochte, und ihn immer unterstützen. Dennoch hoffte er, dass das Loch, in das er zu fallen drohte, nicht zu tief sein würde, und das Seil, dass er ihm zuwerfen würde, lang genug wäre, um ihn da raus zu holen.   Dann öffnete sich endlich die Tür und ein Gerichtsdiener rief ihn in den Saal. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, als er den großen Raum betrat - nur Joey drehte sich nicht zu ihm um, und das machte Seto nervös. Er ging an den Stuhlreihen vorbei, die vorrangig für die Presse reserviert waren, bis er vorne im Saal angekommen war. Und als er an Joeys Tisch vorbei ging, an dem er zusammen mit seinem Anwalt saß, versuchte er, einen Blick auf ihn zu werfen, aber seine Augen waren nach unten gerichtet, auf seine gefalteten Hände direkt vor ihm auf dem Tisch. Was würde er dafür geben, ihn jetzt berühren und umarmen zu können, um ihm die Kraft zu geben, die er benötigte. Stattdessen ging er noch ein Stück weiter nach vorn, wo ein Tisch mit Stuhl aufgebaut war, an denen die Befragungen der Zeugen offensichtlich stattfanden.   Er nahm Platz, und sofort wurde er vom Richter angesprochen. “Bitte nennen Sie uns Ihren vollständigen Namen fürs Protokoll.”   “Seto Kaiba.”   “Vielen Dank, dass Sie heute hergekommen sind, Mr. Kaiba. Bevor wir die Befragung beginnen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie die Wahrheit sagen müssen. Sollten Sie lügen, kann das strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Haben Sie das verstanden?”   “Natürlich.”   “Gut, dann beginnen wir. In welcher Beziehung stehen Sie zum Angeklagten?”   “In keiner.” Das war ein wenig gelogen - in seinen Gedanken hatte er diesen Mann schon ungefähr eine Million Mal umgebracht, auf alle erdenklichen Arten und Weisen, aber das war sicherlich nicht das, was der Richter jetzt von ihm hören wollte.   “Und ihr Verhältnis zum Kläger?”   “Wir sind befreundet, euer Ehren.” Das hatte er mit Joey vorher so abgesprochen - sollte er das gefragt werden, würde er so antworten, wie er es gerade getan hatte. Er musste ein Lächeln unterdrücken, als er sich daran erinnerte, was er noch zu Joey sagte, als sie das ausgemacht hatten - dass er sich einfach vorstellen sollte, er würde stattdessen sagen, dass er zu ihm gehörte, und nur zu ihm. Aber das war jetzt nicht der passende Ort dafür, und schon gar nicht die passende Zeit, um das auszuplaudern.   “Bitte schildern Sie uns die Ereignisse, wegen derer wir heute hier sind, aus Ihrer Sicht.”   “Selbstverständlich. An besagtem Abend saß ich in meiner Firma und habe noch spät gearbeitet. Dann erhielt ich einen Anruf von Jo… Mr. Wheeler. Er wirkte durcheinander und hat nicht viel gesagt, dann übernahm Yugi Muto, ein Freund von Mr. Wheeler, das Telefonat und bat mich, zu ihnen zu kommen. Sie waren nicht weit weg, etwa zwei Querstraßen von meiner Firma, und ich hatte mich sofort auf den Weg gemacht. Als ich ankam, waren neben Mr. Wheeler und Mr. Muto auch noch seine Freunde Tristan Taylor und Téa Gardner anwesend. Sie erklärten mir, dass sie ihn so in der Seitengasse, in der er gegen die Wand gelehnt lag, gefunden hatten, etwa fünf Minuten, bevor ich eingetroffen war. Mr. Taylor hatte bereits einen Krankenwagen gerufen. Ich habe Mr. Wheelers Wunden von Nahem begutachtet und konnte feststellen, dass er einige Verletzungen im Gesicht hatte und seine Kleidung zerrissen war. Er sagte mir, dass es sein Vater gewesen war. Als der Krankenwagen ankam, bin ich mit ihm ins Krankenhaus gefahren, wo seine Wunden versorgt wurden. Dort hat er mir auch erklärt, was genau passiert war, nämlich dass er auf dem Weg von seinem Job in einem Café von seinem betrunkenen Vater angefallen und verletzt worden war. Er durfte nach der Nacht wieder nach Hause und wir sind gemeinsam ins Polizeirevier gefahren, um direkt seine Aussage aufnehmen zu lassen.”   “Vielen Dank, Mr. Kaiba. Mr. Wheeler hat uns bereits verraten, dass er im Moment wohnhaft bei Ihnen ist. Können Sie mir sagen, wie es dazu gekommen ist?”   Seto musste tief durchatmen - auch das hatten sie besprochen, weil klar war, dass diese Frage aufkommen würde. Er konnte sich noch erinnern, dass sie darüber gestritten hatten, weil Joey nicht wollte, dass sie die ganze Wahrheit erzählten, aber Seto hatte ihm versichert, dass sie es mussten - wenn sie sich ein Lügenkonstrukt bauen würden, würde das früher oder später zusammenbrechen und könnte dazu führen, dass sein Vater nicht die Strafe erhielt, die er erhalten sollte. Außerdem müssten sie nicht unbedingt was von ihrem Deal erzählen, nur warum er überhaupt bei ihm wohnte. Das würde ja eher noch zur Schuld des Vaters beitragen, und auch wenn Joey so seine Probleme damit hatte, so hatte er am Ende doch eingewilligt.   “Kurz und knapp gesagt: Mr. Wheeler wollte sich das Leben nehmen. Später erklärte er mir, dass sein Vater der Hauptgrund dafür gewesen war. Seine Freunde haben mich um Hilfe gebeten und ich habe Mr. Wheeler davor bewahrt, von einem Hochhaus in den Tod zu springen, und habe ihm angeboten, bei mir und meinem Bruder zu wohnen, damit er aus dieser Umgebung rauskommt.”   Er konnte Joey in diesem Moment zwar nicht sehen, aber er konnte sich vorstellen, wie es ihm gerade gehen musste, mit dem Mann in einem Raum, der ihn fast dazu getrieben hatte, sein eigenes Leben auszulöschen. Schon wieder stieg die Wut in Seto auf, und er musste sich sehr zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und diesem Widerling ins Gesicht zu schreien, was für ein abartiges Monster er war. Nein, das würde nicht helfen, ganz im Gegenteil, also versuchte, sich selbst zu beruhigen, indem er langsam ein- und ausatmete.   “In Ordnung, Mr. Kaiba. Ich möchte jetzt beiden Seiten noch die Gelegenheit geben, weitere Fragen zu stellen. Wir beginnen mit dem Anwalt des Klägers. Haben Sie weitere Fragen an Mr. Kaiba?”   “Die meisten Fragen wurden bereits gestellt”, begann Joeys Anwalt, “aber eine letzte Frage hätte ich noch: Mr. Kaiba, warum haben Sie Mr. Wheeler geglaubt, dass es sein Vater gewesen war? Hätte es nicht auch einfach jemand anders sein können, und Mr. Wheeler wollte es seinem Vater in die Schuhe schieben?”   Kaum hörbar schnaufte Seto auf. Er musste sich ermahnen, nicht an die Decke zu gehen, der Anwalt machte hier nur seinen Job, und der Braunhaarige kannte ihn aus anderen gemeinsamen Fällen, die allerdings meist seine Firma betrafen, mittlerweile so gut, dass er wusste, dass er exzellent darin war. Außerdem hatte er ihn schon vorgewarnt, dass er diese Frage stellen würde – um sowohl seine als auch Joeys Glaubwürdigkeit zu erhöhen.   “Berechtigte Frage”, begann Seto und versuchte, so gut es ging, die Ruhe zu bewahren. “Allerdings habe ich seinen Vater bereits selbst in Aktion erlebt. Ich habe Mr. Wheeler damals, kurz nachdem er zu uns gekommen war, nach Hause begleitet, damit er ein paar Sachen holen konnte. Sein Vater war betrunken und hatte versucht, sowohl mich als auch Mr. Wheeler anzugreifen. Wir konnten ihn einigermaßen in Schach halten, weil wir zu zweit waren, aber dieser Vorfall hat mir gezeigt, dass er durchaus mehr Schaden verursachen kann, wenn jemand allein mit ihm ist. Selbst, wenn er ziemlich betrunken ist.”   Joeys Anwalt nickte ihm zu. “Danke, keine weiteren Fragen.”   Nun war der Anwalt der Gegenseite an der Reihe und hatte offensichtlich erhebliche Schwierigkeiten mit dieser Verantwortung. Nervös blätterte er in seinen Unterlagen - als ob er da die Frage finden würde, die seinem Mandanten hier den Arsch retten würde. Lächerlich, mehr konnte Seto darüber nicht denken. Er hatte keine Chance, und dass er gerade in erheblichen Schwierigkeiten war, diesen Prozess entschieden für sich zu gewinnen, schien ihm wohl bewusst zu sein.   Dennoch wagte er den Sprung nach vorn, wenn auch nur zaghaft, als er mit leiser Stimme stammelte: “Äh, also… Mr. Kaiba, warum haben Sie Mr. Wheeler überhaupt geholfen? Soweit ich gehört habe, ist es ja nun kein gut gehütetes Geheimnis, dass Sie beide sich nicht gut verstehen.”   Was, das war alles, was er zu bieten hatte? Seto kam nicht umhin sich zu fragen, wie dieser Versager es überhaupt geschafft hatte, eine Anwaltslizenz zu erlangen. Aber ihm sollte es recht sein, würde es seinem Hündchen den Prozess doch nur erleichtern.   Seto überlegte kurz, wie er es genau ausdrücken wollte, dann begann er erneut zu sprechen. “Das stimmt, früher war das tatsächlich so. Aber wir sind eben auch erwachsen geworden, haben angefangen, normal miteinander zu kommunizieren, und haben uns angefreundet. Das habe ich ja vorhin schon erwähnt.”   Der Braunhaarige konnte ein dezentes, amüsiertes Zucken seiner Mundwinkel kaum verhindern, als er sah, wie der Anwalt von Wheeler Senior noch immer beträchtlich damit zu kämpfen hatte, eine einigermaßen funktionierende Strategie auszuarbeiten, um diesen Prozess hier zu gewinnen. Dass er das gar nicht konnte, war ihm scheinbar nicht bewusst, auch wenn er es verzweifelt versuchte. Außerdem - Seto hatte schon ganz andere Kämpfe ausgefochten, und in dieser langen Liste war dieser hier noch mit der einfachste.   Da ergriff der Staatsanwalt plötzlich das Wort. “Sehen Sie denn etwas Verwerfliches daran, Herr Anwalt? Ist es denn nicht normal, dass sich Freunde untereinander helfen?”   “Nein, nein, äh… ich…”, stotterte der Anwalt des Angeklagten. Setos Blick glitt nun zum Richter im Saal, der augenscheinlich auch schon mehr als genervt von der Inkompetenz des besagten Anwalts war, und fassungslos den Kopf schüttelte. “Haben Sie denn noch weitere Fragen, Herr Anwalt?”, fragte der Richter gereizt.   “Äh, nein, keine weiteren Fragen.”   “Gut, dann können Sie gehen, vielen Dank für Ihre Aussage, Mr. Kaiba.”   Als Seto sich von seinem Platz erhob, konnte er noch immer gar nicht fassen, wie einfach das gewesen war. Doch als er sich dann umdrehte, wurde ihm plötzlich wieder bewusst, dass es nicht für jeden im Saal so einfach sein würde, egal, wie unfähig der Anwalt auch sein mochte. Seto drehte sich um, und just in dem Moment blickte auch Joey nach oben. Der Braunhaarige konnte die leicht geröteten Augen im Gesicht des Blonden sehen, und für einen Moment übernahm die Sorge um Joey all seine Gedanken. Doch als er ihm, wenn auch nur für eine Millisekunde, richtig in die Augen sah, konnte er die Zuneigung und Wärme sehen, die er sonst auch darin entdecken konnte. Er wollte ihn so gern umarmen, ihm deutlich machen, dass er in Gedanken bei ihm war, aber er wusste, das hier war der falsche Ort. Er nickte ihm daher nur kurz zu, was Joey erwiderte, sein Blick war wissend. Und Seto war froh darüber, dass sie es nicht verlernt hatten, über Blicke zu kommunizieren. Sie hatten es sich in einer Zeit angewöhnt, als sie mit Worten noch nicht gut umgehen konnten, aber das hatte sich verändert. Wie so vieles anderes auch, aber Seto würde es gar nicht anders haben wollen.   Als Seto aus dem Verhandlungssaal hinaus trat, wurde Yugi reingerufen, und er gesellte sich zum Rest des ‘Kindergartens’, wenn auch widerwillig.   Nach und nach wurden alle reingerufen, um ebenfalls befragt zu werden. Der jeweils verbleibende Rest der Gruppe wartete draußen im Flur. Joeys Freunde saßen zumeist auf einer Bank direkt vor dem Verhandlungssaal, aber Seto konnte nicht. Er war einfach zu unruhig, um auch nur eine Minute still sitzen zu können.   Als dann alle dran waren, wusste Seto, dass es so weit war und Joeys Dad nun befragt werden würde. Das machte ihn nervös - würde er etwas sagen, dass Joey aus der Fassung brachte? Wie würde Joey es verkraften, ihn nur sprechen zu hören? Er hatte ja sehen können, was es mit ihm machte, wenn er nur im selben Raum wie dieser Bastard von Vater war. Je mehr Zeit verging, desto angespannter wurde er. Niemand aus der Gruppe sagte etwas, jeder hing seinen Gedanken nach, und zumindest Setos Gedanken kreisten augenblicklich ausschließlich um sein Hündchen, dem er so gern beistehen wollte, aber nicht konnte, zumindest nicht physisch.   Ungeduldig blickte er auf sein Handy - es war jetzt fast eine Stunde her, seitdem Gardner als letzte Zeugin zur Gruppe zurückgekehrt war. Was zum Teufel gab es denn noch so viel zu besprechen? Alle Beweise sprachen gegen Joeys Vater, und spätestens mit dem Video war ja wohl alles klar. Was brauchten die denn da drin so lange?   Doch gerade, als er das Gefühl bekam, es kaum noch auszuhalten, öffnete sich die Tür zum Verhandlungssaal und die ersten Journalisten strömten raus. Noch bevor sie ihn belagern konnten, wurden sie von seinem Sicherheitspersonal abgeschirmt und Setos Augen suchten den Raum nach seinem blonden Wirbelwind ab. Dieser stand gerade von seinem Platz auf und war kurzzeitig noch mit dem Rücken zu ihm gewandt, bis er sich umdrehte. Seto konnte nicht so richtig einschätzen, wie Joey sich fühlte - er sah kraftlos aus, war leichenblass, und je näher er auf ihn zukam, desto glanzloser wirkten seine Augen auf ihn. Wie in Zeitlupe kam er auf die Gruppe zu, und als er bei ihnen angekommen war, atmete er hörbar aus, so als ob er die ganze Zeit die Luft angehalten hätte.   “Ich…”, sagte er, doch dann brachen alle Dämme, die ersten Tränen kullerten seine Wangen hinab und er fing an zu schluchzen. Seto wollte ihm beruhigend die Hand auf den Rücken legen, aber Joey hatte andere Pläne, rannte die Gänge entlang und dann in eine Toilette hinein. Sofort rannte Seto ihm hinterher, gefolgt von Joeys Freunden, und als sie den Toilettenraum betraten, fand der Braunhaarige den Kleineren auf dem Boden hockend vor, und sein verzweifeltes Weinen brachte ihn fast um den Verstand.   Da öffnete sich die Tür erneut hinter ihnen, offensichtlich wollte jemand - berechtigterweise - diese Toilette benutzen, doch noch bevor Seto daraufhin etwas sagen konnte, kam ihm Taylor zuvor. “Hier ist besetzt!”, schrie er und zog die Tür kraftvoll zu.   Taylor sah zur Gruppe, sein Blick ernst, aber fest entschlossen, bevor er sagte: “Ich passe hier auf. Kümmert ihr euch um Joey.”   Als er wusste, dass niemand sie sehen würde, der nichts von ihrer Beziehung wissen durfte, rannte er mit schnellen Schritten auf Joey zu, setzte sich zu ihm auf den Boden und zog ihn in seine Arme, streichelte ihm behutsam über den Rücken und ließ die Tränen in sein Jackett einziehen.   Für einen Moment saßen sie nur so da, Joeys Schluchzen hallte im Raum wider, und Seto hatte das Gefühl, dass sein Herz gleich platzen würde. Er wollte ihm so gern helfen, aber er wusste nicht, wie. Wollte reden, und auch wenn ihm das einigermaßen gelang, wenn Joeys Familie dabei war, so war es mit dem ‘Kindergarten’ im Raum doch schon schwieriger. Er war genervt von sich selbst - warum kümmerte er sich jetzt darum, was der ‘Kindergarten’ dachte? Nichts war wichtiger als Joey, und außerdem wussten seine Freunde ja Bescheid. Er musste jetzt, verdammt noch mal, über seinen eigenen Schatten springen und ihm helfen, denn er wusste - allein würde der Blonde da nicht so einfach rausfinden.   Also legte er eine Hand an Joeys Wange und hob sein Kinn etwas an, sodass er ihm in die verweinten Augen sehen konnte, was ihm einen erneuten Stich ins Herz verpasste. “Joey, rede mit mir. Bitte…”, flehte er.   “Seto… er… er…”, versuchte es der Blonde, aber er atmete immer noch so heftig, dass er es nicht schaffte, viele Wörter über seine Lippen gleiten zu lassen. Seto war schon wieder mittelmäßig überfordert - mit Joeys überwältigenden Emotionen, mit seinen eigenen Gefühlen, mit der Tatsache, dass er sich krass überwinden musste, weil seine Freunde hier waren, aber auch, weil er nicht wusste, was los war. Sein ganzer Kopf war ein einziges Chaos.   “Joey”, hörte er Yugi von der Seite sagen. Er stand nah genug, damit Joey ihn hören und wahrnehmen konnte, aber dennoch mit gebührendem Abstand, so als ob er die ‘Intimität’ der beiden nicht stören wollte. “Versuch, ruhig ein- und auszuatmen. Ganz langsam. Genau, so ist es gut, ein und aus.”   Das schien tatsächlich zu funktionieren. Seto spürte, wie Joeys Muskeln sich ein wenig entspannten, und er würde es niemals laut aussprechen, aber er war für Yugis Hinweis dankbar. Joey hob den Kopf an und sah Seto nun in die Augen, nahm seine Hände und drückte sie, während er seinen Tränen weiter freien Lauf ließ.   “Seto, er… er hat versucht, es zu leugnen. Hat gesagt, er wäre das nicht gewesen, und dass ich ihm da was anhängen wollen würde.” Der Blonde pausierte und Seto strich ihm ein paar Tränen von den Wangen. Er hatte das Gefühl, da würde gleich ein ‘Aber’ folgen, also ließ er ihm die Zeit, die er brauchte, um sich zu sammeln.   Für einen kurzen Augenblick schloss Joey seine Augen, und als er sie wieder öffnete, konnte Seto all den Schmerz sehen, den Joey gerade fühlen musste, und er fühlte ihn mit ihm. Jede Faser seines Körpers tat weh. Dann sagte Joey: “Und dann haben sie die Aufnahmen gezeigt. Das war so offensichtlich er, dass selbst er es nicht mehr leugnen konnte. Und dann…”   Bevor der Blonde weiterreden konnte, sackte er weinend in sich zusammen, doch Seto durfte ihn nicht fallen lassen, musste ihn davor bewahren, die Dunkelheit zu umarmen. Joey musste bei ihm bleiben, komme, was da wolle.   Er nahm seinen Kopf nun zwischen beide Hände und versuchte ihm so, Stabilität und Sicherheit zu geben, den Mut, weiterzusprechen. “Was ist dann passiert, mein Hündchen?”, fragte er, und dass er ihn gerade mit seinem Kosenamen ansprach, auch wenn der ‘Kindergarten’ das vielleicht hören konnte, musste jetzt einfach egal sein. Sanft strich er ihn mit einem Daumen über die Wange und rutschte noch näher an ihn ran.   Seto konnte sehen, wie viel Mühe es den Kleineren kostete, die Worte in seinem Kopf auszusprechen, und wieder einmal bewunderte er ihn für seine Stärke, als er ihn sagen hörte: “Und dann ist er zum Angriff übergegangen. Hat gesagt, ich hätte es doch nicht anders verdient. Ich hätte ihn im Stich gelassen, wodurch er seine Wohnung verloren hat. Er… er hat gesagt, er hasst mich, dass ich nicht mehr sein Sohn wäre. Ich…”   Setos Verzweiflung schlug in pure Wut um. Wie kann dieser missratene Drecksack so von seinem Hündchen sprechen? Sein Zorn gab ihm jetzt offenbar den Mut, offener zu sprechen als er es bis hierhin geschafft hatte. Er blendete alles aus, weil er dafür sorgen musste, dass der Blonde nicht anfing, zu glauben, was sein idiotischer Vater da von sich gab.   “Joey, sieh mich an”, erklärte er, und der Blonde hob erneut seinen Blick, den er zunächst wieder gesenkt hatte. “Nichts, was er da gesagt hat, entspricht auch nur ein bisschen der Wahrheit. Nicht mal im Ansatz. Du hast mehr als genug für ihn getan, obwohl er davon nichts, aber auch gar nichts verdient hatte. Du bist so viel besser als er, Joey. Glaub mir, was er da von sich gegeben hat, sagt mehr über ihn selbst aus als über dich.”   Joeys Griff an seinem Ärmel verstärkte sich noch, als er erwiderte: “Aber Seto, wie kann er mich hassen? Habe ich mich nicht gut genug verhalten? Habe ich nicht alles für ihn getan? Habe ich als Sohn versagt?”   Das war es also, was ihn so mitnahm. Dass er Joey nicht mehr als Sohn erachtete. Seto konnte das zwar nur bedingt nachvollziehen, aber ein wenig verstehen konnte er es schon. Joey hatte in den letzten Jahren alles gemacht, um Anerkennung von seinem Vater zu bekommen, die ihm aber immer verwehrt wurde. Plötzlich erinnerte sich der Braunhaarige wieder daran, was Mokuba zu ihm gesagt hatte, als all das seinen Anfang nahm: dass Joey im Grunde einfach nur geliebt werden wollte. Er hatte immer die Liebe zu seinem Vater gesucht, und der heutige Tag hatte ihm den finalen Dolchstoß gegeben, gezeigt, dass all seine Hoffnungen völlig umsonst gewesen waren.   “Joey, das darfst du nicht glauben”, sagte Seto, und ein Hauch Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. “Du hast mehr getan, als du hättest tun müssen. Du darfst dir hier keine Schuld zuweisen. Du warst ein viel besserer Sohn, als er es jemals verdient hätte, aber er war nie der Vater, der er hätte sein müssen. Er hätte für dich da sein müssen, nicht andersherum.”   “Er hat recht, Joey”, übernahm Yugi erneut das Wort, und er konnte Gardner aus dem Augenwinkel heftig nicken sehen. Sie hatte sich bisher nicht in die Konversation eingemischt, aber es würde vermutlich auch nicht unbedingt helfen, wenn jetzt plötzlich alle auf Joey einredeten. Dennoch - Yugis Worte verfehlten auch dieses Mal ihre Wirkung nicht, und eigentlich hätte Seto eifersüchtig sein müssen, dass er es mit seinen Worten nicht geschafft hatte, diesen Effekt auszulösen, aber das stimmte so ja nicht. Immerhin bestätigte Yugi nur das, was Seto gerade gesagt hatte, und vielleicht half es Joey einfach, dieselbe Aussage von mehreren Menschen zu hören. Im Endeffekt war es auch egal - wichtig war, dass es ihm wieder besser ging, und Seto würde alles dafür tun, dass er es schaffte. Und wenn er dafür die Hilfe von Yugi oder den Anderen in Anspruch nehmen musste, dann war es eben so.   Als Seto Joey wieder intensiv in die Augen blickte, konnte er sehen, wie er sich ein wenig beruhigte, zwar sehr langsam, aber auch kleine Schritte waren Bewegungen in die richtige Richtung. Langsam versiegten seine Tränen, und Seto strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, als er sagte: “Du bist ein guter Mensch, Joey. Ich weiß selbst, wie es ist, wenn die Familie auseinandergerissen wird, aber du darfst nicht vergessen, dass er vermutlich nie wirklich Familie war. Aber du hast deine Mum und Serenity, die dir immer zur Seite stehen werden. Außerdem hast du zusätzlich eine neue Familie - mich und Mokuba. Vielleicht werden wir alle das Loch nicht vollständig stopfen können, dass dein Dad hinterlässt, aber Joey, ich werde es versuchen, solange du mich lässt.”   Joeys Blick wurde weicher, seine Augen weiteten sich ein wenig - vermutlich war er genauso überrascht wie Seto selbst, dass er diese Worte in Anwesenheit seiner Freunde laut ausgesprochen hatte. Seto spürte Joeys Hand an seiner Wange, bevor er sagte: “Seto, ich…” Der Braunhaarige gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und zog seinen Kopf an seine Brust, umarmte ihn innig. “Ich weiß, mein Hündchen, ich weiß. Vergiss niemals, dass ich immer bei dir sein werde. Wir schaffen das zusammen, okay?”   Und als er an seiner Brust das Nicken des Blonden wahrnehmen konnte, machte sich plötzlich Erleichterung in ihm breit. Er konnte spüren, wie Joey langsam wieder er selbst wurde, und fühlte, wie er seine Umarmung erwiderte, als er seine eigenen Arme um Setos Körper schlang.   Stumm saßen sie einige Minuten so da, auch der ‘Kindergarten’ machte keinen Mucks und ließ ihnen ihren Moment in Frieden. Joey löste sich als Erster wieder, und Seto war erstaunt, ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen sehen zu können. Er wirkte noch immer kraftlos und erschöpft, aber wer wäre das nach so einem Tag nicht?   “Danke, Seto. Ohne dich wäre ich verloren.” Der Braunhaarige konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern. “Nein, ich denke, es ist eher anders herum.” In Joeys Blick lag so viel Verbundenheit, dass es ihm einen wohligen Schauer über den Rücken bescherte, und das Lächeln beider Männer intensivierte sich noch mal ein wenig.   “Besser?”, fragte Seto und konnte Joey nicken sehen. “Ja. Lass uns von hier verschwinden.” Seto stand auf und streckte Joey seine Hand hin, die er dankend annahm. Schon wieder überkam Seto ein Déjà-Vu, als er Joey offenbar mit einem My zu viel Kraft hochzog und dieser an seiner Brust landete. Es erinnerte ihn an ihr ‘Date’ - auch wenn sie es damals niemals so genannt hätten - im Sportraum der Villa, und dieser Gedanke schenkte ihm eine erneute Gänsehaut, die sich auf seinem ganzen Körper ausbreitete.   Joey gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange, dann löste er sich von ihm, ohne das selige Lächeln zu verlieren. Seto fand es wunderbar, dass er ihn erneut aus der Dunkelheit befreien konnte, wenn auch nicht ganz ohne Hilfe. Nun merkte er, wie kräftezehrend dieser Tag auch für ihn selbst gewesen war. Daher sagte er: “Wollt ihr schon mal rausgehen? Ich komme gleich nach.” Joey war zwar verwundert, akzeptierte aber seinen Wunsch nach einem kurzen Moment Ruhe - immerhin war klar, dass da draußen wieder eine Horde an Journalisten auf ihn warten würde. Bevor er sich dem stellte, musste er kurz mal durchatmen.   Gemeinsam mit Gardner und Taylor verließ der Blonde die Toilette - nur Yugi rührte sich nicht von der Stelle. Seto lehnte sich mit dem Rücken gegen die kühle, weiß geflieste Wand und schloss für einen kurzen Moment die Augen, atmete tief ein und aus.   “Du magst ihn sehr, oder, Kaiba?” Seto sah zu dem Kleineren mit den bunten Haaren rüber und versuchte mit aller Macht, seine typische Kaiba-Maske aufzulegen, aber er hatte den Verdacht, dass es ihm nur mittelmäßig gelang. Dieser Tag hatte ihn mehr Energie gekostet, als er es sich gewünscht hätte.   Er drehte seinen Blick wieder von Yugi weg - er versuchte angestrengt, dagegen anzukämpfen, aber er wusste, es war hoffnungslos. Also nickte er zaghaft, sein Gesichtsausdruck blieb aber ernst. Er hörte Yugi freundlich lachen, und gerade als er ihm als Antwort darauf einen vernichtenden Kaiba-Blick zuwerfen wollte, kam ihm Yugi zuvor, indem er erneut sprach. “Das hat man wirklich gesehen. Ehrlich, als ihr uns eröffnet habt, ihr wärt zusammen, habe ich es wirklich nicht glauben können. Ich meine, ihr wart wohl immer die größten Streithähne, die ich je gekannt habe.” Erneut musste Yugi lachen.    Er hatte auf jeden Fall recht mit dem, was er sagte. “Es hat sich so viel verändert, seit ich den wahren Joey kenne.” Verdammt, hatte er das gerade laut gesagt? Yugis Gesichtsausdruck nach zu urteilen wohl schon. Yugi erwiderte seufzend: “Kaiba, du brauchst dich nicht schlecht zu fühlen, wenn du sowas laut aussprichst. Jetzt schau doch nicht so verblüfft, das habe ich dir genau angesehen. Wir sind Joeys beste Freunde, und es ist eigentlich auch ziemlich egal, warum ihr zusammen seid oder wie das gekommen ist. Wichtig ist, dass er glücklich ist. Okay, klar, heute sah er nicht wahnsinnig fröhlich aus, aus nachvollziehbaren Gründen, aber ohne dich wäre er nicht aus diesem Loch rausgekommen, da bin ich mir sicher. Und ich habe doch gesehen, wie er dich anschaut. Was auch immer du für ihn empfindest, er fühlt es auch für dich, das war klar zu sehen. Und ob du das jetzt hören willst oder nicht: Joeys Freunde sind auch unsere Freunde. Du kannst uns vertrauen, wir sind auf deiner Seite. Auf eurer. Du bist jetzt auch ein Teil dieser Gruppe.”   Yugi konnte sich ein Grinsen offenbar nicht verkneifen, als er Setos schockierten Gesichtsausdruck betrachtete. “Ja, dass dich das aus der Fassung bringen würde, habe ich mir fast schon gedacht. Ich geh’ dann schon mal zu den Anderen, du kannst ja dann nachkommen, wenn du dich wieder gefangen hast.” Yugi winkte ihm noch ein Mal kurz zu, dann war er verschwunden - und hinterließ einen mehr als verwirrten Seto Kaiba.   Okay, nochmal von vorne: Er war jetzt Teil des ‘Kindergartens’? Das konnte ja wohl nur ein schlechter Scherz sein. Er würde niemals Teil der Gummibärenbande werden wollen. Diese Gruppe bestand immerhin aus nichts als Versagern - okay, gut, wenn man mal von Joey absah. Na ja, und Yugis Erfolge in Duel Monsters waren auch unbestreitbar. Argh, nein, er durfte sich von den scheinbar netten Worten des Kleineren nicht einfach so einlullen lassen! Er war immerhin Seto Kaiba, war CEO einer international erfolgreichen Spiele-Firma und stand damit deutlich über diesem kleinen Karnevalsverein! Er konnte nur hoffen, dass Joey jetzt nicht auch auf die glorreiche Idee kam, ihn krampfhaft in diese Gruppe Spinner integrieren zu wollen. Für Joey würde er so ziemlich alles tun, aber das war dann doch eher ein Hardlimit.   Aber da war noch etwas anderes, das Yugi gesagt hatte, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging: Fühlte sein Hündchen genauso für ihn? Liebte er ihn? Und wie konnte er rausfinden, ob dem so war? Er konnte ihn ja schlecht einfach so fragen. Oder? Vielleicht würde es helfen, wenn er es ihm nochmal sagen würde? Aber was, wenn Yugi sich irrte? Machte sich Seto dann nicht zum absoluten Volldeppen, wenn Joey noch nicht so weit war?   Es war doch alles zum Mäusemelken! Und wie absurd diese Situation war: Er stand hier, in einer Toilette, in der er noch vor wenigen Minuten versuchte, sein Hündchen zu beruhigen, während er mit ihm auf den kalten Fliesen des Bodens saß. Das hatte zwar gut geklappt, aber am Ende durfte er sich dann die wirklich arg abstrusen Gedanken von Yugi anhören, dem er jetzt dafür danken konnte, dass er noch immer hier stand und sich den Kopf darüber zerbrach, ob Joey für ihn dasselbe empfand.   Seufzend stieß er sich von der Wand ab. Es half nichts, er würde einfach erstmal abwarten, was passieren würde. Irgendwann würde ihm schon eine Blitzidee kommen, er war immerhin Seto Kaiba. Und bis dahin würde er einfach dafür sorgen, dass es seinem Hündchen wieder besser ging. Mit diesen Gedanken verließ er den Toilettenraum und machte sich auf die Suche nach dem ‘Kindergarten’, bei denen er auch das Hündchen vermutete, nach dem er so süchtig war. Kapitel 22: Rescue me... from my love for you --------------------------------------------- Genau eine Woche später wurde das Urteil gegen seinen Vater gefällt. Der Gerichtsprozess hatte an Joeys Nerven gezehrt und er war heilfroh, dass es nach dem heutigen Tage zumindest erst mal ein jähes Ende finden würde. Vielleicht würde er dann endlich mit allem abschließen können, wenn sein Vater seine gerechte Strafe erhalten hatte und antreten würde.   Tatsächlich bekam er sogar die Höchststrafe, die für ein solches Vergehen vorgesehen war, nämlich fünf Jahre Gefängnis. Als der Richter dieses Urteil verkündet hatte, war sein Dad wütend aufgesprungen und hatte seinem Unmut darüber Luft gemacht. Hatte den Richter förmlich angeschrien und ihm Beleidigungen an den Kopf geworfen, und Joey kam nicht umhin sich zu fragen, wie dämlich sein Dad war. Glaubte der ältere Mann tatsächlich, dass er damit seine Strafe mindern konnte? Er machte sich absolut lächerlich und schien es nicht mal zu merken. Der Richter sah das wohl ähnlich wie der Blonde, hatte ihn mehrfach zur Ruhe ermahnt, damit er das Urteil vollständig verkünden konnte, aber das hatte seinen Dad herzlich wenig interessiert.   Nachdem der Richter es dann doch geschafft hatte, gegen das Brüllen seines Vaters das komplette Urteil zu verlesen, wurde dieser aus dem Verhandlungssaal entfernt – in Handschellen. Das gab Joey eine wahnsinnige Genugtuung – er war frei, konnte sein Leben nach Belieben gestalten, während sein Vater die nächsten Jahre hinter Gittern verbringen würde. Endlich war der Tag gekommen, an dem er für all das bestraft wurde, was er ihm jemals angetan hatte. Zwar schickte ihm sein Dad hasserfüllte Blicke, schrie ihm sogar ein letztes Mal entgegen, was für ein abartiger Bastard von Sohn er war, aber all das prallte nun an Joey ab. Noch vor einer Woche, als das Gericht zusammen gekommen war, um über seinen Fall zu verhandeln, da hatte es ihn tief berührt, bewegt, dass er niemals die Liebe seines Vaters haben würde. Aber durch seine Freunde und nicht zuletzt auch durch Seto hatte er gelernt, dass er gut auf eine ‚Liebe‘ verzichten konnte, die ihn zu einem Leben in Sklaverei verdonnern würde, in dem er seinem Dad vollkommen untertan war.   Und als sein Dad da so aus dem Saal abgeführt wurde, da verabschiedete er sich innerlich von ihm. Ab heute würde er keinen Vater mehr haben, wenn er ihn denn überhaupt jemals gehabt hatte. Vielleicht war er ein richtiger Dad gewesen, als seine Eltern noch zusammen gewesen waren, aber er hatte es nicht geschafft, diese Vorbildfunktion aufrecht zu erhalten, nachdem sie sich getrennt hatten. Eigentlich hatte er sich immer nur gewünscht, einen Vater zu haben, zu dem er aufsehen konnte. Der mit ihm Fußball spielte, über die Mathehausaufgaben grübelte, ihn bei seinem ersten Liebeskummer in den Arm nahm und ihm sagte, dass alles gut werden würde. Aber nichts davon ist auch nur im Entferntesten eingetreten, ganz im Gegenteil. Und doch – trotz alledem fiel Joey der Abschied von seinem Vater schwer, weil es auch bedeutete, dass all die Hoffnungen, all die Wünsche, die er unbewusst über die Jahre aufgebaut hatte, nun vollkommen verpuffen und für immer unerfüllt bleiben würden. Er würde niemals einen Vater haben, denn der Mann, der gerade abgeführt wurde, konnte sich höchstens Erzeuger schimpfen. Ein richtiger Dad war er nie gewesen.   Und trotz dieses Anflugs von Schmerz überwog in Joey doch ein viel stärkeres Gefühl – Erleichterung. Nicht nur, weil er die Höchststrafe erhalten hatte und nun für alles büßen würde, was passiert war. Joey erkannte außerdem, dass er niemals wie sein Dad werden würde. In letzter Zeit war dieser Gedanke immer häufiger aufgetaucht und hatte sich hartnäckig in seinem Kopf eingenistet. Denn auch der Blonde schreckte in der Vergangenheit vor roher Gewalt nicht zurück, vermutlich würde er das noch immer nicht, das kam ganz auf den individuellen Fall an. Er würde alles tun, um diejenigen zu beschützen, die ihm wichtig waren, dafür war ihm so ziemlich jedes Mittel recht, sofern es sich um ein einigermaßen Legales handelte. Was er allerdings niemals tun würde, wäre genau diese Menschen ernsthaft zu verletzen, die er so sehr mochte und mehr als alles in seinem Leben brauchte. Und das war der große Unterschied zwischen ihnen beiden, der, der Joey zu einem menschlichen Wesen machte, dem andere etwas bedeuteten, und seinen Dad im Vergleich dazu regelrecht animalisch werden ließ. Der Blonde erinnerte sich auch immer wieder an die Worte, die Seto ihm nun schon so oft gesagt hatte: Jeder entschied selbst über sein Leben. Und Joey hatte beschlossen, dass er niemals so werden würde wie dieses Tier von Vater, dem er nun keinen Platz mehr in seinem Leben einräumen würde.   Als sein Dad abgeführt wurde, konnte er Seto wütend schnaufen hören, der auf dem Stuhl neben Joey saß. Der Blonde analysierte ihn genau und konnte dabei feststellen, wie der Brünette von einer Wut eingenommen wurde, die doch sonst eher Joey befiel. Er sah, wie Seto die Hände zu Fäusten ballte und seine Atmung sich beschleunigte. Joey amüsierte sich ein wenig darüber, fühlte es sich doch an, als hätten sie die Rollen getauscht. Und als Seto ihm einen Blick zuwarf und das leichte Lächeln auf Joeys Lippen erkannte, da schien ihm das auch bewusst zu werden. Sie saßen in der hintersten Reihe im Raum, und dennoch wusste Joey, dass jede Berührung auch ein Risiko war, aber er konnte es nicht verhindern, dass eine seiner Hände sanft die Oberschenkel des Mannes berührte, der ihn gerettet hatte – auf jede erdenkliche Art und Weise. Setos Augenfarbe veränderte sich ein wenig aufgrund der Berührung und er konnte eine Sehnsucht aufblitzen sehen, der sie beide in diesem Augenblick nicht würden nachgeben können. Joey löste die leichte Berührung wieder, ohne dass jemand anderes auch nur im Ansatz etwas davon mitbekommen hätte, und intensivierte sein Lächeln noch für seinen Drachen, der für ihn die Welt bedeutete.   Und nun stand er hier, am Ufer eines Flusses, gemeinsam mit Seto und seinen Freunden, die ebenfalls bei der Urteilsverkündung dabei gewesen waren, und beobachtete, wie die rosafarbenen Blüten der Kirschbäume die Wege und das Wasser gänzlich vereinnahmten. Sie waren direkt im Anschluss an den Gerichtstermin zum Kirschblütenfest aufgebrochen. Die Bäume standen mittlerweile in voller Blüte und ihre Blätter wurden vom seichten Luftstrom in alle Himmelsrichtungen verteilt. Um Joeys Nase wehte ein sanfter, warmer Wind, und die Sonnenstrahlen kitzelten ihn im Gesicht. Es war wärmer geworden und keine einzige Wolke mehr am Himmel zu sehen, und es war so, als ob alles, was ihm vorher die Sicht vernebelt hatte, mit einem Mal wie weggeblasen war. Es fiel ihm wieder leichter, sich zu konzentrieren, und er hatte eine Ruhe in sich selbst gefunden, wie er es noch vor wenigen Monaten kaum für möglich gehalten hätte.   Joey hob seinen Blick und kam nun gänzlich zurück in die Realität. Der Weg war von beiden Seiten gesäumt von den verschiedensten Ständen mit vielerlei Leckereien. Er konnte Tristan in der Ferne vergnügt quieken hören, während Téa und Yugi neben ihm belustigt darüber kicherten. Sein Drache stand links von ihm und war ihm nicht von der Seite gewichen, seit sie das Gerichtsgebäude verlassen hatten, und Joey kam nicht umhin zu glauben, dass es genau so sein musste. Joey wusste, sein Platz war genau dort und er würde es niemals anders haben wollen.   Gemeinsam mit der Gruppe schlenderten sie die Wege entlang, vorbei an Alleen von Kirschbäumen, und im Hintergrund konnten sie das Wasser des Flusses leicht rauschen hören. Es war ein wunderschöner Tag, der Joey darauf hoffen ließ, dass ihn in seinem Leben noch so viel Positives erwarten würde. Und wenn nicht, wusste er, dass der Mann mit den faszinierenden eisblauen Augen neben ihm da sein und seine Hand halten würde, wenn auch nur metaphorisch, und mit ihm alles durchstehen würde. Der Blonde war nicht so naiv zu glauben, dass das Leben ihn von nun an nur noch mit seinen schönen Seiten beglücken würde. Es würden noch viele Hindernisse und Stolpersteine auf ihn warten, die es zu überwinden galt. Aber er hatte einfach das absolut sichere Gefühl, dass nichts davon ihn mehr zu Boden zwingen könnte, solange Seto an seiner Seite war.   In diesem Moment blickte er zum Braunhaarigen hoch. Sein Blick war fokussiert nach vorn gerichtet und Joey erheiterte es noch immer sehr, wie unwohl er sich in einer Gruppe mit seinen Freunden fühlte. Yugi hatte ihm vor ein paar Tagen von seinem Gespräch mit Seto berichtet, als er ihm eröffnet hatte, er wäre jetzt Teil dieser Gruppe. Joey hatte noch im selben Augenblick den Schluck Tee ausgespuckt, den er gerade versucht hatte, zu trinken, und konnte sich ein schallendes Lachen nicht verkneifen. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie Seto darauf reagiert haben musste, und jetzt gerade merkte Joey, wie sehr der Brünette auf der Hut war. Was Yugi nicht verstanden hatte, war, dass man einen Seto Kaiba nicht zu etwas drängen oder ihn einfach zu einem Teil von etwas werden lassen konnte, nur, weil man es für sinnvoll oder notwendig hielt. Seto musste das selbst entscheiden, das wusste Joey mittlerweile genau. Natürlich würde Seto sich von logischen Argumenten überzeugen lassen können, aber Freundschaft war für ihn eben nicht so nachvollziehbar wie für Joey, Tristan, Téa und Yugi. Dennoch würde der Blonde versuchen, ihn zu einem Teil der Gruppe werden zu lassen, vielleicht würde es ja doch irgendwann gelingen, egal wie sehr sich Seto auch dagegen sträubte.   In just diesem Augenblick wehte ihnen ein leichter Wind ins Gesicht und Joey beobachtete, wie einzelne Strähnen erst aus und dann wieder in Setos Stirn gepustet wurden. Der Brünette schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen, so als ob er die sanfte Berührung der Luft auf seiner Haut genoss und das Gefühl in sich aufsaugen wollte. Etwas an dieser Situation fühlte sich sinnlich für Joey an und die Sehnsucht, die weiche Haut von Setos Wangen zu berühren, wuchs ins Unermessliche. Er konnte seine Augen einfach nicht abwenden und musste schlucken. Setos Mund war leicht geöffnet, nur die äußersten Ränder seiner Lippen berührten sich noch flüchtig. Joey biss sich behutsam auf die Unterlippe, um dem Drang, ihn auf der Stelle zu küssen, zu entkommen.   „Du starrst mich an, Hündchen“, stellte der Brünette fest, und Joeys Blick, zuvor verklärt und benebelt, glitt nun von Setos Lippen zu seinen Augen, die noch immer nach vorn gerichtet waren.   Joey stieß einen Seufzer aus. „Ich weiß, tut mir leid, ich kann manchmal einfach nicht anders.“   Seto erwiderte nichts darauf, quittierte das ausschließlich mit einem verhalten angedeuteten Lächeln, und Joey wusste, dass Seto wohl ab und zu dasselbe Schicksal ereilte.   „Hey, Leute!“, hörte er Téa neben sich rufen. „Da hinten wäre doch ein super Platz für unser Picknick, oder?“ Joey folgte ihrem ausgestreckten Arm in die Richtung, in die sie zeigte und erkannte eine große Wiese, die scheinbar zu einem Park gehörte. Der Ort war ein wenig höher als der Weg, auf dem sie gerade liefen, sodass sie noch immer einen tollen Blick über den Fluss haben würden. Er musste Téa zustimmen – der Platz war perfekt!   Also machte sich die Gruppe gesammelt auf den Weg dahin. Sie breiteten ihre Decken unter den voll in Blüte stehenden Kirschbäumen aus, und schon rieselten die ersten rosa Blätter auf sie hinab. Joey genoss dieses Gefühl, das das in ihm auslöste, und legte sich mit dem Rücken auf eine der Decken. Er schloss kurz die Augen, genoss den Duft der Kirschbäume und ein beseeltes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Er stützte seinen Kopf mit seinen Händen ab und sah nach oben, wo er Seto bemerkte, der sich neben ihn gesetzt hatte. Die Sonnenstrahlen berührten zart sein Gesicht und ließen seine perfekte Haut erstrahlen, genauso wie seine Augen, die durch das Licht eine Nuance heller wurden. Joey musste den Blick abwenden, als die Sonne ihn plötzlich mitten in die Augen traf und blendete, aber er speicherte dieses göttliche Bild von seinem Drachen in Gedanken ab, brannte es in seinen Kopf ein, auf dass er es nie vergessen möge.   Als alle Anderen ihr mitgebrachtes Essen auspackten, setzte sich auch der Blonde wieder auf und kramte die Behälter hervor, in die sie ihr vorbereitetes Essen getan hatten. Ein winziges Lächeln überkam ihn, als ihn die Erinnerung an die Zubereitung einholte. Mokuba hatte ihm unbedingt helfen wollen, während Seto nur ausdruckslos daneben gestanden hatte. Joey wusste, dass Seto es niemals zugeben würde, weil er ja immer so vehement behauptete, er würde alles können, aber wenn man mal ehrlich war – kochen konnte der Größere nicht. Joey hatte da schon etwas mehr Übung, und er war auch gar nicht so schlecht darin. Er bereitete verschiedene Bento zu, mit Reiskugeln, zu Oktopussen geschnitzte Würstchen, süßem und herzhaftem Omelett, gebratenem Lachs und viel Gemüse – Vitamine waren schließlich wichtig!   Die Freunde platzierten ihre Mitbringsel in der Mitte der Decken und Joey lief schon das Wasser im Munde zusammen, doch bevor er sich auf das leckere Buffet stürzen konnte, erhob Yugi die Stimme.   „Hey, Joey, bevor wir anfangen, wollte ich nur noch kurz was loswerden.“   Neugierig schaute er den Kleineren mit den bunten Haaren an, auch alle anderen Augenpaare waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet, dann sprach dieser weiter. „Ich wollte eigentlich nur kurz sagen, dass du echt unheimlich stolz auf dich sein kannst. Wirklich, wie du das durchgestanden hast, das war echt enorm, Joey. Das hast du richtig gut gemacht.“   Auch wenn Yugis Ton ein bisschen was davon hatte, wie man mit einem Grundschüler sprechen würde, so berührte es Joey doch. Er sah seine Freunde zustimmend nicken und empfand tiefe Dankbarkeit dafür, sie als Weggefährten in seinem Leben zu wissen.   Verlegen legte er eine Hand an seinen Hinterkopf und grinste. „Ach was, das war doch gar nichts. Außerdem musste ich das ja nicht alleine durchstehen. Ehrlich, Leute, ohne euch hätte ich das wahrscheinlich nicht gepackt. Also danke, dass ihr mir da durchgeholfen habt.“   Tristan verschränkte die Arme vor der Brust und setzte ein angriffslustiges Lächeln auf. „Mann, Alter, wie kitschig das klingt. Hat der Eisklotz da dich jetzt so richtig schön weich gespült, ja?“   Der Blonde fletschte die Zähne, erhob sich mit einem Ruck und ging zielstrebig auf Tristan zu. Er packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich hoch, dann rief er: „Sag das noch mal, du Idiot! Wer ist hier weich gespült, hä?“   Sofort wurden sie von Yugi und Téa auseinandergerissen, auch wenn beide noch immer versuchten, sich zu befreien und aufeinander loszugehen. Wenige Augenblicke später lachte Tristan laut auf und ging in den Verteidigungsmodus über. „Schon gut, Joey, hat ja keiner gesagt, dass das was Schlechtes ist. Solange du glücklich bist.“ Mit einem Schulterzucken und leicht verlegen setzte sich Tristan wieder auf seine vier Buchstaben.   „Aha, und wer ist jetzt hier der Weichgespülte von uns beiden?“, brachte Joey grinsend hervor, bevor auch er sich mit einem lauten Rumms zurück auf seinen Platz setzte, direkt neben Seto. Das war offensichtlich das Stichwort, denn seine Freunde machten sich sofort über das gesamte Essen her, nichts blieb mehr an dem Platz, an dem es vorher stand, und Joey musste vergnügt loszuprusten.   Seine Freunde achteten nicht weiter auf ihn und er überließ ihnen das Feld - zumindest vorerst. Er rückte ein Stück näher an Seto heran, sodass sich ihre beiden Hände, auf die sie sich aufstützten, fast schon berühren konnten. Joey hatte solche Sehnsucht nach ihm, vermisste das Gefühl seiner Finger auf seiner eigenen Haut. Seto sah ihn nun an, mit diesem intensiven Blick, der so durchdringend war, dass Joey das Gefühl hatte, er könnte ihm geradewegs in die Seele blicken. Er verlor sich in dem lebhaften Blau seiner Augen und wollte ihm so viel sagen, aber er wusste, er konnte nicht, nicht hier, nicht in aller Öffentlichkeit. Also tat er, was er immer tat, wenn ihm keine andere Möglichkeit blieb, um sein Verlangen nach seinem Drachen zu befriedigen: Er holte sein Handy raus und tippte eine Nachricht, auch wenn er sich ziemlich bescheuert dabei vorkam, saß Seto doch nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Aber es war besser als gar nichts.   ‚Dir möchte ich auch danken, Seto. Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft. Danke, dass du an mich geglaubt hast und mich so weit gebracht hast. Das werde ich dir nie vergessen.‘   Überraschung blitzte in Setos Augen auf, als er die Vibration seines Handys spürte. Trotzdem holte er es sofort heraus und las Joeys Nachricht, und während er sie überflog, konnte der Blonde ihn scharf ausatmen hören. Dann sah er, wie er eine Antwort tippte, und konnte es kaum abwarten. Er war süchtig nach jedem Wort, das er ihm würde geben können, das war eine Tatsache.   ‚Mein Hündchen, ich bin mir sicher, du hättest es auch ohne mich hinbekommen. Du bist so stark. Und natürlich glaube ich an dich, warum sollte ich auch nicht? Ich habe nie an dir gezweifelt und ich werde jetzt nicht damit anfangen.‘   Joeys Herz setzte für eine Sekunde aus. Es war einfach krass, was für eine Wirkung Seto auf ihn hatte, ohne dass er diese Worte laut aussprechen musste.   ‚Vielleicht hätte ich es auch ohne dich gepackt, aber was, wenn ich das nicht will?  Ich brauche dich in meinem Leben, Seto. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, auch nur eine Nacht ohne dich einzuschlafen, oder morgens nicht neben dir aufzuwachen. Ich will dich, mehr als ich jemals irgendetwas gewollt habe.‘   Er hörte den Braunhaarigen leise neben sich aufstöhnen und wagte einen kurzen Blick in seine Augen – sie strahlten so viel Begierde aus, dass Joey Mühe hatte, diesem Blick lange standzuhalten. Nur Sekunden später wandte sich Seto wieder ab, um eine Antwort zu formulieren, und egal, was es auch war, was Joey gleich zu lesen bekommen würde, er wurde schon wieder in diesen Strudel aus Verlangen gezogen, aus dem er nicht würde ausbrechen können, wenn ihn niemand stoppte. Und das störte ihn nicht die Bohne.   ‚Und ich will dich, Joey. Manchmal, da werde ich morgens vor dir wach und kann dich noch ein bisschen beobachten. Du siehst so friedlich aus, wenn du schläfst. Ich kann es dann immer gar nicht glauben, dass ich neben dir aufwachen darf. Dass du gerade mich in deinem Leben haben willst. Und genau in solchen Momenten frage ich mich dann, womit ich dich verdient habe.‘   Joey musste sich ernsthaft zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er spürte, wie ihm schon wieder ein wenig schwindelig wurde. Was machte dieser Drache nur mit ihm? Aber er wollte mehr, noch viel mehr von ihm hören, jedes Wort, jede Silbe in sich aufsaugen und fest in seinem Herzen verschließen. Also versuchte er, eine Antwort zu tippen, die dennoch nur in Ansätzen das ausdrücken konnte, was er für ihn fühlte.   ‚Womit du das verdient hast? Seto, du bist alles für mich. Ohne dich gäbe es mich gar nicht mehr. Ich bin es, der sich diese Frage stellen sollte. Warum rettest du mich, immer und immer und immer wieder? Warum lässt du mich nicht einfach fallen?‘   Joey hielt den Atem an, bis sein Handy erneut aufsummte und eine Erwiderung des Brünetten ankündigte, die er sofort gierig zu lesen begann.   ‚Weil ich mit dir fallen würde, Joey. Und sollte das mal passieren, dann tue ich es, ohne mit der Wimper zu zucken. Weil ich mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen kann, nicht mehr. Du bist es, der mich gerettet hat, vor einem Leben ohne einen wirklichen Sinn. Klar, ich habe meine Firma und Mokuba, und natürlich ist mir das wichtig, ich würde lügen, wenn ich was anderes behaupten würde. Aber wenn ich heute so zurückblicke, da merke ich erst, wie ziellos ich eigentlich durchs Leben gelaufen bin. Von einer Aufgabe zur nächsten, von einer Herausforderung zur anderen. Erst jetzt gibt es etwas, das mir in meinem Leben die Richtung weist, ihm einen eigentlichen Sinn gibt. Und dieser Sinn bist du, Joey.‘   Joey musste seinen Blick von seinen Freunden abwenden, die offensichtlich noch immer allzu sehr damit beschäftigt waren, kurzen Prozess mit ihrem Essen zu machen. Und es war gut, dass niemand auf ihn achtete, weil er die Tränen nun nicht mehr vollständig zurückhalten konnte. Er drehte sich für einen Moment um, wandte seinen Freunden den Rücken zu, setzte sich in einen Schneidersitz, legte sein Handy vor seinen Beinen ab und ließ seinen Tränen für einige Sekunden freien Lauf. Dann hob er seinen Kopf erneut an und blickte Seto in die Augen. Was konnte Joey nur darauf antworten? Die Worte schwirrten ihm chaotisch durch den Kopf und er konnte einfach keine davon greifen, und selbst wenn, nichts davon klang auch nur annähernd so perfekt wie das, was Seto gerade geschrieben hatte.   „Joey...“, hörte er Seto leise neben sich flüstern, und seine Augen sprachen Bände. Nein, Joey durfte nicht aufgeben, er musste zumindest versuchen, ihm das zu geben, was er selbst von ihm so oft erhielt. Also schnappte er sich sein Handy und ließ die Worte fließen.   ‚Ich hab‘ keine Ahnung, was ich darauf antworten soll, Seto. Nichts fühlt sich gut genug an. Ich hab‘ das Gefühl, die Worte, die beschreiben könnten, was ich dir sagen will, was du mir bedeutest, wurden noch gar nicht erfunden. Wie bescheuert eigentlich, ist ja nicht so, als wärst du immer der von uns beiden gewesen, der gut mit Worten konnte, aber vielleicht hat sich das geändert. Wie so vieles anderes auch. Du hast mich verändert, Seto. Ich bin zu einer besseren Version meiner selbst geworden, von der ich nie geglaubt habe, dass sie eigentlich in mir steckt. Aber du hast sie aus mir rausgeholt.‘   Er schickte diese Nachricht ab, hatte aber das Gefühl, noch gar nicht alles gesagt zu haben, was er sagen wollte, und während Seto diese Zeilen überflog, tippte Joey erneut in sein Handy.   ‚Ich will einfach nur bei dir sein. Nirgendwo sonst fühle ich mich wohler. Selbst wenn du nur neben mir läufst oder meine Hand hältst. Gott, Seto, ich will dich jetzt so gern küssen, dich umarmen und dir sagen, wie viel du mir bedeutest. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ich dabei versagen würde, weil einfach nichts, was ich sagen könnte, gut genug wäre.‘   Nun drehte sich der Blonde so, dass er Seto direkt gegenübersaß. Alles in ihm wollte ihn anfassen, seine Lippen auf die des Brünetten legen und ihn überall spüren. Seto sah ihn mit verklärtem Blick an, sein Mund leicht geöffnet, und er fuhr gedankenverloren mit seiner Zunge darüber, was Joey sofort den Atem raubte. Er beobachtete, wie Seto sein Handy nahm und kurz stockte, dann aber doch wieder anfing, eine Nachricht zu verfassen.   ‚Das kenne ich gut, Joey. Ich hatte lange Zeit das Gefühl, nichts könnte auch nur im Entferntesten ausdrücken, was ich für dich empfinde. Aber ich glaube, mittlerweile habe ich die Worte gefunden, die es zumindest ein wenig besser zusammenfassen können.‘   Nachdem Joey diese Nachricht gelesen hatte, blickte er auf und betrachtete Seto, der sich ihm jetzt auch zugewandt hatte. Sein Handy lag noch immer in seinen eleganten Händen und Joey konnte Begierde in seinen Augen aufflackern sehen. Er schien mit sich zu ringen, doch dann drückte er den ‚Senden‘-Knopf, ohne den Blick von Joey zu lösen. Zunächst konnte der Blonde sich nicht bewegen, selbst dann noch nicht, als er das Vibrieren seines Telefons in seinen Händen spüren konnte. Joey musste schlucken, wurde plötzlich nervös, doch dann öffnete er die Nachricht auf seinem Handy.   ‚Ich liebe dich, Joey. Mit jeder Faser meines Herzens. Und ich werde jeden Tag meines Lebens damit verbringen, dir das zu beweisen.‘   Joey blieb die Luft weg. Nun hatte er es schwarz auf weiß. Er liebte ihn. Oh Gott, er liebte ihn! Seine Finger fingen an zu zittern und er hatte nicht mehr genügend Kraft, um sein Telefon zu halten. Er hatte kurzzeitig das Gefühl, ohnmächtig zu werden, aber er musste bei vollem Bewusstsein bleiben.   Joey legte eine Hand auf die von Seto. Scheiß drauf, was die anderen Leute denken würden. Er konnte nicht mehr, und er wollte auch nicht mehr. Sehnsüchtig blickte er ihm in diese markant blauen Augen. Ihm fehlten die Worte, weil alle Emotionen auf einmal auf ihn einbrachen, doch dann versuchte er es, auch wenn kaum mehr als ein Flüstern aus ihm rauskam: „Seto... ich... ich... li-“   „Hey, ihr zwei Turteltäubchen! Lust auf einen Verdauungsspaziergang?“ Äh... was...? Verwirrt blickte er zu der Stimme auf, die ihn wohl gerade angesprochen hatte, und bemerkte, dass sie zu Téa gehörte. Er hatte in der letzten halben Stunde die gesamte Welt um sich herum völlig ausgeblendet, war wieder zurück in der Blase, die nur Seto um sie herum errichten konnte, in der nichts zählte außer sie beide. Noch immer wie in Trance fand er langsam in die Realität zurück. Seine Freunde erhoben sich von ihren Plätzen, streckten und reckten sich und fingen an, die Decken und Behälter zusammen zu packen, und Joey stellte fest, dass er das Essen überhaupt nicht angerührt hatte. Wobei er zugeben musste, dass er auch überhaupt keinen Hunger mehr hatte, zumindest nicht auf feste Nahrung. Das Einzige, wonach er sich jetzt verzehrte, war dieser Mann direkt vor ihm, der ihn noch immer unablässig mit seinen Blicken vereinnahmte.   Wie mechanisch erhoben sich nun auch Joey und Seto von ihren Plätzen. Keiner von beiden wusste, was er sagen sollte, und vielleicht gab es auch einfach nichts zu sagen. Aber Joey konnte spüren, wie diese eine Nachricht, diese wenigen Buchstaben und noch weniger Worte, seine ganze Welt verändert hatten.   Noch immer völlig in Gedanken, folgten die beiden der Gruppe im Gleichschritt. Joey hatte seine Hände in seinen Jackentaschen vergraben und Seto tat es ihm gleich, lief nah bei ihm, und Joey konnte seine Präsenz überall in seinem Körper spüren. Die Clique kam an einem der Stände zum Stehen, aber Joey konnte sich überhaupt nicht darauf fokussieren, oder gar dafür interessieren, was ihre Aufmerksamkeit so erregte. Seine Gedanken waren einzig und allein bei dem Braunhaarigen, der es so perfekt beherrschte, ihn um den Verstand zu bringen.   Während die Freunde was auch immer an dem Stand machten, wies Seto ihm mit einer dezenten Kopfbewegung den Weg zu einer Bank. Sie setzten sich, aber Joey wusste noch immer nicht, was er sagen sollte. Sein Blick glitt in die Ferne, beobachtete, wie die Blüten der Kirschbäume sich langsam ihren Weg zum Boden bahnten. Irgendetwas daran fand er unheimlich befriedigend. Und plötzlich sprudelten die Wörter einfach so aus seinem Mund, ohne, dass er groß darüber nachdachte, was er sagte.   „Weißt du noch“, begann er und zog sofort Setos Aufmerksamkeit auf sich, „damals, bei dem Klavierkonzert, als ich meinte, dass Glück vergänglich sei? Die Kirschblüten erinnern mich jetzt sehr daran. Nur wenige Wochen im Jahr stehen sie in voller Blüte, fallen zu Boden und sind schon kurze Zeit danach nicht mehr da. Es ist wie im Leben selbst: Man existiert nur temporär, denn auch das Leben ist vergänglich.“   Mit einem stillen Seufzen drehte Joey seinen Kopf in Setos Richtung, der ihn mit sanftem Blick anschaute. Der Blonde konnte nicht verhindern, dass sich ein glückseliges Lächeln auf seine Lippen legte, als er den warmen Ausdruck seines Drachen erwiderte.   „Und wenn das so ist, sollte man dann nicht das Beste aus der Zeit rausholen, die man hat? Ich für meinen Teil könnte mir nichts Besseres vorstellen, als jeden Tag meines Daseins mit dir zu verbringen. Und wenn man nur einmal lebt, dann will ich mit dir leben.“   Joey erkannte, wie sehr Seto das, was er gesagt hatte, berührte, aber er erwiderte nichts. Dennoch konnte der Blonde genau sehen, dass Seto exakt das Gleiche fühlte wie er, und das machte ihn unheimlich glücklich.   Joeys Herz machte einen Sprung, während sein Blick noch immer auf dem Mann an seiner Seite lag. Er hatte sich immer ausgemalt, wie es wohl wäre, jemanden zu lieben und der Person das dann offen zu gestehen – so, wie Seto es jetzt schon getan hatte, zwei Mal sogar. Er dachte immer, es würde irgendwie Überwindung kosten, würde sich schwer anfühlen, so voller Unsicherheit und Angst, dass Gefühle nicht erwidert werden könnten. Allerdings stellte er fest, dass das genau das Gegenteil von dem war, was er jetzt fühlte. Er fühlte sich leicht und befreit, und unheimlich glücklich. Er machte sich keine Sorgen, aber er wusste ja auch schon, wie Seto fühlte.   Er nahm sich einen Moment Zeit, um in sein eigenes Herz reinzuhorchen. Selbst wenn er versuchen würde, es zu leugnen, es war sowieso offensichtlich – er war verliebt. Seto nahm seine Gedanken ein, in jeder Sekunde, die er existierte. Hatte ihn in seinen schlimmsten Stunden begleitet und nie aufgegeben, so schwer es auch gewesen sein mochte. Hatte ihm die Kraft gegeben, ins Leben zurückzufinden, als er eigentlich schon damit abgeschlossen hatte. Er war das Licht, das die Dunkelheit in ihm verscheuchte, wenn sie wieder überhandnahm. Er reichte ihm seine Hand, wenn er drohte zu fallen. Und er teilte alle glücklichen Momente mit ihm, die es ohne ihn so vermutlich gar nicht geben würde. Ja, er liebte ihn – bedingungslos, endlos, mit Haut und Haar, und das würde bis in alle Ewigkeit so bleiben.   „Hey, schaut mal her, und jetzt Cheeeeeeeeese!“ Verblüfft wandte Joey seinen Blick nach vorne und sah Yugi, wie er ein Bild von ihnen mit seinem Handy schoss. Für einen kurzen Moment war Joey perplex, aber dann fasste er sich wieder und schüttelte grinsend seinen Kopf. Das Timing war heute wirklich ziemlich beschissen, aber er würde mehr als genug Möglichkeiten haben, seinem Drachen zu sagen, wie sehr er ihn liebte. Bevor sie sich erhoben und zurück zur Gruppe stießen, sah Joey Seto noch ein letztes Mal an und legte alle seine Gefühle in diesen einen Blick, und er glaubte, dass der Braunhaarige es verstand. Setos Blick wurde wieder ein wenig weicher und er legte ein dezentes Lächeln auf, das Joey einen endlosen Schwall an Endorphinen durch die Adern pumpte. Seto hatte geschrieben, dass er alles tun würde, um ihm jeden Tag seine Liebe zu beweisen, und Joey fasste denselben Plan. Er würde alles für diesen Menschen tun, der ihn mit nur einem einzigen Augenaufschlag sprachlos machen konnte und der ihm sein Herz gestohlen hatte. Und Joey wollte, dass er es behielt, bis ans Ende ihrer Tage. Kapitel 23: Don't rescue me --------------------------- Vorsichtig klopfte er an Setos Bürotür und öffnete sie. Der Raum war dunkel und verlassen. Sie hatten sich hier verabredet, um gemeinsam loszugehen, aber Seto schien irgendwohin verschwunden zu sein.   Joey schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Er verschränkte seine Arme vor seinem Körper und seufzte hörbar auf. Schon Wahnsinn, wie schnell sechs Monate vergehen konnten. Sechs Monate im Vergleich zu einem ganzen Leben kamen ihm so kurz vor, so wenig Zeit, und doch mehr als genug, um ihn grundlegend zu verändern. Er war nicht mehr der impulsive, aufbrausende, sich ständig prügelnde Junge, der er noch war, bevor Seto in sein Leben gestolpert war. Er war zu einem Mann geworden. Hatte sich seiner Vergangenheit gestellt, und auch wenn er glaubte, sie noch nicht vollständig überwunden zu haben, so wusste er, er würde ein ganzes Leben mit Seto an seiner Seite Zeit haben, genau das zu schaffen. Und heute würden sie genau das feiern – das Leben. Das, das sie bereits zusammen verbracht hatten und das, was noch vor ihnen liegen würde. Es war zwar erst Mitte April und damit waren die sechs Monate rein rechnerisch betrachtet noch nicht um, aber sie waren sich einig gewesen, dass das sowieso kaum noch Relevanz hatte.   Laut ausatmend kam er wieder in der Realität an. Seto war noch immer nicht aufgetaucht und Joey wurde langsam ungeduldig. Ruckartig stieß er sich von der Tür ab und ging ein paar Schritte weiter in den Raum hinein, sah sich um, in der Hoffnung, etwas zu finden, das ihn beschäftigte, während er wartete. Setos Büro sah eigentlich aus wie immer. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages schienen durch das Fenster direkt auf den Schreibtisch, auf den Stuhl, auf dem Seto sonst immer saß, wenn er fokussiert an etwas arbeitete. Es war kein einziges Geräusch zu hören, außer Joeys regelmäßiger Atem.   Gedankenverloren strich der Blonde über die Buchrücken in den Regalen. Er erkannte vor allem Fachbücher aus Segmenten, von denen er nicht mal ansatzweise etwas verstand. Ob Seto die alle gelesen hatte? Ein leichtes Lächeln legte sich auf Joeys Lippen – sein Drache war einfach unheimlich schlau, vermutlich könnte er jedes Einzelne dieser Bücher ohne Probleme schon vor dem Frühstück lesen. Joey würde das selbst dann nicht gelingen, wenn er sich wirklich anstrengte.   Mit einem amüsierten Kopfschütteln löste Joey den Blick von den Regalen, als ihm plötzlich etwas auf dem Schreibtisch des Braunhaarigen auffiel – ein Ordner, aufgeschlagen. Zwar vermutete Joey, dass er sowieso kein Wort verstehen würde, aber dennoch – seine Neugierde war geweckt. Also trat er näher, und als sein Blick auf die aufgeschlagenen Seiten fiel, weiteten sich seine Augen.   Er musste dichter rangehen, um zu erkennen, dass seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Bilder von ihm? Während er die aufgeschlagene Seite so betrachtete, da sah er, dass es nicht nur Fotos waren, die ihn allein zeigten, sondern auch welche, auf denen er mit Seto zusammen abgebildet war. Verwirrung machte sich in ihm breit – warum hatte Seto einen Ordner mit Bildern von ihm auf seinem Schreibtisch? Die Tatsache, dass dieser hier so offen rumlag, sagte ihm, dass der Braunhaarige gerade etwas damit angefangen haben musste. Er blätterte auf die nächste Seite, aber die nachfolgenden Seiten blieben leer. Und als er wieder zurückblätterte, fiel ihm auf, dass das letzte Foto auch das aktuellste war, was Seto vermutlich von ihnen besaß. Es war das Bild, das Yugi geschossen hatte, als sie auf der Parkbank beim Kirschblütenfest gesessen hatten.   Joey blickte kurz auf und horchte einen Moment, aber es waren noch immer keine Schritte zu hören. Es schien, als wenn er noch eine ganze Weile länger allein bleiben würde. Also zog er sich den Bürostuhl ran und fing an, den Ordner von hinten nach vorn durchzublättern.   Statt eine Antwort darauf zu finden, was das zu bedeuten hatte, befiel ihn eine sich stetig steigernde Ratlosigkeit. Je weiter er blätterte, desto mehr Bilder sah er, vor allem von sich selbst. Da gab es die Fotos von ihrer Reise zu seiner Familie in die USA, ein Foto von ihm, wie er gespannt den Klängen des Klavierkonzerts lauschte, das er mit Seto besucht hatte, dann ein weiteres Foto, offensichtlich von Silvester, wie er ausgelassen mit seinen Freunden tanzte. Auch eine Aufnahme von ihm an seinem Geburtstag gab es, wie er gespannt Setos Brief las. Das löste ein angenehmes Kribbeln in seinem Körper aus, als er sich daran zurückerinnerte, wie viel ihm dieser Brief bedeutete.   Er hatte noch immer keinen blassen Schimmer, was das hier alles war, aber er wurde magisch in den Bann gezogen von all den Fotos. Er blätterte weiter zur nächsten Seite, in der Hoffnung, endlich eine Antwort auf seine Frage zu bekommen, warum es offensichtlich einen Ordner voll von Bildern von ihm gab. Die nächsten Fotos zeigten ihn und Serenity beim Sandburgenbauen am Meer, ihn, wie er Gesellschaftsspiele mit seiner Familie und Mokuba spielte, wohl an Weihnachten. Er stockte – die darauffolgende Aufnahme zeigte ihn auf einem Steg sitzend, die Seto offensichtlich gemacht haben musste, als sie das erste Mal zusammen am Meer waren. Der Tag, der rückblickend betrachtet alles für sie verändert hatte. Mittlerweile hatte er sich bis fast ganz zum Anfang des Ordners vorgekämpft, aber ein letztes – oder eher erstes – Bild gab es noch: Joey beim Joggen im Park der Kaibas. Was zum...   Dann bemerkte er, dass es offensichtlich eine weitere Seite gab, die allererste, doch statt Fotos zierte Setos filigrane Handschrift dieses Blatt. Joey hatte zunächst Mühe, sich einen Reim darauf zu machen. Es sah aus wie eine Mindmap und er arbeitete sich von einem Ast zum nächsten – bis er die Mitte, den Ausgangspunkt betrachtete, der für Seto allem Anschein nach die Kernfragestellung seines Brainstormings gewesen war.   Sein Gehirn hatte Mühe, diese Worte entsprechend zu verarbeiten. Joey konnte sie lesen, aber verstand sie nicht. Doch dann eröffnete sich deren Bedeutung in vollem Umfang, und Joey begriff. Schwer atmend erhob er sich abrupt von dem Bürostuhl, der mit schneller Geschwindigkeit nach hinten rollte. Nein, das... das konnte doch unmöglich wahr sein. Was zur Hölle hatte das alles zu bedeuten? Er merkte, wie all die plötzlich auftretenden Fragen ihm die Kehle zuschnürten und er Schwierigkeiten bekam, Luft zu holen. Ihm wurde heiß und er konnte das Blut in seinen Ohren rasen hören. Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufschluchzen zu müssen, und spürte die heißen Tränen seine Wangen hinablaufen. Hatte er sich doch so getäuscht? Wie... wie konnte das nur passieren?   Er drehte sich vom Schreibtisch und damit auch von den Beweismitteln darauf weg, stützte sich mit beiden Armen an der hinter ihm befindlichen Wand ab und konnte sich nur mit Mühe und Not einigermaßen auf den Beinen halten. Seine Tränen tropften zuhauf auf den Boden und er konnte ein abgehacktes Schluchzen nun nicht mehr verhindern. Er spürte, wie ihm die Magensäure aufstieg und ihm schlecht wurde, und für einen kurzen Moment hatte er das überwältigende Bedürfnis, sich übergeben zu müssen, konnte es aber gerade noch zurückhalten.   Und schlagartig wich die Verzweiflung, die sich die letzten Minuten in ihm breitgemacht hatte, einem anderen Gefühl: Wut. Zunächst auf sich selbst, weil er so dumm gewesen war zu glauben, dass er den wahren Seto Kaiba kennengelernt hatte. Nun musste er feststellen, dass all das eine Lüge war, so wie es sein Bauchgefühl am Anfang ihn schon hatte vermuten lassen. Und dann fühlte er Hass, so viel Hass auf den Mann, der ihn hatte glauben lassen, dass er ihn liebte. Ein kurzes, hysterisches Lachen entwich Joeys Kehle. Er hatte sich so blenden lassen, und wie bescheuert er gewesen war, ihm blind zu vertrauen. Er hätte es doch besser wissen müssen, aber als er noch eine realistische Chance gehabt hätte, sich von ihm zu entfernen, hatte er es nicht getan, hatte sich in einen emotionalen Strudel ziehen lassen und bis zuletzt selbst geglaubt, das wäre Liebe gewesen. Aber das war keine Liebe, nein, es gab nur ein Wort, das es exakt beschreiben konnte: Manipulation. Und Joey hatte es zugelassen und die Augen verschlossen vor dem Offensichtlichen.   Er spürte eine Ruhe in sich aufkommen, die ihm fast ein bisschen Angst machte. Wie konnte er plötzlich so gelassen sein, wo doch gerade seine ganze Welt, oder zumindest die Welt, wie er sie geglaubt hatte zu kennen, um ihn herum zusammenbrach und in tausende Scherben zersplitterte? Er blickte sich um, dann fand er Stift und Zettel und kritzelte hektisch drauf, was er zu sagen hatte. Neben die Notiz legte er sein Handy – er würde denselben Fehler schließlich nicht zwei Mal machen. Dann entfernte er sich vom Schreibtisch. Wie automatisch trugen ihn seine Füße in Richtung der Tür, die er öffnete und noch mal einen kurzen Blick zurückwarf. Er merkte, wie ihm schon wieder die Tränen in die Augen stiegen, als er sich gedanklich von diesem Raum verabschiedete, denn er wusste, er würde nicht zurückkehren – nie mehr.   ~~~~   „Hey, Joey, sorry, dass ich so spät bin, ich wurde in der Firma aufgehalten. Musstest du... hm?“ Als Seto die Tür zu seinem Büro öffnete, war er schon viel zu spät dran und war daher davon ausgegangen, sein Hündchen direkt hier anzutreffen. War er vielleicht in sein Apartment zurückgekehrt? Er könnte es ihm nicht verübeln, wenn es so wäre, immerhin war er bestimmt 30 Minuten zu spät.   Seto holte sein Handy aus seiner Tasche und wählte Joeys Nummer. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass er ganz in der Nähe ein vibrierendes Geräusch wahrnehmen konnte, kaum hatte er den grünen Hörer auf seinem Telefon gedrückt. Verwirrt blickte er auf und versuchte rauszufinden, aus welcher Richtung die Töne kamen, als er merkte, dass sie von seinem Schreibtisch herrührten.   Er legte wieder auf und ging mit langsamen Schritten auf seinen Schreibtisch zu. Tatsächlich, Joeys Handy lag hier, aber warum? Verwundert kratzte er sich am Hinterkopf und trat näher heran – und dann sah er ihn. Sein Herz setzte sofort einige Herzschläge aus, seine Augen weiteten sich entsetzt und er versuchte, die Punkte logisch miteinander zu verbinden.   Er hatte vergessen, den Ordner wegzuräumen. Joey musste offensichtlich vor ihm hier gewesen sein, das zeigte allein schon die Tatsache, dass sich sein Handy in diesem Raum befand. Außerdem wusste Seto, dass er nicht die erste, sondern die letzte Seite des Ordners aufgeschlagen hatte. Ihm blieb die Luft weg – kein Zweifel, Joey hatte den Ordner gesehen, inklusive der ersten Seite, auf der er seinen eigentlichen Plan vermerkt hatte, als Joey zu ihnen gezogen war – der Plan, Joey dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben, und ein Netz aus Ideen, wie er das schaffen könnte.   In dem Moment fiel sein Blick auf einen Brief neben dem Ordner, direkt neben Joeys Handy, und es war unverkennbar die Schrift des Blonden.   ‚Seto,   ich hätte es wissen sollen. Und jetzt sollte ich wütend auf dich sein, aber weißt du was? Ich bin es nicht. Nicht du warst der Dumme hier, der sich hat blenden lassen. Das war ich. Habe wirklich gedacht, du liebst mich. Lächerlich, oder? Du hast wahrscheinlich gedacht, du hast mich in der Falle, und hey, ehrlich? Das hattest du. Vielleicht wollte ich mich auch täuschen lassen. Ich wundere mich zwar, dass du wirklich so weit gegangen bist und wie viel du getan hast, um deine gute Reputation zu erhalten, aber du bist eben Seto Kaiba. Wie hast du immer gesagt? Der Zweck heiligt die Mittel. Glückwunsch, du hast es echt geschafft, deinen Plan in die Tat umzusetzen. Du musst richtig stolz auf dich sein.   Wie auch immer, da das die letzten Worte sind, die du von mir hören – oder besser, lesen – wirst, kann ich auch mit komplett offenen Karten spielen. Ich habe dich wirklich, wahrhaftig geliebt, Seto. Die letzten Monate waren die schönsten in meinem gesamten Leben. Du hast mich vergessen lassen, wie dunkel mein Leben war. Hast mir geholfen, aufzustehen, wenn ich zu schwach war. Hast mir meinen Lebenswillen zurückgegeben.    Und jetzt wache ich auf und stelle fest, dass das alles eine Lüge war. Du hast mein Leben zu einem Kartenhaus gemacht, mit dir als stützende Pfeiler – und jetzt hast du die unterste Karte herausgezogen. Und ich bin wieder ganz am Anfang. Ich weiß jetzt, dass ich diesem Teufelskreis niemals werde entkommen können. Niemals. Weil die Person, die mir am meisten geholfen hatte, da rauszukommen, nicht der Mensch ist, den ich geglaubt habe zu kennen.   Aber auch ich habe dazu gelernt – dieses Mal wirst du mich nicht finden können. Und selbst, wenn du es tust – es wird zu spät sein.   Leb wohl, mein Drache.   Joey‘   Zitternd hielt er das Blatt in seinen Händen. Ein Schwall aus Tränen, wie er sie noch nie geweint hatte, rann seine Wangen hinunter. Er konnte nicht mehr atmen und er spürte Panik in sich aufsteigen. Für eine Sekunde war er wie in einer Schockstarre, unfähig, sich zu bewegen.   Dann ging alles ganz schnell. Er griff zu seinem Handy, rief Roland an und alarmierte die Polizei. Vielleicht war es schon zu spät, möglicherweise konnte er ihn nicht mehr retten – aber er würde nicht aufgeben. Er konnte nicht. Er musste es versuchen und sich an die winzige Hoffnung klammern, dass er noch rechtzeitig kommen würde, dass er zu ihm zurückkehren würde.   Gehetzt stürmte er aus seinem Büro und rannte los, wohin, wusste er nicht wirklich. Auf dem Flur stieß er mit Mokuba zusammen, der ihn geschockt ansah – er hatte ihn noch nie weinen sehen, und Seto konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er, der sonst immer so kontrolliert war, gerade auf seinen kleinen Bruder wirken musste. Aber ihm war das gerade egal, genauso wie alles andere. Er musste Joey finden und er würde alles tun, was nötig war.   „Seto, was...“, hörte er Mokuba stottern. Seto fehlte die Luft zum Atmen, um viel zu antworten, sodass nur wenige Wörter es schafften, seinen Mund zu verlassen, als er antwortete: „Joey... der Brief... in meinem Büro... bitte warte hier, falls er zurückkommt.“   Mit diesen Worten lief er wieder los, noch immer vollkommen ziellos. Aber er wusste, er würde jeden Stein in dieser verdammten Stadt umdrehen und ihn finden. Er hatte keine andere Wahl. Er wusste nur nicht, ob er noch atmen würde, wenn er ihn endlich fand.   ~~~~   Es war wärmer als das letzte Mal, als er hier gestanden hatte. Ein leichter Wind wehte ihm um die Nase, während sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages verabschiedeten. Das Geländer hinter ihm war von ihnen noch angewärmt. Schon seltsam, wie sich das heute so anders anfühlen konnte. Aber was machte er sich vor, auch er war heute ein anderer Mensch, da war es nur natürlich, dass er sich auch anders fühlte. Aber der heutige Tag hatte ihm gezeigt, dass diese Veränderung, die er zuweilen als sehr positiv empfunden hatte, auf harten Lügenmärchen aufgebaut war.   Er hatte so sehr gehofft, es wäre wahr gewesen. Irgendwann in den letzten Monaten war ihm bewusst geworden, dass er sich eigentlich hatte retten lassen wollen, und Seto war sein Ritter in glänzender Rüstung gewesen. Zumindest hatte er sich das bis heute eingebildet. Aber es war alles nur ein Spiel gewesen, und Joey hatte sich blindlings darauf eingelassen.   Joey atmete ein Mal tief durch. Er konnte die Vergangenheit nun nicht mehr ändern und es gab auch keinen Grund mehr, noch mehr darüber zu trauern. Er war dämlich gewesen, ja, aber er würde jetzt die Konsequenzen daraus ziehen, die er schon vor sechs Monaten hätte ziehen sollen.   Er sah nach unten, es würde kaum eine halbe Minute dauern, bis er auf den Boden aufschlug. Als er vorhin gemerkt hatte, wo er hingelaufen war, war er von sich selbst überrascht gewesen – es war dasselbe Hochhaus wie noch vor einem halben Jahr. Aber irgendwas daran gab ihm den Mut, den er jetzt so dringend benötigte. Dieses Mal würde er nicht zögern, weil er wusste, es würde nichts und niemanden mehr geben, der ihn jetzt noch retten konnte.   Es war so weit. Er löste beide Hände gleichzeitig vom Geländer und fing an, sich langsam nach vorn zu beugen. Und als er die Augen schloss und sich Zentimeter für Zentimeter weiter nach vorne beugte, flossen ihm wieder all die verzweifelten Tränen über die Wangen und kämpften sich ihren Weg nach draußen. Vor seinem inneren Auge zog sein Leben noch mal an ihm vorbei – die Scheidung seiner Eltern, die Gewalt, Setos Verrat. Es schmerzte so sehr, dass er nur hoffen konnte, dass es nun endlich vorbei wäre.   Wie in Zeitlupe verging die Zeit, als er plötzlich energische Schritte hinter sich hörte. Sein erster Fuß war gerade dabei, sich von dem Vorsprung zu lösen, als ihn kräftige Arme zurück ans Geländer zogen und er laut ausatmen musste. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er die Luft angehalten hatte.   Er spürte, wie derjenige, der ihn festhielt, zitterte, am ganzen Körper, konnte seinen holprigen Atem an seinem Ohr hören, das leise Schluchzen wahrnehmen. Er brauchte gar nichts sagen, er wusste sofort, wer da hinter ihm stand, weil er ihn an seinem Geruch erkannte. Er hätte wissen sollen, dass es eine bescheuerte Idee gewesen war, dasselbe Hochhaus wie noch vor einem halben Jahr zu wählen. War ja klar, dass er hier suchen würde.   Joeys ganzer Körper wurde plötzlich schlaff. Er hatte es schon wieder nicht geschafft, seinen Plan in die Tat umzusetzen, aber er hatte keine Kraft mehr, darüber wütend zu werden. „Lass mich sterben, bitte“, waren die einzigen Worte, die er kraftlos und mit monotoner Stimme rausbrachte.   Das Schluchzen hinter ihm wurde lauter, aber seine Stimme war nicht mehr als ein unruhiges Flüstern. „Ich kann nicht, Joey.“   In dieser Position verharrten sie eine Weile. Joey war dem Abgrund noch immer so nahe, aber er wusste, Seto war einfach stärker, und so stark wie jetzt hatte er ihn noch nie erlebt, trotz der Tatsache, dass sein ganzer Körper bebte. „Warum nicht?“, fragte Joey, aber eigentlich war ihm die Antwort egal. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, wollte einfach nur, dass es endlich vorbei war.   Er hörte Seto einige Male tief ein- und ausatmen, vermutlich sein verzweifelter Versuch, sich irgendwie zu beruhigen. „Weil ich dich liebe, mein Hündchen.“   Und da spürte Joey die Wut erneut in sich aufsteigen, mit einer Wucht, die ihn zu überwältigen drohte. Die Energie kehrte zurück in seine Glieder und er versuchte, sich aus Setos Zwängen zu befreien, aber der Braunhaarige war ihm einfach überlegen. In seinen Armen zappelnd, schrie Joey aufbrausend: „Hast du dein Spiel jetzt nicht lange genug mit mir gespielt? Du hast dich doch jetzt abgesichert, hast über die Monate genug Beweise gesammelt, um deine Firma zu schützen, nun lass mich endlich sterben! Das war der eigentliche Deal, schon vergessen?“   Aber Seto bewegte sich keinen Zentimeter. „Bitte, lass es mich erklären, Joey. Es ist nicht so, wie du glaubst. Bitte, komm zurück auf das Dach.“ Joey spürte Seto heftig weinen, aber er durfte sich jetzt nicht wieder von ihm einlullen lassen. Er musste sich noch mal daran erinnern, wie er ihn die letzten Monate an der Nase herumgeführt hatte.   Joey schnaubte wütend auf, als er antwortete: „Da gibt es nichts mehr zu erklären. Es war eindeutig, dass du mich verarscht hast. Und ich war so dumm, es nicht zu merken.“   Plötzlich spürte er, wie er ruckartig zurück aufs Dach gezogen wurde. Es kam so überraschend für ihn, dass er nicht die Zeit hatte, sich zu wehren, und gerade, als er sich wieder umdrehen wollte, um erneut über die Brüstung zu steigen, wurde er von Seto in eine Umarmung gezogen. Er strampelte, um sich von ihm zu lösen, aber statt damit erfolgreich zu sein, wurde er nur noch mehr aufs Dach und weiter vom Geländer weggezogen.   Setos Mund war direkt an seinem Ohr, sodass er seine Worte nun klar und deutlich verstehen konnte, auch wenn es nicht mehr als ein Raunen war. „Doch, es gibt eine ganze Menge zu erklären. Bitte, hör mir einfach zwei Minuten zu, okay?“   In einem letzten Versuch probierte er, sich von dem Brünetten zu lösen, aber es war einfach zwecklos. Er würde hier nicht wegkommen. Also musst er es mit den Mitteln eines Kaiba versuchen – Manipulation.   „Gut, ich höre dir zu, unter einer Bedingung“, begann Joey. Seto nickte und Joey wusste, er würde allem zustimmen, was er jetzt sagen würde. „Wenn du mich nicht überzeugen kannst, lässt du mich sterben.“   Ein erneutes Schluchzen kam aus Setos Kehle und Joey hasste sich dafür, dass es immer noch eine so starke Wirkung auf ihn hatte. Noch immer wollte ein Teil von ihm Setos Umarmung erwidern, ihm über den Rücken streicheln und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dieser Part war offensichtlich der masochistische Anteil in ihm, der es wohl wahnsinnig toll fand, so betrogen und verletzt zu werden. Aber glücklicherweise konnte er sich beherrschen und würde dieser Sehnsucht ganz sicher nicht mehr nachkommen.   Nun war es Seto, der mit dem Rücken zur Wand stand. Ihm blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen, wenn er wollte, dass Joey ihm Gehör schenkte. Joey spürte ihn zaghaft nicken und sein Zittern verstärkte sich sogar noch ein wenig.   Dann fing Seto mit seiner Erklärung an. „Ich lege jetzt alle Karten auf den Tisch und will ganz offen und ehrlich zu dir sein. Denn nichts anderes hast du jetzt verdient. Eigentlich hättest du das schon viel früher verdient, aber ich war einfach zu feige, weil ich wusste, ich könnte dich dadurch verlieren, aber jetzt weiß ich, es war falsch, es dir nicht zu sagen. Es tut mir so leid, Joey...“   Sein Monolog wurde nur kurzzeitig durch ein weiteres Aufschluchzen unterbrochen, dann fuhr er fort.   „Die Wahrheit ist, dass das, was du in meinem Ordner gefunden hast, mein Plan war, ganz am Anfang. Als ich dich das erste Mal hier aufgegabelt habe, wäre es mir aus emotionaler Sicht egal gewesen, ob du gesprungen wärst. Ich hatte rein wirtschaftliche Interessen, und wie du an meinem Plan gesehen hast, hätte ich alles dafür getan, diese zu schützen. Und wenn ich dich dafür hätte manipulieren müssen, dann hätte ich das eben getan. Am Anfang habe ich das ja auch. Aber das änderte sich schneller, als ich es selbst für möglich gehalten hätte.“   Joey spürte, wie Seto die Umarmung noch verstärkte. Er konnte seine Überraschung über die Ehrlichkeit des Braunhaarigen nicht verbergen. Das, was er sagte, war so abscheulich, so niederträchtig, dass es wahr sein musste, dessen war sich Joey ganz sicher. Doch bevor er weitere Gedanken daran verschwenden konnte, sprach Seto weiter.   „An dem Tag, als wir zusammen am Meer waren, veränderte sich alles für mich. Ich verlor mein eigentliches Vorhaben total aus dem Blick, und es war ja auch nicht so, als ob ich schon eine großartige Strategie ausgearbeitet hatte. Ehrlich gesagt war ich absolut ratlos. Ich verstand eben nichts von Liebe und dergleichen. Bis du kamst und mir genau das beigebracht hast. An unserem Tag am Meer hast du mir die Augen geöffnet und mir gezeigt, wer du wirklich bist. Und ich habe dir gezeigt, wer ich wirklich bin. Diese Seite kennt niemand von mir, in weiten Teilen nicht mal Mokuba, noch immer nicht. Aber es war echt, das kannst du mir glauben, genauso wie alles, was darauf folgte.“   Plötzlich spürte er, wie Seto die Umarmung löste und sich seine zwei großen Hände an seine Wangen legten und seinen Kopf so zogen, dass er ihm in seine tiefblauen Augen schauen musste. Joey erkannte, wie rot und verweint sie waren und kämpfte mit aller Kraft dagegen an, Mitleid zu empfinden. Nicht Seto war hier das Opfer, das musste er sich immer und immer wieder vor Augen halten.   Mit verzweifeltem Unterton redete der Braunhaarige weiter. „Es war alles echt, Joey. Bevor wir uns das erste Mal geküsst haben, da habe ich mir immer wieder überlegt, wann ich dich wiedersehen könnte, also nicht nur beim Frühstück oder in der Schule, sondern wie ich es schaffen könnte, dich ganz für mich zu haben. Wie ich dich zum Strahlen bringen könnte. Und dann haben wir uns geküsst, und ich wusste, ich würde nie wieder von dir loskommen. Damals war es mir noch nicht so bewusst, aber heute kann ich klar sagen, dass das der Zeitpunkt war, an dem ich mich vollends in dich verliebt habe. Und als wir uns dann auch körperlich vereinigt hatten, setzte das dem Ganzen noch die Krone auf. Glaubst du wirklich, dass ich das hätte spielen können? Ich liebe es, dich so zu berühren und zu wissen, dass ich der Einzige für dich bin. Und dass du der Einzige für mich bist, der mich jemals so sehen wird. Ich liebe dich, Joey, und ich sage es dir gern eine Million Mal, wenn es das ist, was du brauchst. Ich liebe dich, immer. Bitte, du musst mir glauben!“   Aber Joey konnte nichts erwidern, er war wie gelähmt. Noch vor wenigen Stunden hatte er daran geglaubt, dass Setos Augen ihm immer alles sagen würden, was in ihm vorging, selbst wenn er gar nichts sagte. Und auch jetzt konnte er die vielen Emotionen darin sehen, und würde er noch immer seiner Naivität folgen, die er bis jetzt an den Tag gelegt hatte, dann würde er ihm und seinen Worten Glauben schenken, weil seine Augen ihm genau dasselbe signalisierten. Aber er konnte nicht – oder wollte nicht.   „Und das mit dem Ordner“, fuhr der Brünette fort, noch immer mit festem Griff um sein Gesicht, „das hatte am Anfang tatsächlich den Zweck, ‚Beweise‘ zu sichern, wenn du so willst. Aber spätestens seit unserem Tag am Meer hatte sich das völlig verändert. Ich habe es weniger als Beweissicherung als vielmehr als eine Erinnerungssicherung gesehen. Ich wollte die Momente mit dir festhalten und sie mir für immer bewahren. Sie mir immer ansehen können, wenn ich wollte. Die erste Seite, die Mindmap, die du gesehen hast, die habe ich in den ersten Tagen erstellt, kurz nachdem du zu uns gezogen bist. Danach habe ich sie nicht mehr angerührt. Es wurde mehr ein Fotoalbum daraus, weil ich einfach nicht genug von dir kriegen konnte, und noch immer nicht kann. Joey, nur ein Wort, und wenn du möchtest, verbrenne ich den ganzen, verdammten Ordner. Damit wäre auch der ursprüngliche Zweck zerstört, aber das interessiert mich nicht, weil es den gar nicht mehr gibt. Was mich aber interessiert, bist du. Nichts von dem, was ich dir gesagt habe, war gelogen. Ich möchte dich glücklich machen, auch wenn das jetzt gerade nicht danach aussieht. Ich will dich lachen sehen, für dich da sein, wenn du weinst oder drohst zu fallen. Ich will mein gesamtes Leben mit dir verbringen, Joey. Ich liebe dich, mehr als alles andere auf der Welt, und ich würde alles für dich tun oder aufgeben. Gott, wenn du sagen würdest, dass ich meine Firma verkaufen soll, dann würde ich das tun, wenn es das ist, was ich tun muss, damit du in meinem Leben bleibst. Ich weiß, dass ich dein Vertrauen missbraucht habe, sehr sogar, und ich werde mein Leben lang daran arbeiten, das auszubügeln. Aber bitte, bleib bei mir. Bitte...“   Nach seinen letzten Worten flossen wieder vereinzelte Tränen Setos Wangen hinab und Joey hatte das überwältigende Bedürfnis, sie ihm einfach wegzustreichen, ihn in den Arm zu nehmen und sanft zu küssen. Er konnte nicht verhindern, dass Setos Worte eine Wärme in ihm auslösten und ihm selbst die Tränen in die Augen schossen, aber er durfte sich nicht manipulieren lassen - das hatte er in den letzten Monaten viel zu oft zugelassen.   Also setzte Joey eine harte Miene auf und fragte: „Bist du fertig?“ Atemlos nickte Seto. Joey nahm nun Setos Hände von seinem Gesicht und für einen kurzen Moment konnte er Hoffnung in den Augen des Brünetten aufblitzen sehen. Das war allerdings schnell wieder verschwunden, als Joey ihre Hände wieder löste und Seto mit einer Hand gegen seine Brust von sich wegschob.   „Gut, dann darfst du jetzt gehen. Leb Wohl.“ Joey drehte ihm den Rücken zu und machte Anstalten, wieder in Richtung des Geländers zu laufen, um erneut über die Brüstung zu steigen und seinem Leben nun endlich ein Ende zu bereiten. Seto wollte es aber wohl nicht darauf beruhen lassen – er kam ihm zwar nicht mehr körperlich nahe, aber seine verzweifelten Schreie schossen Joey durch Mark und Bein, sodass er sich für einige Sekunden nicht bewegen konnte.   „Nein!! Bitte, wenn du es nicht für mich tust, dann denk daran, wen du noch zurücklässt. Menschen, die dir etwas bedeuten und denen du etwas bedeutest. Deine Freunde, deine Mum, deine Schwester. Wie werden sie sich fühlen, wenn sie dich verlieren?“   Joey hielt inne und spürte, wie er schon wieder keine Luft bekam. Er wusste, dass Seto ihn hier gerade gnadenlos manipulierte, aber ein Teil von ihm konnte das auch nachvollziehen - es war die letzte Möglichkeit, die er hatte. Und verdammt, Joey gab es nur ungern zu, aber es wirkte. Konnte er das all diesen Menschen, die Seto gerade aufgezählt hatte, wirklich antun? Vor sechs Monaten hätte er es noch getan, aber heute, da insbesondere das Band mit seiner Familie wieder sehr viel enger war, sah die Sache irgendwie ganz anders aus.   Joey ballte die Hände zu Fäusten, denn er wusste, er musste aufgeben. Es führte kein Weg daran vorbei, er würde jetzt nicht mehr springen können. Er war wütend und verzweifelt, weil er wusste, dass er dafür jetzt all den Schmerz in Kauf nehmen musste, aber er würde Seto nicht mehr die Genugtuung geben, ihn so zu sehen. Also atmete er tief durch, drehte sich dann wieder zum Brünetten um und sagte in forderndem Ton: „Gib mir dein Handy.“   Seto musste sich für einige Momente sammeln, bis er offensichtlich verstanden hatte, was Joey da von ihm verlangte. Er holte das Handy aus seiner Jackentasche und überreichte es dem Blonden, der zielgerichtet eine Nummer eintippte und auf den grünen Hörer drückte. Schon nach wenigen Sekunden nahm die Person in der anderen Leitung ab und er hörte die vertraute Stimme verwirrt fragen: „Kaiba?“   „Nein, hier ist Joey, Yugi. Hey, kann ich für ein paar Tage bei dir unterkommen?“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, sah er, wie Seto die Augen weitete, aber er bewegte sich nicht vom Fleck.   „Joey, was... ja, klar kannst du für ein paar Tage herkommen. Was ist passiert?“   „Das erkläre ich dir später. Ich hole schnell ein paar Sachen und mache mich dann auf den Weg.“ Damit beendete der Blonde das Gespräch und gab Seto das Handy zurück. Mit gebührendem Abstand lief er an ihm vorbei, dann sagte er: „Es wird jetzt folgendermaßen ablaufen: Wir fahren zurück in die Villa. Dort packe ich ein paar Sachen und dann verschwinde ich. Und du wirst mich nicht davon abhalten.“   Er merkte, dass Seto etwas sagen wollte, und ohne sich noch mal nach ihm umzudrehen, hob er eine Hand und bedeutete ihm, zu schweigen. „Du brauchst es erst gar nicht versuchen. Du wirst mich nicht aufhalten können.“ Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und konnte spüren, wie Seto ihm widerwillig folgte. Alles in ihm tat weh und der Schmerz drohte, ihn zu übermannen, aber er würde es dem Braunhaarigen nicht mehr zeigen. Er würde ihm beweisen, dass er keine Macht mehr über ihn hatte, egal, welch schmeichelnde oder schöne Worte er auch wählen würde. Es war vorbei, und Joey hatte schlagartig das erdrückende Gefühl, es noch nicht mal bis an die Startlinie geschafft zu haben.   ~~~~   Er hatte Joey das Leben gerettet – schon wieder. Aber zu welchem Preis? Er verließ ihn, und wenn Seto ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er es auch nicht anders verdient. Er hätte auf Mokuba hören sollen, Joey in den Plan einweihen sollen, als er noch eine Chance dazu gehabt hatte. Aber das war in den letzten Wochen wieder so in den Hintergrund gerückt, dass er sich keine Gedanken mehr dazu gemacht hatte, selbst dann noch nicht, wenn er wieder ein neues Foto in den Ordner klebte. Er hatte nicht gelogen, dieser Ordner war mittlerweile nur noch ein Fotoalbum, und er liebte jedes Foto darin, weil alle sein Hündchen abbildeten.   Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich absolut machtlos. Er musste zusehen, wie Joey jetzt in sein Apartment ging und seine Sachen packte. Er würde ihn verlassen, einfach so aus seinem Leben verschwinden, und es gab nichts, das er tun konnte, um ihn aufzuhalten. Er hatte alles gesagt, was er sagen konnte, aber das hatte den Blonden nicht überzeugen können, zu bleiben.   Schon wieder registrierte er, wie sich sein ganzer Körper zusammenzog. Er stand vor Joeys Tür und wartete darauf, dass das Unvermeidliche passierte, während er gleichzeitig versuchte, zu atmen. Das wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer, weil er wusste, dass die Person, die ihm die Luft zum Atmen gab, gleich aus seinem Leben verschwinden würde.   Er hörte, wie sich die Tür neben ihm öffnete und sah den Blonden austreten, der ihn mit einem verachtenden Blick ansah. Seto wurde schlecht, er hielt seinem Blick fast nicht stand. „Joey... bitte, geh nicht“, flehte er ihn an, in einem allerletzten Versuch. Joey sah ihn eindringlich an, aber er wurde nicht schlau aus seinen Augen. Er kam ein paar Schritte auf ihn zu, ziemlich dicht sogar. Dann stellte er sich auf seine Zehenspitzen, damit sein Mund sein Ohr erreichte, und flüsterte ihm zu: „Leb wohl, Kaiba.“ Dann zog er an ihm vorbei und entfernte sich.   Noch Minuten danach stand Seto wie versteinert im Gang. Erst nach einer ganzen Weile machte er sich wie in Trance auf den Weg in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Er war gegangen, der Mensch, der ihm am allermeisten bedeutete und den er mehr, als es Worte beschreiben konnten, liebte, hatte sich unwiderruflich von ihm abgewendet. Ein Gefühl breitete sich aus seiner Magengegend in alle Richtungen innerhalb seines Körpers aus, eine Verzweiflung und Wut auf sich selbst, so stark, dass er es nicht mehr kontrollieren konnte. Er schrie laut auf, ging auf seinen Schreibtisch zu und feuerte den Ordner in eine Ecke. Nein, das war nicht genug. Er nahm die Schreibtischlampe und ließ sie an der gegenüberliegenden Wand zerschellen, bevor er einige Bücher aus den Regalen nahm und sie kreuz und quer durch den Raum fliegen ließ. Erst, als er mit der nackten Faust gegen eine Wand schlug und merkte, dass er blutete, verebbte die Wut und machte reiner Verzweiflung Platz. Er hockte sich auf den Boden, gegen die Wand gelehnt, und sackte völlig in sich zusammen, ließ allen Tränen freien Lauf. Er war absolut machtlos gegen das, was er gerade fühlte. Das, was ihm im Leben einen Sinn gegeben hatte, war fort, und es zog ihm den Boden unter den Füßen weg.   Erst als er merkte, wie sein kleiner Bruder ihn umarmte, entkam er seinen Gedanken wieder. Er hob seinen Kopf an und sah Mokuba in die Augen. „Joey ist fort, Mokuba. Ich hab‘ ihn verloren.“ Er schlug sich die Hände über den Kopf und fiel erneut in sich zusammen, seine Stimme nicht mehr als ein krächzendes Aufschluchzen. „Ich weiß, Seto, ich weiß“, hörte er Mokuba sagen, und als er von ihm in eine erneute, feste Umarmung gezogen wurde, da merkte er, wie auch der Kleinere ein Meer aus Tränen vergoss. Kapitel 24: Rescue me... maybe ------------------------------ Als sein Wecker klingelte, war Seto schon wach. Schlaf war etwas, das er in den letzten Tagen nicht zu seinen treuen Begleitern zählen konnte. Meist lag er nachts einfach reglos im Bett und dachte an das, was er verloren hatte. Das Bett fühlte sich ohne Joey so leer an, und dasselbe Gefühl machte sich auch in seinem Herzen breit.   Er hatte alle Tränen geweint, von denen er niemals gedacht hatte, dass er sie überhaupt in sich trug. Aber davon war nichts mehr übrig. Schwermütig erhob er sich aus dem Bett und ging zu seinem Ankleidezimmer. Er hatte in letzter Zeit nicht mehr so genau darauf geachtet, wie er sich kleidete, weil ihm das einfach so unwichtig erschien. Also zog er sich irgendwas an und ging kurz ins Bad, um sich zumindest das Gesicht zu waschen. Die Reflexion im Spiegel machte offensichtlich, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Seine Augenringe fielen tief in seine Wangen und er war blass. Das Blau in seinen Augen hatte jeglichen Glanz verloren. Er ertrug seinen Anblick nicht, weil er sich selbst dafür verabscheute, was er Joey angetan hatte. Er wandte seinen Blick wieder ab und machte sich auf den Weg zum Esszimmer.   Mokuba wartete bereits auf ihn und begrüßte ihn mit einem sorgenvollen Blick. Er setzte sich auf seinen üblichen Platz und sah zu dem Stuhl rüber, der noch vor einer Woche dem blonden Wirbelwind in seinem Leben gehört hatte und nun leer war. Wenn er ehrlich war, würde dieser Stuhl für immer ihm gehören und er würde niemals wieder jemand anderes dort sitzen lassen.   Wie aktuell üblich, rümpfte er nur die Nase, als ihm das Essen serviert wurde. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr wirklich etwas gegessen. Seinen Kaffee rührte er ebenfalls nicht an, weil er ihn viel zu sehr daran erinnerte, wie gleich sich Joey und er waren, wenn es um ihre Kaffeepräferenzen ging. Die Zeit beim Frühstück verbrachte er oft damit, auf Joeys Platz zu starren und sich vorzustellen, er wäre hier und würde mit seinem Grinsen den gesamten Raum erhellen.   Als er merkte, dass Mokuba mit seinem Frühstück fertig war, erhob er sich und machte sich auf den Weg zur Limousine. Seine Gesichtszüge waren völlig emotionslos, was für jeden, der ihn nicht so gut kannte wie Joey, nichts Außergewöhnliches war. Wenigstens fiel er jetzt nicht noch zusätzlich auf. Auch der Sitz im Wagen neben ihm blieb frei. Er schloss die Augen und erinnerte sich daran, wie sich ihre Fingerspitzen durchgängig während der Fahrt berührt hatten, wie sie sich noch ein letztes Mal küssten, bevor sie in den Schulalltag starteten. Seto musste schmerzhaft aufstöhnen. Es waren immer die gleichen Erinnerungen, die ihn verfolgten, die alltäglichen Momente mit seinem Hündchen, die noch vor kurzer Zeit zu ihrem gewohnten Leben dazu gehörten und die er doch nicht genug zu schätzen gewusst hatte.   Die Limousine kam zum Stehen und ihm wurde die Tür aufgehalten, damit er aussteigen konnte. Es war ein sonniger Tag, und durch den Schlafmangel war das fast unerträglich für ihn, weshalb er sich angewöhnt hatte, eine Sonnenbrille zu tragen. Dann konnte man zumindest auch seine tiefen Augenringe nicht mehr so stark erkennen. Müßig setzte er sich in Bewegung, um in die Klasse zu gehen – ein erneuter Tag, den er ohne den Blonden verbringen würde, und damit ein weiterer Tag in einer langen Liste von Tagen, die ihm absolut sinnlos erschienen.   So ganz stimmte das natürlich nicht, denn auch Joey ging zur Schule, sie waren ja sogar in derselben Klasse. Aber er ignorierte ihn gekonnt, genauso wie der Rest des ‚Kindergartens‘, und genau das war auch das Problem. Mit wüsten Beschuldigungen, Beschimpfungen, Beleidigungen, ja selbst mit roher Gewalt hätte er umgehen können, aber einfach links liegen gelassen zu werden und so zu tun, als existierte er gar nicht mehr, das traf ihn am meisten. Mit dieser Situation konnte er gar nicht umgehen.    Er hielt sich im Hintergrund, und wann immer er konnte, flüchtete er aus dem Klassenzimmer. Er ertrug Joeys Bild nicht. Von seinem sonst so energiegeladenen Hündchen war nicht mehr als ein Häufchen Elend übrig geblieben. Er hatte ihn die letzte Woche nicht ein einziges Mal lachen sehen, und er wusste, das war seine Schuld. Er hatte ihm die Lebensgeister ausgesagt, und der Hass auf sich selbst wurde nur noch stärker.   Und als er da so auf seinem Stuhl saß, in ihrem Klassenzimmer, und den Blonden so lethargisch weiter vorn sitzen sah, da wusste er, dass er alles tun würde, um ihn wieder glücklich zu sehen, ihm das Lachen zurückzugeben. Und wenn das nur ohne ihn ging, dann musste er das akzeptieren. Dieser Gedanke ließ jede einzelne Faser seines Körpers schmerzen, aber er würde einfach alles für ihn tun.   Es war erst die zweite Schulstunde des Tages, aber Seto konnte nicht mehr. Er musste hier raus, bevor er noch vor der ganzen Schulklasse zusammenbrach. Die Schmach würde er sich gern ersparen wollen. Also packte er seine Tasche und stand mitten im Unterricht auf, machte Anstalten, den Klassenraum zu verlassen. Das führte offensichtlich zu einiger Verwirrung, nicht nur von Seiten der Schüler, sondern auch ihrer Lehrerin.    „Mr. Kaiba, darf ich fragen, wo Sie hinwollen?“, fragte sie ihn und er blieb für eine Sekunde an der Tür stehen, die Hand schon an der Klinke, die Sonnenbrille in der freien Hand. Er drehte sich so, dass er Joey aus dem Augenwinkel heraus sehen konnte, aber unauffällig genug, damit niemand sonst es merkte – und erkannte, wie dieser gedankenverloren aus dem Fenster sah und ihn keines Blickes würdigte. Er seufzte, setzte sich die Sonnenbrille auf und verließ den Raum, ohne die Frage der Lehrerin zu beantworten. Gerade rechtzeitig, bevor sich eine einsame Träne den Weg über seine Wange bahnen konnte.   In der Villa angekommen, war er unschlüssig, wo er hingehen sollte. Es gab keinen Ort, der ihn nicht an Joey erinnerte. Überall war seine Präsenz noch zu spüren, auch wenn er schon seit einer Woche weg war. Schlussendlich war es auch egal, wohin er gehen würde. Er wäre dumm zu glauben, er könnte den Gedanken an diese goldbraunen Augen einfach abschütteln, nur weil er an einem Ort war, der noch nicht von Joey berührt worden war. Also entschied er sich für sein Büro, auch wenn er die meisten seiner Aufgaben der letzten Woche delegiert hatte. Er gab nur ungern die Kontrolle ab, insbesondere, was seine Firma betraf, aber er hatte das Gefühl, in diesem Zustand einfach nicht zurechnungsfähig zu sein. Sich jetzt mit Geschäftspartnern oder Anwärtern dafür zu treffen, wäre absurd und würde nur mehr Fragen aufwerfen, als es zu Lösungen führen würde.   Er erwachte erst wieder aus seinem Dämmerzustand, als er merkte, dass die Sonne längst untergegangen war. Wie spät war es wohl jetzt? Hatte Mokuba schon zu Abend gegessen? Nicht, dass er selbst viel runterbekommen hätte, aber Mokuba war noch im Wachstum, es war wichtig, dass er genug aß. Was ihn selbst betraf, so war es ihm gerade ziemlich egal, ob das langfristige Folgen haben würde. Er konnte momentan sowieso nicht weiter denken als bis zur nächsten Stunde, und immer wieder quälte ihn dieselbe Frage: Wie sollte er es nur schaffen, bis dahin zu überleben, ohne Joeys Stimme zu hören?   Als das Licht eingeschaltet wurde, musste Seto sich schützend die Hände vor die Augen halten, damit sie sich langsam an die plötzliche Helligkeit gewöhnen konnten. „Hier steckst du, Seto“, hörte er Mokuba anklagend sagen. Er hatte schon seinen Schlafpyjama an. So spät war es also schon?   „Mokuba, du solltest doch schon längst im Bett sein.“ Mehr fiel ihm nicht ein, und das war ein einigermaßen unverfänglicher Satz, doch seinen Bruder schien das nicht zufriedenzustellen. Er sah, wie der Kleinere die Augenbrauen wütend zusammenzog und mit energischen Schritten auf ihn zu stampfte.   Er stützte sich mit den Händen auf dem Schreibtisch ab und fragte ihn zu ihm vorgelehnt: „Hast du was gegessen, Seto?“   Mal überlegen, hatte er? Wenn er schon darüber nachdenken musste, war es wohl ziemlich unwahrscheinlich. „Ich glaube nicht, nein“, antwortete er wahrheitsgemäß, was ihm einen erneuten bösen Kaiba-Blick des Jüngeren einbrachte.   Plötzlich hob Mokuba beide Hände an, nur um sie anschließend mit voller Wucht zurück auf den Schreibtisch zu befördern und mit erhobener Stimme von sich zu geben: „So kann es nicht weitergehen, Seto! Du siehst beschissen aus, und das ist noch maßlos untertrieben.“   Seto sah seinem Bruder ausdruckslos in die Augen und zuckte mit den Schultern. „Habe ich denn eine Wahl? Ich habe nicht das Gefühl, irgendwas tun zu können. Er wird nicht wieder zu mir zurückkehren, Mokuba.“ Seto spürte, wie seine Augen wieder leicht feucht wurden, aber er schaffte es gerade noch so, die aufsteigenden Tränen wieder versiegen zu lassen.   „Ist das so? Hast du es denn die letzte Woche überhaupt versucht?“   „An dem Abend, an dem er gegangen ist, ja. Und er hat mir klar gemacht, dass er mich hasst.“ Die Erinnerung daran brachte auch den ganzen Schmerz zurück, und es fiel ihm schwer, das auszuhalten.   „Und danach? Mann, Seto, du gibst doch sonst nicht so leicht auf! Was ist nur los mit dir?!“   Er betrachtete Mokuba nun etwas genauer. Er war wirklich richtig wütend geworden, und ganz unrecht hatte er mit dem, was er sagte auch nicht. Aber dennoch hatte Seto das erdrückende Gefühl, dass es sowieso aussichtslos war, was immer er auch versuchen würde.   Erschöpft seufzte er auf. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich sehe einfach nichts, was erfolgversprechend wäre.“   Mokuba setzte sich auf den ‚Besucherstuhl‘ vor seinem Schreibtisch und verschränkte die Arme vor dem Körper. Man konnte ihm ansehen, dass er scharf nachdachte. Doch dann schien ihm eine Idee zu kommen.   „Das ist jetzt nicht wahnsinnig konkret, aber ich glaube, du musst etwas für ihn tun, das du sonst für noch niemanden getan hast. Nicht mal für mich. Irgendwas, das ihm noch ein Stück mehr von dir offenbart, etwas, das er noch nicht von dir kennt oder weiß. Zumindest aus meiner Sicht könnte das ein sehr guter Beweis dafür sein, dass du es wirklich ernst meinst. Weil du dich damit ja auch angreifbar machen würdest, was im krassen Gegensatz zu deinem eigentlichen Plan stehen würde.“   „Und was soll das sein? Er kennt mich besser als jeder andere Mensch, Mokuba. Er kennt schon Seiten an mir, die du nicht kennst.“ Er war erstaunt über seine eigenen Worte – hatte er seinen Bruder damit verletzt? Doch dieser schien noch immer eher an einer Lösung zu feilen als das jetzt persönlich zu nehmen. War das nicht auch irgendwie logisch, dass Geschwister einen anders kannten als der Partner, und andersherum?   Seine Augen schweiften ab und glitten nun unfokussiert durch den Raum. Plötzlich traf sein Blick auf seinen Schreibtischkalender, und als er den roten Kreis um den nächsten Samstag erkannte, hatte er eine Idee.   Sein kleiner Bruder hatte das wohl mitbekommen und ihm das im Gesicht ablesen können. Doch statt Fragen darüber zu stellen, welcher Einfall Seto gekommen war, nickte er ihm nur zu und fragte dann: „Was kann ich tun?“   Das war eine ausgezeichnete Frage, denn um diese Idee auch wirklich in die Tat umzusetzen, mussten sie Joey dazu kriegen, dass der in ein Auto mit ihm stieg und sich von ihm stundenlang durchs Land fahren ließ. Aber es war ein erster Anhaltspunkt, und zum ersten Mal seit einer Woche hatte er das Gefühl, wieder ein ganz kleines bisschen Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen. Und er hatte Hoffnung, darauf, dass er diese goldenen Augen noch mal sehen durfte und dann vielleicht alles gut werden würde – oder er für immer untergehen würde.   ~~~~   Auch jetzt noch verfolgten seine eisblauen Augen Joey, wohin er auch ging, ob Seto nun anwesend war oder nicht. Seit Seto vor zwei Tagen mitten in einer Schulstunde das Klassenzimmer verlassen hatte, war es sogar noch schlimmer geworden. Wie sehr er auch versuchte, sich dagegen zu sträuben – er vermisste ihn. Oder besser gesagt, er vermisste die Version, die er ihm vorgespielt hatte, bevor er aufgeflogen war.   Als Joey Yugi die Situation erklärt hatte, hatte dieser sehr viel Verständnis gezeigt und ihm angeboten, so lange zu bleiben wie er wollte, und Joey hatte es dankend angenommen, schon aufgrund mangelnder Alternativen. Die letzte Woche war hart für ihn gewesen und er hatte sich sehr zurückgezogen, vor seinen Freunden und vor so ziemlich allem und jedem in der restlichen Welt da draußen. Heute Abend wäre das erste Mal, dass er wieder im Café arbeiten gehen würde, aber er hatte nur eine kurze Schicht und wäre für das Abendessen bei den Mutos wieder zurück. Das wäre der erste Abend, wo er sich der Außenwelt wieder ein bisschen öffnen würde, auch wenn er sich innerlich tot fühlte.   Er war immer wieder erstaunt darüber, wie wenig er gerade tun konnte, ohne an den Brünetten zu denken. Er bekam kaum etwas zu Essen runter, weil er sich daran erinnert fühlte, wie sie immer zusammen gegessen hatten. Kaffee hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr angerührt, aus so ziemlich demselben Grund. Und trotz der Tatsache, dass er hier bei Yugi das Gästezimmer bewohnte, das absolut nichts gemein hatte mit seinem Apartment bei den Kaibas, fühlte sich das Bett, in dem er schlief, kalt an ohne seinen Drachen an seiner Seite.   Seufzend stand er aus dem Bett auf und machte sich bereit für einen erneuten Schultag, der ihm wahnsinnig nutzlos vorkam. Er hatte nichts mehr, worauf er sich freuen konnte, und seit Seto nun wohl auch beschlossen hatte, nicht mehr zur Schule zu kommen, fühlt es sich nur noch sinnbefreiter an. Wenigstens stand die Golden Week bevor, sodass sie ab morgen für einige Tage schulfrei hatten. Auch wenn er überhaupt nicht wusste, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Vielleicht würde er um eine Extraschicht im Café bitten, damit er wenigstens irgendwas zu tun hatte.   Am Nachmittag begann seine Schicht im Café und er versuchte mit aller Kraft, zumindest den Ansatz eines Lächelns hervorzubringen, aber wenn er seinen Kollegen so ins Gesicht sah, konnte er nur stark vermuten, dass ihm das wenig gelang. Wie automatisiert ging er seiner Arbeit nach, musste aber feststellen, wie sehr das an seinen Kräften zehrte, und dabei waren seine Energiereserven doch schon vollständig aufgebraucht.   Er konnte es einfach nicht verleugnen, so sehr er es auch versuchte. Seto fehlte ihm. Noch immer klammerte sich ein Teil von ihm an die Hoffnung, dass er den wahren Seto Kaiba gesehen hatte und dass seine Worte wahr waren, die er gesagt hatte, als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten. Obwohl Joey in ihrer Beziehung schon oft Tränen vergossen hatte, so hatte er Seto selbst noch nie weinen sehen, und er konnte sich auch kaum vorstellen, dass andere das von sich behaupten könnten. Wahrscheinlich hatte er selbst vor Mokuba nur selten geweint, wenn überhaupt. War das ein Zeichen dafür, dass Seto ihm schlussendlich doch die ganze Wahrheit eröffnet hatte?   Es war der schwerste Abend in seinem gesamten Leben gewesen, als er ihn verlassen hatte. Während seiner letzten Worte an ihn konnte er den Schmerz überall fühlen, und diesen nicht nach außen dringen zu lassen, kostete ihn seine gesamte, verbleibende Kraft. Kaum hatte er die Villa verlassen, war er auf dem Boden zusammengebrochen und hatte allen Tränen freien Lauf gelassen, die er so krampfhaft unterdrückt hatte. Selbst jetzt noch, nur bei der Erinnerung daran, zitterte er am ganzen Leib. Er war der Sinn in seinem Leben gewesen, und nun war er fort.   Der andere Teil von Joey verurteilte sich selbst aufs Äußerste dafür, dass er noch immer hoffte, zu glauben wagte, was Seto ihm erzählt hatte. Dass er ihm seine erneuten Lügenmärchen abkaufte. Er war offensichtlich nicht mehr ganz bei Trost. Wer auch nur ein Fünkchen Intelligenz besaß, würde nach so einem großen Betrug keinen Gedanken mehr an so einen Verräter verschwenden.   Joey seufzte hörbar auf. Er konnte es einfach nicht verhindern, beide Seiten – die der Hoffnung und die der Verachtung für Seto – existierten in ihm und kämpften eine erbitterte Schlacht. Allerdings stand der Gewinner noch nicht fest.   Die Glocke an der Tür, die einen neuen Kunden ankündigte, wenn dieser das Café betrat, klingelte, und Joey drehte sich um, um den Neuankömmling wie gewohnt höflich zu begrüßen. „Willko...“ Weiter kam er nicht, als er sah, wer da gerade reinspaziert war. Was wollte Mokuba denn hier?   Für einige Sekunden sahen sie sich nur in die Augen, dann kam Mokuba auf ihn zu und begann das Gespräch, während er die Sorgenfalten in seinem Gesicht nicht verbergen konnte. „Hey, Joey, entschuldige, dass ich hier einfach unangekündigt bei deiner Arbeit auftauche. Hättest du nach Feierabend Zeit, um zu reden?“   Joey war ein wenig überfordert mit der Situation und sein Blick glitt nach draußen. „Keine Sorge, er ist nicht hier“, ergänzte Mokuba, und Joey konnte ein verständnisvolles Lächeln bei dem Kleineren entdecken. Er seufzte und knickte ein. Ein Gespräch mit Mokuba würde er schon irgendwie überleben. Außerdem war er ein Kaiba – er würde ihm dieses Gespräch womöglich sowieso einfach aufdrängen.   Um 18.30 Uhr machte Joey Schluss und trat hinaus in den Abend, wo Mokuba schon auf ihn wartete. Sie nickten sich zur erneuten Begrüßung zu und liefen zunächst einige Meter schweigend nebeneinander, irrten einfach zusammen durch die Straßen der Stadt.   Joey steckte seine Hände in seine Jackentaschen und schaute auf in den Himmel, dann fragte er: „Hast du es gewusst?“ Mokuba würde nicht nachfragen müssen, worum es hier ging, der Blonde hielt ihn für clever genug, das auch so zu verstehen. Er wurde nicht enttäuscht, denn der jüngere Kaiba-Bruder konnte ihm folgen.   Er hörte Mokuba ein Mal tief durchatmen, bevor er sagte: „Ja, ich habe es gewusst. Von Anfang an, ehrlich gesagt. Da habe ich Seto noch versucht, von dem Plan abzubringen, aber er war sehr überzeugt davon gewesen, zumindest ganz zu Beginn. Das hat sich dann ziemlich schnell geändert.“   Joey wusste nicht so richtig, was er mit diesem Wissen nun anfangen sollte. Dass Mokuba es gewusst, es aber nicht für nötig erachtet hatte, ihn einzuweihen, schmerzte ihn, sehr sogar. Er hatte auch ihm vertraut und hatte nun das Gefühl, von beiden Kaibas reingelegt worden zu sein.   Das konnte man ihm wohl offensichtlich sehr deutlich im Gesicht ablesen, und aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Mokuba ihn intensiv von der Seite beobachtete und eine Reaktion abwartete. Dann wandte er seinen Blick wieder ab und fing erneut an zu reden.   „Und als ihr mir dann offiziell von eurer Beziehung erzählt habt, da habe ich Seto damit konfrontiert. Habe ihm vorgeworfen, dass er dich nur verletzen will und sein Plan dann ja jetzt aufgegangen war. Du hättest seinen Blick sehen sollen, Joey. Ich hab‘ ihn ehrlich gesagt noch nie so fassungslos erlebt.“   Fassungslos? Wieso denn das? Joey ärgerte sich über sich selbst, aber er hatte es in seinem Leben nur selten geschafft, dass sein Verstand über seine Neugierde siegte, und auch in diesem Fall konnte sein Kopf keinen Punkt erzielen. Fragend sah er Mokuba an, der verstand und weiter erzählte.   „Er hatte mir dann erklärt, dass er schon sehr lange nicht mehr an diesen Plan gedacht hatte. Er hatte es mir nicht in aller Deutlichkeit so gesagt, vielleicht war er sich dessen damals selbst noch nicht bewusst, aber es war ganz offensichtlich, wie verliebt er in dich war. Das ist er noch. Er ist absolut vernarrt in dich. Er isst nichts, rührt nicht mal mehr seinen Kaffee an, und schlafen tut er augenscheinlich auch überhaupt nicht.“   Joey konnte die aufrichtige Sorge für seinen großen Bruder deutlich in seinem Gesicht ablesen. Erstaunlich eigentlich, wie sehr sich ihre Gewohnheiten ähnelten, selbst jetzt noch, wo sie doch gar nicht mehr zusammen waren. Sie gingen mit dem Kummer wohl ziemlich gleich um, das war schon fast unheimlich. Ein wohliger Schauer überkam Joey, den er innerlich verfluchte, aber doch nicht aufhalten konnte.   Offensichtlich hatte Mokuba aber noch etwas mehr dazu zu sagen. „Ganz ehrlich, Joey, dieser Plan war von vorne bis hinten dämlich, und das habe ich ihm auch mehrmals gesagt. Und ich glaube, das hatte er auch ziemlich schnell erkannt. Er hatte mir damals erklärt, dass euer Trip ans Meer alles verändert hat und ihm danach der Plan oder der Deal ziemlich egal war. Er wollte einfach nur bei dir sein. Auch das hat sich nicht verändert.“   „Ach so? Und warum kommt er dann seit Tagen nicht zur Schule?“, fragte Joey und regte sich augenblicklich darüber auf, wie unübersehbar er seine Neugier zur Schau stellte. Und konnte er da ein leichtes Schmunzeln auf Mokubas Lippen erkennen?   „Er hat mir gesagt, dass er dich nicht unglücklich machen will und das Gefühl hat, dass er der Grund ist, warum du nicht mehr lachst. Er ist der Meinung, dass, wenn er nicht da ist, du vielleicht mal wieder lachen kannst.“   Mokuba blieb seufzend stehen und blickte ihm nun direkt ins Gesicht. „Joey, er hasst sich für das, was er dir angetan hat. Weil er nicht offen und ehrlich damit umgegangen ist. Er kann sich kaum noch im Spiegel anschauen. Ich erkenne ihn nicht wieder, so wie jetzt habe ich ihn noch nie erlebt. Und ganz ehrlich, ich habe nur meine Klappe gehalten, weil er mir damals nach eurem ‚Outing‘ vor mir, wenn man das so nennen will, wirklich absolut glaubhaft darlegen konnte, wie ernst er es mit dir meint.“   Der Blonde war verwirrt – konnte er Mokuba glauben, oder lief er damit schnurstracks in die nächste Falle? Vielleicht hing Mokuba da auch irgendwie mit drin? Er war ja schließlich auch ein Kaiba, vielleicht steckte den beiden das irgendwie in den Genen, so abgrundtief skrupellos zu sein.   „Joey?“ Oh, er musste wohl gerade gedankenverloren in die Gegend geschaut haben. Er sah Mokuba wieder an, und sein besorgter Gesichtsausdruck feierte ebenfalls ein erfolgreiches Comeback.   „Hör zu, weswegen ich eigentlich gekommen bin: Ich möchte dich bitten, dich mit Seto zu treffen. Er will dir wirklich beweisen, wie ernst es ihm ist. Und wenn du danach trotzdem nichts mehr mit ihm zu tun haben willst, wird er es akzeptieren. Aber gib ihm diese eine Chance, Joey. Er weiß selbst, dass er sie nicht verdient hat, aber er will es versuchen.“   Joey sah Mokuba für einige Sekunden still an. Dann stöhnte er hörbar auf. „Kann ich es mir überlegen?“ Der Kleinere nickte. „Natürlich. Meine Nummer hast du? Seto hat mir nicht genau gesagt, was er vorhat, aber er meinte, es wäre wichtig, dass ihr euch diesen Samstag trefft. Ich will keinen unnötigen Druck machen, aber vielleicht schaffst du es ja, mir morgen eine Rückmeldung zu geben? Ich weiß nicht, ob er was vorbereiten muss oder so. Ich kann natürlich absolut nachvollziehen, dass du eine Nacht darüber schlafen willst.“   „In Ordnung, Mokuba. Ich melde mich morgen bei dir, ja? Ich... muss jetzt in diese Richtung.“   Mokuba schenkte ihm zum Abschied ein freundliches Lächeln, dann war er verschwunden. Und Joey hatte keine Ahnung, was er tun sollte.   Zurück bei den Mutos, fand er Yugi im Esszimmer vor. Hatte er mit dem Abendessen auf ihn gewartet?   „Entschuldige, dass ich so spät bin, Yugi.“   „Kein Problem, war viel los?“ Zwei neugierige Augen waren auf ihn gerichtet. Vielleicht konnte er ihm bei der Entscheidungsfindung helfen?   „Ja, na ja, das auch, aber eigentlich war es, weil... ich hab‘ Mokuba getroffen.“   Yugi zog überrascht die Augenbrauen nach oben. „Mokuba? Wie ist das denn gekommen?“   Joey zog sich die Jacke aus und hängte sie über seinen Stuhl, dann ließ er sich mit einem lauten Seufzer neben Yugi nieder. „Er kam zu mir ins Café. Will, dass ich mich mit Seto treffe. Am Samstag. Scheint irgendwas Besonderes mit dem Tag auf sich zu haben, aber Mokuba konnte mir auch nichts Genaueres sagen.“   Yugi nickte. „Verstehe. Und willst du ihn sehen?“   Der Blonde legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, massierte sich für einige Sekunden den Punkt zwischen den Augenbrauen. Dann erwiderte er: „Das ist die große eine Million Dollar Frage.“   Yugi schien mit sich zu ringen, schien hin- und hergerissen, wie er am ehesten reagieren sollte, aber was Joey im Moment am meisten brauchte, war vollkommene Offenheit. Er hatte keine Lust, sein Leben noch komplizierter werden zu lassen, als es eh schon war, wollte klare Antworten, selbst auf die Gefahr hin, dass sie wehtun könnten.   „Spuck’s aus, Yugi. Was denkst du?“   „Ich denke, du solltest es tun. Ich hab‘ dich doch die letzten Tage gesehen, Joey. Dir geht es überhaupt nicht gut, und wenn ich Kaiba richtig analysiert habe, kann man auch nicht behaupten, dass es ihm wahnsinnig viel besser damit geht. Ich glaube, er hat sich während und durch eure Beziehung sehr verändert, genauso wie du. Und ja, vielleicht hatte er am Anfang wirklich sowas Fieses geplant, aber wenn man euch beobachtet hat, dann war es nicht schwer, zu erkennen, dass es echt war. Und bevor du jetzt was sagst, natürlich habt ihr versucht, das vor allen zu verbergen, aber vor seinen besten Freunden klappt das eben nicht ganz so gut. Zumindest für mich war es sehr offensichtlich, wie vernarrt ihr ineinander wart.“   Lächelnd zwinkerte Yugi ihm zu und Joey errötete leicht. Sie waren also so ein offenes Buch für seine Freunde gewesen? Trotz allem, was sein Freund ihm da gerade gesagt hatte, die Unsicherheit blieb. Er legte seine Arme vor sich ab und bettete seinen Kopf darauf.   „Wovor hast du Angst, Joey?“   „Dass ich ihm glaube. Und das alles dann irgendwann noch mal passiert. Ich will mich nicht in irgendwelchen Lügenmärchen wiederfinden. Das, was ich für ihn fühle, ist echt, Yug.“   Als er Yugi wieder ins Gesicht blickte, erkannte er ein wissendes Lächeln und war sofort verwirrt. Yugi lachte kurz auf, dann sagte er: „Du hast im Präsens gesprochen. ‚Was du für ihn fühlst‘ anstatt ‚was du für ihn gefühlt hast‘. Tu es, Joey. Meine Intuition sagt mir, dass es ihm genauso gehen wird.“   Auf Yugis Bauchgefühl konnte man sich normalerweise gut verlassen, ob im Duell oder im Alltag war eigentlich nebensächlich. Außerdem hatte er recht - seine Gefühle für Seto waren immer noch da, auch wenn sein Vertrauen gelitten hatte. Das mochte dämlich sein, nach allem, was Seto ihm angetan hatte, aber er konnte es eben nicht verhindern. Liebe verschwand nicht einfach sang- und klanglos.   „Du liebst ihn sehr, oder?“, fragte Yugi und Joey musste den Blick abwenden, weil er schon wieder spürte, wie ihm die ersten Tränen in die Augen schossen.   Er nickte zögerlich. „Ja, sehr. Mehr als mir manchmal lieb ist.“ Da spürte er eine Hand auf seinem Rücken, und als er erneut in Yugis Gesicht sah, konnte er ein aufmunterndes Lächeln wahrnehmen. Sein Freund nickte ihm zu und signalisierte ihm, dass er die richtige Entscheidung treffen würde.   Er holte sein Handy raus und überlegte kurz, ob er Mokuba schreiben sollte, entschied sich dann aber um. Sie mussten das zwischen sich klären, Mokuba hatte sich bestimmt nur eingeschaltet, weil er niemals eingelenkt hätte, wenn Seto direkt auf ihn zugegangen wäre. Also tippte er eine Nachricht und schickte sie sogleich ab.   ‚Ich treffe dich Samstag. Sag mir, wann und wo.‘   Joey seufzte – jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Yugi recht behalten und er seine Entscheidung nicht bereuen würde.   Die Zeit bis Samstag verging wie im Schneckentempo. Freitag Nacht machte Joey fast kein Auge zu. Er war nervös, Seto wiederzusehen. So aufgeregt war er noch nie gewesen, wenn sie sich getroffen hatten. Er wusste, dieses Treffen würde final darüber entscheiden, wie es zwischen ihnen weitergehen würde – beziehungsweise, ob es überhaupt eine Zukunft für sie gäbe. Und genau das machte ihm Angst.   Sein Wecker klingelte um 6 Uhr morgens. Seto hatte ihm mitgeteilt, dass er ihn mit dem Auto bei Yugi abholen und es eine längere Fahrt werden würde, hatte aber nicht konkretisiert, wohin genau es gehen sollte, was dazu führte, dass Joey nur noch unruhiger wurde.   Er stand sofort auf, zog sich nach einer kurzen Katzenwäsche an und machte sich leise aus dem Haus. Zu so einer frühen Uhrzeit war noch niemand wach, also gab er sich alle Mühe, niemanden zu wecken.   Natürlich war er viel zu früh dran, und als er die Haustür nach draußen zur Straße öffnete, hatte er erwartet, noch niemanden sonst anzutreffen – aber da hatte er offensichtlich den Braunhaarigen unterschätzt, der mit dem Rücken zu Joey gewandt an das Auto gelehnt war. Es war noch nicht ganz hell, daher konnte Joey auch aus der Distanz gut erkennen, dass er auf sein aufleuchtendes Handydisplay sah und wild darauf herumtippte. Wohl mal wieder ein inkompetenter Mitarbeiter in der Firma? Er benötigte alles, was von seiner Selbstkontrolle noch übrig war, um darüber nicht zu schmunzeln. Das kam ihm so absurd vor, aber er konnte nichts dagegen tun.   Mit seinen Händen in den Jackentaschen stieg er die Treppen runter und stand nun auf dem Gehweg, direkt vor dem Auto. In diesem Moment hob auch Seto den Kopf, und für wenige Augenblicke sahen sie sich einfach nur in die Augen, keiner sagte ein Wort. Joey brach das Schweigen zuerst.    „Hi, Seto.“   Er konnte sehen, wie Setos Augen sich augenblicklich weiteten. Ah, ja, als sie zuletzt miteinander gesprochen hatten, da hatte er ihn ja wieder bei seinem Nachnamen genannt. Es kam ihm vor, als wäre das schon Jahrhunderte her, und er hatte es ja auch nur gemacht, weil er wusste, dass es ihn verletzen würde. Innerlich seufzte Joey auf – machte ihn das nicht auch irgendwie zu einem schlechten Menschen, wenn er ihm absichtlich Schmerzen zufügen wollte?   „Hi, Hündchen“, erwiderte Seto mit sanfter, flüsternder Stimme. Joeys Herz setzte einen Schlag aus. Ja, er konnte es versuchen zu leugnen, aber es war sinnlos – er hatte ihn vermisst, sehr sogar.   Noch einmal atmete der Blonde tief durch, dann stieg er auf der Beifahrerseite ein und Seto nahm auf dem Fahrersitz platz. Die Atmosphäre war immer noch unbehaglich, und Joey wusste einfach nicht so recht, was er sagen sollte. Dann betrachtete er Seto von der Seite, als dieser sich anschnallte und den Motor startete.   „Du siehst echt furchtbar aus, Seto“, stellte Joey fest und konnte sich ein leises Lachen einfach nicht verkneifen. Vermutlich sah er selbst auch nicht gerade topfit aus.   Der Braunhaarige lächelte leicht, als er ihn mit diesen intensiv blauen Augen anschaute und erwiderte: „Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir behaupten, Joey.“ Was...? Joey war sich sehr wohl bewusst, dass er sich die letzten zwei Wochen mehr schlecht als recht ernährt und weniger Stunden Schlaf gefunden hatte, als eigentlich gesund, aber Seto fand ihn immer noch... schön? Sie waren noch gar nicht losgefahren und Joeys Herz schlug ihm schon bis zum Hals.   „Tut gut, dich lachen zu hören, Hündchen“, ergänzte der Größere noch, während er das Auto ausparkte und sie losfuhren. Joey spürte, wie er ein wenig anfing, zu zittern – vor Freude? Er stellte es nun schon zum wiederholten Male fest, wie sehr er ihm gefehlt hatte. Er hoffte so sehr, dass er heute die Bestätigung bekommen würde, die er brauchte, dass sie beide noch eine Chance haben würden – ansonsten würde ihn das brechen, dessen war er sich sicher. Trotz allem durfte er sich da jetzt nicht Hals über Kopf reinstürzen, er musste vorsichtig sein, nicht, dass er am Ende doch nur wieder gnadenlos manipuliert wurde.   „Wohin fahren wir?“, fragte Joey nun neugierig, angestachelt von den offenen Worten von Seto, die ihm den Mut gaben, die Konversation aufrecht zu erhalten.   „Das wirst du sehen, wenn wir da sind. Ich sage nur so viel – es wird eine ziemlich lange Fahrt. Wir fahren in die Nähe von Nagano, in die Berge. Das wird ungefähr drei Stunden dauern, also wenn du etwas schlafen willst, mach das gern.“   Schlafen? Als ob daran jetzt zu denken wäre! Joey sah sich im Auto um und konnte auf der Rückbank etwas entdecken, was seine Neugierde – mal wieder – vollkommen geweckt hatte.   „Sind das Blumen?“   Setos Blick blieb weiter auf der Straße, aber er konnte ihn nicken sehen. „Ja, aber keine Sorge, die sind nicht für dich. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ich dich mit einem einfachen Blumenstrauß überzeugen kann, zu mir zurückzukommen.“ Ein leichtes Lächeln legte sich über seine Lippen. Joey wurde noch wahnsinnig von seinen eigenen Gefühlen! Er fand ihn einfach wunderschön, wenn er so lächelte, für ihn. Auch wenn er das einfach nicht mehr wollte, er war machtlos.   „Und für wen sind die dann?“   „Auch das wirst du sehen, wenn wir da sind. Ich weiß, dass das jetzt vermutlich total dämlich klingt, aber – vertrau mir.“   Ja, ein bisschen bescheuert klang das schon, da musste er Seto zustimmen. Aber irgendwas musste aus dem Größeren doch rauszukriegen sein!   „Kannst du mir nicht irgendeinen Anhaltspunkt geben? Irgendeine Information, mit der ich was anfangen kann?“   „Neugierig wie eh und je, hm?“ Seto lachte. „Also, das Einzige, was ich jetzt schon bereit bin, dazu zu sagen, ist, warum wir dort hinfahren. Mokuba hat mich auf die Idee gebracht, ehrlich gesagt, aber auch er weiß nicht, wohin wir fahren. Er hat den Vorschlag gemacht, dass ich etwas mit dir teile, was ich sonst mit noch niemandem geteilt habe. Und das habe ich nicht, noch nicht mal mit Mokuba. In noch keinem Jahr, seitdem...“   „Seitdem?“ Joey war jetzt noch verwirrter als vorher.   „Tut mir leid, vermutlich werfe ich mehr Fragen auf, als ich beantworte, oder? Du wirst alles verstehen, sobald wir da sind.“   Joey seufzte auf. Mehr würde er nicht aus ihm rausbekommen, dafür kannte er ihn mittlerweile gut genug. Er lehnte seinen Kopf an die Fensterscheibe und sah zu, wie die Sonne langsam aufstieg und den neuen Tag ankündigte, während Seto sie gekonnt aus der Stadt rausbeförderte.   „Hey, Joey, aufwachen, wir sind da.“ Er spürte eine Hand an seiner Wange, und noch immer im Halbschlaf drückte er sich der Berührung entgegen. Als er die Augen öffnete, war Setos Gesicht nahe seinem, und diese blauen Augen machten ihn jetzt schon total wahnsinnig. Setos Blick war so sanft, dass er seinen nicht abwenden konnte. Erstaunlich, dass er überhaupt hatte schlafen können, vermutlich hatte er gerade mehr Stunden Schlaf bekommen als die letzten paar Nächte zusammen. Aber allein, dass Seto da war, beruhigte ihn oft so ungemein, dass er schnell einschlief. Joey seufzte. Er hatte sich vorgenommen, möglichst neutral an das Treffen ranzugehen, aber hier lief mal überhaupt nichts nach Plan.   Joey konnte sehen, wie Sehnsucht in Setos Augen aufblitzte, aber er hielt sich zurück. Beide stiegen aus und Joey wurde von kühler Bergluft begrüßt, und die Aussicht war atemberaubend. Als er sich zu Seto umdrehte, sah er, dass er ihn unablässig beobachtete, ihm aber Zeit gab, sich umzuschauen.   Und während er genau das tat, holte Seto die Blumen von der Rückbank und einen großen Rucksack aus dem Kofferraum, den er sich auf den Rücken schnallte.   „Was ist da drin?“, fragte Joey interessiert, aber Seto lächelte nur als Erwiderung. Dann machten sie sich los und liefen einen schmalen Kiesweg entlang. Joey stellte fest, wie rein und klar die Bergluft war, wenn auch kühler als in der Stadt, und auch der Himmel trug mehr Wolken, aber das sollte ihm nur recht sein. Er hatte sich extra eine etwas dickere Jacke angezogen – ablegen konnte man ja immer was, aber frieren wollte er nicht unbedingt, und da er nicht gewusst hatte, wohin genau sie fahren würden, hatte er sich für alle Eventualitäten gewappnet.   Plötzlich entdeckte Joey etwas aus der Ferne. War das... ein Friedhof?   „Seto? Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“ Der Größere, der ein paar Schritte vor ihm gelaufen war, drehte sich zu ihm um und nickte ihm bestätigend zu. Also setzte auch Joey den Marsch fort, konnte sich aber noch immer keinen Reim darauf machen, warum sie hier waren.   Doch Seto schien genau zu wissen, wohin sie gehen mussten. Zielstrebig steuerte er sie beide über den Friedhof, bis er gefunden zu haben schien, wonach er gesucht hatte. Sie blieben vor einem größeren Grab stehen, das sehr gut gepflegt wurde. Es gab zwei Grabsteine aus schwarzem Marmor und die Grabfläche war wunderschön bepflanzt worden. An der Seite stand eine Vase, die Seto in die Hand nahm und offensichtlich nach einem Wasserhahn Ausschau hielt, als ein älterer Mann auf ihn zukam.   „Guten Morgen, Mr. Kaiba. Schön, Sie wiederzusehen. So schnell vergeht das Jahr, was?“ Seto drehte sich zu dem Mann um, der augenscheinlich der Friedhofswärter war, und begrüßte ihn ebenfalls mit einem, zumindest für Kaiba-Verhältnisse, freundlichen Nicken.   „Macht es Ihnen etwas aus, dafür zu sorgen, dass wir ungestört sind?“, bat Seto. Der Friedhofswärter legte den Kopf schief und grinste. „Selbstverständlich. Lassen Sie mich das mit dem Wasser machen.“ Dann entfernte er sich kurzzeitig, nur um Seto wenig später die Vase mit frisch befülltem Wasser zu überreichen, der dann die mitgebrachten Blumen reinstellte und die Vase zurück an ihren Platz brachte.   Dann kramte er eine Decke aus seinem Rucksack, die er vor das Grab legte, auf ein Stück freie Wiese. Er bedeutete Joey, sich zu setzen, der noch immer nur Bahnhof verstand. Aber er konnte irgendwie fühlen, dass das für Seto bedeutsam war, also passte er sich seinem Tempo an. Er würde es schon früh genug verstehen.   Sie nahmen auf der Decke Platz und es herrschte einen Moment Stille. Joey versuchte, irgendwie aus Setos Blick schlau zu werden, aber er hatte eine undurchdringliche Miene aufgesetzt und starrte auf die beiden Gräber vor ihm, so als ob er nicht wusste, wie er anfangen sollte. Dann atmete er tief durch und begann zu sprechen, und schon nach seinen ersten Worten verschlug es Joey den Atem.   „Hi, Mum, hi, Dad.“   Joeys Augen weiteten sich gefühlt ins Unermessliche. Mum? Dad? Seine... richtigen Eltern?   Setos Miene wurde weicher, als er Joeys Hand nahm, aber seinen Blick noch immer nach vorn gerichtet hatte. Joey war so perplex, dass er überhaupt nicht reagieren konnte. Er ließ es einfach geschehen.   „Ich bin heute das erste Mal nicht allein hier. Na, wer von euch hätte gedacht, dass das mal passieren würde?“ Seto lachte so warm, dass Joeys Herz einen Sprung machte.   „Das hier ist Joey. Ich glaube, ich habe euch irgendwann schon mal von ihm erzählt. Wir sind Klassenkameraden, und früher ging er mir ganz schön auf den Geist. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie sehr.“   „Hey!“, rief Joey aus einem Impuls heraus und hatte das Gefühl, damit eine intime Konversation gestört zu haben. Aber als Seto ihn dann für einen Moment ansah, mit diesem unheimlich liebevollen Blick, da schmolz er dahin und konnte nicht anders, als den Händedruck nun auch zu erwidern. Er konnte das Erstaunen darüber in Setos Augen aufflackern sehen, dann verstärkte der Braunhaarige den Händedruck noch etwas und behielt sein Lächeln bei.   „Wie auch immer, das hat sich verändert. Sehr. Mum, Dad, ich liebe ihn. Mehr als ich je irgendwas oder irgendwen geliebt habe.“   Seto richtete seinen Blick nun vollständig auf Joey, während er die nächsten Worte an seine verstorbenen Eltern richtete. „Ich habe viele Fehler gemacht, und vermutlich werden noch sehr viele mehr folgen. Er ist die erste Person, bei der ich so fühle, wie ich es tue, und er wird die Letzte sein. Ich werde jeden Tag dafür kämpfen, seine Liebe zu verdienen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich will für ihn der Mensch sein, der es wert ist, von ihm geliebt zu werden. Und dafür tue ich alles.“   Joeys Augen weiteten sich und er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Diese ganze Situation war so surreal und doch zeitgleich so atemberaubend schön. Seto nahm Joeys Hand und führte seinen Handrücken an seine Lippen, gab ihr einen ganz zärtlichen Kuss, und Joey hatte das Gefühl, dass sein Herz gleich explodieren würde.   Eine Weile lang saßen sie schweigend zusammen, noch immer Hand in Hand. Seto schien hier keine Angst zu haben, beobachtet zu werden, aber der Friedhofswächter hatte ja auch gesagt, dass er ihnen Ruhe verschaffen würde. Dieser war selbst auch nirgends zu sehen, außerdem war es noch immer früh am Morgen.   Joey gingen eine Million verschiedene Fragen durch den Kopf, und er wusste nicht so recht, wo er anfangen sollte. Da kam ihm Seto zuvor.   „Meine Eltern sind gestorben, als ich neun war, da war Mokuba gerade mal vier. Er kann sich nicht gut an sie erinnern, ich hingegen schon. Von Gozaburo adoptiert wurden wir, als ich zwölf war.“   Joey hatte sehr lange darauf gewartet, mehr über das Leben vor Setos Adoption zu erfahren, und sein Wunsch schien heute in Erfüllung zu gehen. Schon jetzt spürte er Dankbarkeit in sich aufkommen, die all die Wut und Verzweiflung der letzten zwei Wochen vollkommen zunichtemachte.   „Erzählst du mir von ihnen?“, fragte er vorsichtig und nahm nun auch Setos zweite Hand in sein.   Seto lächelte leicht und Joey konnte sehen, dass er gedanklich in Erinnerungen abschweifte, als er anfing, zu erzählen.   „Ihre Namen waren Riku und Yui Kojima. Bevor wir adoptiert wurden, hieß ich also Seto Kojima. Meine Mum war Lehrerin für Mathematik an einer Oberschule, mein Dad war promovierter Physiker.“   „Oh, also wurde dir deine Intelligenz tatsächlich schon in die Wiege gelegt.“ Ups, hatte er das gerade laut gesagt? Setos Grinsen nach zu urteilen war das der Fall, was Joey ein wenig erröten ließ.   „Vielleicht, das hatte aber nicht nur gute Seiten. Manchmal waren sie totale Dickschädel und einfach zu verkopft. Von ihrer Arbeit her waren sie es nicht anders gewohnt, als logisch zu denken.“   „Ja, da erkenne ich weitere Parallelen“, warf Joey grinsend ein, dieses Mal aber mit voller Absicht, und Seto erwiderte es.   „Wobei meine Mum als Lehrerin noch etwas sozialer ausgerichtet war. Sie war unglaublich fürsorglich, manchmal auch überfürsorglich, aber welches Kind würde das wohl nicht über seine Mutter sagen. Zumindest habe ich das immer angenommen, auch wenn ich keine Vergleichswerte habe. Sie war der emotionale Teil meiner Eltern, während mein Dad noch stärker rational dachte. Das heißt, wenn man was Süßes wollte, ging man am besten zu Mum.“    Joey bedachte Seto mit einem liebevollen Lächeln. Er spürte, wie die Seite in ihm, die Seto verachten wollte, langsam zur Startlinie zurückgedrängt wurde. Es sah alles danach aus, als würde sie den Kampf verlieren, aber noch war dieser nicht vorbei, die Stimme in Joeys Kopf, die ihn warnen wollte, nicht alles zu glauben, was er hörte, war noch immer da.   Dennoch – Joey konnte nicht anders und rückte näher an Seto heran. „Das klingt, als wären sie zwei wunderbare Menschen gewesen und als hätten sie euch sehr gut behandelt.“   Seto nickte. „Das haben sie, und das waren sie. Bis sie plötzlich nicht mehr da waren.“ Er nahm zur Kenntnis, dass Seto versuchte, es zu verstecken, aber die Traurigkeit in seiner Stimme und seinen Augen war nicht zu übersehen, zumindest nicht für Joey. Der Blonde rutschte noch ein wenig näher, sodass sich nun auch ihre Beine berührten. Er wollte die Frage nicht laut aussprechen, die ihm auf der Zunge lag, weil er Angst hatte, er würde damit zu weit gehen, aber Seto schien ihn wie so oft auch ohne Worte zu verstehen.   „Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben. Eigentlich ein ziemlich klassischer Fall. Ein Betrunkener ist ihnen in die Seite reingefahren und sie sind von der Fahrbahn abgekommen, haben sich einige Male überschlagen und hatten keine Chance. Sie alle drei nicht.“   Seto schien sich im ersten Moment gar nicht darüber bewusst zu sein, was er da gerade gesagt hatte. Erst, als er Joeys Blick sah, der ihn nicht nur sorgenvoll, sondern auch mit Fragezeichen in den Augen betrachtete, realisierte er wohl, dass er da eine wichtige Sache noch nicht erklärt hatte.   „Meine Mum war hochschwanger. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, war es nicht mehr lang bis zum Geburtstermin, maximal einige wenige Wochen. Es sollte ein Mädchen werden, aber auch sie hat es nicht überlebt.“ Joey verstärkte den Händedruck, bevor er fragte: „Wie war ihr Name?“   Überrascht blickte Seto auf. „Ist das wichtig?“   Daraufhin nickte der Blonde energisch. „Natürlich. Sie war deine Schwester, oder? Nur, weil sie noch nicht geboren war, heißt das ja nicht, dass sie nicht existiert hat.“ Seto schien zunächst sprachlos zu sein. Dann hob er eine Hand an Joeys Wange und streichelte sie sanft, und es lag so viel Zuneigung in der Berührung, dass Joey alles davon in sich aufsaugte. Ein Teil von ihm wollte sie wegschlagen, sich distanzieren, um sich selbst zu schützen, aber so, wie Seto sich gerade, metaphorisch gesprochen, nackt machte, so fielen auch in langsamen Schritten Joeys Mauern in sich zusammen.   „Sakura. Ihr Name war Sakura.“ Joey schloss die Augen und erlaubte sich, das Gefühl seiner warmen Hand auf seiner Wange zu genießen, zumindest für einen kurzen Augenblick. Dann drückte er seine eigene Hand dagegen, öffnete die Augen wieder und sagte behutsam lächelnd: „Wunderschön.“ Und Joey konnte nicht sagen, ob er damit ausschließlich den Namen oder auch Seto gemeint hatte.   Plötzlich zog Seto ihn in eine Umarmung, schlang seine Arme fest um ihn, sodass Joey nun zur Hälfte auf seinem Schoß saß, sein Kopf an Setos Brust, dessen Herz er heftig dahinter schlagen hören konnte. Sein eigenes würde da auf jeden Fall auch mithalten können.   Ohne sich voneinander zu lösen, fragte Joey: „Und warum liegen deine Eltern hier auf genau diesem Friedhof begraben?“   Seto lockerte die Umarmung ein wenig und strich Joey sanft eine Haarsträhne hinters Ohr. „Weil wir hier in der Nähe gewohnt haben. Ich bin hier aufgewachsen, bis sie gestorben sind und wir in ein Waisenhaus weiter weg von zuhause kamen.“   „Und warum war es so wichtig, dass wir heute fahren?“   „Weil es ihr Todestag ist, auf den Tag genau. Ich komme jedes Jahr hierher. Allerdings immer allein. Es wusste auch niemand, nicht mal Mokuba, dass ich das jedes Jahr mache, wenn man mal vom Friedhofswärter absieht. Aber heute hat sich das geändert. Wie so vieles, seit du in meinem Leben bist.“   Dann legte Seto seine Stirn an die von Joey und sie saßen einfach für einige Minuten schweigend beieinander, hingen ihren Gedanken nach. Joey konnte nicht glauben, was Seto da gerade mit ihm geteilt hatte. Es war wieder etwas, das er niemandem sonst bisher anvertraut hatte, und Joey fühlte sich nicht zum ersten Mal besonders und wertvoll. Und Joey spürte, wie nun auch der klägliche Rest der Stimme in seinem Kopf versiegte, die ihm zurief, er könnte Seto nicht vertrauen. Der Braunhaarige hatte ihm seine ganze Welt zu Füßen gelegt mit dem, was er ihm heute alles erzählt hatte. Und wenn Seto ihn wieder und wieder verletzen würde, dann musste Joey das Risiko eingehen. Vielleicht war es auch gerade diese bittersüße Koexistenz von Schmerz und Liebe, die ihre Beziehung erst so intensiv machte. Was immer es war – es gab kein Zurück mehr. Er brauchte ihn, wie er nichts anderes brauchte.   Seto löste sich von ihm und sagte: „Ich habe noch etwas, das ich dir zeigen will. Es ist sogar ein Geschenk, wenn du es denn haben willst.“ Joeys Neugierde wurde sofort wieder getriggert und er war gespannt darauf, was Seto vorhatte. Er holte sein Telefon raus und Kopfhörer, von denen sie sich jeweils einen in ihre Ohren steckten.   „Was du gleich sehen wirst, ist ein Video, das ich erst kürzlich habe digitalisieren lassen.“ Und schon als Seto das Video startete, bekam Joey feuchte Augen – es zeigte den kleinen Seto, wie er glückselig im Haus herum hüpfte.   „Mama, Mama, guck mal, ich kann einen Handstand!“   „Pass auf, mein Schatz, nicht, dass du dir noch weh tust.“   „Wenn ich groß bin, dann werde ich Weltmeister im Handstand!“   „Seto, wenn du groß bist, kannst du alles werden, was du willst.“   Der kleine Seto rannte freudestrahlend auf seine Mama zu und umarmte sie innig, und in der letzten Szene des Videos verkündete er: „Dann will ich mal so toll werden wie du, Mama.“   Seto schaltete das Video aus und entfernte die Kopfhörer wieder aus ihren Ohren. Joey hatte seine Stimme noch nicht wiedergefunden, spürte aber die heißen Tränen in sich aufsteigen, und schon kurze Zeit später bahnten sie sich ihren Weg in die Freiheit. Der Braunhaarige streichelte ihm sanft über die Wange, um sie wieder zu trocknen, aber das war zwecklos, weil die alten Tränen sofort durch neue ersetzt wurden.   „Das war wenige Wochen vor ihrem Tod. Sie haben viele solcher Videos gemacht, aber das hier ist mir besonders in Erinnerung geblieben, daher habe ich bei der Digitalisierung hiermit angefangen. Ich weiß nur nicht, ob ich das erreicht habe, was ich werden wollte. Meine Mum war eine ganz wunderbare Frau, und ich habe gerade das Gefühl, niemals ein so guter und reiner Mensch wie sie sein zu können.“   Joey spürte, dass er noch mehr sagen wollte, hinderte ihn aber daran, weil er ihm schwungvoll und schluchzend um den Hals fiel.   „Danke, Seto. Dass du mir all das heute gezeigt hast. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet. Ich...“   Seto hob Joeys Kopf an. „Ich liebe dich, Joey, das tue ich wirklich. Ich will keine Geheimnisse mehr vor dir haben, will, dass du alles von mir weißt. Und ich will, dass du der Einzige bist, der alle meine Seiten kennt. Weil du der Einzige bist, dem ich sie zeigen will.“ Er stockte kurz, dann ergänzte er: „Dich so zu verletzen, war der größte Fehler meines Lebens. Ich werde mich dafür niemals genug bei dir entschuldigen können, aber ich werde es versuchen, jeden Tag. Es tut mir so leid, dass ich dir nicht schon viel früher von dem Plan erzählt habe, aber noch viel mehr tut es mir leid, dass ich überhaupt so ein Arsch gewesen bin und diesen Plan erst aufgestellt habe. Das war mehr als nur dumm, das weiß ich jetzt, aber ich habe mich verändert und weiß jetzt, wer ich bin und wer ich für dich sein will. Ich kann und will dich nicht noch mal verlieren, Joey. Du bist alles für mich, und noch viel mehr. Ich sage es dir, so oft du es hören willst: Ich liebe dich, mehr als Worte beschreiben könnten. Bitte, komm zu mir zurück, mein Hündchen.“   Joey sah ihm tief in die Augen und musste mit seiner Fassung ringen. Alles in ihm wollte sich einfach in seine Arme stürzen und sich von ihm auffangen lassen, immer und immer wieder. Aber er zögerte, war für einen Moment in Gedanken, und Seto sah ihn ängstlich an.   Ach, scheiß drauf. Wenn er fallen würde, würde er fallen – aber er konnte einfach nicht mehr. Die letzten zwei Wochen hatten ihm gezeigt, dass ein Leben ohne Seto absolut keinen Sinn hatte, und heute hatte der Brünette ihm mehr gegeben, als er es sich jemals hätte wünschen können. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich so angreifbar machen würde, wenn er noch immer nur seine eigenen, wirtschaftlichen Interessen im Blick hätte. Das Video von gerade eben war der letzte Beweis dafür, dass das hier echt war. Und wenn er ihm so in die Augen sah, da überkam ihn diese Sicherheit, dass er ihn wirklich kannte. Alles, was er tun konnte, war hoffen, dass er ihn nicht nochmal so verletzen würde.   Dann ließ Joey los und ließ den Worten einfach freien Lauf. „Du hast mir weh getan, Seto, sehr. So sehr, dass ich nicht wusste, ob ich mir das alles nur eingebildet habe. Ob die Seite wirklich echt ist, die du in den letzten Monaten von dir preisgegeben hast. Aber heute, da sehe ich es ganz deutlich. Ich sehe dich. Der Mensch, der du wirklich bist. Seto, ich kannte deine Eltern zwar nicht, aber ich bin mir mehr als sicher, sie wären sehr stolz auf dich.“   Der Blonde nahm noch einen tiefen Atemzug, dann erklärte er: „Natürlich komme ich zu dir zurück. Ich könnte auch gar nicht anders. Du wirst mir Zeit geben müssen, das Vertrauen wieder aufzubauen, und vielleicht werden wir noch viele solcher dummen Probleme bekämpfen müssen. Aber ich will nicht ohne dich leben. Die letzten zwei Wochen waren die schlimmsten in meinem gesamten Leben. Das schaffe ich nicht noch mal.“   Joey nahm Setos Gesicht in beide Hände, sah ihm intensiv in die Augen und sagte: „Ich liebe dich, Seto. Mehr als du dir vorstellen kannst.“ Und dann küssten sie sich, vereinigten ihre Lippen zu einer, die viel zu lange getrennt voneinander gewesen waren. Joey konnte ihre Liebe überall in seinem Körper spüren, alles kribbelte und er verlor jegliches Raum-Zeit-Gefühl. Er stöhnte leicht in ihren Kuss hinein, als er Setos Hände an seinem Rücken spürte, um ihre Vereinigung noch zu intensivieren. Es war ein sehr zärtlicher Kuss, der für Joey die Welt bedeutete, weil er jetzt mit vollkommener Sicherheit wusste: Er gehörte zu Seto, voll und ganz, mit allem, was er hatte. Und er würde nie wieder von ihm loskommen, selbst dann nicht, wenn er es wirklich wollte.   Für einen kurzen Augenblick gingen sie auseinander. Nun war es Seto, der Joeys Gesicht in beide Hände nahm, und der Blonde konnte sehen, wie dem Größeren eine einsame Träne über die Wange lief. „Gott, ich bin so glücklich, Joey. So unendlich glücklich.“ Sanft lächelnd wischte Joey ihm die Träne weg und sagte: „Ich auch, mein Drache.“ Dann zog er ihn erneut in einen Kuss, umarmte seinen Nacken und zog ihn noch enger an sich, um ihn so nah wie möglich bei sich zu spüren.   Als sie sich schlussendlich wieder voneinander lösten und mit verklärtem Blick betrachteten, da wusste er, dass es niemals einfach werden würde und noch viele Herausforderungen auf sie warten würden. Aber was immer auch kommen mochte, er würde ihn immer lieben – weil er nicht anders konnte.   „Wir sollten langsam wieder zurückfahren, aber bevor wir gehen, würde ich gern noch was machen.“ Seto erhob sich und holte etwas aus dem Rucksack, das Joey sofort als den Ordner identifizierte, mit dem dieses ganze Drama überhaupt erst begonnen hatte. Auch Joey stand nun auf und beobachtete jeden Schritt seines Drachen. Dieser holte neben dem Ordner noch eine kleine Schüssel hervor, sowie ein Feuerzeug. Er stellte die Schüssel auf den steinernen Gehweg und riss mit viel Energie die erste Seite aus dem Ordner, die, die seinen ursprünglichen Plan beinhaltete. Er zerknüllte den Zettel, und ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, zündete er diesen in der kleinen, offensichtlich hitzebeständigen Schale an, bis nur wenige Sekunden später nur noch ein kleiner Aschehaufen daran erinnerte, was mal auf diesem Zettel gestanden hatte.   Seto wollte mit der nächsten Seite fortfahren, doch Joey hielt ihn ab. „Warte! Das sind doch jetzt alles Seiten mit Fotos, oder? Vielleicht kann man da ja noch was draus machen. Die müssen wir nicht unbedingt verbrennen.“   Unschlüssig schaute Seto den Blonden an. „Bist du sicher, Joey?“ Joey nickte. „Absolut. Lass uns ein Erinnerungsalbum daraus machen.“   Seto zog Joey daraufhin eng an sich. „Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich dich liebe?“ Erneut küssten sie sich zärtlich, und das Lächeln der beiden war auch noch in ihrem Kuss zu spüren.   Als sie wieder voneinander abließen, ergänzte Seto: „Aber lass uns wenigstens den Ordner wegwerfen, ja? Auf dem Weg nach draußen habe ich Mülltonnen gesehen, da schmeißen wir ihn einfach rein und nehmen vorher die Seiten raus.“   Grinsend stemmte Joey die Hände in die Hüften. „Was, wirst du jetzt abergläubig?“   Amüsiert lachte der Brünette auf. „Vielleicht, aber ich will das Ding nicht mehr im Haus haben.“ Sie verstauten alle Sachen wieder ordnungsgemäß im Rucksack und machten sich auf in Richtung Ausgang, wo sie dann auch den Ordner entsorgten.   Und während sie Hand in Hand zum Auto zurückliefen, da war Joey froh, die Entscheidung getroffen zu haben, heute herzukommen. Es war nicht einfach gewesen, und mit Seto Kaiba an seiner Seite würde es das wohl auch in Zukunft nicht werden. Aber auf eines würde er sich immer verlassen können: Ein Leben mit Seto Kaiba würde nie eintönig werden. Und wer würde schon ein langweiliges Leben führen wollen? Kapitel 25: Rescue me... from the raging storm inside us -------------------------------------------------------- Seto sah Joey nach, als dieser zurück in das Haus der Mutos ging, um seine Sachen zu packen. Der Braunhaarige lehnte sich an sein Auto und atmete erleichtert auf. Noch vor wenigen Stunden hätte er niemals gedacht, dass Joey wieder zu ihm zurückkommen würde, schon gar nicht so schnell. Für einen Moment erinnerte er sich an die Konversation im Auto, die Joey initiiert hatte.   ~~~~   „Hey, Seto?“ Joey war ein bisschen nervös, die Frage zu stellen, die ihm gerade am meisten auf der Seele brannte.   „Hm?“   „Also... wo fahren wir denn jetzt eigentlich hin?“   „Das... ist eine hervorragende Frage, mein Hündchen.“ Joey sah nur Setos Profil, während er weiterhin konsequent den Wagen fuhr, ihm blieb aber nicht verborgen, dass der Brünette darüber wohl noch überhaupt nicht nachgedacht hatte.   „Also... ich dachte... ich weiß nicht, vielleicht...“, begann Joey stotternd.   „Raus damit, Joey. Was dachtest du?“ Die Ungeduld in Setos Worten war nicht zu überhören.   „Na ja, vielleicht könnte ich... wieder mit zu dir kommen? Natürlich nur, wenn du willst. Ich will Yugi auch nicht länger zur Last fallen als irgendwie nötig. Ansonsten müsste ich mich wohl nach einer Wohnung umschauen. Dann würde ich mal beim Café nachfragen, ob ich mehr Stunden arbeiten könnte, und ich müsste auch erst mal schauen, wo ich mir überhaupt eine Wohnung leisten könnte. Da würde dann sicher auch mehr Geld für öffentliche Verkehrsmittel draufgehen, eine Wohnung im Zentrum kann ich mir abschminken. Aber ich hab‘ ja auch ein bisschen Geld gespart, also...“   „Joey!“   „Äh... was ist?“   „Kannst du jetzt mal endlich die Klappe halten?“   „...“   Seto parkte das Auto für einen Moment am Straßenrand, dann schnallte er sich mit schnellen Handbewegungen ab und zog Joey fordernd in einen hitzigen Kuss. Der Blonde wurde von Setos Verlangen komplett überrascht und konnte zunächst gar nicht reagieren, doch nur eine Sekunde später erwiderte er den Kuss mit derselben Intensität. Ein wenig ungeschickter als Seto, aber dennoch erfolgreich, öffnete auch er seinen Gurt und lehnte sich ihm weiter entgegen. Setos Hand berührte Joeys Wange und brachte sein Blut in Wallung, die Geschwindigkeit seines Herzschlags verdoppelte sich, mindestens. Leicht biss er Seto in seine Unterlippe und ließ ihn seufzen. Joey konnte sich nicht zurückhalten, stützte sich mit einem Bein auf seinem Sitz auf, um noch näher an Seto ranrutschen zu können. Eine Hand glitt unter dessen Hemd und Joey wurde süchtig nach der warmen Haut, die sich dahinter verbarg. Er löste den Kuss, um den Hals seines Drachen liebkosen zu können, was den Brünetten immer wieder erregt aufstöhnen ließ. Erst als dieser Joeys Gesicht fest in beide Hände nahm und ihn zu sich drehte, wurde ihr Liebesspiel unterbrochen. Joey konnte in Setos Augen sehen, dass er das eigentlich nicht wollte, aber sie standen hier ja an einer öffentlichen Straße, wenn auch auf einer Landstraße, auf der man ihnen nicht allzu viel Beachtung schenken würde, aber sie mussten es ja nicht unnötigerweise provozieren. Mit verklärtem Blick und tiefer Stimme hörte er Seto reden.   „Wie oft muss ich dir noch sagen, dass ich dich bei mir haben will? Natürlich möchte ich, dass du zurückkommst. Idiot.“ Das letzte Wort war nicht mehr als ein leises Wispern, und er zog Joey in einen erneuten Kuss, allerdings zärtlicher als noch davor, was ihm eine angenehme Gänsehaut am ganzen Körper verschaffte. Damit war es beschlossen – er würde wieder zu Seto ziehen. Er konnte es nicht abwarten.   ~~~~   „Hallo, Erde an Kaiba?“ Erst, als Seto Yugi wild mit seinen Händen fuchtelnd vor sich sah, kam er wieder im Hier und Jetzt an. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen und die Hitze abzuschütteln, die diese Erinnerungen in ihm ausgelöst hatten. Sofort straffte er sich und setzte seine harte Miene auf, wie üblich, wenn er nicht gerade mit Joey oder Mokuba sprach. Noch immer gegen den Wagen gelehnt, verschränkte er seine Arme vor der Brust und schaute Yugi mit hochgezogener Augenbraue an.    Der Bunthaarige schien irgendwas zu wollen, die Frage war nur, was. Er hatte beide Hände in die Hüften gestemmt und einen ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. Für einige Momente, vermutlich waren es sogar Minuten, standen sie sich so gegenüber, und für Seto fühlte es sich fast so an, als wenn er Yugi im Duell gegenübertrat. Keiner von beiden würde freiwillig aufgeben, auch wenn er absolut keine Idee hatte, was für einen Kampf sie hier eigentlich gerade ausfochten.   Irgendwann seufzte Yugi und schloss für einen Augenblick die Augen. Ha, schien ganz so, als hätte Seto gewonnen. Dann hob Yugi seine Augen wieder an und fixierte Seto mit einem durchstechenden Blick, den dieser erwiderte – niemals würde er vor irgendwem oder irgendwas einknicken. Na gut, sein Hündchen hatte da vielleicht die ein oder andere Möglichkeit, aber bestimmt nicht der Schwachkopf, der jetzt direkt vor ihm stand.   „Du hast Joey sehr weh getan, Kaiba.“   Erneut hob der Brünette eine Augenbraue an. Was sollte er denn darauf jetzt erwidern? Als ob er sich dessen nicht selbst bewusst wäre. Er brauchte sicherlich niemanden, der ihm deswegen jetzt noch zusätzlich Vorwürfe macht. Die hatte er sich in den vergangenen zwei Wochen schon selbst zur Genüge gemacht.   „Und du glaubst, das weiß ich nicht?“, antwortete Seto mit verächtlichem Unterton.   Yugi schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht gesagt. Ich will dich nur warnen.“   „Warnen?“ Belustigt zogen sich seine Mundwinkel leicht in die Höhe und eines seiner überheblichen Lächeln zierte nun sein Gesicht.   Yugi nickte. „Ja. Wenn du es wagst, ihn noch mal zu verletzen, dann kriegst du es mit mir zu tun. Persönlich.“   Okay, jetzt musste Seto sich wirklich beherrschen. Er benötigte alles, was er an Selbstkontrolle erübrigen konnte, um nicht in schallendes Gelächter auszufallen. Er stieß sich vom Wagen ab und ging in Richtung Haus, um nachzusehen, was zur Hölle Joey da drin so lange machte. Und um dieser Konversation zu entfliehen, die wirklich mehr als lächerlich war.   „Ich zittere schon, Muto“, erklärte Seto, während er an Yugi vorbeiging. Doch dann wurde er von dem Kleineren am Ärmel festgehalten und schaute ihm für einen Moment in die Augen, die ihn eindringlich anstarrten.   „Ich meine es ernst, Kaiba. So, wie ich Joey die letzten Wochen erlebt habe, habe ich ihn noch nie gesehen. Du bist ein toter Mann, wenn du sowas noch mal mit ihm machst.“   Setos Blick blieb hart wie Stahl, doch als er seine Augen abwandte und seinen Arm aus Yugis Zügeln befreite, erwiderte er: „Du hast recht, ich bin ein toter Mann, sollte sowas noch mal passieren. Allerdings nicht, weil du oder deine dämlichen Freunde mich dazu machen. Aber ich werde alles dafür tun, dass es nicht noch mal vorkommt. Alles. Das wird sich nicht wiederholen.“ Er drehte den Kopf nur ganz leicht, um Yugis Reaktion sehen zu können, und als sich ihre Blicke erneut trafen, nickten sie sich schwach zu. Dann machte sich Seto auf den Weg ins Haus.   Als er dieses betrat, hörte er Geräusche aus einem Zimmer und ging schnurstracks darauf zu. Und tatsächlich, er fand Joey dort vor, der gerade den Reißverschluss seiner Tasche zuzog. Als er Seto bemerkte, hob er überrascht seinen Kopf an. „Seto? Alles okay?“   Seto trat einen Schritt in den Raum und schloss hinter sich für einen Moment die Tür, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. Seine Mundwinkel zogen sich amüsiert in die Höhe, als er an seine Unterhaltung mit Yugi dachte.   „Yugi hat mir gedroht, dass ich ein toter Mann wäre, wenn ich dich noch mal verletzen würde.“   Erstaunen war aus Joeys Gesicht abzulesen, das sich anschließend zu einem vergnügten Lachen entwickelte. „Tja, das ist ganz Yugi.“ Joey schien für einen Augenblick verträumt Löcher in die Luft zu starren, dann fasste er sich wieder und schaute zu Seto zurück, noch immer ein fettes Grinsen im Gesicht. „Aber wenn wir mal ehrlich sind, gegen dich hätte er sowieso keine Chance.“   Seto musste scharf die Luft einziehen. So sah er das also, trotz der Tatsache, dass Yugi sein bester Freund war? Er zog Joey, der nicht weit weg von ihm stand, zu sich, drehte sie beide herum und drückte ihn gegen die geschlossene Tür. Bevor der Blonde auch nur ein Wort sagen konnte, presste Seto seine Lippen auf die von Joey und vereinnahmte ihn ganz. Sofort öffnete Joey die Lippen, sodass Seto mit seiner Zunge eindringen konnte. Er schmeckte so gut, und Seto wusste, er würde niemals genug von ihm bekommen. Als er sich kurzzeitig von ihm löste, konnte er sehen, wie benebelt Joeys Blick war. Ihm lief ein wenig Speichel aus dem Mundwinkel sein Kinn hinab, und Seto entfernte ihn mit seinem Daumen, den er anschließend, noch immer feucht, über dessen Lippen gleiten ließ. Joey schloss die Augen und stöhnte unterdrückt – er war sich offensichtlich noch allzu bewusst darüber, wo sie sich hier befanden. Sein Mund war noch immer leicht geöffnet, und Seto ließ den Daumen hinein gleiten, gefolgt von seinem Zeigefinger. Dieser Anblick, wie Joey gierig an seinen Fingern saugte, war göttlich und er konnte für einige Atemzüge den Blick nicht abwenden. Dann entzog er ihm seine Finger wieder und ging mit derselben Hand direkt unter Joeys T-Shirt, bis hoch zu seinen Brustwarzen, die er genüsslich reizte. Setos Mund war unterdessen damit beschäftigt, heiße Küsse auf Joeys Hals zu verteilen, bis hoch zu seinem Ohr, an dem er begierig knabberte. Seine andere Hand legte er an Joeys Hintern und zog ihn noch näher an sich heran – und auch durch den Stoff ihrer Hosen konnte er Joeys Erregung deutlich spüren.   „Seto... wir... können hier... nicht...“, brachte Joey abgehackt hervor. Er sah seinem Hündchen wieder in die Augen, die aus einem Strom verschiedenster Gold- und Brauntöne bestanden, und konnte es auch ganz eindeutig sehen. Joey würde sich nicht kontrollieren können, und Seto würde das auch gar nicht wollen, und das war hier nun mal schlicht und ergreifend schwierig.   Dennoch – er drückte ihm einen letzten Kuss auf die Lippen, den Joey seufzend erwiderte, bevor sie sich voneinander lösten.   Es war einen Augenblick still im Raum, nur ihr beschleunigter Atem war zu hören. Doch dann...   „Alle meine Entchen, schwimmen auf dem See, schwimmen auf dem See...“, fing Joey an zu singen, und Seto musste sich verkneifen, nicht prustend loszulachen. „Was machst du da?“, fragte er und konnte ein leises Lachen dennoch nicht unterdrücken.   Joey zuckte mit den Schultern. „Mich auf andere Gedanken bringen. So können wir hier schlecht raus, oder?“ Der Blonde legte ein schiefes Grinsen auf, und Seto konnte nicht anders als es zu erwidern.   ~~~~   Nun waren sie zurück in der Kaiba-Villa, und für Joey war es das Gefühl von Nachhausekommen. Es fühlte sich einfach wunderbar an, so schön, dass Joey mit den Tränen kämpfte, als sie die Eingangstür hineinkamen. Er war gar nicht so lang weg gewesen, und doch fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Er hoffte sehr, er würde es nie wieder tun müssen, denn er wusste, hier war sein Platz, hier war er genau richtig.   Joey wollte sich gerade auf den Weg in den ersten Stock machen, da hörte er, wie Seto sich hinter ihm räusperte. Er drehte sich um und fragte ihn: „Ist alles in Ordnung, Seto?“ Sein ernster Gesichtsausdruck machte Joey irgendwie Angst. Hatte er was verpasst, während er nicht da gewesen war?   „Du kannst natürlich in dein Apartment gehen, es steht dir wie immer zur Verfügung. Ich habe auch nichts ändern lassen, obwohl es natürlich geputzt wurde.“   Joey drehte sich jetzt vollständig zum Braunhaarigen um und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Aber?“   Leise lächelnd kam Seto einen Schritt auf ihn zu, wenngleich noch immer mit etwas Abstand. „Kein Aber, mein Hündchen, eher ‚Entweder‘ ‚Oder‘. Entweder, du gehst zurück in dein altes Apartment. Oder du kommst mit in meins.“   „In... in... in deins?“ Seto hatte ihn völlig aus der Fassung gebracht. War das etwa ein Vorschlag... zusammenzuziehen? Joey fiel die Kinnlade runter, als ihm bewusst wurde, was Seto ihm da gerade angeboten hatte.   Noch immer komplett verwirrt, erwiderte Joey: „Was... also, nur damit ich das richtig verstehe. Ich würde dann... bei dir wohnen... also... zusammen mit dir... in deinem Apartment?“   Setos Blick wurde weicher und er nickte, noch immer sanft lächelnd. Doch bevor er auf Setos Angebot eingehen konnte, wurde er stürmisch von hinten umarmt, sodass er Mühe hatte, nicht vornüber zu fallen.   „Joey! Du bist wieder da! Ich freu‘ mich so, dich zu sehen!“ Der kleine Wirbelwind hinter ihm war ganz offensichtlich Mokuba, dem es nicht entgangen war, dass Seto nicht mit leeren Händen nach Hause zurückgekehrt war. Joey lachte und drehte sich zu dem Kleineren um, ließ sich von ihm in eine Umarmung ziehen.    „Ich freu‘ mich auch, dich zu sehen, Mokuba. Und soweit ich gehört habe, bist du auch nicht ganz unschuldig an der Tatsache, dass ich wieder hier bin.“ Mokuba grinste ihn schief an. „Was, ich? Davon weiß ich nichts.“ Er zwinkerte Joey zu und löste die Umarmung. „Ich werde dir mal ein bisschen Zeit geben, dich wieder einzurichten. Das Abendessen ist bald fertig, sehen wir uns da?“ Joey nickte ihm bestätigend zu, und Mokuba zog von dannen.   Joey drehte sich noch einmal ein wenig zu Seto um. Er wusste, er hatte ihm noch keine Antwort gegeben, aber seine Wahl fiel ihm nicht mal ansatzweise schwer. Lächelnd, die Tasche über die Schulter geworfen, nahm er die Treppenstufen ins erste Obergeschoss und ging dann nach links weiter – wo Setos Apartment lag. Der Braunhaarige war ihm in einiger Distanz gefolgt, aber mitten auf der Treppe stehen geblieben, als er sah, wohin Joey ging. Grinsend drehte sich der Blonde um. „Kommst du, Seto?“ Joey hörte ihn scharf ausatmen, dann erklomm er in schnellen Schritten die letzten Treppenstufen und stand neben ihm.   „Bist du sicher, Joey?“, fragte er, und der Blonde musste sich wirklich fragen, warum Seto plötzlich so unsicher war. Immerhin hatte er es doch selbst vorgeschlagen. Schmunzelnd antwortete er: „Willst du, dass ich es mir anders überlege?“ Energisch schüttelte Seto den Kopf und Joey musste laut auflachen. „Dann los – ich hab’s nämlich auch nicht vor. Ich finde die Idee wirklich extrem gut.“ Seto atmete erneut scharf aus, dann nahm er seine Schlüsselkarte zur Hand und öffnete ihnen die Tür zu seinem Apartment – das ab heute auch das von Joey war. Bei diesem Gedanken kribbelte sein ganzer Körper.   Drinnen legte Joey die Tasche auf dem Sofa ab. „Hier“, sagte Seto hinter ihm und überreichte ihm seine eigene Schlüsselkarte. Diese hatte er in seinem Apartment gelassen, als er gegangen war. Er drehte sie ein paar Mal in seinen Händen und hielt sie dann ganz fest, wie einen kostbaren Schatz. Er verstaute sie in seinem Portemonnaie und war sich sicher, er würde sie nicht mehr hergeben. Nie wieder.   Als er seine Sachen verstaut hatte – er hatte tatsächlich noch ein wenig Platz in Setos Ankleidezimmer gefunden, was ihn selbst sehr verwunderte – gingen sie gemeinsam zum Abendessen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass Joey wieder ein ganz normales Essen zu sich nahm, und er kam nicht umhin zu glauben, dass dasselbe auch für Seto galt. Er spürte jetzt, wie ausgehungert und kraftlos er war und schlang gierig alles hinunter, was man ihm vorsetzte.   Mokuba erheiterte das offenbar ungemein. „Joey, wenn du weiter so machst, hast du nachher bestimmt Bauchschmerzen.“   „Waff? Iff? Niemalf.“   Auch Seto stieg jetzt in das Gelächter ein, und Joey fühlte sich so befreit, ihn endlich wieder lachen zu hören. Nie wieder würde er das missen wollen.   Als sie mit dem Essen fertig waren, sah Mokuba neugierig zwischen ihnen beiden hin und her. „Also“, begann er, „Seto hat ein ziemlich großes Geheimnis daraus gemacht, was er mit dir vorhatte. Ich weiß nur, dass es etwas war, was er mit mir noch nie gemacht hat.“ Als er Setos schuldbewussten Blick wahrnahm, ergänzte er: „Keine Sorge, ich hatte es ja selbst so vorgeschlagen. Scheint ja auch wunderbar funktioniert zu haben.“ Für einen Moment grinste er, dann fragte er: „Wollt ihr mir erzählen, was ihr gemacht habt?“   Joey schaute zu Seto. Es war nicht an ihm, zu entscheiden, ob sie es erzählen würden. Er wusste, dass es ein sehr intimes Thema war, und er würde es Seto überlassen, wie viel oder wenig er bereit war, preiszugeben. Auch Seto schien einen Moment darüber nachzudenken, doch dann lächelte er und nickte Joey zu.   Dann begann Seto zu erzählen. „Ich habe Joey mit zum Grab unserer Eltern genommen. Hab ihm von ihnen erzählt, und von unserer Kindheit vor Gozaburo. Als wir noch Mokuba und Seto Kojima waren. Ich weiß, dass du dich nicht so sehr an unsere Eltern erinnerst, Mokuba, deswegen bin ich bisher nicht mit dir da gewesen, aber wenn du magst, nehme ich dich nächstes Mal mit. Ich fahre immer zu ihrem Todestag hin, jedes Jahr, deswegen war es auch so wichtig, das heute zu machen. Aber ich wäre auch an jedem anderen Tag mit ihm hingefahren.“   Mokuba konnte sein Erstaunen nicht verbergen, doch dann lächelte er wieder. „Ja, ich komme das nächste Mal gern mit. Ich... ich glaube, ich würde gern mehr über sie erfahren, auch wenn ich mich nicht erinnern kann.“   Seto nickte ihm lächelnd zu. „Dann machen wir das. Ich habe außerdem angefangen, die Videos, die sie von uns gemacht haben, zu digitalisieren. Die können wir uns dann ja zusammen anschauen, was meinst du?“   Mokuba sah seinen großen Bruder mit Tränen in den Augen an und konnte seine Vorfreude nicht verbergen. „Ja, Seto, das machen wir!“   Sanft lächelnd wandte er sich nun wieder Joey zu. „Du weißt jetzt alles von mir. Wer ich war, wer ich bin. Und du bist es, der den Mann aus mir machen wird, der ich in Zukunft sein werde.“ Joey bekam feuchte Augen und eine sich überall ausbreitende Gänsehaut.    Joey schüttelte den Kopf, während sich eine einsame Träne langsam ihren Weg über seine Wange bahnte. „Ich bin mir sicher, ich kenne nicht mal die Hälfte von dir. Und das ist okay. Ich habe ein Leben lang Zeit, den Rest herauszufinden.“ Er spürte, wie Seto unter dem Tisch seine Hand nahm und sanft drückte, und sein Lächeln intensivierte sich noch etwas.   Ihre Blase, die sich schon wieder um sie herum aufgebaut hatte, wurde jäh zerstört, als Mokuba erneut zu sprechen begann. „Ich bin wirklich froh, dass ihr wieder zusammen seid. Und dass ihr wieder ihr selbst seid. Du hättest Seto die letzten zwei Wochen sehen sollen, Joey. So habe ich ihn wirklich noch nie erlebt.“   Joey nahm Setos Hand nun mit beiden Händen und streichelte sanft darüber, bevor er antwortete: „Mir ging es ähnlich. Aber ich hab‘ so ein Gefühl, dass sich jetzt nichts mehr zwischen uns stellen kann.“   Mokuba grinste von einem Ohr zum anderen. „Das will ich doch wohl schwer hoffen! So, ich mach mich jetzt vom Acker, ich muss noch Mathehausaufgaben machen. Ich hab‘ sowas von keine Lust.“   Joey musste lachen – das konnte er gut nachvollziehen. Er konnte sich überhaupt nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal Mathehausaufgaben gemacht hatte. Er schrieb sie normalerweise von Yugi ab, der Kerl war in so ziemlich jedem Schulfach ein verdammtes Genie. Hm, vielleicht konnte er Seto überreden, von ihm abschreiben zu dürfen? Immerhin war er der schlauste Mensch, den er kannte.   Als Mokuba verschwunden war, saßen die beiden noch eine Weile im Esszimmer und genossen einfach, beieinander zu sein. Dann fiel Joey etwas ein. „Hey, Seto, morgen ist doch das Schulfest mit dem großen Lagerfeuer. Ich hatte mich mit den Anderen verabredet, hinzugehen. Kommst du mit?“   Joey konnte wahrnehmen, dass Seto die Vorstellung, mit seinen Freunden rumzuhängen, missfiel, also legte er den besten Hundeblick auf, den er parat hatte. Seto schien das zu bemerkten und lächelte, dann streichelte er Joey – eben wie ein echtes Hündchen – am Kopf und willigte ein. „Gut, ich komm mit. Aber versprich mir bitte, dass du nicht versuchen wirst, mich zwanghaft in diesen ‚Kindergarten‘ zu integrieren.“   Joey grinste breit aufgrund seines Sieges. „Okay, ich geb‘ mir Mühe, aber ich kann hier nicht für Yugi sprechen.“ Seto seufzte genervt und Joey brach in schallendes Gelächter aus.   „Sollen wir langsam ins Bett gehen?“, fragte Joey und Seto nickte. Also machten sie sich auf den Weg zurück – in ihr gemeinsames Apartment. Würde er wohl immer dieses Kribbeln spüren, wenn er daran dachte?   Sie lagen noch ein bisschen wach, beide auf der Seite liegend, den Blick auf den jeweils anderen gerichtet. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet durch die Nachttischlampe. Joey streckte seine Hand nach seinem Drachen aus, der sie sofort nahm und seinen Handrücken mit Küssen bedeckte. Niemand sagte etwas, sie genossen einfach die gegenseitige Nähe. Seto zog ihn ein wenig dichter zu sich ran und sie umarmten sich. Joey schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, nahm alles von Setos Duft in sich auf. Ihn hier wieder so eng an sich zu spüren, war das wundervollste Gefühl auf der ganzen Welt. Seine Haut war warm und weich und er konnte seinen Atem in seinem Nacken spüren. Sanft strich Seto ihm über den Rücken, und jede Stelle, die er berührte, prickelte.   Schließlich lösten sie sich wieder voneinander und Joey schwang sich hoch, sodass er nun kniend über Seto war, auf den Händen aufgestützt. Er strich dem Brünetten sanft durchs Haar, der ihn gefühlvoll anlächelte. „Du bist so wunderschön, Seto.“   Der Angesprochene hob nun selbst eine Hand und strich Joey zärtlich über die Wange. Dann wurde sein Blick ein wenig ernster und es sah so aus, als wenn er etwas sagen wollte, aber in seinem Kopf die Wörter noch sortieren musste, bevor er sie aussprechen konnte. Joey gab ihm die Zeit, die er brauchte, und hörte ihn dann sagen: „Joey, mein Hündchen, ich... es tut mir so leid. Was ich dir angetan habe, ist eigentlich unverzeihlich, und doch bist du hier. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel mir das bedeutet. Wie viel du mir bedeutest. Aber ich verspreche dir, von heute an keine Geheimnisse mehr. Nichts soll mehr zwischen uns stehen. Ich werde nicht riskieren, dich noch mal zu verlieren. So einen Fehler mache ich kein zweites Mal. Das ist ein Versprechen.“   Joey konnte nur nicken, denn er wusste, wenn er jetzt etwas sagte, würde er heftig in Tränen ausbrechen, und das wollte er jetzt einfach nicht. Also senkte er nur seinen Kopf und küsste Seto, packte all die Liebe, die er für ihn empfand, in diesen Kuss. Seine Arme waren links und rechts von Seto abgestützt, ihre Körper waren sich ganz nah, und langsam konnte Joey die Hitze erneut in sich aufsteigen fühlen, die er schon die letzten Male empfunden hatte, als sie sich geküsst hatten. Behutsam teilte er Setos Lippen mit seiner Zunge und stupste die des Brünetten an. Er konnte noch den Minzgeschmack seiner Zahnpasta schmecken und hörte, wie er wohlig aufseufzte. Seto zog ihn an seinem T-Shirt noch näher zu sich. Mit der anderen Hand ging er unter das Shirt und streichelte in sanften Bewegungen seinen Rücken. Ihr Kuss wurde nun fordernder, ungeduldiger, gieriger. Joey setzte sich nun auf Setos Schoß und konnte deutlich seine Erregung spüren, was ihn selbst noch heißer machte. Er schob das T-Shirt des Brünetten ein wenig nach oben, sodass sein Bauch frei lag. Joey löste ihren Kuss und fing an, halsabwärts Küsse auf Setos Körper zu verteilen, bis kurz über seinen Bauchnabel, wo er stehen blieb. Achtsam strich er mit seiner Zunge über Setos Bauch, was ihm ein Stöhnen entlockte.   Plötzlich spürte er Setos Hände in seinen Haaren. „Joey?“ Sofort unterbrach der Blonde seine Tätigkeit und schaute zu Seto hoch. Er setzte sich wieder auf und sah ihn fragend an.   Seto strich ihm zärtlich über die Wange, als er sagte: „Lass uns heute hier Schluss machen, ja?“ Er lächelte ihn sanft an, aber dennoch war Joey verwirrt. „Ähm, okay... ha-hab‘ ich was falsch gemacht?“ Verlegene Röte machte sich auf seinen Wangen breit, doch Seto lachte nur schwach. „Nein, ganz im Gegenteil. Aber wir haben uns heute erst versöhnt, und ich will nicht, dass du denkst, ich habe das nur gemacht, um dich ins Bett zu kriegen.“   Erstaunt blickte Joey ihn an. „Aber das glaube ich doch gar nicht. Wirklich nicht.“ Setos Lächeln verstärkte sich noch ein wenig. „Gut, denn so ist es nicht. Auch wenn es natürlich ein schöner Nebeneffekt ist, mit dir zusammen zu sein.“ Schon wieder errötete der Blonde leicht. Was war denn heute nur los mit ihm? Er war doch sonst nicht so schüchtern!   „Außerdem“, hörte er Seto erneut sprechen, während er ein Gähnen nicht unterdrücken konnte, „bin ich echt verdammt müde. Ich weiß ja nicht, wie es dir die letzten zwei Wochen ging, aber ich habe ohne dich in diesem verdammten Bett kein Auge zugemacht. Aber ich glaube, jetzt, wo mein Hündchen endlich wieder da ist, wo es hingehört, werde ich wohl doch ein wenig Schlaf finden können.“ Noch während er das sagte, fielen ihm die Augen zu, und auch Joey konnte nun die Erschöpfung der letzten zwei Wochen in seinen Gliedern spüren. Eigentlich wollte er nicht aufhören, aber er wusste, Seto hatte recht. Und sie würden noch mehr als genug Gelegenheiten bekommen, das nachzuholen, dessen war er sich sicher.   Also legte er sich neben Seto und bettete seinen Kopf auf seine Brust. Er spürte ihn schon regelmäßig atmen, offensichtlich war er unglaublich schnell eingeschlafen. Und auch Joey merkte, wie er langsam ins Traumland entschwand, und er wusste schon jetzt, wen er dort treffen würde.   Am Nachmittag des nächsten Tages machten sie sich auf zum Schulfest. Das wurde traditionellerweise zu dieser Zeit des Jahres abgehalten, quasi als Übergang vom Frühling in den Sommer, und fand immer am Sonntag der Golden Week statt. Joey war nervös, weil er nicht wusste, wie seine Freunde reagieren würden, nach der Aussöhnung mit Seto. Er hatte ihnen allen erzählt, was zwischen ihnen vorgefallen war, er hatte gar nicht anders gekonnt, weil er seine Enttäuschung und seinen Schmerz nicht hatte verbergen können. Jetzt konnte er nur hoffen, dass Setos Präsenz die Stimmung nicht negativ beeinflussen würde. Vielleicht hielten sie ihn auch für naiv oder dumm, dass er so schnell zu Seto zurückgekehrt war? Er selbst wusste, es war die absolut richtige Entscheidung gewesen, aber würden seine Freunde auf sein Urteilsvermögen vertrauen, oder ihn dafür möglicherweise geringschätzen?   Als sie durch das Tor der Schule gingen, sahen sie Yugi schon von weitem winken, neben ihm standen Téa und Tristan. Joey war für einen Moment erleichtert, als er sie alle lächeln sah. Seto lief ein paar Schritte hinter Joey, während dieser gut gelaunt zu seinen Freunden stieß.   „Hey, Leute!“, rief er ihnen grinsend zu. Er konnte erkennen, dass Yugi noch immer lächelte, aber kaum hatte Seto zu ihnen aufgeschlossen, veränderte sich die Atmosphäre. Na toll, genau das, was Joey sich nicht erhofft hatte. Ein Blick nach hinten verriet ihm, dass Setos Miene finster und angestrengt war. Joey seufzte. Mit dieser Stimmung würde er den Tag garantiert nicht überstehen.   „Okay, Leute, ihr sagt zwar nichts, aber es ist nicht so schwer zu erraten, was ihr denkt. Yugi hat die Sache ja hautnah miterlebt, aber hier auch noch mal für euch: Seto und ich sind wieder zusammen.“   Tristan sah ihn mit hochgezogener Augenbraue und missbilligendem Blick an. „Und warum?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und es war keine große Kunst zu erkennen, wie viel Unverständnis in Tristans Augen lag.   Joey seufzte erneut auf, bevor er antwortete: „Sagen wir einfach, es war ein ziemlich blödes Missverständnis.“   „Nein.“ Seto stand plötzlich neben ihm, auch er hatte die Arme verschränkt, sein Blick noch immer ernst und undurchdringlich auf die Gruppe gerichtet. Joey sah ihn verwirrt an, genauso wie alle anderen Augenpaare.   „Das war nicht nur ein einfaches Missverständnis. Vielleicht ist das ein Teil der Wahrheit, aber ein genauso großer Part davon ist es, dass ich einen Fehler gemacht habe, den ich nicht hätte machen dürfen. Aber das wird nicht noch mal passieren. Ich mache die gleichen Fehler nicht zwei Mal, und diesen schon gar nicht.“   „Was...“ Joey war sprachlos, genauso wie seine Freunde auch. Niemand hatte damit gerechnet, dass Seto Kaiba jemals für irgendwas gerade stehen würde, schon gar nicht vor den Leuten, die er immer so nett als den ‚Kindergarten‘ betitelte. Wahnsinn, er hatte sich wirklich krass entwickelt, wenn er sowas jetzt ohne Probleme durchziehen konnte. Trotz allem war Joey noch immer komplett perplex. „Seto, warum...?“, stellte er die Frage, wenn auch unvollständig, die vermutlich allen gerade auf der Zunge lag.   Er sah Joey an, sein Blick unverändert. „Joey, dein Versuch, das zu erklären, in allen Ehren, aber ich möchte nicht, dass du so tust, als hätte ich hier keinen Fehler gemacht. Ich bin durchaus dazu bereit, Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Und die Hälfte davon zu verschweigen, macht es ja auch nicht ungeschehen.“ Setos Schuldgefühle waren unübersehbar in seinen Augen abzulesen, nicht nur für Joey, auch für den Rest der Gruppe, und sie alle starrten ihn mit offenen Mündern an. Damit hätte wohl niemand gerechnet, als sie heute hier aufgetaucht waren.   „So, und wenn von euch Losern jemand rumposaunt, was ich gerade erzählt habe, könnt ihr euch schon mal von eurem Leben verabschieden.“   „Seto!“ Doch dann fiel die Gruppe in schallendes Gelächter aus und die Stimmung entspannte sich wieder etwas. Und Joey war echt froh drum, auch wenn er noch immer verblüfft war von der Offenheit, die Seto gerade an den Tag gelegt hatte.   Den Nachmittag und frühen Abend verbrachte die Gruppe mit diversen Aktivitäten, die das Schulfest bot. Die meisten der Schulclubs hatten einen Stand, an denen sie zeigten, was sie das bisherige Schuljahr so gemacht hatten. Sie sahen sich unter anderem die Performance der Musik- und Theater-Clubs an, und während die Freunde, bestehend aus Joey, Tristan, Téa und Yugi wirklich ihren Spaß hatten, wirkte Seto an so ziemlich allem desinteressiert. Das Einzige, was seine Aufmerksamkeit tatsächlich die ganze Zeit über anziehen konnte, war Joey, denn wo auch immer er hinging, sein Blick folgte ihm. Es war ein bisschen unheimlich, aber dennoch – Joey fühlte das, was er immer dabei fühlte: Er fühlte sich besonders und wertvoll, und irgendwie beschützt. So als wenn nichts Schlechtes passieren könnte, solange Seto ihn nur ansah. Das war natürlich absurd, das wusste Joey, aber es machte ihn glücklich, und das war alles, was für ihn im Moment zählte.   Als das Holz für das große Feuer aufgestapelt wurde, versammelten sich immer mehr Schüler und Lehrer darum. Die Gruppe stieß dazu, als die letzten Handgriffe getätigt wurden. Die Sonne war mittlerweile schon fast untergegangen, nur noch ein paar letzte Strahlen am Horizont waren zu erahnen, als das Holz angezündet wurde und die ersten Funken den Schulplatz erhellten. Je größer das Feuer wurde, desto mehr ‚Oh’s‘ und ‚Ah’s‘ waren von den Zuschauern zu vernehmen, und auch Joey war so fasziniert, dass er den Blick kaum abwenden konnte.   „Woah, schaut mal, wie hoch die Flammen werden!“, rief Téa in die Gruppe. Joey musste lächeln – das war noch gar nichts im Vergleich zu dem Feuer, das Seto in ihm auslöste, wenn er ihn auch nur ansah. Sein Grinsen wurde noch breiter und er versuchte es wirklich, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen, aber Seto kannte ihn eben zu gut. Sie standen ein wenig vom Feuer weg, und da die Sonne inzwischen vollständig untergegangen war, wurden sie nur dezent beleuchtet. Also wagte es Seto und beugte sich ein wenig zu ihm runter, um ihm ins Ohr zu flüstern: „Na, mein Hündchen, welche schmutzigen Gedanken treiben sich denn in deinem Kopf herum?“ Er drehte sein Gesicht zu Seto um und grinste ihn herausfordernd an. Er konnte sehen, dass in seinen Augen das Feuer bereits zu lodern begonnen hatte, und Joey spürte es auch, in seinem ganzen Körper.   Mit einer Augenbewegung – denn mehr brauchte es nicht, damit Joey verstand – schlug Seto vor, sich allein zurückzuziehen, um das Feuer aus einiger Entfernung zu zweit zu genießen. Joey nickte leicht, dann wandte er sich an seine Freunde. „Hey, Leute, wir verziehen uns mal.“   Da sah er Tristan wieder angriffslustig grinsen. „Verziehen, ja?“   Joey knurrte und war schon jetzt auf dem besten Wege, ihn zu verprügeln. Er ließ sich einfach viel zu schnell von Tristans Sprüchen provozieren. Doch sein Freund lachte nur laut. „Ist doch schon gut, Joey, sei doch nicht gleich sauer. Macht doch, was ihr wollt.“ Und während Joey mit Seto hoch erhobenen Hauptes die Flucht ergriff, konnte er die Gruppe hinter sich lachen hören, und auch er konnte ein leises Lachen nicht mehr unterdrücken.   Sie stellten sich an eine Mauer von einem der Schulgebäude, von wo aus sie das Feuer noch immer gut sehen konnten, aber niemand sie mehr beachten würde. Ohne zu reden, beobachteten sie das Spektakel für eine Weile, aber Joey überkam das plötzliche Bedürfnis, das Schweigen zu brechen und sich zu unterhalten. Also sagte er: „Weißt du, Seto, du hast mich vorhin echt überrascht. Ich hätte nicht erwartet, dass du dich vor unsere Freunde stellst und zugibst, einen Fehler gemacht zu haben.“   „Also, Joey“, konnte er Seto direkt antworten hören, „zum einen ist das keine große Sache. Ich leite eine Firma, und auch wenn mir noch nie wirklich Fehler unterlaufen sind, bin ich doch mittlerweile erwachsen genug, für sie gerade zu stehen. Wobei ich mich tatsächlich an keinen anderen erinnern kann...“ Für einen Moment schien er in seine Gedanken abzuschweifen, und Joey schmunzelte in sich hinein. Klar, der große Seto Kaiba machte eben keine Fehler. Arroganter Lackaffe. Kopfschüttelnd glitt ihm ein erneutes Lachen über die Lippen, als Seto wieder ansetzte. „Und zum zweiten: Was zur Hölle meinst du mit ‚unsere Freunde‘? Ich bin sicherlich kein Mitglied deiner Gummibärenbande.“   Joey brach sofort in ein lautstarkes Lachen aus. „Gummibärenbande? Okay, das ist neu, das finde selbst ich witzig. Der Hammer, wenn ich das den Anderen erzähle, die lachen sich tot!“ Joey wischte sich die Lachtränen aus den Augen und wurde wieder etwas ernster. „Wie auch immer, alles, was ich sagen wollte, war: Danke. Ich fand es schön, was du gesagt hast. Hat mich auch ein bisschen stolz auf dich gemacht, irgendwie. Ich hab‘ das Gefühl, vor einem Jahr hättest du so noch nicht reagiert.“   Joeys Blick war weiter nach vorne gerichtet, auf das Feuer, das noch immer lichterloh vor ihnen brannte. Er spürte, wie Seto näher rückte und ihre Oberarme kurz davor waren, sich zu berühren. Sofort spürte Joey die übliche Sehnsucht in sich aufkommen. Er merkte, wie ihre Hände sich ab und zu leicht berührten, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Joey war sich nicht sicher, wie weit er gehen durfte, doch noch während er darüber sinnierte, griff Seto nach seiner Hand. Joey musste scharf einatmen. Noch eine Sache, mit der er heute nie im Leben gerechnet hätte. Und dann fing Seto auch noch wieder an zu sprechen.   „Joey, ich hab‘ nachgedacht“, begann der Brünette. Joey kam noch immer kein Wort über die Lippen, er war einfach so überrumpelt von Setos Aufgeschlossenheit heute. Er konnte nichts anderes tun, als Setos Händedruck zu erwidern und darauf zu warten, dass er ihn erleuchten würde, worüber auch immer er sich den Kopf zerbrochen hatte.   „Ich finde, wir sollten es öffentlich machen.“   Okay, Joey musste sich auf jeden Fall verhört haben. Hatte er gerade gesagt, er wollte, dass sie der Öffentlichkeit von ihrer Beziehung erzählten? Er? Was...   Noch immer fand er nicht die richtigen Worte, um irgendwas zu erwidern. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Seto einen sorgenvollen Blick auf ihn gerichtet hatte. „Joey, alles in Ordnung? Wir müssen das natürlich nicht tun, wenn du denkst, es ist noch zu früh. Und meine Gedanken sind ja auch nicht ganz uneigennützig, das muss ich schon zugeben.“   Seto seufzte kurz auf, dann redete er weiter. „Ich dachte nur, wenn das Versteckspiel ein Ende hat, vielleicht wäre die Wahrscheinlichkeit dann geringer, dass ich dich noch mal verliere. Ich weiß gar nicht so richtig, warum ich so denke, aber ich würde alles dafür tun, das nicht noch mal durchmachen zu müssen. Weil ich es nicht könnte. Außerdem – keine Geheimnisse mehr, oder? Und warum dann nicht das größte aller Geheimnisse lüften?“   Joey wagte einen Blick auf Seto, der nun in Gedanken verloren schien. Er schaute sich um – niemand sah oder beachtete sie. Konnte er es riskieren?   „Natürlich müssten wir das eng mit meinem Presseteam abstimmen, eine Pressekonferenz ansetzen und so weiter. Die Vorbereitung könnte schon ein paar Wochen dauern. Aber dann könnten wir...“   Weiter kam er nicht, denn Joey drückte seine Lippen auf die von Seto und brachte ihn damit zum Schweigen. Scheiß was drauf, wenn sie es wirklich öffentlich machen würden, wäre es eh nur eine Frage der Zeit, bis es jeder in der Schule wusste, und Joey hatte sich genau umgesehen, sie waren absolut unbeobachtet.   Seto erwiderte den Kuss mit einer Hitze, die locker mit der Temperatur des Lagerfeuers auf dem Schulplatz mithalten konnte. Joey stand jetzt direkt vor ihm, Seto noch immer mit dem Rücken zu Wand. Der Brünette schlang seine Arme um Joey und zog ihn noch näher zu sich heran. Scheinbar war es ihm auch egal, oder er war sich bewusst darüber, dass sie hier einen guten Spot hatten. Was auch immer es war, Joey würde sich nicht zurückhalten, nicht, nachdem sich die Hitze in ihm seit gestern so stark aufgebaut hatte, dass er sie nun nicht mehr würde kontrollieren können.   Seto löste sich atemlos von ihm. „Ist das ein Ja?“ Joey sah ihm intensiv in die Augen und konnten den Sturm in Setos Augen erkennen, der seinesgleichen suchte. „Dass du das noch fragen musst. Natürlich, du Idiot.“   Dann zog er ihn erneut in einen sinnlichen Kuss. Seine Hände wanderten unter Setos Hemd und er konnte merken, wie es Seto alles abverlangte, um nicht laut los zu stöhnen. Für ihn war es auch schon viel zu lange her gewesen. Joey war hungrig nach mehr, aber er wusste, das könnten sie tatsächlich hier nicht tun, aber er war sich sicher, dass er es nicht erst nach Hause schaffen würde. Also löste er sich erneut von seinem Drachen und sah sich um - bis ihm ein Einfall kam.   „Komm mit“, sagte er und zog Seto in die Schule, die sie durch einen Hintereingang betraten. Der Schulflur war dunkel, und Joey presste Seto sofort gegen die Wand und führte fort, was sie gerade unterbrochen hatten.   Gierig biss er Seto in die Lippe und leckte anschließend über die gleiche Stelle mit seiner Zunge. Seine Lippen waren so warm und weich, dass er sich nicht lösen konnte, bis er plötzlich Setos Zunge an seiner spürte, die seine in einen wilden Kampf einwickelte. Er spürte Setos heißen Atem an seinem Mund, immer wieder stöhnte er leise und versuchte wohl krampfhaft, sich zu beherrschen.   Joey begann, die ersten Knöpfe von Setos Hemd, von oben nach unten, zu öffnen. Dann löste er den Kuss, um sich Setos Hals zu widmen. Immer wieder saugte er leicht, passte aber auf, keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen. Irgendwann hatte er alle Knöpfe geöffnet und seine Hände strichen unkontrolliert und wild über Setos muskulösen Oberkörper. Joey spürte Setos Zunge an seinem Hals und wie er sanft an seinem Ohr knabberte – seine absolute Schwachstelle, und er musste höllisch aufpassen, nicht jetzt schon zu kommen. Nein, er wollte das so lange es ging hinaus zögern.   Während seine Finger unter Setos Hosenbund wanderten, blickte er ihm in die strahlend blauen Augen, die ihn ungeduldig anfunkelten. Setos Atem ging stoßweise und alles an ihm schrie vor Lust. Das entlockte Joey ein begieriges Grinsen und er leckte sich über die Lippen. Er würde alles für diesen Mann tun, was immer er auch von ihm verlangte, und er würde dafür sorgen, dass er ihm maximale Befriedigung verschaffen konnte.   Also fing er nun an, sich seinen Weg abwärts zu küssen, während Seto den Kopf in den Nacken legen musste, um nicht zu laut aufzustöhnen. Mit seinen Händen krallte er sich gierig in Joeys Haare. Mittlerweile kniete der Blonde vor ihm, küsste und saugte an Setos Bauchnabel, und der Brünette drückte sich heftig gegen ihn. Quälend langsam begann er, Setos Gürtel zu öffnen, und gerade, als er den obersten Knopf seiner Hose öffnen wollte, wurde er an den Haaren zurückgezogen, sodass er Seto nun von unten ansehen musste. Er spürte, wie ihm ein wenig Speichel aus den Mundwinkeln lief und leckte sich erneut erregt über die Lippen.   „Joey, uns könnte jemand sehen“, hörte er Seto abgehackt sagen. Es war so offensichtlich, wie geil Seto auf ihn war, dass Joey zunächst nicht wusste, ob er würde antworten können, weil er so überwältigt war von seinem Anblick. Von diesem Winkel aus sah Seto sogar noch heißer aus. Seine Bauch- und Brustmuskeln spannten sich an, weil der Brünette so sehr versuchte, sich zu kontrollieren, und die ersten Schweißtropfen flossen seinen verdammt scharfen Körper hinab.   Hungrig grinsend schaute er Seto weiterhin an, noch immer vor ihm kniend, und legte eine Hand an die Stelle, wo die Beule in Setos Hose immer größer zu werden schien. Während er diese in kreisenden Bewegungen liebkoste, biss er sich kurz auf die Unterlippe, bevor er antwortete: „Mhm, ich weiß.“   Seto stöhnte laut auf, dann zog er Joey so schnell zu sich hoch, dass dieser keine Chance hatte, zu reagieren. Der Braunhaarige hob ihn hoch und drückte ihn gegen die Wand, und Joey schlang seine Beine um seinen Körper und seine Arme um seinen Nacken, um ihn noch näher an sich zu spüren. Sehnsüchtig drückte er sich ihm entgegen, was Seto mit einem heißen Kuss quittierte.   Nur widerwillig – das war kaum zu übersehen – löste sich der Größere von Joey, bevor er sagte: „Joey, das geht hier nicht...“   Joey zog ihn mit der Kraft seiner Beine noch enger an sich, was Seto abrupt ausatmen ließ. Der Blonde lachte leicht. „Ach, nicht? Sieht mir nicht so aus, als wenn du es länger aushalten würdest.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte Joey: „Ich bin an meinem Limit, Seto. Ich will dich, hier, und ich will, dass du mich fickst, hart und schnell. Verstanden?“   Setos Augen weiteten sich, was Joeys Grinsen noch breiter werden ließ. Er liebte es, ihn mit seinen anrüchigen Worten so um den Verstand zu bringen, dass er nicht anders konnte, als sich der Lust vollkommen hinzugeben. Noch einmal wurde er von Seto in einen leidenschaftlichen Kuss gezogen, dann löste er sich wieder von ihm und sagte: „Halt dich gut an mir fest.“   Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, lief er los, und dass Joey nicht wusste, was er vorhatte, erregte ihn nur noch mehr. Genauso wie der leise Hintergedanke, dass sie jederzeit erwischt werden könnten.   Vor einer Tür wurde Joey von Seto abgesetzt, und als er sah, vor was für einem Raum sie standen, blieb ihm für einen kurzen Augenblick die Luft weg – es war ihr Klassenzimmer. Eigentlich war das ein Ort, mit dem er nicht sonderlich viele positive Erfahrungen verband, aber er wusste, das würde sich gleich schlagartig ändern.   Seto öffnete die Tür und bugsierte Joey mit fordernden Handgriffen hindurch. Der Raum war ebenfalls dunkel wie die Nacht und außerdem auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers, sodass es quasi ausgeschlossen werden konnte, dass sie jemand hier entdecken würde. Kaum war die Tür wieder hinter ihnen geschlossen, presste Joey Seto dagegen, um das zu Ende zu bringen, was er im Flur begonnen hatte, und Seto, der normalerweise den eher dominanten Part spielte, ließ ihn gewähren. Es schien ihm auch überhaupt nichts auszumachen, genoss es sogar ein bisschen, dass Joey gerade die Oberhand hatte. Noch standen sie sich aufgerichtet gegenüber, ihre Körper nah aneinandergedrückt, und Joey ließ sich von Seto in einen unbeherrschten Kuss verwickeln. Immer wieder stöhnten sie wollüstig auf. Joey war so erregt, dass ihm der Speichel nun in rauen Mengen das Kinn hinunterfloss, während ihre Zungen heftig umeinander tanzten. Seto nahm Joeys Gesicht in beide Hände, während Joeys Hände schon wieder dabei waren, den gesamten Körper des Brünetten zu erkunden. Und als Joey merkte, wie Seto ihn ein wenig, kaum wahrnehmbar, nach unten drückte, da war klar, was er wollte.   Joey lachte kurz auf. „So gierig, ja?“ Dann ging er ganz nah an Setos Ohr heran, während er mit seinen Händen langsam an dessen Oberschenkeln entlang strich. „Na schön, dein Wunsch sei mir Befehl.“ Stück für Stück küsste sich Joey Setos Oberkörper hinab, und als er wieder vor ihm kniete und seinen Bauch sanft mit seiner Zunge liebkoste, blickte er zu ihm hoch. Gott, er war so heiß, und Joey wusste, wenn Seto ihn jetzt an der richtigen Stelle berühren würde, würde er den Orgasmus seines Lebens bekommen. Setos Blick war stürmisch, seine Augen dunkelblau und voller Verlangen. Er hatte seine Hände wieder in Joeys Haare gekrallt, und Joey genoss den leichten Schmerz, den dieses Ziehen auslöste.   Endlich öffnete er Setos Gürtel und die Knöpfe seiner Hose und er merkte, wie das auch für den Brünetten eine Erleichterung war, als er genussvoll seufzte. Mit schnellen Handbewegungen zog er dem Größeren die Hose runter und zog sie ihm aus, ließ die Boxershorts aber noch für einen Moment an, um ihn noch mehr zu reizen. Seine Finger glitten unter die Shorts, während seine Zunge am oberen Bund leicht darunter fuhr. Dann schnappte er sich mit den Zähnen den Bund, und während er diesen ein wenig nach außen zog, schaute er Seto tief in die Augen.   „Joey, bitte...“, flehte Seto, und Joey löste die Zähne von den Shorts und ließ sie zurückschnappen. Mit erotisch-tiefer Stimme erwiderte er: „Ja, Seto?“ Er spürte, wie der Größere anfing, vor Lust zu zittern, und Joey genoss jede Sekunde von dem, was sie da gerade taten.   „Wenn... du nicht bald... was machst... dann ficke ich dich... gleich da auf dem Boden.“   Ein arrogantes Lachen kam Joey über die Lippen, bevor er sagte: „Na, dann sollte ich wohl langsam mal anfangen, hm?“ Er strich leicht über die Shorts, dort, wo Setos Erregung schon mehr als deutlich zu sehen war. „Joey... aah...“, stöhnte Seto voller Ungeduld. Auch Joey hatte mittlerweile große Probleme, sich zu beherrschen, aber er würde nicht einfach wie ein wildes Tier über ihn herfallen. Nein, er würde es langsam machen, damit er es richtig auskosten konnte, sie beide, und damit sie diesen Raum nie wieder würden betreten können, ohne auch nur eine Sekunde an das hier zurückzudenken.   Joeys Finger legten sich um den Bund von Setos Boxershorts und er hörte ihn ruckartig Luft einziehen. Ja, genauso wollte er ihn haben. Er ließ den Stoff zunächst über seinen Po gleiten, und dann, fast wie in Zeitlupe, gab er auch die Vorderseite frei und befreite ihn nun vollständig von den Shorts. Gierig leckte sich Joey die Lippen und spürte, wie sein Körper schon wieder Unmengen von Speichel produzierte.   Zunächst strich er mit einer Hand sanft über Setos Männlichkeit, was diesem ein lautes Stöhnen entlockte und Joey wusste, er hatte ihn an den Rand des Aushaltbaren gebracht. Und jetzt würde er ihm die Befriedigung verschaffen, die er sich nach dieser Tortur redlich verdient hatte.   Sanft berührte er die Spitze mit seiner Zunge, begann in kreisenden Bewegungen, diese zu liebkosen. Setos Griff in seinen Haaren verstärkte sich, und als Joey einen Blick hochwarf, konnte er sehen, wie der Braunhaarige seinen Kopf in den Nacken geworfen und die Augen fest zusammengekniffen hatte. Also ging er einen Schritt weiter und ließ die Zunge über die gesamte Länge gleiten, benetzte alles mit seinem Speichel. „Oh, Gott, Joey, das ist so geil“, hörte er Seto atemlos sagen. „Hör bloß nicht auf... bitte...“   Joey konnte sich glatt an das Gefühl gewöhnen, ihn so betteln zu hören, und er wusste, er würde später auch noch zum Zug kommen. Aber jetzt ließ er seinem Drachen den Vorzug. Er legte eine Hand um Setos Erregung und fing an, sie langsam auf und ab zu bewegen. Noch ein letztes Mal leckte er mit der Zunge über die Spitze, bevor er nun endlich auch den Mund einsetzte und alles in sich aufnahm, zunächst nur den obersten Teil, und dann, allmählich, auch den Rest. Setos ganzer Körper bebte und zitterte vor Erregung, und Joey bekam nicht genug davon. Hungrig saugte und leckte er, während seine freie Hand immer wieder Setos Oberschenkel und Oberkörper entlang streifte.   Setos Atem wurde immer schneller, sein Stöhnen immer lauter. Er drückte Joey noch enger an sich und Joey spürte, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte. Er ließ kurz von ihm ab, und während seine Zunge weiter sanft an Setos Schaft leckte, sah er zu ihm auf und flüsterte heiser: „Komm für mich, Seto.“ Dann nahm er ihn wieder mit dem Mund auf, und als Seto kam, rief er laut Joeys Namen, so wie er es normalerweise mit dem von Seto tat.   Joey schluckte gierig alles runter, aber es war so viel, dass ein wenig davon aus seinem Mund rauslief. Für einen Augenblick sahen sie sich an, beide heftig atmend, Joey weiterhin vor ihm kniend. Setos Blick war noch immer total benebelt und Joey fixierte ihn intensiv mit seinen Augen, während er mit dem Daumen das Sperma aus seinem Gesicht entfernte und diesen danach genüsslich ableckte, was Seto erneut wimmern ließ. Dann schmunzelte Joey zufrieden und ließ Seto Zeit, sich wieder etwas zu beruhigen. Es sah so aus, als wenn der noch eine Minute brauchte, um wieder in der Realität anzukommen, und während sich Joey am Waschbecken im Klassenzimmer die sichtbaren Spuren des gerade Erlebten entfernte sowie seinen Mund wusch, konnte er nur daran denken, wie unglaublich das eben gewesen war.   Plötzlich spürte er von hinten Setos noch immer heiße Finger unter sein T-Shirt krabbeln. Er ließ es sich von ihm über den Kopf ziehen. Dann legten sich dessen Hände an seinen Hosenbund, und während er in aller Seelenruhe die Knöpfe an Joeys Hose öffnete, flüsterte er ihm ins Ohr: „Jetzt bin ich dran. Du wirst jetzt genau das machen, was ich dir sage, verstanden?“ Und da war er wieder, der dominante Seto Kaiba, der Joey so anmachte. Erstickt stöhnend nickte er und legte eine Hand an Setos Hinterkopf, zog ihn näher zu sich, der sofort damit begann, hitzige Küsse auf Joeys Nacken und Hals zu verteilen und sanft in sein Ohrläppchen zu beißen. Er drückte seinen Hintern noch mehr in Setos Richtung und spürte, selbst durch die Hose, wie der Brünette schon wieder hart wurde. Wahnsinn, offensichtlich hatte sie beide ihre Beziehungspause so stark an ihre persönlichen Grenzen gebracht, dass es kaum eine Berührung brauchte, damit sie übereinander herfallen konnten. Und Joey wusste – genau das hatte Seto jetzt vor, und er würde jede Sekunde davon auskosten.   „Braves Hündchen. Zieh dich aus“, befahl Seto, und Joey leistete dem sofort Folge. Auch Seto entfernte nun sein Hemd vollständig, sodass sie nun beide nackt, wie Gott sie schuf, in diesem Raum standen. Dass sie es mal in ihrem eigenen Klassenzimmer treiben würde, damit hätte wohl keiner von beiden jemals gerechnet, aber irgendwas daran machte Joey noch geiler, als er eh schon war.   Noch immer stand Joey mit dem Rücken zu ihm und konnte nun seine großen Hände auf seinem Hintern spüren. Dann legte Seto eine Hand um seine Erregung und fing an, sie in langsamen Bewegungen zu massieren. „Aaah... Seto...“, stöhnte Joey laut auf. Das fühlte sich einfach so unglaublich gut an, dass er nicht verhindern konnte, hemmungslos los zu stöhnen.   Hinter ihm konnte er Seto erregt schnurren hören. „Du bist so verdammt geil, Joey. Ich werde dich so lange ficken, bis du deinen eigenen Namen vergessen hast. Willst du das?“   Nun drehte sich Joey zu ihm um, sein Mund geöffnet, damit er noch genug Sauerstoff einsaugen konnte, während sein Atem immer schneller ging. Seine Stimme war kaum mehr als ein kratziges Flüstern, als er antwortete: „Ja, Seto. Lass mich alles vergessen. Wo willst du mich haben?“   Ein arrogantes Lächeln legte sich auf Setos Gesicht. Er strich mit dem Daumen über Joeys Lippen, dann erwiderte er: „Wie immer, ganz das treu ergebene Hündchen, hm?“   Joey nickte heftig. „Ja, ich mache alles, was du von mir verlangst... Master.“ Setos Augen weiteten sich und er umfasste nun Joeys Kinn mit festem Druck, hob seinen Kopf ein wenig an. Er leckte sich lüstern über die Lippen, dann sagte er: „So wirst du mich ab jetzt immer nennen, wenn ich dich ficken will. Verstanden?“   Joey konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, dann antwortete er lasziv: „Verstanden... Master.“ Seto erwiderte das Grinsen, wurde aber sogleich wieder ernster. „Das machst du gut, mein Hündchen. Jetzt will ich, dass du zu meinem Platz rüber gehst und dich über den Tisch beugst.“   Oh Gott... das war wohl die großartigste Idee, die Joey jemals gehört hatte. Er war sich jetzt absolut sicher – sie würden diesen Raum niemals mehr, nicht auch nur für eine Sekunde, betreten können, ohne schmutzige Hintergedanken zu bekommen. Und das war großartig.   Joey gehorchte Seto brav und tat, wie ihm geheißen. Ungeduldig wartete er auf alles, was nun folgen würde. Sein Kopf lag seitlich und er sah und hörte, wie Seto in langsamen Schritten auf ihn zu kam. Plötzlich spürte er Setos Hand an seinem Hintern. Zunächst streichelte sie sanft darüber, dann nahm er Schwung und gab ihm einen kraftvollen Klaps. Joey stöhnte auf – und genoss den leichten Schmerz, den das hinterließ.   „Gefällt dir das, Joey?“, fragte Seto, und Joey fand es krass, wie kontrolliert seine Stimme sich anhörte. „Ja, Master. Noch mal.“   Er konnte Seto selbstgefällig hinter ihm lachen hören, und das Nächste, was er spürte, war ein erneuter Schlag auf den Po, ein wenig stärker als davor, und Joey war so in Ekstase, dass er alles daran bis zum Äußersten auskostete.   Dann spürte er Setos Zeige- und Mittelfinger an seinem Mund, und er wusste, was zu tun war. Er benetzte sie mit seinem Speichel, leckte unaufhaltsam daran und ließ seine Zunge um sie tanzen. Plötzlich hörte er Setos Stimme direkt an seinem Ohr, als er ihm zuflüsterte: „Ich werde gleich zwei Finger nehmen, und du wirst alles in dich aufnehmen, verstanden?“   Joey nickte. „Ja.“   Ein erneuter Hieb auf den Hintern, noch derber als davor. „Ja, was?“, fragte Seto mit dominantem Unterton, der heftigere Konsequenzen andeutete, wenn Joey nicht tat, was Seto verlangte. Erregt biss sich Joey in die Unterlippe. Genau so wollte er es, und er konnte es nicht mehr abwarten, Setos harte Stöße in sich zu spüren.   „Ja, Master.“   „Braver Hund.“   Seto nahm seine nun reichlich benässten Finger, und wie vorher angekündigt, ließ er beide gleichzeitig in Joey hineingleiten. Er fing sofort an, sich mit mäßiger Geschwindigkeit zu bewegen. Es war einfach überwältigend, welches Talent der Größere besaß, direkt die richtigen Stellen zu treffen, und statt Schmerz, weil er gleich zwei Finger genommen hatte, fühlte Joey nichts als pure Lust. Er warf sich ihm heftig entgegen, wollte noch mehr, und Seto nahm noch einen dritten Finger dazu, erhöhte die Geschwindigkeit und Härte der Bewegung.   Joey bewegte seinen Kopf ein wenig in Setos Richtung, der schräg hinter ihm stand und den Blonden mit berauschtem Gesichtsausdruck dabei beobachtete, wie er völlig ekstatisch alle Berührungen in sich aufnahm. „Master?“, fragte Joey und ließ seine Zunge über seine Unterlippe gleiten, was Seto einen wohligen Seufzer entlockte.   „Ja, mein Hündchen?“   Joey wartete einen kurzen Moment ab, genoss noch einmal das Gefühl von Setos Fingern in ihm, dann öffnete er erneut die Augen und sah ihn durchdringend an. „Wirst du mich jetzt endlich ficken?“   Seto entfernte lüstern grinsend seine Finger und ging nochmal ganz nah an Joeys Kopf ran, nahm sein Kinn fest in die Hand, und sagte ihm dann im gewohnten Befehlston: „Gut, ich erfülle dir deinen Wunsch. Aber du wirst die ganze Zeit nach vorne schauen. Haben wir uns verstanden?“   Als Seto Joeys Kinn losließ, folgte er sofort seiner Order und blickte nach vorn, wo das Fenster ihm einen Blick auf die Nacht bot. „Ja, Master. Ich werde alles tun, was du von mir verlangst.“   „Gott, Joey...“, hörte er Seto von hinten stöhnen, während er seine Erregung an seinen Eingang legte und nur Sekunden später in ihn eindrang. Endlich - Joey hatte das Gefühl von Seto tief in ihm so vermisst. Zunächst bewegte sich der Brünette in gleichmäßigen, kontrollierten Stößen, die mit der Zeit immer fordernder und hektischer, immer hitziger und leidenschaftlicher wurden.   Seto verpasste ihm wieder einen Hieb auf den Hintern, dann sagte er: „Stöhn für mich, Joey. Sag meinen Namen.“   „A-ah, Seto... ja... Seto... du... bist... mein Master...“   „Weiter, Joey, hör nicht auf“, sagte Seto, und Joey konnte hören, wie wenig ihm seine Stimme noch gehorchte.   Unablässig drang Seto immer wieder in Joey ein, und selbst wenn er es gewollt hätte, er könnte niemals das laute Stöhnen unterdrücken, wenn er Sex mit Seto hatte. Und dessen war sich der Braunhaarige auch voll bewusst, da war Joey sich sicher.   „Seto... Master... das fühlt sich... so gut an... bitte... schneller... ich... aaah...“   Er wusste, er würde es nicht mehr lange aushalten, es war einfach schon viel zu lange her. Seto schien das zu bemerken, denn er zog ihn vom Tisch zu sich hoch, und Joey musste sich auf seine Zehenspitzen stellen, damit Seto unaufhörlich weiter zustoßen konnte. Eine Hand von Seto legte sich um Joeys Männlichkeit, die ihn in wilden Bewegungen massierte. Den freien Arm legte er um Joeys Hals und zog ihn noch enger an sich.   Jedes einzelne Wort wurde von einem heftigen Stoß unterbrochen, als Seto sagte: „Komm... für... mich... Joey!“   Sie kamen zeitgleich, so heftig wie noch nie, so glaubte zumindest Joey, und er schrie Setos Namen, während er den intensivsten Orgasmus erlebte, den er jemals hatte.   Seto glitt aus ihm raus, aber sie blieben noch einige Minuten einfach so stehen, Joeys Rücken an Setos Vorderseite. Ihre Körper waren noch immer voller Hitze von dem, was sie da gerade getan hatten, und sie brauchten eine Weile, um wieder zu Atem zu kommen.   Irgendwann drehte Joey sich um, noch immer schwer atmend, und sah seinem Drachen in die wunderschönen Augen. „Seto, das war... der absolute Wahnsinn... ich liebe dich, ich liebe dich so sehr.“   Seto nahm sein Gesicht in beide Hände, dann antwortete er: „Und ich liebe dich, Joey. Mehr als du dir jemals wirst vorstellen können.“   Dann legten sich ihre Lippen zärtlich aufeinander, und es steckte so viel Liebe in dieser Vereinigung, dass Joey kurzzeitig das Gefühl hatte, vor Glück zu platzen.   Nachdem sie sich zumindest oberflächlich gereinigt hatten, zogen sie sich wieder an und beseitigten auch im Klassenzimmer die sichtbaren Spuren von dem, was sie da gerade getan hatten, bevor sie wieder raus zu der Gruppe gingen. Seto grinste Joey an, als sie den Raum verließen.   „Was ist?“, fragte der Blonde verwirrt.   „Vielleicht solltest du noch mal kurz ins Bad gehen. Deine Haare schreien geradezu ‚ich hatte gerade Sex‘.“   „Ups...“ Grinsend machte sich Joey auf ins Badezimmer, um seine Frisur zumindest einigermaßen zu richten, dann trat er erneut zu Seto auf den Schulflur. „Besser?“   Dieser nickte. „Besser. Komm, lass uns rausgehen.“ Und für die wenigen Sekunden, die sie noch in dem dunklen Schulflur waren, nahm Seto seine Hand und drückte sie fest, und Joey kam nicht umhin zu glauben, dass das ein Zeichen dafür war, zu wem er gehörte. Dabei brauchte es dieses Zeichen gar nicht – Joey wusste, er würde immer ihm gehören, bis in alle Ewigkeit.   Als sie zurück zur Gruppe stießen, war Joey sprachlos ob der Tatsache, wie emotionslos Setos Mimik nun wieder sein konnte. Aber er war eben ein Kaiba, da ließ sich nichts machen, und irgendwie amüsierte sich Joey auch darüber. Im Bett ein wildes Tier, in der Öffentlichkeit unnahbar und kalt.   „Na, ihr wart aber lange weg“, hörte Joey Tristan sagen, der mit den Anderen noch immer nah beim Feuer stand, und wenn es nicht so dunkel gewesen wäre, trotz des Feuers, hätte jeder gesehen, wie Joey errötete. „Halt die Klappe, Schwachkopf“, erwiderte Joey trotzig und die Gruppe fiel in lautes Gelächter aus, dem sich auch Joey nicht entziehen konnte. Als er zu Seto zurückblickte, konnte er ein ganz leicht angedeutetes Lächeln auf dessen Gesicht sehen – eines der arroganten Sorte, das ihm signalisierte, dass die Nacht noch nicht vorbei war. Joey biss sich leicht in die Unterlippe, was Setos Lächeln noch ein wenig intensivierte und seine Augen zu Schlitzen formte. Und Joey konnte die Vorfreude darüber nicht verbergen, seinem Master in dieser Nacht noch weitere Wünsche zu erfüllen. Kapitel 26: Rescue me... from going public ------------------------------------------ Nach Ende der Golden Week begann auch wieder die Schule. Es war das erste Mal nach ihrer Beziehungspause, dass Joey und Seto wieder gemeinsam zur Schule fuhren, und Joey hatte das Gefühl, so viel nachholen zu müssen, dass er kaum die Finger von Seto lassen konnte.   Als sie sich in die Limousine setzten, hielten sie die Fassade noch aufrecht. Jeder schnallte sich an, Seto setzte wieder seine unbeteiligte Miene auf, alles war wie immer. Doch kaum waren die Türen geschlossen und Seto hatte die dunkle Scheibe zum Fahrer hochgefahren, schnallte sich Joey wieder ab und setzte sich stürmisch auf Seto, während der Wagen sich in Bewegung setzte.   Joey wusste, dass sie im Schulalltag Abstand halten würden – zumindest noch, denn schon bald würde jeder es wissen, und bei dem Gedanken daran prickelte sein ganzer Körper. Bevor Seto auch nur ein Wort sagen konnte, nahm Joey dessen Gesicht in beide Hände und drückte seinen Mund fest auf seine Lippen. Das entlockte Seto ein leises, wohliges Seufzen und er zog Joey am Hinterkopf noch näher zu sich, krallte seine Hände in seine Haare. Joeys Zunge spielte mit der von Seto und immer wieder saugte er leicht an seiner Unterlippe.   Der Blonde löste den Kuss und bedeckte jeden Zentimeter von Setos Hals mit zarten Küssen. Dabei konnte er dessen beschleunigte Atmung nicht nur hören, sondern auch überall fühlen. „Das ist gefährlich, mein Hündchen“, hörte er Seto atemlos sagen, doch Joey unterbrach seine Liebkosungen nicht.    „Hm?“, fragte der Blonde verwirrt, was Seto zu einem leisen Lachen verleitete. „Du könntest dich verletzen, so ganz unangeschnallt.“   Jetzt sah Joey doch auf, sein Blick verschleiert, doch hinter dem Nebel konnte er dennoch Setos wunderschöne, kräftig blaue Augen ausmachen. „Für das hier würde ich auch sterben, Seto.“   Setos Augen weiteten sich und er musste scharf die Luft einsaugen, und Joey legte ein verführerisches Lächeln auf. Dann ergänzte er: „Was ist? Willst du mich nicht aufhalten und mich retten?“   Seto leckte sich begierig über die Lippen, und noch immer die Augen fest auf Joey gerichtet, ging eine Hand unter dessen Shirt, streichelte die erhitzte Haut. „Nein, das Risiko gehe ich ein“, antwortete er und zog ihn in einen erneuten, leidenschaftlichen Kuss.   Als sie vor der Schule anhielten, krabbelte Joey von Setos Schoß und musste tief durchatmen. „Wir sollten noch einen Moment hierbleiben, meinst du nicht auch?“, fragte er grinsend, und Seto erwiderte es amüsiert. Dann antwortete er: „Wir sollten uns mal irgendwo hinfahren lassen, wo die Fahrt etwas länger dauert. Ich kann mir da so einiges vorstellen, was ich hier drin gern mal mit dir machen würde.“   Joey lachte auf. „Seto, wenn du nicht aufhörst, kann ich hier heute den ganzen Tag nicht aussteigen.“ Dann sah er seinen Drachen an, sein Blick hungrig. „Aber erzähl mir doch heute Abend mehr davon, ich bin sehr interessiert an deinen Ideen.“   „So, und wer hält jetzt hier wen davon ab, auszusteigen?“, fragte Seto, und Joey konnte sehen, dass auch er das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht bekam.   Als sie sich dann irgendwann doch entschlossen hatten, das Fahrzeug zu verlassen, ging Joey wie immer ein paar Schritte voraus und gesellte sich zu seinen Freunden, während Seto gebührenden Abstand einhielt. Der Blonde fragte sich, wie sich das wohl ändern würde, nach der Pressekonferenz. Wäre Seto dann immer noch auf Distanz? Oder könnten sie ihrer Sehnsucht dann auch endlich im Alltag nachgeben?   Im Moment verhielt sich sein Drache jedenfalls wie immer, was Joey regelmäßig in Staunen versetzte. Setos ausdruckslose Miene verriet nichts von dem, was sie noch vor wenigen Minuten im Auto getan hatten, und auch wenn Joey es ebenfalls schaffte, dass seine Freunde den Braten nicht rochen, so hatte er doch erhebliche Schwierigkeiten damit, dieses verliebte Grinsen aus seinem Gesicht zu vertreiben. Allerdings gab er sich auch nicht sonderlich viel Mühe, das musste er sich selbst durchaus eingestehen. Es gehörte zu ihm, genauso wie der Mann mit den eisblauen Augen.   Als Joey ihr Klassenzimmer betrat, wurde ihm sofort heiß und die Erinnerung an das vergangene Wochenende holte ihn ein. Um nicht komplett auszuflippen, hielt er seinen Blick fokussiert auf seinen eigenen Tisch, an den er sich nun setzte. Er schaute nach vorn zur Tafel und zwang sich krampfhaft, nicht nach hinten zu blicken. Die Lehrerin betrat das Klassenzimmer und der Unterricht begann, sodass es nun stiller im Raum wurde. Dann hörte er, wie Seto sich hinter ihm räusperte, nur ganz schwach, aber Joey wusste genau, wie er das zu interpretieren hatte. Dennoch probierte er alles, um der Versuchung zu widerstehen – nur um am Ende festzustellen, dass er nicht dagegen ankam.   Also gab er auf und warf einen Blick weiter nach hinten in den Raum, zu Setos Platz, wo sie unaussprechliche Dinge miteinander getan hatten. Setos Blick war vollkommen nach vorn gerichtet, er wirkte fast ein bisschen gelangweilt, und Joey musste ihm lassen, dass er sehr gut vorgeben konnte, zuzuhören. Aber dass er dabei sanft über seinen Tisch strich, zeigte ihm, dass Seto sich sehr wohl darüber bewusst war, wie Joey ihn gerade anstarren musste. Dann wurde er von Setos Augen fixiert und auch auf die Distanz konnte Joey erkennen, wie stürmisch das Blau darin war. Sein Herzschlag beschleunigte sich so sehr, dass er das Gefühl hatte, sein Herz würde ihm gleich aus der Brust springen. Was machte dieser Kerl nur mit ihm?   Schwer atmend wandte der Blonde sich ab und versuchte, sowohl seine Atmung als auch seinen Puls wieder einigermaßen unter seine Kontrolle zu bekommen. Er war sich ja schon bewusst gewesen, dass er diesen Raum nicht würde betreten können, ohne an diesen heißen Abend zurückzudenken, aber dass er doch so heftig reagierte, lag vor allem an Seto, der keine Miene verzog und mit dieser winzigen Geste die Hitze in Joeys Körper zurückbrachte. „Dieser verdammte Bastard...“, murmelte Joey in seinen nicht vorhandenen Bart und versuchte, sich auf die Stimme der Lehrerin zu konzentrieren. Leider war er damit wenig erfolgreich, weil ihre Stimme in seinen Gedanken immer wieder von einem anderen Geräusch ersetzt wurde: Setos heißem, unkontrollierbarem Stöhnen, das er niemals gänzlich aus seinem Kopf würde verbannen können.   Als es endlich Zeit für die Mittagspause war, war Joey heilfroh, endlich ein wenig Abstand von diesem Raum gewinnen zu können. Er konnte nur hoffen, dass er sich irgendwann wieder beruhigen würde, ansonsten würde das restliche Schuljahr noch anstrengender für ihn werden als es das sowieso schon war. Er ging mit seinen Freunden in Richtung Kantine, während Seto ihnen nicht folgte und mit seinem Handy in der Hand nach draußen ging. Joey seufzte auf. Der Braunhaarige war die letzten Tage sehr beschäftigt gewesen, offenbar weil er in der Zeit, in der sie getrennt gewesen waren, zu kaum etwas fähig gewesen war und er jetzt ausbügeln musste, was alles schief gelaufen war. Joey erinnerte sich nicht gern an diese Zeit, und Seto ging es vermutlich genauso. Der Schmerz hatte ihn so heftig erfasst, dass er Angst gehabt hatte, er würde ihn brechen, aber er hatte es irgendwie geschafft, die zwei Wochen ohne Seto zu überstehen. Na ja, jetzt, wo er so darüber nachdachte, hatte er sie überlebt, aber von tapfer durchstehen konnte eigentlich auch keine Rede sein. Joey hatte in seinem Leben schon wirklich viel durchgemacht, aber nichts, nicht mal die rohe Gewalt von seinem Vater, hatte ihm so den Boden unter den Füßen weggezogen. Er war einfach nur froh, dass es vorbei war, und er musste dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passierte. Dafür mussten sie allerdings beide etwas tun, angefangen bei offener Kommunikation. Und trotz aller Fortschritte, die sie wirklich gemacht hatten, war das sicherlich noch immer der Knackpunkt in ihrer Beziehung, vor allem, wenn Seto so beschäftigt war wie zur Zeit und sie sich kaum zu Gesicht bekamen.   „Hey, hallo, Joey, jemand zuhause?!“ Als er aus seinen Tagträumen erwachte, sah er in drei verwirrt dreinblickende Augenpaare. „Äh... was ist?“, fragte der Blonde verblüfft in die Runde.   „Wir haben dich jetzt schon ein Dutzend Mal angesprochen, Joey“, erwiderte Téa in anklagendem Tonfall. Dann hörte er Yugi sagen: „Du siehst bedrückt aus. Ist alles in Ordnung?“   „Hm, ja, alles okay“, erwiderte Joey grummelig, und als er in weiterhin sorgenvolle Gesichter blickte, war klar, dass er sie mit seinem halbherzigen Versuch nicht davon hatte überzeugen können. Und es ärgerte ihn auch ein bisschen, dass es so offensichtlich war. Eigentlich war es doch auch total absurd, sich so zu verhalten, nur weil Seto jetzt eben ein bisschen mehr zu tun hatte.   Genervt, vor allem von sich selbst, holte er sein Handy hervor und scrollte gedankenverloren durch die letzten Nachrichten, die sie sich geschickt hatten. Seinen Kopf hatte er auf einem Arm vor sich auf dem Tisch abgelegt. Vielleicht sollte er ihm schreiben? Aber wenn er gerade telefonierte, welchen Sinn hätte das? Aber vielleicht saß er ja auch schon wieder am Laptop, im Klassenraum?   Sofort, als er an dieses Zimmer zurückdachte, verdrängte er diesen Gedanken wieder, sonst würde das Gefühlschaos in seinem Kopf nur noch schlimmer werden. Also setzte er sich wieder auf und tippte eine Nachricht an Seto, nicht, ohne sich dabei absolut lächerlich vorzukommen.   ‚Ist es bescheuert, dich gerade zu vermissen?‘   Es verging keine Minute, da blitzte schon eine Antwort auf seinem Display auf, die er überrascht öffnete.   ‚Ein bisschen? Gehe auch gleich in die Kantine, aber wenn du wüsstest, was diese Volldeppen mit meiner Firma gemacht haben... manchmal möchte ich einfach schreiend wegrennen.‘   Joey gewann nun endlich sein Lächeln zurück. Ja, er konnte sich lebhaft vorstellen, was das mit Seto machte.   ‚Lass dich nicht unterkriegen. Ich seh’ dich gleich. Setzt du dich dann mit zu uns?‘   Auf diese Nachricht erhielt er keine Antwort mehr – vermutlich war Seto schon wieder von anderen Sachen abgelenkt, die seine Firma betrafen. Vielleicht wollte er darauf auch einfach keine Rückmeldung geben. Immerhin hatte er sich bisher nie zu ihnen gesetzt, selbst nachdem sie es seinen Freunden erzählt hatten. Na ja, ein bisschen auf Wunder hoffen durfte man ja noch.   Also wandte sich Joey nun endlich wieder seinen Freunden zu, die in der Zwischenzeit ein Gespräch darüber angefangen hatten, wie sie die restlichen Tage der Golden Week verbracht hatten. Während Yugi seinem Opa beim Ausmisten seines Ladens geholfen und Téa mit Freundinnen einen Ausflug in die Berge gemacht hatte, war Tristan damit beschäftigt gewesen, sein Motorrad, das er sich gerade erst angeschafft hatte, blitzeblank zu polieren. „Und was hast du so gemacht, Joey?“, fragte Yugi.   „Na ja“, begann Joey zu erzählen, „Seto war die letzten Tage ziemlich beschäftigt, also hab‘ ich mit Mokuba eigentlich die ganze Zeit irgendwelche Konsolenspiele gespielt. Der Kleine ist echt talentiert, es war ziemlich egal, was wir gespielt haben, er hat immer gewonnen. Das hat mich echt angenervt, das kann ich euch sagen, aber wenigstens war er nicht so überheblich, wie sein Bruder es wäre, wenn er mich mal wieder besiegt hatte.“   „Ist das so?“, hörte er plötzlich Setos Stimme hinter ihm und konnte einen Hauch Belustigung raushören. „Tja, wenn man vom Teufel spricht“, hörte er Yugi lachen. Joey drehte den Kopf in Setos Richtung, der ein wenig unentschlossen im Raum stand. Mit den Augen wies Joey auf den Platz neben sich hin, der frei war, doch Seto bewegte sich keinen Zentimeter. Also atmete Joey tief durch, schloss kurz die Augen – nur um sie im nächsten Moment wieder zu öffnen und den besten Hundeblick aufzulegen, den er parat hatte. Seto, der die Arme vor dem Körper verschränkt hatte, seufzte auf, und während er sich auf den Platz neben ihm setzte, sagte er: „Du bist echt ein verdammter Hund, Joey.“   Joeys Siegerlächeln überstrahlte die verdutzten Mienen seiner Freunde, dass er sich tatsächlich mit an ihren Tisch gesetzt hatte, um ein Vielfaches. „Na und? Wenn ich mich dafür durchsetzen kann, ist es mir egal. Hast du schon was gegessen?“   Er wandte sich nun vollständig seinem Freund zu, der wie wild auf seinem Handy rumtippte. „Nein, keine Zeit.“   „Hier“, sagte Joey und schob ihm seine Bento-Box zu, die er heute früh zubereitet hatte. Manchmal tat er das, auch wenn er sich in der Regel mit dem Essen in der Kantine zufriedengab. „Ich hab‘ keinen Hunger mehr. Du hast doch heute schon nicht gefrühstückt, oder? Du hast dein Essen nicht angerührt und nur deinen Kaffee getrunken. Jetzt leg doch mal das Handy weg! Die paar Minuten wirst du doch wohl Zeit haben. Du solltest was zu dir nehmen, Seto.“   Der Angesprochene hob seinen Blick nicht an, war weiterhin darauf fokussiert, die Nachrichten in sein Handy zu tippen, als er sagte: „Du hörst dich schon an wie Mokuba.“   „Na und? Wir haben doch recht! Du hast doch schon die letzten zwei Wochen nicht gut gegessen. Na los, komm schon, wenigstens ein bisschen was.“   „Das musst du gerade sagen, als ob du dich die letzte Zeit so gut ernährt hättest. Iss deinen Fraß selber.“   Joey knurrte angesäuert auf. „Fraß? Ey, was ich koche, ist sicherlich kein Fraß! Im Gegensatz zu dir kann ich kochen!“   Seto seufzte auf. „Joey, du gehst mir echt auf die Nerven. Iss und sei froh, dass ich überhaupt hier sitze.“   „Oh, vielen Dank, Eure Hoheit, dass Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt! Und tut mir leid, dass ich mir eben Sorgen mache, dass du nicht genug isst. Von Kaffee allein wirst du auch nicht satt.“   „Ich werde meinen Hunger auch nicht stillen können, wenn meine Firma bankrott geht und ich kein Geld mehr verdiene.“   „Bist du bescheuert? Als ob das so einfach passieren würde, nur weil du Mittagspause machst.“   Als der Braunhaarige absolut keine Anstalten machte, darauf zu reagieren, riss Joey ihm das Handy aus der Hand. Seto glotzte ihn danach zunächst sprachlos und im nächsten Moment wütend an. „Gib das wieder her, Köter. Sofort!“   Der Blonde grummelte verärgert ob der Hundebeleidigung, dann antwortete er: „Erst, wenn du das hier gegessen hast!“   Als sie plötzlich die Gruppe um sich herum vergnügt lachen hörten, kam Joey wieder in der Realität an. Er hatte sich die letzten Minuten so sehr auf Seto konzentriert, dass er alles andere ausgeblendet hatte.   „Mann, ihr verhaltet euch ja jetzt schon wie so ein altes Ehepaar, das muss man euch lassen“, kicherte Tristan vom anderen Ende des Tisches und wischte sich die Lachtränen aus den Augen, und seine anderen Freunde taten es ihm gleich.   „Halt die Klappe!“, sagte Joey und merkte, dass Seto im gleichen Augenblick genau dasselbe gesagt hatte. Er sah Seto daraufhin verblüfft an, bevor er sich ein Grinsen nicht mehr verkneifen konnte. Daraufhin wurde Setos Blick ein wenig sanfter.   Für eine Sekunde zögerte Joey, dann seufzte er und gab Seto das Handy wieder. Tristan hatte ja recht, sie verhielten sich wie kleine Kinder. Seto war erwachsen und Joey nicht seine Mutter. Wenn er nichts essen wollte, dann war es eben so. Doch zu seiner Überraschung zog Seto die Box zu sich heran, nahm die Stäbchen in die Hand und fing an zu essen. Joey lächelte und streichelte ihm kurz unauffällig über den Oberschenkel, bevor er die Berührung so schnell wieder löste, wie er sie aufgebaut hatte.   Auf einmal hörte Joey, wie sich jemand hinter ihm räusperte, und als er sich umdrehte, um zu schauen, woher das Geräusch kam, sah er Mitsuki, eine Mitschülerin von ihm, die in dieselbe Klasse ging. Sie schien nervös und aufgeregt zu sein, trat von einem Bein aufs andere und konnte kaum jemandem aus der Gruppe direkt in die Augen sehen. Ihre Arme hatte sie hinterm Rücken verschränkt und sie war rot wie eine Tomate im Gesicht.   Joey legte lässig einen Arm über die Stuhllehne, halb zu ihr umgedreht, als er sie verwundert ansprach. „Alles okay mit dir, Mitsuki? Können wir dir helfen?“   Sie sah kurz auf, blickte Joey für eine winzige Sekunde in die Augen, bevor sie den Blick sofort wieder abwandte. „Ja, ähm... Joey, könnte ich dich für einen Moment sprechen?“   „Äh, mich?“ Joey konnte seine Verwunderung nicht verstecken. Er hatte mit Mitsuki in diesem Schuljahr vielleicht eine Handvoll Worte gewechselt, als sie mal zusammen eine Gruppenarbeit machen mussten, ansonsten hatte er mit ihr eigentlich wenig Kontakt gehabt. Was konnte sie denn ausgerechnet von ihm wollen?   Sie nickte hektisch. „Also... unter vier Augen?“, fragte sie schüchtern.   Seto schien das überhaupt nicht zu gefallen, das konnte Joey sofort feststellen. Er sagte zwar nichts, aß auch weiter brav sein Essen, aber irgendwas an seiner Aura veränderte sich. Irgendwie wirkte er bedrohlich und unheimlich und Joey überkam eine unangenehme Gänsehaut.   Was immer Mitsuki auch wollte, es wäre unhöflich von Joey, sie nicht anzuhören, das wusste auch Seto. Und es wäre vermutlich wirklich besser, sie hier wegzubringen, bevor Seto noch Anstalten machte, sie Kaiba-mäßig runterzumachen. Also erhob er sich von seinem Platz und folgte ihr, noch immer mehr als verwirrt, in den Schulflur, wo sie vor den Schließfächern stehen blieben.   „Also, was ist los, Mitsuki?“ Joey verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie erwartungsvoll und gespannt an.   Sie spielte nervös mit ihren Händen, ihr Blick auf ihre Schuhe gesenkt. Er beobachtete, wie sie tief durchatmete und offenbar allen Mut zusammennahm und ihm nun in die Augen schaute. Mit entschlossener Stimme begann sie zu reden. „Also, ich weiß, dass das normalerweise eher die Jungs machen, aber... na ja, du bist beliebt unter den Mädchen, daher hatte ich das Gefühl, ich muss es jetzt machen, sonst verpasse ich vielleicht meine Chance.“   Als sie für einen Augenblick pausierte und sich wohl überlegte, wie sie fortfahren sollte, war Joey nun total durcheinander. Worum zur Hölle ging es denn hier? Und was meinte sie mit ‚er wäre beliebt unter den Mädchen‘? Wenn sie jetzt nicht endlich mal Klartext redete, würde Joey noch Kopfschmerzen kriegen.   Aber er versuchte, sich in Geduld zu üben, und schon im nächsten Moment sprach sie weiter. „Deswegen... wollte ich die Gelegenheit ergreifen und dich fragen, ob du... mit mir auf den Schulball gehst?“   „Hä? Welcher Schulball?“, fragte Joey und überlegte fieberhaft, worauf sie anspielen könnte. Da fiel es ihm plötzlich wieder ein. „Ach so, du meinst den Ball für die Abschlussklassen? Weil wir dieses Jahr unseren Abschluss machen?“   Sie nickte, schwieg aber. Einen kurzen Augenblick musste sich Joey sammeln, und gerade, als er den Mund öffnen wollte, um etwas zu sagen, wurde sie puterrot und verzog das Gesicht. „Du... du kannst es dir ja erst mal überlegen, du musst mir jetzt noch keine Antwort geben. Der Ball ist ja auch erst Ende Juni. Gib mir einfach irgendwann Bescheid, ja?“   Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, war sie mit schnellen Schritten verschwunden, und Joey war genauso schlau wie vorher. Im Schneckentempo und mit ausdrucksloser Miene machte sich Joey auf den Weg zurück in die Kantine. Als er sich wieder auf seinen Stuhl plumpste, wusste er noch immer nicht so genau, was er davon halten sollte, was gerade passiert war.   „Joey? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen“, sprach ihn Tristan an. „Was ist passiert, hat sie dir ihre Liebe gestanden?“ Tristan lachte kurz auf, aber als Joey ihn daraufhin direkt ansah, verstummte er sofort wieder. „Echt jetzt?“, fragte Téa, fast schon ein bisschen entsetzt.   Da fand auch Joey seine Stimme wieder. „Irgendwie sowas ist, glaube ich, gerade passiert, ja.“ Nun hüllte sich die komplette Gruppe in Schweigen, dann ergänzte Joey: „Also, nicht so richtig. Sie hat mich gefragt, ob ich mit ihr auf den Abschlussball gehe.“   „Was?!“, kam es erstaunt von seinen Freunden. Der Blonde rang noch immer damit, seine Fassung vollständig zurückzugewinnen. Seto, der bisher weder etwas dazu gesagt noch ihn angesehen hatte, seit er wieder zur Gruppe gestoßen war, fragte ihn nun, die Augen weiterhin auf sein Essen vor sich gerichtet: „Und, machst du’s?“   Das war der Moment, in dem Joey nun final aus seinem Dämmerschlaf erwachte. Ungläubig schaute er Seto an, aber dann grinste er breit, bevor er antwortete: „Nicht, wenn du mit mir hingehst.“   Augenblicklich verschluckte sich Seto an den letzten Bissen des Essens, während der Rest der Gruppe in schallendes Gelächter ausbrach. Joey klopfte seinem Drachen ein paar Mal auf den Rücken, bis dieser sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Auch Joey lachte ein paar Mal auf, dann ergänzte er: „Nein, ich gehe nicht mit ihr hin. Aber ich will trotzdem mit dir da hin. Bitte?“ Und als Seto in seine Augen sah, da wusste Joey, er hatte ihn an der Angel – wie immer. Er hatte diesen Hundeblick einfach drauf und in den letzten Monaten bis zur absoluten Perfektion gebracht. Mittlerweile wusste er, dass Seto dem nicht würde widerstehen können.   Der Braunhaarige seufzte, gab dann aber nach. „Schon gut, du brauchst mich nicht so anzuschauen. Von mir aus komm ich mit, aber ich werde nicht tanzen, damit das mal klar ist.“   Joey strahlte bis über beide Ohren. „Geht klar. Geht ihr auch hin, Leute?“   „Äh, sicher“, sagte Yugi, der offenbar noch immer Probleme damit hatte zu realisieren, was hier gerade geschehen war. Auch alle anderen nickten verhalten, aber das reichte Joey im Moment als Antwort.   „Hast du ihr denn schon gesagt, dass du nicht mit ihr gehen wirst?“, fragte Yugi.   „Nein, sie ist abgehauen, bevor ich überhaupt was sagen konnte. Und ich hätte ihr ja schließlich auch nicht die ganze Wahrheit sagen können, oder?“ Er sah Seto an, der ihm zunickte. „Noch nicht, nein. Wobei sie es sich spätestens nächste Woche wohl denken können wird“, erklärte der Braunhaarige und Joey nickte gedankenverloren.   „Was ist nächste Woche?“, hörte er Téa interessiert fragen. Seto sah ihn verwundert an. „Hast du es ihnen noch nicht gesagt?“   Joey schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ Dann drehte er sich zu seinen Freunden und verkündete: „Wir wollen es öffentlich machen, das mit uns. In ein paar Tagen wird es eine Pressekonferenz geben, an der Seto und ich teilnehmen werden. Tja, und dann ist es raus, schätze ich.“   Allen seinen Freunden klappten die Kinnladen runter und Joey schaute sie amüsiert an. „Okay, ihr scheint sehr überrascht zu sein“, brachte er grinsend hervor.   „Ja, schon, irgendwie... ich hätte nicht gedacht, dass ihr das so schnell machen wollt“, sagte Yugi. Der Blonde zuckte nur mit den Schultern, dann erwiderte er: „Na ja, wir haben es auch erst vor ein paar Tagen beschlossen.“   Da schaltete sich Seto wieder ins Gespräch ein. „Wir müssen das auch noch gut vorbereiten, Joey. Ich gehe heute Nachmittag mit meiner Pressesprecherin zumindest in groben Zügen alles durch. Wann musst du diese Woche arbeiten? Wir sollten uns auch gemeinsam mit ihr treffen, damit du weißt, was auf dich zukommt.“   Joey nickte. „Wie wäre es morgen? Heute bin ich im Café, hab‘ aber den Rest der Woche frei.“   „Gut, dann morgen.“ Mit diesen Worten schob Seto ihm die nun leere Bento-Box zu, was Joey ein zufriedenes Lächeln entlockte, als er den Deckel wieder draufsetzte. Er sah Seto an und hatte plötzlich das unheimliche Bedürfnis, ihn zu küssen, und in seinen Augen konnte er sehen, dass es ihm wohl ähnlich ging. Doch zusätzlich zu diesem Gefühl spürte er eine Nervosität in sich aufkommen. Eigentlich freute er sich darauf, dass das Versteckspiel bald ein Ende haben würde, aber Seto stand in der Öffentlichkeit. Wie würde diese auf die Beziehung reagieren? Wie würde sich ihr Leben danach ändern? Und welche Auswirkungen könnte das auf das Image von Seto haben? Nicht alle Fragen würden sie abschließend klären können, bevor es so weit war. Joey hoffte einfach, dass alles gut gehen würde und sie damit nicht irgendwelche schlafenden Hunde weckten.   ~~~~   Sein Hündchen war nervös, sehr sogar. Das war nicht schwer zu erkennen. Schon den gesamten Morgen rannte er auf und ab und hatte sich ein neues T-Shirt angezogen, immer wenn das alte durchgeschwitzt war – und das schon ganze drei Mal. Natürlich war es auch für Seto aufregend, aber er war an den Umgang mit der Presse gewohnt. Außerdem hatten sie sich mehrere Male mit seiner Pressesprecherin, Ms. Tsukiyama, getroffen, waren die wichtigsten Fragen durchgegangen, die sie erwarten würden. Ja, selbst die richtig fiesen Fragen hatten sie besprochen. Er kannte das Gesocks von der Presse gut genug, um zu wissen, dass Gefühle denen wirklich am Arsch vorbei gingen. Sie hatten sich auf alle Eventualitäten vorbereitet, es konnte nichts schief gehen – außer Joey verlor die Nerven. Das war die einzige Variable, die Seto nicht bis ins letzte Detail planen konnte.   Als er Joey dabei beobachtete, wie er sich erneut das T-Shirt über den Kopf zog und das nunmehr vierte Shirt herausholen und anziehen wollte, stoppte er ihn. Vielleicht sollte er sich erst mal kein weiteres mehr überziehen, sonst wären keine mehr übrig, wenn es Zeit war, sich auf den Weg zu machen.   Also ging er auf sein Hündchen zu, das gerade Anstalten machte, in ihr Ankleidezimmer zu gehen – in ihrem gemeinsamen Apartment, und dieser Gedanke würde Seto wohl auf ewig eine verdammte Gänsehaut verpassen.    „Joey, komm her.“ Der Blonde sah eingeschüchtert aus, als Seto ihm seine Arme hinstreckte und ihn in eine feste Umarmung zog. Er hatte ihn davon abgehalten, das nächste T-Shirt anzuziehen, was bedeutete, dass er seine nackte Haut überall spüren konnte, selbst durch seine eigene Kleidung hindurch, und er musste sich arg zusammenreißen, das nicht auszunutzen. Aber er wusste, das würde Joey jetzt wohl nur noch nervöser machen, also streichelte er ihm stattdessen durch die glänzend blonden Haare und versuchte, ihm die Ruhe zu geben, die er so dringend benötigte.   Er zitterte, nur ganz leicht, aber Seto konnte es doch wahrnehmen. Er küsste ihn auf den Kopf und verstärkte die Umarmung noch. Dann sagte er: „Es wird alles gut werden, mein Hündchen. Ich bin da, Ms. Tsukiyama ist da, und wir werden beide einspringen, wenn etwas ist. Hab‘ einfach ein wenig Vertrauen.“   Doch das schien überhaupt nicht zu helfen. Joey war das reinste Nervenbündel, und auch wenn Seto verstehen konnte, dass das eine aufregende und neue Situation für ihn war, so konnte er doch die so heftige Reaktion nicht ganz nachvollziehen.   Er nahm Joeys Gesicht in beide Hände, zog ihn so, dass er ihn ansehen musste, und konnte die Sorge in seinen Augen sehen. Er strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, dann fragte er: „Wovor hast du so Angst, mein Hündchen?“   Joey seufzte und löste sich von ihm, fuhr sich mit der Hand durch die Haare, als er ihm den Rücken zudrehte. Es war für einige Sekunden still, dann brach der Blonde das Schweigen.   „Ich habe keine Angst um mich selbst, Seto. Ich bin nicht derjenige, der einen Ruf zu verlieren hat. Ich will keine Belastung für dich sein. Was ist, wenn es dein Image oder deine Firma beeinflusst? Oder sogar Mokuba? Was ist, wenn das seine Karrierechancen mindert? Ist es das wert, Seto, bin ich das wirklich wert? Sollten wir es nicht lieber lassen? Ich... ich könnte es verstehen, wenn wir es für immer verheimlichen müssten. Wenn das der Preis ist, den ich zahlen muss, damit ich mit dir zusammen sein kann, dann tue ich das gern. Ich will nur nicht, dass es negative Konsequenzen für dich hat.“   Während seines gesamten Monologs hatte Joey sich nicht wieder zu ihm umgedreht. Seto seufzte auf. „Joey, sieh mich an. Bitte.“   Zögerlich drehte der Blonde sich zu ihm um, sein Blick noch immer wie von einem scheuen Reh. Seto sah ihn durchdringend an, sammelte sich, ordnete die Worte in seinem Kopf. Er musste Joey Sicherheit geben, und genau das würde er jetzt tun.   Er atmete noch einmal tief durch, dann sagte er: „Wenn es so sein sollte, wie du sagst, dann wäre es eben so. Denn das ist der Preis, den ich zu zahlen bereit bin. Um Mokuba brauchst du dir schon mal keine Sorgen machen – er wird sowieso in die KaibaCorp einsteigen, sobald er alt genug ist. Er ist ein schlauer Junge, und zäh, auch wenn er nicht so aussehen oder sich so verhalten mag. Er ist sich bewusst darüber, was diese News für Wellen schlagen könnten, aber er hat nicht eine Sekunde gezögert, uns geradeheraus zu sagen, dass er uns unterstützt, dass er mehr als bereit für alles ist, was kommt.“   Seto ging einen Schritt auf Joey zu, der ihm wie gebannt ins Gesicht sah, und legte eine Hand auf dessen Wange, liebkoste sie sanft. „Und was mich betrifft, ich bin ein noch härterer Brocken. Wenn du glaubst, dass mich so ein paar Pressevertreter kleinkriegen, dann kennst du mich aber wirklich schlecht. Ich weiß, dass das Aasgeier sind, alle miteinander, süchtig nach der nächsten Story und dem nächsten Skandal. Für mich sind das keine Menschen. Ich lege weder wert auf deren Meinung, noch vertraue ich auf deren Kompetenz, bestimmte Situationen einschätzen zu können. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es eine Zumutung, das Wort Kompetenz überhaupt in einem Satz mit diesen Widerlingen zu verwenden. Blöderweise muss ich mich dennoch professionell verhalten, denn du hast recht, eine gewisse Macht haben sie.“   Nach seinen letzten Worten sah Joey irgendwie noch verletzlicher aus. Also hob er dessen Kinn an, bevor er mit bestimmter Stimme weitersprach. „Joey, mach dir keine Sorgen. Spielen wir das doch mal durch. Was ist der Worst Case? Hetze gegen mich und meine Firma, weil ich einen Mann liebe? Das kann passieren, und vielleicht wird es das auch, aber dafür hat Ms. Tsukiyama bereits Vorkehrungen getroffen und eine Pressemitteilung verfasst, die deutlich zu verstehen gibt, dass Homophobie in meiner Firma keinen Platz hat. Könnte uns das Umsatz kosten? Vielleicht. Ich bin mir auch darüber bewusst, dass es in Japan noch immer sehr viele Menschen gibt, die die Liebe zwischen zwei Männern verurteilen. Aber weißt du was? Die Generation, die meine Spiele kauft, tut das nicht, oder nicht mehr in dem Maße, wie es die Älteren tun. Und die sind sowieso nicht meine Zielgruppe. Außerdem mache ich mittlerweile deutlich mehr Umsatz außerhalb von Japan, also nehmen wir rein theoretisch mal an, Japan fällt als Markt weg – was nicht passieren wird, nur um das mal in aller Deutlichkeit klarzustellen. Dann gibt es immer noch viele andere Märkte, die das auffangen können. Darüber hinaus würde ich, selbst für den Fall, dass das passiert, keine Mitarbeiter in Japan entlassen. Weil ich weiß, dass sich in sechs Monaten sowieso niemand mehr daran erinnert, wenn ich das nächste KI-Spiel rausbringe, nach dem die Kids sich die Finger lecken werden.“   Joeys Erstaunen war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, aber da er noch immer nichts sagte, fuhr Seto fort. „Joey, ich liebe dich. Und wenn irgendjemand da draußen ein Problem damit hat, dann soll er halt meine Spiele nicht mehr kaufen. Aber ich werde nicht hier stehen und so tun, als würde diese Liebe mir nicht alles bedeuten. Als würdest du nicht existieren. Ich stehe zu dir und zu unserer Beziehung und fühle mich außerdem exzellent auf alles vorbereitet, was kommen könnte. Glaub‘ mir, ich habe schon so einiges durchgemacht, hatte schon das ein oder andere Mal schlechte Presse, und ich meine, mittlerweile gut einschätzen zu können, wie sich etwas entwickelt. Ich glaube nicht, dass es so ein großes Drama wird, wie dein Kopf es dir gerade versucht einzureden. Und wie du siehst, habe ich alles logisch durchdacht.“   Er legte seine Stirn an Joeys, sog seinen Duft ein und schloss die Augen. „Ich bin da, Joey. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, auch nicht um Mokuba oder meine Firma. Ich habe es dir einmal gesagt und ich sage es dir wieder: Ich würde alles für dich aufgeben. Also selbst für den Fall, dass meine Firma den Bach runtergehen würde – was, noch mal, nicht passieren wird – bleibe ich an deiner Seite. Für immer. Weil ich dich liebe, mein Hündchen, und es nichts Wichtigeres gibt als dich. Du und Mokuba, ihr seid meine Familie, und wir beide wissen besser, als jeder Idiot da draußen, wie wichtig Familie ist. Zwischen uns passt kein Blatt Papier, Joey. Nichts wird mich jemals davon abhalten können, mit dir zusammen sein zu wollen.“   Als Seto seinen Kopf wieder hob, sah er, wie Tränen Joeys Wangen hinab flossen. Er strich sie ihm lächelnd weg, eine nach der anderen, dann zog ihn Joey stürmisch in eine Umarmung.   „Verdammt, Seto, ich hab‘ dich nicht verdient. Du bist viel zu gut für mich.“   Seto drückte Joey wieder enger an sich und genoss das Gefühl von ihm an seiner Haut. „Natürlich hast du mich verdient. Wir haben uns beide verdient. Und heute zeigen wir das der Welt. Okay?“   Joey löste sich von ihm und sein Lächeln war zurückgekehrt, das Seto sofort umhaute. Diese goldenen Augen machten ihn immer sprachlos, was witzig war, wo er doch gerade einen stundenlangen Monolog gehalten hatte. Aber für Joey würde er alles tun, jeden Stein umdrehen, jeden Weg gehen. Was auch immer das für Konsequenzen haben würde.   Während der Fahrt in der Limousine hielt Seto fest Joeys Hand, streichelte sie unnachgiebig, um Joey das Gefühl zu geben, sicher zu sein und sich vor rein gar nichts fürchten zu müssen. Er ließ ihn nicht aus den Augen, und Joey erwiderte unablässig seinen Blick. Seto war vor Pressekonferenzen nie wirklich aufgeregt gewesen, aber es hatte ja auch bisher niemals einen emotionalen Bezug gegeben. Er würde es tunlichst vermeiden, es Joey offen zu zeigen, aber in diesem Moment war auch er ein wenig nervös. Doch durch die vorherige intensive Vorbereitung hatte er auch das Gefühl von Sicherheit gewonnen, sodass ihn nichts zu stark aus der Ruhe bringen würde.   Die Limousine hielt an, und Seto wusste, sie waren vor dem Hotel angekommen, in dessen Konferenzsaal sie die Pressekonferenz abhalten würden. Bevor sie ausstiegen, wandte er sich ein letztes Mal an Joey. „Bereit?“   Sein Hündchen lächelte ihn an und verzauberte ihn damit, wie nur er es konnte. „Nein. Ich möchte schreiend wegrennen, wenn ich ehrlich bin. Aber ich laufe vor keiner Herausforderung weg. Das ist einfach nicht mein Stil.“ Er grinste und Seto zog ihn ruckartig zu sich ran, was ihm dem Blonden ein überraschtes Keuchen entlockte.   Setos Lippen waren nur noch wenige Zentimeter von Joeys Mund entfernt, er konnte seinen warmen Atem schon in seinem gesamten Gesicht, ach, in allen Zellen seines Körpers spüren. Seto streichelte Joey zärtlich am Rücken, als er sagte: „Ich weiß, mein Hündchen, und das bewundere ich sehr an dir. Und jetzt will ich endlich allen Menschen da draußen zeigen, dass du zu mir gehörst.“   Er beobachtete, wie Joeys Augen leicht feucht wurden, als er ihn in einen hingebungsvollen Kuss zog. Er schloss fest die Augen, um diesen Moment noch mal in vollen Zügen zu genießen, bevor sie sich selbst den Löwen zum Fraß vorwarfen. Als er sich von dem Blonden löste, da konnte er ihn wieder ganz stark in dessen Augen sehen – den Kampfgeist und den Willen, niemals aufzugeben, komme, was da wolle.   Sie stiegen aus dem Wagen, Joey auch auf seiner Seite des Autos, und sofort wurden sie von Fotografen und Journalisten umringt. Nur kurze Zeit später waren seine Sicherheitskräfte vor Ort, dessen Anzahl er vor der Pressekonferenz noch mal deutlich aufgestockt hatte, und schirmten sie beide von dem Trubel ab. Er konnte sehen, dass Joey das wieder ein bisschen einschüchterte, also legte er ihm einen Arm über die Schulter und zog ihn etwas näher zu sich ran. Es wäre sowieso sinnlos, jetzt noch groß Abstand zu halten, wenn sie eh vorhatten, es in wenigen Minuten publik zu machen.   Er zog Joey mit sich zum Eingang des Hotels, und während des gesamten Weges klammerte sich der Blonde regelrecht an ihn. Irgendwie fühlte sich das echt verdammt gut an, auch wenn er sein Hündchen ungern so sah. Aber den Beschützer zu spielen, lag ihm wohl einfach im Blut, das hatte er bei Mokuba ja auch schon oft gemacht. Aber bei Joey war das Gefühl dennoch ein wenig anders. Es war intensiver, irgendwie, auch wenn er gar nicht so richtig erklären konnte, warum, weil er genauso für Mokuba in die Bresche springen würde.   In einem Vorzimmer zum Konferenzsaal trafen sie auf Ms. Tsukiyama, die sie freundlich lächelnd begrüßte. Joey und Seto hatten sich mittlerweile voneinander gelöst, liefen aber immer noch dicht beieinander.    „Mr. Kaiba, Mr. Wheeler, guten Abend. Es ist alles vorbereitet. Keine bösen Überraschungen, zumindest bisher.“ Sie verstärkte ihr Lächeln erneut und Seto nickte ihr zu. Sie war eine der wenigen Mitarbeiterinnen in seiner Firma, auf die er sich voll und ganz verlassen konnte. Sie war wirklich hervorragend in ihrem Job und hatte schon die ein oder andere Krise abwenden können. Sie ging immer recht zaghaft in die jährlichen Gehaltsverhandlungen, und Seto gab ihr immer, was sie verlangte. Das machte er vielleicht mit einer Handvoll Mitarbeiter in seinem gesamten Unternehmen so, und jeder wusste, dass das wohl das größte Kompliment war, dass Seto ihnen geben konnte. Allerdings durfte niemand erwarten, mehr zu kriegen als er selbst für sich aushandelte. So weit würde er dann doch nicht gehen.   Er atmete tief durch und griff Joeys Hand, der überrascht zu ihm aufsah. Er drückte seine Hand ein bisschen und lächelte ihn an, und sein Hündchen erwiderte es siegessicher. Dann lösten sie sich wieder voneinander und folgten Ms. Tsukiyama in den Konferenzsaal.   Es war eine kleine Bühne aufgebaut worden, mit drei Stühlen an einem langen Tisch. Ms. Tsukiyama setzte sich auf den Stuhl, der am weitesten weg vom Eingang stand, Seto nahm in der Mitte Platz, Joey rechts neben ihm. Wie üblich eröffnete Ms. Tsukiyama die Pressekonferenz.   „Vielen Dank, auch im Namen von Mr. Kaiba und der KaibaCorp, dass Sie heute so zahlreich erschienen sind.“ Alle drei verbeugten sich leicht, um der Begrüßung einen noch seriöseren Ausdruck zu verleihen. Seto verachtete diese typisch japanischen Höflichkeitsfloskeln, aber wenn sie ihn an sein Ziel brachten, beugte er sich dem gern.   „Zunächst wird Mr. Kaiba ein paar Worte an Sie richten und auflösen, warum wir diese Pressekonferenz so kurzfristig angesetzt haben. Danach werden Sie Zeit bekommen, Fragen zu stellen.“   Sie nickte ihm zu, was sein Stichwort war, loszulegen. Im Hintergrund waren sehr viele Geräusche zu hören – sei es ein Rascheln von Papier, das Klicken von Stiften, oder Kamerageräusche, der Raum war erfüllt von den verschiedensten Tönen, selbst dann, wenn überhaupt niemand sprach.   Seto räusperte sich, dann begann er zu sprechen. „Guten Abend. Auch von mir noch einmal vielen Dank, dass Sie Platz in Ihren sicherlich vollen Terminkalendern gefunden haben, um heute hier zu sein. Tatsächlich möchte ich heute keine Verkündung meine Firma betreffend machen. Stattdessen handelt es sich um eine persönliche Ankündigung. Selbstverständlich werden Sie, wie Ms. Tsukiyama bereits erwähnt hat, die Möglichkeit erhalten, dazu Fragen zu stellen, genau deswegen haben wir uns auch für eine Pressekonferenz und nicht für eine einfache Pressemitteilung entschieden.“   Damit war er fertig mit der Einleitung und wusste, dass nun der deutlich schwerere Teil folgen würde. Er linste zu Joey rüber und war erstaunt zu sehen, wie gefasst er wirkte. Sein Blick war nach vorn gerichtet, und auch wenn er ihm gerade nicht in die Augen sehen konnte, so zeugte seine ganze Aura davon, dass er hier nicht kampflos aufgeben würde – sofern es überhaupt einen Kampf geben würde.   Nun blickte auch Seto wieder in die Masse der Journalisten, die voller Erwartung auf ihn schauten. Noch ein letztes Mal sog er die Luft tief ein und ließ sie erneut aus seinen Lungen ausströmen, dann gab er die Erklärung ab, wegen der sie alle heute hier waren.   „Der Mann zu meiner Rechten ist Joey Wheeler. Wir sind heute hier, um bekannt zu geben, dass wir ein Paar sind.“   Er sah sich im Raum um und ließ diese Information erst mal in den Köpfen aller sacken. Eigentlich gab es auch nicht so richtig viel mehr dazu zu sagen. Er konnte spüren, wie sich die Atmosphäre im Saal veränderte. Offenbar hatte niemand mit so einer Ankündigung gerechnet, und die Überraschung und das Erstaunen darüber waren deutlich spürbar. Es war vielleicht für fünf Sekunden still, dann ergriff der erste Halsabschneider aus dem Publikum das Wort.   „Mr. Kaiba, können Sie uns sagen, wie lange Sie schon zusammen sind und wo Sie beide sich kennengelernt haben?“   Gut, es fing gediegen an, das sollte Seto nur recht sein. Er nickte und beantwortete die Frage. „Wir sind Klassenkameraden und in den letzten Monaten Freunde geworden. Und dann führte eins zum anderen.“ Er würde es so vage lassen und scheinbar war das auch okay so, weil sich die Journalisten jetzt ganz offensichtlich wie die Hyänen auf ihn stürzten, um mehr Informationen zu bekommen. Sie schrien alle durcheinander und Ms. Tsukiyama hatte alle Hände voll zu tun, Ordnung in das Stimmenwirrwarr zu bekommen.   Dann richtete ein weiterer Journalist eine Frage an ihn. „Mr. Kaiba, man erzählt sich, Sie beide wohnen schon zusammen?“   Seto setzte sein übliches arrogantes Grinsen auf. Sie hatten natürlich vorher verkündet, dass Joey an der Pressekonferenz teilnehmen würde, deswegen war es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich dieser Abschaum über sein Hündchen informiert hatte. Immer noch nichts, was er nicht mit Leichtigkeit beantworten könnte.   „Das ist korrekt, wir wohnen seit einigen Monaten zusammen.“ Das sorgte offenbar für einige Unruhe im Saal, weil sich die Stimmen der Journalisten schon wieder gegenseitig zu übertönen versuchten. „Mr. Kaiba, können Sie uns sagen, wie es dazu gekommen ist, dass Sie zusammen wohnen? Waren Sie schon ein Paar, als Sie zusammengezogen sind?“   „Nein, damals noch nicht. Sagen wir einfach so, Mr. Wheeler war ein Freund in Not und ich habe ihm Unterschlupf gewährt.“ Mehr würde Seto dazu nicht sagen, weil es diese Vollidioten nämlich auch verdammt noch mal nichts anging. Wie immer bei solchen Veranstaltungen hatte er schwer damit zu kämpfen, nicht genau sowas auch laut auszusprechen, aber er musste professionell bleiben. Und da raste auch schon die nächste Frage auf ihn zu.   „Mr. Kaiba, wann haben Sie gemerkt, dass Sie schwul sind?“   Selbstverständlich hatte er sich auch auf diese Frage entsprechend vorbereitet und sich eine passende Antwort überlegt, die ihm auch ein bisschen Spaß bringen würde. Mit gespieltem Erstaunen hob Seto eine Augenbraue an, bevor er antwortete: „Wer sagt, dass ich schwul bin?“ Das führte zu überraschten Gesichtern im Saal, und er musste sich arg zusammenreißen, nicht zu grinsen. Genau diese Reaktion hatte er erwartet, sein Plan war perfekt aufgegangen.   „Äh, na... Sie sind doch mit einem Mann zusammen, richtig?“   Seto nickte. „Korrekt, mit einem Mann. Andere Männer, oder sagen wir einfach Menschen, egal welchen Geschlechts, sind mir egal. Ich war nie und werde nie mit jemand anders in einer Beziehung sein als mit Mr. Wheeler.“   In diesem Augenblick hörte er Joey neben sich abrupt einatmen. Er konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie er ihn mit demselben Staunen ansah wie auch ihr Publikum. Ein wenig hatte Seto gehofft, diese Reaktion aus ihm herauskitzeln zu können. Was er gesagt hatte, war mehr als wahr und es war seine Art, der Welt zu sagen, dass es für alle Zeit nur Joey an seiner Seite geben würde.   „Wie können Sie sich da so sicher sein, Mr. Kaiba?“   Seto zuckte mit den Schultern. „Ich bin es einfach, da müssen Sie auf mein Urteilsvermögen vertrauen.“   Und in just diesem Augenblick wandten sich die Anwesenden mit ihren Blicken von ihm ab und schauten Joey an, und Seto hatte das Gefühl, sie würden ihn gleich mit all ihren Fragen bei lebendigem Leibe auffressen.   ~~~~   Joey dröhnte der Kopf. Die Geräusche im Saal erzeugten ein ständiges Hintergrundrauschen, jeder fiel dem anderen ständig ins Wort und es war ihm einfach zu laut und zu stickig. Vielleicht war er auch einfach mit der Gesamtsituation überfordert, aber er versuchte, es sich nicht so sehr anmerken zu lassen.   Im Gegensatz zu dem, wie er sich fühlte, sah Seto absolut kontrolliert aus. Routiniert und wie sie es besprochen hatten, beantwortete er die Fragen der Journalisten. Nur die letzte Frage nach seiner sexuellen Orientierung hatten sie so im Detail nicht vorab geklärt, zumindest nicht, als er dabei gewesen war, und als er hörte, wie Seto sie beantwortete, da liebte er ihn noch ein bisschen mehr, falls das überhaupt möglich war. Er sah tatsächlich für einen Moment irritiert aus, als ihm diese Frage gestellt wurde. Als wäre das so absurd zu fragen. Eigentlich konnte er es sogar gut nachvollziehen. Wäre er ein Journalist, er hätte diese Frage auch gestellt. Immerhin war Seto wohl einer der bekanntesten Junggesellen der Stadt, wenn nicht sogar ganz Japans, und jetzt war er plötzlich vom Markt – und dann auch noch mit einem Mann zusammen. War doch eigentlich klar gewesen, dass das zu Fragen führen würde. Oder hatte er die Journalisten mit dieser zunächst ausweichenden Antwort aufs Glatteis führen wollen? Er konnte sich kaum vorstellen, dass Seto, der sonst immer alles bis ins kleinste Detail durchdachte, die Antwort auf diese Frage nicht vorbereitet hatte.   Er spürte, wie sich die Aufmerksamkeit langsam von Seto auf ihn selbst verlagerte, und wie hungrige Raubtiere blickten die Journalisten ihn jetzt an. Joey musste hart schlucken und wappnete sich für das, was jetzt kommen würde.   „Mr. Wheeler, wie war das bei Ihnen? Wann haben Sie gemerkt, dass Sie schwul sind?“   Joey sah rüber zu Seto, der ihm direkt in die Augen schaute, sein Blick ein wenig sanfter als zuvor, wo er noch der Mittelpunkt des Geschehens gewesen war. Er verlor sich im Eisblau seiner Augen und fühlte diese unheimliche Verbindung zu seinem Drachen, die niemals, durch nichts, durchbrochen werden könnte. Fast wie in Trance begann Joey, die Frage zu beantworten, ohne seinen Blick von Seto zu lösen – der seine Augen ebenfalls nicht abwandte.   „Eigentlich hat Seto... ich meine, Mr. Kaiba, gerade schon die perfekte Antwort gegeben. Ich habe mich vor ihm noch nie zu irgendjemandem hingezogen gefühlt, egal welchen Geschlechts.“ Er lächelte Seto kurz an, und für jeden im Saal war deutlich erkennbar, wie viel Liebe in diesem Blick steckte. Mit einem tiefen Atemzug nahm er allen Mut zusammen, um noch offener zu sprechen. Er blickte zurück in die Menge, die ihn neugierig angaffte.   „Wenn ich ehrlich bin, war ich davon selber ziemlich überrascht. Es ist kein großes Geheimnis, dass wir uns nicht leiden konnten, bis wir es irgendwann doch konnten. Und jetzt würde ich nicht mehr ohne ihn leben wollen, nicht mal für einen einzigen Tag.“ Joeys zartes Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen, als er Seto neben sich scharf einatmen hörte. Sollten sie es doch alle wissen, was er für ihn empfand. Er schämte sich nicht für seine Gefühle.   Wieder endloses Durcheinandergebrabbel, dann die nächste Frage. „Mr. Wheeler, sind Sie nur hinter Mr. Kaibas Geld her?“ Diese Frage hatten sie in ihrer Vorbereitung zwar angerissen, aber nun, da sie gestellt wurde, erschütterte sie ihn dennoch ein wenig.   Er hörte, wie Ms. Tsukiyama sich räusperte und das Wort ergriff. „Mr. Wheeler wird diese Frage nicht...“   „Doch, das ist kein Problem“, unterbrach der Blonde sie. Ja, es hatte ihn kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, und während er auf seine ineinander verschränkten Hände blickte, hatte er sich einen Moment sammeln müssen. Doch dann blickte er auf und war sich plötzlich einfach sicher, was er sagen musste. Seitdem Seto das vorhin gesagt hatte, dass er ihn und nur ihn in seinem Leben haben wollte, fühlte Joey das Gefühl von Erleichterung. Dass er das so offen und ehrlich ausgesprochen hatte, vor Menschen, die ihm nichts bedeuteten, das war alles für Joey, der ultimative Liebesbeweis. Und er würde sich jetzt revanchieren, mit allem, was er an Antworten geben konnte. Also ließ er sein Herz sprechen und schaltete den Kopf aus.   „Ich finde, Ihre Frage ist absolut berechtigt. Sie werden sich über mich informiert haben, über meinen familiären Hintergrund. Den Gerichtsprozess werden Sie alle verfolgt haben. Es ist also nicht schwer, anzunehmen, ich wäre nur wegen des Geldes mit ihm zusammen. Aber ich kann Ihnen versichern, das bin ich nicht. Selbst wenn er arm wie eine Kirchenmaus wäre oder plötzlich nichts mehr hätte, würde ich ihn nicht verlassen. Niemals.“   Schon wieder hörte er die Menge wild durcheinander schreien. Waren sie bei Seto auch so ungestüm gewesen? Möglich, aber Joey kam es jetzt noch intensiver vor. Aber er hatte nichts zu verstecken und war bereit, offen über seine Gefühle zu sprechen, so es denn notwendig und sinnvoll wäre.   „Wie können Sie da so sicher sein, Mr. Wheeler?“   Joey lächelte. „Ich könnte Ihnen jetzt dieselbe Antwort geben, die Mr. Kaiba Ihnen dazu gegeben hat, aber lassen Sie mich das noch ein bisschen näher ausführen.“ Bevor er weiter sprach, sah er zu Seto rüber, noch immer breit lächelnd, und konnte sehen, wie verblüfft er war. Und ehrlich, konnte Joey ihm das verübeln? Er war ja selbst total baff, wie frei er plötzlich sprechen konnte. Allerdings schien Seto nichts gegen seine Offenheit zu haben, ganz im Gegenteil – es sah eher danach aus, als wäre er fasziniert davon. Joey konnte den Blick nicht abwenden, selbst während seiner nachfolgenden Worte nicht.   „Ich bin mir so sicher, weil wir zusammen durch die Hölle gegangen sind. Weil er mich rettet, wie nur er mich retten kann. Wie Sie mittlerweile wissen werden, durch die Informationen, die während des Gerichtsprozesses gegen meinen Vater publik wurden, bin ich in keinem sehr liebevollen Umfeld groß geworden. Im Gegenteil, ich hatte mit einem Vater zu kämpfen, der nicht nur ein notorischer Trinker war, und vermutlich noch immer ist, wenn man ihm das Zeug auch im Gefängnis gibt, sondern auch gewalttätig. Ich habe großartige Freunde, die mir immer zur Seite gestanden haben, aber er war die erste Person gewesen, der ich mich voll und ganz geöffnet habe und der mir die Möglichkeit gegeben hat, damit abzuschließen.“   Joey spürte, wie ihm die ersten Tränen über die Wangen liefen, aber er konnte nicht aufhören zu sprechen. Er war wie im Rausch, und er richtete alle Worte, die er sagte, mehr an Seto als an das Publikum, was erstaunlich war, war er doch vor dem Ganzen hier so überragend nervös gewesen, dass er gedacht hätte, er würde kaum ein Wort rausbekommen. Und jetzt fühlte es sich irgendwie so leicht und natürlich an, den Worten freien Lauf zu lassen.   „Er ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Weil er mich kennt und weil er mich sieht, wie ich wirklich bin. Er behandelt mich mit Respekt und Anstand und achtet meine Gefühle und Wünsche.“ Dann musste er kurz auflachen und sah ins Publikum, das ihm gespannt lauschte. „Na ja, außer wenn wir uns mal wieder kabbeln. Das kann über die dümmsten Dinge sein. Letztens wollte er sein Mittagessen nicht essen, das hat in der Kantine unserer Schule fast zu einem Blutbad zwischen uns beiden geführt.“ Joey lachte herzlich und hörte, wie sich dieses Lachen im ganzen Raum ausbreitete. Und als er seinen Blick wieder Seto zuwandte, nahm er wahr, wie es ganz still im Saal wurde. Kein Geräusch mehr, wie ein Kugelschreiber auf ein Blatt Papier schrieb, kein In-die-Tasten-Kloppen auf Laptops, nicht mal mehr das Klickgeräusch der Kameraauslöser war mehr zu hören. Joey spürte, wie sich die ganze Atmosphäre verändert hatte – saß da unten vorher ein ausschließlich chaotischer Haufen, so war es jetzt zivilisierter, so als ob niemand verpassen wollte, was er zu sagen hatte. Auch Seto klebte an seinen Lippen, und Joey würde sich diesem intensiven Blick seines Drachen nicht entziehen können.   „Aber ich glaube, sowas gehört einfach zu uns. Ich für meinen Teil könnte vermutlich gar nicht ohne diese kleinen Sticheleien. Es macht mich... keine Ahnung, irgendwie lebendig. Wobei ich das immer bin, wenn wir zusammen sind.“   Joey seufzte. Es gab noch so viel mehr zu sagen, und er hatte so das Gefühl, dass auch das Publikum süchtig nach mehr war. Und er würde ihnen geben, was sie wollten.   „Wissen Sie“, fing er erneut an zu sprechen, mit einer Offenheit, die er vor wenigen Stunden noch für unmöglich gehalten hatte und die ihm jetzt so einfach fiel. „Ich war heute den ganzen Tag total nervös. Bin hektisch rumgerannt und musste ungefähr ein Dutzend Mal duschen, weil ich so aufgeregt war.“ Er nahm die Lacher im Hintergrund wahr, redete aber weiter, und es war ihm auch egal, dass er nun Setos Vornamen benutzte. „Seto hat das gemerkt und war für mich da. Hat mir Ruhe und Kraft gegeben, Zuversicht. Ohne ihn würde ich hier immer noch zitternd wie Espenlaub sitzen. Aber mit ihm an meiner Seite, da habe ich diese ungeheure Sicherheit, dass alles gut wird. Weil er alles für mich tun würde, und ich für ihn. Weil er für mich die Welt bedeutet, und noch viel mehr. Weil ich ihn liebe, wie ich noch nichts und niemanden in meinem Leben geliebt habe.“   Noch immer schaute er verträumt in Setos Augen, und das Blau darin sah plötzlich aus wie Millionen funkelnde Saphire. Sein Herz schlug höher bei dem stechenden Blick, den Seto ihm schickte. Er war so wunderschön, und wäre jetzt niemand im Raum, würde er auf ihn zustürmen und ihn küssen, aber das wäre ihm jetzt – trotz all der Offenherzigkeit – doch ein Schritt zu viel, und Seto ging es damit vermutlich ähnlich.    „Ich hoffe, das beantwortet Ihre Frage zu Ihrer Zufriedenheit“, waren Joeys letzte Worte an die Menge, und mit seinen Lippen formte er ein ‚Ich liebe dich‘ und hoffte, dass Seto es verstehen würde. Die sofortige Veränderung in dessen Augenfarbe signalisierte ihm aber, dass seine Botschaft angekommen war.   „Wir beenden hiermit die heutige Pressekonferenz und danken Ihnen noch mal für Ihr Kommen“, hörte er Ms. Tsukiyama sagen. Er stand auf, verbeugte sich höflich vor den Journalisten und wollte Anstalten machen zu gehen, da spürte er Setos Hand an seiner. Der Brünette stand neben ihm und verschränkte ihre Finger noch stärker ineinander, und Hand in Hand verließen sie den Konferenzsaal und ließen eine jubelnde und tobende Menge hinter sich, auch wenn Joey nicht so richtig verstand, was sie ihnen zuriefen.   Zurück im Vorraum des Saals zog ihn Seto ohne Umschweife an seiner Hand näher zu sich ran. Er umklammerte sein Gesicht mit seinen großen, warmen Händen, bevor er ihn mit seinen Lippen in Beschlag nahm und innig küsste. Joey erwiderte den Kuss sofort und legte seine Arme um Setos Taille.   Der Braunhaarige löste den Kuss, allerdings nicht seinen Blick von ihm, der intensiv und gleichzeitig getrübt war. Dann sagte er mit einer Zärtlichkeit, die Joeys Körper überall kribbeln ließ: „Ich liebe dich, Joey.“   Der Blonde lächelte, dann zog er Seto erneut zu sich herunter, und kurz bevor sich ihre Lippen ein erneutes Mal trafen, sagte er: „Und ich liebe dich, Seto. Von heute an für immer.“ Und während sie sich küssten, schickten die Schmetterlinge in seinem Bauch den Wind ihrer sich rasch bewegenden Flügel in alle Winkel seines Körpers. Kapitel 27: Rescue me... from planning our future (Part 1) ---------------------------------------------------------- „Waaaaaaaah!“ Mokuba und Joey schauten zusammen auf die Zeitung, die Seto ihnen vor die Nase hielt, und kamen aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Sie ließen sofort von ihrem Frühstück ab und der Blonde riss Seto die Seite aus der Hand. Sie überflogen den Text, der weniger eine objektive journalistische Berichterstattung als vielmehr ein Kommentar zu den vorangegangenen Ereignissen war. Gut, das war nur logisch, immerhin war dieser im Klatsch-Teil der Zeitung veröffentlicht worden – dass Seto da überhaupt einen Blick reingeworfen hatte, erstaunte Joey immens, aber auf diesen Gedanken konnte er sich nicht weiter fokussieren, als sein Blick weiter über die Seite glitt. Das Bild über dem Beitrag zeigte Seto und ihn – wie sie gemeinsam Hand in Hand den Konferenzsaal des Hotels verließen, in der die Pressekonferenz stattgefunden hatte. Ungeduldig begann er nun, auch den Text in Gänze zu lesen.   ‚Seto Kaiba, CEO der KaibaCorp, verkündete gestern Abend in einer kurzfristig angesetzten Pressekonferenz seine Beziehung zu seinem Klassenkameraden Joey Wheeler. Dass beide auch außerhalb der Schule Umgang miteinander pflegten, war bereits in den letzten Monaten publik geworden, da Mr. Kaiba in einen Gerichtsprozess bezüglich Mr. Wheelers Vater involviert gewesen war. Dieser wurde wegen Körperverletzung an seinem Sohn zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, die er zu diesem Zeitpunkt absitzt.   Dennoch überraschte diese Ankündigung zunächst alle anwesenden Journalisten, da Mr. Kaiba eher als verschlossen und unnahbar sowie als kalter Geschäftsmann gilt. Über sein Privatleben war bisher wenig nach außen gedrungen.   Dass Mr. Kaiba sich entgegen diesen Tatsachen dazu entschlossen hatte, der Öffentlichkeit diese Mitteilung zu machen, führte zu reichlich Erstaunen im Saal. Das löste sich aber spätestens zu dem Zeitpunkt auf, als Mr. Wheeler zu Wort kam, der ebenfalls an der Pressekonferenz teilgenommen hatte.   Zu Beginn kamen den Medienvertretern schnell Zweifel, ob dieser nicht doch nur an dem reichen Vermögen des CEO interessiert wäre. Eine solche Frage zu beantworten, kann sich schnell als schwierige Herausforderung entpuppen, insbesondere, wenn man wenig Erfahrung mit der Presse hat, so wie es bei Mr. Wheeler der Fall ist.   Es konnte allerdings schnell festgestellt werden, dass Mr. Wheeler ein sehr warmherziger, offener Mensch ist, der nicht davor zurückschreckte, diese Frage ehrlich und geradeheraus zu beantworten. So, wie er die Beziehung zu Mr. Kaiba geschildert hatte, blieb kein Zweifel offen, dass hier wahre Liebe im Spiel ist. Mr. Wheeler hat es in seinen Ausführungen spielend leicht geschafft, die perfekte Balance zu finden zwischen der Preisgabe von Details und dennoch notwendiger Diskretion. Mit viel Witz und Humor war es ihm gelungen, die Menge von sich und der Beziehung zu Mr. Kaiba zu überzeugen. Er hat die Anwesenden an seinen Emotionen teilhaben lassen und durch sein absolut authentisches Auftreten dafür gesorgt, dass das Publikum ihnen begeistert zujubelte und viel Glück für die Zukunft wünschte, als sie die Konferenz beendet und Hand in Hand den Saal verlassen haben.   Dadurch, dass so wenig aus dem persönlichen Leben des Seto Kaiba bekannt ist, ist es schwer zu beurteilen, inwiefern diese Beziehung Bestand haben kann. Wenn man jedoch Mr. Kaiba während Mr. Wheelers Monolog beobachtet hat, so war deutlich zu sehen, dass auch dieser dieselben Gefühle aufbrachte. Man sagt ja außerdem: Gegensätze ziehen sich an, und wenn das so ist, dann können wir uns gut vorstellen, dass die Zukunft viel Positives für die beiden bereit hält. Dass Mr. Wheeler es geschafft hat, das Herz eines Mannes zu erobern, der zuweilen als eiskalter Tyrann beschrieben wird, der niemanden wirklich an sich ran lässt, zeugt zumindest davon, dass nichts diese Beziehung so schnell erschüttern kann.   Wir von der Domino Post wünschen Mr. Kaiba und Mr. Wheeler in jedem Fall alles Glück der Welt. Auf dass ihre Liebe auf eine lange Zukunft blicken kann.‘   „Mokuba! Ich bin so glücklich! Ich möchte weinen!“, rief Joey laut und beschallte damit das gesamte Esszimmer, nachdem er den Text immer und immer wieder gelesen hatte, und da kullerten ihm auch schon zahlreich die Tränen über die Wangen. Auch der Kleinere konnte die Tränen nicht zurückhalten und nickte energisch, während sie beide noch immer jeweils mit einer Hand das Zeitungspapier fest im Griff hatten.   „Sie lieben dich, Joey!“, schluchzte Mokuba auf. Joey bewegte seinen Kopf immer wieder hektisch von oben nach unten und spürte, wie seine Wangen glühten. Er hatte ja im Vorhinein mit so ziemlich allem gerechnet, aber dass er sich nach der Pressekonferenz eine Lobeshymne auf sich anhören durfte, das hatte er tatsächlich nicht zu den realistischen Optionen gezählt. Ja, er hatte sogar das Gefühl, dass er Seto die Hauptrolle weggeschnappt hatte. Erleichterung machte sich in ihm breit und die ganze Anspannung, die er noch vor der Bekanntgabe ihrer Beziehung gespürt hatte, war mit einem Mal verflogen.   Als er Seto kurz auflachen hörte, hob er seinen Kopf und sah, wie er fokussiert, aber mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, auf sein Handy starrte. Dann schaute er auf und sah Joey direkt in die Augen, sein Blick war selbstbewusst und vielleicht auch ein kleines bisschen selbstgefällig.   „Joey, weißt du noch, als du gesagt hast, du hättest Angst, das Ganze könnte dafür sorgen, dass meine Firma darunter leidet?“ Joey nickte, seine Augen neugierig auf Seto gerichtet. Der Braunhaarige legte das Handy auf den Tisch, verschränkte die Arme vor der Brust und grinste, als er erklärte: „Tja, ich hab‘ gerade die Zahlen von heute Morgen gecheckt. Es sieht so aus, als wenn ich 30% mehr Bestellungen reinbekommen habe im Vergleich zu einem durchschnittlichen anderen Tag – und es ist gerade mal sieben Uhr morgens.“   Joey riss erstaunt die Augen weit auf. Das zu hören, machte ihn nur noch glücklicher. Er hatte wirklich Angst gehabt, dass es Seto schaden könnte, und er wäre definitiv gewillt gewesen, es für immer ihr Geheimnis sein zu lassen, aber es war der Brünette gewesen, der dann schlussendlich darauf bestanden hatte, es trotz aller Risiken zu verkünden. Und Joey musste jetzt feststellen, dass ihn sein Instinkt nicht getäuscht hatte. Er war wirklich ein herausragender Geschäftsmann, das musste der Blonde ihm lassen, und er nahm sich vor, Seto in solchen Dingen in Zukunft stärker zu vertrauen. Er führte diese Firma jetzt schon einige Jahre und konnte es am besten einschätzen, und er hatte sich ja auch wirklich gut vorbereitet, das hatten sie beide. Und am Ende hatte es sich gelohnt – und das wohl offenbar nicht nur aus emotionaler Sicht.   Seto, der ihm bisher gegenüber gesessen hatte, nahm jetzt auf dem Stuhl neben ihm Platz. Er nahm eine von Joeys Händen in seine und führte sie an seine Lippen, dann sagte er: „Siehst du, es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Ganz im Gegenteil, statt mir zu schaden, bist du vielmehr zu meinem Goldjungen geworden, und ich finde, dieser Begriff passt in vielerlei Hinsicht perfekt zu dir.“ Joey war ihm nun ganz nah und konnte beobachten, wie Setos Augen immer unruhiger wurden, wie als wenn ein heftiger Sturm über dem Meer aufziehen würde, und wäre Mokuba jetzt nicht im Raum, würde er wohl über ihn herfallen, aber er versuchte, sich so gut es ging zu beherrschen.   Also gab er ihm nur einen flüchtigen Kuss auf den Mund und konnte genau erkennen, dass Seto das eigentlich auch nicht ausreichte, aber sie für mehr einen besseren Zeitpunkt abpassen müssten. Noch immer hielt er eine seiner Hände fest, während er seine zweite Hand nun an Joeys Wange führte und sie zärtlich streichelte. Joey entfuhr ein wohliger Seufzer und er drückte sich der Berührung noch mehr entgegen, während er Seto stumm und glücklich anlächelte und dieser es erwiderte.   Irgendwann kam Joey dann wieder in der Realität an, weil es eine Frage gab, die sie bisher noch nicht geklärt hatten. „Und was machen wir jetzt? Ich meine, wie verhalten wir uns in der Öffentlichkeit? Wir müssen uns zwar nicht mehr verstecken, aber... ich weiß nicht, es fällt mir schwer, mir genau vorzustellen, wie wir jetzt miteinander umgehen sollen.“   Seto nickte zustimmend und schien einen Moment in Gedanken. „Gute Frage, und so richtig eine Antwort habe ich darauf nicht, was vor allem daran liegt, dass ich in so einer Situation auch noch nie war.“   Als sich beide zunächst wieder in Schweigen hüllten, klinkte sich Mokuba plötzlich in die Konversation ein, und während er sich langsam wieder über sein Frühstück hermachte, sagte er: „Warum entscheidet ihr das nicht spontan? Ich glaube nicht, dass ihr das jetzt bis ins kleinste Detail durchplanen könnt. Schaut doch einfach, wie und womit ihr euch wohlfühlt, und dann seht ihr weiter.“   Joey sah ihn erstaunt an und kam nicht zum ersten Mal zu dem Entschluss, dass Mokuba erwachsener war, als er aussah oder sein Alter es vermuten ließ. Joey erinnerte sich, dass er vor der Pressekonferenz die Befürchtung gehabt hatte, dass Mokuba ebenfalls zu Schaden kommen könnte und ihm Karriereperspektiven verwehrt bleiben könnten, musste jetzt aber feststellen, dass diese Sorge wirklich unbegründet gewesen war. Wie Seto schon gesagt hatte, Mokuba war sehr schlau, und er stand ja erst kurz vor seinem 14. Geburtstag – wer wusste schon, wie er sich noch entwickeln und wie intelligent er dann erst sein würde, sobald er Setos Alter erreicht hatte. Joey seufzte auf – er wohnte hier wirklich mit zwei absoluten Wunderkindern zusammen.   Erst, als er Setos Hand auf seinem Oberschenkel spürte, entfloh er seiner Gedankenwelt wieder und sah ihm in die Augen, die mittlerweile wieder etwas sanfter und ruhiger geworden waren. „Mokuba hat recht, finde ich. Wir werden es schon wissen, wenn es so weit ist“, erklärte Seto. Joey stimmte nickend zu und erwiderte: „Klingt gut. Wir sollten langsam los, oder?“ Und als sie sich auf den Weg zur Limousine machten, wurde Joey dennoch das unsichere Gefühl nicht los, das sich in seinen Körper eingenistet hatte.   Die Fahrt verlief mehr oder weniger still, und trotz der Tatsache, dass Setos letzte Worte ziemlich sicher und stark geklungen hatten, machte sich eine angespannte Atmosphäre im Wagen breit. Als sie vor der Schule anhielten, blieben sie noch für einen kurzen Moment sitzen. Joey wandte sich Seto zu, der ein wenig die Stirn in Falten gelegt hatte, und Joey kam nicht umhin sich zu fragen, was dem Größeren wohl gerade durch den Kopf ging.   Seufzend brach Joey als Erster das Schweigen. „Meinst... du... es wissen schon alle?“, stotterte er, und wieder überkam ihn ein bedrohliches Gefühl vor dem, was ihnen jetzt unmittelbar bevorstand. Er konnte sehen, wie seine Worte Seto irgendwie aufschreckten, so als wäre er total in seinen Tagträumen versunken gewesen. Doch kaum erwiderte er Joeys Blick, setzte er wieder dieses selbstsichere Lächeln auf, und die Stärke, die er ausstrahlte, könnte Joey jetzt auch gut gebrauchen. Seto straffte sich, dann sagte er: „Finden wir’s raus.“   Und mit diesen Worten stieg Joey aus – und bemerkte sofort, wie sich kleine Grüppchen aus Schülern bildeten, die hemmungslos tuschelten und flüsterten. Es war nicht schwer zu erkennen, was gerade ihr Gesprächsthema Nummer eins war.   Für einen Augenblick war er so geschockt, dass er noch immer vor dem Wagen stand und sich kaum bewegen konnte. Ihm wurde plötzlich heiß und er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. So viel dazu, dass sie schon wüssten, wie sie sich verhalten sollten, wenn es erst mal so weit war. Es war eher das Gegenteil der Fall – Joey hatte nicht den Hauch einer Idee, was er jetzt machen sollte. Die zusätzlichen Sicherheitskräfte, die Seto nach Bekanntgabe ihrer Beziehung angeheuert hatte, nahm er nur dezent im Hintergrund wahr. Aber vermutlich verstärkten diese die Neugierde ihrer Mitschüler sogar noch und packten sie in noch höherem Ausmaß ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit.   Mit fast schon zu lässigen Schritten lief Seto um das Auto herum, stellte sich neben Joey und verschränkte die Arme vor dem Körper, während er sich mit dem Rücken an den Wagen lehnte. Er scannte die Umgebung genau mit seinen Augen und kam dann zu dem offensichtlichen Schluss: „Tja, sieht so aus, als hätten die News schon die Runde gemacht.“   Wie konnte er dabei nur so ruhig bleiben? Normalerweise war es für Joey kein Problem, im Mittelpunkt zu stehen, in vielen Fällen genoss er es sogar, aber in diesem speziellen Fall war es ihm tatsächlich ziemlich unangenehm. Und das lag nicht daran, dass es ihm peinlich war, mit Seto zusammen zu sein. Aber woran lag es denn eigentlich dann? Wenn er jetzt so zurückdachte, da wurde ihm klar, dass er sich doch genau genommen sehr auf diese Situation gefreut hatte, wenn das Versteckspiel endlich ein Ende haben würde.   Hatte er Angst vor den Meinungen der anderen Schüler? Hm, nein, das war es nicht unbedingt. Es hatte ihn noch nie so richtig interessiert, was andere von ihm hielten, zumindest nicht, wenn es nicht seine eigenen Freunde waren, und die wussten ja schon etwas länger Bescheid.   Oder war es einfach nur, weil es so eine neue Situation war, die er noch nie erlebt hatte? Wie, wenn man das erste Mal Achterbahn fuhr, oder die Aufregung vor der allerersten Klausur? Schon eher, aber er hatte das Gefühl, auch das traf es noch nicht so richtig. Als wenn noch eine entscheidende Variable in dieser Gleichung fehlen würde.   Er stieß einen lauten Seufzer aus. Warum nur war die Person, die ihn an den Rand des Wahnsinns brachte, nur so oft er selbst? Dann blickte er neben sich, auf Seto, dessen Blick noch immer starr auf den Schulvorplatz gerichtet war. Dann fiel Joey auf, welcher Faktor in der Formel noch fehlte.   Joey wurde das Gefühl nicht los, dass es in ihren bisherigen Überlegungen weniger darum gegangen war, wie sie sich verhalten wollten als vielmehr, wie sie sich verhalten sollten. Die Komponente, die Joey also zusätzlich einschüchterte, war offensichtlich der Mann neben ihm, der ihm doch sonst immer so viel Sicherheit vermittelte. Die wichtige Frage war jetzt: Wie viel würde Seto zulassen wollen? Immerhin hatte er es bisher tunlichst vermieden, auch nur irgendwelche Gefühlsregungen in der Öffentlichkeit zu zeigen – wobei er da einen gewaltigen Schritt gemacht hatte, als er sich während der Pressekonferenz offen zu Joey bekannt hatte.   Und überhaupt, was wollte er eigentlich selbst? Würde er ihn berühren wollen, während alle Augen auf sie gerichtet waren? Würde er ihn küssen, auch wenn er sich sicher war, dabei beobachtet zu werden? Er hatte das Gefühl, sich im Kreis zu drehen, immerhin zielten doch auch diese Fragen wieder nur darauf ab, wie das auf andere wirken würde.   Er atmete tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Es lief alles auf die eine Frage hinaus, die er sich zunächst selbst beantworten musste, bevor er auch nur einen Schritt in Richtung einer möglichen Lösung machen konnte: Was würde ihn selbst glücklich machen?   Er stellte sich vor, wie sie sich auf den Weg zur Klasse machten, so wie immer, ohne sich zu berühren, Seto ein paar Schritte hinter ihm und seinen Freunden. Das wäre wahrscheinlich die sicherste Variante, aber irgendwas daran machte ihn traurig. Es war alles so nervenaufreibend gewesen, die Pressekonferenz und auch deren Vorbereitung, und das alles nur, um dann wieder zu alten Mustern zurückzukehren? Nein, das war auf jeden Fall nicht, was er wollte.   Der nächste Gedanke, der ihm kam, war im Prinzip das komplette Gegenteil davon. Er handelte davon, wie Seto ihn mitten auf dem Weg küsste, aber es war nicht nur eine einfache, zärtliche, flüchtige Berührung, nein, es war ein richtiger Kuss, voller Leidenschaft und Verlangen nach mehr. Einer, bei dem Joey die gewaltige Hitze in sich aufkommen spürte, bei dem ihre Zungen wild umeinander tanzten und sich ihre Körper heftig aneinanderdrückten, während Setos Hände nicht schnell genug unter sein T-Shirt wandern konnten.   Joey blieb kurzzeitig die Luft weg, dann schnaufte er auf, die Augen noch immer geschlossen. Diese Idee hatte was, und irgendwie fand er die Vorstellung, seine Mitschüler damit zu schocken, auch unheimlich witzig. Aber nein, das wäre wohl ein bisschen zu viel des Guten. Es musste ein guter Mittelweg zwischen den beiden Gedankengängen sein, so viel stand auf jeden Fall schon mal fest.   „Hey, wollt ihr da einpennen, oder was?“ Als er Tristans laute Stimme hörte, öffnete Joey abrupt seine Augen und kam wieder in der Realität an. Er sah zu Seto rüber, der augenscheinlich auch in Gedanken abgedriftet war.   „Wie lange stehen wir hier schon, Seto?“   „Keine Ahnung, vermutlich länger, als wir sollten“, antwortete der Braunhaarige grinsend, und auch Joey musste schmunzeln. Wenigstens teilten sie dasselbe Schicksal.   Er beobachtete, wie Seto aufseufzte – und dann die Initiative ergriff. Er nahm seine Hand und sein Blick war ein wenig unsicher, doch dann verschränkte er ihre Finger ineinander und festigte seinen Händedruck. Er drehte sich jetzt mit seiner Vorderseite zu Joey und lächelte zaghaft. Joey bemerkte, wie er ein wenig im Gesicht errötete und er konnte einfach spüren, wie Seto sich gerade exakt dieselben Fragen gestellt hatte. Und das hier war das Ergebnis, das war offensichtlich, was ihn glücklich machte. Es war perfekt, genau der Mittelweg, nach dem Joey gesucht hatte, zumindest für jetzt. Es gab ihm wieder ein wenig den Mut zurück, der ihm so gefehlt hatte. Es war, als wären sie zu einer Einheit verschmolzen, an deren harter Schale die noch immer unaufhörlichen Blicke der anderen Schüler einfach abprallen würden.   Und als auch Joey seinen Händedruck verstärkte, da lächelte Seto noch ein bisschen mehr und er konnte die Sehnsucht in seinen Augen sehen, ihn noch mehr zu berühren. Und wer wusste schon, ob das von jetzt an nicht sogar möglich wäre? Sie hatten einen guten Startpunkt gefunden, der ihnen beiden ein Grundgerüst gab, auf dem sie aufbauen konnten, und gab ihnen eine Ruhe, nicht sofort entscheiden zu müssen, wie viel sich für sie richtig anfühlte. Sie hatten genug Zeit, das rauszufinden.   „Bereit?“, fragte Seto, und Joey nickte. „Bereit, wenn du es bist“, antwortete er, und als sie die ersten Schritte in Richtung von Joeys Freunden machten, um mit ihnen ins Schulgebäude zu gehen, da fühlte es sich für den Blonden auch so an, als wenn sie nun die Tür zu einer Zukunft öffneten, in der nichts sie mehr trennen konnte.   Natürlich wurden sie den ganzen Tag von neugierigen Blicken verfolgt, aber irgendwie hatte Joey sich da schneller dran gewöhnt, als er noch vor wenigen Stunden für möglich gehalten hätte. Angesprochen wurden sie darauf zumindest nicht, auch seine Freunde hatten dazu noch kein Wort gesagt, aber sie waren in der Früh auch so spät dran gewesen, dass sich bisher kaum eine Möglichkeit für ein längeres Gespräch ergeben hatte. Er wusste, das wäre sicherlich etwas für die Mittagspause, in der sie auch die notwendige Ruhe haben würden, das zu besprechen.   Als die Schulklingel dann endlich die große Pause ankündigte und sich alle Schüler in Richtung Kantine machten, trödelte Joey rum und war mit seinen Freunden und Seto einer der Letzten, die das Klassenzimmer verließen. Und gerade, als die Gruppe aus dem Raum trat, da konnte er Mitsuki direkt gegenüber an den Schließfächern stehen sehen. Seto trat neben ihn und nahm wieder seine Hand. Joey musste kurz auflachen – er konnte es genau in seinem Gesicht ablesen, dass er hier gerade sein Revier markierte, und das fand er zugleich amüsant wie idiotisch. Wie der Brünette auf die Idee kam, er würde ihn mal eben durch ein Mädchen ersetzen, mit dem er in seinem Leben kaum Worte gewechselt hatte, war ihm wirklich mehr als schleierhaft. Und dennoch – er genoss diese Geste auch, mochte dieses Signal an alles und jeden, das zeigte, zu wem er gehörte.   „Hey, geht doch schon mal vor, ich komme gleich nach“, sagte er an seine Freunde gerichtet, und als Seto keine Anstalten machte, sich auch nur einen einzigen Zentimeter von ihm wegzubewegen, ergänzte er: „Du auch, Seto.“ Er legte seinen finsteren Kaiba-Blick auf, mit dem er Mitsuki bedachte und Joey stellte sich nun zwischen sie beide, sodass er ihn anschauen musste. Er würde es nicht laut aussprechen müssen, damit Seto verstand, dass sein Verhalten absolut unangebracht war. Mitsuki hatte letzte Woche wirklich ihren kompletten Mut aufgebracht, um ihn nach dem Schulball zu fragen, und er war es ihr schuldig, ihr eine angemessene Antwort zu geben, auch wenn mehr als offensichtlich war, wie diese ausfallen würde.   Seto seufzte und wollte widerwillig seine Hand von Joeys lösen, doch Joey griff noch mal nach ihr und drückte sie fest. Der Braunhaarige hatte gerade zu verstehen gegeben, zu wem Joey gehörte, indem er seine Hand genommen hatte, und nun wollte Joey ihm genau dasselbe Zeichen geben. Er sollte sich zu keiner Sekunde sorgen müssen, dass er mal nicht mehr an seiner Seite stehen würde. Denn das würde nicht passieren. Niemals.   Joey löste ihre Hände, als Seto ihm ein winziges Lächeln schenkte und offenbar verstanden hatte, was er sagen wollte. Es machte ihn immer noch glücklich zu sehen, wie sie es schafften, etwas zu sagen, auch wenn sie gar nichts sagten. Sie hatten diese magische Verbindung aufgebaut, die er noch nie zuvor gespürt hatte, und er wusste, so jemanden würde es auf dieser Welt kein zweites Mal geben. Innerlich musste er lachen – für den Rest der Welt konnte er auch nur schwer hoffen, dass es keinen zweiten Seto Kaiba gab, es reichte schon einer, der versuchte, alles und jeden mit seinem eiskalten Blick kleinzukriegen.   Als auch Seto sich in Richtung Kantine bewegte, schaute er ihm noch für eine Sekunde nach, dann drehte er sich zu Mitsuki um und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Sollen wir noch mal ins Klassenzimmer gehen? Da ist es vielleicht ein bisschen ruhiger.“ Sie hatte schon wieder Schwierigkeiten, ihn direkt anzusehen, aber trotz dessen konnte er sehen, wie ihr ganzes Gesicht rot wie eine Tomate war. Außerdem sah sie verletzt aus. Er ließ sie zuerst zurück in den Raum gehen und konnte nicht verhindern, sich schlecht zu fühlen, auch wenn er nichts falsch gemacht hatte. Aber dennoch – er hatte nie jemandem weh tun wollen, und ihre Gefühle schienen tatsächlich aufrichtig zu sein. Nur dass er sie eben nicht erwiderte.   Joey schloss die Tür hinter sich, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und steckte die Hände in die Hosentaschen. Mitsuki hatte sich ans Fenster gestellt und sah raus, so als ob sie draußen etwas ganz Wichtiges beobachten würde. Die Stimmung war unbehaglich und keiner von beiden schien so richtig zu wissen, was er sagen sollte. Doch dann brach Mitsuki das Schweigen, und ohne sich zu ihm zu drehen, sagte sie: „Ich habe die Pressekonferenz gesehen.“   Joey wusste nicht so richtig, was er darauf erwidern sollte. Er war noch nie in die Situation gekommen, jemanden zurückweisen zu müssen und es jetzt zu tun, fühlte sich, gelinde gesagt, nicht gut an. Aber ihm blieb nun mal nichts anderes übrig.   Und gerade, als er seinen Mund öffnen und etwas sagen wollte, drehte sie sich zu ihm um – und lächelte? Joeys Verwirrung stand ihm vermutlich ausdrucksstark ins Gesicht geschrieben, was sie sogar laut lachen ließ.   „Hör zu, Joey“, begann sie, „hätte ich das zwischen euch gewusst, dann hätte ich dich natürlich nicht gefragt. Tut mir leid, dass ich dich in so eine blöde Situation gebracht habe.“   Joey erwiderte ihr Lächeln und schüttelte den Kopf. „Hast du nicht, mach dir keine Sorgen. Selbst wenn ich gewollte hätte, hätte ich es dir letzte Woche noch nicht sagen können. Also wäre meine Antwort zu der Zeit wohl noch unzufriedenstellender gewesen.“ Er atmete ein Mal hörbar auf, dann ging er ein paar Schritte auf sie zu. „Tut mir leid, Mitsuki, aber ich kann nicht mit dir auf den Schulball gehen.“   Sie nickte, verlor ihr Lächeln aber nicht, und Joey konnte sehen, dass es tatsächlich echt war. „Das habe ich mir schon gedacht. Ganz ehrlich, ich war echt überrascht. Du und Kaiba, hm?“ Daraufhin brachen sie beide in Gelächter aus.   Joey wischte einige wenige Lachtränen aus den Augen, bevor Mitsuki erneut sprach. „Aber hey, ich wünsche mir, das, was ihr habt, irgendwann auch mal zu finden. Was du bei der Pressekonferenz gesagt hast... so eine Liebeserklärung wünscht sich wohl jeder mal im Leben. Und auch jetzt gerade im Schulflur – man merkt echt, wie ihr zusammen gewachsen seid. Als wärt ihr seelenverwandt.“   So hatte es Joey noch gar nicht betrachtet, aber er musste ihr zustimmen. Er verstand Seto blind, und er umgekehrt ihn.   „Mitsuki, ich wünsche dir, dass du so jemanden mal findest. Dieser jemand bin nur leider nicht ich. Wenn du die Pressekonferenz gesehen hast, dann weißt du, dass es für mich immer nur ihn geben wird. Es tut mir echt leid, dass ich...“   Doch da hob sie abwehrend die Hände und unterbrach ihn. „Kein Grund, dich zu entschuldigen, Joey. Wirklich, es ist alles gut.“   Lächelnd nickten sie sich beide zu, und er war froh, dass es so reibungslos ablief und er sich jetzt nicht vorwerfen musste, ein Mädchen zum Weinen gebracht zu haben. Er war erstaunt, dass sie das so mit Fassung nahm, wo sie vor wenigen Minuten doch noch so eingeschüchtert gewirkt hatte. Aber vielleicht hatte es auch einfach geholfen, dass sie sich in einen ruhigen Raum zurückgezogen hatten, unbeobachtet von anderen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass eine Zurückweisung inmitten anderer Schüler wahnsinnig einfach zu ertragen gewesen wäre, auch wenn er das Glück hatte, das wohl niemals selbst erleben zu müssen.   „Gehst du auch in die Kantine? Begleitest du mich noch dahin?“, fragte Joey, und schon setzte sie sich in Bewegung. Der Blonde war erleichtert, dass sie das so schnell klären konnten, und auf dem Weg zum Essen unterhielten sie sich noch ganz locker über Schulkram, was ihn noch mehr entspannte. Als sie die Kantine betraten, winkte er ihr zum Abschied zu, ihre Wege trennten sich und Joey setzte sich zu Seto und seinen Freunden an ihren üblichen Platz.   „Und, wie hat sie’s aufgenommen?“, fragte Tristan ihn, kaum dass er sich hingesetzt hatte. Joey seufzte, konnte aber auch ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken. „Ganz gut eigentlich. Auf jeden Fall besser, als ich gedacht hätte.“ Seto, der direkt neben ihm saß, versprühte trotz der Tatsache, dass er Mitsuki gerade einen fetten Korb gegeben hatte, noch immer eine dunkle Aura. Belustigt stieß er Seto in die Seite. „Jetzt hör schon auf, so ein Miesepeter zu sein. Oder bist du etwa eifersüchtig, dass ich hier derjenige von uns beiden bin, der noch andere Verehrer hat?“   Als Antwort schnaufte Seto nur auf und widmete sich wieder seinem Essen, was Joey und den Rest der Gruppe laut auflachen ließ.   „Aber die Pressekonferenz war ja echt krass! Du hast überhaupt nicht nervös ausgesehen, Joey!“, rief Tristan fast schon bewundernd, kaum dass sich die Gruppe wieder beruhigt hatte. Joey grinste bis über beide Ohren, als er antwortete: „Ja, oder? War das nicht einfach richtig genial von mir, wie ich das hingekriegt habe?“   „Mmmmm-hm“, murmelte Seto gedehnt von rechts, den Blick weiter auf das Essen vor ihm gerichtet, und irgendwas an dessen Tonfall provozierte Joey. Der Blonde knurrte, bevor er sich zu ihm drehte und antwortete: „Was denn? War es so außergewöhnlich, dass ich vorher nervös war? Ich hab’ eben nicht so viel Übung mit der Presse wie du, du arroganter Saftsack! Und überhaupt, war ja nicht so, dass ich nur wegen mir angespannt, falls du dich erinnerst. Und als es dann drauf ankam, war ich ja wohl das Selbstbewusstsein in Person!“   Joey funkelte ihn wütend an, und als Seto seine Augen ganz leicht in seine Richtung drehte, da konnte er sie amüsiert glänzen sehen. Es war ganz offensichtlich, dass er ihn einfach nur hatte provozieren wollen, und er war ihm direkt in die Falle getappt. Als er das sah, schüttelte Joey den Kopf und musste ein bisschen über sich selbst lachen. Seto hatte einfach noch immer Spaß daran, ihn so vor seinen Freunden zu reizen – und irgendwie brauchte Joey das auch. Wenn sie allein waren, war es ganz anders zwischen ihnen, und dann, in der Gruppe, da entwickelte sich eine ganz eigene Dynamik, so als wären sie immer noch die Erzfeinde von damals. Eigentlich sollte Joey das stören, aber irgendwie gab es ihm auch das Gefühl von Normalität. Klar, ihre Beziehung hatten sie jetzt öffentlich gemacht, aber das bedeutete ja nicht, dass sie sich jetzt zwangsläufig komplett anders verhalten müssten.    Und außerdem – er fand es berauschend zu wissen, dass Seto die Seite, die er an den Tag legte, wenn sie allein waren, nicht jedem zeigte. Die Seite, die Joey immer wieder – mit Worten oder Gesten – signalisierte, wie sehr er ihn liebte. Natürlich nahm er die Zeichen auch wahr, wenn sie in der Öffentlichkeit waren, seien es die flüchtigen Berührungen oder die Blicke, die sie sich zuwarfen – aber es war eben deutlich subtiler. Und dennoch – Joey wusste immer genau, wie er sie zu deuten hatte. Und von nun an müssten sie ja auch nicht mehr ganz so unterschwellig sein, und dieser Gedanke ließ sein Herz nun doch ein bisschen hüpfen.   Joey seufzte auf. Er ließ sich trotzdem viel zu leicht von ihm provozieren – vielleicht sollte er sich eine gute Gegenstrategie überlegen? Irgendwas, was Seto mal total aus den Socken hauen würde? Ein winziges Grinsen legte sich auf seine Lippen und er nahm sich vor, einen Plan auszuhecken, um Seto in solchen Momenten auch mal aus der Reserve zu locken. Sein Ehrgeiz war geweckt.   Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als er Yugi sagen hörte: „Ist doch total normal, dass man vor so was Lampenfieber hat, Joey. Ich fand jedenfalls auch, dass du das echt souverän gemeistert hast. Und falls du doch aufgeregt warst, hat man es dir zumindest nicht angemerkt.“ Er sah, wie alle seine Freunde bestätigend nickten.    „Ja, und was du gesagt hast, war so schön, Joey“, ergänzte Téa und stützte ihren Kopf auf ihre Arme, und wenn Joey es nicht besser wüsste, hätte er fast so was wie Herzchen in ihren Augen erkannt. Joey errötete leicht und lächelte schief, wurde ein wenig unsicher und wusste nicht so recht, was er darauf erwidern sollte. Es stimmte, alles, was er gesagt hatte, war wahr, und er hatte einfach den Worten seines Herzens freien Lauf gelassen. So emotional hatte er bisher noch über nichts und niemanden gesprochen, schon mal gar nicht, wenn Fernsehkameras auf ihn gerichtet waren. Aber er hatte nicht anders gekonnt, die Worte waren einfach so aus ihm herausgeflossen. Selbst wenn er sich hätte zurücknehmen wollen, geschafft hätte er das vermutlich nicht.   Da spürte er plötzlich Setos Hand an seinem Oberschenkel und konnte sehen, dass auch sein Blick ein bisschen weicher geworden war, wenngleich er sich sicher war, dass das niemand anders bemerken würde. Für jeden, der ihn nicht so gut kannte wie der Blonde, sah er aus wie immer, und Joeys Herz schlug schneller bei dem Gedanken, dass nur er ihn so sehen konnte, und Seto nur ihn es sehen ließ. Joeys Mundwinkel zogen sich ein wenig in die Höhe und er legte seine Hand auf die des Brünetten. Zunächst streichelte er sie sanft, während sie sich unablässig in die Augen sahen. Seine Haut war ein wenig rau und trocken, und sofort kam Joey der Gedanke, ob er ihm einfach mal eine Handcreme besorgen sollte. Dann bewegte er seine Hand unter die von Seto und schob seine Finger zwischen seine, erhöhte den Druck leicht. Ein warmes Gefühl breitete sich in seinem ganzen Körper aus und er würde ihn jetzt so gern küssen. Ob das ginge? Sie waren schon wieder in ihrer eigenen Welt, in der nichts zu existieren schien, außer sie beide. Setos Augen strahlten pure Sehnsucht aus, und unbewusst waren sie etwas näher aneinander gerutscht. Im Hintergrund konnte Joey wie gedämpft Geräusche wahrnehmen, aber das Einzige, was er klar hören konnte, war Setos Atem. Er war ruhig, hob und senkte seine Brust in absolut gleichmäßigem Rhythmus. Joey spürte jetzt, wie sich auch seine eigene Atmung ihm angepasst hatte, ohne dass er es so richtig gemerkt hatte. Es war, als wären sie eins, das nicht auseinandergerissen werden könnte.   Er wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann kam er wieder in der Realität an, nahm die Geräusche von außen wieder bewusster wahr. Es war jedes Mal wieder atemberaubend, wie viel Macht Seto auf ihn hatte. Gerade noch waren sie mehr oder weniger streitlustig aufeinander losgegangen, und schon im nächsten Moment fühlte er nichts als diese tiefe Liebe, die nun auch jeder andere Mensch auf diesem Planeten sehen durfte.   Joey entwich ein kurzer, glücklicher Seufzer, bevor er ihre Hände wieder voneinander löste, damit er sein Bento rausholen konnte, um endlich auch was zwischen die Zähne zu kriegen. Und gerade, als er den Reißverschluss seiner Tasche öffnete, um die Box herauszuholen, schien Yugi ein neues Gesprächsthema zu beginnen, und es wirkte so, als hätte er damit bewusst gewartet und Seto und ihm diesen Moment Zweisamkeit – wenn man das in der Gruppe denn so nennen konnte – geschenkt.   „Also, wo wir doch vorhin über den Schulabschlussball geredet haben“, sagte Yugi und blickte neugierig in die Runde. „Habt ihr alle schon einen Plan, was ihr nach der Schule machen wollt?“ Noch bevor Joey überhaupt darüber nachdenken konnte, grinste Tristan schon siegessicher – als wenn das hier so eine Art Wettkampf werden würde – und ließ mit vor Stolz geschwellter Brust verlauten: „Also ich steig bei meinem Alten ein. Der hat eine Autowerkstatt und ich hab‘ sowieso schon immer mal ausgeholfen, in den Ferien und so.“   Yugi lächelte ihn freundlich an, als er antwortete: „Das ist ein klasse Plan, Tristan! Ich werde wohl irgendwann in den nächsten Jahren den Laden von meinem Opa übernehmen, wenn er in Rente geht. Das heißt, ich werde ihn nach dem Abschluss in Vollzeit unterstützen und mich darauf vorbereiten.“   Joey sah ihn erstaunt an. „Du willst nicht studieren, Yugi?“ Der Blonde war darüber ziemlich verblüfft, immerhin war Yugi einer der intelligentesten Menschen, die er kannte. Sollte er all das Potenzial, das er hatte, nicht besser nutzen?   „Na ja“, begann der Bunthaarige erneut und legte eine Hand an sein Kinn, während er über Joeys Frage grübelte. „Doch, schon, aber ich will mich, denke ich, erst mal auf den Laden konzentrieren und auch noch mehr Turniere spielen. Vielleicht nehme ich das Studium in ein paar Jahren in Angriff, es läuft mir ja nicht unbedingt weg.“   „Also ich will auf jeden Fall studieren“, sagte Téa und alle Augen richteten sich nun auf sie. Sie seufzte auf und stützte ihren Kopf auf einem Ellenbogen ab. „Ich lerne auch gerade schon für die Aufnahmeprüfungen, die ja noch vor dem Abschlussball anstehen. Das wird echt kein Zuckerschlecken.“   Yugi, der neben ihr saß, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Das schaffst du schon, Téa. Und wenn du mal Hilfe brauchst, können wir auch gern zusammen lernen. Ich mache die Prüfung zwar nicht, aber manchmal hilft es, wenn man das nicht alleine machen muss.“ Téa lächelte ihn dankbar an und nickte.   „Tja, und was der Eisklotz da drüben machen wird, können wir uns wohl alle denken“, sagte Tristan und blickte Seto abschätzig an. Irgendwas daran machte Joey sauer, und bevor er sich zu angemessener Selbstkontrolle ermahnen konnte, kämpften sich die Worte in seinem Kopf schon wieder wie von selbst den Weg aus seinem Mund.   „Ey, du Idiot, kannst du dir vorstellen, wie hart Seto für seine Firma arbeitet? Er ist oft nicht vor Mitternacht zuhause und schafft es trotzdem, jeden Tag zur Schule zu kommen und von uns allen wohl so ziemlich die besten Noten zu schreiben. Außerdem – kannst du von dir behaupten, so was im Leben schon erreicht zu haben? Weißt du, wie krass erfolgreich seine Firma ist? Es ist doch wohl klar, dass er das nach der Schule nicht einfach aufgeben wird! Du bist echt so...“   Und noch während Joey sich so in Rage redete, spürte er schon wieder Setos Hand auf seinem Oberschenkel. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass der Braunhaarige ihn zwar nicht direkt ansah, aber sein Blick insgesamt schon wieder – oder immer noch? – ein wenig weicher war.   Joey schnaufte ein Mal laut auf, dann lehnte er sich mit verschränkten Armen zurück an seinen Stuhl und murmelte: „Ist doch wahr.“   Seine Freunde grinsten ihn nur an. Machten die das etwa mit Absicht, weil sie wussten, wie sehr es ihn mittlerweile auf die Palme brachte, wenn man Seto angriff? Den Brünetten schien das wenig zu stören, aber er war Kritik vermutlich einfach auch gewöhnt, das ließ sich wohl nicht vermeiden, wenn man so in der Öffentlichkeit stand. Außerdem machte er keinen Hehl daraus, wie wenig er auf die Meinung anderer Wert legte, schon mal gar nicht auf die des ‚Kindergartens‘ – nur bei Mokuba und Joey schien er eine Ausnahme zu machen.   „Und du willst dann auch nicht studieren, Kaiba?“, fragte Téa und legte den Kopf ein wenig schief. Als Seto sie dann direkt anschaute, war sein Blick schon wieder so kühl geworden, dass die Luft zwischen ihm und Téa förmlich zu gefrieren drohte, aber er ließ die Hand auf Joeys Oberschenkel, bevor er antwortete: „Wozu? Alles, was ich wissen muss, um meine Firma zu führen, weiß ich bereits. Und alles Wissen, was ich in Zukunft benötige, kann ich mir auch so holen. Ein Studium würde mir keinen Mehrwert bieten und wäre sowieso viel zu generalistisch. Zeitverschwendung, sich mit so vielen Dingen zu befassen, die irrelevant für mich sind.“   Joey knabberte an seiner Unterlippe, während er darüber grübelte, was Seto da gerade gesagt hatte. Er hatte nicht unrecht, das musste Joey schon zugeben. Er hatte bisher auch noch gar nicht so richtig einen Gedanken daran verschwendet, was Seto wohl nach der Schule machen würde. Wenn man es genau betrachtete, war es aber eigentlich nur logisch, dass er sich noch stärker auf seine Firma konzentrieren würde. Ein ganz dezentes Lächeln legte sich jetzt auf Joeys Lippen – wenn er jetzt schon so erfolgreich mit seiner Firma war, wie gewinnbringend würde sie dann wohl werden, wenn Seto ihr erst seine gesamte Zeit widmen würde? Es war noch gar nicht so weit, und doch war Joey jetzt schon unsagbar stolz auf ihn. Er schüttelte den Kopf ob des sonderbaren Gefühls.   In diesem Augenblick drehte Seto ihm den Kopf zu, die Hand noch immer an seinem Oberschenkel. Der Brünette blickte ihn neugierig an, als er fragte: „Und du, Joey, was ist mit dir? Willst du studieren?“   Für einen Moment legte sich ein fassungsloses Schweigen über die Gruppe, dann brachen sie gemeinsam in schallendes Gelächter aus, auch Joey selbst, so sehr, dass sie kaum noch Luft bekamen, weil sie so sehr lachen mussten. Dass Joey diese Frage jemals gestellt werden würde, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, und seine Freunde schienen genauso überrascht davon.   Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen, bevor er sich Seto zuwandte, um ihm eine Antwort zu geben. Noch immer halb lachend, erklärte er: „Nein, studieren werde ich nicht. Ganz ehrlich, Seto, dass ich den Schulabschluss überhaupt schaffe, grenzt doch schon an ein Wunder. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ich die Aufnahmeprüfung für irgendeine Uni auch nur ansatzweise schaffen würde. Und überhaupt – hast du mich in den letzten Wochen oder Monaten auch nur ein einziges Mal wirklich lernen sehen?“   Nun musste auch Seto ein wenig schmunzeln, auch wenn Joey genau erkennen konnte, wie sehr er versuchte, es zu unterdrücken. Dabei würde es Joey jetzt wirklich gern sehen wollen, aber Seto konnte eben nicht so leicht aus seiner Haut heraus, zumindest im Moment noch nicht, auch wenn es durchaus Augenblicke gab, in denen er zugänglicher war, auch wenn sie nicht allein waren. Aber Joey würde ihn auch nicht ‚auf Teufel komm raus‘ ändern wollen.   Als Joey seine Hand wieder auf die von Seto legte, hörte er den Braunhaarigen erneut sprechen: „Und was willst du dann machen?“   Achselzuckend erwiderte Joey: „Ich werde einfach weiterhin im Café arbeiten, dann eben in Vollzeit. Ich hab‘ das schon lose mit meinem Chef besprochen, aber noch nichts unterschrieben. Ich mag meine Arbeit da, gerade den Kontakt mit den Gästen. Und ich könnte mir sowieso nicht vorstellen, den ganzen Tag im Büro oder in der Bibliothek zu sitzen. Da würde ich wahnsinnig werden vor Langeweile oder vielleicht eine Art Lagerkoller kriegen.“   Setos anschließende Reaktion verunsicherte Joey etwas. Der Brünette löste sich von ihm und wandte sich erneut seinem Essen zu, während er in sich hinein grinste, und Joey spürte eine Unruhe in sich aufkommen. Es sah so aus, als hätte der Größere gerade irgendeinen Plan gefasst, und Joey überkam jetzt schon ein schauriges Gefühl bei dem Gedanken, zu erfahren, was genau er im Schilde führte. Kapitel 28: Rescue me... from planning our future (Part 2) ---------------------------------------------------------- Seto saß gerade an seinem Schreibtisch in der KaibaCorp und tippte noch die letzten Zahlen in die Tabelle ein, bevor er den Computer herunterfuhr und sich auf den Weg machte. Er sah auf die Uhr – es war kurz nach 18 Uhr und er wusste, dass Joey heute bis ungefähr 20 Uhr arbeiten müsste.   Als der Blonde vor ein paar Tagen in der Kantine verkündet hatte, wie er sich seine berufliche Zukunft – zumindest auf kurze Sicht – vorstellte, da hatte Seto einen Entschluss gefasst. Während er sich auf den Weg zur Limousine machte, dachte er schmunzelnd darüber nach, wie Joey reagiert hatte. Er hatte in den letzten Tagen wirklich versucht, aus ihm rauszukriegen, was er geplant hatte – man hatte ihm offensichtlich direkt angemerkt, dass er eine bestimmte Absicht verfolgte, aber Seto hatte nicht klein bei gegeben. Nein, er wollte, dass es eine Überraschung werden würde, und heute war nun endlich der Tag gekommen, an dem er seinen Plan in die Tat umsetzen würde.   Die Fahrt mit der Limousine dauerte nicht lange, und als er ausstieg, musste er feststellen, dass er hier noch nie gewesen war, auch wenn es gar nicht so weit weg von seinem Firmengebäude war. Das kleine Gebäude sah von außen recht ansehnlich aus. Die Außenfassade des Cafés, in dem sein blonder Wirbelwind arbeitete, war ockerfarben gestrichen worden und eine beige Markise spendete den Plätzen draußen Schatten, was gerade jetzt, wo die Temperaturen deutlich anstiegen, von Vorteil war. Wobei das um diese Uhrzeit kaum noch nötig war. Der äußere Bereich wurde von einigen Topfpflanzen geziert, viele auch mit bunten Blüten. Seto kannte sich mit jeglicher Art von Vegetation überhaupt nicht aus, daher konnte er nicht sagen, was genau das für Pflanzen waren, aber es sah insgesamt alles sehr ästhetisch und stimmig aus, schaffte irgendwie eine warme und liebevolle Atmosphäre. Er war noch nie in Paris gewesen, aber ungefähr so stellte er sich ein typisches, französisches Café vor. Fast schon ein bisschen kitschig, wenn er jetzt so recht darüber nachdachte.   Als er das Café betrat, kündigte eine kleine Glocke seine Ankunft an und das erste, was er bemerkte, war der süße Duft von noch ofenwarmem Kuchen, dicht gefolgt von dem herrlichen Aroma frisch aufgebrühten Kaffees. Im Hintergrund spielte leise Jazz-Musik. Der Innenraum war lichtdurchflutet, weil er an den Seiten gesäumt war von bodentiefen Fenstern, die in südwestlicher Richtung lagen, sodass die Sonne den Raum den gesamten Tag hell erleuchten musste. Die Luft wurde von der Klimaanlage gekühlt, sodass der Raum insgesamt eine sehr angenehme Temperatur hatte. Auch hier konnte Seto die verschiedensten Pflanzen ausmachen, zum Teil auf dem Boden in entsprechenden Töpfen und Behältern, aber auch von der Decke hängend. Er lächelte leicht – er konnte sich nun ungefähr vorstellen, warum Joey seine Arbeit hier so mochte, allein schon der Atmosphäre wegen.   Und kaum hatte er an sein Hündchen gedacht, kam dieser auch schon in schnellem Tempo um die Ecke, um den Neuankömmling zu begrüßen, der noch immer an der Tür stand.   „Willko-... hä? Seto?“   Seto ließ beide Hände in seinen Hosentaschen verschwinden und sein Lächeln verstärkte sich noch etwas. Ja, genau deswegen hatte er ihm nicht erzählt, dass er herkommen würde. Er liebte es einfach, sein Hündchen so zu überraschen. Sein Gesichtsausdruck, immer, wenn er das tat, auch jetzt gerade, war einfach das Warten wert. Er sah ihn mit Erstaunen, aber auch ein wenig ungläubig an, so als ob er gar nicht so richtig wahrhaben wollte, dass Seto hier gerade wirklich in dem Café stand, in dem er arbeitete. Er trug wie üblich seine weinrote Kellnerschürze, zusammen mit einer Bauchtasche, in der sich vermutlich das Portemonnaie zum Abkassieren der Gäste befand. Er war einfach wunderschön, Seto konnte es gar nicht anders beschreiben. Die Sonne ging langsam unter, und unter den zarten, letzten Sonnenstrahlen wirkte Joeys Gesicht so weich, dass Seto sich nur mit Mühe und Not zurückhalten konnte, es nicht einfach in beide Hände zu nehmen und ihn überall zu küssen.   Erst als Joey einige Schritte auf ihn zumachte und ihn ansprach, erwachte Seto wieder aus seinen Tagträumen. „Seto, was machst du denn hier?“   Der Braunhaarige lachte kurz auf, bevor er erwiderte: „Du hast doch gesagt, dass du auch nach der Schule weiter hier arbeiten willst. Na ja, da dachte ich, ich sollte vielleicht mal checken, ob du damit auch wirklich die richtige Entscheidung triffst.“   Joey schien noch immer mehr als irritiert zu sein. „Hast du das Gefühl, ich hätte mich falsch entschieden?“ Doch Seto schüttelte nur den Kopf, bevor er, weiterhin lächelnd, antwortete: „Nein. Ich bin ehrlich gesagt nur neugierig.“   Nun erwiderte auch Joey das Lächeln und für einen Moment war es, als wären es nur sie beide in diesem Raum. Doch dann schien der Blonde zu merken, dass er hier ja immer noch bei seiner Arbeitsstelle war, und Seto konnte in seinem Blick so etwas wie Ehrgeiz erkennen. Auch wenn er Joeys Entscheidung tatsächlich keine Sekunde angezweifelt hatte, so wurde er das Gefühl nicht los, dass er es ihm jetzt trotzdem beweisen wollen würde. Oder jetzt erst recht.   Er wurde von Joey an einen Platz direkt an einem der bodentiefen Fenster geführt. Als der Blonde ihm die Karte reichte, stützte er sich für einen kurzen Moment auf dem runden Tisch ab und blickte verträumt raus. „Weißt du, wenn ich hier Gast wäre, dann wäre das mein Lieblingsplatz. Er steht mitten im Café, sodass man von hier aus alle Menschen gut beobachten kann, und das wäre vermutlich, was ich die ganze Zeit tun würde, zumindest, wenn ich allein hier wäre. Man sitzt direkt am Fenster, das heißt, egal, welches Wetter auch gerade ist, hier bekommt man immer am meisten Licht ab. Und ich finde, der Blick ist von hier aus auch am schönsten, weil man nicht zur Hauptstraße schaut, sondern direkt auf den Park nebenan.“   Nun blickte er ihn direkt an, bevor er grinsend ergänzte: „Die meisten wollen im Frühjahr und Sommer lieber draußen sitzen, zumindest, wenn das Wetter mitspielt, aber ich würde diesen Platz hier zu jeder Jahreszeit wählen.“   Seto legte für einen kurzen Augenblick seine Hand auf eine von Joeys und erwiderte sein Lächeln. „Du hast recht, es ist perfekt. So wie du.“   Er bemerkte, wie Joey leicht errötete, und lächelte zufrieden. Er hoffte, er würde auf ewig diese Wirkung auf sein Hündchen haben. Es war viel mehr als nur das reine Gefühl von Macht. Immer, wenn er sah, welche Regungen er in dem Blonden auslöste, setzte sein Herz einen Schlag aus und er musste feststellen, wie stark seine Liebe zu ihm war.   Joey entgegnete nichts auf Setos vorherige Aussage, sah ihn nur verträumt lächelnd an, und das war eigentlich auch schon alles, was Seto wissen musste. Dann sagte Joey: „Also, willst du Kaffee, so wie du ihn immer trinkst?“ Seto nickte ihm zu und musste feststellen, dass Joey ihn vermutlich perfekt zubereiten würde, schon allein deshalb, weil er seinen eigenen Kaffee gern genauso hatte. Seto liebte all ihre Gemeinsamkeiten, aber diese im Speziellen war für ihn, aus welchem Grund auch immer, eine der wertvollsten. Vielleicht, weil es eine der ersten gewesen war, die er entdeckt hatte.   Joey wollte sich gerade auf den Weg machen, um ihm das dunkle Gebräu zuzubereiten und auch andere Gäste zu bedienen, da hörten sie plötzlich ein lautes Geräusch von Setos Nachbartisch und ein kleines Kind fing an zu weinen. Joey, der noch immer an seinem Tisch stand, erschrak ein wenig, als er es wahrgenommen hatte, fing sich aber schnell wieder. Er murmelte Seto kurz zu: „Entschuldige mich bitte“, dann ging er an den Tisch, um zu sehen, was passiert war.   Seto beobachtete jeden von Joeys Schritten. Die Eltern des Kindes entschuldigten sich ausgiebig bei dem Blonden – es sah so aus, als hätte sich das Kind mit seinem Kakao bekleckert und hätte einen Schrecken bekommen. Joey holte schnell einen Lappen, um den Tisch zu säubern, und nahm auch ein paar Papiertücher mit. Als er zurück zum Tisch kam, weinte das kleine Mädchen noch immer bitterlich. Seto beobachtete, wie Joey davon abließ, den Tisch weiter zu reinigen, und in die Hocke ging, um auf derselben Ebene wie das Mädchen zu sein. Auch auf die Distanz konnte Seto sehen, wie sehr seine Augen glänzten, als er sie anlächelte und ihr einige Papiertücher überreichte.   „Hey, hast du dich erschreckt? Keine Sorge, das ist doch überhaupt nicht schlimm, ist doch alles in Ordnung. Weißt du, wie oft mir das schon passiert ist?“   Das Mädchen hörte sofort auf zu weinen, auch wenn sich noch immer ein paar restliche Tränen von ihren Wimpern lösten und über ihre Wangen kullerten. „Dir ist das auch schon passiert?“   Joey tätschelte sie auf dem Kopf, dann antwortete er: „Na klar! Schon total oft.“ Dann hielt er eine Hand so an seine Wange, dass er ihr zuflüstern konnte, ohne, dass ihre Eltern seine Lippenbewegungen sehen konnten. „Weißt du, richtig peinlich ist es nur dann, wenn du was über andere verschüttest. Ist mir auch schon passiert, da hätte ich auch heulen können.“   Das Mädchen presste grinsend die Lippen zusammen und ihre Wangen wurden rosig. Es wirkte so, als ob Joey ihr gerade ein pikantes Geheimnis erzählt hätte, das sie niemandem verraten durfte. Seto kam nicht umhin zu bewundern, wie schnell es Joey geschafft hatte, das Kind zu beruhigen. Es war einfach Wahnsinn, wie spielend leicht er die richtigen Worte gefunden hatte und im Handumdrehen das Vertrauen des Mädchens gewonnen hatte.   Sein Hündchen grinste die Kleine an, bevor er ihr für eine Sekunde beruhigend durch die Haare streichelte. „Wie ist dein Name?“, fragte er, noch immer vor ihr hockend.   Das Mädchen schaute unsicher zu ihren Eltern rüber und auf Setos Lippen legte sich ein schwaches Schmunzeln. Schlaues Kind, vertrau keinem Fremden. Wobei er ihr gern zurufen würde, dass sie vor Joey keine Angst zu haben bräuchte, aber er mischte sich nicht ein.   Die Eltern sahen das wohl ähnlich und nickten ihr zu, also drehte sie sich wieder zu Joey um und antwortete glücklich strahlend: „Ich heiße Téa. Und wie heißt du?“ Seto beobachtete, wie Joey verblüfft die Augen aufriss, nur um danach wieder eine freundliche Miene aufzusetzen. „Téa also. Eine ganz liebe Freundin von mir heißt auch so, weißt du? Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Joey.“   Die Wangen der kleinen Téa liefen rosa an, und mit glänzenden Augen fragte sie: „Heißt das, wir sind jetzt auch Freunde?“   Joey lachte herzlich, und Setos ganzer Körper wurde ausgehend von dem Klang seines Lachens von einer undefinierbaren Wärme durchzogen. Der Blonde strich ihr noch mal sanft durch die Haare, dann erwiderte er: „Natürlich sind wir das.“   Joey beendete daraufhin das Gespräch mit dem Mädchen und stand erneut auf, um nun auch den Rest des Tisches zu reinigen. Als er sich entfernen wollte, um Setos Kaffee zuzubereiten, wurde er nicht gehen gelassen, ohne sich noch weitere Entschuldigungen der Eltern anzuhören. Aber herzensgut, wie sein Hündchen eben war, winkte er nur ab, und auf dem Weg in Richtung Küche blickte er noch einmal zu Seto und schenkte ihm ein liebevolles Lächeln, das Setos Herz wie wild schlagen ließ.   Während Joey beschäftigt war, dachte Seto noch mal genau über die gerade abgelaufene Szene nach. Er bekam dieses Bild nicht mehr aus seinem Kopf, wie behutsam und empathisch er mit dem Kind umgegangen war – er hatte das bei ihm auch schon beobachten können, wenn er mit Mokuba sprach, aber das hier war noch mal etwas anderes. Zum einen war das Mädchen deutlich jünger als Mokuba, sie war vermutlich nicht älter als fünf, und zum anderen kannte er sie doch gar nicht und hatte wohl offensichtlich trotzdem das Bedürfnis gehabt, sich so hingebungsvoll um sie zu kümmern. Vielleicht war das ja auch normal und Seto hatte nur noch nie den Wunsch gehabt, anderen Menschen so zu helfen wie Joey es tat? Möglicherweise, aber dass jemand sich so leidenschaftlich wie sein Hündchen um andere kümmerte, das hatte er tatsächlich bisher nur bei ihm beobachtet.   Und da kam ihm plötzlich eine Idee, gerade als Joey mit seinem Kaffee auftauchte und diesen auf seinem Tisch abstellte. Bevor der Blonde wieder von dannen ziehen konnte, um sich anderen Gästen zu widmen, nahm er kurz Joeys Hand, um seine volle Aufmerksamkeit zu bekommen. „Joey, musst du am Wochenende arbeiten?“   Überrascht erwiderte er den Blick, sagte dann aber: „Nein, wieso?“   Seto lächelte ihn sanft und warm an – und überraschte damit sich selbst wohl am meisten, aber er konnte von hier aus gut erkennen, dass niemand sie weiter beachtete. „Lass uns einen Ausflug machen. Es gibt einen Ort, den ich dir gern zeigen würde.“   Joey grinste verschmitzt, bevor er entgegnete: „Und du wirst mir vermutlich vorher nicht verraten, wohin wir gehen, richtig?“   Seto nickte. „Korrekt.“ Belustigt verdrehte Joey die Augen, aber Seto wusste, dass seine Neugierde stärker war als sein Drang, ihn in die Schranken zu weisen. Auch der Blonde schien das so zu sehen, als er dem Ausflug zustimmte und sich wieder an die Arbeit machte, während Seto sich dem wirklich ausgezeichnet zubereiteten Kaffee widmete.   Auch die Tage darauf hatte Joey es wieder vergeblich versucht, mehr Infos aus Seto rauszukriegen, aber er hatte keine Chance. Die Ungeduld war Joey vollumfänglich anzusehen, selbst dann noch, als sie am Samstagvormittag in die Limousine stiegen. Seto hätte zu gern mal Mäuschen gespielt und gewusst, was der Blonde wohl dachte, wo sie hinfahren würden, aber das würde wohl für immer sein Geheimnis bleiben, außer wenn er sich dazu durchringen könnte, ihn direkt zu fragen. Zumindest beließ er es jetzt erst mal dabei und schaute stattdessen voller Vorfreude auf den Tag, gespannt, wie Joey wohl darauf reagieren würde.   Die Fahrt dauerte keine 20 Minuten. Als sie vor dem Backsteingebäude Halt machten und ausstiegen, konnte er Joey deutlich im Gesicht ablesen, dass er keine Ahnung hatte, wo sie hier waren. Seto stellte sich neben ihn und fragte: „Und, irgendeine Vermutung?“   Joey verengte die Augen ein wenig, so wie man es tun würde, wenn es dunkel war, um dann mehr zu sehen, und antwortete dann: „Ich habe keinen blassen Schimmer, Seto. Wo sind wir hier und was machen wir hier?“   Seto konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, weil er schon wieder so erfreut darüber war, den Überraschungsmoment auf seiner Seite zu wissen. „Komm“, sagte er und hielt Joey die Hand hin, die er lächelnd ergriff. Dass sie sich ihre Zuneigung nun so offen zeigen konnten, wenn sie in der Öffentlichkeit waren, und wenn nur durch Händchenhalten, war noch immer aufregend für Seto, aber zeitgleich war es das wundervollste Gefühl der Welt.    Mit seiner freien Hand öffnete Seto das Tor und lotste den Blonden hindurch, ohne dass sie ihre Hände voneinander lösen mussten. Der schmale Weg führte in Richtung des zweistöckigen Gebäudes, dessen Backsteine von reichlich Efeu bedeckt wurden, wenn auch nicht vollständig. Bereits einige Meter, bevor sie die Eingangstür erreichten, öffnete sich die Tür und eine Frau mittleren Alters trat hinaus.   „Mr. Kaiba, schön, Sie zu sehen“, wurde er freundlich von ihr empfangen. Natürlich hatte er sich vorher angekündigt und auch mitgeteilt, dass er nicht allein kommen würde.   Er nickte ihr zur Begrüßung zu. „Joey, das ist Mrs. Nakamura. Sie leitet dieses Waisenhaus.“   „Waisenhaus?“ Joeys Augen weiteten sich vor Überraschung, als Seto ihm endlich eröffnete, wo sie sich hier befanden. Der Brünette nickte ihm sanft zu, dann fuhr er fort. „Mrs. Nakamura, das ist mein Partner, Joey Wheeler.“ Daraufhin blickte er Seto noch eine Nuance erstaunter an, was ihn fast dazu verleitete, ihn liebevoll anzugrinsen, aber er nahm sich zurück, immerhin waren sie jetzt nicht mehr allein. Verübeln konnte er es ihm aber nicht – sie hatten bisher nicht die Gelegenheit gehabt, sich fremden Leuten vorstellen zu müssen, und ihn jetzt das erste Mal als seinen Lebenspartner vorzustellen, war etwas, an das er sich wohl ewig erinnern würde. Es war ein besonderer Moment, und fast war er ein bisschen enttäuscht, dass sie es nicht in einem Foto verewigt hatten, das sie in ihr Bilderalbum kleben konnten.   Mrs. Nakamura lächelte auch Joey freundlich an und streckte ihm die Hand entgegen. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Wheeler.“ Joey schien sich schnell wieder zu fangen, streckte nun ebenfalls seine Hand aus und erwiderte den Handschlag. „Gleichfalls.“   „Bitte, kommen Sie doch rein.“   Sie traten in das Gebäude, das irgendwann im 19. Jahrhundert erbaut worden war. Seto nahm sofort den alten Geruch wahr, den das Mauerwerk ausstrahlte. Wann immer er herkam, auch, wenn das nicht mehr so häufig passierte, fühlte er sich jedes Mal in eine andere Zeit versetzt. Und er genoss es, weil es eine willkommene Abwechslung vom Alltag war, und das jetzt mit seinem Hündchen zu teilen, machte es nur noch schöner.   Joey sah sich neugierig um, und während er sich offensichtlich nicht entscheiden konnte, wohin er zuerst schauen sollte, während sie durch die Gänge geführt wurden, griff Seto erneut seine Hand und verschränkte ihre Finger ineinander. Joey sah ihn für einen kleinen Moment von der Seite an und lächelte, wie nur er es konnte. Er hatte es vorher schon gewusst, aber jetzt wurde es noch deutlicher – Joey hierher zu bringen, war eine fantastische Idee gewesen.   „Wow, das Gebäude ist ja riesig! Wie viele Räume gibt es hier?“, fragte Joey an Mrs. Nakamura gewandt, die prompt antwortete. „Das stimmt, wir haben tatsächlich sehr viele Zimmer, insgesamt sind es um die 30, wenn man Gemeinschafts-, Wasch- und Küchenräume dazuzählt. Wir haben ungefähr 70 Kinder im Haus, sie schlafen in aller Regel zu mehreren in einem Zimmer.“   „Und welchen Hintergrund haben die Kinder? Also, warum sind sie hier?“   „Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Bei vielen Kindern leben tatsächlich beide Elternteile nicht mehr. Aber es gibt auch welche, bei denen ist das anders. Bei dem Begriff ‚Waisenhaus‘ denkt man ja immer sofort daran, dass die Eltern gestorben sind, dabei nehmen wir in aller Regel auch deswegen Kinder auf, weil ihr Kindeswohl in ihrem Elternhaus gefährdet ist oder Eltern selbst entscheiden, das Kind abzugeben.“   Seto fand es bemerkenswert, wie natürlich Joey ein Gespräch mit der Leiterin des Waisenhauses beginnen konnte, so als wäre er schon etliche Male hier gewesen. Er schien sich sofort wohlzufühlen, und das machte Seto ziemlich glücklich. Alle Waisenhäuser, die er unterstützte, waren ihm wichtig, aber dieses hier hatte einen besonderen Platz in seinem Herzen.   Irgendwann hielten sie an einer großen Tür an und als Mrs. Nakamura diese öffnete, wurden sie in einen großen Saal geführt, der von vielen Kinderstimmen ausgefüllt wurde. Die großen Fenster am anderen Ende des Raumes ließen viel Licht hinein und man konnte sogar von hier aus schon erahnen, welch atemberaubenden Blick man auf den angrenzenden Garten bekommen würde, wenn man hindurch sah.   „Kinder, hört mal zu! Das hier ist Seto Kaiba, einer unserer größten Unterstützer, und das hier ist sein Partner Joey Wheeler. Bitte sagt hallo!“   Sofort stellten sich die Kinder in Reih und Glied auf und begrüßten sie mit einer höflichen Verbeugung. Seto konnte sehen, dass es nicht alle Kinder des Waisenhauses waren, wahrscheinlich nicht mal die Hälfte davon, aber viele waren sicher auch in ihren Zimmern oder im Garten.   Joey schien kurz in Gedanken versunken, dann löste er seine Hand von Setos und ging einen Schritt auf die Kinder zu. Wie er es schon im Café bei dem Mädchen gemacht hatte, ging er auch jetzt in die Hocke, um auf der Höhe der Kleinsten zu sein, auch wenn es durchaus auch ältere Kinder gab, die ihn nun überragten. Dennoch – es sollte ein Symbol dafür sein, dass er nicht über ihnen stand, und das ließ Setos Herz schon wieder einen Schlag aussetzen, und dann noch mal, als er hörte, wie er begann, mit den Kindern zu sprechen.   „Hallo! Es freut mich, euch kennenzulernen. Ihr könnt mich gern Joey nennen. Wollt ihr mir eure Namen verraten?“   Zunächst hielten sich die Kinder zurück und Seto verstand genau, warum. Er wusste aus eigener Erfahrung, als er selbst auch noch ein Waisenkind gewesen war, dass man fremden Menschen nicht so einfach vertrauen durfte. Wenn er so recht darüber nachdachte, war das heute auch noch nicht viel anders. Doch dann sprintete ein Kind aus der hinteren Reihe nach vorne zu Joey und streckte ihm seine Hand entgegen – es war ein Junge, vielleicht sieben Jahre alt, und er grinste wie ein Honigkuchenpferd.   „Hallo! Ich bin Haruto!“   Joey nahm lächelnd seine Hand. „Hallo, Haruto. Wie alt bist du?“   Der kleine Junge grinste noch stärker und zeigte Joey alle seine vorhandenen Zähne, wobei einige fehlten. Er streckte genau sieben Finger aus – Seto hatte also voll ins Schwarze getroffen mit seiner Vermutung. Dann fragte Haruto forsch: „Und wie alt bist du?“   Joey erwiderte das Lächeln, bevor er antwortete: „Rate mal.“   Haruto kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, dann sagte er gedankenverloren: „Ich weiß nicht, 40?“   Statt das als Beleidigung aufzufassen, brach Joey sofort in schallendes Gelächter aus und Seto bemerkte, dass auch ein paar andere Kinder anfingen zu lachen. Er konnte es gut verstehen, Joeys wunderschönes Lachen war einfach ansteckend, so sehr, dass er selbst auch genug Mühe hatte, sich zu beherrschen.   „Nein, ich bin erst 18. Und ich weiß jetzt nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass ich offensichtlich älter aussehe.“   Haruto schien peinlich berührt, aber kaum streichelte Joey dem Jungen liebevoll über den Kopf, war die Anspannung auch schon wieder verschwunden. Joey war einfach unheimlich talentiert, mit Kindern umzugehen, und Seto fragte sich, wo das wohl herrührte. Vielleicht, weil er eine kleine Schwester hatte? Obwohl, dann müsste Seto ja auch zumindest ein winziges bisschen Talent dazu haben. Hatte er aber nicht. Überhaupt nicht. Null. Außer vielleicht bei seinem eigenen Bruder, und selbst da stellte er sich manchmal reichlich dämlich an. Auch, wenn er das niemals laut aussprechen würde, natürlich.   „Also, wollt ihr mir zeigen, was ihr gerade gemacht habt?“ Und da sah Seto auch schon die ersten Kinder auf ihn zustürmen, die ihn hastig bei der Hand nahmen und weiter in den Raum hinein zogen. Sie zeigten ihm alles, womit sie gerade gespielt hatten – seien es Puzzle, Spielzeugautos oder Puppenhäuser. Joey nahm sich allen an und während Seto zusammen mit Mrs. Nakamura in einer Ecke stand und den Blonden fasziniert beobachtete, machte sich Joey ans Werk und nahm sich Zeit, um mit jedem Kind zu sprechen, wenn auch nur für wenige Minuten.   Irgendwann verabschiedete sich die Hausleiterin, weil sie noch etwas zu erledigen hatte, und Seto nickte ihr zum Abschied zu. Er war sowieso viel zu gefesselt von dem, was er da sah, um sich wirklich mit ihr unterhalten zu können, daher empfand er es eher als Erleichterung, dass er jetzt die Zeit und Ruhe hatte, Joey genau zu beobachten. Es war wirklich verrückt – sie waren vielleicht eine halbe Stunde hier, aber wirklich jedes Kind im Raum, ausnahmslos, hatte schon so viel Vertrauen zu ihm aufgebaut, dass sie regelrecht um seine Aufmerksamkeit buhlten. Seto atmete tief durch. Er konnte noch immer nicht glauben, dass Joey von nun an stets der Mann an seiner Seite sein würde, und wenn er ihn so beobachtete, mit welcher Hingabe er sich den Kindern widmete, da liebte er ihn nur noch mehr. Wenn das denn überhaupt möglich war.   Nachdem er offensichtlich mit jedem Kind gespielt hatte, stand er auf und blickte Seto an, und sofort wurde dieser von seinen wunderschönen, goldbraunen Augen gefangen genommen. Mit langsamen Schritten kam er auf ihn zu und nahm seine Hände, ohne die Augen von ihm zu lösen, während er ein sanftes Lächeln auf den Lippen hatte.   Joey warf einen letzten Blick auf die Kinder, die mittlerweile aber wieder so in ihre Spiele verwickelt waren, dass sie ihnen kaum noch Beachtung schenkten. Mit seinen Augen bedeutete er Seto, dass er gern einen Moment mit ihm allein sein würde, und diesen Wunsch würde er ihm nur zu gern erfüllen.   Er führte ihn durch die Gänge nach draußen in den Garten. Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne strahlte voller Kraft und der Himmel war wolkenlos blau. Eine sanfte Brise wehte ihnen ins Gesicht und Seto hatte sofort den Geruch der Rosensträucher aus dem Garten in der Nase - das waren wohl die einzigen Blumen, die er jemals richtig erkennen würde, und da hörte es dann auch schon auf.   Joey nahm erneut seine Hand, während sie gemütlich durch den Garten schlenderten. Es war eine Weile lang still und Seto konnte sehen, wie der Blonde sich in Ruhe umsah. Dann blieben sie stehen und waren umringt von Rosenbüschen, und der blumige Duft in der Luft intensivierte sich noch etwas.   „Es ist wirklich traumhaft schön hier, Seto. Willst du mir verraten, warum du mich hergebracht hast?“   Seto lächelte – er kannte ihn einfach zu gut, um zu glauben, dass es reiner Zufall war, dass er dieses Waisenhaus ausgewählt hatte. Er strich ihm zärtlich eine Strähne hinters Ohr, bevor er antwortete: „Ich unterstütze viele Waisenhäuser, nicht nur in dieser Stadt, sondern in ganz Japan. Aber dieses hier ist besonders für mich, deswegen wollte ich, dass du es siehst.“   Er musste gar nichts sagen, denn Joey schien sofort zu verstehen, worauf er anspielte. Er ließ seinen Blick über den Garten wandern, dann fragte er: „Gab es diese Rosensträucher auch schon, als du mit Mokuba hier warst?“   Bevor er etwas erwiderte, nahm er Joeys Gesicht in beide Hände und küsste ihn zärtlich. Dass er so schnell erkannt hatte, dass es das Waisenhaus war, in dem auch Mokuba und er einst beherbergt worden waren, war zwar außergewöhnlich, aber auch nicht gänzlich überraschend. Joey kannte ihn eben am besten, meist musste er gar nichts sagen, damit er ihn verstand. Und das war wunderbar.   Als er sich wieder von ihm löste, sagte er: „Ja, die gab es damals auch schon. Mrs. Nakamura übrigens auch, nur noch nicht als Leiterin des Hauses.“   Joey legte ihm sanft eine Hand auf die Wange, die er zärtlich streichelte. „Wie war eure Zeit hier?“   Seto nahm Joeys Hand und küsste zärtlich den Handrücken, während er seine andere Hand an Joeys Hüfte legte und ihn noch ein Stück näher zu sich zog. „Na ja, von den vielen Adoptionsversuchen habe ich dir ja schon erzählt. Ansonsten war unsere Zeit hier eigentlich ganz schön. Mokuba und ich haben viel Schach gespielt. Wir waren immer ein bisschen außen vor, und Mokuba wurde auch oft geärgert, aber es ist nicht so, dass ich nicht auch schöne Erinnerungen an diesen Ort habe. Sonst würde ich dieses Haus wohl auch nicht unterstützen oder überhaupt noch mal herkommen.“   Trotz der Tatsache, dass seine Aussagen eigentlich einen positiven Unterton hatten, konnte er in Joeys Augen einen Anflug von Mitleid entdecken. Doch bevor der Blonde etwas sagen konnte, kam Seto ihm zuvor.   „Joey, ich habe dich nicht hergebracht, damit du Mitleid für mich hast. Wirklich, es war vielleicht nicht die einfachste Zeit in meinem Leben, insbesondere die ersten paar Monate, nachdem unsere Eltern gestorben waren. Aber es hätte uns sicher weitaus schlimmer treffen können.“   Er hörte Joey tief aufatmen, dann sagte er: „Und warum bin ich noch hier? Ich verstehe, dass du mir diesen Ort einfach auch so zeigen wolltest, weil er dir viel bedeutet, aber warum werde ich das Gefühl nicht los, dass noch mehr dahinter steckt?“   Wieder musste Seto schmunzeln, weil es einfach unglaublich war, wie leicht Joey ihn durchschaute. „Du hast recht, es ist nicht der einzige Grund. Als ich dich im Café beobachtet habe, wie du mit diesem kleinen Mädchen umgegangen bist, als wäre es das Natürlichste der Welt, da wusste ich einfach, dass dir dieser Ort gefallen würde. Und na ja, ich dachte, vielleicht eröffnet es dir auch noch eine zusätzliche Perspektive.“   Joey sah in irritiert an. „Inwiefern?“   „Beruflich, meine ich. Als wir uns mit dem ‚Kindergarten’ über unsere berufliche Zukunft unterhalten haben, da hast du gesagt, dass du weiterhin im Café arbeiten willst. Für mich klang es auch ein bisschen danach, als wenn du keine andere Alternative hast. Aber vielleicht könnte das hier eine sein. Ich weiß, dass gerade auch wieder Personal gesucht wird, und ausgehend davon, wie du mit den Kindern gerade umgegangen bist, nehmen sie dich vermutlich mit Kusshand.“   Doch Joey war die Verwirrung noch immer ins Gesicht geschrieben. „Möchtest du nicht, dass ich im Café weiter arbeite?“   Seto musste kurz auflachen, bevor er antwortete: „Nein, so meine ich das nicht. Ich habe dich beobachtet und muss durchaus anerkennen, dass du deinen Job verdammt gut gemacht hast. Ich will nur, dass du eine Wahl hast. Und ich kenne dich, vermutlich besser als jeder andere Mensch. Ich kann mir gut vorstellen, dass dir die Arbeit mit den Kindern hier Spaß machen könnte.“   In ganz langsamen Schritten verblasste Joeys Lächeln und er seufzte auf, und nun war es Seto, der perplex war. „Habe ich was Falsches gesagt, Joey?“   Er blickte ihm in die Augen, und Seto erkannte sofort, dass der Blonde Selbstzweifel hatte. Doch bevor er darüber nachgrübeln konnte, was es damit auf sich hatte, löste Joey das Rätsel auf.   „Nein, die Idee an sich ist nicht schlecht. Ich hatte auch das Gefühl, mich mit den Kindern gut zu verstehen. Nur...“   Seto legte seine Hand erneut an Joeys Wange. „Nur, was, Joey?“   Es dauerte einen kurzen Moment, bevor der Blonde antwortete, doch nach einem erneuten, tiefen Atemzug, erklärte er: „Na ja, ich frage mich, ob ich so ein gutes Vorbild für diese Kinder wäre. Immerhin hab ich selbst ziemlich dumme Sachen angestellt, nachdem sich meine Eltern haben scheiden lassen. Und ich hab‘ Angst, dass das, was mir widerfahren ist, sich irgendwie negativ auf den Umgang mit ihnen auswirken könnte. Macht das irgendwie Sinn für dich? Es ist schwer zu beschreiben.“   Seto zog Joey in eine feste Umarmung und streichelte ihn am Hinterkopf, während er seinen eigenen Kopf auf seiner Schulter ablegte. Auch Joey schlang nun seine Arme um ihn. Dann sagte Seto: „Ich glaube, es ist eher das Gegenteil der Fall. Dass das, was du erlebt hast, dir hilft, mit ihnen umzugehen. Auch sie haben viel erlebt, Joey, ganz Unterschiedliches. Ich kann mir vorstellen, dass deine eigenen Erlebnisse dir helfen, dich in jeden Einzelnen hineinversetzen zu können. Zumindest hatte ich das Gefühl, als ich dich beobachtet habe, wie du mit ihnen gespielt hast. Du hast wirklich ein wahres Talent dafür, so schnell Vertrauen zu anderen aufzubauen. Wirklich, ich kann mir kaum vorstellen, dass anderen das so schnell gelingen würde. Mir auf jeden Fall nicht, so viel ist schon mal sicher.“   Joey legte den Kopf an Setos Brust und musste lachen. „Da kann ich dir nicht widersprechen, du Eisdrache.“ Auch Seto stieg nun in sein Lachen ein.   „Und was das angeht, was du angestellt hast, als du jünger warst“, sagte Seto, „darüber mach dir mal keine Sorgen. Ich glaube, viele Kinder machen einigen Blödsinn, wenn sie kleiner sind, und vieles davon bereuen sie später. Vielleicht helfen deine eigenen Erfahrungen sogar, sie so positiv zu beeinflussen, dass es so weit gar nicht kommt.“   Joey löste sich von ihm und sah ihn mit diesem Blick an, der so voller Liebe steckte, und Seto erwiderte es. Dann sprach Joey: „Vielleicht hast du recht.“ Er pausierte kurz, bevor er den Kopf schief legte und ihn fragend ansah. „Aber, sag mal, wenn du sagst, dass du dieses Waisenhaus unterstützt, heißt das, dass du, wenn ich hier arbeiten würde, auch indirekt mein Gehalt bezahlen würdest? Ich kann dir nämlich gleich sagen, wenn das der Fall ist, dann kannst du’s vergessen. Ich stehe sowieso schon mehr als genug in deiner Schuld. Ich will unabhängig sein und mein eigenes Geld verdienen, das ist mir wichtig.“   „Keine Sorge“, erwiderte Seto und streichelte Joey sanft über die Wange. „Es stimmt, dass ich das Waisenhaus finanziell unterstütze. Die Mittel sind allerdings zweckgebunden. Meine Spenden fließen ausschließlich in so etwas wie die Ausstattung des Waisenhauses, also zum Beispiel Möbel oder Spielsachen, oder auch für Instandhaltungen.“ Er zuckte mit den Schultern, bevor er ergänzte: „Vermutlich gehören mir die Hälfte dieser Rosensträucher hier. Und noch einiges mehr, was du im Garten siehst. Aber die Gehälter werden zum Großteil aus öffentlichen Geldern finanziert.“   Das schien Joey zu beruhigen und er nickte ihm fast schon ein wenig erleichtert zu. Doch nachdem sie erneut für einen Augenblick geschwiegen hatten, hörte er ihn aufseufzen und dann sprechen: „Aber ich mag auch meinen Job im Café. Es ist nicht nur eine Notlösung, da zu arbeiten, ich mache meine Arbeit da wirklich gern. Aber hier zu arbeiten, klingt auch irgendwie verlockend, nur... ich kann gar nicht richtig einschätzen, was da auf mich zukommen würde und wie der Job hier überhaupt aussehen würde.“   „Das musst du ja auch nicht heute entscheiden. Wenn du es tatsächlich als realistische Option betrachtest, warum sprechen wir nicht mal mit Mrs. Nakamura und schauen, ob du mal einige Tage aushelfen kannst? Das könnte dir bei der Entscheidungsfindung helfen. Und wenn du am Ende feststellst, dass du doch lieber im Café arbeiten willst, ist das doch auch absolut in Ordnung.“   „Wäre es das wirklich, Seto?“, fragte Joey besorgt, und Seto antwortete liebevoll: „Absolut. Ich will, dass du glücklich bist, Joey, und ich werde dich immer bei allem unterstützen, was dich glücklich macht. Was immer es auch sein mag. Das solltest du doch mittlerweile wissen, du Idiot.“   Joey lachte und steckte Seto sofort damit an. Sie küssten sich noch ein letztes Mal, bevor sie wieder zurück ins Gebäude gingen, um ihre Idee mit der Waisenhausleiterin zu besprechen. Und Seto wusste, wenn Joey glücklich war, dann war er es auch – und in welche Richtung Joey auch immer gehen mochte, er würde ihm folgen, selbst wenn es das andere Ende der Welt wäre. Kapitel 29: Rescue me... from graduation ---------------------------------------- Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen, schon allein deshalb, weil Joey deutlich mehr gearbeitet hatte als normalerweise. Wie üblich ging er seinem Job im Café nach, war aber zeitgleich auch öfter im Waisenhaus tätig gewesen. Mrs. Nakamura war sofort Feuer und Flamme für die Idee gewesen, weil sie, ähnlich wie schon Seto, begeistert davon gewesen war, wie schnell Joey es geschafft hatte, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Sie hatte erklärt, dass selbst neue Mitarbeiter, die schon sehr viel Erfahrung in der Arbeit mit Kindern mitbrachten, lange nicht so schnell einen Draht zu ihnen fanden.   Es war komisch, weil Joey gar nicht so richtig verstand, wieso es bei ihm einfach auf Anhieb geklappt hatte. Das Wort ‚Naturtalent‘, das sowohl Seto als auch die Waisenhausleiterin nutzten, um diesen Zustand zu beschreiben, klang in Joeys Ohren irgendwie überheblich. Es passte auf irgendeine Weise einfach nicht so richtig zu ihm, auch wenn es vermutlich das Wort war, das es noch am treffendsten beschreiben konnte. Aber am Ende war das ‚Warum‘ ja auch gar nicht von Relevanz – wichtig war, dass es überhaupt so war, machte es ihm doch nicht nur die Arbeit leichter, sondern auch deutlich angenehmer. Und dass er sehr viel Spaß daran hatte, das konnte er schon nach seinem ersten Tag dort nicht mehr leugnen.   Er erinnerte sich, dass er vor seinem ersten ‚Probetag‘ mehr als aufgeregt gewesen war, weil er nicht so richtig gewusst hatte, was ihn erwarten würde. Wie immer, wenn die Nervosität drohte, überhandzunehmen, konnte Joey darauf zählen, dass Seto ihn in den Arm nehmen und ihn beruhigen würde, und es verfehlte auch in diesem speziellen Fall seine Wirkung nicht. Und kaum hatten sich die Türen des Waisenhauses geöffnet, wurde er so herzlich begrüßt, von Mrs. Nakamura, anderen Mitarbeitern, aber auch Kindern, die er schon bei seinem ersten Besuch kennengelernt hatte, dass sofort alle Anspannung wie weggeblasen war. Er konnte es gar nicht verhindern, er fühlte sich sofort wohl.   In den Wochen danach erhielt er Einblicke hinter die Kulissen des Waisenhauses, die er so bei ihrem ersten, kurzen Besuch noch nicht bekommen hatte. Er hatte vorher gar nicht groß darüber nachgedacht, aber ein solches Waisenhaus zu führen, bedeutete unheimlich viel Arbeit. Es waren ja nicht nur die Kinder, die beschäftigt und beaufsichtigt werden wollten, es gab außerdem noch unzählige administrative Aufgaben zu lösen. Dazu zählten, nebst vielen anderen Dingen, die Essenszusammenstellung und auch -bestellung, Beschaffung von Kleidung und das Ersetzen von Möbeln, wenn zum Beispiel mal wieder ein Bett durchgebrochen war, wenn ein Kind zu stürmisch darauf gespielt hatte – und das passierte wirklich öfter, als man als Außenstehender vermuten mochte. Außerdem musste der Garten instand gehalten werden, und auch wenn es für die meisten Tätigkeiten natürlich einen entsprechenden Gärtner gab, so musste man immer einen Blick darauf haben und die Prioritäten festlegen.   Und dann war da natürlich auch noch das Thema Budgetierung und Finanzierung. Während seiner Zeit dort, gab Mrs. Nakamura Joey wirklich einen kompletten Überblick über alle Abläufe und Tätigkeiten im Waisenhaus, auch wenn klar war, dass Joey nicht in jedem Bereich gleichermaßen arbeiten würde, sollte er sich für die Arbeit dort entscheiden. Das wäre auch für einen einzelnen Menschen schwer zu leisten. Dennoch gewährte sie ihm selbst Einblicke in solch sensible Bereiche. Das war auch der Zeitpunkt, an dem er erfahren hatte, wie viel Seto eigentlich zur Finanzierung beitrug und wie sein Geld ausgegeben wurde.   Joey hatte nicht vergessen, wie unheimlich überrascht und erstaunt er gewesen war, als er die Summe gesehen hatte. Im Vergleich zu allen anderen Spendern war Seto definitiv der großzügigste von allen, das war unschwer zu erkennen gewesen. Aber selbst ohne den Vergleich anzustellen, war der Geldbetrag, den er auf dem Bildschirm sehen konnte, allein für sich schon nicht unerheblich. Er hatte ja schon gewusst, wie wichtig dieses Waisenhaus für Seto war, aus offensichtlichen Gründen, aber das setzte dem Ganzen noch mal die Krone auf.   Aber trotz all der Arbeiten, die im Hintergrund abliefen – die meiste Zeit verbrachte Joey dennoch mit den Kindern. Er musste feststellen, dass das auch der Teil war, der ihm am meisten Spaß und Freude bereitete. Es erwärmte jedes Mal sein Herz, wenn eines von ihnen lachte, oder wenn Joey es schaffte, eines zu trösten, wenn es hingefallen oder aus ihm zunächst unerfindlichen Gründen traurig gewesen war. Trotz der Tatsache, wie viele Kinder das Waisenhaus beherbergte, konnte Joey doch eine Verbindung zu jedem Einzelnen aufbauen, wenn auch nicht immer gleichermaßen tief. Er erfuhr mehr über die Hintergründe, warum sie überhaupt ins Waisenhaus gekommen waren, und sie hätten diverser nicht sein können. Auch bei Alter, Bildung und Herkunft gab es erhebliche Unterschiede, aber gerade das machte es für Joey nur noch spannender.   Ein Kind im Speziellen war Joey besonders ins Auge gestochen. Es war ein Mädchen, etwa zwölf Jahre alt, und sie war immer allein. Sie war so ziemlich die Einzige, die Joey immer abgeblockt hatte und auch sonst nichts und niemanden an sich ranließ. Sie hatte ihm zur Begrüßung nicht mal ihren Namen genannt, ihn nur mit zu Schlitzen geformten Augen grimmig angestarrt. Mrs. Nakamura war auch keine große Hilfe gewesen – sie hatte ihm eröffnet, dass das Mädchen noch nicht ein Wort gesagt hatte, seit sie vor etwa einem halben Jahr allein ins Waisenhaus gekommen war. Über sie war nichts weiter bekannt, sie war einfach wie aus dem Nichts aufgetaucht, und auf die Frage, ob sie noch Eltern oder andere Verwandte hätte, hatte sie nur den Kopf geschüttelt. Mehr war aus ihr bisher nicht rauszukriegen gewesen.   Und vielleicht war es auch genau das, was Joey so sehr an ihr faszinierte. Er wollte unbedingt mehr über sie erfahren, aber an ihr hatten sich schon sämtliche andere Mitarbeiter die Zähne ausgebissen. Dennoch konnte Joey nicht anders als sich der Herausforderung anzunehmen – möglicherweise genau deshalb, weil sie so unlösbar schien.   Zunächst hatte er einfach versucht, mit ihr zu reden, aber sie wirkte immer desinteressiert und schien auch gar nicht richtig zuzuhören. Wenn er sie ein Buch lesen sah, recherchierte er dessen Inhalt, um das nächste Mal mit ihr darüber zu sprechen, und immer, wenn er einen Versuch in diese Richtung unternahm, schmiss sie es in die Ecke und holte sich ein neues hervor, unabhängig davon, ob sie es schon zu Ende gelesen hatte. Er hatte ihr sogar mal eines mitgebracht, von einem Autor, den sie offensichtlich gern mochte, weil sie schon einige Bücher von ihm in der Hand gehalten hatte, aber sie hatte das Geschenk nicht angenommen und war stattdessen weggerannt, hatte Joey sehr verwirrt zurückgelassen.   Er war aus ihr einfach nicht schlau geworden. Selbst die anderen Angestellten hatten ihm schon geraten, es einfach zu lassen, sie einfach in Ruhe zu lassen, wenn es offensichtlich das war, was sie wollte, aber Joey beschlich das Gefühl, dass das eigentlich gar nicht der Fall war. Dass sie den Kontakt wollte, ja, brauchte, aber es einfach nicht zulassen konnte. Niemand wusste, was ihr passiert war, weil sie sich bisher niemandem anvertraut hatte, und Joey hatte nicht eingesehen, aufzugeben. Also hatte er es weiter versucht, immer und immer wieder. Hatte probiert, irgendwie zu ihr durchzudringen, indem er mit ihr Spiele spielte oder sie zu überreden versuchte, einen Film mit ihm zu schauen.   Bis er irgendwann feststellen musste, dass es zwecklos war. Es hatte ziemlich aussichtslos ausgesehen, weil er wirklich alles ausprobiert hatte, was ihm in den Sinn gekommen war. Vielleicht war er gerade deswegen gescheitert? Hatte er sich ihr vielleicht doch zu stark aufgedrängt?   Kurz bevor seine Probearbeit dort enden sollte, hatte er sie erneut beobachtet, wie sie sich in einer Ecke des großen Gemeinschaftsraums verkrochen und ihr Buch gelesen hatte. Joey hatte in einiger Entfernung gestanden, aber dennoch hatte er bemerken können, wie unwahrscheinlich fasziniert sie von dessen Inhalt gewesen sein musste. Mit glänzenden Augen hatte sie die Wörter förmlich in sich aufgesaugt und hatte die Seiten gar nicht schnell genug umblättern können. Ihre Wangen waren rosig gewesen und zum wiederholten Male hatte sich Joey gewünscht, verstehen zu können, was in ihr vorging. Aber er hatte gewusst, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und es war nicht anzunehmen gewesen, dass sie sich in der Kürze der Zeit noch annähern würden.   Mit einem Seufzen hatte er sich von der Wand, an der er gestanden hatte, abgestoßen und war zu ihr rüber gegangen. Sie schien ihn bemerkt zu haben, weil ihre Augen für einen winzigen Augenblick von den Zeilen des Buches zu ihm hinauf gegangen waren, doch schon im nächsten Moment hatte sie den Blick wieder abgewendet. Joey hatte zu dem Zeitpunkt längst eingesehen, dass er sich vermutlich geirrt hatte. Alles hatte gegen seine Theorie gesprochen, dass sie selbst auch Kontakt zu anderen Menschen wollte. Vielleicht war es einfach sein eigenes Wunschdenken gewesen, das er auf sie projiziert hatte. Was auch immer der Grund dafür gewesen war, dass sie nicht kommunizieren wollte, er hatte es am Ende akzeptiert und respektiert.   Und als er dann da so neben ihr gesessen hatte, hatte ihn plötzlich der Wunsch überkommen, ihr dennoch ein paar letzte Worte mit auf den Weg zu geben, für den Fall, dass er sich für die Arbeit im Café und gegen die im Waisenhaus entscheiden würde. Also hatte er zu ihr gesagt: „Hey, keine Sorge, ich werde nicht wieder versuchen, dich dazu zu bringen, irgendwas mit mir zu machen. Es ist okay, wenn du das nicht willst, wirklich. Jeder Mensch ist eben anders, und ich bin ganz sicher, du hast deine eigenen Gründe, warum du nicht mit mir reden magst. Weißt du, ich habe in meinem Leben auch schon ziemlich viel durchmachen müssen. Mein Dad war... sagen wir einfach, er war nicht wirklich nett zu mir. Und es hat ziemlich lange gedauert, bis ich es geschafft habe, darüber hinwegzukommen. Aber dann habe ich einen Menschen getroffen, durch den ich genau das gepackt habe, obwohl ich immer gedacht habe, ich würde es niemals überwinden können. Was ich damit sagen will, ist, dass ich verstehen kann, wenn man niemanden an sich ranlassen will. Ich habe genau dasselbe getan, sehr, sehr lange sogar, und auch wenn ich deine genauen Beweggründe nicht kenne, so kann ich dich doch gut verstehen.“   Aus dem Augenwinkel hatte er sehen können, dass sie ihn von der Seite aus gemustert hatte, aber noch immer hatte sie kein Wort gesagt. Joey hatte gewusst, dass er das nicht mehr würde ändern können, und das war absolut okay gewesen. Also hatte er ihr noch mal ein freundliches Lächeln geschenkt und war dann wieder abgezogen, hatte sie wieder ihrem Buch überlassen.   Wenige Tage später war der Tag gekommen, der das Ende seiner Probearbeit markiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich noch nicht entschieden, welchen Job er annehmen wollen würde. Die Bezahlung war in etwa gleich, auch die anderen Rahmenbedingungen unterschieden sich größtenteils nicht. Es war also mehr eine Entscheidung darüber gewesen, wofür sein Herz ein kleines bisschen mehr schlug.   Zum Abschied hatte er noch einige Worte an die Kinder gerichtet, die sich im Gemeinschaftsraum versammelt hatten. Es war ihm etwas schwergefallen, weil er eben noch nicht gewusst hatte, ob er wiederkommen würde, und ihm waren alle Kinder ans Herz gewachsen. Und dass er zu diesem einen, speziellen Mädchen nicht durchgedrungen war, ja, das hatte ihn auch ein bisschen gewurmt, aber es war eben so, und es hatte auch nichts mehr gegeben, was er nicht versucht hatte.   Und gerade, als er sich verbeugt hatte, um sich höflich zu verabschieden, ertönte plötzlich eine Stimme: „Kommst du wieder?“   Joey hatte in den vergangenen Wochen wirklich mit jedem Kind gesprochen, aber als er diese Stimme gehört hatte, da hatte er sie nicht zuordnen können. Und als dann klar geworden war, wem diese Stimme gehörte, da wurde auch deutlich, warum – denn es war die des Mädchens, das er nicht ein Mal hatte sprechen hören.   In dem Moment schien er nicht der Einzige im Raum gewesen zu sein, der überrascht darüber war. Daher hatte er zunächst überhaupt nichts sagen können, hatte nur beobachten können, wie sie ein paar Schritte aus der Masse herausgetreten war und ihn mit selbstbewusstem, ja, fast forderndem Blick angestiert hatte. Doch dann war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen – es war eindeutig ein Zeichen von Vertrauen gewesen. Joey konnte nur vermuten, woran das lag, aber er glaubte, es hatte wohl etwas damit zu tun, was er zuletzt zu ihr gesagt hatte. Womöglich hatte er tatsächlich den Kern der Sache getroffen mit dem, was er gesagt und von sich selbst offenbart hatte. Was auch immer es gewesen war, es hatte ihn in diesem Augenblick mehr als glücklich gemacht.   Ein Lächeln hatte sich anschließend auf seine Lippen gelegt, ehe er geantwortet hatte: „Möchtest du denn, dass ich wiederkomme?“   Sie hatte nichts mehr gesagt, aber ihr heftiges Nicken hatte eine eindeutige Sprache gesprochen. Joeys Lächeln hatte sich noch ein wenig verstärkt und er hatte ihr kaum merklich zugenickt. Damit war seine Entscheidung mehr als klar gewesen – noch am selben Tag hatte er seinen Arbeitsvertrag im Waisenhaus unterschrieben.   Als er das seinem Chef im Café offenbart hatte, war der zwar ein wenig traurig darüber gewesen, konnte Joeys Entscheidung aber auch nachvollziehen. Bis zum Abschlussball würde Joey auch noch im Café arbeiten, bevor er dann in Vollzeit im Waisenhaus anfangen würde, sodass es kein sofortiger Abschied gewesen war. Und doch konnte der Blonde genau spüren, dass er den richtigen Entschluss gefasst hatte.    Ja, er hatte seine Arbeit im Café immer gemocht, und er wäre auch heute vermutlich noch unheimlich glücklich, dort zu arbeiten. Aber die Arbeit mit den Kindern im Waisenhaus gab ihm noch etwas mehr, so als wäre es vorherbestimmt. Vielleicht war er ja wirklich das Naturtalent, das sie immer alle aus ihm machen wollten. Und auch wenn er mit der Wortwahl noch immer nicht ganz einverstanden war, so steckte möglicherweise doch ein Körnchen Wahrheit drin.   Und nun war der Tag ihres Schulabschlusses gekommen. Dass Joey hier heute überhaupt sitzen durfte, war Seto zu verdanken. Um noch präziser zu sein: ausschließlich ihm. Weil er ohne ihn die Abschlussprüfungen garantiert vergeigt hätte. Joey war ja schon immer die Faulheit in Person gewesen, aber wenn es auf wichtige Prüfungen zuging, wurde es immer noch einen Ticken schlimmer. Er war vielleicht nicht der allerdümmste Mensch auf diesem Planeten, auch wenn er das oft von sich selbst glaubte – und auch Seto war ja vor nicht mal einem Jahr noch an derselben Front gewesen. Allerdings hatte er überhaupt kein Interesse am Lernen von Dingen, für die er sich absolut nicht begeistern konnte, und konnte sich deshalb nie wirklich dazu durchringen. Und selbst, wenn er sich ernsthaft angestrengt hätte – sein Intelligenzlevel reichte bei weitem nicht an das von Yugi geschweige denn an das von Seto ran. Ganz so größenwahnsinnig war Joey dann doch nicht.   Als Seto gemerkt hatte, wie sich Joey vehement gegen das Lernen gesträubt hatte, da hatte er alle Register gezogen, und als der Blonde sich nun daran zurückerinnerte, konnte er ein grummeliges Knurren nicht unterdrücken.   ~~~~   „Das... das kann nicht dein Ernst sein, Seto.“ Joey sah seinen Drachen mit weit geöffneten Augen und vor Schock aufgeklapptem Mund an. Er konnte nicht glauben, was er da gerade gehört hatte. Konnte Seto wirklich so grausam sein?   Lässig zog sich Seto sein Hemd an, während Joey noch immer völlig entsetzt am Eingang ihres Ankleidezimmers stand. Während der Braunhaarige die Knöpfe seines Hemdes mit geschickten Handgriffen durch die entsprechenden Löcher drückte, drehte er sich zu Joey um und sagte: „Doch Joey, mein voller Ernst. Und wenn du durchfällst, kannst du noch härtere Konsequenzen erwarten.“   Joeys Gemütszustand schwankte zwischen absoluter Fassungslosigkeit und Trauer über die Erwartung darüber, wie seine nächsten Wochen aussehen würden. Seine Augen füllten sich mit Tränen, dann fragte er Seto schluchzend: „Liebst du mich etwa nicht mehr?“   Doch der Angesprochene lachte nur leicht auf, während er sich eine Hose überzog und den Reißverschluss zuzog. Ein Mundwinkel leicht nach oben gezogen, kam er auf Joey zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt, Joey. Und genau deshalb mache ich das ja auch. Es ist nur zu deinem Besten.“ Dann küsste er ihn auf die Schläfe und verschwand aus dem Ankleidezimmer, um seine Schulsachen zu packen, bevor sie sich zum Frühstück aufmachen würden.   Und während Joeys Gesicht langsam von Tränen benässt wurde, da realisierte er, was Seto ihm gerade offenbart hatte: Kein Sex, bis sie ihren Schulabschluss in der Tasche hatten. Er wollte sich auch überhaupt nicht ausmalen, was Seto wohl mit ‚härtere Konsequenzen‘ meinte, auch wenn er so eine leichte Vorahnung hatte. Wenn er das Schuljahr wiederholen müsste, weil er die Abschlussprüfungen nicht schaffte, dann müsste er wohl noch länger...   Nein, einfach nein. Das war keine Option. Er wusste zwar nicht, wie Seto es schaffte, bei seinem ‚Vorschlag‘ so beherrscht zu klingen, aber Joey war sich absolut sicher, dass er es tatsächlich ernst meinte. Und wenn ein Kaiba sich erst mal was in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte ihn so schnell nichts und niemand davon abbringen. Es war klar, was jetzt zu tun war.   Mit zu Fäusten geballten Händen drehte er sich um und ging zu Seto ins Wohnzimmer, der noch immer dabei war, seine Schultasche zu packen. Mit entschlossenem Blick und vielleicht – möglicherweise – leicht zu piepsiger Stimme, rief Joey: „Gut, aber du lernst mit mir! Ich schaffe diese dämlichen Prüfungen! Und dann... und dann...!“   Seto stemmte die Hand in die Hüfte und grinste ihn arrogant an. „Braves Hündchen.“   ~~~~   Und Joey hatte gelernt. Verdammt noch mal, und wie er das hatte. Vermutlich mehr, als er jemals in Grund-, Mittel- und Oberschule zusammen gelernt hatte, aber er konnte die längerfristigen Konsequenzen, die es mit sich bringen würde, wenn er die Prüfungen nicht bestanden hätte, nicht riskieren. Joey hatte es natürlich zwischendurch immer mal wieder probiert, Seto zu verführen, aber keine Chance. Er blieb so standhaft wie der Eiffelturm, während Joeys Frustration ins Unermessliche wuchs.   Aber er hatte es tatsächlich gepackt. Zwar war er bei einer Prüfung nur haarscharf daran vorbeigeschlittert, durchzurasseln, aber bestanden war bestanden, oder? Seto hatte ja keine Vorgaben gemacht, welche Noten er erreichen müsste. Gott sei Dank, denn das wäre sicherlich noch eine viel größere, wenn nicht sogar unmögliche Herausforderung für Joey geworden.   Joey atmete noch ein Mal tief durch, dann nahm er seinen Platz ein. Es war ein wunderschöner, sonniger Sommertag im Juni. Ein leichter Wind wehte ihm um die Nase und er hatte einen leichten Geruch von frisch gebackenen Waffeln in der Nase. Vermutlich hatte einer der unteren Jahrgänge einen Stand aufgebaut, wo sie diese verkauften. Klassische Einnahmenquelle für Abschlussfeiern oder Schulausflüge, und Joey wäre vermutlich der Erste, der sich ein Dutzend davon bestellen würde. Aber erst mal müssten sie diese Zeremonie hinter sich bringen.   Sie saßen in einer der hintersten Reihen, Seto links von ihm direkt am Gang und rechts von ihm seine Freunde. Vor ihnen waren noch etliche weitere Stuhlreihen für die Schüler aufgestellt worden, die Lehrer der Abschlussklassen saßen ganz vorn. Joey wurde heiß unter seinem langen, schwarzen Talar, und die Quaste an seinem viereckigen Abschlusshut fiel ihm aufgrund des seichten Windes ständig ins Gesicht. Als ihm das zum abermillionsten Male passierte, lachte Seto neben ihm auf, griff sich die Quaste und legte sie wieder in die richtige Position, sodass sie nun wieder korrekt links neben Joeys Kopf hing. Fragte sich nur, wie lange das dieses Mal halten würde. Nachdem Seto diese kleine, sich selbst auferlegte Aufgabe erledigt hatte, ließ er seine Hand über Joeys Wange gleiten und sah ihm verträumt in die Augen. Joey blickte ihn nun auch an. Setos Augen wurden leicht von der Sonne angestrahlt und leuchteten wie funkelnde Saphire. Der Wind wehte die Strähnen, die ihm in die Stirn hingen, leicht in alle Richtungen, was ihn irgendwie jünger wirken ließ. Nicht unbedingt kindlich, nur... sanfter. Joey drückte sich der Berührung an seiner Wange entgegen und schloss für einen flüchtigen Moment die Augen, während er spürte, wie sich seine Mundwinkel ein wenig in die Höhe bewegten und er glücklich aufseufzte. Als Seto die Hand wieder von seiner Wange nahm, öffnete Joey erneut die Augen. Er vermisste sofort das Gefühl von ihm an seiner Haut, also griff er nach seiner Hand und umschloss sie mit seiner, streichelte mit seinen Fingern leicht darüber. Seto verschränkte ihre Finger, und genau in diesem Augenblick nahmen sie Stimmen von der Bühne wahr, die für die Redner und die Zeremonie aufgebaut worden war, sodass sie ihre Blicke nun nach vorne wandten, sich aber nicht voneinander lösten.   Zunächst würde die Jahrgangssprecherin ein paar Worte an die Schüler richten, und er konnte beobachten, wie sie sich in Stellung brachte, während der Schuldirektor sie ankündigte. Nach einem kurzen Applaus, den Joey und Seto ausließen, weil keiner von beiden die Berührung ihrer Hände lösen wollte, trat sie an das Mikrofon und räusperte sich. Sie legte ihren Notizzettel auf das Rednerpult, richtete sich gerade auf und begann dann mit ihrer Rede.   „Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, ich möchte eigentlich gar nicht so viele Worte verlieren, weil ihr ja heute sowieso schon mehr als genug Reden hören werdet.“ Kurzes Lachen aus dem Publikum, dann fuhr sie fort. „Aber eines möchte ich sagen: Danke. Danke für drei aufregende, wundervolle, zum Teil auch herausfordernde Jahre. Es war sicher nicht immer einfach, jeder von uns hatte seine eigenen Kämpfe auszutragen. Aber, und ich kann hier nur für mich sprechen: Für mich waren es auch drei Jahre, die ich gemeinsam mit Menschen verbracht habe, die entweder schon Freunde waren, seit der Grund- oder Mittelschule, oder die dazu geworden sind. Und ich kann mir gut vorstellen, dass auch ihr diese Menschen in eurem Leben habt, die ihr vor drei Jahren noch nicht einmal gekannt habt und die heute wie selbstverständlich ein Teil eures Lebens sind. Wohin auch immer die Winde uns tragen werden, ich wünsche mir, dass dieses starke Band der Freundschaft auch darüber hinaus Bestand haben wird. Denn es sind diese Menschen an unserer Seite, die diese drei Jahre zu etwas ganz Besonderem gemacht haben.“   Joey spürte, wie Seto den Händedruck verstärkte, und er konnte wieder ganz deutlich die Schmetterlinge in seinem Bauch fühlen. Sie hatte ziemlich recht mit dem, was sie sagte. Er hatte es vorher gar nicht so richtig gesehen, oder nicht sehen wollen, aber wenn er nun in sich reinhorchte, da wusste er, dass er eigentlich immer ganz gern zur Schule gegangen war. Weil er dort seine Freunde treffen konnte, und vor allem Yugi, Tristan und Téa waren ihm in den letzten Jahren eine besondere Stütze gewesen, auch wenn er viele seiner Geheimnisse lange vor ihnen verborgen gehalten hatte. Aber sie haben ihm dennoch Kraft gegeben, zumindest für eine ziemlich lange Zeit. Er blickte kurz zu ihnen rüber und konnte erkennen, dass sie sich nun alle gegenseitig anschauten und wohl gerade exakt dieselben Gedanken hatten. Er war froh, dass sie alle in der Gegend bleiben würden, auch wenn Yugi durch die Turniere viel unterwegs und Téa an der Uni sehr beschäftigt sein würden, aber so schnell konnte ihre Freundschaft eh nichts erschüttern. Nicht nach dem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten.   Dann blickte er nach links und registrierte, wie Seto ihn ebenfalls mit seinen Augen fixierte, sein Blick sanft und warm. Ja, seine Freunde bedeuteten ihm alles, aber Seto war noch viel mehr für ihn. Er hatte ihn gerettet, immer und immer wieder, und Joey wusste, er würde ihn niemals fallen lassen. Und er war sich ganz sicher, dass auch ihr Band niemals durchtrennt werden könnte. Dafür würde er alles tun.   Er wurde jäh in seinen Gedanken unterbrochen, als die Jahrgangssprecherin ihre Rede fortsetzte. „Ich möchte uns allen dazu gratulieren, dass wir hier heute sein dürfen. Seinen Schulabschluss macht man nur ein Mal im Leben, dieser Tag wird einer der bedeutsamsten in unserem Leben sein und wir werden hoffentlich alle noch sehr lange positiv darauf zurückblicken können. Dieser Tag ebnet den Weg in unsere Zukunft. Bisher sah dieser Weg für uns alle wohl ziemlich ähnlich aus. Grundschule, Mittelschule, Oberschule. Von nun an wird jeder seinen eigenen Weg gehen, seine eigenen Interessen verfolgen. Aber egal, was auch passieren wird – wir sind diesen Weg gemeinsam gegangen, und das wird uns auf ewig verbinden. Ich wünsche euch allen viel Erfolg für die Zukunft, was auch immer sie für euch bereit halten mag.“   Mit diesen Worten verbeugte sie sich höflich und verließ unter tosendem Applaus die Bühne, um wieder ihren Platz in einer der vorderen Reihen einzunehmen. Joey ließ die Rede kurz gedanklich Revue passieren und musste anerkennend feststellen, dass sie tatsächlich richtig gut gewesen war. Von nun an würde er seinen eigenen Weg gehen, mit einer Arbeit, die ihm einen echten Sinn bieten konnte, und zeitgleich wusste er genau, dass die Verbindung zu seinen Freunden und nicht zuletzt zu Seto immer bestehen würde. Obwohl er dennoch einsehen musste, dass er die gemeinsamen Gespräche in der Kantine vermissen würde, die insbesondere, seit Seto Teil ihres ‚Stammtisches‘ war, sein Highlight im Schulalltag gewesen waren. Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine Lippen – na ja, dann würden sie eben einen anderen, regelmäßigen, wenngleich auch nicht täglichen, Treffpunkt finden, und noch hatten sie ja auch den Abschlussball vor sich, bei dem sie die letzten drei Jahre gemeinsam gebührend würden feiern können.   In diesem Augenblick trat der Schuldirektor ans Mikrofon. „Vielen Dank für diese wunderbare Rede. Bevor wir nun zur Ausgabe all Ihrer Zeugnisse kommen, möchten wir zunächst den Jahrgangsbesten ehren und ihm ebenfalls die Chance geben, ein paar Worte zu sagen. Daher möchten wir Sie nun auf die Bühne bitten, Mr. Kaiba.“   Joey drückte Setos Hand noch mal fest und lächelte ihn strahlend an. Er hatte schon gewusst, dass er ausgezeichnet werden würde, und Seto hatte ja auch eine Rede vorbereitet, wobei er diese im Gegensatz zur Jahrgangssprecherin nicht aufgeschrieben hatte. Natürlich nicht, er war ja schließlich Seto Kaiba, der die Oberschule nicht nur mit Bestnoten abschloss, sondern auch sonst so ziemlich alles spielend leicht schaffte – wie zum Beispiel freizusprechen. Joey bewunderte ihn sehr dafür und war gespannt darauf, was für eine Rede er vorbereitet hatte.   Nur für eine ganz kleine Millisekunde erwiderte Seto das Lächeln, jemand anders als Joey wird das kaum wahrgenommen haben. Dann machte er sich auf den Weg in Richtung Bühne, während Joeys Blick den gesamten Weg dorthin an seinem Rücken klebte.   Joey sah, wie Seto sein Zeugnis überreicht bekam und dem Schuldirektor die Hand schüttelte, bevor er ans Mikrofon trat. Er sah gefasst aus wie immer, völlig emotionslos, es war nicht mal ein winziges bisschen Nervosität an ihm zu erkennen. Gedanklich zuckte Joey mit den Schultern – vermutlich warf Seto einfach nichts so schnell aus der Bahn, und vor Menschen zu sprechen gehörte nun mal zu seinem Beruf. Wer, wenn nicht er, wäre dazu fähig, das mal so mir nichts, dir nichts zu meistern.   Als Seto zu sprechen begann, wurde die gesamte Luft von seiner Stimme erfüllt und Joey hielt für einen Moment den Atem an und bekam überall eine Gänsehaut.   „Vielen Dank an den Schuldirektor für diese Auszeichnung, und vielen Dank auch an meine Vorrednerin. Auch ich werde versuchen, mich kurzzufassen. Ich möchte mich unserer Jahrgangssprecherin anschließen – die drei Jahre in der Oberschule sind sicherlich ganz besondere Jahre, aus vielerlei Gründen. Allerdings möchte ich das noch ein wenig eingrenzen – denn aus meiner persönlichen Sicht ist es das letzte Jahr, das Abschlussjahr, das entscheidet, welchen Weg wir in Zukunft einschlagen werden.“   In dem Moment hob Seto den Kopf noch ein wenig mehr, und Joey konnte sehen, wie ihn zwei blaue Augen fixierten. Oh Gott. Ihm wurde sofort heiß und kalt und seine Wangen fingen an zu glühen. Die Art, wie er ihn anstarrte, war für jeden anderen nichts Außergewöhnliches. Vermutlich waren sie sich der Tatsache noch nicht einmal bewusst, dass Seto gerade nur ihn ansah. Aber Joey konnte es erkennen, ohne jeden Zweifel – dieser Blick, mit dem Seto ihn bedachte, war so... als wenn er ihn gleich auffressen würde, aber zeitgleich auch warm und liebevoll. Es waren so viele Emotionen, dass Joey seinem Blick fast nicht standhielt, ihn aber auch nicht abwenden konnte. Es war wie Hypnose, und während Seto das Pendel fest in seinen Händen hielt und langsam hin und her schwingen ließ, verfolgte Joey es rigoros mit seinen Augen, verlor sich im Strudel seiner nachfolgenden Worte.   Seto atmete ein Mal tief durch, dann setzte er seine Rede fort. „Wenn die ersten paar Monate des Abschlussjahres beginnen, dann fängt man an, sich zu fragen, was danach kommt. Man macht Pläne, wählt seine Kurse weise, für genau das, was man sich für seine Zukunft vorstellt. Man muss seine Zeit ein bisschen besser einteilen, um seine Ziele für das Abschlussjahr und alles, was danach folgt, zu erreichen. Es erfordert mehr Disziplin und Durchhaltevermögen, aber was immer mitschwingt, ist die Hoffnung, dass es sich am Ende alles auszahlt.“   Er stockte kurz – und konnte Joey da Setos Mundwinkel leicht zucken sehen?   „Was ich allerdings in meinem letzten Schuljahr herausfinden musste, ist, dass man so viel planen kann, wie man will – am Ende kommt doch alles anders, als man denkt.“ Joey fiel es schwer, Setos Blick nun zu deuten, und seine Worte sowieso. Er wusste nicht genau, ob er das jetzt positiv oder negativ meinte. Immerhin hing Seto sehr an seinen Plänen, und Joey konnte nur vage erahnen, wie sehr er sie wohl durcheinandergebracht hatte, wenn auch nicht freiwillig – zumindest nicht zu Beginn. Aber am Ende war es doch jetzt gut so, wie es war – oder sah Seto das etwa anders?   Und während Joey an seinen unsicheren Gedanken zu knabbern hatte und sich innerlich sehr über seine wiederkehrenden Selbstzweifel ärgerte, verfolgte er weiterhin gebannt die Bewegungen von Setos Lippen, als er weitersprach.   „Wird es das letzte Mal in unserem Leben sein, dass Pläne sich ändern? Ich denke nicht. Ist es verwunderlich, dass wir unsere Pläne aus diesem Jahr hinterfragen? Vermutlich auch das nicht, nein. Denn wenn wir ehrlich sind: Die meisten von uns waren noch nie in der Position, überhaupt Pläne für ihre Zukunft machen zu müssen. Wir sind dem vorgezeichneten Schulweg gefolgt, und nun, da wir am Ende dieses langen Pfades stehen, blicken wir in verschiedene Richtungen und müssen Entscheidungen treffen, wie wir sie vorher nicht treffen mussten. Vielleicht ist das für mich ganz persönlich ein bisschen einfacher, weil ich schon sehr früh angefangen habe, eine Firma zu führen und wichtige Entscheidungen zu fällen, aber auch ich habe die Erfahrung machen müssen, was für Auswirkungen Planänderungen haben können.“   Während Seto eine kurze Sprechpause einlegte, konnte Joey das Blut in seinen Ohren rauschen hören und sein Herzschlag beschleunigte sich noch ein wenig mehr. Er konnte nicht abwarten, die nächsten Sätze von Seto zu hören. Seine starke, tiefe Stimme zu hören, deren Wirkung durch das Mikrofon noch mal verstärkt wurde, war berauschend und er war süchtig nach jedem weiteren Wort, das über seine wunderschönen Lippen gleiten würde. Dass er ihn jetzt seit Wochen nicht wirklich hatte berühren dürfen, tat wohl gerade sein Übriges.   „Ich für meinen Teil habe in diesem letzten Schuljahr gelernt, dass Veränderungen auch etwas Positives sein können. Dass sie nichts sein müssen, wovor man sich fürchten muss. Denn genau diese Veränderungen haben mein Abschlussjahr zu einem Jahr gemacht, das ich niemals vergessen werde. Man denkt bei Veränderung ja oft an Instabilität, einem Bruch im Leben, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Zumindest war das bisher immer meine Sichtweise. Aber mir ganz persönlich haben die Veränderungen im letzten Jahr mehr Stabilität gegeben, als ich jemals geglaubt hätte, haben zu können.“   In diesem Moment wurde Setos Blick noch intensiver, und Joey wusste, dass seine nächsten Worte einzig und allein an ihn gerichtet waren. „Und dafür bin ich verdammt dankbar.“   Joey spürte eine warme Flüssigkeit über seine Wangen fließen, und als er seine Hände halb abwesend über sie gleiten ließ, da stellte er fest, dass es seine eigenen Tränen waren. Setos Blick sprach Bände. Dieser, gepaart mit seinen letzten Worten, war seine Art ‚Ich liebe dich‘ zu sagen, ohne, dass er die Worte auch nur ansatzweise in den Mund genommen hätte. Und wie er sich verändert hatte, das konnte Joey jetzt auch in aller Deutlichkeit sehen. Hier vor die gesammelte Schülerschaft zu treten und zu sagen, er wäre für etwas dankbar, das nicht gerade seine Firma betraf, hätte er vor einem Jahr tatsächlich niemals gemacht. Aber dieses Abschlussjahr hatte so viel verändert – für sie beide. Und auch Joey konnte nicht anders, als zu glauben, dass diese Veränderungen ihm eine Beständigkeit gegeben haben, die es in seinem Leben vorher noch nie gegeben hatte.   Setos letzte Worte - wohl noch ein paar Danksagungen an die Lehrer, die Schulleitung und auch ein letztes Danke für die Auszeichnung als Jahrgangsbester – nahm Joey nur gedämpft und hinter tränenverschleiertem Blick wahr. Viel zu langsam kam Seto wieder zu ihm zurück und setzte sich auf seinen Platz, sodass Joey Mühe und Not hatte, nicht schon bei der Hälfte seiner Strecke aufzuspringen und ihm hektisch um den Hals zu fallen. Er konnte sich gerade noch zurückhalten, und als Seto endlich wieder neben ihm saß, spürte er dessen Hände an seinen Wangen.   „Ich liebe dich“, das waren die einzigen Worte, die Joey abgehackt flüsternd und schluchzend rausbrachte, und niemand außerhalb ihres eigenen Kosmos hätte es hören können. Seto zögerte kurz, wusste nicht so recht, wie er reagieren sollte, aber Joey konnte nicht warten. Ganz langsam überwand er die Distanz zwischen ihren Lippen und küsste seinen Drachen, und auch wenn sie das bisher in der Öffentlichkeit vermieden hatten, so konnte er sich einfach nicht zurückhalten. Und es fühlte sich irrsinnig gut an, und es war Joey jetzt auch egal, ob man sie dabei beobachten konnte oder nicht. Dass sie zusammen waren, war ja schon seit einiger Zeit kein Geheimnis mehr.   Im Anschluss wurden alle Schüler nacheinander aufgerufen und die Zeugnisse wurden überreicht. Als der Schulleiter Joey seines überreichte, da war er tatsächlich ein bisschen stolz auf sich. Hätte Seto ihn die letzten Wochen nicht so gepusht, hätte dieses Tag für ihn heute auch ganz anders aussehen können.   Als er wieder von der Bühne trat, hatte sich die Menge schon verteilt, kaum noch einer saß auf seinem Stuhl – logisch eigentlich, immerhin wurden die Schüler nach Alphabet aufgerufen, und da Joeys Nachname nun mal mit einem ‚W‘ begann, gehörte er zu den letzten Schülern, die ihr Zeugnis erhielten.   Seto wartete unter einem schattenspendenden Baum auf ihn, lässig dagegen gelehnt, und als er nur noch ein paar Meter entfernt war, streckte er die Arme nach Joey aus. Der Blonde legte seinen Abschlusshut für einen Moment ab, ließ sich von Seto in eine Umarmung ziehen und kuschelte sich an dessen Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte. Die Hände weiterhin auf seinen Hüften, schaute Joey ihn nun direkt an, und Setos Mund umspielte ein glückliches Lächeln.   Er streichelte Joey sanft durch die Haare, als er sagte: „Ich bin verdammt stolz auf dich, mein Hündchen.“ Joey musste kurz auflachen, ein wenig vor Verlegenheit, aber auch aus Belustigung. „Müsste ich nicht eher stolz auf dich sein? Immerhin bin ich es, der mit dem intelligentesten Menschen des Jahrgangs, wenn nicht sogar der ganzen Schule zusammen ist.“   Setos Mundwinkel bewegten sich noch etwas stärker nach oben, aber er unterbrach die Liebkosungen nicht. „Können wir nicht einfach beide stolz aufeinander sein?“ Joey nahm daraufhin eine von Setos Händen und verschränkte ihre Finger ineinander. „Aber warum solltest du stolz auf mich sein? Immerhin habe ich den Schulabschluss auch nur mit Ach und Krach geschafft, und sicherlich auch nur deshalb, weil du mich mehr oder weniger dazu getrieben hast. Während ich mit dem klügsten Menschen der Erde zusammen bin, bist du mit dem dümmsten zusammen.“   Joey hatte unbewusst seinen Kopf gesenkt, sodass sein Blick nun auf Setos Schuhen lag. Doch dann spürte er einen von Setos langen Fingern an seinem Kinn, die seinen Blick wieder anhoben, und als er dem Braunhaarigen wieder ins Gesicht sah, war das verliebte Lächeln noch da, und ein wenig beruhigte Joey das.   „Noten sind nicht alles, mein Hündchen. Und du hast den Abschluss immerhin geschafft, oder? Das können sicherlich nicht alle von sich behaupten.“ Er strich Joey sanft eine Strähne hinters Ohr, und sein hinreißendes Lächeln verstärkte sich noch etwas mehr, bevor er sagte: „Weißt du, was du hast, was so viele nicht haben?“   Zaghaft bewegte Joey den Kopf von links nach rechts, was Seto kurz auflachen ließ. Der Brünette kam ihm näher, so nah, dass sich ihre Nasenspitzen nun schon fast berührten. Dann erklärte er: „Emotionale Intelligenz. Mehr, als ich sie bei jedem anderen Menschen bisher entdecken konnte. Und damit bin auch ich mit dem intelligentesten Menschen auf dem Planeten zusammen.“   Für einige Sekunden fiel Joey das Atmen schwer, und schon wieder verschwamm seine Sicht vor seinen Augen. Ihr darauffolgender Kuss war so viel mehr als nur eine Berührung – es war die Vereinigung zweier Menschen, die wie füreinander geschaffen waren. Wie zwei perfekt ineinander passende Puzzleteile. Wie der Moment, in dem die Sonne sich mit der Nacht verband und den Himmel rosa-orange färbte. Wie Schokosauce auf Vanilleeis. Und auch, als sie sich zu seinen Freunden gesellten und Opa Muto fleißig Bilder von ihnen schoss, während sie ihre Abschlusshüte in die Luft feuerten, konnte er diese Liebe in jeder einzelnen Zelle, in allen Poren seines Körpers spüren. Kapitel 30: Rescue me... from prom night ---------------------------------------- Gedankenverloren kramte sich Joey durch die Hemden in ihrem Ankleidezimmer. Er konnte sich einfach nicht für eine Farbe entscheiden. Vielleicht blau? Nein, er würde Seto überreden wollen, blau zu tragen, am besten das dunkelblaue Hemd, das Joey so sehr an ihm liebte. Rot? Nein, zu aggressiv, und irgendwie hatte er das Gefühl, die Farbe stand ihm nicht. Schwarz? Auf keinen Fall, er ging zum Abschlussball, nicht auf eine Beerdigung! Weiß? Hm, vielleicht, aber war das nicht ein bisschen langweilig?   „Na, immer noch nicht entschieden?“ Er konnte Setos Belustigung in seiner Stimme klar heraushören, drehte sich aber nicht zu ihm um, weil er noch immer viel zu viele Kleiderbügel in der Hand hielt. Warum nur fiel ihm die Auswahl so schwer? War ja nicht so, als hätte er noch nie ein Hemd für einen bestimmten Anlass aussuchen müssen. Aber der Abschlussball war eben etwas sehr Besonderes für ihn, weil es das Ende eines sehr langen Lebensabschnitts markierte, einer Phase in seinem Leben, die außergewöhnlicher wohl nicht hätte sein können, insbesondere in den letzten paar Monaten. Und trotz der vielen Aufs und Abs waren sie doch vor allem eines gewesen: wunderschön. Und Joey wollte, dass dieser letzte Tag seiner Schullaufbahn genauso perfekt war wie die letzten Monate, angefangen eben bei einem Outfit, das dem Anlass gerecht wurde.   Plötzlich spürte er Setos Hände an seinem nackten Oberkörper, wie sie ihn von hinten umarmten. Sie waren kalt, wärmten sich unter der Hitze von Joeys Haut aber rasch auf. Zärtlich streichelte er ihm über den Bauch und legte seinen Kopf auf Joeys Schulter ab, liebkoste seinen Hals mit hauchzarten Küssen. Seine Haare, noch immer ein bisschen feucht vom Duschen, kitzelten den Blonden ein wenig am Ohr und er konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen. Wie automatisch intensivierte sich das glückliche Lächeln auf seinen Lippen. Er hing die Kleiderbügel wieder zurück an die Stange und legte dann eine Hand an Setos Hinterkopf, zog ihn noch näher zu sich ran, genoss einfach seine Nähe. Die andere Hand legte er über Setos, die noch immer kurz über seinem Bauchnabel lagen. Der Braunhaarige hatte ebenfalls noch kein Hemd an und bei dem Gefühl von Setos nackter Haut an seiner breitete sich überall ein hitziges Kribbeln aus.   Er hörte Seto leise in sein Ohr seufzen, und als er ihm sanft ins Ohrläppchen biss, da veränderte sich die Atmosphäre schlagartig. Joey wollte sich zu ihm umdrehen, aber er ließ ihn nicht. Also drückte er stattdessen seinen Körper noch stärker dem von Seto entgegen, wollte ihn noch näher bei sich spüren. Der Braunhaarige lachte kurz auf – er war sich offensichtlich nur allzu bewusst darüber, was für eine Wirkung all das auf Joey hatte, kannte jede seiner Schwachstellen nur zu genau. Und Joey genoss es, war sogar noch empfindlicher als sonst – allein schon der Tatsache geschuldet, dass sie sich in den letzten Wochen nicht mehr intim berührt hatten. Aber der Blonde wusste, dass er darauf nicht mehr lange würde verzichten müssen, immerhin hatten sie gestern die Abschlusszeremonie hinter sich gebracht und damit war auch der ganze Sinn hinter dem ‚Sexverbot‘ dahin. Eigentlich verwunderlich, dass sie nicht bereits letzte Nacht übereinander hergefallen waren, aber sie waren noch bis spät mit seinen Freunden unterwegs gewesen und aufgrund der ganzen Aufregung des Tages einfach nur platt ins Bett gefallen, kaum waren sie wieder zuhause gewesen. Aber Joey beschlich die leise Vorahnung, dass auch Seto an seinem Limit angekommen war.   Mit geschickten Bewegungen bugsierte Seto ihn nun durch den Raum, und obwohl Joey überrascht war und nicht so richtig wusste, was der Größere vorhatte, so konnte er sich doch nicht dagegen wehren, weil er ihm einfach komplett verfallen und schon total im Rausch war. Nicht, dass er sich hätte wehren wollen, natürlich.   „Öffne die Augen, Joey. Sieh nur, wie wunderschön du bist.“ Joey, der instinktiv die Augen geschlossen hatte, um alle Eindrücke noch stärker zu fühlen, öffnete diese nun wieder – und sah sich selbst in einem lebensgroßen Spiegel. Erstaunt riss er die Augen noch weiter auf, während Setos Gesicht ganz nah seinem war, seine Lippen noch an Joeys Ohr, und seine Hände an Joeys nacktem Oberkörper auf und ab wanderten. Eine beschämte Röte legte sich sanft auf Joeys Wangen. Sich selbst dabei zu beobachten, was Setos Berührungen mit ihm anstellten, war definitiv neu, und er wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Aber noch immer konnte er es nur geschehen lassen, war Seto schutzlos ausgeliefert.   Er hörte ihn in sein Ohr schnurren, dann flüsterte er ihm zu: „Siehst du? Das ist, was ich immer sehe. Wenn sich dein Atem beschleunigt. Wenn deine Wangen rot werden. Wenn deine Augen anfangen zu flackern und du sie nur noch mit viel Mühe aufhalten kannst. Wenn dir ein wenig Speichel aus dem Mund läuft. Wie du immer erregter wirst. Ich werde niemals genug von dir bekommen, Joey.“   Der Blonde drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam, und Seto rückte mit seinem Gesicht noch etwas weiter nach vorn, sodass sich ihre Lippen sanft aufeinanderlegen konnten. Joey seufzte auf, als er Setos warmen Mund auf seinem spürte und öffnete automatisch seine Lippen, um seiner Zunge Einlass zu gewähren. Er merkte, wie sich ein unkontrollierbares Feuer in ihm ausbreitete, und jede weitere Berührung von Seto war wie ein zusätzlicher Tropfen Öl, der es noch stärker zum Lodern brachte.   Während sie sich immer leidenschaftlicher küssten, ging Setos Hand an Joeys Hosenbund. Er ließ seine Finger leicht darunter rutschen, bewegte sie von links nach rechts und wieder zurück, was Joey ein erneutes Keuchen entlockte. Er drückte seinen Po noch näher an Setos Vorderseite, konnte ihn nicht eng genug an sich spüren – als sie plötzlich ein lautes Geräusch hörten und erschreckt auseinandergingen.   Joey brauchte ein paar Sekunden, um seine Orientierung wiederzufinden. Dann stellte er fest, dass es sein Handy war, das da gerade so einen Lärm verursachte. Und ein paar weitere Augenblicke später erinnerte er sich, dass er einen Wecker gestellt hatte, damit sie auf keinen Fall zu spät zum Ball kämen. Innerlich verfluchte er sich jetzt dafür und stellte den Wecker genervt aus, bevor er zurück zu Seto trat, aber die Magie des Moments hatte sich ziemlich schnell in Luft aufgelöst. Außerdem müssten sie eh bald los und würden nicht mehr genügend Zeit haben. Joey seufzte auf, was Seto ein amüsiertes Grinsen entlockte. Er schnappte sich das weiße Hemd und zog es rasch über – er hatte jetzt ohnehin nicht mehr genügend Zeit, noch mehr darüber zu grübeln, was er anziehen sollte, und weiß ging eigentlich immer. Seto zog sich nun auch sein Hemd über – das dunkelblaue, und Joey musste sich arg zusammenreißen, nicht auf sein gerade erst angezogenes Hemd zu sabbern – und gemeinsam verließen sie ihr Apartment.   Die Festhalle befand sich am anderen Ende der Stadt, ungefähr 30 Minuten Autofahrt entfernt von der Kaiba-Villa. Als Joey aus der Limousine ausstieg, staunte er nicht schlecht. Das Gebäude war umringt von einem großen Park, und sie schienen sich auf einer Art Berg oder einer Erhöhung zu befinden, sodass man von hier aus einen atemberaubenden Blick über die gesamte Stadt erlangte. Vor der Halle an sich war ein roter Teppich ausgerollt worden, und Joey konnte mehrere Fotografen erkennen, die Fotos von allen eintreffenden Gästen machten. Aus dem Innenraum war schon leise Musik zu hören, wenn auch noch ganz dezent.   Er nahm Setos Hand, der für einen Augenblick überrascht wirkte, den Händedruck dann aber erwiderte und Joey ein zaghaftes Lächeln schenkte. Gemeinsam gingen sie in Richtung des Festsaals. Auf dem Weg dahin wurden zahlreiche Fotos von ihnen geschossen, auf denen Joey jedes Mal ein albernes Grinsen auf den Lippen hatte und Seto eher wieder unterkühlt wirkte.   Kaum hatten sie die Räumlichkeiten betreten, sahen sie schon Joeys Freunde in einem Kreis stehen und ihnen fröhlich zuwinken. Sie gesellten sich zu ihnen, und Joey begrüßte die Gruppe gut gelaunt, während Seto ihnen nur ein kühles Nicken entgegenbrachte. Na ja, es war schon besser als gar nichts, zumindest verkniff er sich in letzter Zeit die beleidigenden Bemerkungen. Das war für Seto Kaiba schon ein deutlicher Fortschritt. Außerdem hielt er Joeys Hand noch immer fest, was die gute Stimmung des Blonden nur noch verstärkte.   Nach einem weiteren, kurzen Blick auf die Truppe fragte Joey: „Hey, bin ich hier etwa der Einzige mit einem Date?“ Seto entglitten sofort alle Gesichtszüge ob der offensichtlichen Liebesbekundung. Joey amüsierte sich unheimlich darüber, aber er wunderte sich auch ein bisschen – immerhin machte Seto sowas doch auch, selbst in der Öffentlichkeit, auch wenn Joey zugeben musste, dass der Brünette es in solchen Momenten eben auch selbst entschied und es meist deutlich subtiler machte. Und wenn Joey sowas aus dem Blauen heraus äußerte, wirkte Seto im ersten Moment erschüttert, fing sich aber sofort wieder – so auch dieses Mal, aber Joey konnte ein Lachen dennoch nicht unterdrücken.   Téa stützte sich auf Yugis Schultern ab, als sie erklärte: „Also ich bin mit Yugi hier.“ Ihr Gesicht zierte ein breites Grinsen, während Yugi eher danach aussah, als wenn er vor Scham im Boden versinken wollte. Joey sah zwischen den beiden hin und her und fragte sich, ob er da irgendwas nicht mitbekommen hatte. Viel Zeit, darüber nachzudenken, hatte er aber nicht, denn er sah aus dem Augenwinkel, wie Tristan mit den Schultern zuckte und dann sagte: „Ich bin jemandem aus einer Parallelklasse hier.“   „Was? Mit wem? Wie heißt sie? Wer ist sie? Woher kennt ihr euch?“ Sofort bombardierte Joey Tristan neugierig mit seinen Fragen und schien ihn damit mittelmäßig zu überfordern. Joey hatte in den letzten Monaten offensichtlich nur Augen für Seto gehabt und total ausgeblendet, was im Leben seiner Freunde so abging. Er nahm sich vor, sie heute Abend ein bisschen auszuquetschen, um danach hoffentlich wieder up to date zu sein.   Tristan sah unsicher zur Seite – und legte sich da ein leichter Rotschimmer auf seine Wangen? Seit wann war er denn so schüchtern? Joey konnte ihm genau ansehen, dass er diese Frau wohl tatsächlich richtig mochte, und das machte ihn irgendwie froh. Es war schön zu sehen, dass auch seine Freunde jemanden fanden, der sie glücklich machte.   Tristan hatte noch nicht geantwortet, da sprach Joey weiter: „Schon gut, Tristan. Lasst uns doch einfach später beim Essen darüber sprechen. Ich hab’ das Gefühl, ich hab‘ in den letzten Monaten so einiges nicht richtig mitgekriegt.“ Und während er einen erneuten Blick auf Yugi und Téa warf, stimmte die Gruppe in ein Lachen ein, nur Seto hielt sich wie immer zurück.   Als sich die Gruppe auf den Weg zu ihrem Tisch machte, konnte Joey von weitem Mitsuki ausmachen, die sich im selben Augenblick umdrehte. Ein freundliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen, und als sie mit ihrem Kopf auf den Mann an ihrer Seite zeigte, erwiderte Joey es. Tatsächlich hatten sich die beiden in den letzten Wochen mehr oder weniger angefreundet, zumindest deutlich mehr Worte miteinander gewechselt. Seto wurde immer noch eifersüchtig, wenn er mit ihr sprach, und ihn aufgrund seiner Emotionen so irrational handeln zu sehen, belustigte Joey ungemein. Aber es war auch eine wundervolle Geste, und im Herzen wusste Seto, dass er niemals ernsthafte Konkurrenz bekommen würde, da war sich Joey ganz sicher.   Die Gruppe nahm an ihrem Tisch platz, und nach einigen Ansprachen der Lehrer und des Schulleiters wurde das Buffet eröffnet. Während sie aßen und Joey sich natürlich wieder viel zu viel gleichzeitig in den Mund stopfte, unterhielten sie sich über alles, was so passiert war und was Joey offensichtlich nicht mitbekommen hatte. So erfuhr er, dass Téa dank Yugis Lernhilfe ihren ersehnten Studienplatz an einer Uni in der Nähe ergattern konnte, und es war ganz offensichtlich, dass sie sich während ihrer Lerntreffen näher gekommen waren. Joey lächelte leicht, weil Yugi schon wieder errötete, während Téa wirklich verdammt glücklich wirkte. Sie offenbarten sicherlich längst nicht alles, und Joey würde es auch vollkommen ihnen überlassen, wie viel sie erzählten. Mit ihm selbst hatten sie es ja stets auch so gehandhabt.   Tristan stellte ihnen Mizumi vor, die ebenfalls mit am Tisch saß und seine Begleitung aus der Parallelklasse war. Auch wenn Joey sich nicht zum weiblichen Geschlecht hingezogen fühlte – oder zu jedem anderen, der nicht Seto war – so konnte doch auch objektiv festgestellt werden, dass Mizumi bildhübsch war. Sie hatte langes, leicht gewelltes, blondes Haar und braune Reh-Augen, sodass es Joey nicht so richtig schwerfiel zu verstehen, was Tristan wohl an ihr fand. Sie wirkte außerdem unheimlich sympathisch, steckte mit ihrem Lachen die ganze Gruppe an. Tristan erzählte, dass sie sich auf dem Schulfest kennengelernt hatten – das mit dem Lagerfeuer - und die Erinnerung an diesen Abend holte Joey ein, die ein feuriges Prickeln in seinem ganzen Körper auslöste.   Als das Essen irgendwann vorbei war, fing die Musik langsam an, lauter zu werden. Joey wusste, dass Seto ihm nicht auf die Tanzfläche folgen und stattdessen an der Bar warten würde, aber dennoch freute er sich darauf, mit seinen Freunden eine heiße Sohle aufs Parkett zu legen und ihren Schulabschluss gebührend zu feiern. Und während sich die Gruppe ins Getümmel stürzte, hätte Joey nicht glücklicher sein können als in diesem Augenblick, der das perfekte Ende eines Jahres markierte, das er sich in seinen kühnsten Träumen nicht schöner hätte vorstellen können.   ~~~~   Seto nippte gedankenverloren an seinem Drink, während er seinen blonden Wirbelwind auf der Tanzfläche beobachtete. Das Licht im Saal war gedimmt worden, aber für Seto war es dennoch nicht schwer, Joey auszumachen. Er überstrahlte einfach alles und jeden, und sein glänzendes Haar sowie seine golden strahlenden Augen würde er aus jeder Entfernung ausmachen können. Und Seto wusste, er würde seinen Blick niemals von ihm abwenden können, selbst wenn er es versuchen würde – nicht, dass er das jemals ernsthaft vorgehabt hätte.   Es war, als würde er alles andere außer Joey nur gedämpft wahrnehmen. So als wäre sein Hündchen die Sonne, und er wäre die Erde, die ununterbrochen seine Kreise um ihn zog und dabei magisch von ihm angezogen wurde. Es war wie ein natürlicher Kreislauf, der nicht unterbrochen werden konnte. Er sah nichts außer ihn.   Ab und zu warf Joey ihm einen kurzen Blick zu, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und jedes einzelne Mal hatte es denselben Effekt: Seto blieb die Spucke weg, sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er bekam für einen Moment keine Luft. Ob man ihm das wohl auch ansah? Er hoffte nicht, weil er wollte, dass es ausschließlich Joey war, der ihn jemals so sehen würde. Er war der Einzige, den er je so nah an sich ranlassen würde. Aber er war auch der Einzige, der ihn all das fühlen lassen konnte.   Während Seto erneut einen Schluck von seinem Getränk nahm, löste er seine Augen nicht von Joey. Er tanzte ausgelassen mit seinen Freunden und Seto konnte sehen, wie sein Haaransatz langsam von Schweiß benässt wurde. Es war berauschend, ihn so zu beobachten. Joey war so wunderschön, dass Seto es selbst dann noch den Atem verschlug, wenn er ihn gar nicht direkt ansah. Aber der Blonde war viel mehr als das. Seto fing an zu überlegen, welche Adjektive ihn wohl am ehesten beschreiben konnten, aber es war schwer, die richtigen Worte zu finden. Der Brünette musterte ihn aus der Ferne von oben bis unten und kam nicht umhin, ‚sexy’ ganz oben auf die Liste zu schreiben. Und die Liste füllte sich weiter, je länger er darüber nachdachte: Atemberaubend, heiß, faszinierend, mutig, leidenschaftlich, göttlich. In Gedanken führte er diese Aufzählung weiter fort, wohlwissend, dass es niemals ein Ende geben würde, weil so viele Wörter, die Joey gerecht werden und ihn vollumfänglich beschreiben konnten, noch gar nicht erfunden worden waren.   Kaum wahrnehmbar seufzte Seto auf. Er hatte den unbändigen Wunsch, einfach zu ihm rüberzugehen, ihn an sich zu ziehen und ihn mit einer Leidenschaft zu küssen, die keinen Zweifel übrig ließ, dass er nur ihm gehörte. Ihm war nicht nur ein Mal aufgefallen, dass auch andere ihn ansahen, vor allem die Frauen in ihrer Klasse. Und jedes Mal nervte es ihn in unbeschreiblichem Ausmaße. Was bildeten sie sich ein, sich das Recht rauszunehmen, sein Hündchen so anzustarren? Insbesondere diese Mitsuki ging ihm verdammt auf den Geist. Und dass sie es geschafft hatte, sich mit Joey anzufreunden, nur noch mehr.   Seto grummelte, weil er wusste, wie irrational seine Eifersucht war. Er war sich durchaus bewusst darüber, dass Joey ihn nicht verlassen würde, zumindest nicht, wenn Seto ihm nicht einen triftigen Grund dafür gab. Denn er hatte die Blicke bisher nie erwidert. Und Seto musste alles dafür tun, dass es so blieb und er nur ihn ansah. Denn er war der Einzige, den Joey jemals ansehen musste.   Er hörte Joey lachen und bemerkte, wie er sich aus der Gruppe der Freunde entfernte und ihm grinsend entgegenkam. Als er dann direkt neben ihm an der Bar stand, konnte er die Hitze, die von Joeys Körper ausging, sofort spüren. Der Blonde bestellte sich eine kalte Cola, während ihm ein einsamer Schweißtropfen über die Schläfe lief. Joey nahm das kalte Glas entgegen, und unter der Wärme seiner Hände fingen die Eiswürfel an zu knistern. Mit dem Strohhalm rührte er ein paar Mal in dem Glas herum - warum auch immer er das für notwendig hielt – und setzte diesen dann an seine Lippen.   Seto musste schlucken. Für einen winzigen Augenblick schloss Joey die Augen und saugte leicht an dem Strohhalm, um die Flüssigkeit in seinen Mund fließen zu lassen. Seto sah, wie sich Joeys Mund etwas füllte, seine Lippen leicht feucht wurden und wie er die Cola anschließend hinunterschluckte. Oh Gott. Hatte es immer schon so sinnlich ausgesehen, wenn Joey trank? Oder tat ihre Abstinenz aus den letzten Wochen gerade ihr Übriges?   Joey öffnete wie in Zeitlupe – oder kam Seto das nur so vor? – seine Augen, während er den Strohhalm langsam über seine Lippen und aus seinem Mund gleiten ließ. Er sah Seto nun direkt an, während er mit der Zunge über seine Lippen fuhr. Gott, was würde der Braunhaarige jetzt dafür geben, sie mit seiner eigenen Zunge berühren zu können. Sanft über sie zu lecken und Joey damit leicht zum Stöhnen zu bringen.   Sein Herzschlag beschleunigte sich enorm, genau wie seine Atmung, und in Joeys Augen konnte er erkennen, dass es ihm nicht wirklich anders ging. Der Blonde nahm seine Hand, und Seto spürte, wie heiß sie war, und der Brünette war sich sicher, das kam nicht allein vom Tanzen. Joeys Augen sprachen eine andere Sprache.   Joeys Gesicht näherte sich seinem, als er zum Reden ansetzte. „Sollen wir kurz rausgehen?“ Joey stellte sein Glas auf dem Tresen ab, bevor er Seto an der Hand nach draußen zog. Er hatte gar keine Antwort abgewartet, aber Seto war sowieso noch immer sprachlos von dem himmlischen Anblick, der ihm gerade geboten worden war, sodass er es einfach geschehen ließ.   Joey öffnete die Tür nach draußen und sie wurden sofort von angenehm warmer Luft begrüßt. Es war nicht mehr so heiß wie noch ein paar Stunden zuvor. Die Sonne ging langsam am Horizont unter und färbte den Himmel rötlich-orange mit einem Hauch von Rosa. Joey löste seine Hand von Seto und rannte auf eine Aussichtsplattform, von der aus man einen herrlichen Blick auf die Stadt und den Sonnenuntergang hatte. Seto folgte ihm in langsameren Schritten und beobachtete sein Hündchen noch immer sehr genau. Sah, wie er sich eine Strähne hinters Ohr schob, hörte ihn glücklich auflachen, konnte das unaufhörliche Lächeln auf seinen Lippen ausmachen. Als er dann direkt neben ihm stand und sich ebenfalls auf dem Geländer vor ihm abstützte, legte Joey sofort seine Hand auf die von Seto. Und so blieben sie eine Weile, schauten gemeinsam runter auf die Stadt und genossen schweigend die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Im Hintergrund erklang leise die Musik aus der Festhalle.   Irgendwann drehte sich Seto zu Joey um, und weiterhin ohne ein Wort zu sagen, legte er seine bisher untätige Hand an die Wange des Blonden, ließ seinen Daumen über dessen weiche Haut gleiten. Seto bemerkte, wie sich Joeys Wangen unter der Berührung rosig färbten und das Gold in seinen Augen noch stärker wurde. Der Blonde öffnete leicht seine Lippen, und fast unbewusst kamen sich ihre Gesichter näher, sodass Seto schon Joeys Atem auf seinen Lippen spüren konnte.   In diesem Moment wurde das nächste Lied gespielt, das sie im Hintergrund wahrnehmen konnten. Joey lächelte, nahm nun Setos Hand von seiner Wange und hielt beide seiner Hände fest, während er seine Lippen zum Text bewegte und Seto tief in die Augen sah.   Sometimes this feels like an ending of a movie If I’m just dreaming then I’m hoping I can stay asleep Know that no matter what After the closing scene I’ll be the only one to love you in my dreams   Seto starrte wie gebannt auf Joeys Lippen. Er verschränkte ihre Finger noch enger, streichelte mit seinem Daumen über seine Haut. Wie konnte es sein, dass er so wunderschön aussah, insbesondere, wenn die orangefarbenen Sonnenstrahlen sanft sein Gesicht berührten? Wie war es nur möglich, dass Joey ihn immer und immer wieder so in seinen Bann zog, ohne dass es einer großen Geste bedurfte?   Sometimes it feels like I’ll never have enough of you When you’re around me you make every passing moment new And when I’m not with you, I know you’ll still agree I’ll be the only one to love you in my dreams   Seto ließ einen leisen Seufzer über seine Lippen gleiten, und kaum hatte das Geräusch seinen Körper verlassen, legte sich ein mildes Lächeln auf seine Lippen. Der Songtext ließ Seto nachdenken – gab es auch nur einen Moment, in dem er nicht von Joey träumte? Es war egal, ob er bei ihm war, neben ihm lag, oder sie sich nicht im selben Raum befanden, ob er wach oder am Schlafen war. Sein Hündchen nahm seine Gedankenwelt vollständig ein – immer.   Oh my, I swear I can’t stop looking into those eyes I’m lost, maybe I’m hypnotized ’Cause the way you look with these pink skies As the sun drifts away tonight   Seto musste auflachen. Warum nur fühlte sich dieser Song so an, als wäre er exakt für sie, für genau diese Situation geschrieben worden? In diesem Augenblick fing Joey leicht an, sich hin und her zu bewegen, und Seto konnte nicht anders, als sich im Gleichklang mit ihm zum Takt der Musik zu bewegen. Innerlich schüttelte er darüber den Kopf – Joey hatte offensichtlich deutlich zu viel Macht über ihn, wenn er es jetzt sogar schaffte, dass er mit ihm tanzen würde.   Just hold tight ’Cause when you’re in my arms, it feels right You know there ain’t no place I’d rather be Just dance with me all night ’Cause baby nothing else feels like...   You, you, nothing feels like you, you No, there ain’t no place I’d rather be Just dance with me all night ’Cause baby nothing else feels like you   Seto spürte, wie sein Herz hinter seiner Brust raste und das Blut in seinen Ohren zu rauschen begann. Joeys Lächeln wurde noch ein wenig breiter, und für einen kurzen Moment knabberte er an seiner Unterlippe, was Setos Sehnsucht, Joey zu berühren, ins Unermessliche steigerte.   I got that feeling like we’re young and it’s a summer fling But I’ve been hurt enough to know I love you differently I think I finally found someone who won’t disagree I’ll be the only one you’ll keep loving in your dreams   Oh my, I swear I can’t stop looking into those eyes I’m lost, maybe I’m hypnotized ’Cause the way you look with these pink skies As the sun drifts away tonight   Und während er Joey so in die Augen sah, da war klar, dass das hier mehr war als nur ein Sommerflirt. Mal abgesehen davon, dass das alles nicht im Sommer angefangen hatte, waren seine Gefühle für sein Hündchen viel tiefer. Mehr noch, er glaubte, so intensive Gefühle noch nie gespürt zu haben, wie er sie für Joey fühlte. Aber er würde sich nicht beschweren – es war genau so, wie es sein sollte, und in Joeys ganzer Körpersprache konnte er erkennen, dass er ihm wohl zustimmen würde.   Just hold tight ’Cause when you’re in my arms it feels right You know there ain’t no place I’d rather be Just dance with me all night ’Cause baby nothing else feels like   You, you, nothing feels like you, you No, there ain’t no place I’d rather be Just dance with me all night ’Cause baby nothing else feels like you   Und während Seto die letzten Töne des Liedes im Hintergrund wahrnehmen konnte, da konnte er nicht mehr warten. Er musste ihn berühren, also gab er sich seiner Sehnsucht hin, zog Joey näher an sich und küsste ihn zärtlich, steckte all seine Liebe für sein Hündchen in diese Vereinigung, und Joey drückte sich ihm seufzend entgegen. Der Blonde schlang die Arme um ihn, während Seto sein Gesicht fest in beide Hände nahm und ihn noch enger zog. Seine Fingerspitzen berührten Joeys weiches Haar, und während sie sich unablässig küssten, fing Seto an, mit seinen Fingern sanft durch Joeys Haare zu fahren. Joeys Lippen auf seinen fühlten sich so gut an, und wenn er mit der Zunge darüber fuhr, da spürte er die Sehnsucht nach mehr. Als er in seinen Mund eindrang, stöhnte Joey leise, und Seto schmeckte noch die Reste von Cola in seinem Mund. Eine von Joeys Händen rutschte seinen Rücken hinab und kam an seinem Hosenbund zur Ruhe. Seto presste seinen erhitzten Körper noch stärker an Joeys, und ihr Kuss gewann an Geschwindigkeit und Intensität.   Als Joeys Finger sich langsam unter Setos Hosenbund bewegten, da stoppte der Brünette ihn. Er löste den Kuss und sah seinem Hündchen in die Augen, und es war klar, dass sie nicht weitergehen konnten. Nicht hier. Nicht jetzt. Aber er wusste, er würde nicht lange darauf warten können.   Und während beide noch versuchten, ihren beschleunigten Atem wieder einigermaßen unter ihre Kontrolle zu bekommen, hörten sie Tristan vom Eingang rufen: „Hey, wollt ihr die ganze Nacht allein hier draußen verbringen, oder was?“ Sein Hündchen lachte auf und schenkte ihm eines seiner bezaubernden Lächeln, bevor er Tristan antwortete: „Ja, ja, wir kommen ja schon!“ Und als er sich umdrehen wollte, da hielt ihn Seto für einen Augenblick zurück. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass Tristan schon wieder reingegangen war, sodass sie noch eine Minute für sich alleine hatten. Und er musste einfach die Gunst der Stunde nutzen und Joey sagen, was er zu sagen hatte.   Also zog er ihn wieder in seine Arme, hob seinen Kopf an und streichelte ihm sanft über den Rücken, während er die folgenden Worte an sein Hündchen richtete: „Joey... ich liebe dich. Ich weiß, ich habe es dir schon so oft gesagt, aber ich will, dass du es wirklich verstehst und in jeder Sekunde deines Lebens weißt. Ich liebe dich so sehr, dass ich manchmal das Gefühl habe, ich explodiere gleich. Du bist das Beste, was mir jemals passieren konnte. Bitte, versprich mir, immer bei mir zu bleiben.“   Joeys Augen wurden feucht, und Seto beugte sich ein wenig zu ihm runter und legte seine Stirn an die des Blonden. „Immer“, erklärte Joey mit zittriger, flüsternder Stimme. „Ich werde immer bei dir sein, Seto, ich verspreche es. Ich liebe dich.“ Sie küssten sich noch ein letztes Mal, bevor sie Hand in Hand zurück in den Festsaal gingen, während sich am Horizont die Nacht ankündigte und den Himmel lila färbte.   ~~~~   Gegen zwei Uhr morgens machte sich die Gruppe auf den Weg nach Hause. Joey ließ den Abend gedanklich noch mal Revue passieren und konnte nicht anders, als sich überglücklich zu fühlen. Die Freunde hatten ausgelassen miteinander getanzt, das Essen war überragend gewesen, und dann dieser Moment mit Seto beim Sonnenuntergang... es hätte nicht perfekter sein können. Aber Joey wusste, eine Sache fehlte noch, und er hatte schon einen genauen Plan, wie er sich holen konnte, was er wollte.   Joey verabschiedete sich winkend und lächelnd von seinen Freunden, dann stieg er gemeinsam mit Seto in die Limousine ein. Er machte sich gar nicht die Mühe, sich anzuschnallen, und als Seto das bemerkte, sah er ihn verwirrt an. Joey verschränkte die Arme vor dem Körper, und als Seto sah, wie der Blonde sich gierig mit der Zunge über die Lippen fuhr, da schien er zu verstehen. Ohne den Blick von ihm zu lösen, fuhr er das Fenster zum Fahrer hoch, und in der Sekunde, als es an der oberen Halterung einrastete, warf sich Joey auf Seto, setzte sich auf seinen Schoß.   Sofort zog der Blonde seinen Drachen in einen hemmungslosen, leidenschaftlichen Kuss und begann direkt, die ersten Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, während das Fahrzeug sich in Bewegung setzte. Seto löste sich von seinen Lippen und verteilte heiße Küsse überall an Joeys Hals, was den Blonden dazu verleitete, laut aufzustöhnen. Sofort konnte er eine von Setos großen Händen über seinem Mund spüren.   „Joey, du musst leise sein, wenn du nicht willst, dass dich der Fahrer hört. Meinst du, du schaffst das?“   Atemlos nickte Joey. Er musste es schaffen. Er konnte nicht mehr warten. Er brauchte alles von Seto, wollte ihn spüren, überall. Er sah Seto jetzt direkt in die Augen, während seine Zunge über dessen Finger leckte, die noch immer an seinen Lippen waren. Joey konnte sehen, wie auch der Braunhaarige ein Stöhnen unterdrückte, und ihm gefiel das Gefühl, ihn so zu reizen. Er nahm einige Finger mit dem Mund auf, bewegte seinen Kopf leicht vor und zurück, während er ungeduldig auf seinem Schoß rumrutschte. Er konnte Setos Erregung schon ganz deutlich an seinem Po spüren.   Joey öffnete mit schnellen Handbewegungen die restlichen Knöpfe von Setos Hemd und strich es ihm über die Schultern, sodass er nun endlich mit nacktem Oberkörper vor ihm saß. Eigentlich wollte er in dieser Sekunde überall Küsse auf seiner nackten Haut verteilen, bis zu seinem Hosenbund, aber er wurde von Seto gestoppt, bevor er überhaupt anfangen konnte. Mit festem Handgriff nahm er Joeys Kinn und hielt ihn so, dass er ihn anschauen musste. Joeys schneller Atem und sein rasendes Herz machten nur allzu offensichtlich, wie ungeduldig er war, und Seto schien ein ähnliches Schicksal zu ereilen, dem Sturm in seinen Augen nach zu urteilen.   „Wir haben nicht so viel Zeit, Joey. Wir haben vielleicht noch 25 Minuten, bis wir wieder bei der Villa sind. Also, wirst du ein braver Hund sein und machen, was ich dir sage?“   Joey spürte, wie ihm Speichel aus dem Mundwinkel lief, den er sich gierig mit seiner Zunge entfernte. Er beugte sich vor, ganz nah an Setos Ohr, dann flüsterte er: „Ja, Master. Nimm mich hier, Master.“   Joey wurde an seinen Haaren zurückgezogen und von Seto in einen hitzigen Kuss verwickelt. Mit fast schon zu kontrollierten Handbewegungen öffnete Seto dann Joeys Hose und ließ seine Hand hineingleiten. Als er spürte, wie erregt Joey bereits war, konnte der Blonde ihn zufrieden lachen hören.   Joey hatte große Mühe, sein Stöhnen zu unterdrücken, aber er wusste, es ging nicht anders. Seto bewegte seine Hand gleichmäßig an seiner stetig wachsenden Erregung. Mit der anderen Hand zog er Joey erneut am Kinn so, dass er ihm direkt in die Augen sehen konnte. „Los, Joey. Oder muss dein Master seine Wünsche etwa erst aussprechen?“   Gott, wie er den dominanten Seto Kaiba liebte. Zunächst entledigte sich Joey seiner eigenen Kleidung, die er achtlos auf den Sitz warf, der eigentlich für ihn vorgesehen war, würde er hier nicht gerade vollkommen ekstatisch auf Setos Schoß sitzen. Im Anschluss kniete er sich vor Seto und konnte auch ihm nicht schnell genug die Hose und die Boxershorts entfernen. Als er dann endlich auch nackt vor ihm saß und ihn mit diesem gebieterischen Blick bedachte, da konnte Joey nicht anders als denken, dass Seto die Definition von absoluter Perfektion war. Alles an ihm zog Joey an – sein muskulöser Körper, die Art, wie er ihn ansah, die kontrollierten und zeitgleich völlig berauschten Berührungen und Bewegungen. Er war ganz und gar vollkommen.   Joeys Zunge strich an Setos Oberschenkel entlang, und er konnte spüren, wie das seinen Drachen ein wenig zum Zittern brachte. Während er weiter sein Bein liebkoste, wanderte eine Hand zu dessen Erregung, strich zunächst sanft darüber, was seinen Körper nur noch mehr vibrieren ließ. Er festigte den Handgriff um Setos Erektion und fing mit moderater Geschwindigkeit an, sich zu bewegen, während sein Mund zu seinem Bauch wanderte. Er setzte sich etwas mehr auf, sodass er mit seiner Zunge bis zu Setos Brustwarzen kam, an denen er begierig saugte. Er konnte spüren, wie der Größere scharf die Luft einsaugen musste, um nicht laut aufzustöhnen. Für einen kurzen Moment sah er in Setos Gesicht, und ihre Augen trafen sich. Der Sturm in Setos Augen verleitete Joey dazu, die Geschwindigkeit seiner Hand an Setos Erregung zu erhöhen, was Seto dazu brachte, sich heftig in seine Unterlippe zu beißen. Und gerade, als Joey sich mit Küssen seinen Weg zurück nach unten Bahnen wollte, wurde er von Seto aufgehalten.   Der Brünette zog ihn erneut an den Haaren hoch, sodass sich ihre Gesichter nun ganz nah waren. Joeys Mund verließ erneut Speichel, aber dieses Mal hielt er ihn nicht mit seiner Zunge auf, genoss das nasse Gefühl auf seinen Lippen und seinem Kinn. Alles, worauf er sich jetzt konzentrieren konnte, war Setos arroganter Blick und die Sehnsucht nach allem, was er gleich mit ihm anstellen würde.   „Keine Zeit für Vorspiel. Du weißt, was zu tun ist.“   Nun musste sich auch Joey in die Unterlippe beißen, und während er zurück auf Setos Schoß krabbelte, holte dieser aus einer mehr oder weniger gut versteckten Seitenklappe Gleitmittel heraus. Sah so aus, als hätte Seto ganz genau gewusst, was sie beide heute Abend erwarten würde, aber Joey würde sich ganz bestimmt nicht darüber beschweren.   Doch statt seine eigenen Finger mit dem Gel zu benetzen, nahm er Joeys Finger, was ihn zunächst überraschte. Doch schon im nächsten Moment löste sich dieses Gefühl in Luft auf, als Seto erklärte: „Ich will, dass du dich selbst bereit für mich machst. Hast du das verstanden?“   Und während er spürte, wie sich das Gleitmittel zwischen und auf seinen Fingern verteilte, da sah er in Setos Augen, dass er keine Widerrede zulassen würde. Also nickte Joey und antwortete: „Ja, Master. Was immer du verlangst, Master.“   Ein arrogantes Grinsen legte sich auf Setos Gesicht, als Joey seine Finger zu seinem Eingang führte und zwei auf einmal in sich aufnahm. Es war komisch, es selbst zu tun, aber zu wissen, wie intensiv Seto ihn gerade beobachtete, turnte ihn nur noch mehr an. Er warf den Kopf in den Nacken und bewegte sich immer stärker seinen eigenen Fingern entgegen. Als er Setos Daumen an seinen Lippen spürte, bewegte er den Kopf wieder nach vorn und wurde von seinem Drachen in einen gierigen Kuss gezogen. Erstickt stöhnte Joey in den Kuss, als er merkte, wie Seto ihm in die Unterlippe biss und damit sein Begehren noch weiter steigerte. Plötzlich fühlte er dessen Hand, wie er seinen Po streichelte, zunächst sanft, dann immer wilder, bis er ihm schließlich leichte Schläge verabreichte. Joeys Erregung wurde unter dem Gefühl leichten Schmerzes nur noch größer.    Er erhöhte die Geschwindigkeit seiner beiden Finger in ihm, als er plötzlich spürte, wie einer von Setos Fingern sich zu ihnen gesellte, um ihn noch weiter zu dehnen. Überrascht riss er die Augen auf, doch als er dem Braunhaarigen nun wieder ins Gesicht sah, das überhebliche Grinsen und die leicht geöffneten Lippen betrachtete, da konnte er nicht anders, als sich ihm voller Leidenschaft entgegenzuwerfen.   Doch lange währte diese Situation nicht. Ruckartig entfernte Seto all ihre Finger, und nur eine Sekunde später drang er mit seiner eigenen Erregung in Joey ein, was den Blonden fast dazu gebracht hätte, laut aufzuschreien, doch er konnte sich gerade noch zurückhalten. Er stemmte sich mit den Händen an der Lehne hinter Seto ab, um noch etwas mehr Halt zu bekommen. Setos Stöße waren gnadenlos, aber Joey liebte das Gefühl von ihm tief in sich. Ihr Atem ging stoßweise und heftig, während Joey nun seine Arme um Setos Nacken warf und die Geschwindigkeit weiter erhöhte.   „Stop!“, sagte Seto nun in gewohnt bestimmendem Befehlston. Joey hielt sofort inne. Mit verklärtem Blick sah er dem Braunhaarigen in die Augen. Er konnte nicht mehr klar denken, alle seine Gedanken verschwammen zu einem undefinierbaren Brei. Und genau das war auch das Schöne an dieser Situation – er musste nicht denken. Er konnte sich von Seto führen lassen, in ekstatische Höhen, und es gab nichts, was er nicht für ihn tun würde.   Seto drückte ihn ein wenig hoch, dann erklärte er: „Dreh dich um.“ Der Blonde tat sofort, wie ihm geheißen, und kaum hatte er Seto den Rücken zugedreht, wurde er bereits wieder von ihm runtergedrückt, und er drang erneut vollständig in ihn ein, ohne dass Joey auch nur einen Gedanken daran verschwenden konnte, was jetzt passieren würde.   Setos Hand legte sich über Joeys Mund, vermutlich um ihn davon abzuhalten, seine erstickten Schreie auch laut zu äußern. Der Blonde spürte seine Lippen ganz nah an seinem Ohr, hörte seinen abrupten Atem, das fast unhörbare Stöhnen, wäre er nicht so dicht an ihm dran. Und plötzlich hörte er ihn flüstern: „Es macht dich an, es dir selbst zu machen, wenn ich dir dabei zuschaue, oder Hündchen?“   Joey war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Wäre Setos Hand nicht direkt vor seinem Mund, man hätte sein lautes Stöhnen vermutlich im ganzen Wagen gehört, aber so wurde es glücklicherweise genügend gedämpft. Seto nahm eine Hand des Blonden – und führte sie an Joeys eigene Erektion. Joey überließ ihm auch in diesem Moment die Führung, nahm wahr, wie Seto ihre beiden Hände zunächst langsam, dann immer schneller auf und ab bewegte, während er sanft in sein Ohrläppchen biss und dabei nicht an Intensität seiner Stöße einbüßte.   Auf einmal entfernte Seto seine eigene Hand, und mit heiserer Stimme flüsterte er ihm ins Ohr: „Mach es selbst. Bring dich dazu, zu kommen.“ Joey ließ seine Zunge über seine Lippen und über Setos Hand gleiten, die noch immer direkt vor seinem Mund war, und durch die winzigen Zwischenräume antwortete Joey: „Ja, Master.“   Es war ihm immer noch ein wenig unangenehm, all das vor Seto zu machen, aber jedes Mal, wenn er es dann doch tat, konnte er sehen, wie unheimlich heiß das seinen Drachen machte. Und er war süchtig nach diesem Bild von Seto, konnte gar nicht genug davon kriegen. Also kam er seiner Bitte – oder besser, seinem Befehl – nach, bewegte seine Hand an seiner eigenen Erektion, und schon wenige Sekunden später interessierte es ihn nicht mehr, dass Seto ihn dabei unablässig beobachtete, weil er wie im Rausch war.   Im selben Rhythmus, in dem Joey seine Bewegungen beschleunigte, wurden auch Setos Stöße schneller und intensiver, und der Blonde konnte fühlen, wie nah Seto seinem Höhepunkt schon war. Als es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, legte Seto seine Hand wieder fester über Joeys Lippen, wohlwissend, dass Joeys Stöhnen mit seinem Orgasmus auch seinen ganz eigenen Höhepunkt erreichte. Joey konnte hören, wie Seto sich auf die Unterlippe biss und so sein eigenes Stöhnen dämpfte, während er in ihm kam, und kaum spürte er, wie sich Seto in ihm ergoss, kam er in seiner eigenen Hand und konnte es gerade so kontrollieren, dass er nicht das gesamte Auto einsaute.    Aus derselben Seitenklappe, aus der Seto vorhin schon das Gleitgel herausgeholt hatte, holte er nun auch Feuchttücher, und da Joey noch immer zu so ziemlich nichts in der Lage war, ließ er Seto gewähren, der ihn und sich selbst von den Spuren des gerade Erlebten befreite.    Nur wenige Minuten, nachdem beide wieder zu Atem gekommen waren und sich ihre Kleidung angezogen hatten, hielt der Wagen vor der Villa. Seto machte Anstalten, auszusteigen, doch Joey zog ihn noch einmal am Ärmel zurück und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Als er sich von ihm lösen wollte, zog ihn Seto am Hinterkopf erneut enger an sich, und Joey kam der Gedanke, dass sie das Auto niemals würden verlassen können, wenn sie sich nicht endlich voneinander losreißen konnten. Aber Joey war einfach so süchtig nach seinem Drachen, dass es ihm wie immer schwerfiel, obwohl das albern war, immerhin wohnten sie zusammen und verbrachten damit sowieso jede freie Sekunde gemeinsam.   Zurück in ihrem gemeinsamen Apartment ging Seto zuerst ins Bad, bevor dieser wieder zu Joey ins Schlafzimmer stieß und sich vorwärts aufs Bett fallen ließ. Es war nicht schwer zu sehen, wie erschöpft der Brünette war, aber Joey konnte es ihm nicht verübeln. Immerhin war es mitten in der Nacht, und insbesondere nach dem, was sie gerade im Auto miteinander angestellt hatten, konnte auch Joey die Müdigkeit in sich aufkommen spüren.   Dennoch nahm er sich die Zeit für eine schnelle Dusche, und nachdem er sich anschließend die Zähne geputzt und in Schlafklamotten geworfen hatte, ging er zurück zu Seto, den er schon leise schnarchen hören konnte.   Joey lachte leise auf. „Deck dich wenigstens richtig zu, sonst erkältest du dich noch“, flüsterte er, mehr zu sich selbst als zu Seto, und zog die Bettdecke so, dass der Größere nun vollständig davon bedeckt wurde. Joey fuhr ihm leicht durch das braune Haar, und auch im Schlaf drückte sich Seto sanft dagegen, lächelte sogar leicht. Joey glitt nun zu Seto unter die Decke, und sofort umschlang der Brünette ihn mit seinen Armen. Joey konnte nicht anders, als zu denken, wie süß sein Drache war, wenn er schlief. Immer, wenn er so anhänglich wurde, setzte Joeys Herz für einen Schlag aus, denn er wusste, er würde auf ewig die einzige Person bleiben, die ihn so zu Gesicht bekam.   Und während er ihn da so friedlich schlummern sah, kam ihm das Lied wieder in den Kopf, das sie gemeinsam beim Sonnenuntergang gehört hatten.   I’ll be the only one to love you in my dreams   Zart lächelnd drückte er Seto einen Kuss auf die Stirn, und bevor er selbst ins Traumland entschwand, flüsterte er ihm leise zu: „Süße Träume, mein Drache.“ Und erfüllt von einer wohligen Wärme, ausgelöst von all den intensiven Gefühlen, die er für Seto hegte, fand auch er wenige Augenblicke später sanft in den Schlaf. Kapitel 31: Rescue me... Don't leave me! ---------------------------------------- Seufzend nahm Seto den Brieföffner aus der Schublade und öffnete den Umschlag. Als er einen Blick auf dessen Inhalt warf, schüttelte er den Kopf und ließ das Papier sofort in den Papierkorb gleiten. Der wievielte diese Woche war das wohl schon? Seto hatte irgendwann aufgehört zu zählen, aber er konnte sich erinnern, dass die Aufmachung sich immer ähnelte, auch wenn sich der Absender zunächst sichtlich Mühe gegeben hatte, das zu verschleiern.   Den ersten Brief hatte er schon wenige Tage nach der Pressekonferenz erhalten, in der Joey und er ihre Beziehung öffentlich gemacht hatten. Für einen Augenblick war er tatsächlich besorgt gewesen, aber trotz der Tatsache, dass sich die Anzahl der Briefe stetig erhöht hatte, war bisher nichts weiter passiert. Daher hatte er irgendwann eingesehen, dass es sich nur um leere Drohungen handeln konnte. Zumal er ja sowieso dafür gesorgt hatte, dass sie die meiste Zeit von genügend Sicherheitspersonal umringt waren.   Der Inhalt der Briefe war ausnahmslose gezeichnet von homophoben Beleidigungen gegen Seto. Auf die wüsten Beschimpfungen folgten in der Regel Warnungen jedweder Art: In den ersten Briefen wurde nur er bedroht. Immer und immer wieder wurde ihm ‚geraten‘, er solle bloß vorsichtig sein, wohin er ginge. Dann weiteten sich die Bedrohungen auch auf Joey und Mokuba aus, woraufhin er die Anzahl an Sicherheitskräften noch einmal erhöht hatte. Ansonsten hatte er sich aber sehr bedeckt gehalten und keine weiteren Konsequenzen daraus gezogen.   Und je länger er keine Reaktion gezeigt hatte, zumindest nicht nach außen hin, desto mehr schien sich der Absender in Rage zu schreiben. Zu Beginn waren die Texte noch recht gut strukturiert gewesen, in einigermaßen klarer Sprache. Doch mittlerweile waren die Schriftstücke nicht mehr als ein wildes Durcheinander scheinbar völlig wahllos zusammengewürfelter Wörter, und auch die Anzahl an Kraftausdrücken nahm stark zu. Es schien den Ersteller zu provozieren, dass die Schriftstücke offensichtlich nicht den gewünschten Effekt auslösten, auch wenn Seto nicht zu 100 Prozent verstand, was der Verfasser ihm eigentlich damit sagen wollte. Immerhin waren die Briefe reine Hasstexte, die, zumindest bisher, keinerlei Forderungen beinhaltet hatten. Vielleicht versprach er sich auch nur irgendeine Art von Reaktion, aber diese Genugtuung würde Seto dem Autor der Briefe nicht geben.   Er hatte es eine ganze Weile geschafft, es vor Joey geheim zu halten. Er hatte ihn nicht unnötig besorgen wollen, weil Seto selbst auch nicht daran glaubte, dass sie irgendwelche ernsthaften Konsequenzen zu erwarten hätten. Aber irgendwann hatte Joey es doch rausgefunden – weil Seto einen der Briefe offen auf seinem Schreibtisch liegen gelassen hatte. Er hatte offensichtlich absolut gar nichts aus dem Drama mit dem Ordner gelernt. Auf der anderen Seite hatte er sich auch schon gefragt, ob er ihn nicht absichtlich hatte liegen lassen, damit Joey ihn fand.   Seto seufzte erneut auf. Wenn dem wirklich so gewesen war, dann hatte in dem Moment sein Unterbewusstsein die Kontrolle übernommen. Es war jetzt auch egal, denn nun war es nicht mehr zu ändern, und er Blonde hatte immer und immer wieder versucht, ihn dazu zu bewegen, etwas zu unternehmen, aber er hatte sich bisher erfolgreich dagegen behaupten können. Zumindest vor Mokuba hatte er es bislang geschafft, es zu verbergen.   In dem Moment klopfte es an der Tür, und – wie könnte es anders sein – Joey streckte den Kopf durch die Tür. Seto konnte sofort erkennen, dass der Blonde die Stirn runzelte, kaum hatte er einen Blick auf Seto geworfen.    „Hey, alles okay, Seto?“ Joey trat einen Schritt in sein Arbeitszimmer und schloss hinter sich die Tür, während er in ruhigen Schritten auf ihn zukam. Der Brünette atmete tief durch, dann legte er ein leichtes Lächeln auf die Lippen in der Hoffnung, dass das Joey so ablenken würde, dass er unauffällig den geöffneten Umschlag in den Papierkorb verschwinden lassen konnte.   „Ja, nur ein bisschen viel Arbeit, sonst nichts“, antwortete Seto, aber das schien Joeys Skepsis nicht zu vertreiben. Er zog die Augen ein wenig zusammen, und erneut war eine tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen zu erkennen, als er sagte: „Ist das so? Dann reden wir doch mal darüber, warum du mich gerade anlügst.“   Joey überkreuzte die Arme vor dem Körper und lehnte sich seitwärts gegen eine Wand, die Augen erwartungsvoll auf Seto gerichtet, eine Augenbraue leicht nach oben gezogen. Erneut legte sich ein Lächeln auf Setos Lippen, nur mit dem Unterschied, dass es dieses Mal tatsächlich echt war. Der Braunhaarige musste ein wenig den Kopf schütteln - wie Joey es immer schaffte, ihn so knallhart zu durchschauen, war schon atemberaubend. Aber er kannte ihn immerhin auch besser als jeder andere Mensch.   Als sich der Größere weiterhin in Schweigen hüllte, stieß sich Joey seufzend von der Wand ab und setzte sich auf den Tisch vor Seto, der sofort mit seinem Bürostuhl näher an Joey ranrutschte und seine Hände auf den Oberschenkeln des Blonden ablegte. Joey beäugte ihn noch einmal misstrauisch, dann sagte er: „Es ist ein neuer Brief, oder?“   Seto musste eigentlich gar nichts darauf erwidern, weil seine Augen diesen Job sowieso für ihn erledigen würden. Dennoch nickte er leicht, und kurz darauf spürte er Joeys Hände auf seinen. Der Argwohn war aus den Augen des Blonden verschwunden und hatte inzwischen Platz gemacht für Besorgnis, dicht gefolgt von einem Anflug von Wut. Er hob eine Hand an, und bevor Seto sich’s versah, schnippte er ihm gegen die Stirn.   „Keine Geheimnisse mehr, schon vergessen? Ich kann das echt nicht leiden, wenn du was vor mir verheimlichen willst.“ Joey wirkte tatsächlich ziemlich verärgert, und Seto konnte es ihm auch nicht verübeln. Seufzend zog er sich wieder näher zum Tisch heran und legte seinen Kopf auf Joeys Oberschenkeln ab, bevor er antwortete: „Ich weiß, mein Hündchen. Aber ich will nicht, dass du dir unnötig Sorgen machst.“   Joey schwieg zunächst, atmete dann ein Mal laut aus und fing an, Seto durch die Haare zu streicheln. „Selbst, wenn dem so ist, ich möchte, dass du es mir erzählst. Okay? Bitte versprich mir das.“   Seto schloss die Augen, genoss die Berührungen des Blonden, der seinen Kopf noch immer zärtlich liebkoste, und nickte. „Okay. Aber es ist wirklich nichts, worüber du dir deinen Kopf zerbrechen solltest.“   Nun drehte Joey Setos Kopf so, dass er ihn anschauen musste, und sofort konnte er genau die Emotion im Gesicht des Blonden ablesen, die er nicht hatte auslösen wollen. „Ich sehe das anders, Seto. Willst du wirklich nicht die Polizei einschalten? Ich will nicht, dass dir was passiert.“ Sorgenfalten breiteten sich in Joeys ganzem Gesicht aus, während Seto nun aufstand und Joeys Kopf in beide Hände nahm.   „Mir passiert schon nichts. Mach dir darüber mal keine Sorgen, dafür habe ich doch mein Sicherheitspersonal. Ich will außerdem nicht, dass das an die Öffentlichkeit dringt. Das würde es im Zweifel nämlich nur noch schlimmer machen.“   „Aber...“   „Kein ‚Aber‘, Joey. Das ist mein letztes Wort.“ Noch immer waren Joey all seine Vorbehalte deutlich ins Gesicht geschrieben. Daher zog Seto dessen Gesicht nun zu sich ran und schenkte ihm einen zärtlichen Kuss, und als sie sich wieder lösten, schien Joeys Gemütszustand schon wieder ein wenig sanfter zu sein.   Ein Lächeln legte sich auf Setos Lippen, und während er mit dem Daumen behutsam die Stelle unter Joeys rechtem Ohr streichelte, fragte er: „Aber weißt du, worüber wir uns stattdessen mal Gedanken machen sollten?“   Sein verzweifelter Versuch, das Thema zu wechseln, ließ den Blonden schief grinsen, aber offensichtlich gab er es nun vollständig auf, die Problematik um die Briefe näher zu erörtern. „Na?“, fragte Joey und die Belustigung war ganz klar in seiner Stimme rauszuhören.   Seto lächelte zufrieden, als er antwortete: „Mokubas Geburtstag. Der ist schon in einer Woche. Irgendeine Idee, was wir ihm schenken könnten?“   Joey lehnte sich ein wenig nach vorn, umarmte Seto an der Taille und legte seinen Kopf an dessen Brust. Er schien zu überlegen, murmelte ein kurzes ‚Hm‘, bevor er wenige Augenblicke später vorschlug: „Wie wäre es mit einem Ausflug ins Kaiba-Land? Das haben wir schon ewig nicht mehr gemacht. Wo ich jetzt so darüber nachdenke, nur ein Mal, kurz vor Weihnachten letztes Jahr. Kannst du dich daran noch erinnern?“   Daraufhin musste Seto lachen, und er hob Joeys Kinn an, damit er ihn wieder ansehen musste. „Natürlich kann ich mich noch daran erinnern. Wie könnte ich auch nicht?“   Setos Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, zauberten Joey dieses zuckersüße Lächeln ins Gesicht, dem der Brünette niemals würde widerstehen können. Er beugte sich zu ihm runter und gab ihm erneut einen liebevollen Kuss, während Joey seine Arme noch ein wenig enger um ihn schlang.   Als sie sich wieder voneinander lösten, fragte Joey: „Oder ist Kaiba-Land zu einfallslos? Immerhin gehört der Laden sowieso euch.“   Seto strich Joey eine blonde Strähne aus der Stirn, bevor er erwiderte: „Nein, ich glaube, das wäre eine ziemlich gute Idee. Immerhin werden im Frühjahr auch immer die neuen Attraktionen installiert, und die hat Mokuba ja bisher noch gar nicht gesehen. Ich glaube, das könnte ihm Spaß machen. Ich würde ihm vielleicht trotzdem noch ein weiteres Geschenk kaufen. Ich überleg‘ mir was.“   Daraufhin erhob sich Joey vom Schreibtisch, legte die Arme um Setos Hals und zog ihn wieder etwas näher zu sich, sodass sich ihre Nasenspitzen schon fast berühren konnten. „Okay, klingt nach einem Plan. Und was machen wir jetzt mit dem Rest des Abends?“   Seto grinste und zog Joey erneut enger an sich. Mit verführerischer Stimme fragte er: „Hm, ich weiß nicht, hast du einen Vorschlag?“   Joey stellte sich leicht auf die Zehenspitzen, um Setos Gesicht besser zu erreichen, und kurz bevor sich ihre Lippen trafen, antwortete er: „Mir würde da schon was einfallen.“   Ein paar Tage später wurde in dem Café, in dem Joey bisher gearbeitet hatte, eine Abschiedsfeier für ihn gegeben. Es waren die letzten Tage gewesen, die Joey dort ausgeholfen hatte, denn nun würde er seine Tätigkeit im Waisenhaus in Vollzeit aufnehmen. Schon ein paar Tage vor der Party hatte Seto an Joey bemerkt, dass es ihn ein wenig melancholisch gemacht hatte, aber der Brünette hatte ja auch gewusst, wie viel ihm diese Arbeit dort bedeutet hatte. Manchmal fragte er sich selbst, ob es ein Fehler gewesen war, Joey die Arbeit im Waisenhaus vorzuschlagen. Immerhin hatte es ihn erst in die missliche Lage gebracht, eine Auswahl treffen zu müssen. Aber am Ende hatte Seto eingesehen, dass es doch die richtige Entscheidung gewesen war, weil Joey recht schnell zu dem Entschluss gelangt war, dass die Arbeit im Waisenhaus genau das Richtige für ihn war.   Joey hatte Seto gebeten, auch zur Feier zu kommen. Zwar konnte der Braunhaarige mit Feierlichkeiten aller Art nicht so viel anfangen, aber Joey einen Wunsch abzuschlagen, war schon fast ein Ding der Unmöglichkeit. Auf dem Weg zu Joeys bisheriger Arbeitsstelle hatte Seto noch schnell ein Geburtstagsgeschenk für Mokuba besorgt – ein neues Handy. Mittlerweile war sein kleiner Bruder wirklich alt genug, ein Handy der neuesten Generation zu besitzen. Am Anfang hatte Seto ihm nur etwas ältere Handys erlaubt, um zu schauen, ob er es nicht am laufenden Band verlieren würde. Seto hasste es, unnötig Geld auszugeben, auch wenn das Geld für ein Handy ihm nicht wirklich weh tat. Dennoch, hätte Mokuba ständig ein neues gebraucht, wäre es reine Geldverschwendung gewesen, ihm immer die tollsten, neuesten Handys zu schenken. Aber er hatte sich Setos Vertrauen erarbeitet und war tatsächlich sehr sorgfältig mit seinen Besitztümern umgegangen. Und der Brünette wusste, dass er Mokuba nun einen kleinen Herzenswunsch erfüllen würde, und er freute sich jetzt schon auf das strahlende Lächeln, das das auslösen würde. Er ließ das Geschenk im Wagen, öffnete die Tür und machte sich auf den Weg in das kleine Gebäude.   Als er gerade die Tür zum Café öffnete und eintrat, rieselte ein bunter Konfettiregen auf Joey hinab. Sein Hündchen stand inmitten seiner – nunmehr ehemaligen – Kollegen, die nacheinander die Konfettikanonen auf ihn abfeuerten, und auch Seto bekam was ab. Als Joey sich dann zu ihm umdrehte, hatte er wieder dieses herzerwärmende Lächeln auf den Lippen, und die Geschwindigkeit von Setos Herzschlägen passte sich der Melodie des schnellen Jazz-Songs im Hintergrund an.   Seto wurde von Joey an der Hand genommen und weiter in den Raum reingezogen und freundlich lächelnd von allen Anwesenden begrüßt. Er nickte ihnen zu, aber seine Mundwinkel zogen sich dabei nicht nach oben. Das zu sehen, würde auf ewig nur seinem Hündchen vorbehalten bleiben. Und manchmal auch Mokuba, zumindest wenn er keinen Unfug anstellte. Aber er sprach hier immerhin von Mokuba Kaiba – wann war das jemals vorgekommen?   Die Stimmung war ausgelassen, es wurde getrunken, gegessen, geredet, aber Seto hielt sich, wie auf allen anderen Partys sonst auch, stark im Hintergrund, saß allein an einem Tisch in der Ecke, während Joey sich angeregt mit seinen Mitmenschen unterhielt. Der Braunhaarige war unterdessen damit beschäftigt, noch die letzten Vorbereitungen für Mokubas Geburtstag im Kaiba-Land in ein paar Tagen zu treffen und schickte daher etliche Nachrichten an einige seiner Mitarbeiter.   Er war so vertieft, dass er gar nicht mitbekam, wie Joey sich zu ihm an den Tisch gesetzt hatte. Erst, als dieser sich räusperte, schaute Seto auf und konnte den Blonden frech grinsen sehen, kurz bevor er seine Hand nahm und sie behutsam streichelte. „Hey“, sagte Joey, und aus dem flapsigen Grinsen wurde ein sanftes. Setos Mundwinkel zuckten nach oben, und nach einem kurzen Blick in alle Richtung konnte er nüchtern feststellen, dass keiner sie beobachtete, also folgte er seinem Impuls und erwiderte das Lächeln. „Hey“, spiegelte er Joeys Begrüßung und legte das Handy zur Seite. Er wusste, wie sehr es den Blonden störte, wenn er es sich vor die Nase hielt, wenn sich sein Hündchen mit ihm unterhalten wollte. Seto gab nicht immer nach, aber da das allermeiste sowieso schon vorbereitet war, gab es keinen Grund, es dieses Mal nicht zu tun. Außerdem wollte er Joey einen schönen letzten Tag im Café bereiten, und auch wenn er ihre kleinen Streitereien im Alltag noch immer sehr schätzte, so musste er es ja nicht in diesem Moment provozieren.   „Hast du Spaß, mein Hündchen?“, fragte Seto und nahm sofort Notiz davon, wie Joeys Augen noch mehr strahlten und glänzten. Mit euphorischem Unterton antwortete der Blonde: „Ja, und wie! Danke, dass du hergekommen bist, das bedeutet mir viel.“ Er stockte für einen kurzen Augenblick, bevor er nun auch Setos zweite Hand nahm und ihm noch tiefer in die Augen sah. „So schwer mir der Abschied hier auch fällt, ich freue mich wirklich sehr auf meine Zukunft. Unsere Zukunft.“   Ihre Finger verschränkten sich ineinander, den Blick weiter unnachgiebig auf den jeweils anderen gerichtet. Was würde die Zukunft wohl für sie beide bereit halten? Wie genau würde sie aussehen? Was für Wünsche und Vorstellungen hatte Joey eigentlich von der Zukunft? Seto nahm sich vor, das alles irgendwann mal zu erfragen, sich aber auch selbst Gedanken darüber zu machen, was er sich für sein eigenes Leben vorstellte. Bisher hatte es immer nur aus Mokuba und der KaibaCorp bestanden, aber seit der blonde Wirbelwind vor ihm sein Herz im Sturm erobert und sich einfach so in sein Leben geschlichen hatte, da hatte er auch seine Welt neu ordnen müssen. Allerdings musste er feststellen, dass es ihm weder schwergefallen war, noch sonderlich viel ausgemacht hatte. Joey war die Liebe seines Lebens, das wusste er, und wie immer ihre Zukunft auch aussehen mochte, sie würden sie zusammen verbringen. Und das war alles, was zählte.   „Sollen wir gehen?“, unterbrach Joey seine Gedankengänge. Seto nickte - er hatte gar nicht gemerkt, wie spät es schon geworden war - und ließ Joey alle Zeit, die er brauchte, um sich von seinen Kollegen zu verabschieden. Er hörte, wie Joey ihnen versprach, ab und zu mal vorbeizuschauen, wenn auch nicht mehr in der Funktion eines Mitarbeiters, aber als Gast. Und wenn Joey es wollte, würde Seto ihn gern begleiten. Das Café hatte Charme, und auch wenn Joey einen nicht unerheblichen Beitrag zur positiven Atmosphäre leistete, so war es doch auch an sich schon ein schöner Ort, der zum Verweilen einlud. Nicht, dass Seto sich jemals viel daraus gemacht hätte, sinnlos Zeit an einem Ort zu verschwenden. Aber mit Joey an seiner Seite gab es so etwas wie vergeudete Zeit nicht – sie war immer sinnvoll.   Nachdem Joey sich von allen verabschiedet hatte, gingen sie gemeinsam raus, während die Glocke am Eingang das letzte Mal für den Blonden läutete, als er noch kein normaler Gast gewesen war. Die Sonne war bereits untergegangen und sie wurden vom Licht der Sterne und seichtem Abendwind begrüßt, der zudem auch noch immer ziemlich warm war. Der Hochsommer in Japan konnte ziemlich erdrückend sein, deshalb konnte Seto es nicht abwarten, in die klimatisierte Limousine zu steigen.   Und gerade, als sie sich auf den Weg in eben diese machen wollten, nahmen sie eine dunkle Gestalt vor sich wahr und zögerten. Seto hatte sofort das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Die Person stand so, dass sie nur schemenhaft zu erkennen war, wie ein Schatten in der Nacht, und doch hatte es etwas Bedrohliches an sich. Sie waren stehen geblieben, auch wenn die Person noch nichts gesagt hatte, und unbewusst hatte sich Seto leicht vor Joey gestellt.   Dann, und Seto konnte nicht sagen, wie viel Zeit bis hierhin vergangen war, sprach der Schatten die ersten Worte. „Hallo, Mr. Kaiba.“ Seto kniff die Augen ein wenig zusammen in der Hoffnung, dann mehr von der Person erkennen zu können, aber es hatte keinen Zweck. Dennoch, die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber woher nur?   Der Mann vor ihnen trat nun ein paar Schritte auf sie zu, und im Licht der Straßenlaternen konnte Seto sehen, dass er komplett vermummt und in schwarz gekleidet war. Er wollte offensichtlich weder erkannt werden noch groß auffallen. „Ich hoffe, Ihnen haben meine Briefe gefallen.“ Setos Augen weiteten sich und er konnte aus dem Augenwinkel erkennen, dass Joey scharf einatmen musste. Für den Bruchteil einer Sekunde schaute er zu ihm rüber. Er sah nervös aus. Seto atmete ein Mal tief durch. Er musste Ruhe bewahren und versuchen, die Situation zu entschärfen.   Also antwortete er: „Ich habe die Briefe erhalten. Ich weiß nur nicht genau, was Sie damit bezwecken wollten. Oder wer Sie sind und was Sie von mir wollen.“ Gehässiges Lachen, dann antwortete der Mann: „Ich will, dass Sie leiden, Mr. Kaiba. So, wie ich gelitten habe.“   Seto wusste noch immer nicht so genau, was hier eigentlich gerade passierte. Dass er durchaus einige Feinde hatte, war nicht weiter verwunderlich. Aber welches Leid hatte er diesem Mann denn angetan? Er konnte sich nicht erinnern, jemandem mal persönlichen, oder besser gesagt körperlichen Schaden zugefügt zu haben. Vielleicht ein Konkurrent aus einer anderen Firma? Jemand, den er im Duell geschlagen hatte? Wer nur war dieser Mann?   Erst zwei kurze Klickgeräusche brachten Seto zurück in die Realität – und er plötzlich wahrnahm, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war. Er spürte, wie ihm der Atem stockte und er sich für eine Sekunde nicht bewegen konnte. Er wusste zwar nicht, was das alles sollte, aber er musste irgendwie für eine Deeskalation der Gesamtsituation sorgen.   „Ich weiß noch immer nicht, was genau Sie von mir wollen, aber ich bin sicher, wir finden eine Lösung, wenn Sie die Waffe runternehmen“, erklärte Seto, doch der Mann lachte nur hämisch.    „Jetzt können Sie mich nicht mehr ignorieren, oder? Aber wissen Sie was? Jetzt ist es zu spät. Und Sie werden jetzt die Konsequenzen dafür zu spüren kriegen.“   Und als der Angreifer die Pistole wie in Zeitlupe von Seto zu Joey schwenkte, verfiel Seto sofort in Panik. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, schubste er Joey zur Seite, gerade noch rechtzeitig, bevor der Mann nur einen Augenaufschlag später die Waffe abfeuerte und es einen lauten Knall gab.   Seto spürte sofort einen heftigen Schmerz in der Brust, er hatte augenblicklich Schwierigkeiten zu atmen. Er spürte eine warme Flüssigkeit an seinen Händen – und sie war rot. Und nur den Bruchteil einer Sekunde später wurde die Welt um ihn herum schwarz.   ~~~~   Die Zeit schien still zu stehen, während Joey beobachtete, wie Seto zu Boden ging, nur Millisekunden, nachdem er ihn selbst zur Seite gestoßen hatte. Er hatte den Schuss gehört, aber jetzt waren plötzlich alle Geräusche weg. Es war so still. Alles war wie gedämpft. Das einzige Geräusch, das er wahrnehmen konnte, war sein Herzschlag in seinen Ohren, das Rauschen seines Blutes. Sein Atem ging schnell und abgehackt.   Noch immer saß er auf dem Boden, auf dem er gerade unsanft aufgekommen war, mit den Händen abgestützt und sein Blick auf Seto gerichtet. Für einen kurzen Moment hatte er den Schmerz in Setos Gesicht aufflackern sehen, bevor er zusammengebrochen und bewusstlos geworden war. Aber Joey konnte noch immer nichts tun. Er war wie gelähmt, unfähig, sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu bewegen, selbst dann noch, als sich der Pflastersteinboden vor dem Café immer mehr mit Setos Blut füllte.   Joeys Atem beschleunigte sich und es schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte schreien, aber kein Ton verließ seine Kehle. Er wollte sich auf Seto stürzen, ihn schütteln, damit er wieder aufwachte, aber seine Glieder bewegten sich nicht. Er wollte weinen, die Emotionen rauslassen, aber es ging nicht. Sein ganzer Körper gehorchte ihm nicht. Er war sein eigener Gefangener, verloren in den Tiefen seiner Panik und des Schocks.   Er kam sich vor wie in einem Traum, den er selbst nicht kontrollieren konnte. Er konnte einzelne Personen ausmachen, die hektisch hin- und herliefen, zwischen ihm und Seto, aber seine Sicht verschwamm ständig vor seinen Augen. Er war unfähig, einen Punkt zu fokussieren, sah nur die rote Flüssigkeit vor sich, die sich stetig zu vermehren schien. Immer wieder wurde er angesprochen, aber die Worte drangen nicht vollständig zu ihm durch.   Warum nur konnte er Seto nicht helfen? Was war los mit ihm? Er musste etwas tun, irgendwas! Sein ganzes Inneres explodierte vor Schmerz. Was, wenn Seto...   In dem Moment platzte ein Teil des Knotens in ihm und es war, als wenn Joey aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht war. Seine Sicht wurde klarer, er nahm alle Geräusche deutlicher wahr, hörte viele Menschen durcheinander schreien. Er bemerkte die Sirenen des Krankenwagens, die immer näher kamen. Joeys Augen füllten sich allmählich mit Tränen, die dann in großen Bächen sein Gesicht hinunterflossen. Doch auch, als die Sanitäter Seto auf eine große Trage hievten, konnte Joey sich nicht bewegen, er konnte noch immer nur verfolgen, was passierte, doch mit jeder Sekunde, die verging, schärften sich seine Sinne mehr und mehr.   Dann wandten sich die Notfallsanitäter ihm zu. „Mr. Wheeler, geht es Ihnen gut? Sind Sie verletzt?“ Joey konnte nicht mehr tun, als mit dem Kopf zu schütteln, sein Blick noch immer starr und geschockt auf Seto gerichtet, der unbeweglich auf der Trage lag.   „Mr. Wheeler, wir müssen Sie mit ins Krankenhaus nehmen, um Sie zu untersuchen“, wurde er erneut angesprochen, und er ließ sich von dem jungen Mann hochziehen. Sie folgten den anderen Sanitätern, die Seto nun in den Krankenwagen beförderten, und auch Joey stieg ein. Er war überrascht, dass er es schaffte, sich jetzt doch zu bewegen, aber er merkte schnell, dass er an beiden Armen mehr oder weniger von den anderen Rettungshelfern in die richtige Richtung geschleift und ebenfalls in den Wagen gebracht wurde.   Die Zeit bis ins Krankenhaus verging quälend langsam. Immer wieder wurde er angesprochen, sein Blutdruck wurde gemessen und verschiedenste Untersuchungen durchgeführt, aber er starrte weiterhin auf Seto, der deutlich mehr über sich ergehen lassen musste. Die Sanitäter hatten es geschafft, die Blutung einigermaßen zu stoppen. Seto trug eine Atemmaske, überall an seinem Körper wurden Sensoren angebracht und er wurde an einen Tropf angeschlossen, sodass ein Schlauch seinen Arm verließ. Ein Monitor, der im Hintergrund immer mal wieder piepste, zeigte dessen Vitaldaten, und Joeys Blick wanderte nun zu diesem Gerät. Es war nicht schwer zu erkennen, dass Setos Blutdruck und Puls viel zu niedrig waren, genauso wie seine Körpertemperatur.   Joey wurde erneut von einer Panik ergriffen, und bevor er es selbst richtig realisieren konnte, brach er in Tränen aus und schluchzte unkontrollierbar. Er hatte das Gefühl, nicht atmen zu können, so als wenn sich ein Kloß in seinem Hals eingenistet hätte, der den Weg der Luft in seine Lungen versperrte. Er merkte, wie er anfing, zu zittern, und ihn überkam das Gefühl, als müsste er sich gleich übergeben.   Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um das möglichst zu verhindern, als er plötzlich eine fremde Hand auf seiner Schulter spürte. „Wir tun, was wir können, Mr. Wheeler“, hörte er einen der Rettungssanitäter sagen, und mit tränenverschleiertem Blick schaute er ihm ins Gesicht. Er konnte einen Anflug von Verzweiflung in dessen Augen erkennen, und das konnte nur eines bedeuten – es war nicht sicher, dass Seto es schaffen würde.   Beim Krankenhaus angekommen, fand Joey die Kraft in seinen Gliedern einigermaßen wieder. Er stieg zusammen mit den Sanitätern und Seto, noch immer auf der Trage liegend, aus dem Krankenwagen und wich ihm nicht von der Seite. Gemeinsam mit den Notfallhelfern lief er durch ein Wirrwarr an Gängen, so kam es Joey zumindest vor. Als plötzlich eine von Setos Händen von der Trage runterrutschte, nahm Joey sie sofort in seine – sie war eiskalt, und das jagte Joey einen ebenso kühlen Schauer über den Rücken, bevor die nächste Panikattacke ihn ereilte.   Die weit aufgerissenen Augen auf Seto gerichtet, nahm er nur vage wahr, wie ein Arzt zu der Gruppe dazustieß und sich mit den Sanitätern über Setos Zustand unterhielt. Er schnappte ein paar Wortfetzen auf, was erneut alle Luft aus seinen Lungen presste.   „Sein Zustand ist kritisch.“   „Er muss sofort in den OP.“   „Schwester, bereiten Sie so schnell es geht alles vor.“   Eine Tür öffnete sich wie automatisch vor ihnen, und gerade, als Joey mit ihnen hindurchgehen wollte, wurde er vom Arzt aufgehalten. „Sie dürfen nicht mit rein, Mr. Wheeler. Wir müssen Mr. Kaiba so schnell es geht operieren. Bitte warten Sie hier draußen, ich melde mich, sobald wir mehr wissen. Ich schicke eine Schwester, damit sie nach Ihnen sieht.“   In diesem Moment ließ Joey Setos Hand aus seiner eigenen gleiten, und der Arzt verschwand mit dem Krankenhauspersonal. Und als sich die Tür vor Joey wieder schloss, spürte er die Verzweiflung und den Schmerz über die Ungewissheit, was jetzt passieren würde, in jeder Zelle seines Körpers.   Gerade noch so, bevor er auf dem Boden zusammen sacken konnte, schaffte er es, sich auf einen Stuhl inmitten einer Stuhlreihe am Rande des Ganges zu setzen. Er stützte seinen Kopf auf den Ellenbogen ab, die er auf seinen Oberschenkeln aufsetzte, und ließ nun allen Tränen und auch seinen Gedanken freien Lauf.   Warum hatte Seto das gemacht? Warum hatte er sich vor ihn geworfen? Der Angreifer hatte es ganz offensichtlich auf ihn abgesehen gehabt. Alles war so schnell gegangen. Es war Seto gewesen, der das Gespräch mit dem Mann geführt hatte, aber selbst, wenn Joey gewollt hätte, er hätte keinen Ton rausbringen können. Die schemenhafte Gestalt war ihm schon gruselig vorgekommen, als sie noch auf Distanz gewesen war, aber kaum hatte sie eine Pistole auf Seto gerichtet, und schlussendlich ja auch auf ihn, war er einer Schockstarre verfallen, aus der er nicht hatte ausbrechen können.   Wer war dieser Mann überhaupt? Hatte Seto ihn erkannt? Wenn Joey es richtig verstanden hatte, war er wohl der Absender der Drohbriefe, die Seto in letzter Zeit erhalten hatte. Er hatte was darüber gesagt, dass er Seto dasselbe Leid zufügen wollte, wie er selbst erfahren hatte. Kannten sich die beiden? Was hatte ihn dazu verleitet, zu solch drastischen Mitteln zu greifen?   Plötzlich erfasste ihn eine unbändige Wut auf diesen Unmenschen, der Seto das angetan hatte. Denn es war vollkommen egal, was zwischen ihnen passiert war – so weit hätte es nicht kommen dürfen. Und überhaupt, wo waren die verdammten Sicherheitskräfte von Seto gewesen, jetzt, wo sie sie so dringend benötigt hätten? Joey wurde heiß und er hatte das Gefühl, gleich wahnsinnig zu werden. Am liebsten hätte er seine Faust in die steinharte Wand vor ihm geschlagen, immer und immer wieder, in der Hoffnung, dass damit all seine Wut und gleichzeitig die Verzweiflung abnehmen würden. Aber das wäre nicht mehr als Wunschdenken. Das würde Seto jetzt auch nicht helfen. Und es würde auch nicht ungeschehen machen, was passiert war.   Joeys Blick war nach unten auf seine Oberschenkel gerichtet, seine Hände lagen nun zu Fäusten geballt darauf, als sich seine Wut auf den Angreifer plötzlich auf jemand anderen richtete – auf sich selbst. Was machte er sich hier eigentlich vor? Er war es, der Seto nicht hatte helfen können, als er ihn am meisten gebraucht hatte. Er hatte ihn im Stich gelassen, als er bewusstlos und blutend auf dem Boden gelegen hatte. Hatte sich nicht bewegen können, auch wenn er es so gern gewollt hätte. Hätte Seto bessere Chancen, wenn er sich dazu hätte durchringen können? Wenn er sich hätte zusammenreißen können? Wenn er einfach, verdammt noch mal, aufgestanden und ihm zur Hilfe geeilt wäre?   Halb schluchzend, halb lachend, schnaubte Joey auf, und die Verachtung auf sich selbst wurde in seinem Tonfall ziemlich offensichtlich. Nein, seine Schuld begann noch viel früher. Er hatte ihn schon im Stich gelassen, als er nicht konsequent genug darauf bestanden hatte, dass Seto die Polizei einschaltete. Er hätte es besser wissen müssen. Seto hatte die Briefe immer als leere Drohung abgetan, aber für Joey hatte das nie so geklungen. Wieso nur hatte er nicht einfach selbst gehandelt? Warum hatte er nicht einfach selbst die Polizei gerufen? Es war seine Schuld, alles, was Seto jetzt durchstehen musste, erlitt er nur, weil Joey nicht den verdammten Arsch in der Hose gehabt hatte, entsprechende Maßnahmen gegen die Briefe zu ergreifen. Und wenn Seto jetzt starb, dann würde er sich das niemals verzeihen können.   „...ey!...oey! Joey!“ Er blickte hoch und sah Mokuba vor sich stehen, der ihn schüttelte. Wie lange war der Kleinere wohl schon hier? Wie lange hatte er versucht, Joey aus seinen Gedanken zu befreien? Und wie hatte er überhaupt erfahren, dass er hier war?   Dieses Rätsel löste Mokuba schnell auf, als er sagte: „Das Krankenhaus hat mich angerufen und ich bin so schnell ich konnte hergekommen. Geht es dir gut Joey?“   Ob es... ob es ihm gut ging? Warum war das von Relevanz? Es war Seto, der im OP-Saal nun um sein Leben kämpfte, nicht Joey, obwohl er an seiner Stelle dort sein sollte.    Nur eine Sekunde später spürte er, wie sein Mageninhalt seine Speiseröhre hinauf lief, und gerade noch rechtzeitig stürzte er sich auf den Mülleimer neben der Stuhlreihe und ließ alles aus seinem Mund raus, bis nichts mehr übrig war und nur noch Magensäure rauskam. Ihm brannte die Kehle, genau wie seine Augen, die noch immer unaufhaltsam von Tränen überschwemmt wurden.   Joey sackte nun endgültig auf dem Boden zusammen. Er wollte nicht mehr aufstehen, er hatte keine Kraft mehr dazu. Er war es, der hätte sterben sollen. Nicht Seto. Oh Gott, was, wenn er die Liebe seines Lebens nie wiedersehen würde? Wie nur sollte er dann weiterleben können? Wie könnte er Mokuba jemals wieder unter die Augen treten? Oder irgendjemandem sonst? Wie sollte er mit der Schuld, dass das alles seinetwegen passiert war, jemals fertig werden können?   Joeys verzweifelte Schreie hallten in allen Gängen des Krankenhauses wider, während Mokuba seine Arme um ihn schlang und sich ebenfalls seinem lauten Schluchzen hingab. Er hörte, wie Mokuba immer wieder etwas sagte, aber seine Worte erreichten ihn nicht. Er konnte deren Bedeutung nicht verstehen, weil alles in seinem Kopf sich drehte, und der Schmerz, den er fühlte, all die Angst, keinen Platz ließen für andere Gedanken. Alles, woran er denken konnte, war der Mann mit den eisblauen Augen, der einsam und allein in einem verdammten OP-Saal um sein Überleben kämpfte.   Seto, sein Drache – er hatte ihn so oft schon in seinem Leben gerettet, immer und immer wieder. Und nun war es Joey gewesen, der ihn nicht hatte retten können. Und Joey wusste – wenn er Seto nie wiedersehen würde, wenn er tatsächlich starb und für immer aus seinem Leben verschwinden würde, dann wäre auch sein eigenes Dasein vorbei. Weil alles, was dem einen Sinn gab, fort wäre. Weil er dann alles verloren hätte, wofür es sich jemals zu kämpfen gelohnt hatte. Aber sollte dieser Fall eintreffen, dann wusste er, was zu tun wäre. Und dieses Mal würde es niemanden geben, der ihn davon würde abhalten können – weil der Einzige, der das jemals geschafft hatte, nicht mehr da wäre. Und sollte all das wirklich zur Realität werden und diesen Schritt notwendig machen, dann wusste Joey – sie würden schlussendlich doch wieder vereint sein. Wenn auch erst im Tod. Kapitel 32: Rescue me... Stay with me! -------------------------------------- Joey wusste nicht, wie lange er am Ende in diesem Gang gesessen hatte. Die Zeit war wie im Schneckentempo vergangen und stand damit im krassen Gegensatz zu der Geschwindigkeit seines Herzens, das noch immer rasend hinter seiner Brust schlug. Irgendwann war eine Krankenschwester aufgetaucht und hatte ihn untersucht. Er war mental so abwesend gewesen, dass er es einfach hat über sich ergehen lassen. Innerlich war er absolut leer.   Nachdem er alle Emotionen rausgelassen hatte, war nichts mehr übrig geblieben. In seinem Kopf war nur völlige Dunkelheit zurückgeblieben. Diese Dunkelheit breitete sich langsam, Stück für Stück, über seinen ganzen Körper aus, und er wusste, wenn Seto starb, würde sie sein ganzes Leben einnehmen. Es würde keine einzige Lichtquelle mehr zurückbleiben.   Mokuba hatte ihn die ganze Zeit über mit besorgtem Blick beobachtet, das konnte Joey aus dem Augenwinkel heraus sehen. Nach der ausgiebigen Untersuchung hatte die Krankenschwester festgestellt, dass er nicht mehr als einen mentalen Schock erlebt hatte, aber körperlich unversehrt war. Aber was es denn so? Joey konnte dem nicht unbedingt zustimmen. Nichts an ihm war unversehrt. Alles tat ihm weh: Sein Herz hinter seiner Brust wog schwer, die Lungen wie aus Blei, sein Hals so eingeengt, dass er kaum noch Luft bekam. Sein Körper wurde von einer nicht enden wollenden Welle des Schmerzes überzogen, und er konnte absolut nichts dagegen tun.   Die Krankenschwester wollte ihm Beruhigungsmittel geben, aber er lehnte ab – was würde das schon bringen? Was hätte er jetzt davon, wenn sein Herz wieder ruhiger schlagen würde? Das würde Seto auch nicht helfen. Außerdem hatte er das Gefühl, er würde dann mit seiner Aufmerksamkeit noch viel stärker ins Nirwana abdriften, wenn er sich jetzt mit Medikamenten vollpumpen ließe. Allerdings wollte er klar im Kopf sein, sollten sie neue Informationen vom Arzt bekommen, was Setos Zustand betraf, auch wenn Joey noch nicht wusste, wie viel Zeit bis dahin vergehen würde. Oder wie dieser Bericht aussehen würde.   Was würde passieren, wenn Seto starb? Rein objektiv betrachtet würde es vermutlich ziemlich großes Aufsehen geben. Er würde von Journalisten belagert werden, aber keine ihrer Fragen beantworten können, weil er selbst nicht wusste, was eigentlich passiert war beziehungsweise wie sie sich in diese Situation reinmanövriert hatten. Es würde eine Beerdigung geben, vermutlich würde Mokuba ein paar Worte sagen, genauso wie Joey. Und dann wäre es vorbei. Und er stand vor einer Wahl, die er niemals haben wollte: Ein Leben ohne Seto, oder ihre Wiedervereinigung im Jenseits, wie auch immer das aussehen würde.   Die metaphorische Schlinge um Joeys Hals zog sich enger, bis er fast keine Luft mehr bekam. Er wusste, dass es eigentlich nur eine Option gab, wenn es Seto nicht schaffen würde. Wie würde es sich wohl anfühlen, ein drittes Mal auf diesem Hochhaus zu stehen, wohlwissend, dass es nichts und niemanden mehr gab, das oder der ihn retten konnte? Würde Seto ihm dabei zusehen, wo auch immer er sich in diesem Augenblick befand? Wie würde sich der Wind auf Joeys Haut anfühlen, wenn er flog, wenn auch nur für wenige Sekunden? Würde er vornüber fallen wollen, so, wie er es die ersten beiden Male versucht hatte? Nein, dieses Mal würde er anders vorgehen wollen – mit dem Rücken zum Boden, den Blick in den Himmel gerichtet, denn wenn Seto ihm von da oben tatsächlich zusah, dann wollte er ihm dabei in die Augen sehen. Auch wenn das ein wenig unfair wäre – immerhin könnte Seto ihn sehen, andersrum war das aber nicht der Fall.   Wie würde der Himmel aussehen, wenn er es tat? Würde ein Stern besonders hell leuchten, damit Joey wusste, wohin er blicken musste? Oder würde es regnen, wie beim allerersten Mal, und wenn dem so wäre, waren es Setos Tränen darüber, dass Joey nicht den Mut hatte, dieses Leben weiterzuleben? Trotz der überwältigend vielen Fragen wusste er eines ganz sicher: Er würde nicht allein sterben. Er wäre bei ihm, und das gab ihm irgendwie eine besondere Ruhe.    Er erinnerte sich an das erste Mal, damals, als Seto mit dem Hubschrauber aufgetaucht war und ihn mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Wie sehr würde er sich wünschen, das würde auch beim dritten Mal passieren, so es denn dazu kommen würde. Dass Seto einfach auftauchen würde, wenn es sein musste, dann eben auch wieder in seiner gewohnt arroganten Kaiba-Art. Und dann würden sie von vorn beginnen. Es gab nichts, was Joey jetzt mehr wollte. Den Reset-Knopf drücken, zurück auf Anfang, zurück zu diesem schicksalhaften Abend des 6. November des Vorjahres, an dem ihre gemeinsame Reise begonnen hatte. Wenn Joey die Chance hätte, das alles noch mal zu erleben, er würde es tun, um alle Fehler, die er auf diesem Weg bisher gemacht hatte, zu korrigieren. Damit sie ein gemeinsames Leben haben konnten. Damit sie für immer zusammen bleiben könnten. Damit sie sich vor nichts fürchten müssten, weil sie die Gewissheit hatten, dass nichts und niemand sie jemals würde trennen können.   Joeys ganzer Körper krampfte sich zusammen und er konnte nur mit Mühe und Not ein Schluchzen unterdrücken. Wie dumm von ihm. Alle seine Gedanken waren einfach nur dumm. Natürlich würde er diese Möglichkeit niemals haben. Wenn Seto starb, dann würde sein Weg dort auch enden. Er hätte nicht die Kraft, ein Leben zu leben, in dem es ihn nicht mehr gab. Er hatte ja sowieso erst mit ihm und durch ihn einen Überlebenswillen entwickelt. Und wenn er verschwand, einfach so, dann würde sich auch dieser in Luft auflösen.   Ja, er wüsste, was in dem Moment zu tun wäre. Aber noch stand nichts fest, noch konnte er hoffen. Er musste einfach versuchen, sich an diesen winzigen Funken Hoffnung zu klammern, mehr blieb ihm auch eigentlich nicht übrig. Er musste sich dem beugen, was auch immer kam, auch wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass die Liebe seines Lebens bei ihm bleiben würde. Aber darauf hatte er keinen Einfluss. Nicht mehr.   Als die Krankenschwester längst gegangen war, hörte er Mokuba irgendwann neben sich seufzen – und Joeys schlechtes Gewissen, das er bisher nur in Bezug auf Seto gehabt hatte, erweiterte sich nun auch auf Mokuba. Verdammt, Joey war so sehr mit seinem eigenen Schmerz beschäftigt gewesen, dass er total ausgeblendet hatte, wie es Mokuba jetzt gehen musste, und das verpasste ihm einen erneuten Stich ins Herz.   Er sah zu Mokuba rüber. Der Kleinere wirkte erschöpft, und wer konnte es ihm verübeln? Er saß links neben ihm, vornübergebeugt, die Unterarme auf den Oberschenkeln abgestützt, den Blick gesenkt. Er weinte nicht, aber sein angespanntes Gesicht offenbarte ganz deutlich, wie es in seinem Inneren gerade wohl aussehen mochte.   Wieder holten die Gewissensbisse Joey ein, und als er spürte, wie die Tränen zurückkamen, musste er sich abwenden. Er biss sich auf die Unterlippe, bis er den metallischen Geschmack seines Blutes auf seiner Zunge spürte. Erst dann ließ er wieder davon ab.   Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgendwas. „Mokuba, es... tut mir so leid...“, sagte Joey, weil es das Erste war, was ihm eingefallen war, und konnte nicht verhindern, dass er erneut zu schluchzen anfing. Mit den Handballen verdeckte er seine Augen, er schaffte es einfach nicht, Mokuba jetzt direkt ins Gesicht zu schauen. Was war er nur für ein elender Feigling. Sein Mund verzog sich und er kämpfte mit aller Kraft dagegen an, unkontrollierbar loszuweinen.   Dann nahm er ein erneutes Seufzen von Mokuba wahr, und kurze Zeit später auch seine Stimme, als er sagte: „Joey, es ist nicht deine Schuld, hörst du?“ Erst in diesem Moment realisierte Joey, dass Mokuba ja rein gar nichts von den Briefen wusste. Der Blonde bekam Angst. Wenn er es wüsste, würde er ihn dann hassen? Dafür, dass er selbst nicht genug unternommen hatte, und das jetzt der Grund war, warum Seto vielleicht nicht mehr lange zu leben hatte?   Er musste es auf einen Versuch ankommen lassen. Der Kleinere hatte die Wahrheit verdient. Joey ließ den Kopf hängen und seine Haare fielen ihm so ins Gesicht, dass er kaum mehr etwas sehen konnte. Er verschränkte seine Hände in seinem Schoß, den Blick auf die verkeilten Finger gerichtet, dann erzählte er Mokuba von den Briefen, und danach auch von dem Angriff.    Wieder überkam ihn das Gefühl, dass er jetzt anstelle von Seto auf dem OP-Tisch liegen sollte. Er hatte es nicht verdient, hier zu sitzen und frei atmen zu können. Er sollte sterben, nicht Seto, nicht der Mann, der so eine glorreiche Zukunft vor sich hatte. Was war sein eigenes Leben schon wert? Es wäre kein großer Verlust für die Menschheit, wenn Joey nicht mehr da wäre, ganz im Gegensatz dazu, wie es wäre, wenn Seto plötzlich verschwinden würde. Joeys Leben war nicht mehr als das einer Eintagsfliege, die völlig ziel- und planlos durchs Leben glitt, ein Leben, das kaum geringere Wichtigkeit haben konnte. Es war Seto, der diesem Leben überhaupt erst eine Bedeutung gab. Ohne ihn wäre es absolut sinnlos.   Nach Joeys Monolog war es für eine Weile still. Was vermutlich nur Minuten waren, kam Joey wie Stunden vor. Er sah erst wieder hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte – Mokubas Hand. Er sah nun zu ihm auf, und Mokubas Gesichtszüge zeigten, entgegen all seinen Erwartungen, keine Wut. Nein, sie waren eher sanft, auch wenn er seine Trauer über die Geschehnisse nicht verbergen konnte. Aber das war auch keine große Überraschung für Joey.   „Ich weiß, dass mein Bruder ein ziemlicher Dickkopf sein kann, Joey. So, wie ich es verstanden habe, hast du ja versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.“   „Ja, aber es war nicht genug! Ich hätte noch mehr tun sollen! Ich hätte wissen sollen, dass das schlimm endet!“ Gerade, als Joey wieder wie ein Häufchen Elend in sich selbst und seinem Selbstmitleid zusammensinken wollte, stellte sich Mokuba vor ihn hin, griff ihn an beiden Schultern und drückte ihn hoch, sodass der Blonde dem Kleineren nun endlich doch ins Gesicht sehen musste. Sein Blick war ein wenig wütend – ja, genau das hatte Joey auch erwartet. Und verdammt noch mal, er sollte wütend sein. Joey hatte es wirklich verbockt, und wenn er könnte, er würde alles dafür geben, diesen Fehler rückgängig zu machen. Doch jetzt war es zu spät.   Plötzlich fing Mokuba an, Joey zu schütteln, bevor er in bestimmendem Tonfall sagte: „Joey. Lass es mich ganz deutlich sagen: Es. Ist. Nicht. Deine. Schuld! Weißt du, wer an dem Ganzen hier die Schuld trägt? Die Person, die auf meinen Bruder geschossen hat, und nur diese! Und es ist mir egal, wie wir es anstellen, aber wir werden diesen Mann zur Rechenschaft ziehen, komme, was da wolle!“   Verblüfft blickte er Mokuba an. Es war erstaunlich, wie ähnlich er Seto war. Es war nicht das erste Mal, dass er das feststellte, und vermutlich würde es auch nicht das letzte Mal sein, aber es war beeindruckend. Es war für ihn vermutlich ebenso der schwerste Tag in seinem bisherigen Leben, aber er bewies eine Stärke, die Joey so niemals haben würde. Es war beneidenswert.   Mokuba setzte sich zurück auf den Stuhl neben ihn, überkreuzte die Arme und wirkte gedankenverloren. Dann fragte er, den Blick auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet: „Weißt du, wer der Angreifer war?“   Joey überlegte für einen Moment. Vor seinem inneren Auge erschien wieder die dunkle Gestalt, die ihnen vor dem Café aufgelauert hatte. Nichts an ihm kam Joey bekannt vor, auch nicht seine Stimme. Wer nur war dieser Mann, und warum hatte er sie überhaupt angegriffen? Er spürte, wie Wut und Verzweiflung in ihm aufkamen. Warum hatte Joey ihn nicht aufgehalten, als er es noch gekonnt hatte? Dieser verdammte Mistkerl...   Mit zu Fäusten geballten Händen beantwortete er Mokubas Frage. „Nein, aber ich glaube, Seto hat ihn erkannt. Zumindest kam es mir so vor. Sie schienen sich auf jeden Fall zu kennen, ich weiß aber nicht, woher. Fällt dir jemand ein, mit dem Seto in letzter Zeit Stress gehabt hat?“   Mokuba schnaufte verächtlich, bevor er antwortete: „Wie viel Zeit hast du? Die Liste ist lang. Und es könnte vermutlich jeder von ihnen sein.“ Er seufzte. „Ich fürchte, wir müssen darauf hoffen, dass Seto es schafft und uns hoffentlich mehr erzählen kann.“   In dem Moment schien Mokuba die Situation erst richtig bewusst zu werden. Dass Setos Leben gerade auf Messers Schneide stand. Joey konnte sehen, wie seine Augen sich plötzlich weiteten, wie seine Unterlippe anfing zu beben, kurz bevor die ersten Tränen über seine Wangen kullerten. Er musste jetzt stark sein für ihn, so wie Mokuba es gerade für ihn gewesen war.   Er zog den Kleineren in eine Umarmung, und für einige Minuten schluchzte Mokuba hemmungslos an seiner Brust. Danach wurde es ganz still. Jeder hing seinen Gedanken nach. Aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten wurden Stunden, und Joey konnte die Müdigkeit in allen Gliedern fühlen, aber er kämpfte gegen sein natürliches Bedürfnis nach Schlaf an, so gut es eben ging. Er konnte nicht riskieren, nicht wach zu sein, wenn sie erfahren würden, wie die OP ausgegangen war.   Als die ersten Sonnenstrahlen den nächsten Tag ankündigten, öffnete sich die Tür und ein Arzt trat hinaus. Er war kurz überrascht, Mokuba zu sehen, aber er fasste sich schnell wieder. Auch er sah erschöpft aus, was nicht überraschend war. Die OP hatte viele Stunden gedauert.   Kaum hatte Joey den Arzt entdeckt, sprang er auf. „Wie geht es ihm? Ist er...“ Er traute sich nicht, die Frage zu Ende zu stellen, doch er sah den Arzt nicken, und für eine Sekunde machte sich Erleichterung in ihm breit. Zumindest, bis der Arzt erklärte: „Ja, wir konnten Mr. Kaiba erfolgreich operieren. Er hatte großes Glück – es wurden keine großen Blutgefäße getroffen, sonst hätte er vermutlich nicht gerettet werden können. Er hat dennoch eine Menge Blut verloren. Deswegen...“   Für einen Moment sah er ein wenig unsicher zwischen ihnen hin und her. Joey verstand überhaupt nicht, was er andeuten wollte und eine erneute Welle von Panik erfasste ihn. „Was ist passiert? Was ist mit ihm?“   Der Arzt seufzte, dann erklärte er weiter: „Deswegen mussten wir ihn in ein künstliches Koma legen. Das ist mehr oder weniger eine Vorsichtsmaßnahme und dazu gedacht, ihn zu stabilisieren und seinen Körper zu entlasten. Ich kann noch nicht genau sagen, wie lange wir das Koma aufrecht erhalten müssen, weil es sehr darauf ankommt, wie gut er sich erholt. Ich gehe aber zumindest von einigen Tagen aus, gegebenenfalls können es auch Wochen sein. In seltenen Fällen können es auch Monate sein, davon würde ich zunächst aber nicht ausgehen, basierend auf seinen Verletzungen.“   Joey und Mokuba waren gleichermaßen geschockt. „Und... und was bedeutet das jetzt? Was passiert jetzt?“, fragte Joey, und in seinem Kopf herrschte das reinste Chaos. War Seto noch in Lebensgefahr? War es noch nicht vorbei? Wann würde er ihn sehen dürfen?   Seine konfusen Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als der Arzt antwortete: „Nun, wir können zunächst erst mal nur abwarten. Er braucht jetzt vor allem eines, nämlich Ruhe. Aber Sie dürfen ihn auch besuchen, das könnte sogar helfen.“   Joey spürte sofort die Erleichterung. Er würde ihn wiedersehen. Oh Gott, Seto war noch da. Er war nicht einfach aus seinem Leben verschwunden. Er wusste zwar nicht, was er jetzt genau von der nächsten Zeit erwarten konnte, aber zumindest hatte Seto überlebt. Das war schon mehr, als er noch vor wenigen Minuten zu hoffen gewagt hatte. Mit einer Hand musste er sich an einer nahegelegenen Wand abstützen, um nicht umzufallen. Für einige Momente musste er tief durchatmen, während einzelne Tränen dem Gefühl der Befreiung in ihm Ausdruck verliehen. Erst, als er spürte, wie Mokuba seine freie Hand nahm, vermutlich, weil er selbst gerade auch ein wenig mehr Kraft brauchte, sammelte sich der Blonde wieder.   „Kann er uns denn hören, wenn wir mit ihm sprechen?“, fragte Joey den Arzt, der sich anschließend nachdenklich am Hinterkopf kratzte. „Möglicherweise. Es gab schon Patienten, die sich an etwas erinnern konnten, das während des Komas passiert war, auch wenn das selten ist. Erwarten Sie allerdings keine Reaktion darauf.“   „Und wie sind die Heilungschancen?“, stellte nun Mokuba eine Frage, wenn nicht sogar die wichtigste von allen. Joey hatte das Beben in seiner Stimme bemerkt, und auch Joeys Körper wurde vollgepumpt mit Adrenalin und ließ ihn zittern. Er spürte, wie Mokubas Händedruck sich verstärkte, und Joey tat es ihm gleich. Der Blonde hatte es die letzten Stunden vollkommen ausgeblendet, war quasi nur mit sich beschäftigt gewesen, aber jetzt wusste er, er war nicht allein. Genauso wenig wie Mokuba. Sie würden das gemeinsam durchstehen, denn was auch immer kommen mochte, sie würden sich gegenseitig Kraft geben können. Joey würde es nur zulassen müssen, oder er würde in seinem Schneckenhäuschen einsam und allein verrotten.   Als der Arzt wieder das Wort ergriff, verlagerte sich Joeys Aufmerksamkeit von Mokuba auf den Mann im weißen Kittel. „Die schätze ich gut ein. Sobald Mr. Kaiba sich stabilisiert hat, werden wir die Aufwachphase einleiten, erst danach wissen wir mehr. Darüber kläre ich Sie dann auf, wenn es so weit ist, ich denke, für den Moment ist es für Sie wichtig zu wissen, dass er lebt und es ihm den Umständen entsprechend gut geht, auch wenn er noch sehr schwach ist. Er wird jede notwendige Versorgung bekommen. Gehen Sie nach Hause, für heute sollte er sich erst mal schonen.“   Der Arzt verabschiedete sich, und während sie dem Mann hinterher sahen, der Seto das Leben gerettet hatte, konnten sich beide für einige Sekunden nicht bewegen. Zeitgleich wandten sie sich einander zu und alle Dämme brachen zusammen. Joey zog Mokuba in eine innige Umarmung, und sie weinten alle Tränen der Erleichterung, die ihr Körper hergeben wollte. Erst, als ihr Schluchzen vollständig versiegt war, lösten sie sich wieder voneinander und verließen gemeinsam das Krankenhaus.   Sie gingen zurück in die Villa, auch wenn Joey nichts lieber wollte, als bei Seto zu sein, aber er wusste, es ging gerade nicht und dass er die Ruhe jetzt wirklich bräuchte. Irgendwie schaffte er es, den Tag rumzubringen, auch wenn er nichts weiter tat, als im Bett zu liegen und Löcher in die Luft zu starren. Als es Nacht wurde, stellte er fest, dass es sich ziemlich ähnlich anfühlte zu damals, als sie für kurze Zeit getrennt gewesen waren. Nur, dass er es dieses Mal war, der in der Villa schlief, nicht Seto. Joey drehte sich auf die Seite und blickte auf den leeren Platz neben ihm. Es war so einsam ohne seinen Drachen an seiner Seite. Er streckte seinen Arm aus und streichelte sanft über die Stelle, auf der Seto sonst immer lag. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er wäre da. Träumte davon, wie Seto seine Hand nahm und sie zärtlich küsste. Wie er ihn in eine Umarmung zog und ihm sanft über den Rücken streichelte. Wie er ihm ins Ohr flüsterte, wie sehr er ihn liebte.   Und noch während er an das Paar eisblauer Augen dachte, wurde er von der Erschöpfung in Besitz genommen. Sein Körper gab sich nun endlich dem Bedürfnis nach Schlaf hin, den er die letzten zwei Tage nicht bekommen hatte. In dieser Nacht träumte Joey von all den schönen Momenten mit Seto aus den vergangen letzten Monaten – und er hoffte, dass sie die Chance bekommen würden, noch mehr positive Erinnerungen zu machen.   Die nächsten Tage sahen für den Blonden eigentlich immer gleich aus. Joey ging jeden Tag zu Seto ins Krankenhaus. Mokuba hatte in der Zwischenzeit Gott sei Dank dafür gesorgt, dass die Paparazzi von ihrem Sicherheitspersonal in Schach gehalten wurden, sodass er die meiste Zeit ungestört bei Seto verbringen konnte. Sowieso hatte Mokuba sich um erstaunlich viel gekümmert, weil Joey mitunter so apathisch war, dass er selbst kaum ansprechbar war. Das Einzige, was Joey in den letzten Tagen zustande gebracht hatte, war, dem Waisenhaus Bescheid zu geben und zu erklären, was passiert war. Mrs. Nakamura war außerordentlich verständnisvoll gewesen – sie hatte es selbst auch schon in den Nachrichten gesehen – und hatte ihm gesagt, er solle sich alle Zeit nehmen, die er bräuchte. Er war unheimlich dankbar dafür, weil er sich gerade absolut nicht im Stande sah, seiner Arbeit so nachzugehen, wie er es von sich selbst erwarten würde.   Als er Seto das erste Mal auf dem Krankenbett gesehen hatte, einen Tag nach seiner OP, war Joey mehr als geschockt gewesen. Er hatte blass ausgesehen, so als wäre ihm jegliches Leben aus den Adern gesaugt worden. Überall an seinem Körper waren Schläuche und Kabel befestigt. Er trug eine Atemmaske, die an ein entsprechendes Beatmungsgerät angeschlossen war. Eine Magensonde und ein Tropf mit Infusionen stellte die Nährstoffversorgung sicher. Die Ärzte hatten Joey außerdem erklärt, dass er von einer Kühldecke bedeckt wurde, um die Körpertemperatur zu senken. Dadurch würde der Stoffwechsel verlangsamt und der Sauerstoffverbrauch vermindert, sodass der Körper mehr eigene Reserven hatte beziehungsweise diese nicht aufgebraucht werden müssten, was zu einer weiteren und hoffentlich schnellen Erholung beitragen würde.   Im ersten Moment hatte er ihn kaum anschauen können, weil sein Anblick kaum auszuhalten gewesen war. Erst am zweiten Tag nach der OP hatte er angefangen, mit Seto zu reden, weil er vorher auch einfach nicht gewusst hatte, was er hätte sagen sollen. Bis er einfach drauf losgeredet hatte, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Er war nicht sicher, ob Seto auch nur ein Wort von dem, was er sagte, mitbekam, aber vielleicht half es ja trotzdem etwas.   Nun war es der vierte Tag nach der OP, und Joey hörte sein Handy vibrieren, während er neben Setos Bett auf einem Stuhl saß. Der Blonde warf einen Blick auf das Handydisplay und erkannte, dass er eine Nachricht von seinen Freunden hatte – schon wieder. Sie hatten die letzten Tage immer wieder versucht, ihn über sämtliche Kanäle zu erreichen, aber Joey hatte sich ziemlich bedeckt gehalten. Er hatte kurz eine Nachricht geschickt und erklärt, was passiert war, auch wenn sie es sicherlich ebenfalls schon durch die Nachrichten mitbekommen hatten, war mit sonstiger Kommunikation aber unheimlich sparsam umgegangen. Er hatte einfach nicht die Kraft gehabt, zu antworten. Er machte nachts kaum mehr ein Auge zu und war ansonsten jede freie Minute bei Seto. Die Ärzte hatten ihm zwar gesagt, dass es stetig bergauf ging und er sich immer und immer weiter stabilisierte, aber dass er hier so hilf- und wehrlos lag, war für Joey dennoch kaum zu ertragen.   In diesem Moment vibrierte das Handy erneut, allerdings deutlich länger, und Joey erkannte dann auch, warum: Yugi rief ihn an. Mit einem Seufzen erhob er sich von seinem Stuhl und verließ – wenn auch widerwillig – den Raum, um Seto die nötige Ruhe zu geben, die er brauchte. Auf dem Gang angekommen, zog er die Tür hinter sich zu und nahm den Anruf an.   „Hey, Yugi“, begann Joey, „entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe. Es war einfach... ein bisschen viel auf einmal.“   „Hey, Joey. Bitte mach dir keine Gedanken, das verstehen wir schon. Wir... wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wir sind vor dem Krankenhaus, aber wir wurden nicht durchgelassen, weil nur enge Angehörige zu euch dürfen.“   „Ihr seid hier?!“ Joey war auf der einen Seite unheimlich überrascht. Er hatte gedacht, dass Yugi längst auf dem Weg zu seinem Turnier in die USA war, aber möglicherweise hatte er da auch was durcheinandergebracht. In seinem Kopf herrschte momentan sowieso ein Krieg der Gedanken, wundern würde es ihn daher nicht. Und auf der anderen Seite war er tatsächlich auch froh, dass sie hier waren, also entschied er sich, wenn sie schon mal da waren, wenigstens kurz ‚Hallo‘ zu sagen.   Joey verließ das Krankenhaus durch den Vordereingang und wurde sofort von besorgten Mienen begrüßt. Er umarmte seine Freunde, und als sie sich wieder voneinander lösten, fragte Yugi: „Wie geht es dir?“   Joey seufzte laut. Das war die Frage aller Fragen, und das in einem Satz zu beschreiben, fiel ihm wirklich schwer. Aber er wusste, er war ihnen eine Antwort schuldig, also versuchte er, so gut es eben ging, eine Antwort zu formulieren. „Na ja, den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Es gibt nicht viel, was ich tun kann. Ich rede mit Seto, aber ich habe keine Ahnung, ob er mich überhaupt wahrnimmt.“   „Und wie geht es Kaiba?“, fragte Téa, und ihr Gesichtsausdruck hatte nicht an Sorge eingebüßt. Joey wandte sich ihr zu und erwiderte: „Er liegt noch immer im Koma, aber die Ärzte sagen, es geht bergauf und dass er sich tatsächlich schneller erholt als gedacht.“   „Er ist eben ein Kaiba, oder? Als ob ein Kaiba jemals was in halber Geschwindigkeit gemacht hätte“, warf Tristan ein, und seine Mundwinkel zogen sich in ein leichtes Grinsen. Und tatsächlich übertrug sich dieser Anflug von Belustigung auch auf Joey und den Rest der Gruppe, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Das konnte Tristan immer schon gut, die unangenehme Anspannung aus Situationen rauszunehmen. Und auch wenn seine Witzchen in solchen Momenten durchaus auch unangebracht sein konnten, so war Joey jetzt doch froh um Tristans Gabe.   „Gibt es etwas, das wir tun können, Joey?“, fragte Yugi und auch alle anderen Blicke waren nun wieder erwartungsvoll auf den Blonden gerichtet. Joey zuckte mit den Schultern, als er antwortete: „Ich denke nicht. Es bleibt nicht viel mehr als abwarten, schätze ich.“   „Aber wenn was ist, ruf uns bitte an, ja? Selbst, wenn nichts ist. Wir sind deine Freunde, und egal, was kommt, wir halten zusammen.“ Yugi verlieh seinen Worten mit einem entschlossenen Blick noch mehr Ausdruck. Joey lächelte für den Bruchteil einer Sekunde. Er war wirklich froh, dass er die Kraft gefunden hatte, jetzt mit seinen Freunden zu sprechen. Er hatte in den letzten Tagen wieder viel zu viel Zeit in seinem eigenen Kopf verbracht, und Joeys Freunde schafften es wieder mal aufs Neue, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszulocken.   Er nickte ihnen zu, bevor sie sich voneinander verabschiedeten und Joey zurück zu Seto ins Krankenhaus ging. Er atmete noch ein Mal tief durch, bevor er die Tür zu Setos Zimmer öffnete und hindurchschlüpfte. Die Sonne schien mit voller Kraft durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, und Setos Gesicht wirkte durch die Sonnenstrahlen unheimlich sanft, fast so, als würde er einfach nur schlafen. Aber das ständige Piepsen der Geräte und alle Vorrichtungen im Raum machten deutlich, dass dem nicht so war.   Seufzend ließ sich Joey erneut auf den Stuhl neben Setos Bett nieder. Er nahm seine Hand und fing an, darüber zu berichten, worüber er sich gerade mit seinen Freunden unterhalten hatte, und als er erwähnte, dass sie sich auch um ihn ein wenig Sorgen gemacht hatten, musste er unwillkürlich lächeln. Joey konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Seto jetzt darauf reagieren würde.   Doch das Lächeln war schnell wieder verflogen. Er sah zu Seto hinab und konnte nicht verhindern, dass er wieder traurig wurde. Der Braunhaarige hatte sich in den letzten Tagen keinen Zentimeter bewegt. Es gab nicht mal ein Flackern der Augenlider. Nichts deutete darauf hin, dass er noch lebte, außer die Zahlen und Linien auf den Monitoren, die seine Vitalwerte erfassten.   Mit langsamen Bewegungen strich Joey über Setos Hand und erinnerte sich, dass es gut wäre, mit ihm zu sprechen. Was könnte er erzählen? Es gab eigentlich nichts, was er ihm nicht schon gesagt hätte. Er wusste so ziemlich alles über ihn. Doch da kam ihm plötzlich eine Idee, und er ließ den Gedanken einfach freien Lauf.   „Das erste Mal in meinem Leben, das ich dich gesehen habe, war bei der Einführungsveranstaltung in der Oberschule. Ich hatte keine Ahnung, dass du damals schon so viel Verantwortung über deine eigene Firma hattest. Ich weiß nur noch, dass du ziemlich distanziert gewirkt hast. Um mich schwirrten schon am ersten Tag andere Menschen herum wie die Motten um das Licht, aber du warst immer allein. Ich glaube, bei der Zeremonie war Mokuba auch irgendwo, und ich kann mich erinnern, dass er der Einzige war, der dir näher gekommen ist. Mir war es damals gar nicht so bewusst, aber heute weiß ich, dass meine Augen dich verfolgt haben. Ich wollte wissen, warum du so bist, wie du bist. Warum du so distanziert wirkst. Warum du immer allein bist. Irgendwie hast du mich damals schon fasziniert, auch wenn ich das bis vor wenigen Monaten niemals, niemals laut ausgesprochen hätte.“   Joey lachte. „Tja, und dann hast du dich die restlichen drei Jahre wie der größte Arsch der Nation benommen. Jedenfalls bis zu dem Tag, der eigentlich mein Ende sein sollte. Und dann doch mein Anfang war.“   Mit einem liebevollen Gesichtsausdruck schaute er Seto an. Noch immer keine Reaktion. Joey hoffte wirklich sehr, dass irgendwas, wenn auch nur ein ganz kleines Bisschen, zu Seto durchdringen würde. Aber selbst, wenn die Chancen gering waren, er würde nicht aufhören zu reden. Bis er wieder vollständig zu ihm zurückgekehrt war.   Als er gerade wieder ansetzen wollte, klopfte es an der Tür und Mokuba trat ein. Mit einem Nicken begrüßten sich die beiden, und Mokuba zog sich einen weiteren Stuhl heran und setzte sich neben Joey. Den Blick auf Seto gerichtet, fragte er: „Wie geht es ihm?“   Joey, der noch immer Setos Hand fest in seiner eigenen hielt, erwiderte: „Unverändert.“ Mehr gab es dazu eigentlich auch nicht zu sagen. Auch Mokuba war jeden Tag ins Krankenhaus gekommen und hatte selbst gesehen, wie wenig passiert war. Aber tief in ihrem Inneren gaben sie die Hoffnung nicht auf, dass er es schaffen würde.   Just in diesem Moment klopfte es erneut und Setos Arzt betrat das Zimmer, den Blick auf das Klemmbrett in seiner Hand gerichtet. Der Arzt begrüßte sie kurz, bevor er Setos Werte auf den Monitoren ablas und auf dem Klemmbrett notierte. Dann sah er Joey und Mokuba entschlossen ins Gesicht, bevor er verkündete: „Ich denke, es ist an der Zeit, ihn aufzuwecken. Sein Körper hat sich in den letzten Tagen erstaunlich schnell erholt und stabilisiert.“   Joeys Augen weiteten sich und er wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Überraschung vermischte sich mit Freude und sofort begann sein Herz zu rasen. Ihm schossen eine Million Fragen durch den Kopf, doch bevor er auch nur eine davon verbalisieren konnte, sagte der Doktor: „Der Aufwachprozess kann einige Stunden dauern. Wir werden Stück für Stück die Narkosemittel reduzieren, sodass der Körper von Mr. Kaiba langsam wieder selbstständig die Kontrolle über alle Körperfunktionen übernimmt, bis er wieder zu vollem Bewusstsein gelangt. Zumindest für die Anfangsphase müsste ich Sie beide leider aus dem Raum bitten.“   Joey nickte und erhob sich von seinem Platz. Er sah zu Mokuba rüber, der irgendwie nachdenklich wirkte, dann jedoch ebenfalls aufstand und den Arzt fragte: „Können wir denn in ein paar Stunden wieder zurückkommen?“   Der Arzt nickte. „Ja, nur die nächsten ein bis zwei Stunden besser nicht. Danach sollte es kein Problem mehr sein.“   Ohne lange zu überlegen und mit selbstsicherem Blick schaute Mokuba nun Joey an. „Joey, sollen wir zu einem Schrein gehen und unsere Wünsche aufschreiben? Heute ist doch das Tanabata-Fest. Und danach kommen wir wieder her.“   Das Tanabata-Fest... stimmt, heute war der 7. Juli. Moment, der 7. Juli? Verdammt. Er hatte im Eifer des Gefechts total ausgeblendet, dass Mokuba heute Geburtstag hatte.   „Mokuba, tut mir total leid, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe, ich...“   Mokuba grinste schief, als er ihn unterbrach: „Joey, bitte, es gibt gerade wirklich Wichtigeres. Ich werde noch so viele Geburtstage in meinem Leben haben. Mach dir keinen Kopf. Komm, lass uns gehen.“ Sie nickten dem Arzt zum Abschied zu und verließen anschließend gemeinsam das Krankenhaus.   Beim Schrein angekommen, stellte Joey sofort fest, wie voll es war. Himmel und Menschen waren unterwegs, um ihre Wünsche aufzuschreiben und zu beten. Worum sie die Götter wohl bitten würden? Was war es, dass sich die anderen Menschen wünschten? Was trieb sie um?   Joey richtete seinen Blick für einen Moment in Richtung Himmel. Er war strahlend blau, es war nicht eine Wolke zu sehen. Es war ein ziemlich heißer Tag, aber wenn man im Schatten stand, war es einigermaßen auszuhalten. Ab und zu sah er mal ein paar Zettel durch die Lüfte fliegen, vermutlich Wünsche, die vom leichten Wind weggeweht wurden. Dass das Wetter so gut war, war auch ein gutes Vorzeichen. Und es gab Joey Hoffnung, dass am Ende alles gut werden würde.   Für Joey war klar, was er als seinen Wunsch aufschreiben würde. Es gab nichts, das er mehr wollte, als dass Seto aus dem Koma erwachen und es ihm gut gehen würde. Dass er es schaffen würde. Joey brauchte jetzt mehr denn je seinen Optimismus, denn er wusste, dass er für Seto da sein musste, sobald dieser wieder bei vollem Bewusstsein war.   Also schrieb der Blonde seinen Wunsch auf den entsprechenden Zettel und hängte ihn an einen der Bambusbäume. Für einen Augenblick schloss er die Augen und brachte beide Handinnenflächen vor dem Gesicht zusammen. In einem letzten Gebet bat er die Götter inständig, Seto wieder gesund zu ihm zurückkehren zu lassen. Er würde jedes Opfer bringen, wenn er ihn nur nicht verlieren würde.   Joey öffnete seine Augen erneut und sah, dass Mokuba mittlerweile auch einen Wunsch an den Baum geklemmt hatte, und er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass sich ihre Wünsche nicht sonderlich voneinander unterschieden. Im Anschluss machten sie sich gemeinsam auf den Rückweg ins Krankenhaus, und Joeys Nervosität stieg von Minute zu Minute, weil er nicht so richtig einschätzen konnte, was ihn erwarten würde.   Zurück im Krankenhaus gingen sie zielgerichtet in Setos Zimmer. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, konnte der Blonde sehen, dass sein Beatmungsgerät bereits entfernt worden war, sodass er wieder selbstständig atmen konnte. Den Monitoren nach zu urteilen, war seine Körpertemperatur schon wieder einigermaßen angestiegen und er bekam auch wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Wach war er allerdings noch nicht.   In den Stunden darauf saßen Joey und Mokuba mehr oder weniger schweigend an Setos Bett, während um sie herum ständig Ärzte oder Krankenhauspersonal zugange waren. Als es Abend wurde, wurde das Licht gedimmt, doch Joey kam überhaupt nicht auf die Idee, den Raum zu verlassen. Er würde hier nicht weggehen, bis Seto wieder bei Bewusstsein war, und ein Blick auf Mokuba ließ ihn vermuten, dass dieser es ähnlich sah.   Noch immer hielt Joey Setos Hand – und als diese sich plötzlich bewegte, wenn auch nur ganz leicht, erschrak Joey, ließ sogar einen kurzen, piepsigen Schrei aus. Der Blonde wusste gar nicht so richtig, was er machen sollte, weil er so überrumpelt worden war. Also beobachtete er nur, genauso wie Mokuba und Setos Arzt, und alle Augen waren auf den Brünetten gerichtet, der langsam aus seinem Tiefschlaf zu erwachen schien.   Seto blinzelte immer mal wieder, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er vollständig zu sich kam und die Augen vollständig öffnen konnte. Als er die eisblauen Augen seines Freundes sah, zum ersten Mal seit Tagen, wurden seine eigenen Augen feucht und er begann leicht zu zittern. Er rutschte mit dem Stuhl noch näher an Setos Bett, die Hand noch immer auf die des Brünetten gelegt, und flüsterte: „Seto...“ Seine Stimme war leise und zittrig, aber dennoch laut genug gewesen, dass Seto es gehört haben musste.   Und dann sah er ihn an. Eisblau traf auf Goldbraun. Die Spannung im Raum war zum Zerreißen gespannt, jeder wartete ab, was passieren würde. Doch dann runzelte der Braunhaarige die Stirn, und seine ersten, heiseren Worte seit Tagen hallten noch Sekunden danach in dem ansonsten stillen Raum wider:   „Wer bist du?" Kapitel 33: Rescue me... from not remembering --------------------------------------------- „Wer bist du?“   Setos Worte hallten im gesamten Raum wider. Niemand bewegte sich. Es war absolut still, nur das Kratzen eines Kugelschreibers auf Papier war zu vernehmen. Joey konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie der Arzt offensichtlich etwas auf seinem Klemmbrett notierte, kaum dass Seto seine ersten Worte nach dem Koma gesprochen hatte. Dabei wirkte dieser so gefasst, dass Joey am liebsten aufgesprungen wäre und ihn geschüttelt hätte. Wie konnte der Mann nur so ruhig bleiben, wenn für Joey doch gerade die komplette Welt kollabierte?   Während Joey noch immer einfach nur auf seinem Platz saß, zu paralysiert, um sich von der Stelle zu bewegen, beobachtete er jede von Setos Regungen. Die Verwirrung in dessen Augen machte zunehmend Platz für aufsteigende Panik, so kam es Joey zumindest vor. Zunächst entriss Seto Joey seine Hand und blickte sich in gleichen Teilen irritiert wie ängstlich im Raum um. Seine Augen waren geweitet, seine Brust hob und senkte sich schnell. Immer wieder bewegte sich sein Kopf hin und her zwischen den Menschen, die im Raum anwesend waren.   „Wer seid ihr alle? Was mache ich hier? Wo bin ich?“ Seto zog die Beine an und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Joey hielt es fast nicht aus, ihn so zu sehen, und die Erkenntnis darüber, dass er weder ihn noch Mokuba erkannte, fühlte sich an wie endlose Nadelstiche auf seiner ganzen Haut. Für Joey vergingen die Sekunden wie Stunden. Alles in seinem Kopf drehte sich und es fiel ihm zunehmend schwerer, einen klaren Gedanken fassen zu können.    Seto erinnerte sich nicht. Dieser Gedanke fühlte sich an, wie wenn jemand Joey ein Messer in den Rücken rammen würde, immer und immer wieder. Seto hatte überlebt, aber zu welchem Preis? Was, wenn nun sein ganzes Leben zerstört wäre? Was wäre das überhaupt für ein Leben? Warum nur hatte er Seto nicht davor bewahren können? Warum war er es nicht, der all das jetzt durchmachen musste?   Und gerade, als die Schuldgefühle Joey erneut zu erdrücken drohten, hörte er, wie sich der Arzt räusperte. Der Blonde drehte seinen Kopf in dessen Richtung, und als der Arzt Joeys komplette Aufmerksamkeit hatte, sprach er: „Das ist eine vollkommen normale Reaktion nach einem künstlichen Koma. Es kann eine Weile dauern, bis sich die Verwirrung legt, und im Nachgang kann es sogar sein, dass sich Mr. Kaiba an diesen Zeitraum jetzt gar nicht mehr erinnern kann. Das Beste für ihn ist jetzt ein wenig Ruhe und Erholung.“   Joey nahm die Worte in sich auf, während sein Blick wieder zu Seto schwenkte, der ihn noch immer von Panik erfasst anstarrte. Es war eindeutig, dass der Brünette in diesem Moment überhaupt nicht er selbst war. Er sah fast aus wie von einem fremden Wesen besessen. Dennoch, und trotz allem, was der Arzt gerade erläutert hatte, Joey bedrückte das sehr.   „Joey, komm“, hörte er Mokuba sagen, der ihn am Arm nach oben zog. Wie mechanisch folgte er dieser Bewegung und erhob sich nun auch von seinem Platz. Er sah Seto noch ein letztes Mal in die Augen, bevor er mit Mokuba den Raum verließ, musste den Blick aber schnell wieder abwenden, weil es einfach zu sehr schmerzte, ihn so zu sehen.   Im Gang atmete Joey aus – er hatte gar nicht gemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Für einige Augenblicke standen Mokuba und er dich nebeneinander, die Rücken an die kalte Betonwand gelehnt. Das grelle Krankenhauslicht beleuchtete den Flur, während immer wieder Krankenhauspersonal an ihnen vorbeilief und sie keines Blickes würdigte. Der strenge Geruch von Desinfektionsmitteln war überall deutlich zu vernehmen, und auch wenn Joey diesen nach den letzten Tagen, die er zumeist hier verbracht hatte, eigentlich gewohnt sein müsste, so hatte er damit doch noch so seine Probleme. Alles war so weiß und steril. Es war, als hätte alles seinen genauen Platz, jeder folgte genau den ausgeschilderten Wegen, um an sein Ziel zu gelangen. All das stand in so krassem Gegensatz zu der Dunkelheit und dem Chaos in Joeys Kopf, dass es für ihn fast unerträglich wurde, überhaupt hier zu sein.   Seine Gedanken wurden unterbrochen, als er Mokuba neben sich seufzen hörte. Joey hatte das Gefühl, dass er etwas sagen wollte, aber es war, als ob er nicht genau wüsste, was. Oder wie. Und Joey konnte es dem Kleineren auch nicht verübeln, denn dahingehend teilten sie dasselbe Schicksal. Auch der Blonde fand keine Worte für alles, was er jetzt fühlte, denn keines von diesen könnte auch nur ansatzweise zusammenfassen, was gerade in ihm vorging.   Joeys Blick glitt zu Mokuba rüber. Er hatte den Kopf leicht gesenkt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und lehnte noch immer mit dem Rücken gegen die Wand. Es war von der Seite ein wenig schwer zu erkennen, aber für Joey sah es so aus, als wenn Mokubas Augen feucht waren, auch wenn keine Tränen seine Wangen benetzten. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, was das alles von dem Kleineren abverlangen musste. Immerhin ging es hier um seinen Bruder, den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Seto so zu sehen, musste Mokuba enorm zusetzen, vielleicht sogar noch mehr als dem Blonden, und Joey war ja schon vollkommen am Boden zerstört.   Irgendwann hob Mokuba den Kopf an, und den Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, sagte er: „Wir müssen auf das vertrauen, was der Arzt gesagt hat. Dass es normal ist, dass Seto jetzt so reagiert.“ Joey war unheimlich erstaunt. Vor wenigen Sekunden noch hatte Mokuba so verletzlich gewirkt, und jetzt war er so gefasst und selbstsicher, dass es Joey den Atem verschlug. Woher nahm der Kleinere diese Kraft? Er fragte sich, warum nicht er es war, der so viel Zuversicht hatte, musste sich dann aber eingestehen, dass mehr Jahre an Lebenserfahrung nicht unbedingt gleichbedeutend waren mit höherer Resilienz. Da konnte er sich von Mokuba definitiv noch eine Scheibe von abschneiden.   Als Antwort auf das, was Mokuba gerade gesagt hatte, nickte Joey, konnte aber selbst noch immer nicht so richtig viel sagen. Mokuba hatte recht, aber blind darauf zu vertrauen, dass schon alles gut werden würde, lag einfach nicht in Joeys Natur, zumindest nicht mehr. Ganz im Gegenteil – immer wenn Joey dachte, es könnte eigentlich nicht schlimmer kommen, da begann der nächste Tag und machte ihm klar, dass es doch ging. Was würde der nächste bringen? Oder der danach? Was würde ihn noch alles erwarten?   Joey blickte sich um und hatte sofort das Gefühl, die Wände würden auf ihn zurasen und ihn einengen. Er bekam schon wieder schwerer Luft. Er musste hier raus, es gab sowieso nichts, was er jetzt für Seto tun konnte, das hatte der Arzt eindeutig klar gemacht. Er drehte seinen Kopf in Mokubas Richtung, bevor er sagte: „Ich... ich glaube, ich brauche ein bisschen Zeit für mich. Die letzten Tage, und jetzt das... das ist einfach alles ein bisschen viel.“   Mokuba erwiderte den Blick und nickte, seine Gesichtszüge wurden sogar ein wenig weicher. „Das kann ich verstehen. Ich bleibe hier bei Seto und halte dich auf dem Laufenden, okay?“   Joey stieß sich von der Wand ab und nickte Mokuba noch ein letztes Mal zu, bevor er das Krankenhaus durch den Vordereingang verließ. Ziellos irrte er durch die Straßen der Stadt. Der Nachthimmel war klar, genau wie vor wenigen Tagen, als die Sterne die Wege erhellt hatten und kein Zeichen des Unheils, das ihnen unmittelbar bevorgestanden hatte, von sich gegeben hatten.   Joey blieb stehen und hielt inne, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Sein Blick glitt zu den Sternen, aber er konnte keinen davon richtig fixieren, weil seine Sicht immer wieder vor seinen Augen verschwamm, wann immer ihm ein neuer Gedanke kam. Was, wenn Seto sich nie wieder würde erinnern können? Wenn der Arzt falschlag? Würde es einen Weg geben, ihm seine Erinnerungen zurückzubringen? Oder wären diese dann für immer unwiederbringbar verloren?   Und je länger er sich in den Tiefen seiner eigenen Gedanken verlor, desto klarer wurde ein weiterer Gedanke, der zunächst nur schemenhaft zu erkennen gewesen war, sich nun aber hartnäckig hielt. Joey atmete tief durch, bevor er sich diesem stellte. Ohne ihn wäre Seto das alles gar nicht passiert. Ohne ihn wäre er niemals im Krankenhaus gelandet, hätte vermutlich nicht mal die Drohbriefe erhalten. Ohne ihn hätte er noch ein ganz normales Leben, zumindest so normal, wie es für einen Kaiba aussehen konnte.    Vielleicht war es das Schicksal, das ihm sagen wollte, dass es für sie beide gemeinsam keinen Platz in dieser Welt gab. Dass sie nur als Individuen bestehen konnten. Eines war Joey sich zumindest sehr sicher: Wenn er der Grund dafür war, dass Seto in ununterbrochener Gefahr schwebte, musste er handeln. Auch wenn er noch nicht so richtig wusste, was er tun sollte. Aber seine Schuld wog schwer auf seiner Brust, und sie drohte ihn zum wiederholten Male zu erdrücken.   Erst im Morgengrauen, als die Sonne den Mond verjagte und die Sterne allmählich am Himmel verschwanden, kam Joey in der Kaiba-Villa an. Es war totenstill, und Joey hatte das Gefühl, in seinem ganzen Leben noch nie so einsam gewesen zu sein.   Er wusste nicht so richtig, wohin er eigentlich gehen sollte. Am Ende landete er in ihrem gemeinsamen Apartment, in dem Bett, das er sich normalerweise mit Seto teilte und das ohne ihn einfach leer war. Nicht einmal sein Duft war noch wahrzunehmen, weil es schon einige Tage her war, dass er hier gelegen hatte. Es war, als erinnerte nichts daran, dass er hier einen Platz hatte, hier neben Joey. Seine Bettseite war ordentlich gemacht worden, und während Joey über das glattgezogene Laken strich, verließ eine Träne seine Wange und verewigte sich in seinem Kopfkissen. Er schloss die Augen und stellte sich, wie er es vor wenigen Tagen auch schon gemacht hatte, vor, Seto wäre hier, würde ihn in den Arm nehmen und ihn ganz festhalten. Ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ihm einen Kuss auf die Stirn geben und ihm all die Zuversicht schenken, die er so dringend benötigte. Doch als er die Augen wieder öffnete, war er nicht da. Und vielleicht würde das auch so bleiben. Vielleicht musste es so sein.   Schließlich schlief Joey ein, fiel aber in einen unruhigen Schlaf. Auch in seinen Träumen spielte Seto die Hauptrolle. Er träumte, dass Seto vor ihm lief und Joey hinter ihm herrannte, immer und immer wieder seinen Namen rief, aber der Brünette drehte sich kein einziges Mal zu ihm um. Irgendwann fühlte es sich so an, als wenn Joeys Füße am Boden festklebten, und so sehr er auch versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, es wurde immer und immer schwieriger, bis es am Ende komplett aussichtslos war. Seto bewegte sich immer weiter von ihm weg, bis Joey nur noch eine Silhouette von ihm sah – und er schließlich ganz verschwunden war. Und dann wurde alles um Joey herum dunkel.   Am Morgen schreckte Joey aus seinem Schlaf hoch. Er hatte so viel geschwitzt, dass sein ganzes T-Shirt vollkommen durchnässt war. Sein Atem ging schwer und er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Hektisch blickte er sich um, bis er feststellte, dass er in der Villa war, in ihrem Bett.   In ihrem Bett... er drehte sich zur Seite, doch Seto war nicht zu sehen. Und dann erfasste ihn die Wucht der Erinnerungen an alles, was die letzten Tage so geschehen war. Er setzte sich in den Schneidersitz, die Arme auf den Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln abgestützt, die Hände zu beiden Seiten an seinen Schläfen. Er versuchte, ruhig zu atmen, während ihm die letzten Schweißtropfen von der Stirn perlten.   Nach einer Weile und noch immer schwer atmend und durcheinander griff er nach seinem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es gab ein paar Nachrichten von Mokuba – es hatte sich wenig getan. Scheinbar hatten sie Seto Beruhigungsmittel verabreicht und er schlief noch. Mokuba schien die Nacht dort verbracht zu haben, aber es wäre Joey wohl auch nicht aufgefallen, wenn er nach Hause gekommen wäre. Dazu lagen ihre Apartments zu weit auseinander.   Mit der Bettdecke entfernte Joey den restlichen Schweiß in seinem Gesicht und scrollte durch die anderen Nachrichten, die ihn erreicht hatten. Seine Freunde hatten ihm immer und immer wieder unzählige Nachrichten geschickt, und wie immer war es vor allem Yugi, der hartnäckig blieb. Joey seufzte, und bevor er zu viel darüber nachdenken konnte, folgte er seinem Impuls, drückte den grünen Hörer neben Yugis Namen und rief ihn an.   Er erzählte ihm, dass Seto aufgewacht war, und schilderte in groben Zügen, was seitdem passiert war. Yugi hatte ihm sofort angeboten, sich zu treffen, und Joey dachte, dass das vermutlich keine so üble Idee wäre. Es würde auch keinen Sinn machen, jetzt den ganzen Tag in der Villa zu hocken und Löcher in die Luft zu starren, denn genau das wäre es, was er sonst machen würde. Die Alternative wäre, zu Seto ins Krankenhaus zu fahren, aber Joey wollte zunächst Ordnung in sein Gedankenchaos bringen. Außerdem war Seto sowieso noch nicht wieder wach, und Mokuba würde ihn über alle Entwicklungen informieren. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, war ein Teil von ihm auch noch nicht wieder bereit, sich noch mal einem Seto Kaiba zu stellen, der sich nicht an ihn erinnern konnte.   Nach einer schnellen Dusche machte sich Joey auf den Weg zu Yugi. Er war schon eine ganze Weile nicht mehr dort gewesen, und schon vor der Haustür holten ihn die Erinnerungen ein an die Zeit, als Seto und er kurzzeitig getrennt gewesen waren. Er versuchte, das mulmige Gefühl abzuschütteln, das von diesen Erinnerungen ausging, aber es gelang ihm nicht ganz, als er die Türklinke nach unten drückte und eintrat.   Er stieg die Treppenstufen hoch und wurde von Yugi freundlich lächelnd empfangen, allerdings stand ihm auch die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie umarmten sich zur Begrüßung schweigend, und anschließend führte Yugi sie in die Küche, wo sie sich an den Esstisch setzten. Für einige Augenblicke verschwand Yugi, bevor er mit einer Tasse grünem Tee wieder auftauchte und diese vor Joey stellte. Der Blonde nahm die Tasse wortlos entgegen und schwenkte deren Inhalt hin und her, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Yugi ließ ihm Zeit, sich zu sammeln, aber Joey wusste einfach nicht so recht, was es eigentlich zu sagen gab. Er wusste nicht, worüber er reden sollte, oder wollte. Aber hier nur zu sitzen und sich gegenseitig anzuschweigen, machte auch irgendwie keinen Sinn.   Yugi, der sowieso eine besondere Begabung dazu hatte, Stimmungen präzise erfassen und entsprechend handeln zu können, schien den inneren Kampf, den Joey führte, zu bemerken. Daher ergriff er nun das Wort, um dem Gespräch einen Startpunkt zu verschaffen.    „Du hast gesagt, Kaiba konnte sich nicht an euch erinnern.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Joey verstand den Wink mit dem Zaunpfahl. Der Kleinere wollte ihn dazu bringen, zu reden, statt sich in den Tiefen seiner Gedanken zu verschanzen. Und ehrlich gesagt war der Blonde dafür auch ziemlich dankbar, denn ohne diesen Anstoß würde er vermutlich morgen noch hier sitzen und nicht wissen, was er eigentlich erzählen wollte.   Joey atmete tief durch, dann begann er zu sprechen: „Genau. Weder mich, noch Mokuba, noch sonst irgendjemanden. Er hat nicht mal gewusst, wo er war. Der Arzt hat gesagt, das wäre wohl total normal, aber... was, wenn nicht? Was, wenn er sich nie wieder an mich erinnert, Yugi?“ Joey stützte sich auf seinen Ellenbogen ab, den Blick gesenkt, die Hände vor das Gesicht gelegt. Er spürte, wie sich seine Kehle sofort wieder zuschnürte und es schwerer wurde, durchzuatmen.   Dann spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter, und als er aufsah, schaute ihn Yugi besorgt, aber zuversichtlich an. „Joey, ich kann verstehen, wie unheimlich schwierig diese Situation gewesen sein muss. Aber der Arzt hat doch gesagt, dass es eine absolut normale Reaktion wäre. Hab Vertrauen. Ich bin mir sicher, alles wird gut.“   Yugis Optimismus war wirklich beneidenswert. Joey wünschte sich, er könnte auch nur ansatzweise so sicher sein wie Yugi. Stattdessen wurde er von einer Unsicherheit zerfressen, die ihm die Luft zum Atmen nahm. Dazu kam, dass seine Gedanken noch um etwas anderes kreisten.   Joey konnte ein verzweifeltes Schluchzen nun nicht mehr verhindern, also wandte er sich wieder von Yugi ab und legte erneut seine Hände über sein Gesicht, in der Hoffnung, seine Emotionen einigermaßen verstecken zu können, auch wenn er sich sehr wohl darüber bewusst war, wie absolut vergebens seine Mühe war. Als ob er vor Yugi verbergen könnte, wie es in ihm aussah. Der Kleinere war sein bester Freund, und er verstand ihn wie kein anderer, wenn man mal von Seto absah. Fast hätte Joey bei diesem Gedanken aufgelacht. Seto war so omnipräsent in seinem Kopf, fast so, als wenn seine Gedanken einen Kreis bilden würden, mit Seto als Startpunkt – und Endpunkt.   „Joey...“, hörte er Yugi von der Seite murmeln. Der Blonde blickte erneut auf und ließ seine nun tränenbenässten Hände auf den Tisch sinken, als plötzlich alle Gedanken auf einmal auf ihn einprasselten und er den einen Satz sagte, der ihm so schwer auf der Brust lag: „Das wäre alles nicht passiert, wenn wir nie zusammen gewesen wären.“   Er konnte wahrnehmen, wie Yugi scharf die Luft einsog, doch noch bevor sein bester Freund auch nur ansatzweise etwas dazu sagen konnte, ließ Joey all seinen Gedanken freien Lauf: „Dann würde er jetzt auch nicht in diesem dämlichen Krankenhaus liegen, hätte nie die Drohbriefe bekommen und könnte einfach sein Leben leben. Verdammt, hätte er mich doch niemals davon abgehalten, mich...“   In diesem Augenblick schob Yugi seinen Stuhl mit einer Wucht zurück, die ihn umfallen ließ, und nur den Bruchteil einer Sekunde später spürte Joey dessen Hände an seinen Schultern. Yugi rüttelte ihn, bevor er in lautem Ton sagte: „Jetzt mach aber mal einen Punkt, Joey! Vielleicht wäre es ja doch passiert. Noch wissen wir ja nicht, wer der Angreifer war, oder? Das alles ist auch, verdammt noch mal, nicht deine Schuld! Die einzige Person, die die Schuld dafür trägt, ist der Täter, und nur dieser.“   Yugis Gesichtsausdruck wirkte ernst und für Joey war es nicht schwer zu erkennen, wie wütend er war. War er zu weit gegangen mit dem, was er gesagt hatte, auch wenn er wusste, dass es stimmte, dass Seto das möglicherweise alles nicht durchmachen müsste, wenn er ihn damals auf dem Hochhaus einfach hätte springen lassen? Auf der anderen Seite sagte Yugi im Wesentlichen ja dasselbe wie Mokuba. Aber nur, weil beide derselben Meinung waren, hieß das ja noch lange nicht, dass es auch der Wahrheit entsprach.   „Außerdem“, setzte Yugi fort, sein Tonfall wieder etwas ruhiger, während er von Joey abließ und seinen Stuhl wieder aufstellte, „habt ihr doch auch wahnsinnig viele schöne Erinnerungen, die ihr miteinander teilt.“   Innerlich musste Joey Yugi beipflichten. Aber war es das wert? Waren ihre schönen, gemeinsamen Erlebnisse es wert, dass Seto sein Leben für ihn riskierte? War er nicht viel besser dran ohne ihn? Was brachten schon all die Erinnerungen, wenn Seto sich unnötig in Gefahr brachte und am Ende vielleicht nicht mehr da war, um sie mit ihm zu teilen?   Als Joeys Handy klingelte, schreckten beide Männer auf. Der Blonde holte es aus seiner Hosentasche raus und sah auf das Display, und als er entdeckte, wer ihn anrief, nahm er den Anruf hastig entgegen.   „Mokuba?!“   „Hey, Joey. Ich... ich wollte kurz Bescheid geben, dass Seto wieder wach ist. Er weiß wieder, wer ich bin, und er erinnert sich auch an dich. Und er hat gesagt, er glaubt, wer der Angreifer ist. Du solltest herkommen.“ Kapitel 34: Rescue me... When I see you again --------------------------------------------- Das Erste, was Seto wahrnahm, als er langsam zu sich kam, war das Pochen an seinen Schläfen und die unnachgiebigen Kopfschmerzen. Es war, als wenn jemand immer und immer wieder mit einem Hammer gegen seinen Schädel schlagen würde und dabei alles in seinem Kopf durchgeschüttelt wurde. Der Schmerz zog Wellen und breitete sich über seinen gesamten Körper aus, sodass sogar seine Zehenspitzen weh taten.   Er versuchte, die Augen vorsichtig zu öffnen, aber seine Wimpern waren vom Schlaf so verklebt, dass er Mühe hatte, dieses Hindernis zu überwinden. Selbst seine Augen fühlten sich kraftlos und schwer an, auch sein restlicher Körper war schlaff, so als hätte man ihm die gesamte Energie ausgesaugt. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so erschöpft gefühlt zu haben. Wo er so recht darüber nachdachte, kam der Moment, in dem Joey ihn damals verlassen hatte, wohl ein wenig da ran, aber es war dennoch anders.   Irgendwann schaffte er es doch, die Augen aufzuschlagen, nur um direkt vor der nächsten Herausforderung zu stehen – das grelle Licht im Raum. Schon den Bruchteil einer Sekunde später schloss er die Augen wieder, weil es einfach nicht aushaltbar war. Aber er wusste, er musste es irgendwie schaffen, also blinzelte er dagegen an, versuchte so, seine Augen Schritt für Schritt an die ungewohnte Helligkeit zu gewöhnen. Es dauerte deutlich länger, als er es sich erhofft hatte, und zu seinem Leidwesen verstärkte es seine Kopfschmerzen auch noch, aber nach einiger Zeit waren seine Augen vollständig geöffnet.   Er lag auf dem Rücken und sah an die Decke. Wo war er hier eigentlich? Und wie war er hierher gekommen? Schon der bloße Versuch, sich an alles zu erinnern, was passiert war, setzte seinem Kopf noch mehr zu. Diese verdammten Kopfschmerzen!   Nun versuchte er, auch seine anderen Gliedmaßen zum Leben zu erwecken. Er begann mit den Zehen und den Händen, die unter der Bewegung leicht knackten und sich ungewohnt schwer anfühlten. Als er dann einen Arm heben wollte, wurde dieser von etwas blockiert – und ein Blick darauf machte auch klar, von was. Er war an einen Tropf angeschlossen. Und das konnte nur eines bedeuten – er musste sich in einem Krankenhaus befinden, das würde auch den intensiven Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft erklären. Aber wie war er hergekommen?   Als er sich aufsetzen wollte, wenn auch noch immer schwerfällig, spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz in seiner Brust und stoppte in der Bewegung, hielt sich aus einem Impuls heraus die Hand direkt davor. Die Stelle war warm und strahlte eine Hitze in seinen gesamten Körper aus. Mit Mühe und Not schaffte er es, sich aufzusetzen. Als er an sich hinab sah, bemerkte er die Sensoren, die an seinem Oberkörper angebracht worden waren, und verschiedenste Kabel, die davon abgingen. Im Hintergrund nahm er ein piepsendes Geräusch wahr, leise und regelmäßig. Er trug über seiner Brust und Schulter einen Verband und war ansonsten in das typische Krankenhausgewand gekleidet.   Als das Pochen in seinem Kopf wieder schlimmer zu werden schien, fasste er sich an den Kopf, doch schon im nächsten Moment wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt – ein Schnarchen. Er versuchte, sich zu orientieren, sah sich um, bis seine Sicht vor seinen Augen sich einigermaßen fokussieren konnte, und da erkannte er, dass es Mokuba war, der schnarchte. Er saß auf einem Stuhl neben seinem Bett, die Arme auf das Bett gelegt, den Kopf darauf gebettet. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief, auch wenn Seto sich gut vorstellen konnte, dass, was auch immer ihn hierher gebracht hatte, sicher ziemlich aufwühlend für seinen kleinen Bruder gewesen sein musste.   Und kaum hatte sich seine Aufmerksamkeit auf Mokuba verschoben, schien der Kleinere wieder wach zu werden. Verschlafen rieb er sich die Augen, streckte sich und schien, wie auch schon Seto vorher, einen Moment zu brauchen, um zu realisieren, wo er sich hier gerade befand. Irgendwann schien ihn die Erkenntnis zu treffen, als sich seine Augen und Pupillen weiteten und sein Blick sofort zu Seto schwenkte. Und als sich ihre Blicke trafen, sah Seto in Mokubas Augen zunächst Überraschung, dann Erleichterung und zum Schluss Angst aufblitzen. Warum hatte denn Mokuba auf einmal Angst vor ihm?   Seto runzelte die Stirn, weil er nicht so richtig schlau aus Mokubas Gesichtsausdruck wurde. Er sagte zunächst nichts, war fast wie eingefroren in der Bewegung. Außer dem piepsenden Ton im Hintergrund war das Zimmer sonst vollkommen still, man hätte die Staubkörner fallen hören können, so ruhig war es.   „Mo-“ Bei seinem Versuch, selbst etwas zu sagen, um die unangenehme Stille im Raum zu durchbrechen, spürte er, wie heiser er war. Seine Stimme war nicht viel mehr als ein kratziges Geräusch, und es kostete ihn enorme Anstrengungen, auch nur eine Silbe über seine Lippen gleiten zu lassen. Er griff sich instinktiv mit einer Hand an den Hals – als ob das viel helfen würde. Er versuchte, seinen Hals mit seinem Speichel wieder etwas zu befeuchten, indem er mehrere Male hintereinander schluckte, aber sein Mund selbst war so trocken, dass das absolut aussichtslos war.   In dem Moment schien Mokuba auch wieder zum Leben zu erwachen. Er griff auf die Ablage neben Setos Bett und reichte ihm ein Glas Wasser, das er annahm und gierig trank. Erst jetzt bemerkte er, wie durstig er eigentlich gewesen war. Er leerte es vollständig und gab Mokuba das Glas zurück. Der Kleinere hatte noch immer nichts gesagt, also versuchte es Seto noch ein weiteres Mal, und dieses Mal war er endlich auch erfolgreich.   „Mokuba? Wo bin ich? Was mache ich hier?“   Mokubas Augen weiteten sich noch mehr, genauso wie sein Mund, und seine Verblüffung stand ihm ganz deutlich ins Gesicht geschrieben. Der Brünette beobachtete, wie sich Tränen in Mokubas Augen sammelten und nur Sekunden später über seine Wangen rollten. Seto verstand noch immer nur Bahnhof, aber vermutlich hatte das alles etwas damit zu tun, warum er überhaupt hier war.   „Seto“, flüsterte der Kleinere mit brüchiger Stimme, und es sah so aus, als wäre er drauf und dran, ihn zu überwältigen und in eine feste Umarmung zu ziehen, aber er hielt sich zurück. Seto wusste nicht, warum er im Krankenhaus war, aber dass er an der Brust oder an der Schulter verletzt war, hatte er mittlerweile auch schon feststellen können, sodass er seinem kleinen Bruder dankbar war, dass er ihn nicht einfach so überrumpelte.   „Du erinnerst dich an mich?“, fragte Mokuba. Seine Unterlippe bebte und auch sein restlicher Körper schien zu zittern. Als er Seto das Glas gereicht hatte, war er aufgestanden, setzte sich nun aber zurück auf den Stuhl, weil er offensichtlich Probleme damit hatte, das Gleichgewicht zu halten.   Verwirrt fragte Seto: „Warum sollte ich mich denn nicht an dich erinnern können?“ Und da wich die Verblüffung vollständig der Erleichterung, auch ein Lächeln legte sich auf Mokubas Lippen, bevor er ihm zunickte. Er schien noch immer mit seinem Wunsch nach einer Umarmung zu ringen, nahm stattdessen aber mit Setos Hand vorlieb, die er fest drückte. Seto würde es nicht laut aussprechen, weil er nicht wollte, dass seinem kleinen Bruder der Wunsch nach Nähe, den er gerade ganz offensichtlich hatte, verwehrt wurde, aber selbst diese Berührung tat so weh, dass der Schmerz sich in Setos Körper erneut wellenartig verbreitete und das Pochen in seinem Kopf für einen kurzen Moment beschleunigte.   Es war für einige Augenblicke still, dann wiederholte Seto seine Frage von vorhin, weil Mokuba keine Anstalten machte, sie zu beantworten – möglicherweise hatte er sie auch einfach im Eifer des Gefechts schon wieder vergessen. „Mokuba, wo bin ich und was mache ich hier?“   Mokuba schaute ihn abwechselnd betrübt und ängstlich, fast eingeschüchtert an. Er atmete tief durch und antwortete dann mit einer Gegenfrage: „Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?“   Seto schloss die Augen und versuchte, in den Tiefen seines Kopfes irgendwie schlau aus dieser Situation zu werden. Was war passiert? Da war die Abschlussfeier gewesen, die er mit Joey zusammen besucht hatte, eine magische Nacht. Danach war ein bisschen der Alltag eingekehrt – er hatte sich mehr und mehr um seine Firma gekümmert, nachdem sie nun ja nicht mehr zur Schule gehen mussten, und Joey hatte die letzten Tage im Café gearbeitet.    Ah, richtig, die Abschiedsfeier! Er erinnerte sich, dass Joey ihn gebeten hatte, auch zu kommen, und das hatte er getan. Aber war da nicht noch was? Hatte er davor nicht noch etwas zu erledigen gehabt? Stimmt, er hatte ein Geburtstagsgeschenk für Mokuba besorgt. In dem Augenblick riss er erschrocken die Augen auf – welcher Tag war heute? Hatte er Mokubas Geburtstag verpasst?   Und als dann auch der Rest der Erinnerung langsam zurückkehrte, hatte er plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. Die Briefe, der Angriff – Joey!   Seto blendete die Schmerzen in seinem Körper nun völlig aus. Das Piepsen im Hintergrund war schneller geworden, sein Atem ging abgehackt, als er mit beiden Händen nach der Hand von Mokuba griff. Eine Welle der Panik erfasste ihn, als er fragte: „Wo ist Joey? Geht es ihm gut?“   Mokuba schien sofort zu verstehen, dass er sich an alles erinnern konnte, was passiert war. Er nickte, dann antwortete er: „Ja, es geht ihm gut. Den Umständen entsprechend zumindest.“   Den Umständen entsprechend? Spielte er auf etwas Spezielles an? Natürlich konnte Seto sich vorstellen, wie emotional aufgewühlt sein Hündchen sein musste, allein der Tatsache geschuldet, dass er im Krankenhaus lag. Aber warum wurde er das Gefühl nicht los, dass mehr hinter Mokubas Worten steckte?   Mokuba seufzte kurz auf, dann fragte er: „Kannst du dich an irgendwas erinnern, was nach dem Angriff passiert ist?“   Seto schüttelte den Kopf. Ihm schwirrten so unendlich viele Fragen durch den Kopf, aber er konnte keine davon richtig greifen, geschweige denn sie verbalisieren. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos. Angestrengt versuchte er, sich auf irgendetwas zu fokussieren, aber es war alles so durcheinander.   Mokuba schien zu verstehen. Also brachte er Licht ins Dunkel und begann, Seto über all das aufzuklären, was in den letzten Tagen passiert war. „Ihr wurdet vor dem Café angegriffen. Joey hat erzählt, dass der Täter eine Waffe hatte und du ihn weggeschubst hast, als er auf ihn schießen wollte. Er... er hat dich getroffen, und...“ Mokubas Schluchzen ging Seto durch Mark und Bein. Er spürte, wie die Hand, die Seto hielt, den Druck erhöhte, und Mokubas andere Hand sich in die Bettdecke krallte. Sein Bruder sah nach unten zu seiner Hand und ließ den Tränen freien Lauf.   Mokuba fing an zu zittern und hatte sichtlich Probleme damit, weiterzusprechen oder seine Fassung zurückzugewinnen. Aber stark, wie ein Kaiba eben war, atmete er ein paar Mal tief durch, atmete gegen die Verzweiflung an, und mit bebender Stimme und noch immer abgewandtem Blick fuhr er fort. „Du bist mehr oder weniger sofort bewusstlos geworden. Gott sei Dank haben die Leute so schnell geholfen, sonst wärst du...“   Erneut brauchte er einen Moment Pause, und Seto gewährte sie ihm. Er konnte sich nur vage vorstellen, wie schwierig das für Mokuba gewesen sein musste, zu erfahren, was passiert war.   Der Kleinere atmete laut hörbar ein und aus, dann sagte er: „Du kamst zusammen mit Joey ins Krankenhaus. Wie schon gesagt, Joey ist nichts passiert, wenn man mal von dem mentalen Schock absieht, aber du musstest notoperiert werden. Joey und ich haben die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht, aber du hattest es geschafft. Allerdings... allerdings mussten sie dich in ein künstliches Koma legen. Du bist erst gestern wieder aufgewacht und... und du... du hast weder mich noch Joey erkannt.“   Nun brach Mokuba vollends zusammen. Er legte seine Arme auf dem Bett ab, bettete seinen Kopf wieder darauf, so wie vorhin, als er geschlafen hatte, nur schlummerte er dieses Mal nicht friedlich vor sich hin, sondern weinte bitterlich all die Tränen, die er wahrscheinlich in den letzten Tagen so angestrengt versucht hatte, zurückzuhalten. Er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass das vermutlich genau das war, was passiert war.   Für einen Moment war Seto mit der Gesamtsituation überfordert, aber er fasste sich schnell wieder. Er streichelte Mokuba über den Kopf und sagte dann: „Jetzt ist alles gut, Mokuba. Ich erinnere mich an dich. Und auch an Joey. Komm her.“ Er streckte die Arme aus, und als Mokuba den Blick hob, warf sich der Kleinere ihm entgegen. Seto hatte vorher gewusst, dass ihm das Schmerzen bereiten würde, aber das Risiko musste er eingehen. Er konnte einfach nicht mitansehen, wie schlecht es Mokuba gerade ging.   „Autsch, vorsichtig, Mokuba“, sagte er lachend, in der Hoffnung, es würde die Situation ein wenig entschärfen – und vielleicht auch dazu führen, dass der Kleinere sich nicht mehr ganz so heftig um ihn klammern würde. Und glücklicherweise hatte das funktioniert, denn er hörte seinen Bruder kichern. Als er sich wieder von ihm löste, wischte er sich ein paar Tränen aus den Augen und lächelte ihn an, was Seto enorm erleichterte, auch wenn er noch immer einem emotionalen Chaos ausgesetzt war. Er musste später auf jeden Fall mit einem Arzt reden, um genau zu verstehen, wie schlimm es um ihn bestellt gewesen war und was das jetzt gegebenenfalls für gesundheitliche Konsequenzen mit sich brächte. Aber für den Moment reichten ihm die Informationen, die er von Mokuba erhalten hatte.   „Wo ist Joey jetzt?“, fragte Seto, und Mokubas Antwort folgte auf dem Fuße. „Ich glaube, er ist bei Yugi. Dass du dich nicht an ihn erinnern konntest gestern, hat ihm schwer zugesetzt. Der Arzt hat zwar gesagt, dass das eine normale Reaktion auf das Koma war, aber es hat ihn dennoch geschockt – uns beide.“   Ja, daran ließ sich schwer rütteln. Wäre es andersherum gewesen, Seto wäre die Verzweiflung in Person gewesen. Was musste der Blonde die letzten Tage durchgemacht haben? Erst war offensichtlich nicht klar gewesen, ob Seto den Angriff überleben würde, dann wurde er in ein künstliches Koma gelegt, nur um dann aufzuwachen und sich nicht an ihn zu erinnern. Ihn überkam ein leichtes Schuldgefühl, auch wenn das absurd war, immerhin hatte er getan, was getan werden musste. Er hatte Joey gerettet, auf so ganz andere Art und Weise als sonst. Und er würde es wieder tun, immer und immer wieder, sollte er jemals noch mal vor dieselbe Wahl gestellt werden.   „Weißt du“, sagte Mokuba und riss Seto damit aus seinen Gedanken, „Joey war hier, jeden Tag. Er hat immer mit dir geredet, weil der Arzt gesagt hatte, das könnte helfen. Ich bin auch jeden Tag gleich nach der Schule hergekommen, und er war jedes Mal da. Kannst du dich an irgendwas erinnern, was während des Komas passiert ist? Der Arzt meinte, die Chancen sind gering, dass du es tust, aber vielleicht ja doch?“   Seto dachte angestrengt nach, aber das letzte, woran er sich jetzt erinnern konnte, war ein immenser Schmerz in der Brust und der Geruch von Blut in seiner Nase. Danach wurde alles um ihn herum schwarz, auch in seiner Erinnerung war danach alles dunkel. Das nächste, woran er sich erinnerte, war, wie er vorhin aufgewacht war. Aber dazwischen – nichts. Gähnende Leere.   Er schüttelte den Kopf, fast schon ein wenig betrübt. Er hätte gern gewusst, was Joey zu ihm gesagt hatte, während er im Koma gelegen hatte. „Nein, ich kann mich leider an nichts weiter erinnern.“   „Und wie sieht es mit dem Angreifer aus? Joey hat gesagt, er hatte das Gefühl, ihr kanntet euch irgendwoher.“   Seto schloss noch mal die Augen, um den Abend in seinem Kopf Revue passieren zu lassen. Sie hatten das Café in bester Laune verlassen. Es war noch immer ziemlich warm gewesen und der Wind hatte ihnen leicht um die Nase geweht. Und dann war da diese schwarze Gestalt aufgetaucht, zunächst im Schatten, bis sie unter das Licht der Straßenlaterne getreten war. Und jetzt konnte sich Seto auch wieder daran erinnern, dass ihm die Silhouette vage bekannt vorgekommen war, und als der Angreifer dann zu sprechen begonnen hatte, wusste er, er kannte ihn.   Was hatte er noch mal gesagt? Er hatte davon gesprochen, dass Seto ihm irgendwelches Leid zugefügt hatte. Er hatte sicherlich eine lange Liste von Feinden, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass er den Namen des Täters bisher nicht darauf vermerkt hatte. Er war kein gewöhnlicher Business-Konkurrent oder ein anderer, schäbiger Duellant, der es nicht mit ihm hatte aufnehmen können. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass ein Feind aus einer dieser beiden Gruppen tatsächlich so weit gehen würde, für seine Ziele zu morden. Zumindest nicht selbst. Insbesondere seine Geschäftskonkurrenten hielt er für schlau genug, das einem Auftragsmörder zu überlassen. Niemand von denen würde sich die Hände selbst schmutzig machen. Und die Gruppe der Duellanten war voll von solchen Tollpatschen, niemand hätte es geschafft, das so gut zu planen.   Und Seto wusste, dieser Angriff war ganz genau geplant gewesen. Das war nicht bloß purer Zufall gewesen. Immerhin hatte Seto nach Bekanntgabe ihrer Beziehung die Anzahl der Sicherheitskräfte deutlich erhöht. Doch wie hatte es der Angreifer geschafft, einen Augenblick abzupassen, in denen sie offensichtlich viel zu ungeschützt gewesen waren? Wo waren seine Sicherheitskräfte in diesem Moment überhaupt gewesen? Er hatte ihnen ganz bestimmt nicht gesagt, dass sie nicht zum Dienst erscheinen musste. Nein, sowas hätte er niemals...   Und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Es machte alles Sinn. Was der Täter mit dem Leid meinte, das er ihm zugefügt haben sollte. Die Stimme, die Statur, es passte alles.   Er wandte sich erneut seinem Bruder zu, und in sicherem Tonfall erklärte er: „Mokuba, ich glaube, ich weiß, wer der Täter ist. Du solltest Joey anrufen, ich will, dass er es auch erfährt und damit wir besprechen können, wie wir vorgehen.“   Mokuba riss erstaunt die Augen auf, doch schon im nächsten Moment nickte er. Sein Blick war siegessicher, als er erklärte: „In Ordnung, ich rufe Joey an und frage eine Schwester, ob sie den Arzt holen kann, damit er dich untersuchen kann, während ich telefoniere.“   Mit diesen Worten stand Mokuba auf, schnappte sich sein Handy und war kurze Zeit später aus dem Zimmer verschwunden. Nur wenige Minuten später betrat ein Mann im weißen Kittel den Raum und untersuchte ihn eingehend. So erfuhr Seto auch noch ein wenig mehr über die medizinischen Hintergründe dessen, was ihm passiert war. Am Ende machte sich allerdings große Erleichterung breit, als der Arzt erklärte, dass langfristige Folgeschäden nicht zu erwarten wären. Er begutachtete auch noch die Wunde an seiner Brust und stellte fest, dass sie gut verheilte, Seto zur Beobachtung aber trotzdem noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben sollte.   Der Arzt verabschiedete sich höflich, und kaum öffnete er die Tür, trat Mokuba auch schon wieder ins Zimmer. „Joey ist gleich da“, erklärte er und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Setos Bett. Seto konnte sehen, wie nervös Mokuba war, und er selbst war es irgendwie auch. Nicht unbedingt, weil er jetzt wusste, wer der Täter war. Nein, er war sich ganz sicher, dass dieser seine gerechte Strafe bekommen würde. Aber Joey jetzt wiederzusehen, versetzte ihn in aufgeregte Vorfreude. Dennoch – aus ihm unerfindlichen Gründen sagte ihm seine Intuition, dass dieses Treffen nicht so laufen würde, wie er es sich jetzt gerade erhoffte. Wie eine dunkle Vorahnung, dass etwas passieren würde, das er sich jetzt noch nicht so genau vorstellen konnte.   Lange konnte er darüber aber nicht mehr nachdenken, weil es schon wenig später an der Tür klopfte und Joey eintrat. Seto hatte sofort das Gefühl, als hätte er ihn jahrelang nicht gesehen, dabei hatte er die Zeit doch mehr oder weniger nur ‚verschlafen‘. Wie musste sich das nur für sein Hündchen anfühlen? Was hatte er durchgemacht? Was für Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen, was hatte er gefühlt, als er Seto im Koma beobachtet hatte?   Das Erste, was Seto an Joey auffiel, war, dass er irgendwie eingeschüchtert wirkte. Als er den Raum betrat, machte er sich klein und er sah so aus, als ob er sich direkt unwohl fühlte. Er konnte ihn im ersten Augenblick nicht direkt ansehen, schien sich dann aber wieder zu fangen. Seto erkannte ihn gar nicht wieder. Das war nicht das lebhafte, fröhliche Hündchen, das der Blonde vor ein paar Tagen noch gewesen war. Er war glücklich gewesen, daran hatte für Seto kein Zweifel bestanden. Das war er nicht immer gewesen in ihrer bisherigen gemeinsamen Zeit, gerade nachdem, was Joey in seinem Leben schon alles durchmachen musste, und vermutlich würden noch viele weitere Höhen und Tiefen folgen. Aber als sie sich zuletzt gesehen hatten, da hatte er so befreit gewirkt, so voller Hoffnung für die Zukunft. Das Häufchen Elend, das jetzt in seinem Zimmer stand und nicht so richtig wusste, was er mit sich anfangen sollte, wirkte eher so, als hätte man ihm alle Lebensgeister ausgesaugt. Aber konnte Seto es ihm denn verübeln? Wie wäre es ihm wohl gegangen, wäre die Situation andersherum ausgegangen? Und wenn er ehrlich war – sie hätte auch genauso gut andersherum ablaufen können, hätte Seto Joey nicht rechtzeitig zur Seite geschubst.   „Hey“, sagte Joey mit leiser Stimme und näherte sich dem Bett. Sein Gesichtsausdruck wurde dominiert von Skepsis, aber da war noch etwas anderes, das Seto nicht richtig deuten konnte. Joey blieb merklich auf Distanz, aber warum? War etwas passiert, während er abwesend gewesen war?   „Joey, komm her“, erwiderte Seto, setzte sich noch etwas weiter auf – unter Schmerzen, aber das ließ er sich nicht anmerken – und streckte die Hände nach dem Blonden aus. Er zog sich einen Stuhl ans Bett, setzte sich darauf und griff vorsichtig nach Setos Armen. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, zog Seto ihn in eine enge Umarmung, wieder begleitet von Schmerzen, aber wenn er dafür sein Hündchen nur für ein paar Momente im Arm halten konnte, war es das allemal wert.   Joey ließ sich mitziehen. Zwar spürte Seto zunächst, dass er sich eigentlich widersetzen wollte, aus Gründen, die wohl sein Geheimnis bleiben würden, aber am Ende ließ er es doch zu. Seto spürte, wie der Blonde in seinen Armen anfing zu zittern, und kurz darauf vernahm er ein leises Schluchzen. Wieder regten sich Schuldgefühle in ihm, die absurd waren, weil er genau das Richtige getan hatte. Aber er wollte sein Hündchen so nicht sehen. Er wollte ihn glücklich machen, immer, und dass er sich gestern wohl noch nicht wieder hatte an ihn erinnern können, schien dem Blonden sehr zugesetzt zu haben. Das wurde jetzt ganz deutlich.   Also zog Seto Joey noch etwas enger an sich und strich ihm sanft über den Rücken, versuchte ihn, mit seinen Berührungen und seinen Worten ein wenig zu beruhigen. „Shhh, Joey, ich bin hier. Ich gehe nicht weg. Ich vergesse dich nicht. Als wenn ich dich jemals vergessen könnte. Ganz ruhig.“   Für einige weitere Sekunden ließ Joey den Tränen freien Lauf, die sich in Setos Krankenhauskleidung verewigten, bis er den Blick wieder anhob und sich aus seinen Armen befreite. Er sah dennoch irgendwie unsicher und verzweifelt aus, und nicht zum ersten Mal heute hatte er das Gefühl, dass noch mehr hinter Joeys Verhalten steckte, als nur das, was Seto sich so mühsam zusammengereimt hatte.   Seto hoffte, später noch einige Minuten mehr mit Joey allein zu haben, um über alles zu sprechen, was passiert war, während er nicht bei Bewusstsein gewesen war. Doch nun mussten sie erst mal darüber reden, wer ihnen das angetan hatte, und wie sie am besten vorgehen konnten.   „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wer der Täter war“, erklärte Seto und ließ das so für einen Moment im Raum stehen, auch wenn das keine neue Information für die beiden war. Er sah zwischen Mokuba und Joey hin und her, und als er das Gefühl hatte, sie waren bereit dafür, zu hören, was er zu sagen hatte, fuhr er fort. „Ich hatte schon bei dem Angriff das Gefühl, ich würde ihn kennen, doch vorhin ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Sein Name ist Akihiro Noda.“   Mokubas Augen weiteten sich, bevor er erschrocken fragte: „Mr. Noda? War das nicht unser früherer Sicherheitschef?“ Seto nickte. „Genau. Das war er allerdings nicht lange, gerade mal für ein halbes Jahr. Er ist ständig betrunken zur Arbeit erschienen und hat ansonsten auch nicht sonderlich mit Leistung geglänzt. Dass ich ihn überhaupt so lange habe für mich arbeiten lassen, grenzt schon an ein Wunder.“   Und nun, zum ersten Mal heute, wenn man mal von der kargen Begrüßung von vor ein paar Minuten absah, meldete sich Joey zu Wort. „Aber er wird ja nicht die einzige Person sein, die du jemals gefeuert hast. Was war bei ihm anders? Warum würde er so weit gehen wollen?“   Setos Blick glitt zu Joey und er griff seine Hand. Er merkte, wie der Blonde unter der Berührung angespannt und steif wurde, aber er erwiderte den Händedruck. „Das ist richtig. Er ist nicht der Erste gewesen und wird vermutlich auch nicht der Letzte sein. Ich habe es nicht im Detail verfolgt, aber soweit ich gehört habe, hat sich seine Frau von ihm scheiden lassen, kaum dass er seinen Job verloren hatte. Sie haben zwei gemeinsame Kinder, ich kann mir nur zu gut vorstellen, dass er die nicht sehen darf, vor allem, weil er ganz augenscheinlich ein notorischer Trinker ist. Ich weiß nicht, ob er es noch ist, immerhin konnte er gut mit einer Waffe umgehen und war treffsicher, aber seine ständige Trunkenheit damals war sicherlich ein ausschlaggebender Grund für seine Frau, sich von ihm zu trennen und ihm die Kinder wegzunehmen. Vielleicht wollte er, dass auch ich etwas verliere, das mir wichtig ist, weil er mich für das, was ihm passiert ist, verantwortlich macht.“   Seto verstärkte den Druck seiner Hand um Joeys noch etwas, doch er wurde noch immer nicht so richtig schlau aus dessen Gesichtsausdruck. Er wirkte gefasster als noch vor ein paar Minuten, und das war immerhin schon eine Verbesserung, aber ihn ließ das Gefühl nicht los, dass da etwas unausgesprochen zwischen ihnen lag.   „Und... was sollen wir jetzt machen, Seto?“, fragte sein kleiner Bruder und riss ihn aus seinen Gedanken. Er dachte kurz über die Frage nach, dann antwortete er: „Ich denke, als Allererstes sollten wir die Polizei informieren. Du hattest recht, Joey, damit, dass ich das viel früher hätte tun sollen, und wenn ich gewusst hätte, zu was der Absender der Briefe im Stande ist, hätte ich das auch getan. Das Einzige, was mir nicht in den Kopf will, ist, wie er es geschafft hat, den perfekten Zeitpunkt abzupassen. Immerhin war das einer der seltenen Momente, in denen offensichtlich keine unserer Sicherheitskräfte vor Ort waren, und wir müssen rausfinden, warum das so war.“   Für einen Augenblick legte sich Stille über den Raum, allerdings nicht unbedingt der angenehmen Art. Jeder war tief in Gedanken versunken, und Seto ärgerte sich darüber, dass es noch immer so viele ungeklärte Fragen gab. Er mochte keine offenen Fragen, aber er würde die Kontrolle über diese Situation zurückgewinnen. Komme, was da wolle.   „In Ordnung“, erklärte Mokuba entschlossen und erhob sich von seinem Stuhl. „Ich gehe raus und informiere die Polizei. Und ihr zwei redet jetzt bitte miteinander. Diese Atmosphäre ist ja nicht zum Aushalten.“ Und mit diesen Worten stand er auf, schnappte sich zum zweiten Mal an diesem Tag sein Handy und verschwand durch die Tür.   Joey hatte die Augen mittlerweile gesenkt, sodass ihm blonde Haarsträhnen ins Gesicht fielen und den Blick auf dessen Gesicht weitestgehend versperrten. Seine Hand war ganz schlaff geworden, kaum dass Mokuba den Raum verlassen hatte, und es sah ganz danach aus, als hätte er keine Ahnung, was er sagen sollte.   Seto ging es irgendwie ähnlich. Er wusste überhaupt nicht, warum es plötzlich so kompliziert zwischen ihnen war, aber er wusste, er musste etwas sagen, um das Gespräch in Gang zu bringen. „Joey, es tut mir leid, alles, was passiert ist. Ich hätte viel früher auf dich hören sollen.“ Der Blonde atmete tief durch, dann sah er wieder zu Seto auf und es zeichnete sich sogar ein dezentes Lächeln auf dessen Lippen ab. „Vielleicht“, entgegnete Joey, „aber das ist jetzt unerheblich. Sich jetzt Gedanken darüber zu machen, was wir hätten anders machen können, macht wenig Sinn. Man kann die Vergangenheit nicht ändern, aber man kann die richtigen Entscheidungen für die Zukunft treffen.“   Irgendwas an der Art, wie Joey das sagte, gefiel Seto nicht. Ganz und gar nicht. Hatte er Entscheidungen getroffen, von denen der Brünette nichts wusste?   Joey seufzte auf, schloss für einen kurzen Moment die Augen und befreite sich aus Setos Händen, bevor er aufstand und zur anderen Seite des Raumes lief. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schaute aus dem großen Fenster, das die Sonne gnadenlos in das Zimmer scheinen ließ. Seto drehte sich in seine Richtung, sodass er ihn weiterhin von der Seite betrachten konnte. Sein Gesicht wirkte sanft und warm, vor allem durch die einfallenden Sonnenstrahlen, aber seine ganze Körperhaltung, die Arme verschränkt vor der Brust, den Kopf von Seto abgewandt, sprach eine ganz andere Sprache.   Und noch bevor Seto weiter darüber nachgrübeln konnte, was das alles zu bedeuten hatte, fing Joey an zu sprechen. „Weißt du, ich hab immer gedacht, das Schlimmste für mich wäre, dich zu verlieren. Dass du irgendwann aufwachst und merkst, ich bin es nicht wert und dann einfach so aus meinem Leben verschwindest. Dass du aufhörst, mich zu retten, weil du es leid bist. Vielleicht hat ein Teil in mir darauf auch die ganze Zeit gewartet, aber du hast mich nicht aufgegeben, hast immer und immer wieder um und für mich gekämpft. Und ein noch viel größerer Teil in mir findet das gut. Legt es vielleicht sogar darauf an, von dir gerettet zu werden.“   Der Blonde seufzte und drehte sich dann ein wenig zu Seto um, sodass sich ihre Blicke trafen. „Aber ist das nicht furchtbar egoistisch von mir? Ich liebe dich, mehr als Worte es jemals beschreiben könnten, aber immer wieder zu wissen, dass du mich retten wirst, egal was kommt, kommt mir nach den letzten Tagen so rücksichtslos und bescheuert vor.“   Seto konnte überhaupt nichts erwidern. Was genau wollte Joey ihm denn damit sagen? Er hatte das Gefühl, ihm nicht so richtig folgen zu können, aber eins wusste er mit Sicherheit: Die Richtung, in die sich dieses Gespräch entwickelte, ging ihm komplett gegen den Strich.   Joey stieß sich von der Wand ab und kam auf Seto zu. Er beugte sich über das Bett, ihre Gesichter waren sich schon ganz nah, und dann lächelte er, so sanft, dass es Seto Schmetterlinge durch den ganzen Körper jagte. „Joey...“, murmelte er, kurz bevor sich ihre Lippen trafen und sie sich zu einem zarten, liebevollen Kuss vereinigten. Er spürte die Hand seines Hündchens an einer Wange, deren Daumen diese sanft liebkoste. Sie öffneten ihre Lippen und ließen ihre Zungen miteinander tanzen, in ihrem ganz eigenen Rhythmus. Seto seufzte in den Kuss hinein und vergaß für einen kleinen Moment das konfuse Gespräch. Doch als Joey den Kuss wieder löste und ihm sanft über die Lippen strich, kam er zurück in die Realität.   Der Blonde war noch immer zu ihm heruntergebeugt und lächelte ihn an, während die nächsten Worte seinen Mund verließen. „Ich habe mich geirrt. Das Schlimmste für mich ist nicht, dich zu verlieren. Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem ich das bisher angenommen hatte. Das Schlimmste wäre, wenn du sterben würdest, meinetwegen. Einfach nur, weil ich an deiner Seite bin und neben dir existiere. Und ich habe jetzt verstanden, dass das möglich ist. Dass ich eine Gefahr für dich bin. Und das kann ich nicht zulassen.“   Joey schuf erneut Distanz zwischen ihnen, indem er sich wieder gerade aufstellte. Seine Augen wurden feucht und seine Stimme bebte, als er die nachfolgenden Worte sprach. „Ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben, also bleibt mir nur eine Wahl: Ich muss gehen. Damit du ein Leben hast, das du Leben kannst.“   Seto schnürten Joeys Worte die Kehle zu. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein. Das konnte Joey doch nicht wirklich glauben. Seto wollte sich aufsetzen, aber ein Schmerzimpuls durchfuhr seinen gesamten Körper und ließ ihn innehalten. Er sah zu Joey auf, der ihm wehmütig in die Augen sah.    „Joey, was...“ Doch mehr konnte er nicht sagen, denn der Blonde hob abwehrend die Hände. „Es ist das Beste so. Ich...“ Joey rang mit seiner Fassung. Einige wenige Tränen konnten sich ihren Weg über seine Wangen bahnen.   Er wandte sich hastig ab und ging schnellen Schrittes auf die Tür zu, hatte schon die Türklinke runtergedrückt, als ihm Seto hinterherschrie: „Joey! Bitte, bleib hier! Bitte, ich...“   „Versuch nicht, mich zu suchen“, unterbrach ihn Joey und drehte sich noch ein letztes Mal zu ihm um, das Gesicht nun völlig tränenbenässt. „Bitte vergiss niemals, dass ich dich mehr als alles andere liebe, Seto. Du bist die Liebe meines Lebens. Und genau deswegen muss ich gehen.“   Mit diesen Worten öffnete er die Tür und war nur den Bruchteil einer Sekunde später verschwunden. Er hinterließ einen Seto Kaiba, dessen Herz zu explodieren drohte, dessen Atmung scheinbar völlig zum Erliegen gekommen war und dessen Schock so tief saß, dass er nicht mehr tun konnte, als regungslos auf dem Bett zu sitzen und machtlos zuzusehen, wie sein Hündchen seine Welt in tausend Einzelteile zerbersten ließ. Kapitel 35: Rescue me... In another life? ----------------------------------------- Joeys Herz pochte wie wild, als er die Tür hinter sich schloss und damit auch ein Kapitel, wenn nicht das Kapitel seines Lebens. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, was er fühlte. Er musste jetzt schnell handeln. Er kannte Seto. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn zu finden, und es war auch egal, dass Joey ihn darum gebeten hatte, es nicht zu tun. Vielleicht würde gerade das dafür sorgen, dass er es noch mehr wollte.   Noch immer vor Setos Zimmertür stehend, sah er nach links und nach rechts, um einzuschätzen, wohin er laufen musste. Verdammt, Mokuba stand genau an dem Ende des Ganges, an dem sich der Vordereingang des Krankenhauses befand. Er telefonierte zwar noch und war daher etwas abgelenkt, aber es war dennoch ziemlich riskant. Also blieb nur rechts, oder?   Der Druck, schnell die richtige Entscheidung treffen zu müssen, schnürte Joey die Kehle zu. Der Blonde wusste, sobald Mokuba zurück in Setos Zimmer war, würde die Suchaktion losgehen. Er hatte vielleicht ein paar Minuten. Wie sollte er es schaffen, an Mokuba vorbeizukommen, ohne dass er ihn sah?   Doch dann ergab sich seine Chance. Mokuba beendete das Telefonat und wurde von einer Krankenschwester angesprochen, die mit ihm zum Tresen am Vordereingang ging. Vermutlich würde sie mit ihm kurz über Setos Entlassung sprechen wollen, oder aber einfach über seinen allgemeinen Zustand. Aber das ging Joey nichts an, nicht mehr...   Als er die Hitze in seinen Wangen aufkeimen spürte, setzte er sich in Bewegung. Mokuba hatte ihm den Rücken zugekehrt, das Personal war anderweitig beschäftigt, niemand achtete auf ihn, wenn er sich nicht zu auffällig benahm. Das war seine Chance, eine Chance, die er so vielleicht nicht mehr bekommen würde. Also schaltete er für einen Moment seine Gefühle und Gedanken aus und konzentrierte sich ausschließlich auf das, was unmittelbar vor ihm lag. Und als er an Mokuba vorbeiging und die Tür nach draußen öffnete, da hielt er für eine Sekunde den Atem an, aus Angst, doch erwischt zu werden. Aber er schaffte es unbemerkt nach draußen, wo die Sonne erbarmungslos auf ihn herunter schien.   Und dann rannte er. Rannte, als wenn es um sein Leben ging. Er wusste nicht, wohin, aber er lief, so weit ihn seine Füße tragen konnten. Nahm Wege und Straßen, die er sonst nicht einschlagen würde, weil er sicherlich zunächst dort gesucht werden würde, wo er am ehesten vermutet werden würde.   Ob sie schon mit der Suche begonnen hatten? Wie viel Zeit war wohl schon vergangen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte? Noch immer rannte Joey ziellos durch die Straßen der Stadt, hechelnd und atemlos, und dachte, dass es sich eigentlich nur um Minuten gehandelt haben könnte, wobei er Schwierigkeiten hatte, seinem eigenen Zeitgefühl zu vertrauen. Darauf war wohl genauso wenig Verlass wie darauf, dass er Seto jemals wiedersehen würde.   Die Erkenntnis, was er da gerade getan hatte, traf ihn wie ein Schlag und er hielt in der Bewegung inne. Er beugte seinen Oberkörper nach vorn und stützte sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel ab, die andere Hand an seinem Hals, hoffend, endlich wieder zu Atem zu kommen. Er hatte kurz das Gefühl, sich übergeben zu müssen, teils wegen der körperlichen Erschöpfung, aber auch aufgrund dessen, welche Entscheidung er da getroffen hatte. Als er spürte, wie die ersten Tränen seine Augen benässten, schüttelte er den Kopf, konnte sie aber doch nicht vollständig vertreiben.    Als er wieder einigermaßen Luft bekam, stellte er sich wieder aufrecht hin und sah sich um. Er war tatsächlich in einer Gegend gelandet, in der er bisher noch nie gewesen war. Aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Er wusste, er musste untertauchen und zu einem Geist werden, wenn er nicht wollte, dass Seto ihn fand. Und da fiel ihm wieder ein, was der Grund war, weshalb er ihn beim ersten Mal gefunden hatte.   Er zog sein Telefon aus seiner Tasche und sah darauf. Die wichtigsten Telefonnummern kannte er auswendig. Er schaute auf sein Hintergrundbild – ein Bild von Seto und ihm, das er geschossen hatte, während Seto geschlafen hatte. Joey grinste darauf frech, während Seto unheimlich friedlich aussah. Seine braunen Haare lagen ihm kreuz und quer im Gesicht. Der Blonde erinnerte sich, dass Seto kurz danach wach geworden war und grummelnd gesagt hatte, dass Joey wieder schlafen solle und ihn dann an sich gezogen hatte. Seto hatte den Kopf an Joeys Nacken gelegt, die Arme um seine Taille, und hatte sich dann schnurrend an ihn gekuschelt. Er war so warm gewesen und Setos Haare hatten Joey am Hals gekitzelt, sodass er hatte kichern müssen. Danach hatte er sich aus seinen Fängen befreit und sich zu ihm umgedreht, hatte seinen Kopf in beide Hände genommen und ihm einen zärtlichen Kuss auf den Mund gegeben, bevor er sich wieder an Setos starke Brust gelegt hatte und schnell eingeschlafen war.   Erst ein Strom aus Tränen, der seine Wangen hinunterfloss, holte ihn zurück in die Realität. Er musste einsehen, dass er ihn vermisste, jetzt schon, und es war, als wenn sich eine Hand um sein Herz legen und es zerquetschen würde, sodass es in kleinste Einzelteile zerfiel. Er hatte das Gefühl, sich nicht länger auf den Beinen halten zu können, also ging er in eine verlassene Seitengasse. Er lehnte sich mit dem Rücken an eine kühle Betonwand und rutschte dann langsam zu Boden, zog seine Beine nah an seinen Körper und bettete seinen Kopf auf seinen Armen, die er auf seinen Knien abgelegt hatte.   Er wurde von seinen Emotionen übermannt, und anders als am Krankenhaus, ließ er es jetzt zu. Seine Augen brannten schon jetzt aufgrund der vielen Tränen, sein Hals fühlte sich rau und trocken an und er hatte immer mehr Schwierigkeiten, sein Schluchzen unter Kontrolle zu bekommen. Er spürte sein Herz rasen, so als wenn es ein Wettrennen gewinnen wollte, und was auch immer das wohl für ein Wettbewerb war, Joey wusste, dass es den Versuch nicht wert war, weil es nichts zu gewinnen gab.   Alle Muskeln in Joeys Körper verkrampften sich bei dem Gedanken daran, dass er Seto verlassen hatte. Und dieses Mal war es ein Abschied für immer. Er hatte das schon ein paar Mal gesagt in der Vergangenheit, aber es hatte immer auch einen Teil in ihm gegeben, der gehofft hatte, es würde Rettung für ihn geben. Aber dieses Mal war es anders, denn dieses Mal war es Seto, nicht er, der gerettet werden würde. Und genau deswegen gab es jetzt kein Zurück mehr.   Joey hob den Kopf ein wenig an und legte sein Kinn auf seinen Armen ab, starrte die gegenüberliegende Hauswand an. Sein Blick blieb tränenverschleiert und immer wieder rollten ihm einzelne Tränen über die Wangen. Er versuchte, tief durchzuatmen, gegen das Schluchzen anzukommen, aber es war mehr oder weniger zwecklos. Sein ganzer Körper zitterte, aber er wusste, er hatte die richtige Entscheidung getroffen.   Es hatte sein müssen. Joey hatte gesehen, was für eine Gefahr er für Seto sein konnte, und er liebte ihn viel zu sehr, als dass er ihn dieser Gefahr aussetzen wollte. Er konnte das Risiko nicht eingehen, bei ihm zu bleiben und ihn dann möglicherweise sterben zu sehen. Nein, er wollte ein Leben für Seto, und das Schicksal hatte ihm deutlich gezeigt, dass es das nur ohne ihn geben würde. Es tat weh, verdammt, es tat so unheimlich weh. Aber für Joey war klar, dass es keinen anderen Weg gab.   Kraftlos stand er auf und holte erneut sein Handy aus der Tasche. Noch ein letztes Mal sah er auf das Bild auf dem Display. Er entfernte die SD Karte aus dem Slot, auf der auch ihre gemeinsamen Bilder gespeichert waren, und verstaute sie sicher in seiner Jackentasche. Er würde sie so schnell nicht mehr betrachten können, aber so wusste er wenigstens, dass ein kleiner Teil von Seto immer bei ihm sein würde. Auch wenn sie nicht mehr zusammen sein würden – nie wieder.   Und dann schmiss er das Handy in eine Mülltonne in der Seitengasse. Das war er also. Der erste Schritt heraus aus seinem bisherigen Leben, sein Leben mit Seto, das es nun nicht mehr geben würde. Aber es war die einzige Möglichkeit. Joey wusste, Seto würde es schaffen, er würde ohne ihn klar kommen. Sein Drache war so stark und er hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Er würde auf eine erfolgreiche Zukunft blicken können, und auch wenn er sicherlich die ein oder andere Herausforderung zu bewältigen hätte, würde Joey nun keine mehr davon sein. Und auch keine mehr auslösen. Seto würde leben können, und das war alles, was Joey sich in diesem Moment wünschen durfte.   Joey trat aus der Seitengasse heraus, während die Sonne noch immer gnadenlos auf die Straße niederschien. Er ließ seine Hände in seine Hosentaschen gleiten und hielt den Kopf gesenkt. Noch immer weinte er still Tränen des Abschieds, und die salzige Flüssigkeit brannte in seinen Augen, auf seinen Wangen, seinen Lippen. Er wusste nicht, in welche Richtung er lief, aber er musste weg. Weit weg. So weit weg, dass Seto ihn auf keinen Fall fand. Er würde ein paar Maßnahmen treffen und sich um einige Dinge kümmern müssen, und trotzdem sich das wie eine überwältigende Aufgabe anfühlte, war es die einzige Möglichkeit, die Joey jetzt hatte.   Er musste sein Leben aufgeben, um Seto das Leben zu ermöglichen, das er verdient hatte. Und vielleicht würden sie sich irgendwann wiedersehen - in einem anderen Leben...   ~~~~   Seufzend legte Seto den Stift auf seinem Schreibtisch ab. Vor ihm lagen wichtige Verträge, die er unterzeichnen musste, und das versuchte er jetzt schon seit geschlagenen drei Stunden. Aber er las sich Verträge immer bis ins kleinste Detail durch, bevor er seine Unterschrift druntersetzte. Er hatte die Dokumente immer und immer und immer wieder gelesen – aber keines der Worte hatte ihn wirklich erreicht. Er hatte nicht genug Konzentration dafür, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war das im Moment auch gar nicht so ungewöhnlich für ihn.   Wie viele Wochen war es jetzt schon her, dass Joey verschwunden war? Oder waren es gar Monate? Sein Blick wanderte zu seinem Schreibtischkalender. Es war Ende Oktober und er schreckte kurz auf, als er bemerkte, dass er seinen eigenen Geburtstag vergessen hatte. Doch dann erinnerte er sich, dass Mokuba ihm vor ein paar Tagen ja sogar gratuliert hatte, und Seto war heilfroh, dass er es dabei belassen und nicht wieder eine seiner berühmt berüchtigten Partys organisiert hatte. Immerhin gab es für den Braunhaarigen gerade wohl nichts Unwichtigeres als seinen eigenen Geburtstag. Wozu sich die Mühe machen, zu feiern, dass man ein Jahr älter geworden war? Das war nicht wichtig, genau wie so vieles anderes. Er würde alles, was er hatte, geben, all seine Besitztümer, seine Firma, alles, wenn er dafür nur sein Hündchen noch ein einziges Mal würde sehen dürfen.   Er erinnerte sich zurück an den Tag, an dem es passiert war, an dem sein blonder Engel ihn für immer verlassen hatte. Für einen kurzen Moment war Seto in einer Schockstarre gefangen gewesen, als Joey die Tür hinter sich geschlossen hatte. Schon Augenblicke später hatte Seto aufspringen und ihn zurückholen wollen, doch noch bevor er sich die Kanüle aus dem Arm und die Sensoren von seiner Brust hatte reißen können, hatte er festgestellt, dass er noch zu schwach gewesen war, um aufzustehen. Es war ihm nichts geblieben außer der Erkenntnis, dass er tatenlos hatte zusehen müssen, wie Joey verschwand. Und als der Blonde das getan hatte, da hatte er auch Setos Herz mitgenommen.   Irgendwann war Mokuba wieder in den Raum gekommen, und als Seto ihm berichtet hatte, was geschehen war, hatte Mokuba die Zügel in die Hand genommen und sofort einen Suchtrupp zusammengestellt. Sie hatten den ganzen Tag und die ganze Nacht gesucht, aber Joey war spurlos verschwunden. Natürlich hatte Seto versucht, ihn anzurufen, doch er war immer nur auf der Mailbox gelandet. Er hatte sein Handy orten lassen, gefunden wurde es in der Mülltonne einer verlassenen Seitengasse in einem Stadtteil, in dem er bisher noch nie gewesen war. Das war auch der letzte Ort gewesen, von dem man mit einiger Sicherheit sagen konnte, dass Joey dort gewesen war. Danach verlor sich seine Spur.   Nachdem Seto das Krankenhaus einige Tage später hatte verlassen dürfen, war er zunächst die offensichtlichen Möglichkeiten durchgegangen. Er hatte jeden von Joeys Freunden kontaktiert, und tatsächlich hatten sie eine Nachricht von ihm erhalten, allerdings immer unter einer anderen Nummer. Dasselbe galt auch für seine Schwester und seine Mum. Es war schon fast so, als hätte Joey das minutiös geplant, aber vielleicht hatte er auch einfach nur aus der Vergangenheit gelernt. Er tat ganz offensichtlich alles, um wirklich nicht gefunden zu werden. Er hatte seinen Freunden und seiner Familie geschrieben, dass er für einige Zeit wegmüsse und sie ihn nicht suchen kommen sollten, dass es ihm gut ginge und sie sich keine Sorgen machen müssten. Das war natürlich ein absurder Wunsch – Seto hatte schnell festgestellt, dass sich alle unwahrscheinlich große Sorgen um Joey machten, er selbst eingeschlossen.   Natürlich hatte er die Polizei eingeschaltet, aber sie hatten wenig tun können, da Joey freiwillig gegangen war und damit offiziell nicht als vermisst galt. Er hatte selbst Privatdetektive engagiert, aber auch sie hatten nur begrenzte Mittel und waren nicht weit gekommen, einfach weil es keinen hinreichenden Verdacht auf ein Verbrechen gab und Joey seine Spuren gekonnt verwischt hatte. Nur durch seine guten Beziehungen hatte Seto erreichen können, dass auch die anderen Nummern getrackt wurden, von denen Joey die Nachrichten an seine Freunde und seine Familie geschrieben hatte, auch wenn Seto schon damals gewusst hatte, wie aussichtslos das gewesen war. Am Ende hatte sich seine Befürchtung bestätigt – es waren ausnahmslose Wegwerfhandys gewesen, fast unmöglich nachzuverfolgen, und Joey hatte auch immer nur eine Nachricht von jeweils einer Nummer geschickt und die Handys mitsamt der SIM-Karten anschließend wohl entsorgt. Sein Hündchen hatte offensichtlich ziemlich genau gewusst, was er da getan hatte.   Das Waisenhaus hatte Seto informiert, dass Joey sogar angerufen und um unbefristeten, unbezahlten Urlaub gebeten hatte. Mrs. Nakamura hatte Seto das Telefonat genau geschildert, aber außer der Tatsache, wie ungewöhnlich sein Wunsch geklungen hatte, war ihr nichts besonders auffällig vorgekommen. Sie hatte ihn natürlich nach seinen Gründen gefragt, aber er hatte sich ziemlich vage ausgedrückt. Dass er sich privat um einige Dinge kümmern müsste oder so ähnlich. Am Ende war sie seinem Wunsch nachgekommen, auch wenn sie sich ein wenig Sorgen um Joey gemacht hatte.   Seto fand die Tatsache, dass er um unbezahlten Urlaub gebeten hatte, interessant. Hätte er nicht einfach kündigen können? Hieß das, dass er vorhatte, irgendwann wiederzukommen? Es war ziemlich offensichtlich, dass er sich die Möglichkeit dazu offen hielt, und Mrs. Nakamura war freundlich genug, ihm das durchgehen zu lassen. Wie hätte er sich entschieden, hätte die Waisenhausleiterin seine Anfrage abgelehnt? Hätte er dann wirklich alles fallen gelassen und gekündigt?   Es machte natürlich wenig Sinn, sich Gedanken über etwas zu machen, das so gar nicht passiert war, aber Seto wurde aus Joeys Beweggründen einfach nicht schlau. Er hatte gesagt, dass er verschwinden musste, damit Seto nicht in Gefahr war, und der Braunhaarige konnte absolut sehen, warum Joey das denken musste, so kurz nach dem hasserfüllten Angriff seines ehemaligen Mitarbeiters. Selbstverständlich war dieser mittlerweile seiner gerechten Strafe zugeführt worden. Die Polizei hatte ihn betrunken in irgendeiner Gasse aufgegabelt und er war nur allzu bereit gewesen, rauszuposaunen, was für einen Plan er geschmiedet hatte. Es war ziemlich schnell herausgekommen, dass er sich mit einem von Setos Sicherheitsleuten verbündet hatte – oder besser gesagt, er hatte ihn bestochen. Besagter Mitarbeiter war sein aktueller Sicherheitschef gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass Joey und Seto nach der Abschiedsfeier im Café nicht von seinen Sicherheitsleuten umgeben gewesen waren. Das war das Puzzlestück gewesen, das Seto noch gefehlt hatte, um Mr. Nodas Plan vollends zu verstehen, und er war gar nicht unlogisch aufgebaut gewesen. Zu dumm nur, dass der Mann offensichtlich ein zu redseliger Taugenichts war, wenn er seinen Plan einfach ausplauderte, als ihn die Polizei befragt hatte. Das war schon fast ein bisschen zu einfach gewesen.   Es verstand sich von selbst, dass auch sein bisheriger Sicherheitschef entlassen und den Behörden übergeben worden war. Im Anschluss daran hatte Seto neue Sicherheitsrichtlinien für die Einstellung von Mitarbeitern eingeführt. Er hatte eine unabhängige Agentur beauftragt, die jeden neu einzustellenden Mitarbeiter einer eingehenden Prüfung unterzog, bevor ein Arbeitsvertrag unterschrieben werden durfte – und das galt für alle Neueinstellungen in seinem Unternehmen, unabhängig vom Fachbereich oder der Hierarchieebene. Außerdem sollte es auch während der Anstellung regelmäßige, stichprobenartige Überprüfungen geben. Er hatte mit allen Mitgliedern des Sicherheitsteams begonnen und hatte schnell erleichtert feststellen können, dass sie alle sauber waren. Und die neuen Sicherheitsmaßnahmen würden ebenfalls dafür sorgen, dass das so blieb.   Hätte Joey das nicht auch wissen sollen? Dass Seto dafür sorgen würde, dass so etwas nie wieder passierte? Natürlich war es eine traumatische Erfahrung gewesen, für sie alle, aber vertraute Joey so wenig darauf, dass Seto die richtigen Maßnahmen würde treffen können? Stattdessen hatte er entschieden, ihn zu verlassen. Ein Teil von Seto hatte immer wieder die Hoffnung gehabt, dass er doch zurückkommen würde, insbesondere der Tatsache geschuldet, dass er seinen Job im Waisenhaus bisher nicht gekündigt hatte. Doch die Monate, die mittlerweile ins Land gezogen waren, hatten ihm gezeigt, dass diese Hoffnung absolut unbegründet gewesen war. Er würde nicht mehr zu ihm zurückkommen, das war inzwischen nicht mehr zu leugnen.   Seto hatte jeden Abend, seit er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, auf dem Dach des Hauses verbracht, von dem Joey nun schon ein paar Mal hatte springen wollen. Mokuba hatte ihn irgendwann für verrückt erklärt, weil das zu seinem täglichen Ritual geworden war, egal welchem Wetter er sich auch hatte aussetzen müssen. Vielleicht war es die Hoffnung, dass Joey wieder an diesen Ort zurückkehren würde. Vielleicht war es das Gefühl, ihm hier näher zu sein. Vielleicht war es auch einfach Angst. Irgendwann im Laufe der Zeit war Seto die Vermutung – oder eher die Befürchtung – gekommen, dass Joey vielleicht gar nicht mehr am Leben war. Er hatte seine Spuren gut verwischt, es war fast so, als hätte es ihn nie gegeben. Alle notwendigen Maßnahmen hatte er in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden getätigt. Seitdem gab es keine Spur mehr von ihm.   Und ja, die Möglichkeit, dass er nun endlich Suizid begangen hatte, war durchaus real. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er es versucht hätte. Und wenn es so wäre, dann hatte Seto ihn dieses Mal nicht aufhalten können. Dann hätte er es nicht geschafft, ihn zu retten.   Jeden Abend, wenn er auf diesem Dach stand, sah er in die Ferne, fast so, als wenn er hoffen würde, dass Joey einfach auftauchen würde, so als wäre nie etwas passiert. Er erinnerte sich an das allererste Mal, das sie sich hier getroffen hatten. Das war nun fast auf den Tag genau ein Jahr her, und seitdem hatte Joey Setos ganze Welt auf den Kopf gestellt. Immer und immer wieder. Ob er sich dessen wohl bewusst war?   Immer, wenn die Sonne langsam am Horizont begann unterzugehen, schmerzte die Erinnerung an Joey noch ein wenig mehr. Seto konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob Joey noch am Leben war. Ob es ihn da draußen noch gab. Aber er wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er noch existierte, wenn er sich auch für ein Leben ohne ihn entschieden hatte. Aber eine Welt ohne den Blonden machte für Seto einfach keinen Sinn.   Er ließ sich jeden Abend von der Polizei über die Suizide in der Gegend informieren, und glücklicherweise hielt sich deren Zahl doch sehr in Grenzen. Und niemand von der Handvoll Menschen, die in den vergangenen Monaten diesen Weg für sich gewählt hatten, war sein Hündchen gewesen. Das Problem war allerdings, dass er diese Informationen nur für die spezifische Region bekam. Joey konnte mittlerweile überall sein. Seto konnte nicht mal sicher sein, dass er sich noch in Japan befand. Auch Setos Einfluss war begrenzt, solange kein Verbrechen vorlag, und das tat es nicht.   Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, konnte er sich eigentlich hinsichtlich gar nichts mehr sicher sein. Nicht darüber, wo Joey sich befand, oder ob er noch lebte, oder ob es ihm gut ging, oder ob er auch immer genug zu essen hatte. Hatte Seto etwas falsch gemacht? Hätte er ihm noch deutlicher machen sollen, wie sehr er ihn liebte? Wäre er dann vielleicht noch bei ihm? Joey hatte gesagt, er wäre gegangen, damit Seto leben konnte. Aber dieses Leben war trostlos. Es war wie das Leben, das er davor geführt hatte, nur mit dem Unterschied, dass er jetzt wusste, dass er etwas Wichtiges verloren hatte. In seinem Leben vor Joey hatte es nur seine Firma und Mokuba gegeben. Bis das Schicksal ihn zu seinem Hündchen geführt und ein Band um sie gesponnen hatte, das sie unzertrennlich gemacht hatte. Zumindest hatte Seto das bisher immer gedacht. Aber er musste jetzt einsehen, dass er sich geirrt hatte. Das Band gab es immer noch, und es war stark, schon allein der Versuch, es einfach so zerschneiden zu wollen, wäre absolut sinnlos. Aber es war dehnbar. So dehnbar, dass es auf jede Distanz ausgebreitet werden konnte. Und je mehr Joey sich wegbewegte, desto mehr wurde das Band in die Länge gezogen. Das führte zu brüchigen Stellen, und Seto wusste – es war nur eine Frage der Zeit, bis es an einer Stelle einriss und am Ende komplett zerreißen würde. Und wann immer dieser Zeitpunkt auch sein mochte – Seto war sich sicher, dass es ihn vollständig zerstören würde.   Am Ende hatte der Täter also doch das bekommen, was er gewollt hatte – dass ihm das, was ihm mehr als alles andere bedeutete, genommen worden war, wenn auch nicht durch den Tod. Und das hinterließ ein großes Loch da, wo sein Herz gewesen war. Denn das gab es nicht mehr. Das hatte Joey mitgenommen, und er würde es behalten – auf ewig.   Irgendwann kam Seto zurück ins Hier und Jetzt, in sein Arbeitszimmer in der Villa, die ohne Joey so still war, leblos. Er war jetzt schon seit einigen Monaten fort, aber Seto vermisste ihn wie an dem Tag, an dem er die Tür hinter sich geschlossen und nie wieder geöffnet hatte. Und mit Erschrecken musste Seto feststellen, dass die Erinnerungen an Joey ganz allmählich verblassten. Wie sah noch mal das Gold in Joeys Augen genau aus? Wie hörte er sich an, wenn er in ihren Kuss seufzte? Wie fühlten sich Joeys Lippen auf seinen an? Es waren zum Teil Kleinigkeiten, und doch bedeuteten sie für Seto die Welt.   Alles, was ihm geblieben war, waren die Bilder in ihrem Fotoalbum. Der Ordner, der sie einst auseinandergerissen hatte und der nun die einzig verbleibende Verbindung zu seinem Hündchen war. Er war voll von Bildern der Momente, in denen sie glücklich gewesen waren. All die Fotos zeigten ihre Geschichte, und Seto blätterte sich gedankenverloren durch die Seiten – bis er bei der letzten Seite angelangt war. Die einzige Seite, die noch nicht durch ein Foto geziert wurde.   Seto klappte den Ordner zusammen und warf ihn kraftvoll vom Tisch. Eine Wut stieg in ihm auf, vor allem auf sich selbst, weil er Joey nicht dazu hatte bringen können, bei ihm zu bleiben. Er hatte ihn nicht halten können. Und jetzt war er fort und die letzte Seite des Ordners würde für immer nur weiß bleiben, würde ihn ewig daran erinnern, wie leer auch sein Leben ohne Joey war. Er war zu schwach gewesen, hatte nicht genug um sein blondes Hündchen gekämpft, und jetzt war es zu spät. Und das würde er sich nie verzeihen. Niemals.   Schwungvoll stand Seto auf und ließ den Bürostuhl nach hinten rollen, der mit einem lauten Geräusch gegen die hinter ihm liegende Wand knallte. Hastig griff er sich seine Jacke und verließ das Arbeitszimmer. Mit schnellen Schritten ging er den Gang hinunter zum Fahrstuhl, fuhr in das Untergeschoss, wo seine Autos sauber aufgereiht standen. Mit einem Klick öffnete er seinen Lieblingswagen, den schwarzen Audi A8, und ließ sich auf den Sitz fallen, bevor er den Wagen startete und losfuhr.   Er wäre dumm zu glauben, dass es einen Ort gab, der ihn den Schmerz vergessen lassen könnte. Den gab es nicht und den würde es auch in Zukunft nicht geben. Alles, was er wusste, war, dass er hier wegmusste, wenn auch nur für ein paar Stunden. Ihm fiel die Decke auf den Kopf. Er hielt es einfach nicht mehr aus.   Ohne genaues Ziel irrte er durch die verregneten Straßen. Ein kleiner Sturm war aufgezogen, fast so, als wenn die Götter wüssten, wie es in seinem Inneren aussah. Denn auch in ihm tobte ein Sturm aus verschiedensten Emotionen – Angst, Verzweiflung, Wut, Selbsthass. Wie hatte er nur zulassen können, dass Joey einfach so verschwand? Warum hatte er es noch nicht geschafft, ihn zu finden? Er war Seto Kaiba und als solcher bekannt dafür, dass er eigentlich alles schaffte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Und die Leute hatten recht – das war bisher auch immer so gewesen. Bis er sich der Herausforderung gestellt hatte, Joey zu finden und zu ihm zurückzubringen. Vielleicht würde das die einzige Aufgabe sein, die selbst ein Seto Kaiba nicht würde bewältigen können.   Er fuhr auf eine Landstraße und ließ die Motoren heulen, trat das Gaspedal ganz durch. Er überholte gekonnte mehrere Autos, bevor die Sicht vor ihm frei war – zumindest soweit er das durch den Regen einschätzen konnte – und erhöhte die Geschwindigkeit weiter. Es war ihm egal, dass er sich selbst in Gefahr brachte, immerhin könnte er jederzeit von der Fahrbahn abkommen und gegen einen Baum knallen. Wäre das so schlimm? Wenn Joey tatsächlich nicht mehr lebte, würde er dann vielleicht sogar wieder bei ihm sein können?   Er verstärkte seinen Griff um das Lenkrad, als er allmählich wieder langsamer wurde. Ihm wurde bewusst, dass er nicht die einzige Person auf dieser Straße war, auch wenn gerade niemand direkt vor ihm fuhr. Er konnte sich von seiner Wut auf sich selbst und seiner Verzweiflung nicht dazu verleiten lassen, andere Menschen in Gefahr zu bringen. Das würde an seiner Situation auch nichts ändern.   Nach ein paar weiteren Kilometern hielt er am Straßenrand an, so, dass ihn alle anderen Autos locker überholen konnten. Der Regen prasselte gnadenlos auf die Frontscheibe und versperrte die Sicht auf alles um ihn herum. Seto schaltete den Scheibenwischer aus, überkreuzte seine Arme auf dem Lenkrad und legte seinen Kopf darauf ab. Sein Atem ging abgehackt und schnell, heiße Tränen liefen ihm über die Wangen. Und immer und immer wieder wiederholte sich eine Frage in seinem Kopf: Warum?   Warum nur war Joey nicht mehr da? Warum hatte er ihn einfach so verlassen können? Warum kam er nicht zu ihm zurück? Seto würde alles für ihn aufgeben, einfach alles. Er vermisste ihn so sehr, dass es ihm jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde die Luft zum Atmen nahm. Sein ganzer Körper zitterte und er presste kraftvoll seine Zähne aufeinander.    Würde dieser Schmerz jemals weggehen? Oder würde er zumindest nachlassen, je stärker die Erinnerungen an Joey verblassten? Würde sein ganzes, zukünftiges Leben darin bestehen, Joey zu finden, oder würde er es irgendwann aufgeben? Könnte er denn aufgeben?   Nein. Nein, er könnte es nicht. Niemals. Und wenn es ein Leben lang dauern würde, ihn zu finden, selbst wenn er ihn nie fand – er musste es versuchen. Er musste sich an die Hoffnung klammern, dass er irgendwo da draußen war und auf ihn wartete. Es konnte nicht anders sein, denn wenn Joey nicht mehr wäre, dann...   Seto schrie. So, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht geschrien hatte. Ließ all die Emotionen raus, ließ das Geräusch an den Wänden des Wagens widerhallen. Es war so schwer ohne Joey. Er wollte nicht zurück zu seinem alten Leben, mit dem Wissen, wie sein Leben hätte aussehen können, wäre Joey noch an seiner Seite. Denn dieses Leben, wie er es bisher gelebt hatte, hatte ihm keine Freude gebracht. Das wusste er jetzt. Er hatte die Kontrolle über alles gehabt, ja, aber erst mit Joey hatte er wirklich gelebt. Und nun waren beide Leben vorbei – er konnte nicht einfach zurückkehren, aber ein Leben mit Joey gab es auch nicht mehr. Wie nur sollte er es schaffen, wieder ein Leben zu finden, das er für lebenswert hielt?   Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Der Regen hatte deutlich nachgelassen, wenn er auch nicht gänzlich verschwunden war. Kraftlos ließ sich Seto nach hinten fallen, gegen den Sitz, und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er hatte alle Gefühle, die er in sich getragen hatte, rausgeschrien, und nun war nur eines übrig geblieben – Leere. Dieselbe Leere, die sein ganzes Leben erfüllen würde, von nun an für alle Zeit. Ein Leben ohne den Mann mit den goldenen Haaren und den goldbraunen Augen, dem ansteckenden Lachen und der Hingabe, sich um andere Menschen zu kümmern.   Seto startete den Motor erneut und schaltete die Scheibenwischer an. Er fuhr wieder auf die Straße, hielt sich nun aber an die geltende Geschwindigkeitsbeschränkung. Er wusste nicht genau, wohin er eigentlich fuhr, ließ sich von seiner Intuition leiten. Er hatte das Gefühl, es gab einen Ort, an den er gern wollte, auch wenn er ihn noch nicht richtig greifen konnte. Aber er war sich sicher – er würde es wissen, sobald er da war.   Und so war es. Als er auf den Parkplatz einbog, wusste er genau, wo er war. Der Regen war verschwunden und hatte dichtem Nebel platz gemacht, als Seto aus dem Auto stieg und ein paar Schritte machte. Er strich über die kleine Mauer vor sich, auf die sich Joey damals gelehnt hatte, den Blick nach vorn gerichtet. Er erkannte den Holzweg, auf dem sie gelaufen waren, bis sie den Sand unter ihren Schuhen gespürt hatten. Der Nebel versperrte ihm größtenteils die Sicht auf das dahinterliegende Meer, aber er konnte es schon hören, wie es heftige Wellen schlug. Er atmete tief durch, sog die salzige Luft in sich auf, dann nahm er den Weg in Richtung Meer.   Als das Wasser deutlicher in Sicht kam, stoppte er. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und ließ sich ganz von dem Anblick der Wellen einnehmen, hörte das Rauschen in seinen Ohren. Ein paar Möwen machten Geräusche und zogen vermutlich ihre Kreise, aber Seto konnte sie aufgrund des Nebels nicht sehen. Ab und an hörte er es donnern, aber der Regen war scheinbar schon weitergezogen. Sein Atem hinterließ eine heiße Luftwolke, wann immer er ausatmete.   Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal mit Joey hier gewesen war. Es war der Tag gewesen, an dem er ihm von seinem Vater erzählt hatte, alles, was er ihm angetan hatte. Seto hatte zwar später noch mehr Details erfahren, aber Joey hatte ihm an diesem Tag so viel anvertraut, dass es ihm noch heute den Atem raubte. Und auch der Braunhaarige hatte sich geöffnet, ihm Dinge erzählt, die niemand von ihm wusste. Es war ein magischer Moment gewesen. Und auch damals hatte es einen Sturm gegeben, der um sie herum getobt hatte, und als sie dann dort auf dem Steg gesessen hatten, da war es plötzlich so friedlich geworden, trotz des andauernden Regens. Man sagt, geteiltes Leid ist halbes Leid. Sie hatten ihren Schmerz miteinander geteilt, und für Seto war es so gewesen, als wenn einige Wunden dadurch geheilt wurden, auch wenn sie beide ihre Narben immer mit sich tragen würden.   Tief in Gedanken versunken, lief Seto den Strand entlang – bis ein Steg plötzlich in seinem Sichtfeld auftauchte, der bisher gut hinter dem Nebel versteckt gewesen war. Und er wusste – es war nicht nur irgendein Steg. Es war ihr Steg, der, auf dem ihr gemeinsamer Weg erst so richtig begonnen hatte.   Als Seto den ersten Schritt darauf wagte, knarzte das Holz unter seinen Sohlen, wie schon damals, und die Wellen schlugen genau so unerbittlich gegen die Planken. Durch den dichten Nebel konnte er das Ende des Stegs, das ins Meer ragte, noch nicht richtig sehen, also ging er ein paar Schritte weiter – bis er plötzlich in dem Nebel vor ihm einen Schatten entdeckte. Saß dort ein Mensch? Seto hielt für einen Moment inne, weil er nicht so richtig wusste, was er tun sollte. Was, wenn die Person nicht gestört werden wollte? Könnte er es ihr verübeln? Auch ihn hatte es offensichtlich hierher gezogen, um allein zu sein, während Seto zur gleichen Zeit in seinem eigenen Kummer ertrank.   Er wusste nicht, ob die Person ihn schon bemerkt hatte. Seine Neugierde gewann die Oberhand, und bevor er weiter darüber nachdenken konnte, ging er weitere Schritte auf den Schatten zu, darauf bedacht, möglichst wenige Geräusche zu machen. Sein Herz schlug plötzlich ganz schnell, auch wenn er den Grund dafür nicht kannte. Noch nicht – denn als die Gestalt sich plötzlich als ein Mann mit blonden Haaren herausstellte, da traute er seinen eigenen Augen nicht.    Seto schüttelte den Kopf. Er musste ganz offenbar den Verstand verloren haben, wenn er jetzt schon halluzinierte. Es gab keinen Grund dafür, dass Joey sich genau zu diesem Zeitpunkt an genau diesem Ort befinden sollte. Wäre das nicht sogar ziemlich dumm von ihm? Nein, es war absolut ausgeschlossen, dass der blonde Mann vor ihm sein Hündchen war.   Um der Person wieder mehr Ruhe zu geben, trat Seto einen Schritt zurück, was ein lautes Knarzen unter ihm auslöste – und den Mann dazu brachte, sich zu ihm umzudrehen. In der Sekunde, als sich ihre Blicke trafen, setzte Setos Herz für eine gefühlte Ewigkeit aus. Es war Joey. Es war tatsächlich Joey. Daran gab es absolut keinen Zweifel.   Minutenlang starrten sie sich nur an, keiner von beiden sagte ein Wort. Seto wusste auch gar nicht, was er hätte sagen sollen, dabei gab es so viel, was er ihm mitteilen, was er ihn fragen wollte. Aber dennoch verließ kein Wort seine Lippen. Auch Joey sah geschockt aus und konnte offenbar nicht glauben, was er sah. Es war um sie herum plötzlich ganz still geworden – oder bildete Seto sich das nur ein? Es war fast so, als ob er Joeys Atem direkt neben seinem Ohr wahrnehmen konnte, dabei saß er meterweit entfernt.   Setos Schockstarre löste sich erst, als Joey ein ganz kurzes Lachen von sich gab, die Augen schloss und dann den Kopf lächelnd wieder in Richtung Meer drehte.   „Ich hab‘ dir doch gesagt, du sollst nicht nach mir suchen.“   Joeys Stimme zu hören, war für Seto wie die Erlösung. Er konnte noch immer nicht fassen, dass sie sich nach Monaten endlich wieder am selben Ort befanden. War das Zufall? Oder Schicksal? War es vorherbestimmt, dass sie sich an genau dieser Stelle wiedersehen würden?   Was auch immer es war, Seto musste seine Chance nutzen – und hoffen, dass Joey nicht wieder wegrennen würde. Also ging er den Steg entlang, bis nach ganz vorne, und setzte sich neben Joey, und es war ihm absolut egal, dass dabei seine komplette Kleidung nass wurde. Beide warfen sich aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu, bevor sie die Augen wieder nach vorne aufs Meer richteten.   „Ich habe dich nicht gesucht“, erklärte Seto, musste sich aber sofort korrigieren. „Wobei, das stimmt nicht ganz. Ich habe dich nicht hier gesucht, zumindest nicht heute. Allerdings habe ich die letzten Monate wirklich versucht, dich zu finden.“   Joey seufzte. „Natürlich hast du das.“   Seto musste lachen und schüttelte dabei den Kopf.   „Warum lachst du?“, fragte Joey und drehte ihm den Kopf zu, seine Verwirrung war ihm deutlich anzusehen. Seto sah ihm direkt in die Augen, noch immer ein Lächeln auf den Lippen, als er sagte: „Ich kann es einfach nicht fassen. Ich habe alles in Bewegung gesetzt, um auch nur den Hauch einer Spur von dir zu finden, war aber absolut erfolglos. Ich wusste nicht mal, ob du überhaupt noch lebst. Und dann suche ich dich mal einen Tag nicht und finde dich. Einfach so.“ Er setzte die Arme zurück, lehnte sich zurück, auf seinen Händen abgestützt, und schaute auf den noch immer von Donner und Blitzen durchzogenen Himmel. „Was will uns das Schicksal wohl damit sagen, Joey?“   Nun musste auch Joey kichern, und sein Lachen war ansteckend. Seto stieg mit ein, und für wenige Augenblicke fühlte er sich so befreit. Das letzte Mal, das er gelacht hatte, war mit Joey gewesen, und es jetzt wieder mit ihm zu tun, fühlte sich unglaublich an.   Irgendwann wurde es wieder ruhig, ihre Blicke auf die Wellen des Meeres gerichtet. Dann ergriff Seto erneut das Wort. „Wo warst du, Joey?“   „Mal hier und mal da. Ich war für eine Weile aus der Stadt verschwunden, weil ich wusste, dass du da noch am ehesten nach mir suchen würdest.“   „Und warum bist du heute hier?“   Joey sah ihm grinsend ins Gesicht. „Dasselbe könnte ich dich auch fragen.“ Dann wandte er den Blick wieder ab, bevor er fragte: „Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, seit wir hier waren, oder?“   Seto nickte, sagte aber nichts weiter, weil er spürte, dass Joey noch mehr sagen wollte, und genau das tat er dann auch. „Ich hatte eigentlich kein genaues Ziel vor Augen, als ich in den Bus gestiegen bin, und plötzlich war ich hier. Schon komisch, irgendwie. Es war fast so, als hätte ich keine andere Wahl gehabt.“   Seto lächelte, als er feststellte, dass es Joey ganz ähnlich ergangen war wie ihm. Und nun wusste er, dass es das Schicksal war, das sie beide heute hierher geführt hatte. Sie konnten versuchen, voneinander getrennt zu sein, aber am Ende würden sie wie durch göttliche Fügung wieder vereint werden.   „Ich hab‘ dich vermisst, Joey“, sagte Seto und beobachtete, wie Joeys Blick nun wieder zu ihm schwenkte. „Ich hab‘ dich auch vermisst, Seto. Jeden Tag. Es gab nicht eine Sekunde, in der ich nicht an dich gedacht habe.“ Schweigend lächelnd sahen sie sich an. Wie gern würde Seto ihn jetzt berühren, aber er wusste nicht, wie viel Joey zulassen würde. Er war überfordert mit der Situation, war so vollkommen ohne Plan, und Joey war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der ihm so den Boden unter den Füßen wegziehen konnte – im positiven wie im negativen Sinne.   Doch Joey nahm ihm den Druck, Entscheidungen zu treffen, ab. Er stand auf, zog die Schnallen seines Rucksacks, der auf seinem Rücken lag, enger und ließ dann die Hände in seine Jackentaschen gleiten. Dann sagte er: „Ich werde jetzt wieder gehen. Es war schön, dich zu sehen, Seto.“   Nein. Nein! In dem Moment brannte bei Seto eine Sicherung durch. Er konnte nicht zulassen, dass er ihn wieder verließ, zumindest nicht ohne eine klare Antwort, warum. Also stand auch er hastig auf und ergriff Joeys Hand, hielt ihn so davon ab, den Steg zu verlassen.   „Warum, Joey? Warum willst du mich verlassen? Habe ich was falsch gemacht? Liebst du mich nicht mehr?“   Joey, der ihm bisher den Rücken zugewandt hatte, drehte sich nun zu ihm um und lächelte ihn liebevoll an. Er trat ein paar Schritte auf ihn zu, und mit seiner freien Hand streichelte er Seto zärtlich über die Wange. „Du hast absolut nichts falsch gemacht, mein Drache. Gar nichts. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Mehr als alles andere.“   Sie waren sich ganz nah, sodass Seto Joeys feuchten Atem in seinem Gesicht spüren konnte. „Was ist es dann? Wovor rennst du weg, Joey?“ Setos Stimme war kaum mehr als ein zittriges Flüstern, und mit jedem seiner Worte näherten sich ihre Gesichter noch weiter an. Joey schien kurzzeitig mit sich zu ringen, überwand dann aber doch den letzten Rest der Distanz. Als ihre Lippen sich vereinigten, spürte Seto in seinem gesamten Körper die Schmetterlinge fliegen. Es war ein betörendes Gefühl, sein Hündchen endlich wieder so nah bei sich zu haben, seine weichen Lippen auf seinen zu fühlen. Gleichzeitig öffneten sie den Mund und ließen ihre Zungen miteinander spielen, während Joeys Daumen noch immer Kreise auf Setos Wange zog.   Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander. Ihre Blicke waren verklärt, und Seto konnte die Sehnsucht in Joeys Augen aufblitzen sehen. Doch da war auch Schmerz, und Seto wusste, das konnte nichts Gutes bedeuten, spätestens dann, als Joey seine Hand von seiner Wange nahm und erneut Anstalten machte zu gehen. Doch Seto hielt noch immer die andere Hand des Blonden fest in seiner. Joeys Blick war auf den Strand gerichtet, als er sagte: „Ich bin gegangen, weil du ohne mich besser dran bist. Du wärst wegen mir beinahe gestorben. Ich weiß, dass alle anderen sagen, dass es nicht meine Schuld war, dass es allein der Täter ist, der das zu verantworten hat. Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass er gefasst und bestraft wurde, auch sein Komplize. Aber es gibt dennoch keine Garantie dafür, dass es nicht wieder passiert. Deshalb muss ich gehen, Seto. Ich weiß, dass du mich nicht gehen lassen wirst, wenn ich direkt vor deiner Nase bin, in greifbarer Nähe. Deshalb muss ich fort. Weit weg, an einen Ort, an dem du mich nicht finden wirst. Damit du dein Leben leben kannst. Denn genau das hast du verdient.“   Joeys Schluchzen, das irgendwann während der letzten Sätze begonnen hatte, ging Seto durch Mark und Bein. „Und du nicht?“, fragte der Braunhaarige mit vor Verzweiflung zitternder Stimme. „Hast du denn nicht auch ein Leben verdient, in dem du glücklich sein kannst? Habe ich dich nicht glücklich gemacht?“   „Doch, das hast du, mehr als Worte es jemals beschreiben könnten. Aber wenn du wegen mir getötet wirst, was wäre das dann für ein Leben? Ich lebe lieber in dem Wissen, dass du überhaupt ein Leben hast, als dich mutwillig in Gefahr zu bringen. Das könnte ich mir niemals verzeihen.“   Joey versuchte sich, aus Setos Handgriff zu befreien, blieb aber weiterhin erfolglos. Nein, so schnell würde er den Blonden nicht gehen lassen, er konnte einfach nicht. „Joey, ich habe alle möglichen Vorkehrungen in den letzten paar Monaten getroffen, damit so etwas nie wieder passieren kann. Hast du so wenig Vertrauen in mich, dass ich die Lage wieder unter Kontrolle kriegen kann?“   Joey schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Aber es ist trotzdem keine Garantie. Keiner deiner Pläne wird dich vollständig schützen können. Ich bin deine Achillesferse, Seto. Deshalb...“   „Nein!“, unterbrach Seto Joey harsch, doch sein Tonfall wurde sogleich wieder milder. „Nein, Joey, ich kann dich nicht gehen lassen.“ Er zog ihn näher zu sich, löste ihre Hände voneinander, nur um beide seiner Hände anschließend auf Joeys kühle Wangen zu legen.   „Vielleicht hast du recht. Vielleicht bist du meine Schwachstelle. Vielleicht gibt es keine Garantie dafür, dass so etwas noch mal passiert. Aber weißt du, wofür es eine 100-prozentige Garantie gibt? Dafür, dass ich dich liebe. Dafür, dass ich mein Leben nicht ohne dich verbringen will, egal was für Gefahren das auch mit sich bringt. Mal abgesehen davon, wie außerordentlich unwahrscheinlich es ist, dass so etwas noch mal passiert, dafür habe ich gesorgt. Joey, du bist mein Leben. Ohne dich habe ich gar keins. Ich liebe dich so sehr, dass jede Sekunde, die du nicht bei mir bist, furchtbar weh tut. Die letzten Monate waren die Hölle für mich. Ich kann nicht ohne dich sein, Joey. Und ich weiß, du kannst auch nicht ohne mich.“   Seto konnte viele Emotionen in Joeys Augen aufblitzen sehen – Angst paarte sich mit Hoffnung, Sehnsucht tanzte mit Verzweiflung, Trauer stand neben Liebe. Seto zog Joey in einen erneuten Kuss, den der Blonde erwiderte, mit einer Leidenschaft, die vor einigen Monaten noch so selbstverständlich zu ihrem Alltag gehört hatte. Joey konnte sagen, was er wollte, aber er hatte ihn vermisst, das wurde ganz deutlich.   Als sie sich wieder voneinander lösten, setzte Joey zum Sprechen an, doch Seto legte ihm einen Zeigefinger auf den Mund und bedeutete ihm so, zu schweigen. „Nein, Joey. Was auch immer du jetzt sagen würdest, lass es. Nichts davon wird mich vom Gegenteil überzeugen können. Ich kann nur mit dir existieren, und ich will auch nur mit dir existieren. Eine Zukunft ohne dich gibt es für mich nicht. Du bist mein Zuhause, Joey, egal wo wir sind. Und ich will mein ganzes Leben mit dir verbringen.“   Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Es war fast so, als ob die unbeherrschbaren Wellen um sie herum dem Sturm seiner Worte weiteren Auftrieb verliehen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag folgte er einfach seiner Intuition, und während er die nächsten Worte sprach, dabei beide Hände fest auf Joeys Wangen legte und ihm tief in die Augen blickte, breitete sich eine alles umfassende Gänsehaut auf seinem gesamten Körper aus.   „Heirate mich, Joey." Kapitel 36: Rescue me... from coming home ----------------------------------------- Der Wind blies Joey um die Nase und wirbelte seine Haare wie wild durch die Luft. Immer und immer wieder flogen sie ihm mitten ins Gesicht, nur um danach wieder in alle Himmelsrichtungen befördert zu werden. Der Regen hatte zwar vor einiger Zeit aufgehört, dennoch waren seine Klamotten komplett durchnässt. Es war kalt, jedenfalls, wenn man ein Thermometer fragen würde. Doch Joey war warm, nein, heiß, und er spürte die Hitze von seinen Wangen bis hinunter zu seinen Zehenspitzen.   Noch immer hielt er die Luft an und für einen Moment war es so, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Setos Worte hallten in seinem Kopf wider, aber es war für Joey dennoch schwer zu verstehen. Als wenn das Echo so laut wäre, dass es sich so anhörte, als würden eintausend Menschen durcheinander quasseln.    Erst als Seto die Hände von seinen Wangen nahm, kam Joey wieder in die Realität zurück. Er blinzelte ein paar Mal, um den Mann vor sich wieder richtig fokussieren zu können. Die Geräusche von außen nahm er noch immer nur gedämpft wahr, weil in seinem Kopf weiterhin großes Chaos herrschte. Doch irgendwann, nach einiger Zeit, die Joey wie Stunden vorkam, da verschmolzen die verschiedenen Stimmen zu einer, und diese eine, verbleibende Stimme wiederholte Setos Satz, immer und immer wieder.   „Heirate mich, Joey.“   Hatte sich der Blonde womöglich verhört? Ja, so musste es gewesen sein. Unmöglich, dass Seto das wirklich gesagt hatte. Oder? Doch als Joey Seto dann wieder richtig in die Augen sah, da wurde klar: Er hatte sich nicht geirrt. Seto hatte ihn gerade wirklich gefragt, ob er ihn heiraten wollte. Setos Augen hatten ihm schon immer verraten, was in ihm vorging, und sie sprachen Bände.   Joey machte aus einem Impuls heraus einen Schritt zurück, und sofort konnte er Angst in Setos Gesicht aufblitzen sehen. Der Braunhaarige nahm seine Hand wieder, wollte ihn scheinbar aufhalten, erneut den Rückzug anzutreten. Joey hielt in der Bewegung inne und ließ weitere Sekunden – oder waren es Minuten? – verstreichen, ohne, dass Worte gewechselt wurden. In seinem Kopf drehte sich alles, und er hatte zunehmend damit zu kämpfen, sich auf den Beinen zu halten.   Er sah, wie Seto tief Luft holte und offenbar zum Sprechen ansetzte, als es plötzlich direkt über ihnen donnerte. Nur wenige Sekunden später spürte Joey die ersten Regentropfen auf seiner Wange, die diesen eine willkommene Abkühlung verschafften. Als der Regen stärker wurde, drückte Seto Joeys Hand noch etwas fester und rief ihm zu: „Komm mit!“   Er zog ihn an der Hand in Richtung Strand, danach den hölzernen Weg zum Parkplatz hoch. Joey ließ sich mitziehen, weil er noch immer keine Kontrolle über seine Gliedmaßen – oder seine Gedanken – zurückerlangt hatte. Wie in Schallgeschwindigkeit öffnete Seto das Auto, und bevor Joey sichs versah, saß er im Wagen, auf dem Beifahrersitz des Mannes, dem er in den letzten Monaten erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Bis das Schicksal offensichtlich andere Pläne gehabt hatte.   Joey schmiss seinen mittelgroßen Trekkingrucksack, der in den letzten Monaten sein ständiger Begleiter gewesen war, auf den Rücksitz. Dann saßen beide Männer schweigend nebeneinander und beobachteten, wie der Sturm wieder heftiger wurde und den Nebel vertrieb, wie die Wellen sich noch stärker auftürmten und den Steg, auf dem sie noch vor wenigen Minuten gestanden hatten, komplett in Besitz nahmen. Die Scheiben beschlugen aufgrund der Feuchtigkeit und Joeys Atem ging noch immer schnell. Es fiel ihm schwer, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Aus dem Augenwinkel sah er Seto, der den Blick gerade nach vorn gerichtet hatte, und es war nicht schwer zu erkennen, dass auch er mit der Situation so seine Schwierigkeiten hatte.   Es führte kein Weg daran vorbei, dass sie darüber sprechen mussten, was da gerade passiert war, so viel war sicher. Da Joey aber noch immer weder wusste, was er dachte, noch was er fühlte, hatte er allerdings keine Ahnung, wie er das Gespräch beginnen sollte. Leichte Panik überkam ihn. Irgendwas musste er doch sagen, irgendwas!   „Joey, bitte, rede mit mir.“ In Setos Stimme klang ein Hauch Verzweiflung mit, und als Joey ihm wieder direkt in die Augen blickte, konnte er nackte Angst in seinem Gesicht erkennen. Noch einmal wandte er den Blick ab, schloss die Augen und atmete tief durch. Seine Gedanken waren ein totales Chaos, aber dennoch, Joey war Seto eine Antwort schuldig. Als er die Augen wieder öffnete, sah er kurz aus dem Seitenfenster, hinaus auf den Sturm, der noch immer unablässig wütete. Ihn überkam ein Impuls, einfach die Tür aufzureißen und wegzulaufen, aber er wusste, das würde die Situation auch nicht lösen. Außerdem war er ja nur gegangen, damit es Seto gut ging, und ihn jetzt einfach ohne eine Antwort sitzen zu lassen, wäre mehr als unfair. Das würde er nicht übers Herz bringen.   Mit einem erneuten, tiefen Atemzug drehte er sich wieder zu Seto um, dessen Blick unverändert ängstlich, aber auch erwartungsvoll auf ihn gerichtet war. Er räusperte sich, aus Angst, dass seine Stimme sonst versagen würde, dann fragte er: „Hast du das gerade ernst gemeint, Seto?“   Das war ganz offenbar nicht, was der Brünette hatte hören wollen. Joey konnte sofort erkennen, dass er unsicher aussah, was ihn sehr erstaunte. Normalerweise war Seto der starke, selbstsichere Part in ihrer Beziehung, und dass sie jetzt beide irgendwie eingeschüchtert von der ganzen Situation waren, half ganz und gar nicht. Aber war es nicht auch verständlich, dass Seto so reagierte? Wenn es andersherum gewesen wäre, wie hätte Joey sich wohl gefühlt, wenn Seto schon die bloße Frage danach, ob er ihn heiraten wollte, anzweifelte? Dass die Frage, so sie denn jemals gestellt wurde, eine Überraschung sein würde, lag ja auf der Hand, zumindest in den meisten Fällen, so vermutete Joey. Nicht, dass er wahnsinnig viele Erfahrungen auf dem Gebiet hatte sammeln können. Die meisten Dinge hatte er mit Seto zum allerersten Mal gemacht, und offensichtlich gehört dieses Gespräch jetzt auch dazu. Und auch wenn es unangenehm war – da mussten sie jetzt irgendwie durch, sie beide.   Seto nickte und signalisierte Joey somit, dass er tatsächlich eine ernstgemeinte Frage gestellt hatte. Joey seufzte auf und widerstand dem erneuten Impuls, die Tür zu öffnen und rauszustürmen. Stattdessen versuchte er, alles, was sich in seinem Kopf abspielte, irgendwie in Worte zu fassen, und hoffte, dass das irgendwie einen Sinn ergeben würde.   „Hältst du das nicht für ein bisschen... na ja... übereilt? Ich meine, ich war gerade monatelang weg. Warum jetzt? Warum so plötzlich, wo wir uns doch gerade das erste Mal seit Ewigkeiten wiedergesehen haben?“   Nun seufzte auch Seto und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, bevor er Joey wieder direkt in die Augen sah und antwortete: „Ich bin mir einfach sicher, dass ich mein Leben mit dir verbringen will. Ist das so falsch?“   Joey verschränkte die Finger ineinander, legte seine Hände in seinem Schoß ab und senkte den Blick darauf. Er ließ ein paar Atemzüge vergehen, bevor er erwiderte: „Nein, ist es nicht. Und dennoch frage ich mich, ob du überhaupt verstanden hast, warum ich gegangen bin.“   „Natürlich kann ich nachvollziehen, warum du gegangen bist. Du wolltest mich schützen, aber ehrlich, Joey, das brauchst du nicht. Ich habe alles Notwendige in die Wege geleitet. So etwas kann nicht noch mal passieren. So etwas wird nicht noch mal passieren.“   Konnte er Setos Worten vertrauen? Ihnen einfach so Glauben schenken? Wie er es ihm auch schon gesagt hatte, er war sich 100-prozentig sicher, dass eine keine absolute Garantie dafür gab. Aber immer wieder wegzurennen, wäre das denn die Lösung? Würde er damit dem Täter nicht geben, was er wollte? Würde er ihm diese Genugtuung geben wollen? Aber was wäre, wenn es doch wieder passierte? Könnte er sich das jemals verzeihen, in dem Wissen leben, dass er der Grund für Setos Leid war? Aber war er das jetzt nicht auch? Natürlich, Seto war nicht körperlich verletzt, aber es war nicht schwer zu sehen, wie stark er emotional gelitten hatte, während Joey nicht da gewesen war. Schuldgefühle breiteten sich in ihm aus. War es egal, was er machte? Gab es nur falsch, aber kein richtig? Was nur war der Weg, den er würde einschlagen müssen?   „Willst du so unbedingt nicht mehr bei mir sein, Joey?“ Seto seufzte, legte die Arme dann auf das Lenkrad und bettete seinen Kopf darauf, sodass Joey sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Dann geh. Ich werde dich nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Das würde uns am Ende beide nicht glücklich machen.“   Aber war es das, was Joey wollte? Ein Leben komplett ohne Seto zu verbringen, wohlwissend, dass auch das sie nicht glücklich machen würde? Schon bei dem Gedanken daran, ihm nie wieder in seine wunderschönen Augen sehen zu können, tat Joeys gesamter Körper weh und er spürte ein Stich in seinem Herz. Und als er dann von der Seite sah, wie Seto stumme Tränen weinte, da wurde ihm eines bewusst: Er hatte vorgehabt, sein eigenes Leben in Glück zu opfern, damit Seto ein Leben hatte und glücklich sein konnte. Aber das war er nicht. Und Joey war es auch nicht.   Joey sog die Luft ein, bis seine Lungen bis zum Maximum gefüllt waren, nur um sie dann langsam wieder ausströmen zu lassen. Er legte Seto eine Hand auf den Oberschenkel, sodass dieser überrascht den Blick hob. Joey hielt den Anblick kaum aus. Setos Wangen waren nass, die Lippen feucht, die Augen gerötet. Es war offensichtlich, wie verletzt er sein musste.   Und während Joey ihm einzelne Tränen aus dem Gesicht wischte, erklärte er: „Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur Angst, Seto. Um dich, nicht um mich. Ehrlich, ich wäre längst tot, wenn es dich nicht gäbe. Ich will einfach nur nicht, dass dir was passiert. Ich... ich weiß nicht, ich will einfach nicht so egoistisch sein. Alles, was ich will, ist, dass du leben kannst, und dass du glücklich bist.“   Und während sie für einen Moment den Regentropfen lauschten, die heftig auf das Autodach niederprasselten, nahm Seto seine Arme vom Lenkrad und nahm Joeys Hände in seine. Sein Blick hatte wieder etwas mehr an Selbstsicherheit gewonnen, an Hoffnung. Das Blau in seinen Augen war ein mindestens genauso intensiver Sturm wie der, in dessen Mitte sie sich gerade befanden. Es war so anziehend, dass Joey seinen Blick nicht abwenden konnte.   „Sei egoistisch, nur für diesen einen Moment, Joey. Wenn du mal alles andere außer Acht lässt und mal nur auf dein Herz hörst – was willst du, Joey? Was würde dich glücklich machen?“   Der Blonde ließ sich auf das Experiment ein. Er ließ die Augenlider sinken, erlaubte sich einen Moment, um über diese Frage nachzudenken. Er hatte gedacht, ihm würden jetzt alle möglichen Gedanken kommen, doch alles, was er vor seinem inneren Auge sah, war Seto. Er sah den starken, arroganten Seto, der er war, wenn er nicht mit Joey oder Mokuba zusammen war. Den liebevollen, zärtlichen Seto, wenn sie ganz allein waren. Den heißen, dominanten Seto, wenn sie Sex hatten. Den Seto mit dem sorgenvollen Blick, wenn Joeys Leben mal wieder Achterbahn mit ihm fuhr. Und er sah den traurigen, verletzten Seto, so, wie er ihn gerade auch gesehen hatte.   Die Antwort, die er geben musste, war eindeutig. Er öffnete die Augen wieder, und es legte sich sogar ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, als er sagte: „Du. Du würdest mich glücklich machen. Das tust du, in jeder Sekunde, in der ich bei dir sein darf. Wenn du lächelst, geht für mich die Sonne auf. Wenn du mich küsst, fühle ich eine Billiarde Schmetterlinge in meinem Bauch. Wenn du mich berührst, bekomme ich überall eine Gänsehaut. Ich liebe dich, Seto, das tue ich wirklich, aber...“   „Kein ‚Aber‘, Joey“, unterbrach ihn Seto und legte ihm einen Finger über die Lippen. „Ich hätte dir exakt dieselbe Antwort gegeben. Du bist es, der mich glücklich macht. Und du weißt so gut wie ich, dass wir beide nur dann richtig glücklich sind, wenn wir zusammen sind. Wir sind beide heute hierher gekommen, auch wenn wir nicht genau gewusst haben, was uns eigentlich hierhin geführt hat. Aber für mich ist das ein eindeutiges Zeichen, dass wir zusammen gehören.“   Er legte eine Hand auf Joeys Wange und liebkoste sie zärtlich, und der Blonde legte seine Hand darüber, schloss kurz die Augen und genoss einfach den Moment. Als er sie wieder öffnete, war Seto auf seinem Sitz ein wenig näher an Joey herangerutscht. „Du hast recht damit, dass ich mich mit der Frage vorhin vielleicht ein bisschen zu weit vorgewagt und dich überrumpelt habe. Nicht, dass ich die Frage nicht ernst gemeint hätte, denn das habe ich. Aber ich verstehe, dass das wohl gerade nicht der passendste Zeitpunkt dafür gewesen ist.“   Joeys Lippen verließ ein kurzes Lachen, bevor sich ein sanftes Lächeln auf seinem Mund manifestierte und er nickte. Zärtlich strich Seto ihm eine Haarsträhne hinter das Ohr, während er seine eigenen Bewegungen mit den Augen verfolgte und in nachdenklichem Tonfall sagte: „Ich will dich nur nicht wieder verlieren, Joey. Vielleicht habe ich gedacht, dass ich durch diese Frage genau das verhindern kann, auch wenn es vielleicht naiv klingt. Ich hätte mein ganzes Leben lang nach dir gesucht, mein Hündchen, ich hätte alles getan, um dich zu finden. Weil ein Leben ohne dich sich so leer anfühlt. Ich weiß nicht, ob ich dir jemals genug Sicherheit geben kann, damit du nicht das Gefühl hast, dass ich in ständiger Gefahr schwebe. Aber ich für meinen Teil weiß, dass ich die richtigen Konsequenzen daraus gezogen habe, was passiert ist, und das lässt mich glauben, dass sich so etwas nicht wiederholen kann. Aber du hast recht, es gibt keine Garantie dafür. Dennoch, ich will nicht ohne dich leben, Joey. Ich will dich bei mir haben, immer.“   Mit einem Ruck zog Joey Seto in eine feste Umarmung, legte seine Arme um dessen Nacken und drückte sich eng an ihn. Joey konnte es versuchen zu leugnen, aber er wusste, dass es ihm ganz genauso ging. Ein Leben ohne Seto wäre vielleicht möglich, aber sinnlos. Es würde ihn niemals glücklich machen. Und er hatte eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Wieder weglaufen, wohlwissend, dass sie dann beide zu einem unzufriedenstellenden Leben verdonnert wurden. Oder das Risiko eingehen und einfach dem Gefühl und auch den Stimmen der anderen vertrauen, dass alles gut werden würde, solange sie nur zusammen waren. Nur das Schicksal allein wusste, was alles noch auf sie warten würde, welche Herausforderungen sie gemeinsam würden bewältigen müssen. Aber Joey war es leid, davonzulaufen. Er hatte in seinem Leben schon so oft den Schwanz eingezogen. Aber das konnte nicht die Lösung sein. Vielleicht würde es eine ganze Weile dauern, diese Angst zu überwinden, aber er wusste, er musste es versuchen. Es führte kein Weg mehr daran vorbei. Das Band um Seto und ihn war so fest, dass es sie am Ende immer wieder zueinanderführen würde. Und Joey wusste innerlich, dass es gut so war.   Er näherte seine Lippen an Setos Ohr, zog sich noch ein wenig dichter an ihn ran, bevor er flüsterte: „Okay.“   Sofort löste sich Seto von ihm, hielt ihn an den Schultern fest und schaute ihn fast schon ungläubig an. „Okay?“, fragte er mit weit aufgerissenen Augen, so als ob er keine von Joeys Regungen verpassen wollen würde.   Der Blonde lächelte, nahm eine von Setos Händen und gab dieser einen zärtlichen Kuss auf den Handrücken. „Ja, okay. Vielleicht bereue ich es irgendwann, aber du hast recht. Ich will nicht ohne dich sein, ich will genauso bei dir sein, wie du bei mir. Aber... aber ich kann dich nicht heiraten. Noch nicht. Vielleicht kann ich es irgendwann, aber... ich weiß nicht, es ist noch zu früh, es ist zu viel auf einmal. Ich...“   Seto unterbrach ihn, indem er ihre Lippen in einem Kuss vereinigte. Es war nur ein ganz kurzer, zarter Kuss, und dennoch spürte Joey, wie die Schmetterlinge in seinem Bauch abhoben. Seto löste sich von ihm, strich ihm sanft mit dem Daumen über die Lippen und sagte: „Schon gut, Joey. Ich verstehe das absolut.“   „Es tut mir leid“, erklärte Joey, und er meinte es auch genauso. Doch Seto schüttelte nur den Kopf und lächelte, und für eine kurze Sekunde dachte der Blonde, dass es seine Augen nicht vollständig erreicht hatte. Und wenn dem wirklich so wäre, dann könnte er es ihm nicht verübeln, aber für den Moment war es die richtige Entscheidung so.   Seto zog ihn erneut in einen zärtlichen Kuss, dieses Mal etwas länger und intensiver, bevor er erklärte: „Und jetzt bringe ich mein Hündchen wieder nach Hause.“ Lächelnd nickte Joey ihm zu, schnallte sich an und spürte, wie sich das Glücksgefühl in seinem ganzen Körper ausbreitete, während Seto den Motor startete und sie sicher zurück nach Hause fuhr.   Die Fahrt zurück verlief mehr oder weniger schweigend, und mit jedem Kilometer, den sie der Stadt und der Villa wieder näher kamen, wuchs Joeys Unsicherheit. Zum einen fragte er sich noch immer, ob er mit der Entscheidung, zurückzukehren, wirklich den richtigen Entschluss gefasst hatte. Natürlich wollte er gern bei Seto sein, das stand außer Frage, aber die Angst, dass er am Ende doch zu einer Gefahr für Setos Leben werden würde, war noch immer da. Er wusste außerdem, dass er viel zu erklären hatte, gegenüber Mokuba, aber auch gegenüber seinen Freunden und seiner Familie. Er war nervös, vor allem den kleinen Kaiba gleich wiederzusehen. Wie würde er reagieren, wo er einfach so verschwunden war, für Monate? Würde er ihn verstehen können? Würde er ihn abweisen? Würde er ihn möglicherweise gar wieder rauswerfen? Natürlich hatte Seto das letzte Wort, aber würde Joey bleiben wollen, wenn er wüsste, dass er nicht willkommen war, zumindest nicht für Mokuba? Joey seufzte von sich selbst genervt auf. Da hatte er sich gerade dazu entschlossen, zurückzukehren, und auch das nur unter Bauchschmerzen, da dachte er schon wieder über Flucht nach. Er musste sich jetzt wirklich mal ein bisschen zusammenreißen. Es kam sowieso so, wie es kommen musste, und daran, dass er so lange weg gewesen war, konnte er jetzt auch nichts mehr ändern.   Als sie in die Tiefgarage der Villa fuhren, hatte der Sturm etwas nachgelassen, außerdem war es mittlerweile dunkel geworden. Bevor Joey aus dem Auto ausstieg, atmete er ein paar Mal tief durch, um sich mental auf das Zusammentreffen mit Mokuba vorzubereiten. Dann fuhr er gemeinsam mit Seto mit dem Fahrstuhl hinauf in das Haus.   Als sich die Türen mit einem lauten ‚Pling‘ öffneten, trat Joey einen Schritt in den Flur, mit den Händen an den Trägern seines Rucksacks geklammert, in der Hoffnung, dass sie ihm ein wenig Halt vermitteln würden. Von Mokuba war noch keine Spur, aber er wusste vermutlich auch nicht, dass sie kommen würden. Na ja, mit Seto hatte er irgendwann im Laufe des Tages sicherlich gerechnet, aber Joeys Ankunft würde ihn, gelinde gesagt, überraschen.   Er beobachtete, wie Seto auf sein Handy sah und dann sagte: „Sollen wir gleich zum Abendessen gehen? Oder willst du erst mal deine Sachen wegräumen?“ Joey überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Ich glaube, ich würde gern kurz duschen, wenn das okay wäre?“ Seto nickte, und gemeinsam gingen sie in ihr Apartment, das nun endlich auch wieder Joeys zuhause war.   Seto öffnete die Tür mit seiner Schlüsselkarte, und da fiel Joey wieder ein, dass er seine auch noch irgendwo in seinem Portmonee haben müsste. Er warf seinen Rucksack in eine Ecke, und noch bevor Joey etwas sagen konnte, kam ihm Seto zuvor. „Hast du deine Schlüsselkarte noch? Ich hatte sie aus Sicherheitsgründen sperren lassen, weil ich nicht wusste, ob du sie vielleicht auch weggeworfen hattest.“ Der Blonde holte seinen Geldbeutel heraus, und schon wenige Augenblicke später hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Er hielt sie Seto hin, der sie an sich nahm und sagte: „Ich werde sie schnell entsperren, während du duschen bist.“ Der Blonde nickte ihm zu, bevor Seto das Zimmer wieder verließ und Joey allein war.   Natürlich war er froh, wieder hier zu sein, aber irgendwie war es auch komisch. Hatte er es überhaupt verdient, hier wieder so freundlich empfangen zu werden, wo er doch einfach so abgehauen war? Er machte sich noch immer Sorgen, wie Mokuba reagieren würde. Dann schüttelte er den Kopf, in der Hoffnung, damit auch seine Gedanken abschütteln zu können, aber es funktionierte nur mittelmäßig. Er ging ins Bad und konnte feststellen, dass sich auch hier nicht wirklich etwas verändert hatte, selbst seine Zahnbürste stand noch in seinem Zahnputzbecher. Es war, als wäre er nie weg gewesen, und vielleicht gab es auch einen Teil in ihm, der die Zeit gern zurückdrehen würde. Vielleicht hätte er sich dann anders entschieden. Oder vielleicht auch nicht? Zum wiederholten Male schüttelte Joey heute genervt von sich selbst den Kopf. Es machte keinen Sinn, sich darüber noch Gedanken zu machen. Er konnte jede seiner Entscheidungen, auch diese, hier zu sein, noch so sehr anzweifeln, aber er hatte sie nun mal getroffen. Und er hatte sie aus Gründen getroffen, die ihm richtig und wichtig vorgekommen waren. Die Unsicherheit blieb, und dennoch, alles, was er jetzt tun konnte, war, das Beste aus der Gegenwart und der Zukunft zu machen.   Nach einer heißen Dusche fühlte er sich ein wenig besser. Er ging ins Ankleidezimmer und bemerkte, dass auch dieser Raum noch immer so aussah wie vor ein paar Monaten. All seine Kleidung lag noch da, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Er zog sich an und ging dann zurück ins Wohnzimmer, wo Seto schon auf ihn wartete. Er übergab ihm die Schlüsselkarte, die Joey sofort in seiner Hosentasche verstaute.   Seto sah ihn stirnrunzelnd an und nahm Joeys Hand, bevor er fragte: „Ist alles in Ordnung?“ Joey seufzte. „Ich weiß nicht. Ich bin irgendwie nervös.“   Der Brünette trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und berührte ihn zärtlich an der Wange. Er schenkte ihm ein liebevolles Lächeln, das Joey fast zum Schmelzen brachte. „Kein Grund, nervös zu sein, Joey. Das hier ist dein Zuhause, und das wird es auch immer bleiben. Ich für meinen Teil bin sehr glücklich, dass du wieder da bist. Wirklich.“ Joey erwiderte das Lächeln bevor er Seto an der Taille umarmte und seinen Kopf gegen dessen Schulter lehnte. Der Brünette zog ihn noch enger an sich, und für einige Augenblicke standen sie eng umschlungen da, bis Joey sich wieder löste. „Sollen wir?“, fragte er, und Seto nickte, noch immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Dann nahm er seine Hand, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins Esszimmer.   Joey atmete noch einmal tief durch, dann folgte er Seto in den Raum, in dem sich Mokuba schon befand. Der Blonde beobachtete alle Regungen des Kleineren genau. Zunächst lächelte er Seto zur Begrüßung an, dann schien er Joey zu bemerken. Seine Gesichtszüge zeigten zunächst Überraschung und Erstaunen, und während seiner nachfolgenden Worte haftete sein Blick weiterhin auf Joey. „Du hast ihn gefunden.“   Seto nahm seinen üblichen Platz ein, während Joey noch immer wie angewurzelt am Eingang stand. Der Braunhaarige lachte auf, dann erklärte er: „Na ja, ich würde eher sagen, wir haben uns gegenseitig gefunden.“ Joeys Blick ging wieder zu Mokuba, dessen Unterlippe leicht anfing zu beben. Doch dann fasste er sich wieder und stand auf, die Hände zu Fäusten geballt, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen, die Augen ein wenig zusammengekniffen.   Für eine Weile rührten sie sich nicht, alle drei nicht. Selbst wenn Joey es gewollt hätte, er hätte keine Worte gefunden, um diese Atmosphäre auch nur im Ansatz zu beschreiben. Lange hatte er sowieso keine Zeit, darüber nachzudenken, als Mokuba langsamen Schrittes auf ihn zukam, mit unverändertem Gesichtsausdruck. Als er direkt vor ihm stand, mit vielleicht noch einer Armlänge Abstand, konnte Joey sehen, wie sich Tränen in Mokubas Augen bildeten, und er sah, wie dieser mit aller Kraft versuchte, sie zurückzuhalten.   Er wusste nicht so richtig, was er sagen, was er tun sollte. War Mokuba traurig? Wütend? Beides? Er konnte es nicht so richtig sagen. „Mokuba, ich...“, begann Joey, doch er wurde sofort von Mokuba unterbrochen, der einen weiteren, kleinen Schritt auf ihn zukam und mit seinem Fuß dabei energisch auf den Boden stampfte.   „Weißt du eigentlich, wie beschissen es Seto gegangen ist, weil du einfach verschwunden bist?“ Wütend. Eindeutig wütend. Und Joey konnte es ihm überhaupt nicht verübeln. Er war aus Gründen gegangen, die er für richtig gehalten hatte. Er hatte immer nur das Beste für Seto im Kopf gehabt, auch jetzt noch, was vermutlich auch ein Grund dafür war, dass er noch immer nicht absolut sicher war, dass es richtig war, wieder hier zu sein. Aber er verstand, dass Mokuba das sauer machte – immerhin war Joey der Grund dafür gewesen, dass auch Seto gelitten hatte, vielleicht sogar noch mehr als während ihrer Trennung damals, weil der Braunhaarige nie gewusst hatte, wo genau er sich befunden hatte.   Mokuba drückte Joey mit der Hand energisch gegen die Brust, was den Blonden kurz nach hinten stolpern ließ, aber er wehrte sich nicht und ließ es einfach geschehen. „Kannst du dir nur ansatzweise vorstellen, wie viele Sorgen er sich gemacht hat?“   „Mokuba!“ Seto war aufgestanden und im Begriff, seinen kleinen Bruder davon abzuhalten, Dinge zu tun oder zu sagen, die er später womöglich bereuen würde, doch Joey hob die Hand und stoppte ihn. „Schon gut, Seto. Lass ihn.“ Nicht nur, dass Joey dachte, dass Mokuba überhaupt nicht unrecht hatte mit dem, was er da sagte. Nein, er hatte außerdem das Gefühl, dass Mokuba das gerade brauchte. Vielleicht hatte er all die Emotionen, die jetzt hochkochten, die letzten Monate krampfhaft versucht zu unterdrücken. Er sollte all den Raum und die Zeit bekommen, die er benötigte, um sie rauszulassen.   Joey konnte sehen, wie der Kleinere, der noch immer sehr dicht vor ihm stand, die Hände erneut zu Fäusten ballte. Er fing leicht an zu zittern, die Zähne fest aufeinandergedrückt, der Mund leicht geöffnet. Sein Atem ging schnell, das war kaum zu übersehen, und noch bevor Joey irgendwie reagieren konnte, fing Mokuba an zu schluchzen und dicke Tränen rollten seine Wangen hinunter.   „Kannst du dir vorstellen, wie es mir gegangen ist? Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass auch ich hier bin und dich vermissen würde? Ich hab mich so allein gefühlt. Du hast dich nicht mal von mir verabschiedet. Wie konntest du das nur tun, Joey?“   Als Mokubas Weinen immer stärker wurde, da erwachte Joey endlich aus seiner Schockstarre. „Mokuba...“, flüsterte er, dann zog er ihn in eine feste Umarmung, und auch der kleinere Kaiba drückte sich nun eng an ihn, schlang die Arme um seinen Oberkörper und ließ hemmungslos alle Gefühle raus, die sich so vehement angestaut hatten. Während Joey ihm immer wieder sanft über den Rücken streichelte, regten sich immense Schuldgefühle in ihm, und es fühlte sich so an, als ob er mit dem Schritt, den er für so notwendig gehalten hatte, seine Familie im Stich gelassen hatte, auch wenn er genau das Gegenteil hatte erreichen wollen – denn sein Rückzug hatte vor allem die Intention gehabt, genau diese Familie zu schützen. Doch was er am Ende erreicht hatte, war, dass sie alle gelitten hatten - sie alle drei. Und vermutlich auch jeder andere, dem Joey etwas bedeutete.   Der Blonde unterdrückte die aufsteigenden Tränen mit aller Kraft, zog seine Arme fester um den Kleineren und sagte dann: „Es tut mir so leid, Mokuba. Wirklich. Ich wollte dir nicht weh tun, ich wollte niemandem weh tun.“   „Hast du aber“, murmelte Mokuba abgehackt, nach jedem Wort unterbrochen von einem erneuten Schluchzen. Das ging Joey durch Mark und Bein und verpasste ihm einen erneuten Stich ins Herz. Er legte seinen Kopf auf dem von Mokuba ab und zog dessen Hinterkopf noch näher an seine Brust, bevor er sagte: „Ich weiß, und es tut mir wirklich unendlich leid. Das war wirklich das Letzte, was ich erreichen wollte, glaub mir.“   Für ein paar Minuten standen sie eng umschlungen da, bis Mokuba sich scheinbar langsam ein wenig beruhigte. Noch immer weinte er ein paar Tränen und war dicht an Joey gelehnt, als er sagte: „Tu das nie wieder, hörst du?“   Joey hatte gar nicht gemerkt, wie Seto plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. Er streichelte seinem Bruder liebevoll über das Haar, sein Gesichtsausdruck sanft, bevor er erklärte: „Joey ist wieder hier, Mokuba. Es ist alles gut. Und er wird bleiben. Richtig, Joey?“   Erwartungsvoll schaute Seto ihn an, und Joey nickte. Er musste jetzt einfach alle Zweifel zur Seite schieben, auch wenn er sie noch immer hatte. Aber Mokuba hier so leiden zu sehen, das verpasste auch ihm unaufhörliche Wellen des Schmerzes, die durch seinen ganzen Körper gejagt wurden. „Ja“, sagte er, „ich gehe nicht wieder, hörst du, Mokuba? Ich bin hier.“   Eine Weile standen sie noch so da, bis sich Mokuba irgendwann von ihm löste und sich die restlichen Tränen aus den Augen und von den Wangen wischte. Er atmete kurz tief durch, dann nahm er eine von Joeys Hände in seine und sah ihn selbstbewusst an, und nicht zum ersten Mal – und vermutlich auch nicht zum letzten Mal in seinem Leben – fragte er sich, woher der Kleinere so eine immense Willensstärke und Kraft nahm. „Willkommen zuhause, Joey.“   Diese Worte machten den Blonden unheimlich glücklich, aber auch emotional. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, und er versuchte, dagegen anzukämpfen, indem er ein paar Mal schluckte. Plötzlich merkte er, wie Seto die bisher freie Hand nahm, und Joey spürte ein Gefühl aufkommen, das er in den letzten paar Monaten schmerzlich vermisst hatte – Geborgenheit. Das Gefühl, zu wissen, genau am richtigen Ort zu sein. Und wenn er es nur in dieser Sekunde fühlte, dann würde er es nun in vollen Zügen genießen wollen.   Schlussendlich lösten sie sich voneinander und setzten sich gemeinsam an den Tisch, und schon kurze Zeit später wurde das Abendessen serviert. Während Joey sich noch fragte, wann er wohl das letzte Mal eine so vollwertige Mahlzeit gegessen hatte, fing Seto an zu erzählen, wie sie sich wieder getroffen hatten. Es war noch immer unglaublich für Joey, dass sie tatsächlich am selben Tag, zur selben Uhrzeit am gleichen Ort gewesen waren, nur, weil ihre Intuition sie dorthin geführt hatte. Aber vielleicht hatte Seto tatsächlich recht, vielleicht war es ein Zeichen – dafür, dass ihr gemeinsamer Weg vielleicht schmerzhaft, herausfordernd werden würde, aber dass es diesen Weg nur für sie zusammen gab. Dass sie, wo auch immer sie hingehen würden, immer wieder am selben Ort landen würden.   Dann richtete sich Mokubas Aufmerksamkeit wieder auf Joey und er fing an, den Blonden mit Fragen zu durchlöchern. „Sag mal, Joey, wo warst du eigentlich gewesen? Wo hast du geschlafen? Oh Gott, hast du überhaupt genug gegessen?“   Joey musste aufgrund des Schwalls an Fragen lachen. „Mokuba, eins nach dem anderen.“ Nun lagen auch Setos Blicke neugierig auf ihm, und er wusste, er war ihnen die Antworten mehr als schuldig. Also begann er, zu erzählen. „Ich hatte es Seto vorhin schon gesagt – ich war eine Weile aus der Stadt verschwunden. Die ersten paar Nächte habe ich tatsächlich auf Parkbänken verbracht, bevor ich mir einen Trekkingrucksack gekauft habe, zusammen mit einem Schlafsack und einem Zelt. Beides passte Gott sei Dank genau in den Rucksack, zusammen mit ein wenig Wechselkleidung und einer Wasserflasche. Ich hatte glücklicherweise genug angespart, um mir das alles leisten zu können. Mir war allerdings bewusst, dass meine Ersparnisse irgendwann zur Neige gehen würden und ich wieder eine Arbeit würde finden müssen. Das lag allerdings noch recht weit in der Zukunft, ich habe im Prinzip von Tag zu Tag gelebt. Ich hätte mich so sicherlich ein paar weitere Monate über Wasser halten können. Zum Waschen meiner Kleidung habe ich Waschsalons genutzt, und um mich selbst zu waschen, habe ich Onsen besucht.“   „Und hattest du Kontakt zu irgendwelchen anderen Menschen? Deinen Freunden oder so?“, fragte Mokuba, während er sich einen Löffel voll mit Essen in den Mund schob. Die Frage löste bei Joey erneut Schuldgefühle aus – er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die anderen sich genauso große Sorgen um ihn gemacht hatten. Dennoch, er wollte offen und ehrlich sein, auch wenn es ihm unangenehm war, jetzt so offen darüber zu sprechen, wie er geplant hatte, Seto möglichst keine Anhaltspunkte für seine Suche zu geben.   „Nicht wirklich, nein. Ich habe allen am Anfang eine Nachricht geschickt, sodass sie Bescheid wussten, aber habe es dabei belassen.“ Er ließ es so vage. Er wusste nicht, wie viel Seto Mokuba erzählt hatte, aber dass er seine Handys und SIM-Karten gewechselt hatte wie seine Aufenthaltsorte, behielt er in diesem Moment lieber für sich.   „Und ehrlich gesagt“, fuhr Joey fort, „hatte ich auch nicht damit gerechnet, so schnell wieder in Kontakt mit anderen zu kommen. Und ich hatte ganz sicher nicht erwartet, Seto so bald wieder zu begegnen und so schnell zurückzukehren.“   Mokuba schob den Teller beiseite, der mittlerweile vollständig leer gegessen war, und hob eine Augenbraue an. „Und warum bist du wieder da?“ Er senkte den Blick, bevor er ergänzte: „Seto hatte mir, kurz nachdem du verschwunden warst, erklärt, warum. Beziehungsweise was du zu ihm gesagt hast. Also, was hat deine Meinung geändert?“   Joey überlegte kurz, was er ihm sagen sollte. Irgendetwas hinderte ihn daran, Mokuba die ganze Geschichte zu erzählen, inklusive der Frage, die Seto ihm gestellt hatte. Es war fast so, als wenn er nicht alle Details preisgeben wollte, um die Intimität, die Seto und er geteilt hatten, nur für sich zu haben. Also beschrieb er es ein wenig oberflächlicher. „Seto. Er hat meine Meinung geändert. Vielleicht hätte er das damals schon, als ich gegangen bin, aber bevor er irgendetwas sagen konnte, war ich auch schon verschwunden.“ Sein Blick schweifte zu Seto, der ihn ein ein wenig wehmütig ansah, doch sofort nach seiner Hand griff. Joey spürte, dass er diese Nähe jetzt brauchte, also drückte er dessen Hand fest, bevor er weitersprach.   „Die Unsicherheit und die Angst, wegen der ich ja schlussendlich gegangen bin, bleibt dennoch. Die wird auch nicht von jetzt auf gleich verschwinden. Aber die Begegnung mit ihm hat mir gezeigt, dass ich bei ihm sein will.“ Dann sah er wieder Mokuba an. „Und bei dir auch, Mokuba. Weil ihr neben meine Schwester und meiner Mum meine Familie seid. Ihr bedeutet mir alles, und es tut mir so leid, dass ich einfach gegangen bin.“   Joey seufzte tief und blickte unfokussiert auf einen Punkt auf dem Esstisch, bevor er fortfuhr. „Wenn ich ganz ehrlich bin, fällt es mir immer noch schwer, selbstsicher in die Zukunft zu blicken, nach allem, was so passiert ist. Ich habe Angst, am Ende doch der Grund zu sein, dass ihr noch mehr leiden müsst, nur, weil ich entschieden habe, bei euch zu sein.“   Daraufhin ergriff Mokuba erneut selbstsicher das Wort. „Aber, Joey, das ist doch nicht allein deine Entscheidung. Wenn es dieses Risiko denn wirklich geben sollte, denn für so groß halte ich es gar nicht, dann sind wir beide mehr als gewillt, es einzugehen. Stimmt’s, Seto?“   Der Brünette nickte. „Absolut. Das ist keine Verantwortung, die du allein zu tragen hast, Joey. Wir entscheiden uns gemeinsam für ein Leben zusammen, und wir tragen alle die Konsequenzen dieser Entscheidung. Wir werden alles teilen, egal was kommt, sei es Glück, Freude, Schmerz oder Angst. Sieh mich an.“   Als Joeys und Setos Augen sich trafen, und während sie sich weiterhin an den Händen hielten, sagte Seto: „Versprich mir, dass du nicht mehr gehen wirst. Dass wir von jetzt an alles gemeinsam durchstehen werden, egal, wie schwer es auch sein mag. Ich weiß, dass uns nicht nur ein Leben in Fröhlichkeit bevorsteht. Die wenigsten Leben werden so aussehen. Aber ich weiß, dass ich, dass wir dieses Leben mit dir verbringen wollen. Komme, was da wolle. Versprich es mir, Joey.“   Joey spürte, wie schon wieder Tränen seine Augen benetzten, und dieses Mal schaffte er es nicht, sie vollständig zurückzuhalten. Als er nickte, bahnte sich eine Einzelne davon den Weg über sein Gesicht und tropfte dann von seinem Kinn auf sein T-Shirt. „Versprochen.“   „Braves Hündchen“, flüsterte Seto lächelnd, während er die Spur der Träne auf Joeys Gesicht mit seinem Daumen nachzog. Dann löste er sich von ihm und sah kurz auf sein Handy. „Ich muss noch schnell was für die Firma erledigen. Joey, kannst du mir eine halbe Stunde Zeit geben und dann erst zurück in unser Apartment gehen?“   Was hatte Seto denn jetzt vor? Was auch immer es war, er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er keine Antwort aus ihm rausbekommen würde und im Prinzip auch keine andere Wahl hatte, als einzuwilligen. Also grinste er schief und nickte, und mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange verabschiedete Seto sich, sodass er mit Mokuba allein war.   Joey war froh, dass Mokuba ihr darauffolgendes Gespräch nicht mehr so tiefgründig gestaltete. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt, vor allem darüber, wie es für Mokuba gerade in der Schule lief. Dieses Gefühl von Normalität hatte Joey irgendwie vermisst, und vielleicht ging es Mokuba gerade ganz genauso.   Als die halbe Stunde rum war, verabschiedeten sich die beiden voneinander. Es war spät geworden und Joey spürte die Müdigkeit in seinen Gliedern. Gähnend öffnete er die Tür zu ihrem Apartment und stellte fest, dass Seto noch nicht da war. Vermutlich würde er ihn jetzt noch am ehesten im Arbeitszimmer antreffen können. Er zog seine Jeans aus und warf sie achtlos aufs Sofa, und im Anschluss machte er sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Doch noch bevor er sich ins Bett fallen lassen konnte, zog etwas auf dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit an. Neugierig trat er näher – und sah, dass es ein Handy war.   Lächelnd nahm er es in die Hand – das war also Setos Plan gewesen, weshalb er nicht sofort ins Apartment hatte gehen dürfen. Er war dennoch überrascht, wie schnell Seto das organisiert hatte. Na ja, er blieb eben ein Kaiba, und manchmal fragte er sich, ob einem, wenn man mit diesem Namen geboren wurde, auch gleichzeitig Superkräfte übertragen wurden. Amüsiert über diesen Gedanken schüttelte er den Kopf, bevor er ein Déjà-Vu bekam von einem Zeitpunkt von vor ungefähr einem Jahr, als Joey gerade erst bei den Kaibas eingezogen war und Seto ihm mal eben so einen Laptop geschenkt hatte.   Kopfschüttelnd, aber ohne das Grinsen im Gesicht zu verlieren, öffnete er die Verpackung und steckte die beiliegende SIM-Karte hinein. Er startete das Handy und folgte den Anweisungen, bis das automatische Setup irgendwann beendet war. Das Erste, was er tat, war Seto eine Nachricht zu schicken, so, wie er es damals schon nach der Sache mit dem Laptop getan hatte. Er versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, dann tippte er die Nachricht und schickte sie ab.   ‘Danke fürs Kümmern, aber das ist ein bisschen viel. Ich geb’ dir das Geld wieder, sollte ich in ein paar Wochen zusammen haben.’   Ob Seto die Anspielung wohl verstand? Und wie sollte es anders sein, ploppte keine Minute später schon eine Antwort auf dem Display auf.   ‘Vergiss’ es, Hündchen. Sieh es einfach als Leihgabe an.’   Grinsend setzte sich Joey aufs Bett und starrte die Nachricht minutenlang an, glücklich darüber, dass Seto sofort begriffen hatte, worauf er sich bezogen hatte. Er wusste, dass er nun auch allen anderen würde Bescheid geben müssen, dass er wieder da war, aber es war schon spät und die meisten von ihnen vermutlich schon im Bett. Daher verschob er es auf den folgenden Tag, und das gab ihm auch noch mal etwas Zeit, sich mental auf alles, was da kommen würde, vorzubereiten.   Gerade, als er sich eigentlich schon ins Bett legen wollte, fiel ihm etwas ein. Also stand er nochmal auf, ging zu seiner Jacke und holte die SD-Karte raus. Er steckte sie in den dafür vorgesehenen Slot, und während er wartete, dass das Handy sie erkannte und die Daten geladen hatte, legte er sich ins Bett.   Auf dem Bauch liegend, die Arme mit dem Handy nach vorn ausgestreckt, scrollte er sich durch all die Bilder von Seto und ihm, die er jetzt schon seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Er liebte jedes Einzelne von ihnen, und er wusste auch immer, wann sie welches davon geschossen hatten. Aber sein Lieblingsfoto würde immer das bleiben, das Joey gemacht hatte, als Seto neben ihm friedlich geschlafen hatte, und auch jetzt würde er es wieder als Bild für den Sperrbildschirm und den Hintergrund einstellen.   Joey war so abgelenkt durch die Bilder und all die Erinnerungen, die dadurch ausgelöst wurden, dass er gar nicht mitbekam, wie Seto ihr Apartment betreten hatte. Erst, als dieser zu ihm unter die Decke krabbelte und ihn von hinten umarmte, sich halb auf seinen Rücken legte, registrierte er ihn. Als Joey keine Anstalten machte, sich über Setos Gewicht auf seiner Rückseite zu beschweren, rutschte der Braunhaarige, der sich offensichtlich ohne, dass Joey es irgendwie bemerkt hätte, bereits komplett bettfertig gemacht hatte, noch höher und legte seinen Kopf auf Joeys Schulter ab. Schweigend betrachteten sie die Fotogalerie, die Joey noch immer dabei war, komplett durchzuschauen.   Als Seto anfing, sanfte Küsse auf Joeys Hals zu verteilen, verlor der Blonde jegliche Konzentration. Er ließ die Arme und das Handy sinken, schloss die Augen und genoss die Liebkosungen. Nach einer Weile bewegte Seto seine Lippen ganz nah an sein Ohr und flüsterte ihm zu: „Ich liebe dich, Joey.“   Anschließend legte Seto sich neben den Blonden, und beide drehten sich so auf die Seite, dass sie sich direkt in die Augen sehen konnten. Setos blaue Augen zogen Joey sofort wieder in den Bann. Er hob eine Hand an und strich ihm eine Strähne aus der Stirn, und das Gefühl, ihn endlich wieder berühren zu können, war überwältigend. Er hatte jede Nacht von ihm geträumt, und trotz der Tatsache, dass es nicht immer schöne Träume gewesen waren, war er über jeden von ihnen dankbar. Immerhin war das die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, Seto in den letzten paar Monaten zu Gesicht zu bekommen. Wenn auch nur in seiner Traumwelt.   Sie näherten sich einander an, und als Joey seine Lippen auf die von Seto legte und sanft anfing, sie zu bewegen, explodierte ein ganzes Feuerwerk in seinem Bauch. Er hörte, wie Seto sanft in den Kuss seufzte und zog sich noch etwas näher zu seinem Drachen ran. Jede Stelle, die der Brünette berührte, wurde von einer intensiven Gänsehaut begleitet.   Sie lösten sich voneinander, doch Seto wollte offensichtlich nicht, dass die Liebkosungen schon zu Ende waren. Also streichelte er sanft Joeys Wange, bevor er sagte: „Ich weiß, Mokuba hat dich heute schon komplett mit seinen Fragen gelöchert, und du bist sicher müde, genauso wie ich. Aber darf ich dir noch eine letzte Frage für heute stellen?“   Joeys Gesichtsausdruck sprach offensichtlich Bände, als er sich die letzte große Frage von Seto ins Gedächtnis rief, die er ihm an diesem Tag gestellt hatte. Seto musste lachen und erklärte dann: „Nein, keine Sorge, nicht die. Es ist etwas anderes, etwas, das mich schon die ganze Zeit gewundert hat. Warum hast du deinen Job im Waisenhaus nicht gekündigt? Ich meine, wenn du tatsächlich nicht vorhattest, jemals wiederzukommen, warum dann nicht alle Brücken hinter dir abbrechen?“   Joey, noch immer auf der Seite liegend, stellte seinen Ellenbogen auf und stützte seinen Kopf mit seiner Hand ab, während er über Setos Frage nachdachte. „Gute Frage. Ich habe da, ehrlich gesagt, gar nicht groß drüber nachgedacht. Du hast total recht mit dem, was du sagst. Wer weiß, vielleicht hatte ich unbewusst die Hoffnung, tatsächlich irgendwann wiederzukommen, und habe es deswegen gemacht? Ich musste damals viele Entscheidungen in sehr kurzer Zeit treffen, und das ist dabei rausgekommen. Ich hatte zumindest nicht geplant, so schnell zurückzukommen, aber wie vorhin schon erwähnt, habe ich eher in den Tag hinein gelebt als groß darüber nachzudenken, was ich in Zukunft machen würde.“   Seto nahm Joeys freie Hand und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf den Handrücken, bevor er fragte: „Bereust du es, so schnell wiedergekommen zu sein?“ Der Blonde lächelte und rutschte näher an Seto ran, gab ihm einen kurzen, sanften Kuss auf den Mund. Dann antwortete er: „Nein, tue ich nicht. Das Gespräch vorhin mit dir und Mokuba hat gut getan. Ich weiß nicht, es fühlt sich alles ein bisschen leichter an. Und ich bin auf jeden Fall froh, wieder bei dir zu sein. Ich habe dich sehr vermisst, Seto, wirklich.“   „Und ich dich, Joey“, sagte Seto und zog den Blonden erneut in einen langen, intensiven Kuss. Anschließend zog er Joey fest in seine Arme, und schon wenige Minuten später wurde sein Atem so gleichmäßig, dass es für Joey nicht schwer war, festzustellen, dass er eingeschlafen war. Er musste wirklich erschöpft gewesen sein, und auch Joey spürte die Müdigkeit in all seinen Knochen.   Also schloss auch er die Augen, und während er langsam ins Traumland abdriftete, dachte er erneut über Setos Frage nach, als er ihn gebeten hatte, ihn zu heiraten. Natürlich war es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, aber hätte er einen besseren Zeitpunkt gewählt – hätte Joey dann ja gesagt? Er liebte ihn, mehr als alles andere auf der Welt, und er hatte versprochen, ihn nie wieder zu verlassen. Und er würde sein Versprechen halten. Und möglicherweise würde es in Zukunft mal einen Zeitpunkt geben, der geeigneter für diese besondere Frage wäre – und vielleicht, ganz vielleicht, wäre Joey dann bereit, seine Antwort zu ändern. Mit einem sanften Lächeln schlief nun auch Joey ein, wohlwissend, wieder an der Seite des Mannes zu sein, den er niemals wieder würde verlassen können. Denn selbst, wenn er es wollte – das Schicksal hatte einen anderen Weg für sie vorgesehen. Und sie würden ihn gehen, Hand in Hand, bis zum Schluss und darüber hinaus. Kapitel 37: Rescue me... and never let go ----------------------------------------- Während der nächsten Wochen fand Joey den Weg in seinen gewohnten Alltag zurück. Wie er schon vermutet hatte, hatte er sehr viel zu erklären gehabt, und jedes einzelne Gespräch davon konnte er nur als unangenehm beschreiben. Die Leiterin des Waisenhauses war tatsächlich noch am gnädigsten mit ihm gewesen – er hatte sich sehr viel rausgenommen, indem er einfach von jetzt auf gleich um unbefristeten, unbezahlten Urlaub gebeten hatte. Aber Mrs. Nakamura war eine herzensgute, empathische Frau, und statt viele Fragen darüber zu stellen, was passiert war, hatte sie ihn lächelnd wieder in Empfang genommen und ihm gesagt, wann immer er mal wen zum reden brauchen würde, wäre sie da. Joey wusste, dass er so viel Freundlichkeit vermutlich nicht verdient hatte, aber er war froh darum, dass es so war und er seine Arbeit im Waisenhaus, die er liebte, wieder aufnehmen konnte.   Bei seinen Freunden kam er nicht ganz so glimpflich davon, und Joey konnte es auch wirklich sehr gut verstehen, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten. Oder anders: Nach allem, was er ihnen insbesondere im letzten Jahr zugemutet hatte. Kaum hatte er ihnen am Tag nach seiner Rückkehr eine Nachricht geschrieben, hatten sie ihn auch schon zu einer Krisensitzung ‚eingeladen‘, und Joey hatte nicht wirklich eine Wahl gehabt.    Sie hatten sich bei Yugi getroffen, und das Erste, was er über sich hatte ergehen lassen müssen, war ein Schlag auf den Hinterkopf von Tristan, in Kombination mit diversesten Beschimpfungen. Er hatte schon sehr viel mit Tristan erlebt, sie hatten sich gemeinsam schon durch so einige Prügeleien gekämpft, aber so aufrichtig aufgebracht hatte er ihn wohl noch nie erlebt. Danach hatte er ihn in eine Umarmung gezogen, vor allem wohl aber deshalb, um die aufsteigenden Tränen zu verstecken, was ihm mehr schlecht als recht gelungen war.   Auch Téa hatte geweint, schon als er den ersten Schritt in Yugis Haus getan hatte. Sie hatte kaum ein Wort rausgebracht hinter dem Schluchzen, und nachdem Tristan ihn endlich hatte gehen lassen, hatte er sie sofort in eine feste Umarmung gezogen. Sie hatte ihm eigentlich keine Vorwürfe gemacht, nur gesagt, wie sehr sie ihn vermisst hätte und dass er es bereuen würde, würde er es noch einmal wagen, einfach so zu verschwinden. Joey hatte gelacht und gesagt, dass das nicht passieren würde, und er hatte es so gemeint. Das Versprechen hatten ihm schon Mokuba und Seto abgenommen, und er wollte daran festhalten.   Yugi hatte sich zunächst im Hintergrund gehalten. Er hatte mit verschränkten Armen und stirnrunzelnd in einiger Entfernung gestanden und vorerst die Szenerie beobachtet. Noch während Joey Téa umarmt hatte, hatten sich ihre Augenpaare getroffen, und Joey hatte erkennen können, wie viel Sorge sich in ihnen widergespiegelt hatte. Doch dazu hatte sich noch etwas anderes gemischt – Enttäuschung. Und das hatte Joey einen Stich ins Herz verpasst. Er konnte es seinem besten Freund nicht verübeln, insbesondere nach dem Gespräch, das sie noch kurz vor seinem Verschwinden geführt hatten. Schon damals war Yugi wütend geworden, als Joey ihn in seine Zweifel eingeweiht hatte. Aber am Ende hatte Joey still einen Entschluss gefasst, von dem Yugi ihn nicht hatte abbringen können – schon weil er gar nicht hätte wissen können, dass Joey so etwas geplant hatte. Und als Joey ihm bei ihrem erneuten Aufeinandertreffen richtig in die Augen gesehen hatte, da hatte er auch erkannt, dass Yugi sich dafür wohl teilweise die Schuld gegeben hatte.   Und genau das hatte Joey nicht gewollt. Es war allein seine Entscheidung gewesen, für die ausschließlich er und niemand anders die Verantwortung trug. Er hatte sich aus der Umarmung mit Téa gelöst und Yugi um ein Gespräch unter vier Augen gebeten. Er erinnerte sich, dass es emotional gewesen war, für beide. Joey hatte ihm seine Beweggründe erklärt und Yugi hatte traurig ausgesehen. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er nicht hatte verstehen können, warum Joey so weit gegangen war. Dennoch – die Enttäuschung, die er vorher in Yugis Augen hatte aufblitzen sehen, war weniger die Enttäuschung über das, was Joey getan hatte und vielmehr darüber, dass Yugi es nicht geschafft hatte, ihn davon abzuhalten. Joey hatte das absurd gefunden, zum einen, weil er Yugi ja überhaupt nicht von seinem Plan erzählt hatte, den er mehr oder weniger spontan auf dem Rückweg ins Krankenhaus ausgeheckt hatte. Und zum anderen hätte ihn Yugi vermutlich sowieso nicht davon abhalten können, egal, was er gesagt hätte.    Am Ende hatte die Aussprache zwischen den beiden auf jeden Fall geholfen. Auch Yugi gab Joey das Versprechen, nicht noch einmal zu so drastischen Mitteln zu greifen. Der Blonde musste einsehen, dass er mit dem, was er getan hatte, vielen anderen Menschen, inklusive sich selbst, Leid zugefügt hatte. Auch wenn es das Letzte gewesen war, was er hatte erreichen wollen, so war es passiert, und er nahm sich fest vor, in Zukunft nach anderen Lösungen zu suchen. Nun blieb ihm nur zu hoffen, dass er sich bei der nächsten schwierigen Situation, die unvermeidlich kommen würde, auch an dieses Versprechen, das er sich selbst und den Anderen gegeben hatte, erinnern würde.   Natürlich hatte er sich nach seiner Rückkehr auch bei Serenity und seiner Mum gemeldet. Auch sie hatten sich immens große Sorgen gemacht, und als er sie angerufen hatte, hatten sie beide geweint. Er hatte gemerkt, wie sehr er sie vermisste. Sie hatten sich jetzt schon sehr, sehr lange nicht gesehen, weil es immer irgendwie nicht gepasst hatte. Selbst zur Zeremonie seines Schulabschlusses hatten sie nicht kommen können, weil seine Mum nicht hatte frei nehmen können.    Das letzte Mal, das sie sich gesehen hatten, war tatsächlich zu dem Zeitpunkt gewesen, an dem Joey ihnen von den Misshandlungen seines Vaters erzählt hatte. Es war ein Wendepunkt in seinem Leben gewesen, aus so vielen verschiedenen Gründen. Zum einen hatte es ihm enorm geholfen, dieses Wissen nicht mehr nur mit sich selbst rumzutragen. Natürlich hatte er Seto vorher schon einiges erzählt, aber lange nicht so in der Tiefe, wie er es dann bei diesem Treffen getan hatte. Auf der anderen Seite war das der Tag gewesen, an dem Seto ihm das erste Mal gesagt hatte, dass er ihn liebte. Schon allein deshalb würde er diesen Tag für immer in Erinnerung behalten.   Und weil es so lange her gewesen war, seit sie sich getroffen hatten, hatten sie ausgemacht, sich zumindest an Weihnachten wiederzusehen. Joey hatte natürlich mit Seto darüber gesprochen, und dieser hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, alles in die Wege geleitet.   Und so waren die Wochen ins Land gezogen, und noch während Joey sich gerade erst wieder in seinem normalen Alltag zurechtfand, begann auch schon der Vorweihnachtsstress. Zumindest konnte sich Joey dieses Jahr besser darauf vorbereiten, dass seine Familie aus den USA ihn besuchen kommen würde – letztes Jahr war es ja eine komplette Überraschung gewesen. Er hatte in einem Shopping-Marathon mit seinen Freunden an einem einzigen Tag alle Geschenke besorgt und war danach halbtot ins Bett gefallen. Seto bekam er in diesen Tagen nicht so häufig zu Gesicht, weil die Weihnachtszeit für seine Firma eine der hektischsten Zeiten war und er alle Hände voll zu tun hatte. Und auch Joey war durch seine Vollzeittätigkeit im Waisenhaus sehr beschäftigt.   Dennoch, sie hatten verabredet, die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr gemeinsam zu verbringen. Joey hatte Urlaub genommen und Seto hatte die Wochen vorher quasi Tag und Nacht gearbeitet, um sich so viel Zeit wie möglich freizuschaufeln. Und am Ende hatte sich das ausgezahlt. Zwar würde Seto auch während der Feiertage ständig auf sein Telefon schauen müssen, falls er Entscheidungen würde treffen müssen – er war ja immerhin noch Firmenchef – aber er hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, um mit Joey und seiner Familie ein paar schöne Tage verbringen zu können.   Und nun war es ein Tag vor Heiligabend. Joey stand gemeinsam mit Seto auf dem Rollfeld des Flugplatzes, auf dem gleich Setos Privatflieger in ihrem Sichtfeld erscheinen sollte, mit Serenity und seiner Mum an Bord. Joey hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere und konnte es kaum abwarten, sie endlich wiederzusehen. Es war einfach schon viel zu lange her gewesen.   „Bist du sicher, dass du nicht lieber im Wagen warten willst? Es kann noch ein paar Minuten dauern“, fragte Seto neben ihm, vermutlich, weil Joey aufgrund der Kälte jämmerlich bibberte. Seine Zähne klapperten, als er den Mund öffnete, um eine Antwort zu geben, und kaum hatte er dies getan, verließ eine heiße Luftwolke seinen Mund.   „Ja, ich bin sicher. Ich könnte sowieso nicht still sitzen“, brachte Joey grinsend hervor und der Braunhaarige erwiderte kopfschüttelnd das Lächeln. Und tatsächlich - nur wenige Minuten danach konnten sie das Flugzeug aus einiger Entfernung landen sehen, und noch bevor es richtig angerollt kam und seine endgültige Parkposition eingenommen hatte, wollte Joey schon losrennen. Doch da hatte er die Rechnung ohne Seto gemacht, der ihn am Kragen festhielt und ihn davon abhielt, einfach loszupreschen. Vermutlich sah Joey gerade wirklich wie ein kleines, aufgeregtes Hündchen aus, und wenn Seto das dazu brächte, ihm noch mehr Hundekosenamen zu geben, dann sollte es eben so sein. Mittlerweile machte Joey das nichts mehr aus, ganz im Gegenteil – wenn Seto ihn ‚sein Hündchen‘ nannte, ging Joey das Herz auf.   Kaum wurde die Treppe aufgebaut und die Türen waren aufgegangen, gab es für den Blonden allerdings wirklich kein Halten mehr. Mit Freudentränen in den Augen rannte er auf seine Familie zu und fiel ihnen glücklich quietschend in die Arme, kaum dass sie die letzte Treppenstufe hinter sich gelassen hatten. Auch seine Mum und Serenity hielten ihre Tränen nicht zurück. Als sie sich voneinander lösten, strahlten sie sich an und hielten sich für einige Augenblicke einfach nur an den Händen, genossen, dass sie endlich wieder zusammen waren.   „Es ist so schön, dich endlich wiederzusehen, Joey“, sagte seine Mum und brach damit die Stille. Joey konnte nur nicken, weil er ansonsten Gefahr lief, in einem glücklichen Schluchzen zu versinken. Dasselbe Schicksal schien Serenity zu ereilen, die auch nur heftig den Kopf immer wieder hoch und runter bewegte.   Irgendwann spürte Joey eine Hand auf seiner Schulter, und als er sich umdrehte, war es die von Seto. „Wenn ihr so weit seid, die Limousine steht bereit.“ Er machte Anstalten, wieder zurück zum Wagen zu gehen, wo er die ganze Zeit über gewartet hatte, um der Familie ihren Moment zu lassen, doch Joey schnappte nach Setos Hand und hielt ihn davon ab. Er war auch Teil dieser Familie, und Joey wollte, dass er das wusste. Seto blickte Joey überrascht in die Augen, schien aber schnell zu verstehen, was er ihm sagen wollte. Nach all den Monaten, selbst nach der Zeit, in der sie getrennt oder er verschwunden gewesen war, hatten sie es nicht verlernt, mit ihren Blicken zu kommunizieren. Joey dachte sogar, dass es manchmal einfacher wäre, mit seinen Augen auszudrücken, was er sagen wollte. Noch immer hatte er das Gefühl, dass ihr Hauptproblem die Kommunikation mit Worten war. Witzigerweise hätte er am Anfang immer gedacht, dass vor allem Seto damit Probleme hätte, dabei war es genau andersherum. Joey war so oft in seinem eigenen Kopf gefangen, dass er Schwierigkeiten hatte, über die Dinge zu sprechen, die in ihm vorgingen. Oder er hatte das Gefühl, es würde nichts bringen, darüber zu sprechen. Er wusste das, aber diese Angewohnheit zu ändern, fiel ihm unheimlich schwer. Aber Stück für Stück, in Mini-Schritten, würde er es schaffen. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er all den Menschen gegeben hatte, die ihm mehr als alles andere bedeuteten. Für diese Menschen musste er es versuchen, er musste es schaffen, auch wenn es ein Leben lang dauern würde, es zu erreichen.   Gemeinsam stiegen sie in die Limousine ein, und nachdem ihr Gepäck eingeladen worden war, machten sie sich auf den Weg in die Kaiba-Villa. Joey fühlte sich so glücklich wie schon lange nicht mehr. Serenity und seine Mum wiedersehen zu können, war noch immer etwas, das für Joey wahnsinnig surreal war, weil es im Prinzip ein Jahrzehnt lang mehr oder weniger unmöglich gewesen war. Er war unendlich dankbar dafür, und es führte ihm mal wieder vor Augen, dass er nicht einfach wieder weglaufen konnte, wenn es ein Problem gab. Es war schwer, seinem natürlichen Fluchtimpuls nicht einfach nachzugeben, den er schon bei den kleinsten Kleinigkeiten verspürte. Aber er hatte gesehen, wie viel Leid das seinen geliebten Menschen zugefügt hatte. Dieses Gefühl, der Grund dafür zu sein, wollte er auf gar keinen Fall noch einmal spüren. Nie wieder. Auch wenn das hieß, manchmal gegen sich selbst kämpfen zu müssen.   Den Abend verbrachten sie alle gemeinsam damit, den Weihnachtsbaum zu schmücken, der traditionellerweise, wie auch schon im letzten Jahr, im Festsaal stand. Mokuba war natürlich wieder ganz vorn mit dabei, und auch Joey hatte in diesem Jahr deutlich mehr Spaß daran, als es noch im letzten Jahr der Fall gewesen war. Aber dieses Jahr war eben alles anders. Jetzt, wo Serenity und seine Mum auch da waren, da war seine Familie komplett. Er fühlte sich vollständig, wie ein Puzzle, das nun durch das finale Puzzleteil komplettiert worden war.   Seto konnte noch immer nicht so richtig viel mit Weihnachten anfangen. Das Höchste der Gefühle war, Mokuba, Joey, Serenity und Joeys Mum dabei zuzusehen, wie sie den Baum schmückten und offensichtlich ihre helle Freude daran hatten. Doch Joey und Mokuba hatten andere Pläne. Sie standen noch immer nah beim Baum, zwinkerten sich kurz zu und setzten dann ihren Plan in die Tat um. Sie gingen mit den Armen hinter dem Rücken verschränkt, um zu verstecken, was sie vorhatten, auf Seto zu, der an der langen Festtafel saß und in Gedanken vertieft auf seinem Laptop rumtippte. Als er die beiden bemerkte, hob er kaum den Kopf an, bevor er fragte: „Braucht ihr irgendwas?“   Mokuba und Joey grinsten sich an, bevor sie gemeinsam runterzählten: „3... 2... 1... los!“ Und kaum hatten sie das gesagt, bewarfen sie Seto mit buntem Lametta, und als sie seinen verdutzten Gesichtsausdruck sahen, kamen sie aus dem Lachen gar nicht mehr raus. Irgendwann befreite sich Seto aus seiner Schockstarre, entfernte sich die bunten Streifen vom Kopf und stand auf, mit einem bedrohlichen Ausdruck im Gesicht. Er griff sich ein bisschen was von dem Lametta, und als er die beiden so anstarrte, wussten sie, das konnte nichts Gutes heißen.    „Oh, oh“, sagten Mokuba und Joey gleichzeitig, als Seto in langsamen Schritten auf sie zukam, und kaum hatten sie das gesagt, rannten sie los, ohne ein vergnügtes Lachen unterdrücken zu können. Mokuba war zu langsam und wurde noch im Festsaal von Seto geschnappt und mit Massen von Lametta umwickelt, und als Setos Aufmerksamkeit langsam auf Joey überschwappte, ergriff auch er die Flucht. Er schaffte es gerade so aus dem Festsaal, bevor Seto auch ihn eingefangen bekam und gegen die Wand im Flur drückte. Joey japste noch immer vor Freude, er bekam kaum Luft und ihm taten schon sämtliche Bauchmuskeln weh. Auch Seto schien sich ein Grinsen nicht verkneifen zu können, bevor er ein wenig von dem Lametta an Joeys Nacken legte und ihn mit einem Ruck zu sich ranzog, sodass sich ihre Lippen zu einem Kuss vereinigten. Joey legte die Arme um Setos Taille und gab sich ganz dem Kuss hin, seufzte wohlig auf.   Als sie sich mit verklärtem Blick wieder voneinander lösten, musste Joey schon wieder lachen, weil Seto noch immer überall Lametta zu kleben hatte. Das Zeug war wirklich widerspenstig, konnte aufgrund der Farbenvielfalt aber jeden noch so großen Weihnachtshasser sanfter aussehen lassen. Seto ließ das Lametta in seinen Händen fallen, nahm Joeys Hände und führte sie an seine Lippen, hauchten auch auf sie einen sanften Kuss. Der Blonde lächelte ihn liebevoll an, und als sie Hand in Hand wieder in den Festsaal zurückgingen, wusste er, dass es nichts gab, das ihn noch glücklicher machen konnte, als Seto an seiner Seite zu wissen.   Als sie am nächsten Morgen den alljährlichen Weihnachtsbrunch beendeten, den sie in ausgelassener Stimmung verbracht hatten, zog sich Joey in ihr Apartment zurück, wohingegen es Seto für eine Weile ins Arbeitszimmer zog. Der Blonde fragte sich, ob Seto wirklich noch etwas arbeiten musste oder ob er einfach Weihnachten entfliehen wollte. Was immer es war, es kam ihm eigentlich ganz gelegen, so konnte er nämlich dafür sorgen, dass er nicht unterbrochen wurde, während er die Weihnachtsgeschenke einpackte.   Für seine Mum und Serenity hatte er einen Wellnessgutschein besorgt, damit sie es sich in den nächsten Tagen richtig gut gehen lassen konnten. Mokuba bekam einen dieser kitschigen Weihnachtspullover, auf die er so abfuhr. Für Seto hatte er Konzertkarten für klassische Musik besorgt. Er hatte sich vorher extra mit Mokuba abgestimmt, weil er wusste, dass er Seto ja letztes Jahr ein ziemlich ähnliches Geschenk gemacht hatte, aber glücklicherweise hatte sich Mokuba dieses Jahr für ein anderes Geschenk entschieden. Als Joey die Karten und einen kleinen, handgeschriebenen Brief in den Umschlag packte, holten ihn die Erinnerungen von dem Klavierkonzert am Anfang des Jahres ein. Wie sehr sie sich verändert hatten. Jeder von ihnen als Individuum, aber auch sie zusammen. Es kam ihm vor, als wäre das Jahrzehnte her, und das Jahr war ja auch ziemlich ereignisreich gewesen. Sicherlich hätte er auf die ein oder andere Erfahrung verzichten können – die Untertreibung des Jahrhunderts – aber am Ende hatte es ihm die Erkenntnis gebracht, dass er Seto brauchte, und Seto ihn.   Gerade rechtzeitig verpackte er das letzte Geschenk, als er die Tür hinter sich aufgehen hörte und Seto ins Apartment trat. Joey saß im Wohnzimmer auf dem Boden, um ihn herum ein unübersichtliches Chaos aus bunten Schnipseln des Geschenkpapiers, und Seto lachte belustigt auf. „Na, wer hat den Kampf gewonnen? Du oder das Geschenkpapier?“   Joey drehte sich grinsend zu ihm um. „Vermutlich beide, irgendwie.“ Nach einem erneuten Lachen stand Joey auf, ging auf seinen Drachen zu und ließ sich von ihm in eine Umarmung ziehen. Gegen seine Schulter gelehnt, fragte er: „Wie lange haben wir noch bis zum Dinner?“   „Noch so ungefähr eine Stunde“, antwortete Seto und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Haare, während er ihm liebevoll über den Rücken strich. „Sollen wir uns noch ein bisschen ins Bett kuscheln?“ Joey löste sich von ihm und nickte, und als sie sich in die weichen Federn des Bettes legten, hätte Joey friedlich wegschlummern können. Aber er schaffte es, wach zu bleiben – das Weihnachtsdinner war das Highlight, und das würde er ganz sicher nicht verpassen wollen.   Wie auch schon im letzten Jahr, gab es ein ausgedehntes Weihnachtsdinner, das sich über mehrere Gänge erstreckte. Es wurde begleitet von angeregten Unterhaltungen, die Stimmung war fröhlich und ausgelassen, und die unterschiedlichen Stimmen füllten den Festsaal mit viel Leben.   Joey freute sich tatsächlich darauf, dass das Jahr sich nach dem vielen Drama insbesondere in den letzten Monaten dem Ende neigte. Er wusste nicht, was die Zukunft bringen würde, aber in ihm regte sich die Hoffnung, dass das nächste Jahr vielleicht für ein wenig mehr Ruhe und Stabilität sorgen würde. Und auch wenn er in diesem Jahr immer mal wieder mit unangenehmen Überraschungen konfrontiert worden war, so versuchte er doch, mit einer gewissen Portion an Optimismus auf das nächste Jahr zu schauen.   Während des Dinners unterhielt er sich lebhaft mit seiner Mum und Serenity und sie besprachen ihre Pläne für die kommenden Tage. Sie würden auch in diesem Jahr erst nach Neujahr wieder abreisen und so die gesamten Weihnachtsferien mit ihm verbringen, was ihn in noch positivere Stimmung versetzte. Seto hielt sich, wie eigentlich immer bei jedweder Art von Feierlichkeit, stark im Hintergrund, wohingegen Mokuba ganz offenbar in bester Laune war und sich an vielen Gesprächen beteiligte. Es war ein rundum gelungener Abend, und das nicht nur wegen des wirklich ausgezeichneten Essens.   Kaum war das Dinner beendet und die leeren Teller abgeräumt, konnte Joey Seto, der direkt neben ihm saß, auf sein Handy blicken sehen und seufzen hören. Sofort drehte sich der Blonde leicht zu ihm um und fragte: „Ist alles in Ordnung?“ Seto fuhr sich sichtlich frustriert durch die Haare, bevor seine Augen die von Joey trafen und er antwortete: „Würdet ihr mich für eine Weile entschuldigen? Es gab einen kleinen Notfall in der Firma, um den ich mich kümmern muss.“   „Aber Seto, gleich ist doch Bescherung!“, rief Mokuba aus und zog seine Mundwinkel nach unten. Dass dem kleinen Kaiba das nicht gefallen würde, lag auf der Hand, war doch die Bescherung sein persönliches Highlight an Weihnachten.   Erneut seufzte Seto auf. „Ich weiß, Mokuba, aber es geht leider nicht anders.“ Joey legte seine Hand auf Setos Oberschenkel und bekam somit wieder seine Aufmerksamkeit. „Was glaubst du, wie lange du brauchen wirst?“   Seto sah erneut auf sein Handy und atmete tief durch. „Eine Stunde, maximal.“   Auf Joeys Lippen legte sich ein verschmitztes Lächeln, bevor er antwortete: „Gut, eine Stunde, und keine Sekunde länger. Schau mich nicht so an, Seto, es ist Weihnachten. Ich hol dich dann später ab.“   Seto schüttelte den Kopf, aber er konnte sich ganz offensichtlich nicht verkneifen, das Lächeln zu erwidern. Er sah erneut zu Joey auf und nahm dessen Hand, die noch immer auf seinem Oberschenkel lag, und drückte sie fest, streichelte sanft mit seinem Daumen darüber. Sein Gesichtsausdruck war irgendwie undurchdringlich. Er holte tief Luft und es sah fast so aus, als wollte er etwas sagen, öffnete seinen Mund nur einen winzigen Spalt, schien sich dann aber, aus welchen Gründen auch immer, dagegen zu entscheiden. Er schenkte Joey noch ein letztes Lächeln, dann stand er auf und verabschiedete sich noch einmal höflich. Und nur Sekunden später war er aus dem Festsaal verschwunden.   Was war Seto wohl gerade durch den Kopf gegangen? Hatte er tatsächlich etwas sagen wollen? Und wenn ja, was hatte ihn davon abgehalten? Vielleicht war es, weil noch andere Menschen hier waren? Möglich, aber Joey beschlich das Gefühl, dass noch mehr dahinter steckte. Gab es etwas, das er Joey nicht erzählt hatte?   Erst die Stimme seiner Mum, die seinen Namen rief, holte ihn wieder zurück in die Realität. Als er den Blick hob und ihr direkt ins Gesicht sah, fragte sie, die Stirn in Falten gelegt und in besorgtem Tonfall: „Ist alles in Ordnung, Joey?“   Joey setzte ein Lächeln auf, konnte aber die Gedanken doch nicht vollständig vertreiben. „Ja, alles okay.“ Er konnte sehen, dass sie ihm das nicht vollends abnahm, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, glaubte er seinen Worten auch nicht. Na ja, vor ihr konnte er es vermutlich sowieso nicht verstecken. Sie war eben seine Mum und kannte ihn wirklich gut. Außerdem besaß sie einen sechsten Sinn wie niemand anderes.   Sie sah auf ihre Armbanduhr, dann fragte sie: „Hey, wo wir jetzt sowieso eine Stunde Zeit haben, wollen wir einen Spaziergang draußen im Schnee machen, nur wir zwei? Serenity scheint sich gerade prächtig mit Mokuba zu unterhalten und ich habe das Gefühl, seit Ewigkeiten nicht mehr so richtig mit dir gesprochen zu haben.“   Joey musste ihr recht geben, und vielleicht würde das auch helfen, um die verwirrenden Gedanken zu vertreiben. Lächelnd nickte er ihr zu, dann schnappten sie sich ihre Jacken und machten sich auf den Weg nach draußen, in den Kaiba-Park, aber nicht, ohne Mokuba und Serenity kurz Bescheid zu geben.   Als sie raus ins Dunkle traten, hatte es bereits aufgehört zu schneien, aber der Boden war von einer nicht unbeachtlichen Schneedecke bedeckt. Im Schein der Laternen glitzerte der Schnee etwas, und wenn morgen die Sonne scheinen würde – und laut Wetterbericht war das ziemlich wahrscheinlich – würde man das Glitzern noch stärker sehen können. Allerdings war es wirklich unheimlich kalt, also zog sich Joey seinen Schal noch enger um den Hals, während warme Atemwolken seinen Mund verließen.   Für wenige Minuten liefen sie einfach nur nebeneinander, keiner sagte ein Wort. Weil sie nicht wussten, wo sie anfangen sollten? Doch dann ergriff seine Mum das Wort und setzte das Gespräch in Gang: „Joey, ist irgendwas zwischen dir und Kaiba vorgefallen?“   Überrascht blickte er zu ihr auf. „Wie kommst du darauf? Spielst du auf etwas Bestimmtes an?“   Sie blickte in den klaren Nachthimmel hoch, der von hell leuchtenden Sternen durchzogen war, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. „Nicht unbedingt. Es ist einfach nur so ein Gefühl. Intuition, wenn du so willst, insbesondere, weil Kaiba sich gerade, als er sich verabschiedet hat, irgendwie komisch verhalten hat. Hält sich Kaiba aus irgendeinem Grund zurück? Gestern kam er mir irgendwie ausgelassener vor.“   Joey konnte sich ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel nicht verkneifen. Also hatte sie es auch bemerkt, aber wer, wenn nicht sie, würde so etwas feststellen können. Joey überlegte kurz, bevor er antwortete: „Hm, vielleicht einfach die Arbeit?“   Er hörte, wie seine Mum tief durchatmete, bevor sie erwiderte: „Vielleicht, aber mein Bauch sagt mir, dass da noch was anderes ist.“ Sie schien für einige Sekunden in Gedanken, bevor sie ihren Kopf in Joeys Richtung bewegte und mit einem Lächeln auf den Lippen sagte: „Aber vielleicht interpretiere ich auch zu viel hinein.“   Dennoch, Joey fragte sich, ob es tatsächlich etwas gab, das Seto beschäftigen könnte. Er ließ die letzten Wochen in seinem Kopf Revue passieren, aber es war nichts Aufregendes passiert. Zumindest, wenn man mal von dem Tag absah, an dem Joey zurückgekehrt war. Er stoppte in der Bewegung. Hatte es vielleicht etwas mit der Frage zu tun, die er ihm damals gestellt hatte? Möglicherweise, auch Joey hatte sich in der letzten Zeit einige Gedanken darüber gemacht.   „Joey, ist alles okay?“, fragte seine Mum, und ihr Gesichtsausdruck zeigte erneut die Besorgnis, die in ihr aufgekommen war. Er sah sie an, vielleicht mit etwas mehr Skepsis, als ihm eigentlich lieb war. Konnte er es wagen? Er hatte bislang niemandem davon erzählt, auch wenn er nicht so richtig sagen konnte, warum. Vielleicht, weil es so eine intime Frage gewesen war, dass er es bisher einfach für sich hatte behalten wollen?    Als er seiner Mum jetzt so ins Gesicht sah, da wusste er, sie würde vermutlich nicht locker lassen, und er hatte auch nicht unbedingt etwas zu verlieren. Er wusste, er konnte ihr vertrauen, und dass sie es niemandem anders erzählen würde. Wer weiß, vielleicht konnte sie ihm ja sogar helfen, das in die richtige Perspektive zu rücken und seine Gedanken zu ordnen?   Also holte er tief Luft, dann gab er die Information preis, die er in den letzten Wochen gehütet hatte wie einen kostbaren Schatz: „Seto hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.“   Seine Mum schien ganz offensichtlich überrascht – wer wäre das wohl nicht in dieser Situation? Für einen kurzen Augenblick schien ihr der Atem zu stocken und sie riss die Augen ganz weit auf. Dann schien sie sich wieder zu fangen, scheinbar spürte sie, dass mehr hinter der Geschichte steckte, als es dieser eine Satz vermuten ließ. Dann fragte sie: „Wie hast du reagiert?“   Joey schloss für eine Sekunde die Augen, atmete hörbar aus und fing dann wieder an zu laufen. Sein Blick war gerade nach vorn gerichtet, auf keinen bestimmten Punkt fokussiert, als er antwortete: „Ich habe abgelehnt.“   „Oh“, kam es erneut überrascht von seiner Mum. „Möchtest du mir erzählen, warum?“    „Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt gewesen. Ich habe dir ja von dem Tag erzählt, als Seto und ich uns wiedergesehen haben und ich wieder nach Hause zurückgekehrt bin. Es war an diesem Tag, draußen am Meer. Er hat die Frage gestellt, gerade als ich im Begriff war, wieder abzuhauen.“ Ein erneutes Seufzen unterbrach seinen Monolog, dann fuhr er fort. „Ich meine, ich war gerade monatelang weg gewesen. Es war einfach... ein bisschen zu viel auf einmal für mich. Ich hatte anfangs das Gefühl, er hat gar nicht verstanden, warum ich überhaupt gegangen bin. Aber wir haben das besprochen und ich glaube, am Ende konnte er nachvollziehen, warum ich reagiert habe, wie ich reagiert habe.“   „Verstehe. Und wie denkst du jetzt darüber?“   Erstaunt blickte Joey zu seiner Mum rüber. „Wie meinst du das?“   „Na ja“, erklärte sie, „wenn du dir vorstellst, er würde dich jetzt fragen, heute. Wie würdest du antworten?“   Das war eine sehr gute Frage. Wie würde er reagieren? Würde er ja sagen? Gäbe es noch einen Grund, abzulehnen? Warum nur wühlte ihn diese Frage jetzt so auf? Ihm schossen tausende Gedanken in den Kopf und es fiel ihm schwer, sich auf einen davon zu konzentrieren. Es war wie ein Meer aus unterschiedlichen Stimmen, unmöglich, eine davon auch nur für eine Sekunde zu fokussieren.   Seine Mum schien das schnell zu merken, und mit der nachfolgenden Frage schien sie das Gespräch so lenken zu wollen, dass Joey seine Gedanken und Gefühle ein bisschen besser würde ordnen können. „Was fühlst du für ihn?“   „Ich liebe ihn“, sagte er wie aus der Pistole geschossen. „Sehr. Er ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, auch nur noch für einen Tag von ihm getrennt zu sein. Als ich verschwunden war, war das die längste Zeit, die wir jemals getrennt gewesen waren, seit wir zusammen sind. Und das war die Hölle für mich, und wie es scheint, war es das auch für ihn.“   „Erzähl mir davon“, sagte seine Mum und regte ihn dazu an, noch mehr zu sprechen. Und sie hatte vermutlich gar nicht unrecht. Manchmal half es, die Dinge laut auszusprechen, um sie selbst einordnen und richtig verstehen zu können. „Wie hast du dich gefühlt, als du weg gewesen warst? Du hattest mir von deinen Beweggründen erzählt, und ich kann schon nachvollziehen, warum du dich dafür entschieden hattest. Das muss sehr schwer für dich gewesen sein. Ich kann mir nur vage vorstellen, wie viel Überwindung dich das gekostet haben mag.“   Das hatte es, das hatte es wirklich. Joey hatte es in den besten Intentionen gemacht, auch wenn das nicht jeder so sah. Er versuchte, sich wieder in die Zeit zurückzuversetzen, in der er mal hier und mal dort gewesen war, und probierte dann, das einigermaßen in Worte zu fassen. „Ich habe mich sehr allein gefühlt. Ich habe ihn unheimlich vermisst, so sehr, dass es mir oft die Luft zum Atmen geraubt hat. Ich habe mich immer gefragt, was er wohl gerade macht. Woran er denkt. Ob er sich noch an mich erinnert. Ob er vielleicht in seinem Leben schon weitergezogen ist und ich keine Rolle mehr spiele. Es war so schwer ohne ihn. Schon der Gedanke, nicht bei ihm sein zu können, auch wenn ich das ja freiwillig so entschieden hatte, tat so unendlich weh.“   Plötzlich wurde er von seinen eigenen Emotionen übermannt. Er blieb stehen und versuchte, die Tränen mit seinen Händen davon abzuhalten, in Bächen von seinen Wangen zu fließen, aber es war sinnlos. Sie bahnten sich ihren Weg wie automatisch nach unten und tropften zuhauf auf den Boden. Er konnte das Schluchzen nicht verhindern. Seine Unterlippe bebte, genauso wie seine Stimme, als er ergänzte: „Ich liebe ihn so sehr, Mum. Er bedeutet mir einfach alles. Alles.“   Er spürte die Arme seiner Mum um sich. Sie zog ihn in eine enge Umarmung und strich ihm sanft über den Rücken, und auch wenn er das durch die dicke Winterjacke kaum spürte, so war es doch eine beruhigende Geste. Ihr Tonfall war ruhig, als sie die folgenden Worte an ihn richtete: „Hör auf dein Herz, Joey. Was sagt es dir jetzt gerade?“   Er legte den Kopf auf ihrer Schulter ab und horchte in sich hinein, während er weiter eng umschlungen mit ihr dastand. Sein Herz schlug ganz regelmäßig, gab ihm einen Rhythmus, dem er folgen konnte, genau wie sein Atem, der nun auch wieder gleichmäßiger ging. Er schloss für einen Augenblick die Augen, und sofort erschien das Bild von seinem Drachen mit den eisblauen Augen vor ihm. Er sah ihn in allen möglichen Varianten – den starken Seto mit dem ernsten Gesichtsausdruck. Den sanften Seto, der ihm ein bezauberndes Lächeln schenkte. Den sexy Seto, der sich über die Lippen leckte, bevor er ihn küsste. All seine Gedanken wurden von ihm eingenommen.   Es war eindeutig. Er würde niemals ohne Seto leben wollen. Er könnte es nicht. Er brauchte ihn, wie er Luft zum Atmen brauchte. Und er wusste, Seto ging es ganz genauso. Sie brauchten sich. Und Joey war sich mehr als sicher – das würde sich niemals ändern.   Als er sich von seiner Mum löste, da fasste er einen Entschluss. Er hatte wieder etwas mehr an Selbstbewusstsein gewonnen und war ihr unheimlich dankbar, dass sie ihm dazu verholfen hatte, wieder Klarheit und Ordnung in seine Gedankenwelt zu bekommen. Und während er sie an den Händen hielt, sagte er: „Danke, Mum. Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich will.“   Sie lächelte ihn liebevoll an und nickte. „Sollen wir ihn dann langsam holen gehen? Ich kann mir gut vorstellen, dass Mokuba schon wie auf heißen Kohlen sitzt, und vermutlich hat er Serenity mittlerweile damit angesteckt.“ Joey lachte auf, als er sich die Szene vorstellte. Auch er nickte und gemeinsam machten sie sich wieder auf den Weg zurück in die warme Villa. Und dass Joey jetzt plötzlich wieder so klar sah, gab ihm eine Zuversicht, die er hoffentlich auch die nächsten Tage beibehalten würde.   ~~~~   Die Weihnachtsfeiertage waren schneller vergangen, als Seto es im Vorhinein vermutet hätte. Er hatte es gar nicht abwarten können, diesen elenden Weihnachtsbaum endlich aus der Villa zu entfernen. Er würde sich mit dem Weihnachtsfest wohl nie richtig anfreunden können, auch wenn es mit Joey an seiner Seite deutlich besser war. Er war wie ein leuchtendes Licht am Horizont, das jeden Tag seines Lebens ein bisschen heller machte.   Der Blonde war in den letzten Tagen viel mit seiner Familie unterwegs gewesen, und Seto hatte unglücklicherweise viel arbeiten müssen, weil so einiges schief gegangen war, aber einfach auch ein bisschen mehr Arbeit zu erledigen gewesen war. Mokuba war in der Zwischenzeit unablässig damit beschäftigt gewesen, die alljährliche Silvesterparty zu organisieren, zu der er Hinz und Kunz eingeladen hatte. Natürlich würde auch der ‚Kindergarten‘ wieder dabei sein, auch wenn Seto auf diese Gruppe noch immer durchaus gut verzichten könnte.   Und als er sich so durch die Excel-Tabelle auf seinem Monitor scrollte, schweiften seine Gedanken ab zu dem Tag vor exakt einem Jahr, der so viel verändert hatte. Am Silvesterabend des letzten Jahres hatten sie sich das allererste Mal geküsst, und dieser Kuss hatte auch in Seto ein riesiges Feuerwerk explodieren lassen. Seitdem war so viel passiert. Es hatte viele schöne, aber auch herausfordernde, zum Teil dramatische Momente in ihrem Leben gegeben. Seto hatte Fehler gemacht, genauso wie Joey, und auch wenn Seto sich wünschte, einiges davon rückgängig machen zu können – war es nicht auch natürlich, dass beide nicht gleich auf Anhieb alles richtig gemacht hatten? Immerhin hatten sie beide so etwas noch nie erlebt. Seine Beziehung zu Joey war so intensiv, und manchmal fragte er sich, ob dieses Gefühl für immer so bleiben würde.   Er dachte an den Moment zurück, an dem er Joey aus einem Impuls heraus gebeten hatte, ihn zu heiraten. Er konnte wirklich gut nachvollziehen, warum der Blonde es abgelehnt hatte. Es war wohl der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür gewesen, das sah Seto auch ein. Dennoch – es beschäftigte ihn noch immer. Hätte Joey ja gesagt, hätte er ihm die Frage zu einem besseren Zeitpunkt gestellt?   Manchmal, da erwischte er sich selbst dabei, wie er sich mit liebevollen Worten zurückhielt, auch wenn er gar nicht so richtig sagen konnte, warum eigentlich. Seit Joey damals gegangen war, hatte er Angst, er würde es wieder tun, auch wenn er versprochen hatte, es nicht zu tun. War es also die Angst, Joey mit seinen Worten am Ende doch wieder in die Flucht zu treiben? Fehlte Seto vielleicht einfach ein Stück weit Sicherheit? War das möglicherweise der Hauptgrund gewesen, warum er ihn damals überhaupt gefragt hatte, ihn zu heiraten? Selbstverständlich hatte er die Frage absolut ernst gemeint – mit so etwas Wichtigem würde er nie spaßen, schon mal gar nicht Joey gegenüber. Aber diese doch eher spontane und wenig durchdachte Aktion hatte sicherlich auch viel damit zu tun, was Joeys plötzliches Verschwinden mit ihm gemacht hatte. Wie sehr es ihn selbst bewegt und beschäftigt hatte. Es war schwer gewesen ohne ihn, und das war noch deutlich untertrieben. Seto wollte ihn nicht mehr verlieren, nie wieder, und er würde alles dafür tun, dass sich das nicht wiederholte. Was immer Joey dafür auch bräuchte, er würde es ihm geben.   Lange konnte er darüber nicht mehr nachdenken, als er auf die Uhr sah und bemerkte, dass es schon kurz vor 18 Uhr war. Die Silvesterparty würde bald losgehen und er musste noch eine ganze Armada an E-Mails beantworten. Seufzend machte er sich ans Werk und kratzte alles, was er noch an Konzentration hatte, zusammen, um so schnell wie möglich damit fertig zu werden.   Kurz vor 19 Uhr ging er in ihr Apartment, aber Joey war nirgendwo zu sehen. Vermutlich war er mittlerweile schon im Festsaal und begrüßte die Gäste, zusammen mit Mokuba. Seto beeilte sich, ging schnell in ihr Ankleidezimmer und zog sich das dunkelblaue Hemd über, von dem er wusste, dass es seinem Hündchen unheimlich gefiel, dazu eine dunkelblaue Jeans. Nach einem kurzen Check im Spiegel, wo er sich noch mal durch die Haare fuhr und sie so herrichtete, wie er sie haben wollte, machte auch er sich auf den Weg und verließ das Apartment.   Als er den Festsaal betrat, waren Himmel und Menschen anwesend, aber das Erste, was Seto feststellen musste, war, dass sein Hündchen alles und jeden überstrahlte. Sein Lachen breitete sich im gesamten Saal aus, hallte an den Wänden wider und wurde dadurch nur noch verstärkt. Und er war schön, wunderschön. Ihn jetzt so glücklich zu erleben, nach allem, was er, was sie gemeinsam hatten durchmachen müssen, war das befreiendste Gefühl überhaupt.   Ihr Blicke trafen sich und Seto wurde sofort von seinem Lächeln verzaubert und wie magnetisch von ihm angezogen. Joey stand inmitten seiner Freunde und unterhielt sich angeregt mit ihnen. Eigentlich hatte Seto keine große Lust, Zeit mit dem ‚Kindergarten‘ zu verbringen, auch wenn er wusste, dass Joey ihn noch immer sehr gern als Teil der Gruppe betrachten würde. Als er sich langsamen Schrittes auf die Gruppe zubewegte, schüttelte er den Kopf, in der Hoffnung, diese absurden Gedanken endlich und für alle Zeit vertreiben zu können, aber er hatte die vage Befürchtung, dass Joey es wohl niemals aufgeben würde.   Kaum hatte er zu der Gruppe aufgeschlossen und ihnen zur Begrüßung zugenickt, griff Joey seine Hand und schenkte ihm ein weiteres Lächeln. Seto wurde sofort von dem überwältigenden Wunsch ergriffen, Joeys Gesicht in beide Hände zu nehmen und ihn sanft zu küssen, doch bevor er das auch nur ansatzweise in die Tat umsetzen konnte, fragte der Blonde: „Alles okay mit der Arbeit? Du hattest ja auch heute wieder echt viel zu tun.“   Das war kein Vorwurf, nein, in Joeys Stimme schwang Sorge mit. Seto seufzte, und nachdem er ihre Finger noch enger ineinander verschränkt hatte, erwiderte er: „Mehr oder weniger. So schlimm wie dieses Jahr zum Jahresende war es allerdings selten, auch im Vergleich zu den letzten Jahren. Mal ganz abgesehen davon, dass die neuen Sicherheitsrichtlinien, die ich eingeführt habe, leider auch zu mehr Bürokratie beitragen.“ Er zog Joeys Hand an seine Lippen, gab ihr einen seichten Kuss, bevor er ergänzte, die Hand noch immer kurz vor seinem Mund, den Blick intensiv auf Joeys Augen gerichtet: „Aber das ist es allemal wert.“   Seto konnte beobachten, wie Joey unter seinen Worten leicht errötete und sogar Schwierigkeiten damit hatte, seinen Blick zu erwidern und ihm direkt in die Augen zu sehen. Seit wann war sein Hündchen denn so schüchtern? Klar, es waren viele Menschen um sie herum, aber das hatte Joey doch bisher auch nicht davon abgehalten, liebevolle Momente mit ihm zu teilen. War da was im Busch?   Doch noch bevor er weiter darüber grübeln konnte, richtete Gardner das Wort an Joey und zog so seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, und ihre penetrante Stimme ging Seto jetzt schon auf den Geist. „Hey, Joey, lass uns noch etwas tanzen, bevor wir später zum Feuerwerk gehen! Ich nehme an, der Eisklotz da will nicht mit?“   Sie wartete überhaupt keine Reaktion von Seto ab. Stattdessen streckte sie ihm frech die Zunge raus, griff Joey am Arm und schleifte ihn, gemeinsam mit seinen anderen Freunden, auf die Tanzfläche. Joey drehte sich in der Bewegung noch mal halb zu ihm um, grinste ihn an und zuckte ein wenig mit den Schultern – selbst, wenn er es versucht hätte, zu entkommen, geschafft hätte er es vermutlich nicht.   Wie schon im letzten Jahr, nahm Seto an der Bar Platz und beobachtete sein Hündchen beim Tanzen. Er erinnerte sich erneut daran, wie viel sich seit damals verändert hat. Noch vor einem Jahr war er so verwirrt von seinen eigenen Gefühlen gewesen, hatte nicht verstanden, warum er wie magisch von Joey angezogen wurde. Erst mit ihrem Kuss hatte er verstanden, dass es genau das gewesen war, wonach er sich die ganze Zeit gesehnt hatte. Und er war sich sicher, dass er nie eine tiefere Liebe würde empfinden können, für niemanden. Zumindest, wenn man mal von Mokuba absah, aber das war auch eine ganz andere Art von Liebe.   Und während er Joey so beobachtete, wie er ausgelassen tanzte und Seto wie so oft den Atem raubte, da bemerkte er gar nicht, wie schnell die Zeiger auf der Uhr sich bewegten. Erst Mokubas Stimme durch das Mikrofon des DJs, der alle Gäste bat, sich langsam auf die Dachterrasse zu begeben, machte ihm bewusst, wie erstaunlich schnell die Zeit vergangen war. Er hätte Joey noch Stunden weiter zusehen können.   Nach Mokubas Ansprache kam der Blonde auf ihn zu und nahm seine Hand – und warum wirkte er eigentlich schon wieder so schüchtern? Was war denn heute nur los mit ihm? Joey wollte schon Anstalten machen, einfach loszugehen und ihn mitzuziehen, doch Seto hielt ihn auf. Sein Hündchen drehte sich zu ihm um, einen verdutzten Ausdruck auf dem Gesicht, bevor Seto fragte: „Ist alles okay, Joey?“   Mit seiner freien Hand kratzte sich Joey am Hinterkopf und lächelte verlegen. Seto konnte nicht anders, als zu glauben, dass Joey wie ausgewechselt war. Daran änderte auch sein halbherziger Versuch nichts, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, als er sagte: „Ja, alles okay, ich ähm... sollen wir zusammen hochgehen? Ich würde mir gern das Feuerwerk mit dir ansehen. Also, ähm... allein.“   Seto wunderte sich noch immer, was das alles wohl zu bedeuten hatte. Irgendwas verheimlichte Joey ihm, so viel war mal sicher, auch wenn er wirklich nicht wusste, was das sein könnte. Aber was auch immer es war, Joey würde es ihm schon sagen, wenn er bereit dazu oder es an der Zeit war. Außerdem kam ihm sein Plan gerade recht – mit ihm allein Zeit zu verbringen, war ihm deutlich lieber, als mit dem ‚Kindergarten‘ oder den Freunden seines Bruders rumzuhängen.   Joey nickte seinen Freunden, die in einer Runde mit Serenity und seiner Mum standen und sich gerade ihre Jacken anzogen, zu, und dann schnappten auch sie sich ihre Mäntel und gingen hinauf zur Dachterrasse. Joey schien genau zu wissen, wohin er gehen wollte. Zielgerichtet lotste er Seto an den Rand der Dachterrasse – es war dieselbe Stelle wie schon vor einem Jahr, das fiel ihm sofort auf, und die Erinnerungen an das, was genau an diesem Ort passiert war, schickten Wellen wohliger Wärme durch seinen ganzen Körper.   Für einige Minuten standen sie still nebeneinander, Hand in Hand, und beobachteten den Rest der Festgemeinschaft, der schon gebannt gen Himmel schaute, auch wenn das Feuerwerk noch einige Minuten auf sich warten lassen würde. Joey schien nervös, das konnte Seto spüren. Er bemerkte es schon allein deshalb, weil sich Schweiß in Joeys Handinnenfläche sammelte, und auch sein Atem hatte sich beschleunigt.   Er zog den Blonden so am Kinn, dass er ihm direkt ins Gesicht sehen musste. Seine Wangen waren leicht gerötet, und Seto war sich sicher, das kam nicht allein durch die Kälte hier draußen. Auch seine Augen zeigten ihm, dass ihn etwas beschäftigte, und langsam, aber sicher wurde Seto ungeduldig. „Joey, ich merke doch, dass was los ist.“   Joey nahm einen tiefen Atemzug, schloss für eine Sekunde die Augen, nur um sie dann wieder zu öffnen und ihn selig anzulächeln. Er schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts als Antwort auf Setos implizierte Frage. Dennoch, er schien sich ein wenig beruhigt zu haben.   Er drehte sich nun ganz zu Seto um und verlor sein Lächeln dabei nicht. Er nahm beide von Setos Händen in seine, und für einige Momente sahen sie sich nur in die Augen. Seto verlor sich im Gold von Joeys Iris, das so lebhaft war, dass er Mühe hatte, den verschiedenen Strömungen zu folgen. Daraufhin wurde Joeys Lächeln sogar noch etwas breiter, fast so, als hätte er wieder ein wenig von der Selbstsicherheit zurückgewonnen, die Seto die letzten Minuten schon bei ihm vermisst hatte. Dann fragte er: „Das hier war genau der Ort, wo wir uns vor einem Jahr das erste Mal geküsst haben, oder?“   Seto erwiderte das Lächeln bei dieser wunderschönen Erinnerung, die ihm auch direkt gekommen war, kaum dass sie sich hier hingestellt hatten, und nickte. Joeys Blick wurde unfokussiert, und er blickte ein wenig an Seto vorbei in Richtung Himmel, er stand ihm aber immer noch frontal gegenüber. Dann fuhr er fort: „Dieser Tag hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Danach war irgendwie alles anders, oder? Wir haben so unfassbar schöne Sachen erlebt. Ich erinnere mich noch an das Klavierkonzert, das so unheimlich emotional für mich gewesen war. An dem Abend habe ich auch das erste Bild von dir bekommen, und ich weiß noch genau, wie viele Schmetterlinge mir das beschert hat. Auch wenn ich es damals wohl noch nicht hatte richtig einordnen können, warum genau ich so gefühlt habe. Und dann mein Geburtstag, dein Brief, unsere erste, gemeinsame Nacht – wir haben schon damals so viele Höhen miteinander geteilt, so viel Positives erlebt, dass mir allein der Gedanke daran schon eine Gänsehaut verschafft.“   Setos Blick klebte an Joeys Lippen, die ganze Zeit über, während er so wunderschön die Anfänge ihrer gemeinsamen Reise beschrieb. Der Blonde sah ihn nun wieder direkt an und das Lächeln wurde ein wenig kleiner, umspielte nur noch dezent seine Lippen.   Er atmete tief durch, bevor er weiter erzählte: „Aber es hatte auch einige Tiefen gegeben, die wir hatten überwinden müssen. Kommunikationsfehler, Missverständnisse, all das gehört auch zu unserer Geschichte. Ich bin nicht perfekt, das war ich nie, und das werde ich auch nie sein. Auch wenn du mir da wahrscheinlich widersprechen würdest, so wie ich dich kenne.“   Seto grinste ihn nur schelmisch an – da hatte er verdammt recht. Aber er unterbrach ihn nicht. Er hatte das Gefühl, er arbeitete sich mit seinen Worten auf ein bestimmtes Ziel vor, auch wenn er noch nicht richtig begriff, wie das aussehen könnte. Also ließ er ihm den Freiraum, den er brauchte, um alles zu sagen, was er sagen wollte.   Joeys Gesichtsausdruck wurde noch ein bisschen ernster, fast ein wenig traurig, und Seto hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn einfach in den Arm zu nehmen, ihn fest zu drücken und ihm zu sagen, dass alles gut werden würde. Doch bevor er diese Idee in die Tat umsetzen konnte, sprach Joey weiter.   „Ich weiß, ich habe Fehler gemacht. Viele. Ich bin weggerannt, obwohl du mich mehr als jemals sonst gebraucht hättest. Und dennoch bist du hier, neben mir, an meiner Seite. Hast nicht aufgehört, nach mir zu suchen, nie aufgehört, an mich zu glauben und das Positive in mir zu sehen. Du hast all diese Tiefen mit mir durchgestanden, egal, in welcher Dunkelheit ich auch gefangen war, und ich weiß, egal was kommt, ich werde immer auf dich zählen können.“   Joeys Monolog wurde nur kurzzeitig von Mokubas lauter Stimme unterbrochen, als dieser rief: „Noch eine Minute bis Mitternacht!“ Beide hatten ihre Köpfe in die Richtung gedreht, aus der die Stimme gekommen war, doch wandten nun ihre Köpfe wieder sich gegenseitig zu. Seto war glücklich zu sehen, dass sich Joeys Mundwinkel nun wieder etwas nach oben zogen, bevor er weiterredete.   „Ich liebe dich, Seto. Mehr, als Worte es jemals beschreiben könnten. Und ich habe es vielleicht vor einigen Monaten noch nicht so klar gesehen, wie ich es jetzt tue, auch wenn ich es innerlich schon gewusst habe. Ich weiß, dass ich keinen Tag mehr ohne dich verbringen will. Dass ich alles mit dir teilen will, die guten und die schlechten Tage und Erfahrungen, die uns noch bevorstehen werden. Bis an unser Lebensende und darüber hinaus. Du bist und wirst immer der wichtigste Mensch in meinem Leben sein. Du bist meine Familie, Seto.“   Seto merkte, wie Joey leicht anfing zu zittern und eine kurze Pause machte, um kurz durchzuatmen. Doch dann fuhr er fort. „Als wir uns wiedergefunden hatten, dort am Meer, da war ich vielleicht noch nicht so weit, das alles so deutlich zu sehen. Aber heute bin ich ganz sicher. Sicher, dass du der einzige Mann sein wirst, mit dem ich jemals zusammen sein möchte. Und deswegen möchte ich dir ein Versprechen geben. Eines, das uns für immer aneinander bindet, denn nichts anderes wünsche ich mir.“   Während die Festgemeinschaft begann, den Countdown zum neuen Jahr runterzuzählen, entzog Joey Seto seine Hände und fing an, in seiner Jackentasche herumzukramen. Er holte eine kleine Schatulle raus, und als er sie öffnete, erschienen zwei silbern glänzende Ringe. Mit weit aufgerissenen Augen erwiderte er Joeys Blick erneut, der krampfhaft versuchte, gegen die Tränen zu blinzeln, doch schon den Bruchteil einer Sekunde später, bahnte sich eine einsame Träne den Weg über seine Wange. Aber er lächelte, er war wie die Sonne in Person, wie er gerade so vor ihm stand, und Seto fragte sich, ob er ihn wohl jemals so glücklich gesehen hatte.    Und als die ersten Feuerwerkskörper am Himmel explodierten und ein buntes Meer aus Farben preisgaben, stellte Joey die alles entscheidende Frage: „Willst du mich heiraten und den Rest deines Lebens mit mir verbringen?“   Im ersten Moment konnte er gar nicht reagieren. Er konnte sein Herz fühlen, wie es heftig und schnell gegen seine Brust schlug. Sein Atem ging abgehackt und ihm war plötzlich so warm. Seine Wangen glühten, als er den Blick erneut auf die Ringe in Joeys Hand legte.   Plötzlich ergab das alles einen Sinn. Warum Joey so nervös gewesen war. Warum er unbedingt mit ihm hatte allein sein wollen. Sein Monolog, alles, was er gerade gesagt hatte. Seto gingen eine Million Fragen durch den Kopf, während sein Puls noch immer raste. Er hob seinen Blick wieder an, sah Joey ins Gesicht, dem nun die Tränen in Rinnsalen über die Wangen strömten. Seto schluckte, auch wenn sein Mund aufgrund der Aufregung staubtrocken war, dann fragte er leise: „Bist du ganz sicher, Joey?“   Als er ihm diese Frage gestellt hatte, vor nicht einmal zwei Monaten, da hatte er noch abgelehnt. Aus nachvollziehbaren Gründen, ja, aber er hatte abgelehnt. Und jetzt stand er hier und hatte das offensichtlich sogar vorbereitet und geplant, viel besser als Seto damals, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Bei ihm war es aus einem Impuls heraus geschehen und vermutlich aus den falschen Gründen, und er wollte einfach sichergehen, dass Joey nicht denselben Fehler machte.   Doch Joey nickte, dann trat er einen Schritt näher an Seto ran, sodass sich ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt befanden, und sagte: „Ja, Seto. Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie so sicher wie jetzt.“   Und dann, ganz plötzlich, wurde Seto von seinen Gefühlen übermannt. Er riss Joey in eine feste Umarmung, sodass diesem fast die Schatulle aus den Händen fiel, aber er schaffte es wohl gerade noch so, sie vor dem Fallen zu bewahren. Seto versuchte es erst gar nicht, gegen die Tränen anzukommen, denn er wusste, es wäre aussichtslos. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so positiv-emotional gewesen zu sein. Es war das pure Glück, das ihm in diesem Moment durch die Adern strömte und ihn am ganzen Körper zittern ließ.   Für einige Augenblicke standen sie eng umschlungen da, bis sich Seto wieder ein wenig von ihm löste. Er legte eine Hand sanft auf Joeys Wange, dessen Gesicht vom Feuerwerk bunt beleuchtet wurde, und die vielen verschiedenen Farben spiegelten sich in dessen Augen. Er strich ihm ein paar Tränen von den Wangen, war ihm so nah, dass er Joeys Atem schon auf seinen Lippen spüren konnte. Und dann sagte er das, was die Stimme in seinem Kopf schon schrie, seit Joey ihm diese Frage gestellt hatte: „Ja, natürlich heirate ich dich. Ich liebe dich, mein Hündchen, und ich werde versuchen, dir jeden Tag vom Rest unseres Lebens zu beweisen, wie sehr.“   Als sich ihre Lippen trafen, hatte Seto das Gefühl, das Feuerwerk wäre lauter, noch bunter, noch knalliger geworden, so als ob es ihnen zujubeln würde. Das, was er jetzt gerade fühlte, hatte er so noch nie gefühlt und war mit Worten gar nicht zu beschreiben. So oft im Leben hatte er sich gefragt, was Liebe ist, wie sich das anfühlen müsste. Ob so etwas wie Liebe überhaupt existierte oder ob es nur ein abstraktes Konzept war, das für ihn einfach nicht galt, auch wenn das, was er für Mokuba empfand, sicherlich auch mit dem Wort ‚Liebe‘ beschrieben werden konnte. Aber es war doch so anders als das, wonach er gesucht hatte und die Hoffnung schon verloren geglaubt hatte, es jemals zu finden.   Doch seine Suche endete hier. Denn jetzt wusste er es. Liebe war ein Gefühl, das so übermächtig war, dass man nicht dagegen ankam. Liebe war das Wissen, zuhause zu sein. Liebe war das Gefühl, dass es jemanden gab, der einen akzeptierte, wie man war, mit all seinen Stärken und Schwächen. Liebe war das Herzklopfen und die Schmetterlinge, die er so oft fühlte, dass er das Gefühl hatte zu platzen. Liebe war wie ein leiser Rhythmus, ein Ohrwurm, der ihn begleitete, in jeder Sekunde, ob er nun wach war oder schlief.    Liebe war Joey.    Und als sie sich gegenseitig die Ringe ansteckten, da wusste er, wo immer Joey auch sein würde – dort wäre er auch. Denn nirgendwo sonst würde er lieber sein wollen. Kapitel 38: Rescue me... from counting the days ----------------------------------------------- „Ja“   „Zum allerletzten Mal, Joey: Nein.“   Joey und Seto saßen auf dem Sofa des Gemeinschaftswohnzimmers in der Villa, die Arme vor der Brust verschränkt, und trugen ein Blickduell aus, das keiner von beiden verlieren wollte. Warum nur musste Seto so stur sein? Wieso verstand er denn nicht, dass es zu seinem Besten wäre?   Joey rollte mit den Augen und wandte seinen Blick ab, sah mehr oder weniger genervt zu ihrem Anwalt, der ihnen gegenüber auf einem Sessel saß. Mit einem frustrierten Laut ließ er sich gegen die Rückenlehne fallen, während der Anwalt immer wieder nervös zwischen den beiden hin und her schaute und sich die Brille auf der Nase zurecht schob. Der ältere Mann begutachtete die Dokumente in seiner Hand, so als ob er die Antwort darin finden würde, wie man diese Situation lösen könnte, aber Joey wusste, das würde darin nicht stehen. Ab und zu nippte der Anwalt mal an seinem Wasserglas, um die unangenehme Stille zu überbrücken, und auch Joey konnte dieses unbehagliche Schweigen nur mit Mühe ertragen.   Der Blonde seufzte auf, bevor er sich wieder zu Seto drehte und sagte: „Ich verstehe das nicht, Seto. Willst du denn dein Vermögen gar nicht schützen?“   Achselzuckend antwortete der Brünette: „Wozu? Weißt du, wie viel mehr Aufwand und Geld es kostet, einen Ehevertrag aufzusetzen und ihn notariell beglaubigen zu lassen? Außerdem gehe ich nicht davon aus, dass du mich nur heiratest, um an mein Geld zu kommen.“ Er lehnte sich ein wenig in Richtung des Blonden, setzte ein verschmitztes Grinsen auf, und in provokantem Tonfall ergänzte er: „Oder sehe ich das falsch?“   Joey grummelte, doch noch bevor er etwas dazu sagen konnte, konnte es der Anwalt offensichtlich nicht länger in dieser Atmosphäre aushalten. Er stand auf und sagte: „Wir müssen das auch nicht heute abschließend klären. Lassen Sie mich einfach wissen, wenn Sie zu einer Entscheidung gelangt sind, ich helfe in jedem Fall gern.“ Mit diesen Worten verbeugte er sich höflich zur Verabschiedung und verschwand aus der Tür.   Joey seufzte zum wiederholten Male innerhalb der letzten Stunde auf. „Am Ende ist es dein Vermögen und deine Entscheidung, Seto. Und natürlich habe ich nicht vor, mich direkt wieder von dir scheiden zu lassen, nur um an dein Geld zu kommen. Du weißt, dass mich dein Geld noch nie interessiert hat. Ich werde immer sicherstellen, dass ich im Zweifel für mich selbst sorgen könnte.“   Ein sanftes Lächeln legte sich über Setos Lippen, bevor er näher an Joey heranrutschte und seine Hand nahm, sie sanft mit seinem Daumen liebkoste. „Ich weiß, und dafür liebe ich dich umso mehr.“ Jede Stelle kribbelte unter Setos Berührung. Die andere Hand legte er unter Joeys Kinn und zog ihn ganz nah zu sich, bis sich ihre Lippen trafen und zu einem kurzen, innigen Kuss vereinigten.   Als sie sich wieder voneinander lösten, ergänzte Seto: „Und was meine Firma betrifft, dahingehend habe ich schon vor Jahren so ziemlich alles geregelt, was es zu regeln gibt. Daran ändert auch unsere Hochzeit nichts. Ich werde ein paar Anpassungen machen müssen, aber das ist nichts Gravierendes.“   Nun legte Seto seine Arme um Joeys Nacken, zog ihn am Hinterkopf eng an sich und ließ einige Atemzüge vergehen, bevor er sagte: „Ansonsten: Alles, was mir gehört, gehört ab jetzt auch dir. So will ich es.“   Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie, doch am Ende war Joey sich sicher, dass es nicht das letzte Mal bleiben würde, dass sie über diese Thematik sprechen würden. Natürlich war er glücklich darüber, dass Seto ihm so sehr vertraute, aber er wollte einfach nicht, dass es etwas gab, was potenziell zwischen ihnen stehen könnte. Außerdem wollte er nichts haben, was nicht rechtmäßig ihm gehörte oder was er sich nicht selbst hart erarbeitet hatte. Allein schon hier zu wohnen, unentgeltlich, war mehr, als er jemals für sich selbst verlangt hätte. Er hoffte, dass er Seto würde überreden können, einen Ehevertrag aufzusetzen – wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für Joeys Seelenfrieden.   Diese ganze Situation war sowieso ziemlich absurd. Niemals hätte er gedacht, dass es Seto wäre, der nicht alles kontrollieren wollen würde. Er war immer der Erste gewesen, der etwas schriftlich festhalten wollte, wohingegen Joey mit solchen Dingen in der Vergangenheit eher leichtfertig umgegangen war. Schon interessant, wie sich das Blatt wenden konnte, wenn Liebe im Spiel war. Aber es war klar, dass sie das noch nicht final ausdiskutiert hatten, und Joey hoffte, dass sie am Ende doch zu einer Einigung würden kommen können.   Als Nächstes stand ein Meeting mit ihrer Hochzeitsplanerin an, die von einem Mitarbeiter gerade in den Raum geführt wurde. Seto hatte den Vorschlag gemacht, jemanden zu engagieren, der sie bei der Organisation der Hochzeit unterstützte. Auch wenn Mokuba ganz heiß darauf war, zu helfen, so war es doch gut, einen Profi an ihrer Seite zu wissen, insbesondere, weil Seto durch seine Firma sowieso viel beschäftigt und Joey durch seine Arbeit im Waisenhaus mittlerweile auch wieder sehr stark eingespannt war.   In ihrem heutigen Meeting besprachen sie die letzten Details für die Hochzeit. Es war unglaublich, wie schnell die Zeit vergangen war. Kaum war der Frühling vorbei gewesen, hatte der Sommer auch schon an die Tür geklopft, und schon in wenigen Wochen war es so weit und sie würden sich für immer aneinander binden.   Sie besprachen noch einmal den finalen Ablauf und gingen erneut die Sicherheitsvorkehrungen durch. Das war vor allem Joey unheimlich wichtig gewesen. Nicht nur, um die Paparazzi fernzuhalten und ihnen Privatsphäre zu geben, sondern auch, um dafür zu sorgen, dass es nicht zu einem unangenehmen Zwischenfall kam, um es mal sachte auszudrücken. So etwas wie im letzten Jahr sollte sich auf gar keinen Fall wiederholen, und Joey war froh, dass Seto das auch so sah. Der Brünette hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, dass er nach dem Angriff im letzten Jahr erhöhte Sicherheitsvorkehrungen und -richtlinien eingeführt hatte. Es hatte seine Zeit gedauert, doch mittlerweile hatte auch der Blonde Vertrauen aufgebaut. Seto wusste offensichtlich sehr genau, was er tat, und es war für Joey auch ganz deutlich zu sehen, wie ernst sein Drache das nahm. Und das machte Joey glücklich, sehr sogar.   Und mit jedem weiteren Tag, der ins Land zog, wurde Joey nervöser. Er war sich seiner Entscheidung zu eintausend Prozent sicher, und Seto war es auch, das hatte er ihm in den letzten Monaten deutlich gezeigt. Dennoch, es war ein sehr großer Schritt für sie beide. Aber nichtsdestotrotz konnte es Joey nicht abwarten, endlich ganz offiziell ja zu einem gemeinsamen Leben zu sagen. Eigentlich änderte ein Ring am Finger an der Tatsache ja nichts, dass sie sich dieses Versprechen längst gegeben hatten, aber es machte ihren Entschluss irgendwie endgültiger, gab ihm eine Verbindlichkeit, die Joeys ganzen Körper kribbeln ließ. Ja, es war der absolut richtige und logische nächste Schritt. Noch nie in seinem Leben war sich Joey so sicher gewesen wie darüber, dass er den Rest seines Lebens mit dem Mann mit den eisblauen Augen verbringen wollte.   Was seine Nervosität allerdings noch verstärkte, war die Tatsache, dass ihre Trauzeugen – Yugi und Mokuba – ihren jeweiligen Junggesellenabschied geplant hatten. Sowohl Seto als auch Joey hatten keine Ahnung, was sie sich ausgedacht hatten. Das Einzige, was sie wussten, war, dass es für beide am selben Tag stattfinden würde, eine Woche vor ihrer Hochzeit. Und dieser Tag rückte immer näher, in ganz großen Schritten.   An dem Tag ihres Junggesellenabschieds wachte Joey morgens vor Seto auf. Strahlender Sonnenschein, der durch das Fenster im Schlafzimmer auf sein Gesicht fiel, weckte ihn und er musste ein paar Mal blinzeln ob der hohen Helligkeit im Raum. Trotz der Klimaanlage, die sie aufgrund des wirklich unausstehlich heißen Sommers in Japan installiert hatten, war Joey durch den Einfall der Sonne warm. Er zog die Bettdecke zur Seite, noch immer auf dem Rücken liegend, und streckte sich, verscheuchte so den Schlaf der Nacht und machte sich bereit für den Tag, was immer dieser auch bringen würde.   Ein leises Murmeln neben ihm erregte seine Aufmerksamkeit. Joey drehte sich auf die Seite, den Ellenbogen aufgestellt, den Kopf mit der Hand abgestützt, und beobachtete, wie Seto noch immer friedlich schlief. Das Licht der Sonnenstrahlen ließ sein Gesicht so sanft wirken und seine Haare glänzten eine Nuance heller als sonst. Joey seufzte leise. Er konnte gar nicht glauben, dass es nun nur noch eine Woche war, bis sie sich ganz offiziell, vor so vielen Zeugen, ein gemeinsames Leben versprechen würden. Er spürte, wie sein Herz ein wenig schneller schlug bei dem Gedanken daran und er musste sich beherrschen, Seto in diesem Moment nicht zu berühren. Seine Haut sah so weich und verführerisch aus, aber Joey hielt sich zurück, weil er Seto nicht wecken wollte. Dennoch – der Blonde kam nicht umhin zu denken, dass Seto der wunderschönste Mensch war, den er in seinem Leben jemals getroffen hatte. Und er war sich sicher, dass er es bleiben würde – diesen Wettbewerb würde er für alle Zeit konkurrenzlos für sich entscheiden.   Nach einigen weiteren Minuten wurde der Braunhaarige dann allerdings auch wach. Joey beobachtete jede seiner Regungen. Er schien ein paar Augenblicke zu brauchen, um sich zu orientieren, und Joey fragte sich, in welche Welten ihn seine Träume diese Nacht wohl gezogen hatten. Auch Seto streckte sich ausgiebig, bevor er nun den Blonden bewusst wahrnahm. Ein Lächeln legte sich zur gleichen Zeit auf die Gesichter der beiden Männer, und sie sahen sich für einige Momente einfach nur an, ohne dass Worte gewechselt wurden.   Nun konnte Joey der Versuchung nicht mehr widerstehen. Er legt eine Hand an Setos Wange, der sich ihr entgegen drückte, um die Liebkosung noch intensiver zu spüren. Er schloss für einen Moment die Augen, nur um sie kurz darauf wieder zu öffnen, sich aufzusetzen und Joey mithochzuziehen. Der Blonde ließ sich in eine Umarmung ziehen, legte seinen Kopf an Setos Schulter und genoss die gleichmäßige Bewegung seines Körpers unter seinem Atem.    Der Braunhaarige streichelte ihm sanft durchs Haar und so vergingen weitere Minuten, bis er dann irgendwann sagte: „Guten Morgen, mein Hündchen.“ Er drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und zog Joey noch enger an sich, der bei diesen Berührungen wohlig aufseufzte. Irgendwann löste Joey sich wieder aus der Umarmung und erwiderte: „Guten Morgen. Bereit für den Tag?“   Seto lachte und strich Joey eine Strähne aus der Stirn. „Wie kann man für etwas bereit sein, von dem man gar nicht weiß, was man erwarten soll?“   Joey musste grinsen. „Stimmt, hoffen wir einfach mal, dass sie sich nichts Unangenehmes oder Peinliches für uns ausgedacht haben.“   Noch einmal streckte und reckte sich Joey, bevor er das Bett verließ und sich anzog, und Seto tat es ihm gleich. Anschließend machten sie sich auf den Weg ins Esszimmer für das gemeinsame Frühstück mit Mokuba, und kaum hatten sie den Raum erreicht, konnten sie sehen, dass Mokuba schon wie auf heißen Kohlen sitzend auf sie wartete. Er konnte es offensichtlich nicht abwarten, in den Tag mit Seto zu starten, und Joey konnte es gut verstehen. Seit er in Setos Leben gestolpert war, hatten die beiden sicherlich deutlich weniger Zeit allein, ohne Joey, verbracht. Was immer Mokuba auch geplant hatte, Joey war sich sicher, es würde ihnen guttun, ihnen beiden.   Kaum hatte Seto den letzten Bissen seines Frühstücks gegessen, sprang Mokuba ganz enthusiastisch auf und die Ungeduld war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Seto und Joey mussten gleichermaßen darüber lachen, aber Joey war unheimlich glücklich über diese positive Atmosphäre. Sie hatten so viel gemeinsam durchgemacht, so viele Hürden überwunden, so viele Schmerzen durchgestanden, dass jeder Tag in Glück für Joey ein Geschenk war. Und er hoffte, dass es noch viele solcher Momente geben würde.   Bevor sich Seto mit Mokuba verabschiedete, kam er noch mal auf den Blonden zu, der sich ebenfalls von seinem Stuhl erhob und Setos Hand nahm. Der Braunhaarige nahm Joeys Kinn und zog ihn nah an sich, sodass sich ihre Lippen schon fast berührten. Doch dann stoppte er für einen Moment, und während Joey in seine intensiv blau leuchtenden Augen sah, konnte er schon Setos warmen Atem auf seinem Mund spüren. Der Brünette lächelte leicht, bevor er wie in Zeitlupe die restliche Distanz überbrückte und Joey einen zärtlichen Kuss auf die Lippen hauchte. Eigentlich hätte der Blonde hier den ganzen Tag stehen und Seto küssen können, weil es das Höchste aller Glücksgefühle in ihm auslöste. Aber sie hatten andere Pläne, auch wenn ein Teil in Joey das jetzt sehr bedauerte, als sie sich voneinander lösten. Nur wenige Momente danach waren die beiden verschwunden und Joey blieb allein zurück.   Und dann wartete er. Und er wartete und wartete und wartete... er wusste, dass Yugi ihn irgendwann anrufen würde, wenn sie ihn abholen würden, eine genaue Uhrzeit kannte er allerdings nicht. Und als dann endlich der erlösende Anruf kam, war nur knapp eine Stunde vergangen, doch ihm kam es so vor, als hätte er den ganzen Tag rumgesessen und Löcher in die Luft gestarrt. Er war fast vor Langeweile gestorben, und trotz alledem, dass er nicht wusste, was genau auf ihn zukommen würde, was ihn noch immer auch ein wenig angespannt machte, war er aber auch positiv aufgeregt und freute sich darauf, dass es jetzt endlich losging.   Yugi nahm ihn vor der Villa freundlich lächelnd in Empfang. Joey erwiderte das Lächeln mit einem fetten Grinsen, als er sagte: „Wurde aber auch langsam Zeit, Alter.“ Sie umarmten sich zur Begrüßung und als Yugi anschließend seine Hand ausstreckte und scheinbar darauf wartete, dass er etwas hineinlegte, war die Verwirrung bei Joey groß. Er legte den Kopf schief, und ohne dass er die Frage aussprechen musste, schien Yugi zu verstehen und erklärte: „Handy her.“   Für einen Moment war Joey geschockt. „Äh, was? Warum?“ Er hielt eine Hand schützend vor seine Hosentasche, in der er das Handy verstaut hatte, auch wenn er wusste, dass das Blödsinn war. Joey war Yugi körperlich deutlich überlegen, daher konnte er sich kaum vorstellen, dass Yugi die Illusion hatte, er würde es ihm gewaltsam abnehmen müssen. Nein, er vertraute ganz sicher darauf, dass Joey das freiwillig tun würde.   „Wir wollen nicht, dass du den ganzen Tag am Handy hängst. Nun sieh mich nicht so an. Ich weiß doch, wie du bist, wenn du nicht bei Kaiba bist. Also?“ Yugi lächelte ihn zwar freundlich, aber mit einer Bestimmtheit an, die keine Widerrede zuließ. Der Blonde seufzte und übergab Yugi anschließend das Handy, denn er wusste – Yugi hatte mit seiner Vermutung voll ins Schwarze getroffen. Außerdem würde er den Rest seines Lebens mit Seto verbringen, da würde er es auch mal ein paar Stunden ohne ihn schaffen. Hoffentlich. Bestimmt. Ganz sicher? Ob Mokuba Seto wohl auch das Handy weggenommen hatte? Und wenn es so war, hätte Seto dem wohl klein bei gegeben?   Die beiden Männer machten sich nun gemeinsam auf den Weg, auch wenn Joey noch nicht wusste wohin. Sie unterhielten sich über dies und das, während sie durch die Stadt liefen, aber Yugis Lippen blieben versiegelt in Bezug auf das, was er und seine Freunde für ihn in petto hatten.   Als sie an ihrem Zielort eintrafen, staunte Joey nicht schlecht – es war das Café, in dem er so lange gearbeitet hatte und mit dem er unheimlich schöne Erinnerungen verband. Als sie es betraten und das Glöckchen an der Tür ihr Eintreten verkündete, konnte Joey schon Téa und Tristan ausmachen, die an einem Tisch in der Mitte des Raumes saßen. Das Café war ansonsten menschenleer.   Zusammen mit Yugi trat Joey an den Tisch und begrüßte seine Freunde. Dann fragte Téa: „Na, Überraschung gelungen?“ Joey nickte lächelnd, während er sich umsah und an einigen Stellen bunte Girlanden sehen konnte. „Auf jeden Fall. Habt ihr etwa das ganze Café gemietet?“ Er setzte sich gerade auf seinen Stuhl, als Yugi antwortete: „Ja, allerdings nur für ein paar Stunden. Danach geht es weiter.“ Er zwinkerte ihm zu und Joey wusste, es wäre absolut zwecklos, danach zu fragen, was sie wohl noch geplant hatten.   Schon nach den ersten Minuten war seine Anspannung der letzten Tage und Wochen komplett verflogen. Es war ein perfekter Start in seinen Junggesellenabschied, die Atmosphäre war richtig entspannt. Sie verbrachten die nächsten Stunden damit, sich die Mägen mit Kuchen vollzustopfen und über jeden Blödsinn zu lachen. Auch ein paar von Joeys ehemaligen Arbeitskollegen waren da und der Blonde war unheimlich froh, sich auch mit ihnen unterhalten zu können. Zwar schweifte Joey in Gedanken immer mal wieder zu Seto ab, aber er konnte mit seiner Aufmerksamkeit doch für den Großteil der Zeit im Hier und Jetzt bleiben. Grinsend stellte er fest, dass es wohl keine so schlechte Idee von Yugi gewesen war, ihm das Handy zu entziehen.   Als es langsam Zeit war, wieder aufzubrechen, verabschiedete er sich von seinen ehemaligen Arbeitskollegen, wusste aber, dass er sie schon nächste Woche wiedersehen würde, weil er ein paar von ihnen zur Hochzeit eingeladen hatte. Schon allein der Gedanke an die Feier in einer Woche ließ sein Herz rasen und er musste ein paar Mal tief durch atmen, um sich wieder zu beruhigen, bevor er mit seinen Freunden das Café verließ.   Sie waren wieder zu Fuß unterwegs und unterhielten sich angeregt, bis Tristan sich mit einer Frage an Joey richtete: „Und, wie geht’s dir so? Ich meine, bist du aufgeregt, jetzt, wo euer großer Tag nur noch eine Woche entfernt ist?“   Joey steckte die Hände in die Hosentasche und schaute in den Himmel, während er über diese Frage nachdachte. „Ich bin auf jeden Fall aufgeregt, ja. Aber ich freue mich auch. Keine Ahnung, es fühlt sich einfach alles so richtig an. Als hätte ich auf diesen Tag schon mein ganzes Leben lang gewartet.“   Als er seinen Blick wieder auf seine Freunde legte, konnte er sehen, wie sie ihn alle freundlich anlächelten, und er erwiderte es. Er war so froh, all das mit ihnen teilen zu können, war glücklich darüber, dass sie diesen besonderen Tag mit ihm feiern würden. Ohne sie wäre es ganz sicher nicht das Gleiche.   Irgendwann blieben sie vor Yugis Haus stehen und damit war auch klar, wohin sie die letzte halbe Stunde gelaufen waren. Sie nahmen die Treppe nach oben und setzten sich zusammen ins Wohnzimmer. Außer ihnen war niemand im Haus, und irgendwie beschlich Joey das Gefühl, dass das wohl auch besser so war.   Nachdem Yugi an sie alle Getränke verteilt hatte, klatschte er in die Hände, und während Joey ihn erwartungsvoll anschaute, grinsten Téa und Tristan. Sie wussten offensichtlich schon, was Joey nun bevorstand, aber das war ja auch nur logisch. Vermutlich hatten sie Yugi bei der Organisation dieses Tages ordentlich unter die Arme gegriffen.   „Okay, Joey“, begann Yugi zu sprechen. „Wir haben uns alle ein paar Spiele ausgedacht, die wir heute spielen können. Und wenn ich zusammen sage, dann meine ich in diesem Fall auch Mokuba.“   Joey schaute erstaunt auf. „Mokuba? Was hat er denn damit zu tun?“   „Na ja“, erklärte Téa weiter, „das erste Spiel, das wir spielen, zielt darauf ab, herauszufinden, wie gut du deinen Bräutigam kennst.“   Yugi nickte. „Genau. Wir stellen dir jetzt ein paar Fragen, die Mokuba genauso Kaiba auch gestellt hat. Mal sehen, ob du die Antworten auch alle kennst.“   Joey wurde ein wenig nervös. Er war eigentlich ziemlich sicher, dass er Seto in- und auswendig kannte, aber was für Fragen hatten seine Freunde wohl vorbereitet? Zumindest machte jetzt auch Sinn, warum sie Mokuba eingespannt hatten. Seinen Freunden direkt hätte Seto ganz sicher keine Auskunft gegeben, aber seinem kleinen Bruder konnte er nur selten einen Wunsch wirklich abschlagen. Der Kleine hatte diesen Hundeblick aber auch echt verdammt gut drauf. Innerlich musste Joey grinsen – er selbst hatte diesen auch perfektioniert. Zusammen hatten sie Seto so immer in der Hand. Na ja, meistens zumindest.   „Bereit für die erste Frage, Joey?“, fragte Yugi, und nachdem Joey noch einmal einen tiefen Atemzug genommen hatte, nickte er.   „Gut, wir fangen leicht an: Was ist Kaibas Lieblingsfilm?“   Darüber musste Joey tatsächlich für einige Momente nachdenken, bevor er antworten konnte. „Hm, ich habe ihn, ehrlich gesagt, noch nie wirklich einen Film oder eine Serie schauen sehen.“ Auch nach weiteren Sekunden des Überlegens wollte ihm nicht wirklich etwas einfallen, bis ihm plötzlich ein Gedanke kam, der ihn zum Grinsen brachte. „So, wie ich ihn kenne, wird er sowas geantwortet haben wie: ‚Lieblingsfilm? Ich habe eine Firma zu leiten, ich habe keine Zeit für sowas‘.“ Für den letzten Teil seiner Antwort hatte Joey seine Stimme verstellt und versucht, Seto nachzuäffen, und die gesamte Gruppe brach in schallendes Gelächter aus. Noch immer lachend, hielt ihm Yugi den Zettel mit der Antwort hin, und als Joey sah, dass er fast exakt Wort für Wort wiedergegeben hatte, was dort drauf stand, konnte auch Joey sich ein Lachen nicht mehr verkneifen.   Tristan nahm den nächsten Zettel in die Hand, und während er sich noch die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte, las er die nächste Frage vor. „Was ist Kaibas Lieblingsmusik?“   Die Frage war für Joey schon deutlich leichter zu beantworten. „Also, ich weiß, dass er klassische Musik gern mag. Ich kenne mich da nicht so genau aus, ich kann also nicht sagen, ob er einen bestimmten Künstler am liebsten mag, aber ich weiß, dass er vor allem Klavierstücke hört.“ Die Erinnerungen an die gemeinsam besuchten Konzerte holten Joey ein und brachten ein Lächeln auf seine Lippen. Mittlerweile war es fast schon ein Ritual geworden, dass sie regelmäßig gemeinsam auf solche Konzerte gingen. Auch Joey hatte Gefallen an dieser Musikrichtung gefunden, und das mit Seto zu teilen, war immer etwas ganz Besonderes. Auch wenn das erste Konzert noch immer das sein würde, das ihm am meisten in Erinnerung bleiben würde. Es war in der Zeit gewesen, in der sie noch nicht offiziell zusammen waren, aber beide schon gemerkt hatten, dass sich Gefühle entwickelt hatten. Es war wunderschön gewesen, und Joey wusste, dass sie noch viele solcher Momente miteinander würden teilen können, und im Anschluss auch all die wunderbaren Erinnerungen daran.   Tristan nickte und reichte Téa den nächsten Zettel, doch bevor sie diesen vorlesen konnte, wurde sie ein wenig rot im Gesicht. Joey ahnte nichts Gutes, doch bevor er sich weiter Gedanken darüber machen konnte, was auf dem Zettel stand, las Téa ihn auch schon vor. „Welchen Teil deines Körpers mag Kaiba am liebsten?“   Joey, der gerade den Fehler gemacht hatte, an seinem Getränk zu nippen, spuckte die Flüssigkeit über den gesamten Tisch und war tatsächlich ein wenig geschockt. „So eine Frage habt ihr ihm stellen können, und ihr lebt noch?“ Die Gruppe kicherte und Joey fing an, zu überlegen, welche Antwort Seto wohl gegeben haben könnte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er irgendwas Unanständiges genannt hatte. Vermutlich dachte er sich das im Stillen, aber Joey konnte innerlich leise Setos Stimme hören, wie er schimpfte, dass das ja wohl niemanden etwas anginge.   Joey lachte leise, dann antwortete er: „Ich tippe mal auf meine Augen.“ Téa zwinkerte ihm zu und Joey verstand sofort, dass er damit offensichtlich goldrichtig lag. Auch wenn der Blonde dachte, dass Seto insgeheim vielleicht wirklich etwas anderes gesagt hätte, hätte Joey ihn direkt gefragt, so fand er doch auch diese Antwort irgendwie unheimlich befriedigend. Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass Seto seine Augen liebte, und Joey empfand genauso über die Augen seines Verlobten, deren Farbe in der Sonne funkelte wie Saphire.   Die nächste Frage wurde wieder von Yugi vorgelesen. „Wo war euer erster Kuss?“ Joey musste grinsen, als er die erwartungsvollen Blicke seiner Freunde sah. Natürlich kannten sie mittlerweile die Antwort, weil sie dieses Spiel zusammen mit Mokuba ausgeheckt hatten, aber er wurde das Gefühl nicht los, dass es hier weniger darum ging, sein ‚Wissen‘ bezüglich Seto zu testen, sondern vielmehr darum, die Neugierde seiner Freunde zu befriedigen, wie er ihren ersten Kuss schildern würde.   Also begann er zu erzählen: „Es war in der Silvesternacht vor eineinhalb Jahren. Wir hätten uns auch schon an Weihnachten geküsst, aber da ist Mokuba reingeplatzt.“ Diese Erinnerung entlockte ihm ein leises Lachen. „Der Silvesterabend war wirklich etwas ganz Besonderes. Wir haben gemeinsam den Countdown runtergezählt bis Mitternacht, und als das Feuerwerk in die Luft geschossen wurde, haben wir uns geküsst.“ Sein Blick war verschwommen, als er sich diese Nacht in Erinnerung rief, doch nun schaute er seine Freunde wieder an und seine Augen fokussierten sich auf sie. „Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie ihr dann ins Treppenhaus gekommen seid und mich zurück in den Festsaal geschleift habt? Wir hatten uns dahin zurückgezogen, damit uns keiner sieht, und Seto hatte euch offensichtlich kommen hören, sonst hättet ihr uns erwischt.“ Okay, die runtergeklappten Kiefer seiner Freunde sprachen Bände und Joey musste erneut lachen. Als Yugi ihm den Zettel zeigte, der nicht viel mehr als das Wort ‚Silvester‘ beinhaltete, war auch klar, warum sie nicht mehr darüber gewusst hatten, und das amüsierte ihn noch ein bisschen mehr.   Nun schien ihre Neugierde mehr denn je entfacht worden zu sein. Téa las die nächste Frage vor und schaute ihn sogleich voller Erwartung an. „Wo war euer erstes gemeinsames Date?“   Joey kratzte sich am Hinterkopf und kniff die Augen ein wenig zusammen, in der Hoffnung, dass ihm die Antwort dann einfach vor die Füße fallen würde. Was selbstverständlich nicht der Fall gewesen war. „Schwierige Frage. Wir hatten nie so richtig ein Date, zumindest nicht formell.“ Er brauchte noch ein paar Augenblicke mehr, um darüber zu grübeln, was sich noch am ehesten als Antwort eignete, doch dann fiel ihm etwas ein, das er für passend hielt. „Also, ich bin jetzt nicht so richtig sicher, ob ich es als Date beschreiben würde, gerade, weil es noch ganz am Anfang gewesen war. Wir waren gemeinsam am Meer, und das war der Tag, an dem wir uns dem jeweils anderen enorm geöffnet hatten. Ich habe ihm von meinem Dad erzählt, und er mir von seiner Kindheit und Jugend. Das hat uns sehr verbunden, bis heute noch. Dieser Ort am Meer ist ein ganz Besonderer für uns beide.“   Téa lächelte ihn an. „Er hat denselben Ort genannt, Joey.“   „Ihr scheint euch wirklich gut zu kennen“, sagte Yugi, ebenfalls mit einem Lächeln im Gesicht, und Joey nickte zustimmend. Es war ein wunderschönes Gefühl, zu wissen, dass Seto dieselben Antworten gegeben hatte wie er. Er spürte, wie das Band um sie sich noch etwas enger zog – falls das überhaupt noch möglich war.   Tristan griff sich den letzten Zettel. „Okay, eine letzte Frage gibt es noch.“ Er grinste schelmisch bis über beide Ohren, und Joey hatte so ein Gefühl, dass diese Frage unangenehm werden könnte, und das wurde auch sogleich bestätigt, als Tristan fragte: „Was war der außergewöhnlichste Ort, an dem ihr Sex hattet?“   Warum hatte Joey eigentlich schon wieder den Fehler gemacht, einen Schluck von seinem Getränk zu nehmen, wenn er doch wusste, dass er es eh gleich wieder ausspucken würde? Er spürte, wie seine Wangen anfingen zu glühen und sein ganzer Körper heiß wurde. Natürlich erinnerte sich an das eine Mal im Klassenzimmer, das wohl das heißeste Erlebnis in seinem ganzen, bisherigen Leben gewesen war, aber niemals, niemals würde er das laut aussprechen.   Er wandte den Blick von seinen Freunden ab, wischte sich mit der Hand die Mundwinkel trocken und murmelte: „Das beantworte ich nicht.“ Yugi lachte, als er sagte: „Ja, das hat Kaiba auch nicht beantwortet.“ Die ganze Gruppe brach in ein lautes Lachen aus und nun konnte sich auch Joey dem nicht mehr verwehren. Irgendwie beruhigte es ihn auch, dass sie das nicht von ihnen wussten. Manche Dinge behielt man eben einfach besser für sich.   Damit war dieses Spiel offiziell beendet. Für eine Weile unterhielten sie sich über alles Mögliche, auch darüber, wie es für Téa gerade in der Uni lief, welche Erfolge Yugi bei Turnieren verbuchen konnte und über Tristans Arbeit in der Werkstatt seines Dads. Sie hatten sich schon eine ganze Weile nicht mehr zu viert getroffen, einfach weil es immer bei irgendjemandem nicht gepasst hatte. Joey hatte schon an dem Tag ihres Schulabschlusses gewusst, dass sich etwas verändern würde, und genau das war auch eingetroffen. Deswegen war er umso glücklicher über die Momente, die sie alle zusammen waren und gemeinsam teilen konnten.   Und der Tag war offensichtlich noch lange nicht vorbei, denn irgendwann stellte Yugi eine Spardose auf den Tisch und verkündete: „Okay, auf zum nächsten Spiel, das den Titel trägt: ‚Ich habe noch nie...‘. Einer von uns macht eine Aussage über etwas, das er oder sie noch nie getan hat, und wer das doch schon mal getan hat, muss eine 100-Yen-Münze in diese Spardose werfen. Alle verstanden? Joey, willst du anfangen?“   Joey nickte und dachte kurz darüber nach, welche Aussage er nehmen konnte. Dann sagte er: „Ich habe mir noch nie ein Tattoo stechen lassen.“ Niemand rührte sich – bis auf Tristan, der augenrollend sein Portmonee rausholte und eine Münze in die noch leere Spardose fallen ließ. Mit weit aufgerissenen Augen sahen die Freunde Tristan an und es war klar, dass sie eine Erklärung erwarten würden. Mit leicht geröteten Wangen, den Blick abgewendet, hob er sein T-Shirt ein bisschen an – und auf seinem Bauch kam ein kleines Schmetterlingstattoo zum Vorschein.   Für einen Moment war es still im Raum, doch dann fing Joey an, schallend zu lachen. „Alter, ein Schmetterling? Ehrlich jetzt?“ Lachtränen rannen ihm übers ganze Gesicht, als Tristan sein T-Shirt wieder nach unten zog und kleinlaut sagte: „Mizumi hat das Gleiche, auch an derselben Stelle.“ Der Blonde fing sich wieder, und auch wenn er es nicht vor Tristan zugeben würde – irgendwie war das schon romantisch, dass er und seine Freundin nun dasselbe Zeichen zierte. Er selbst wäre vermutlich nie so weit gegangen, einen Schmetterling auszuwählen, aber es war dennoch ein schöner Gedanke.   „Okay, ich bin dran“, verkündete Yugi. „Ich habe noch nie bei einem Test oder einer Prüfung geschummelt.“   Lautes Stöhnen hallte an den Wänden des Wohnzimmers wider, als alle sich ihre Geldbeutel griffen und die Münzen in die Dose fallen ließen. „Voll unfair, Yugi“, grummelte Joey. Der Kleinere musste gewusst haben, dass er sie damit alle erwischte, und sein fettes Grinsen bestätigte das.   „Okay, vergessen wir das ganz schnell wieder“, sagte Téa, bevor sie ihre Aussage machte. „Ich habe noch nie Essensreste von einem anderen Tisch in einem Restaurant gegessen.“ Als Tristan erneut eine Münze in die Gelddose steckte, die klimpernd auf die anderen traf, schauten ihn drei Augenpaare angewidert an. „Ist ja ekelhaft, Tristan!“, sagte Téa und sprach damit auch den anderen beiden aus der Seele. Doch Tristan zuckte nur mit den Achseln. „Was denn? Ich hatte Hunger, kein Geld mehr, und die Leute waren schon gegangen. Ist doch nichts dabei.“ Joey erinnerte sich an die Zeit, als er noch im Café gearbeitet hatte, aber er konnte sich nicht erinnern, so ein Verhalten bei einem Gast schon mal beobachtet zu haben. War vielleicht auch besser so, denn er hätte keine Ahnung gehabt, wie er hätte reagieren sollen.   „So, da ihr mich jetzt schon so wunderbar bloßgestellt habt, bin ich jetzt dran“, erklärte Tristan dann und Joey hatte jetzt schon Muffensausen vor dem, was er gleich sagen würde. „Ich hatte noch nie Sex in einem Auto.“   Das war Joeys Stichwort, und er war froh, dass er nicht eine Münze für jedes Mal, das sie es getan hatten, reinwerfen musste. Dann wäre er jetzt nämlich arm wie eine Kirchenmaus. Seine Freunde grinsten ihn an, aber es machte ihm nichts aus. Solange sie keine Details wussten, war es okay, und ein Auto schien jetzt auch kein absolut absurder Ort zu sein, um Sex zu haben. Ganz im Gegensatz zu einem Klassenzimmer, weshalb seine Lippen diesbezüglich immer versiegelt bleiben würden.   „Du bist dran, Joey“, sagte Yugi. Der Blonde murmelte ein leises ‚Hm‘ vor sich hin, legte seine Arme auf dem Tisch vor sich ab, an dem sie saßen, und bettete seinen Kopf darauf. Als ihm ein Gedanke kam, lächelte er, legte sein Kinn auf seinen Unterarmen ab und sagte dann: „Ich habe mir noch nie gewünscht, mit jemand Anderem zusammen zu sein.“ Niemand bewegte sich, es war kein Geräusch von Geldstücken zu hören, und das machte Joey ziemlich glücklich. Für einige Sekunden legte sich ein Lächeln auf all ihre Lippen, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Joeys Gedanken wanderten zu Seto, dem Menschen, der ihn zum glücklichsten Mann auf dem gesamten Planeten machte. Er dachte erneut über den wunderschönen Morgen nach, als er früher wach gewesen war und ihn noch für einige Minuten ungestört hatte beobachten dürfen. Jeder Tag mit ihm war ein Geschenk, und es war unglaublich zu wissen, dass sie die Ewigkeit miteinander würden verbringen können. Es gab nichts, das Joey sich in seinem Leben mehr wünschen könnte als genau das.   Und während der nächste an der Reihe war und eine erneute Aussage tätigte, dachte Joey an seinen Drachen und fragte sich, wie er und Mokuba den Tag wohl so verbrachten.   ~~~~   Seto fand einen Junggesellenabschied irgendwie unnötig. Es erinnerte ihn nur mal wieder daran, wie wenig er Feierlichkeiten aller Art mochte. Wobei er das mittlerweile ein wenig eingrenzen würde – denn er musste zugeben, auf die Hochzeitsfeier freute er sich tatsächlich sehr. Allerdings hatte das weniger mit der Tatsache zu tun, dass, sondern was gefeiert wurde. Und vor allem damit, dass er und Joey sich ein Versprechen geben würden, das auf alle Zeit Bestand haben würde.   Glücklicherweise hatte er schnell festgestellt, dass Mokuba auf Spiele, die typisch für einen Junggesellenabschied waren, genauso gut verzichten konnte wie er selbst. Wenn er ehrlich war, hätte er sie wahrscheinlich eh nicht gemacht, und Mokuba hatte sich das vermutlich schon denken können.   Stattdessen hatte sein kleiner Bruder ihm gesagt, dass er ihn einfach mal wieder aus dem Haus kriegen wollte, weil er in letzter Zeit so viel mit der Arbeit und den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt gewesen war. Damit hatte er zwar nicht unrecht, dennoch bekam Seto das Gefühl, dass dieser Tag weniger für ihn als vielmehr für Mokuba wichtig war. Es schien so, als wollte er vor der Hochzeit einfach noch mal Zeit mit ihm allein verbringen – und dagegen hatte Seto auch überhaupt nichts einzuwenden. Auch wenn seine Gedanken im Laufe des Tages immer mal wieder zu seinem Hündchen wanderten, so hatte er auch das Gefühl, dass ihnen diese Zeit zu zweit guttun würde.   Den gesamten Tag über schliff Mokuba Seto durch die halbe Stadt, zum Eisessen, in diverseste Restaurants, und an, Zitat, ‚die besten Fotospots der Stadt‘, um gefühlt eine Million Selfies zu machen. Er konnte sich gar nicht mehr so richtig daran erinnern, wann er mal so ganz ungestört mit Mokuba unterwegs gewesen war, so völlig befreit und losgelöst von jeglichen Sorgen. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er dachte, dass er erst mit Joey so geworden war. Sein blondes Hündchen schenkte seinem Leben so viel Licht, und manchmal fragte er sich, ob Joey sich seiner Macht über ihn wohl bewusst war.   Als die Sonne langsam anfing, am Horizont unterzugehen, machten sie einen Spaziergang im Park. Der Tag war ziemlich heiß gewesen, weshalb Seto froh war, dass die Sonne nun allmählich an Intensität verlor. Eine noch immer recht warme Brise wehte ihnen um die Nase, als sie den Sandweg des Parks entlang gingen. Für eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach, bis Mokuba ihn plötzlich von der Seite ansprach: „Hey, Seto?“   „Hm?“   „Wie fühlst du dich, wenn du an die Hochzeit denkst? Bist du nervös?“   Seto atmete tief durch, horchte in sich hinein, bevor er eine Antwort formulierte. „Nervös ist das falsche Wort, denke ich. Aufgeregt bin ich schon ein bisschen, aber vor allem freue ich mich drauf. Es fühlt sich einfach absolut richtig an.“ Als das Bild von Joey vor seinem inneren Auge auftauchte, zusammen mit der Gewissheit, dass sie ein Leben zusammen verbringen würden, beschleunigte sich sein Herzschlag. Er konnte es nicht mal verhindern, dass seine Mundwinkel sich ein wenig in die Höhe zogen.   „Ganz ehrlich, Seto“, sagte Mokuba, „es ist auch die richtige Entscheidung. Ihr seid unzertrennlich, das merkt man einfach. Was ich bei euch immer schon beachtlich fand, war, dass ihr euch auch ohne Worte versteht. Ihr braucht euch nur ansehen und wisst, was der andere denkt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass viele Menschen auf der Welt so jemanden jemals finden.“   Seto nickte ihm bestätigend zu. Er hatte mehr als recht mit dem, was er sagte. Manchmal war es, als wären sie ein und dieselbe Person. Auch wenn sie in vielen Dingen verschieden waren, so gab es doch auch so viele, die sie einten. Wie oft hatten sie sich schon dabei erwischt, dass sie gerade dasselbe hatten sagen wollen, oder dabei, wie sie die Sätze des anderen beendeten. Mokuba hatte recht – auch Seto war sich sicher, dass das, was er mit Joey teilte, etwas ganz Besonderes war. Und er würde den Rest seines Lebens damit verbringen, das, was sie hatten, wertzuschätzen und zu schützen.   „Glaubst du, es wird sich viel verändern?“, fragte Mokuba, der noch immer neben ihm lief und nun seitlich den Blick auf ihn gerichtet hatte. „Was sollte sich denn verändern? Mal abgesehen von Joeys Nachnamen.“ Bei dem Gedanken daran, wie sie die Namens-Thematik besprochen hatten, legte sich ein Lächeln auf seine Lippen. Es war sein Hündchen gewesen, der das Thema überhaupt erst zur Sprache gebracht hatte. Schüchtern wie ein kleiner Schuljunge hatte er ihn gefragt, wie er dazu stehen würde, wenn er Setos Namen annehmen würde. Sein Anblick war richtig niedlich und süß gewesen, und Seto hatte sich gefragt, warum ihn diese Frage so eingeschüchtert hatte. Im Endeffekt war es unausweichlich gewesen, diese Frage zumindest mal zu erörtern, und als Joey ihm dann diesen Vorschlag unterbreitet hatte, hatte es Seto wahnsinnig glücklich gemacht. Es gab für ihn keinen schöneren Gedanken, als wenn seine ganze Familie denselben Namen tragen würde.   Für Joey hatte es allerdings noch einen anderen, etwas tiefgründigeren Grund gegeben. Er hatte Seto erklärt, dass ihn sein Nachname vor allem mit seinem Vater verband. Zwar trugen auch seine Schwester und seine Mum diesen Namen, aber von einem emotionalen Standpunkt aus verband es ihn vorrangig mit dem Menschen, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte und der noch einige Jahre dafür im Gefängnis seine Strafe absitzen würde.   Selbstverständlich hatte Seto sofort eingewilligt, das hätte er selbst dann noch getan, wenn es keinen tieferen Grund dafür gegeben hätte. Aber er wusste, dass dieser Namenswechsel für Joey ein Neuanfang bedeuten konnte. Vielleicht konnte er dann endlich seine Vergangenheit hinter sich lassen und den Blick vollständig in die Zukunft richten. Und was immer es war, was Seto tun musste, er würde alles dafür geben, ihn dabei zu unterstützen.   Erst Mokubas Stimme holte ihn zurück in die Realität. „Stimmt, an den neuen Namen wird Joey sich wohl erst mal gewöhnen müssen.“ Mokuba kicherte, dann ergänzte er: „Aber ich bin froh darüber. Es fühlt sich so an, als wären wir dann eine richtige Familie.“   Seto blieb stehen und sagte: „Mokuba, wir sind auch jetzt schon eine richtige Familie.“   Sein kleiner Bruder drehte sich zu ihm um, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ein liebevolles Lächeln auf den Lippen. „Ich weiß. Aber es fühlt sich so an, als wenn uns drei danach absolut nichts mehr trennen könnte. Nie wieder.“ Lächelnd ging Seto auf Mokuba zu und rubbelte ihm durchs Haar, was den Kleineren erneut zum Lachen brachte. Und gedanklich stimmte er ihm zu – denn er wusste, dass Joey sein Versprechen halten würde, alles gemeinsam durchzustehen, komme, was da wolle.   Plötzlich zog ihn Mokuba ruckartig an der Hand und rannte mit ihm gemeinsam los. „Komm, lass uns noch schnell zu dem See in der Mitte des Parks gehen, bevor es zu dunkel wird!“ Seto ließ sich mitziehen, schon deshalb, weil er eh keine andere Wahl gehabt hätte. Aber er wollte es auch so. Er genoss den Tag mit seinem kleinen Bruder sehr. Er hatte ihn in ihrem gemeinsamen Leben nicht immer so sorglos glücklich gesehen, insbesondere nach dem Tod ihrer Eltern. Daran mochte er sich nicht mehr so gut erinnern können, aber Seto konnte es, und er hatte es sich schon damals zur Mission gemacht, Mokuba ein Leben in Freude und Glück zu schenken, egal, wie viel er selbst dafür zurückstecken musste. Denn wenn er Mokuba so lachen sah, dann war auch er glücklich.   Als die Sonne sich längst verabschiedet hatte, machten sich die beiden zu Fuß auf den Weg zurück in die Villa. Die Sterne leuchteten hell auf sie herab, während sie sich ihren Weg durch die nun fast leeren Straßen der Stadt bahnten. Kurz, bevor sie in die Straße einbogen, in der sich ihr Zuhause befand, hielt Mokuba Seto am Ärmel fest und davon ab, weiterzulaufen. Seto drehte sich mit fragendem Gesichtsausdruck zu ihm um und sah, dass sein kleiner Bruder Tränen in den Augen hatte.   Sofort trat er einen Schritt näher auf ihn zu. „Mokuba, ist alles in Ordnung? Was ist los?“ Doch der schüttelte nur den Kopf, ein halbes Lächeln auf den Lippen. Er brauchte einen Moment, doch dann antwortete er: „Ich... ich will einfach nur danke sagen, Seto. Dass ich dein Trauzeuge sein darf und dass du diesen Tag heute mit mir verbracht hast. Das hat mir viel bedeutet, wirklich.“   Setos Herz setzte einen Schlag aus und ein Lächeln manifestierte sich auf seinen Lippen. Er zog seinen kleinen Bruder in eine innige Umarmung und antwortete: „Ich hätte niemals jemand anderes als Trauzeugen haben wollen, Mokuba. Mir hat dieser Tag auch viel bedeutet, und ich verspreche dir, dass wir noch ganz viele Tage in Zukunft miteinander verbringen werden können. Okay?“   Mokuba löste sich wieder von ihm und strahlte ihn an, während er sich die Tränen von den Wangen wischte. „Okay“, erwiderte er, nahm Setos Hand und bog mit ihm gemeinsam in die Straße ein, die sie nach Hause führen würde.   Und als sie der Villa immer näher kamen, da konnte Seto schon von weitem sein Hündchen ausmachen, wie er sich offenbar gerade vor dem Eingang ihres Zuhauses von seinen Freunden verabschiedete. Er winkte ihnen zu und drehte sich im nächsten Moment so um, dass sich ihre Blicke trafen. Joeys Lächeln verstärkte sich mit jedem Schritt, den Seto und Mokuba näher kamen. Und als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt waren, streckte er seinen Arm aus. Kaum hatten Seto und Mokuba zu ihm aufgeschlossen, ergriff der Brünette Joeys Hand und wortlos verschränkten sie ihre Finger ineinander. Und in diesem Moment, in dem er die zwei wichtigsten Menschen in seinem ganzen Leben an der Hand hielt, wusste er, dass heute ihre Zukunft begann. Kapitel 39: Rescue me... from now on forever -------------------------------------------- Joey atmete tief durch, während er sein weißes Hemd zuknöpfte, die dunkelgraue Hose anzog und das Hemd reinsteckte. Er stellte sich vor den lebensgroßen Spiegel und schnappte sich die hellgraue Fliege. Er klappte den Kragen des Hemdes hoch, um die Fliege zu befestigen, aber seine Hände zitterten so sehr, dass es ihm einfach nicht gelingen wollte.   „Lass mich das machen, Joey.“ Seine Mum war an seiner Seite aufgetaucht und hatte ihm die Fliege abgenommen. Während sie diese gekonnt an der richtigen Stelle anbrachte, konnte Joey sie im Spiegel beobachten. Sie sah wunderschön aus. Ihr knielanges, mintgrünes Kleid war mit Blumen geschmückt, und ihre ganze Erscheinung strahlte so viel Kraft und Freude aus, dass sie Joey damit ansteckte.   Aber wie könnte er an diesem Tag auch nicht glücklich sein? Es war der erste August, ein angenehm warmer Tag im Sommer, und die strahlend hell scheinende Sonne hatte alle Wolken am Himmel vertrieben. Heute würde er den Menschen heiraten, den er mehr als alles andere liebte. Es war, als hätte er sein ganzes Leben auf diesen einen Tag gewartet. Das Schicksal hatte sie zusammengebracht, und es würde gleichzeitig dafür sorgen, dass sie auch den restlichen Weg gemeinsam gehen würden.    Joey zog sich nun die hellgraue Weste an sowie das dunkelgraue Sakko. Seine Mum brachte ihm ein kleines Blumengesteck, das er in die Brusttasche steckte. Sofort hatte er den angenehmen, leicht süßlichen Duft der Pfingstrose in seiner Nase, während er sich erneut vor dem Spiegel positionierte und sich noch ein letztes Mal durch die Haare fuhr. Zufrieden stellte er fest, dass alles so saß, wie es sitzen sollte.   Seine Mum legte ihm ihre Hände auf die Schultern, und für einen Augenblick sahen sie schweigend in den Spiegel. Ihre Münder umspielte ein leichtes Lächeln. Joey konnte sein Herz spüren, wie es regelmäßig hinter seiner Brust schlug, und er wusste, dass es an Geschwindigkeit gewinnen würde, sobald sie den ersten Schritt aus dem Hotelzimmer machen würden.   „Ich bin stolz auf dich, Joey“, hörte er seine Mum von der Seite sagen, und als er den Blick auf sie warf, konnte er sehen, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Ich weiß, du hattest es nicht immer leicht, und ich war oft nicht da, um dir zu helfen. Aber zu wissen, dass du jetzt glücklich bist, macht auch mich glücklich, mehr als ich es jemals beschreiben könnte.“   „Mum...“, murmelte Joey und zog sie in eine feste Umarmung. Dann sagte sie mit fast flüsternder Stimme: „Ich bin so froh, dass Kaiba es geschafft hat, dir so viel Glück zu schenken. Dafür werde ich ihm niemals genug danken können.“   Auch der Blonde spürte nun, wie ihm die ersten Tränen kamen, aber noch schaffte er es, sie erfolgreich zurückzuhalten. „Hab‘ dich lieb, Mum“, flüsterte er stattdessen, und er spürte, wie ihre Arme um seine Taille ihren Griff verstärkten. „Ich hab‘ dich auch lieb, Joey. Sehr sogar.“   Für einige weitere Momente standen sie so da, eng umschlungen, und die Zeit schien still zu stehen. Er konnte ihren bebenden Atem an seinem Ohr wahrnehmen, auch ihr Körper zitterte leicht, so gerührt und emotional bewegt war sie, dabei hatte die Zeremonie noch überhaupt nicht angefangen. Joey war froh, diesen besonderen Tag mit ihr und auch mit seiner Schwester teilen zu können. Ohne sie wäre es niemals dasselbe gewesen.   „Okay, nun ist aber Schluss, bevor ich dir noch dein schönes Sakko vollheule“, erklärte sie, als sie sich von ihm löste und sich mit den Händen Luft ins Gesicht wedelte, in der Hoffnung, dass das die Tränen vertreiben würde. So ganz schaffte sie es nicht, also holte sie sich ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich sanft unter die Augen.   Dann sah sie Joey wieder an, mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen, und fragte: „Bereit?“ Der Blonde atmete tief durch, schloss für einen Moment die Augen, nur um sie im nächsten wieder zu öffnen und sich umzudrehen. Er ging auf die Glasfront zu, die einen einmaligen Blick auf die Umgebung zuließ. Von hier oben, der Penthouse-Suite des Hotels, konnte er direkt aufs Meer blicken, wie es unter den intensiven Sonnenstrahlen glitzerte. Er hatte die letzte Nacht schon hier verbracht, allein, und er konnte es gar nicht abwarten, die nächste wieder mit Seto zu verbringen. Heute war es ihm unbegreiflich, wie er es geschafft hatte, mehrere Monate ohne ihn zu leben, wenn ihm jetzt schon ein einziger Tag wie die Ewigkeit vorkam. Selbst die Zeit, bevor ihre gemeinsame Reise begonnen hatte, erschien ihm nun so sinnlos. Denn erst Seto war es gewesen, der seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Der es erst lebenswert machte. Und heute würden sie sich versprechen, keinen Schritt des Weges mehr ohne einander zu tun.   Er ließ noch einmal so viel Luft in seine Lungen einströmen, dass sie bis zum Maximum gefüllt waren, und stieß diese im nächsten Moment wieder vollständig aus. Er drehte sich zu seiner Mum um und nickte ihr lächelnd zu. „Bereit.“ Sie erwiderte das Lächeln liebevoll und hielt ihm ihren Arm hin. Er hakte sich bei ihr ein, und nachdem sie einen erneuten Blick ausgetauscht hatten, der so voller Liebe war, verließen sie gemeinsam das Hotelzimmer.   Schon auf ihrem Weg nach draußen wurden sie von Sicherheitspersonal begleitet, das aber versuchte, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Das hatte zum einen zum Zweck, sie von der Presse fernzuhalten – immerhin stand Seto in der Öffentlichkeit und es war von vorneherein anzunehmen gewesen, dass ihre Hochzeit für Wirbel sorgen würde. Sie hatten sich zwar entschlossen, diese nur in kleinem Kreis zu feiern, sodass sie nur ungefähr 30 Personen eingeladen hatten, aber dass sie dennoch Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, war zu erwarten gewesen. Und natürlich würden sie auch für die Sicherheit aller Anwesenden sorgen, ein Anliegen, das Joey besonders wichtig gewesen war, was aufgrund der Ereignisse des vorangegangenen Jahres nur logisch war.   Zusammen mit seiner Mum lief er einen geteerten Weg entlang, der parallel zum Meer verlief, auch wenn es noch ein wenig entfernt lag. Dennoch konnte er die sanfte Brise auf seiner Haut spüren, die salzige Luft atmen, die Wärme der Sonne in sich aufnehmen. Er war froh, dass es nicht mehr zu heiß war. Und wenn er sich so umsah, während sie ihrem Ziel in gleichmäßigen Schritten immer näher kamen, fiel ihm nur ein Wort ein: Perfekt. Nicht nur die Umgebung, auch der Tag im Allgemeinen war perfekt, dabei hatte er noch gar nicht richtig angefangen. Aber Joey war sich sicher, dass absolut nichts an diesem Tag seine Stimmung würde trüben können.   Er war überhaupt nicht nervös gewesen, den ganzen Morgen nicht – bis zu dem Zeitpunkt, an dem nun die kleine Festgemeinde in Sichtweite kam. Mit jedem Schritt, den sie näher kamen, wuchs seine Aufregung und er spürte, wie er leicht anfing zu beben und wie sich ein wenig Schweiß in seinen Handinnenflächen sammelte. Vermutlich hatten die Gäste sie noch gar nicht bemerkt, weil sie noch weit genug entfernt waren. Es waren alle gekommen, die ihnen wichtig waren – Serenity, Mokuba, Yugi, Téa, Tristan sowie ein paar ehemalige und aktuelle Arbeitskollegen von Joey. Einige hatten auch ihre Partner mitgebracht. Auch ein paar frühere Klassenkameraden hatten sie eingeladen, inklusive Mitsuki, mit der sich Joey in seinem letzten Schuljahr eng angefreundet hatte. Er war froh, dass sie alle gekommen waren, um diesen besonderen Tag mit ihnen zu teilen.   Ihre Hochzeitsplanerin kam nun auf sie zu und begrüßte sie freundlich lächelnd. Mit ihr gemeinsam gingen sie zu dem Startpunkt, den sie vereinbart hatten, der halb versteckt hinter einer Mauer lag. Sie legte Joey noch einmal die Hand auf die Schulter – vermutlich wusste sie aus Erfahrung nur zu gut, wie er sich fühlen musste, und wollte ihm Mut zusprechen. Dann ging sie wieder zurück in ihre Ausgangsposition, und Joey wusste, es konnte sich nur noch um wenige Momente handeln, bis er Seto sehen würde. Und das ließ sein Herz in einer Geschwindigkeit schlagen, die es fast zum Platzen brachte.   Aus dem Augenwinkel konnte er bereits den Holzweg sehen, den er gleich nehmen würde, runter zum Strand, wo die Zeremonie stattfinden würde. Als sie sich darüber unterhalten hatten, wo sie diese abhalten wollten, hatte es für sie beide eigentlich nur einen Ort gegeben, der dafür in Frage gekommen war. Nämlich der, der sie schon seit Anbeginn ihrer Reise vereinte. Ein Ort, an dem sie sich einander das erste Mal wirklich geöffnet hatten. An dem das Schicksal sie wieder zusammen geführt hatte und ihnen klar gemacht hatte, dass sie versuchen konnten, voneinander Abstand zu halten, es am Ende aber doch sinnlos war, weil sie zusammen gehörten. Und der jetzt ein Ort werden würde, der ihr Band für immer unzerstörbar machen würde.   Als die ersten Töne des Liedes erklangen, wusste Joey, dass das ihr Stichwort war. Er verstärkte den Griff um den Arm seiner Mum noch ein wenig, hoffend, dass seine Beine nicht einfach nachgeben würden, und dann liefen sie los, den Blick noch von den Anwesenden abgewandt. Als sie den Anfang des Holzwegs erreicht hatten, atmete Joey noch einmal tief durch.   Und dann drehten sie sich um, Joey hob den Blick - und als die ersten Zeilen des Liedes gesungen wurden, da sah er ihn und nur ihn.   Heart beats fast Colors and promises How to be brave How can I love when I’m afraid to fall? But watching you stand alone All of my doubt suddenly goes away somehow   Er war wunderschön. Perfekt. Makellos, wie er dort stand, in seinem dunkelblauen Anzug, mit einem leicht angedeuteten Lächeln auf den Lippen. Neben ihm stand Mokuba, Yugi stand als Joeys Trauzeuge auf der anderen Seite, dort, wo auch er in wenigen Augenblicken sein würde.   One step closer   „Mum, halt mich ganz fest, hörst du?“, flüsterte Joey mit zitternder Stimme. Er konnte die Tränen in seinen Augen schon spüren, und er wusste, er würde sie nicht ewig zurückhalten können. Und das musste er auch gar nicht. Er hoffte nur, dass er nicht bewusstlos umkippen würde, noch bevor er Seto überhaupt erreicht hatte. Doch da streichelte ihm seine Mum sanft über den Arm und antwortete in leiser Stimme: „Ich bin da, Joey. Ich lasse dich nicht los. Kannst du sehen, wie er dich ansieht?“   I have died every day waiting for you Darling, don’t be afraid I have loved you for a thousand years I’ll love you for a thousand more   Ja, er konnte es sehen. Seto schaute ihn an, wie er nur ihn ansah, so als ob es nur ihn auf der Welt gäbe. Und Joey ging es genauso. Er war die Liebe seines Lebens. Die Liebe, die er für Seto spürte, war so viel größer, als es Worte jemals beschreiben könnten. Und ihn dort jetzt zu sehen, wie er auf ihn wartete, darauf, ihn endlich ganz zu seinem zu machen, jagte ihm eine Gänsehaut über den gesamten Körper.   Als seine Mum leicht an seinem Arm zog, bemerkte er, dass er sich nicht von der Stelle bewegt hatte und sie noch immer am Anfang des Holzwegs standen. Aber Setos Anblick hatte seine Füße einfach am Boden festgeklebt, sein Atem hatte für einen Moment ausgesetzt und sein Herz hatte mehrere Schläge übersprungen. Doch dann sammelte er sich und setzte sich in Bewegung, auch wenn er das Gefühl hatte, seine Beine hatten es schwer, ihn zu tragen, so sehr zitterte er. Und schon während er gleichmäßig einen Fuß vor den anderen setzte, konnte er es nicht mehr abwarten, Seto endlich wieder nah zu sein.   Time stands still Beauty in all she is I will be brave I will not let anything take away What’s standing in front of me Every breath Every hour has come to this   Ein paar Schritte später ließen sie den Holzweg hinter sich, spürten nun den Sand unter ihren Schuhen, wie er sanft knirschte. Sie liefen an den Gästen vorbei und Joey bemerkte vage, wie alle aufgestanden waren. Ab und zu konnte er ein leichtes Schluchzen hören, doch seine Augen lagen ausschließlich auf dem Mann vor ihm, der ihn mit seinen Blicken so in den Bann zog. Und je näher Joey kam, desto mehr stellte er fest, wie vollkommen er war. Er stand vor dem runden Traubogen, der über und über mit Pfingstrosen dekoriert war und auch er trug eine Blüte davon in seiner Brusttasche. Seine braunen Haare wippten in der sanften Brise des Windes, seine Haut strahlte, und Joey wollte sie berühren, wollte spüren, wie weich sie unter seinen Fingern war. Sie waren nur noch wenige Meter von ihm entfernt, als Joey spürte, wie sich die erste Träne den Weg über seine Wange bahnte.   One step closer I have died every day waiting for you Darling, don’t be afraid I have loved you for a thousand years I’ll love you for a thousand more   Als sie an ihrem Ziel angekommen waren, nahm seine Mum Joeys Hand und überreichte sie Seto. Beide wandten ihre Blicke nicht voneinander ab. Sie konnte nicht. Es war, als wären ihre Augen gegensätzlich gepolte Magnete, die einander anzogen und nichts etwas dagegen hätte ausrichten können. Es war wie ein Naturgesetz, dessen Wirkung keine Grenzen kannte. Und Joey hätte es niemals anders haben wollen.   And all along I believed I would find you Time has brought your heart to me I have loved you for a thousand years I’ll love you for a thousand more One step closer   „Pass gut auf meinen Jungen auf“, sagte seine Mum an seiner Seite, während sie sich von Joey löste. Seto nickte nur, nahm Joeys Hand fest in seine und der Blonde konnte sehen, wie er hart schlucken musste. Er wusste, selbst wenn er wollte, würde Seto jetzt nichts sagen können. Und Joey ging es ganz genauso.   One step closer   Als seine Mum verschwunden war, vermutlich, um ihren Platz einzunehmen, da nahm Seto auch Joeys zweite Hand in seine, zog ihn noch ein wenig näher zu sich, so als wenn er allen zeigen wollte, zu wem er gehörte. Joeys Herz schlug so schnell, dass er das Gefühl hatte, es würde ihm gleich aus der Brust und direkt in Setos Arme springen. Er hatte so viele Gefühle, so viele Emotionen in sich, und immer wieder musste er gegen die erneut aufkommenden Tränen blinzeln. Aber es war zwecklos – eine nach der anderen schaffte es, über seine Wangen zu rollen und eine feucht glänzende Spur zu hinterlassen.   I have died every day waiting for you Darling, don’t be afraid I have loved you for a thousand years I’ll love you for a thousand more   Seto löste kurz eine Hand und berührte sanft Joeys Wange, fuhr mit dem Daumen den Weg der Tränen nach. Unwillkürlich kamen sie sich ein wenig näher und Joeys Sehnsucht danach, ihn einfach zu küssen, wuchs ins Unermessliche, aber er wusste, er würde sich noch ein wenig gedulden müssen. Setos Mund war leicht geöffnet, so als ob er etwas sagen wollte, ihm die Worte aber im Hals stecken blieben. Auch seine Augen waren feucht, aber er war deutlich erfolgreicher damit, die Tränen nicht rauszulassen. Trotzdem, Joey konnte sehen, wie viel Anstrengung ihn das kostete, und zu wissen, dass er von diesem Moment genauso berührt war wie er selbst, machte ihn zum allerglücklichsten Menschen der Welt.   And all along I believed I would find you Time has brought your heart to me I have loved you for a thousand years I’ll love you for a thousand more   Und während das Lied langsam ausklang, nahm Seto wieder die Hand von seiner Wange und legte sie zurück in Joeys Hand. Für einen Augenblick war es, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Vielleicht bildete Joey es sich nur ein, aber er hatte das Gefühl, Setos Atem auf seinen Lippen spüren zu können. Vermutlich war es nur der Wind, der seinen Mund sanft liebkoste, was Joeys Wunsch nur noch verstärkte, dass Seto es wäre, der ihn jetzt zärtlich berührte.   Mit dem Ende des ersten Liedes begann das zweite leise im Hintergrund zu spielen, das allerdings ein Instrumentalstück war, das Seto ausgewählt hatte – Canon In D. Die Traurednerin, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, um ihnen den Moment der Zweisamkeit zu lassen, trat nun wieder ein Stück näher. Sie kam hinter ihrem Rednerpult zum Stehen, das ein Notenständer war, auf dem sie die vorbereitete Rede abgelegt hatte. Sie räusperte sich, bevor sie ein Lächeln auflegte und zu reden begann. Aber auch während ihrer Worte lagen Setos und Joeys Blicke immer nur auf dem jeweils anderen, als wenn sie keine Möglichkeit hätten, sich voneinander zu lösen.   „Liebe Gäste, liebes Hochzeitspaar, herzlich willkommen zu eurer Trauung hier an diesem wunderbaren Ort vor dieser wunderschönen Kulisse. Es ist schön, zu sehen, wie viele Menschen heute gekommen sind, um an eurem Glück teilhaben zu können und dieses einmalige Fest mit euch zu feiern.“   Sie legte eine kurze Pause ein, und in diesem Augenblick konnte Joey das Rauschen des Meeres in seinen Ohren hören. Es erinnerte ihn daran, wie wichtig dieser Ort für ihn war, für sie beide. Was sie an fast der gleichen Stelle bereits miteinander geteilt hatten. Heute umgab sie nur ein sanfter Wind, doch der Sturm, der bei den anderen Malen um sie herum gewütet hatte, toste nun in ihnen und ließ sie alle Emotionen gleichzeitig fühlen.   „Nur ein Mal im Leben findet man jemanden, der einen so annimmt, wie man ist. Nur ein Mal im Leben trifft man den Menschen, der einen versteht, wie es kein anderer jemals zuvor getan hat. Nur ein Mal im Leben begegnet man einem Menschen, der so besonders ist, dass man den Rest seines Lebens mit ihm teilen möchte. Doch um diesen Menschen zu finden, benötigt es auch eine große Portion Glück. Wir sind alle heute hier, um gemeinsam mit euch, liebes Hochzeitspaar, zu feiern, dass das Glück auf eurer Seite war und euch zu genau diesem Menschen geführt hat.“   Joeys Blick war tränenverschleiert, als er feststellte, wie verdammt dankbar er war. Er hatte es in seinem Leben nicht immer gesehen, das Glück, denn es hatte sich gut versteckt. Aber jetzt, wo derjenige vor ihm stand, der ihn niemals loslassen würde, der ihn immer unterstützen und seine Hand halten würde, egal, was passierte, da wusste er, dass das Glück von nun an ein treuer Begleiter werden würde. Und es jemanden gab, mit dem er es würde teilen können.   „Ihr habt ihn nicht gesucht, aber ihr habt ihn gefunden, den Menschen, der eure Herzen schneller schlagen lässt und mit dem ihr gemeinsam in die gleiche Richtung schauen könnt. Vielleicht war es gar nicht das Glück, vielleicht war es vielmehr das Schicksal, das euch zusammengeführt hat. Aber was es auch war, ihr steht heute beide hier in dem Wissen, das passende Gegenstück gefunden zu haben. Den Menschen, mit dem ihr lachen, weinen, alles teilen könnt.“   Unbewusst waren sich Seto und Joey näher gekommen. Joey legte beide Hände auf Setos Hüfte, unter anderem, um mehr Halt und Stabilität zu finden und nicht doch plötzlich umzukippen. Und Seto war genau die Stütze, die er jetzt brauchte, die er in seinem Leben brauchte. Er legte eine Hand an Joeys Taille, die andere an seine Wange, die er mit seinem Daumen sanft liebkoste. Jede von Setos Berührungen hinterließ ein angenehmes Kribbeln und Joey drückte sich ganz leicht dagegen, um ihn noch mehr zu spüren – falls das überhaupt möglich war.   „Liebe Gäste, sind wir nicht eigentlich alle auf der Suche nach dem Menschen, der uns akzeptiert, so wie wir sind? Der hinter die Fassade blickt und erkennt, wer man wirklich ist? Der einen unterstützt, einen reifen lässt, der einem Zuneigung und Achtung entgegenbringt? Ja, wir alle suchen diesen einen Menschen und hoffen, dass es ihn irgendwo da draußen gibt. Wie schön ist es daher, heute zu erkennen, dass das möglich ist, diese Person zu finden. Den Menschen, der einen liebt, und den man selbst liebt, wie man noch nie etwas oder jemanden geliebt hat. Und mit dem man viele weitere Erlebnisse teilen möchte und dem man sagen kann: Ich möchte mit dir alt werden.“   Als ein leises Schluchzen Joeys Kehle verließ, hielt er sich eine Hand vor den Mund, selbst ein wenig erschrocken über den Laut. Die Tränen vermehrten sich zunehmend und trotzdem Seto versuchte, sie ihm von den Wangen zu wischen, gelang es ihm doch nicht vollständig. „Joey...“, flüsterte er ihm zu, so, dass nur er es hören konnte und niemand sonst. Joey blinzelte die restlichen Tränen weg und sah Seto in die strahlend blauen Augen, die von so viel Liebe für ihn gezeichnet waren, dass es ihm immer schwerer fiel, sich nicht einfach in seine Arme fallen zu lassen.   „Liebes Hochzeitspaar, ihr habt euch getroffen in einer Zeit, die von Dunkelheit bestimmt war. In eurer bisherigen gemeinsamen Zeit hattet ihr schon viele Herausforderungen zu meistern, musstet viele Hürden überwinden, aber ihr beide habt ihn gefunden, den Schlüssel zu der Tür, die euch zurück in ein Leben voller Licht geführt hat. Und ihr habt ihn dort gefunden, wo ihr ihn am Anfang wahrscheinlich am wenigsten vermutet hättet: In euch gegenseitig. Und wie heißt es so schön: Wenn es holprig wird, dann steigt man nicht aus, man schnallt sich an. Und genau das habt ihr getan.“   Seto legte nun auch die zweite Hand auf Joeys Gesicht und in dessen Augen konnte der Blonde sehen, dass er mit aller Willensstärke dagegen kämpfte, ihn nicht zu sich ranzuziehen und ihn zu küssen. Und auch Joey musste stark bleiben, denn er wusste, noch war es nicht so weit. Es gab noch etwas, das er vorher tun musste.   „Jemanden zu lieben, ist keine Entscheidung, die wir willentlich treffen. Nichts, wobei Vernunft oder Verstand mitreden könnten. Es ist die Seele, die wählt. Das Einzige, was wir bewusst entscheiden, ist, ob wir dem Ruf folgen sollen. Und ihr seid ihm gefolgt. Und heute sagt ihr ‚Ja‘ zueinander. Ja zu einer gemeinsamen Zukunft. Ja zu allen Facetten des anderen. Ja dazu, den anderen zu nehmen, so wie er ist, ohne ihn ändern zu wollen. Ja zu einer Liebe, die ihr teilt, für den Rest eures Lebens.  Heute wird aus zwei ‚Ichs‘ ein ‚Wir‘.“   Joey konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass sie den Kopf in seine Richtung drehte und ihn nun direkt ansah. „Doch bevor wir zu dem Teil kommen, auf den wir wohl alle schon ganz ungeduldig warten, möchte Joey noch ein paar Worte sagen. Joey?“   Er erwiderte ihren Blick und nickte freundlich lächelnd. Er war nervös, als er den Brief aus seiner Hosentasche fummelte. Seto hatte seine Hände in der Zwischenzeit neben seinen Körper fallen lassen und sah ihn verwirrt und gleichzeitig überrascht an. Und das konnte Joey ihm auch gar nicht verübeln.   Er faltete das Blatt auseinander, räusperte sich und hoffte, dass er seine Stimme nicht komplett verloren hatte. Er blickte Seto direkt in die Augen und sagte dann lächelnd: „Seto, ich weiß, dass wir eigentlich beschlossen hatten, keine Reden in die Zeremonie einzubauen. Aber ich konnte nicht anders. Weil es so viel gibt, das ich dir sagen will.“   Schon direkt nach Joeys Worten machte die Überraschung in Setos Augen Platz für Belustigung. Fast so, als hätte er so etwas schon geahnt? Joey hielt das Blatt mit einer Hand fest und nahm dann Setos andere. Er musste ihn einfach berühren, ihm so nah wie möglich sein. Und als der Braunhaarige ihm fast unmerklich zunickte, ein sanftes Lächeln auf den Lippen, fing Joey an.   „Seto, du hast mich gerettet. Immer dann, wenn ich gedacht habe, es gäbe keine Rettung mehr für mich. Oder wenn ich geglaubt habe, dass ich sie auch nicht verdient hätte. Du bist einfach in meinem Leben aufgetaucht, ohne dass ich wirklich eine Wahl gehabt hätte. Und seien wir mal ehrlich – die hatte ich nicht. Wenn ein Kaiba sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte, dann bekam er, was er wollte.“   Amüsiertes Lachen war aus dem Publikum zu vernehmen und selbst Setos Lächeln wurde ein wenig breiter. Auch Joey musste grinsen, doch dann fuhr er fort.   „Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch heute noch keine Wahl. Denn ein Leben ohne dich könnte ich mir einfach nicht mehr vorstellen. Erst durch dich weiß ich, was es bedeutet, am Leben zu sein. Es hat eine Zeit gegeben, da habe ich das noch nicht gewusst, habe gedacht, ich würde für immer in der Dunkelheit gefangen sein, die damals mein Leben war. Bis du gekommen bist und mir deine Hand gereicht hast. Erst durch dich weiß ich, wie ein Leben im Licht aussieht.“   Joey musste eine kurze Pause machen, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Er musste tief durchatmen, um das Schluchzen wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Doch er war noch nicht fertig, es gab noch etwas, das er sagen wollte, er musste einfach.   „Ich habe Fehler gemacht. Viele Fehler. Und vielleicht werde ich in meinem Leben noch eine ganze Reihe weiterer Fehler machen. Dass du heute hier vor mir stehst und mir das Versprechen geben willst, für immer mit mir zusammen zu sein, trotz allem, was passiert ist, macht mich sprachlos. Aber auch hoffnungsvoll. Denn ich weiß, egal was die Zukunft auch für uns bereit hält, du wirst immer bei mir sein. Ich...“   Joey ließ den Zettel sinken und ließ den Tränen freien Lauf, die er nun nicht mehr verhindern konnte. Fest drückte er Setos Hand, während sein Atem abgehackt und schnell ging.   „Ich bin so dankbar, Seto. Dafür, dass du in meinem Leben bist. Dass du dein Leben mit mir teilen willst. Dass du mich liebst, für die Person, die ich bin. Und ich liebe dich, das werde ich immer. Und es wird nichts geben, das daran jemals etwas wird ändern können.“   Seto zog Joey in einer schnellen Bewegung in seine Arme und legte seinen Kopf auf seiner Schulter ab, vom Publikum abgewandt, sodass keiner mehr sehen konnte, wie sehr ihn Joeys Worte bewegt hatten. Aber der Blonde konnte es fühlen, in seinem schnellen Atem, den bebenden Lippen an seinem Ohr, der Träne, die von Setos Wange auf die von Joey überging. Der Blonde erwiderte die Umarmung und drückte sich eng an ihn, bevor Seto ihm ins Ohr flüsterte, so, dass nur er das hören konnte: „Ich liebe dich, mein Hündchen. Danke, dass du bei mir bist. Bitte, bleib bei mir, für immer.“   Seto legte nun seine Stirn an die von Joey. Sie schlossen für einige Momente die Augen, und es fühlte sich so an, als ob alles um sie herum plötzlich ganz still geworden war. Als wenn es nur sie gäbe und sie sich außerhalb von Raum und Zeit befänden. „Ja, immer, ich verspreche es“, erwiderte Joey in brüchiger Stimme.   Als sie sich wieder voneinander lösten und Joey den Brief zurück in seine Tasche gleiten ließ, war es fast unerträglich, Seto noch immer nicht zu küssen. Aber noch fehlte ein entscheidender Part der Zeremonie, und als Joey der Traurednerin zunickte, wusste sie, was zu tun war.   „Und nun, liebes Hochzeitspaar, liebe Gäste, kommt der Moment, auf den wir alle so lange gewartet haben. Ich möchte euch bitten, euch alle zu erheben. Liebes Hochzeitspaar, bitte nehmt euch an den Händen und schaut euch an. Bevor ihr nun ‚Ja‘ zueinander sagt, möchte ich euch noch Folgendes mit auf den Weg geben: Die Hände, die ihr nun haltet, das sind die Hände eures besten Freundes. Die mit euch gemeinsam eure weitere Zukunft aufbauen. Die euch lieben, halten und trösten werden, wie nur sie es können. Die euch ermutigen und unterstützen werden, um all eure Träume zu verwirklichen. Die euch halten werden, wenn ihr durch schwere Zeiten geht, und die euch genau dann Kraft und Zuversicht geben, wenn ihr sie am dringendsten braucht. Die alles mit euch teilen werden – in guten wie in schlechten Zeiten.“   Joeys Hände zitterten und er war froh, dass Seto sie hielt. Aber er war sich auch sicher, selbst wenn er jetzt fallen würde, Seto wäre da, um ihn aufzufangen, wie er es schon so oft getan hatte. Wie viel Liebe konnte ein Mensch fühlen? Die Liebe, die er für Seto fühlte, war grenzenlos, und wenn er ihm so in die Augen sah, da konnte er dasselbe Gefühl auch in ihm entdecken.   „In Anwesenheit eurer liebsten Menschen, eurer Familie und euren Freunden, frage ich zunächst dich, Seto Kaiba, willst du Joey Wheeler hier und heute versprechen, dein Leben für immer mit ihm zu teilen, an guten wie an schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und ihn immer zu lieben und zu achten, solange ihr beide lebt? Dann antworte bitte mit ‚Ja, ich will‘.“   Joey konnte sehen, wie Seto noch einmal tief Luft holte. Er feuchtete seine Lippen an, und mit ein paar Tränen in den Augen antwortete er voller Zuversicht: „Ja, ich will.“   Er drehte sich zu Mokuba um, der ihm den Ring überreichte, und als er diesen über Joeys Finger gleiten ließ, sah er ihm die ganze Zeit in die Augen. Joey war so ergriffen, dass noch immer Tränen in Bächen von seinen Wangen flossen und er Angst hatte, er würde es gleich nicht schaffen, ihm dasselbe Versprechen zu geben.   „Und nun frage ich dich, Joey Wheeler, willst du Seto Kaiba hier und heute versprechen, dein Leben für immer mit ihm zu teilen, an guten wie an schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und ihn immer zu lieben und zu achten, solange ihr beide lebt? Dann antworte bitte auch du mit ‚Ja, ich will‘.“   Joeys ganzer Körper bebte. Jede Zelle wurde von der immensen Dankbarkeit und Liebe für diesen Mann geflutet, den er gleich seinen Ehemann würde nennen dürfen. Er spürte Setos Finger auf seiner Hand, wie sie behutsam darüber streichelten, und sie gaben ihm nun endlich die Kraft, ebenfalls zu antworten: „Ja, ich will.“   Er hatte das Gefühl, die ganze Zeit die Luft angehalten zu haben, und auch Seto schien es so zu gehen, als sie gleichzeitig ausatmeten. Unwillkürlich kamen sie sich näher, wurden so stark voneinander angezogen, dass sich ihre Lippen schon fast berühren konnten. Doch dann wurde Joey von hinten von Yugi angetippt, der ihm den Ring überreichte, was der Blonde, im Strudel der Emotionen gefangen, fast schon vergessen hätte. Und als er auch Seto den Ring auf den Finger schob, der ihre Namen und ihr Hochzeitsdatum auf der Innenseite eingraviert hatte, da legte er all die Liebe, die er für ihn spürte, in seinen Blick.   „Da ihr beide meine Frage eindeutig mit ‚Ja‘ beantwortet habt, erkläre ich euch hiermit zu rechtmäßig angetrauten Eheleuten.“ Ungeduldig blickten sie die Traurednerin an, die leicht lachte, bevor sie endlich sagte: „Ihr dürft euch küssen.“   Ihre Worte hatten kaum ihren Mund verlassen, da legte Seto schon seine Lippen auf die von Joey, und es war wie eine himmlische Erlösung. Die Schmetterlinge in seinem Körper tanzten Tango, und als er spürte, dass seine Beine ein bisschen nachgaben, stützte ihn Seto mit einer Hand an seinem Rücken. Und in diesem Moment wurde Joey klar, dass er sein altes Leben abgelegt hatte und sie nun ein Buch aufschlagen würden, das noch viele leere Seiten hatte. Aber er wusste, dass sie ein Leben lang Zeit hätten, es mit Wörtern, Erfahrungen und Erinnerungen zu füllen, und Stück für Stück würden sie die Kapitel ihres gemeinsamen Lebens schreiben.   Erst die Jubelschreie aus dem Publikum ließen sie wieder in die Realität zurückkommen. Sie lösten sich voneinander und sofort legte sich ein seliges Lächeln auf Setos Lippen. Er führte Joeys Hand an seinen Mund und hauchte einen seichten Kuss auf den Ring, der ihr gegenseitiges Versprechen symbolisierte. Als er die Hand wieder sinken ließ, sahen sie sich für einen kurzen Augenblick an, und Joey fragte sich, ob das Lächeln jemals wieder aus seinem Gesicht verschwinden würde. Er hatte keine Worte dafür zu beschreiben, wie glücklich er in diesem Augenblick war.   Sie wurden innig von ihren jeweiligen Trauzeugen umarmt, bevor sie Hand in Hand den Gang entlang gingen, den sie vorhin noch als Individuen und nun als Einheit beschritten. Sie verschränkten ihre Finger ineinander und blickten sich immer wieder an, und die Gewissheit, dass sie ihren Seelenverwandten gefunden hatten, ließ ihre beiden Herzen rasen.   Gemeinsam mit den Gästen gingen sie zu dem Ort, an dem die Feier stattfinden würde. Es war ein Restaurant ganz in der Nähe, und von der Terrasse aus hatte man einen wunderbaren Blick direkt aufs Meer, und genau dort hielten sie dann einen kleinen Sektempfang ab und wurden von allen herzlich umarmt und beglückwünscht.   Kurze Zeit danach zogen sie sich zurück, um gemeinsam Erinnerungsfotos am Meer zu machen. „Verhaltet euch einfach so natürlich wie möglich“, erklärte der Fotograf ihnen, kaum dass sie den Strand wieder erreicht hatten. Leichter gesagt als getan – Seto hatte zumindest ein bisschen Erfahrung, was professionelle Fotoshootings anbelangte, aber Joey war dahingehend noch komplett grün hinter den Ohren. Dennoch, schnell konnte er feststellen, dass Seto seine ganze Erfahrung auch nicht viel brachte, weil er irgendwie steif wirkte. Als würde er sich zu viel Mühe geben.   Joey atmete tief durch, während ihm der Wind durch die Haare blies und er Setos Hände in seine nahm. Als sie sich in die Augen blickten, konnte Joey darin einen Hauch Unsicherheit erkennen, auch wenn er das niemals so stark nach außen zeigen würde, dass es noch jemand anders außer der Blonde wahrnehmen können würde.   Joey setzte ein Lächeln auf, streichelte Seto sanft über die Hände und sagte dann: „Sieh mich an, Seto, nur mich. Es sind nur wir beide hier, niemand sonst. Wir sind ganz allein.“ Er ging noch ein Stück mehr auf den Brünetten zu, legte ihm eine Hand auf die Hüfte und die andere auf die Wange. Seto schien dennoch einen Moment zu brauchen, doch Joey konnte genau erkennen, dass er sich wirklich Mühe gab, sich darauf einzulassen.   Seto nahm Joeys Kinn und zog ihn ganz nah zu sich ran. Ihre Nasenspitzen berührten sich schon und das Blau in Setos Augen funkelte und glitzerte wie tausende von Saphiren. Sein Blick war elektrisierend und zog Joey magisch an. Und er wusste, er würde sich niemals an ihnen sattsehen können. Dafür würde selbst ein ganzes Leben niemals ausreichen.   Als sich ihre Lippen dann endlich berührten, schossen die Endorphine durch alle Adern in Joeys Körper und ließen ihn wohlig aufseufzen. Für einen Moment vergaß er völlig, wo er war, denn es war auch egal, solange Seto nur bei ihm war. Bei ihm fühlte er sich wohl, geborgen. Zuhause, das war kein fester Ort. Es war ein Gefühl. Und für Joey war klar – zuhause war, wo Seto war.   Als sie sich wieder voneinander lösten, sahen sie sich noch ein letztes Mal lächelnd in die Augen, bevor sie sich an den Händen nahmen und gemeinsam den Strand entlang spazierten. Der warme Sommerwind blies ihnen ins Gesicht und wehte den Geruch des Meeres direkt in ihre Nasen. Schweigend liefen sie nur wenige Meter vom Wasser entfernt entlang. Sie sagten nichts, und doch sagten sie alles, mit den Blicken, die sie sich immer wieder zuwarfen, mit dem Händedruck, dem sanften Streicheln. Sie brauchten keine Worte, um das auszudrücken, was sie fühlten. Schon ein Augenaufschlag genügte und Joey wusste, was Seto fühlte. Und er fühlte es auch, die unendliche Liebe für seinen Drachen, in jeder Pore seines Körpers.   Nach einer Weile machten sie sich auf den Rückweg. Zurück bei der Feier-Location rief der Fotograf nun alle Gäste zusammen, die sich gemeinsam mit dem Hochzeitspaar für ein Gruppenfoto versammelten. Danach gab es noch etliche weitere Bilder – mit den Trauzeugen, Familien, engen Freunden – bevor Joey der Erste war, der das Kuchenbuffet stürmte. Und so verging der Nachmittag schneller, als es Joey im Vorhinein vermutet hätte. Es folgten viele lockere Unterhaltungen mit den Gästen, und der Blonde genoss jede Sekunde dieses Tages in vollen Zügen.   Als es langsam Abend und Zeit für das Essen wurde, begab sich die Feiergemeinde allmählich in den Innenraum des Restaurants. Alle nahmen ihre Plätze ein, so auch Joey und Seto, die mit Elaine, Serenity und Mokuba an einem Tisch saßen. Joey hatte in der Planungsphase viel hin und her überlegt, ob auch Yugi mit an ihrem Tisch sitzen sollte, immerhin war er ja sein Trauzeuge. Am Ende hatten sie sich aber für einen reinen Familientisch entschieden, und so konnte Yugi wenigstens Téa und Tristan ein bisschen mehr Gesellschaft leisten.   Joey unterhielt sich gerade angeregt mit Serenity darüber, wie ihr der Tag bisher gefallen hatte, da nahm er im Hintergrund die Stimme einer Kellnerin wahr. „Mr. Kaiba? Äh, nein, ich äh... ich meine...“ Joey nahm nur am Rande Notiz davon, wie die Kellnerin rumstammelte. Er wusste ja, wie einschüchternd Seto wirken konnte, also achtete er nicht weiter darauf und setzte die Unterhaltung mit seiner Schwester fort. Erst, als er hörte, wie Seto sich hinter ihm räusperte, drehte er sich mit verwirrtem Blick zu ihm um. Seto grinste ihn an, die Arme vor der Brust verschränkt, als er sagte: „Ich glaube, sie meint dich, Joey.“   Noch immer komplett verwirrt sah Joey zwischen Seto und der Kellnerin hin und her, und es war mehr als eindeutig, dass Seto recht hatte. Sie hatte ihn gemeint, aber wieso... oh. Oh! Erst jetzt realisierte er, dass sie ihn mit seinem neuen Nachnamen angesprochen hatte. Er lächelte verlegen und musste vermutlich rot wie eine Tomate im Gesicht sein, so sehr, wie seine Wangen brannten. Daran würde er sich wohl oder übel noch gewöhnen müssen. Nachdem sie seine Getränkebestellung aufgenommen hatte und wieder verschwunden war, spürte Joey Setos Hand auf seinem Oberschenkel, und sein ganzer Blick strahlte vor allem eines aus: Stolz. Stolz darüber, dass Joey seinen Namen trug und somit jedem zeigte, zu wem er gehörte. Joey lächelte, denn er fühlte es ganz genauso, und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund, der beiden nicht genügte, aber für den Moment reichen musste. Denn schon wenige Augenblicke später hörten sie das Geräusch von Besteck an Glas, und als Joey seinen Blick wieder von Seto abwandte, konnte er sehen, dass Mokuba aufgestanden war und abwartete, bis er die volle Aufmerksamkeit hatte.   Er räusperte sich, dann setzte er ein Lächeln auf und begann zu reden. „Joey, Seto, ich will gar nicht viel sagen, aber ich dachte, ich ergreife die Chance, bevor wir alle uns auf das Buffet stürzen.“   Er machte eine kurze Pause und atmete tief durch, bevor er fortfuhr. „Ich erinnere mich noch genau an die Zeit, wo ihr euch auf den Tod nicht ausstehen konntet. Ich glaube, ihr könnt euch alle vorstellen, wie überrascht ich war, als Seto plötzlich verkündet hat, dass Joey, ausgerechnet Joey, jetzt bei uns wohnen sollte.“    Seine Rede wurde durch ein Lachen im Publikum unterbrochen, und auch Mokuba musste kurz kichern. Doch dann wurden seine Gesichtszüge wieder weicher und Joey konnte sehen, wie viele Emotionen er gerade haben musste. „Seit diesem Tag ist so viel passiert. Nicht immer nur Gutes, leider, aber am Ende hat alles, was passiert ist, dazu geführt, dass wir heute hier sind und mit euch gemeinsam feiern dürfen, dass ihr euch entschieden habt, den Rest eures Lebens miteinander zu verbringen.“   Mokuba blickte nun direkt Joey an. „Joey, ich möchte mich von ganzem Herzen bei dir bedanken. Ich weiß nicht, ob dir bewusst ist, wie viel positiven Einfluss du auf Seto hast. Klar, es war nicht immer leicht, und vielleicht wird es das auch nie werden, aber eines weiß ich ganz sicher: Ich habe Seto noch nie so glücklich gesehen wie mit dir. Und dafür werde ich dir nie genug danken können.“   Irgendwann im Laufe der letzten Worte waren Joey die Tränen gekommen, die er nur mit viel Mühe zurückhalten konnte, und er konnte sehen, dass es Mokuba ganz ähnlich ging. Er versuchte gar nicht erst, ihm mit Worten zu antworten, weil er dann vermutlich sofort in tiefes Schluchzen ausgebrochen wäre. Also nickte er nur, und unter dem Tisch nahm Seto seine Hand, drückte sie ganz fest.   „Ich wünsche euch beiden alles Gute, und vielen Dank, dass ihr diesen Tag heute mit mir teilt. Das bedeutet mir alles.“ Mokuba setzte sich wieder auf seinen Platz, während die anderen Gäste um sie herum seine Worte mit Applaus belohnten. Setos kleiner Bruder saß rechts neben dem Brünetten, und als sich die Brüder herzlich umarmten, schaffte Joey es nur schwer, die Tränen der Rührung zurückzuhalten.   Doch lange hatte er nicht Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn zu seiner Linken standen nun auch Serenity und seine Mum auf und nutzten ganz offensichtlich die Gunst der Stunde, auch ein paar Worte an sie beide zu richten.   „Ich...“, begann seine Mum, musste aber sofort aufhören, weil ihr die ersten Tränen über die Wangen kullerten. Joey stand sofort auf und nahm ihre Hand, und nachdem sie ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, versuchte sie es erneut, den Blick direkt auf ihren Sohn gerichtet.   „Joey, Mokuba hat gerade gesagt, dass er seinen Bruder noch nie so glücklich erlebt hat wie mit dir. Und dasselbe erkenne ich auch in dir wieder. Ich glaube, du warst noch nie so glücklich wie jetzt, wie mit ihm. Und dafür bin ich so unendlich dankbar. Ich habe erst spät erfahren, was du alles durchmachen musstest, und ich weiß, dass dein Leben alles andere als leicht war. Ich bin so froh, dass wir heute hier sind, dass du hier bist. Und dafür möchte ich auch deinem Mann danken, der vermutlich der Hauptgrund dafür ist. Ich hab’ dich so lieb, Joey. Ich...“   Joey zog seine Mum in eine liebevolle Umarmung. Er wusste, dass sie noch mehr sagen wollte, aber einfach nicht die richtigen Worte fand. Aber er verstand sie auch so, und während ihm eine einsame Träne über die Wange floss, ergänzte seine Schwester: „Ich glaube, was sie sagen will, ist, dass wir euch alles Gute für eure Zukunft wünschen. Wir beide. Ich habe ja schon früh geahnt, dass da mehr zwischen euch war, als ihr zugeben wolltet, und vielleicht hattet ihr es damals, an unserem ersten, gemeinsamen Weihnachten nach fast einem Jahrzehnt, auch selbst noch gar nicht so richtig gewusst. Und euch heute hier so ausgelassen zu sehen, das macht auch mich unheimlich glücklich. Und ich bin mir sehr sicher, dass eure gemeinsame Zukunft eure Verbindung noch enger werden lassen wird. Dafür wünschen wir euch nur das Beste.“   Nun zog Joey auch Serenity ruckartig in die Umarmung, und während das Publikum wieder energisch applaudierte, nahm sich die kleine Familie die Zeit, dieses Zusammensein zu genießen, auch wenn Joey den ein oder anderen Schluchzer nicht hatte vermeiden können.   Als sie sich wieder voneinander lösten und Joey sich zurück auf seinen Stuhl setzte, standen plötzlich Yugi, Téa und Tristan auf. Der Blonde war mittlerweile so emotional, dass er nicht wusste, ob er noch eine weitere Rede schaffen würde, ohne laut weinend am Tisch zusammenzubrechen. Aber als er dann Setos Hand an seinem Rücken spürte, wie sie sanft auf und ab streichelte, gab ihm das wieder ein wenig Ruhe zurück.   „Okay, ich glaube, es wurde schon ziemlich viel gesagt“, begann Yugi, und Téa und Tristan nickten zustimmend. „Daher wollen wir jetzt gar nicht mehr so wahnsinnig viel sagen. Vielleicht nur so viel, und da spreche ich, glaube ich, für uns alle drei: Auch wir waren ziemlich überrascht, als ihr uns verkündet habt, ihr wärt jetzt zusammen.“ Die nächsten Worte richtete er an die Gäste. „Ganz ehrlich, ihr hättet Tristans Gesicht sehen sollen.“ Als Joey sich an diesen Moment zurückerinnerte, konnte er sich ein lautes Lachen nicht verkneifen, und dem Rest der Feiergemeinde schien es nicht anders zu gehen. Tristan war kurzzeitig rot angelaufen, schien sich aber schnell wieder zu fangen.   „Ja, wir waren sehr überrascht gewesen“, fuhr Téa fort. „Aber es war ziemlich schnell klar geworden, dass das kein schlechter Scherz gewesen war. Ihr habt es am Anfang natürlich versucht, gut zu verstecken, gerade, als es im Prinzip auch nur wir und eure Familien wussten. Aber auch damals schon hat man eure Verbindung deutlich spüren können. Und wenn man euch heute so ansieht, dann hat sich das mehr denn je gefestigt.“   Tristan nickte und ergänzte dann lächelnd: „Wir wünschen euch beiden von Herzen alles Gute. Auf dass ihr gemeinsam ein langes, glückliches Leben führen könnt. Aber Joey, wenn dich der Eisdrache da mal irgendwie verletzen sollte, dann Gnade ihm Gott...“ Tristan ließ gekünstelt seine Muskeln spielen, während Joey sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln rieb. Während die Gäste wieder lachten und in die Hände klatschten, setzten sich seine Freunde zurück auf ihre Plätze und es schien tatsächlich so, als ob zumindest für den Moment keiner mehr eine Rede schwingen würde. Joey war unheimlich berührt von all den Worten, die gerade an sie gerichtet worden waren. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, dass ihm ein Kellner ein Zeichen gab, doch bevor es mit dem Essen losging, wollte auch Joey noch ein paar Worte sagen.   „Dass ihr alle heute hier seid, um diesen besonderen Tag mit uns zu teilen, bedeutet uns mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Vielen Dank an jeden von euch, dass ihr gekommen seid. Ich hoffe, wir haben jetzt gemeinsam noch einen schönen Abend. Und da ich weiß, worauf wir jetzt alle warten, hier die magischen Worte, die ihr alle hören wollt: Das Buffet ist eröffnet!“   Und kaum hatte er das Stichwort gegeben, war das erste Quietschen der Stühle auf dem Boden zu vernehmen. Auch Seto und er standen auf, und Hand in Hand begaben sie sich auf den Weg zum Buffet, und wie hätte es auch anders sein können, schaufelte sich Joey mehr Vorspeisen auf seinen Teller, als er jemals allein würde essen können.   Zwischen Vorspeise und Hauptgang wurde eine Leinwand aufgebaut, denn offensichtlich hatten sich ihre Familien noch etwas einfallen lassen. Zunächst zeigte Joeys Mum Bilder von ihm als Kind, und an die meisten Szenen konnte er sich überhaupt nicht mehr erinnern. Er war ein fröhliches, aber tollpatschiges Kind gewesen, und viele der gezeigten Bilder sorgten für Lacher aus dem Publikum und bei Seto, der sich ein Kichern immer wieder nicht verkneifen konnte.   Doch auch der Brünette bekam im Anschluss sein Fett weg, als Mokuba einige der Videos von Seto als Kind zeigte, die sein großer Bruder vor einiger Zeit alle hatte digitalisieren lassen. Joey hatte bisher erst eines davon zu sehen bekommen, damals, als Seto mit ihm zum ersten Mal an das Grab seiner Eltern gefahren war. Jetzt noch mehr davon zu Gesicht zu bekommen, machte ihn unheimlich glücklich, und er musste feststellen, dass Seto auch schon als Kind unheimlich liebenswert gewesen war. Damals hatte er es nur noch etwas offener zeigen können. Die Zeit und all die Dinge, die er in seinem Leben hatte durchmachen müssen, hatten ihn verschlossener gemacht, zumindest nach außen hin. Doch dass er sich ihm gegenüber komplett öffnen konnte, einfach er selbst sein konnte, so wie der Blonde es andersherum auch konnte, löste einen erneuten Endorphinschwall in Joeys Körper aus.   Zum Schluss hatten beide Familien ganz offensichtlich Bilder gesammelt, die Seto und Joey gemeinsam zeigten. Und während sie diese Fotos auf sich wirken ließen, nahm Joey Setos Hand und hielt sie fast ein bisschen zu fest, aber er konnte nicht anders. Er war so glücklich, dass er das Gefühl hatte, gleich zu platzen, und Setos sanftes Lächeln auf seinen Lippen zeigte ihm, dass es ihm nicht viel anders ging.   Nachdem das Abendessen vorbei war, nutzte Joey die Chance, um sich mit so vielen Gästen wie möglich zu unterhalten. Er war froh, dass auch Arbeitskollegen aus dem Waisenhaus und frühere Kollegen aus dem Café gekommen waren. Neben Yugi, Téa und Tristan feierten auch noch weitere ehemalige Klassenkameraden diesen Tag mit ihnen. Die Atmosphäre war entspannt und ausgelassen und Joey hatte das Gefühl, dass alle Gäste den Tag genossen.   Irgendwann war es dann an der Zeit, die Tanzfläche zu eröffnen. Dieser Punkt hatte in Vorbereitung ihrer Hochzeitsfeier für einige Diskussionen gesorgt. Während Joey kein Problem damit hatte, zu tanzen, auch wenn er schon vorher gewusst hatte, dass es ganz sicher kein Standardtanz werden würde, war das bei Seto ein wenig anders. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er darauf keine große Lust gehabt hatte. Aber nachdem sie sich mit ihrer Hochzeitsplanerin und auch ihrem DJ ausgetauscht hatten, die ihnen beide dazu geraten hatten, es zu tun, war Seto über seinen Schatten gesprungen und hatte zugesagt. Am Ende hatten sie sich für ein Lied entschieden, das ihnen viel bedeutete, außerdem waren sie sich gleich einig gewesen, dass sie sowieso keinen Walzer aufs Parkett legen würden.   Als sie nun gemeinsam die Tanzfläche betraten, konnte Joey Seto anmerken, dass er sich noch immer ein bisschen unwohl bei dem Gedanken fühlte, vor versammelter Mannschaft zu tanzen. Doch dann wurde das Licht gedimmt und Joey nahm Setos Gesicht in beide Hände. Er versuchte, alles, was er sagen wollte, in seinen Blick zu packen, wie er es in der Vergangenheit auch schon so oft getan hatte. Er wollte ihm sagen, dass alles, was zählte, sie beide waren. Dass er dankbar für diesen Moment war, den sie nun teilen würden. Und dass er nicht glücklicher sein könnte, Seto von nun an für immer an seiner Seite zu wissen. Und als die ersten Töne des Liedes erklangen, sagte ihm Setos Blick, der ganz sanft geworden war, dass die Nachricht angekommen war.   Talk Let’s have conversations in the dark World is sleeping, I’m awake with you With you Watch Movies that we’ve both already seen I ain’t even looking at the screen, it’s true I got my eyes on you   And you say that you’re not worth it You get hung up on your flaws Well, in my eyes you are perfect As you are   Während sie sich langsam im Takt der Musik bewegten, legte Joey seine Arme um Setos Körper und schmiegte sich ganz nah an ihn an. Er legte seinen Kopf an seine Schulter und schloss die Augen, stellte sich vor, sie wären ganz allein im Raum. Er spürte eine von Setos Händen an seinem Rücken, wie sie immer wieder von oben nach unten streichelte. Die andere lag an seinem Hinterkopf, zog ihn noch enger an ihn ran, und Joey genoss die Nähe. Dieser ganze Moment, der Songtext, aber auch Seto, gaben ihm das Gefühl, einfach er selbst sein zu können. Zu wissen, dass es jemanden gab, der ihn akzeptierte, wie er war, mit all seinen Schwächen, war unbeschreiblich. Es erwärmte sein Herz, und diese Wärme breitete sich nun in seinem gesamten Körper aus.   I will never try to change you, change you I will always want the same you, same you Swear on everything I pray to That I won’t break your heart I’ll be there when you get lonely, lonely Keep the secrets that you told me, told me And your love is all you owe me And I won’t break your heart   Joey konnte in diesem Moment nur erahnen, wie viele Hürden sie in ihrem Leben wohl noch würden bestehen müssen. Aber die Gewissheit, dass sie diese zusammen würden überwinden können, als die Menschen, die sie wirklich waren, ließ ihn hoffen, dass ihre Zukunft trotz allem viel Positives für sie bereithalten würde. Und dass ihre Liebe jedes noch so große Hindernis würde überwinden können, solange sie nur zusammen waren.   On Sunday mornings we sleep-in ‘til noon Well, I can sleep forever next to you Next to you And we We got places we both gotta be But there ain’t nothing I would rather do Then blow off all my plans for you   And you say that you’re not worth it And get hung up on your flaws But in my eyes you are perfect As you are As you are   „Ich liebe dich.“ Setos Stimme ganz nah an seinem Ohr holte Joey aus seinen Gedanken. Er hob seinen Kopf an und sah Seto direkt in die Augen. Dieser legte eine Hand an Joeys Wange und der Blonde lehnte sich dagegen, genoss die Berührung, die sein ganzes Gesicht kribbeln ließ. Setos Blick sprach Bände. Er war so voller Liebe, voller Gefühle für Joey, dass ihm zum wiederholten Male an diesem Tag Tränen in die Augen schossen und seine Sicht verschwamm.   I will never try to change you, change you I will always want the same you, same you Swear on everything I pray to That I won’t break your heart I’ll be there when you get lonely, lonely Keep the secrets that you told me, told me And your love is all you owe me And I won’t break your heart   When no one seems to notice And your days, they seem so hard My darling, you should know this My love is everywhere you are   Seto wischte ihm die Tränen von den Wangen, die sich ganz automatisch ihren Weg in Richtung Boden bahnten. Joey wurde von seinen Gefühlen übermannt und zum ersten Mal an diesem Tag schien er zu realisieren, was er Seto heute versprochen hatte, und welches Versprechen er ihm gegeben hatte. Nämlich das Versprechen, dass, egal, wie schwer es in ihrem Leben werden würde, egal, wie viele dunkle Tage auf sie zukommen würden, dass sie es schaffen würden, zusammen. Denn sie gehörten zusammen, das hatte das Schicksal ihnen lautstark zugerufen. Sie hatten es versucht, getrennt zu sein, aber es war aussichtslos gewesen. Das Band ihrer Liebe war so stark, dass es durch kein Werkzeug der Welt mehr durchtrennt werden könnte.   I will never try to change you, change you I will always want the same you, same you Swear on everything I pray to That I won’t break your heart I’ll be there when you get lonely, lonely Keep the secrets that you told me, told me And your love is all you owe me And I won’t break your heart   Sie blendeten alles aus, als die letzten Zeilen des Liedes erklangen und das Ende ihres Tanzes ankündigten. Es war, als wenn sie die einzigen Menschen wären, die auf diesem Planeten existierten. Ihr Atem ging im Gleichklang, genau wie ihr Herzschlag, als sich ihre Gesichter näherten. Und als ihre Lippen aufeinandertrafen, flogen die Schmetterlinge in ihren Körpern los und verteilten ein unendliches Glücksgefühl in jeder einzelnen Zelle.   I won’t break your heart   Für einige Sekunden war es totenstill im Raum, nachdem die letzten Töne des Liedes gespielt worden waren. Mit seinen Lippen formte Joey ein ‚Ich liebe dich‘, was Seto ein liebevolles Lächeln entlockte. Erst tosender Applaus um sie herum brachte sie zurück ins Hier und Jetzt, und beide schienen gleichermaßen überrascht zu sein. Sie waren in den letzten Minuten komplett in ihrer eigenen Welt gewesen. Und als Joey so in die feierwütige Meute blickte, konnte er sehen, wie ergriffen auch sie in diesem Moment waren.   Danach war die Tanzfläche auch für alle anderen eröffnet und es wurde ausgelassen getanzt. Seto hielt sich nun ein wenig im Hintergrund, doch Joey konnte seine Blicke spüren, selbst wenn er ihm den Rücken zugekehrt hatte. Und dieses Gefühl war noch immer genauso berauschend wie beim allerersten Mal, als Seto ihn beim Tanzen beobachtet hatte.   Um Mitternacht wurde dann ihre Hochzeitstorte in den Raum geschoben, mit diversester Pyrotechnik oben drauf, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen. Diese entfachte einen erbitterten Kampf zwischen Joey und Seto darüber, wer beim Anschneiden der Torte die Hand oben haben würde. Gespielt grummelig gab Joey klein bei, doch als Seto die Hand beim zweiten Schnitt nach unten und Joeys Hand auf seine drauf legte, setzte sein Herz einen Schlag aus. Es war ein eindeutiges Zeichen. Dafür, dass sie ebenbürtig waren. Dafür, dass niemand sich in ihrer Beziehung über den anderen stellte. Und während sie sich darauffolgend gegenseitig ein Stück Kuchen in den Mund schoben, spürte Joey, wie sich die Gänsehaut überall ausbreitete und er schon wieder Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten.   In den nachfolgenden Stunden verabschiedeten sich nach und nach die ersten Gäste, bis zum Schluss nur noch der harte Kern aus den Familien sowie Yugi, Téa und Tristan übrig war. Und auch wenn Joey das schwerfiel, so musste er doch einsehen, dass auch der schönste Tag einmal enden musste. Der Abschied von seinen Freunden und seiner Familie war tränenreich, weil ihm bewusst wurde, dass der Tag nun vorbei war. Aber ihm war auch klar, dass er diesen Tag immer in Erinnerung behalten würde, als den Tag, an dem er den Blick nur noch in die Zukunft richtete, gemeinsam mit dem Mann an seiner Seite, den er über alles liebte.   Als alle Gäste gegangen waren, verabschiedeten sie sich vom Personal und bedankten sich für den schönen Tag. Joey wollte eigentlich noch gar nicht gehen, und er schloss noch mal für einen Moment die Augen, ließ die wunderschönen Augenblicke des Tages in seinem Kopf Revue passieren.   „Joey“, sagte Seto, und als der Blonde die Augen wieder öffnete, stand er direkt vor ihm. Lächelnd hielt er ihm die Hand hin. „Komm.“ Joey seufzte ein Mal auf, doch bevor er Setos Hand ergriff, zog er sich seine Schuhe aus, was ihm einen verwunderten Blick einbrachte. Er neigte den Kopf zur Seite und erklärte: „Ich will den Sand richtig unter meinen Füßen spüren.“ Das Lächeln kehrte in Setos Gesicht zurück und er tat es ihm gleich, und kurz darauf nahmen sie sich an den Händen und ließen das Restaurant hinter sich.   Schweigend liefen sie nebeneinander her, während die Sonne langsam am Horizont aufstieg und den neuen Tag ankündigte. Der seichte Klang der Wellen sorgte für eine angenehme Geräuschkulisse, und der Sand unter Joeys Fußsohlen war angenehm kühl von der Nacht, die hinter ihnen lag. Er sog die salzige Meeresluft in sich auf, während er Setos Hand noch ein wenig stärker drückte.   Er wusste nicht genau, wohin sie gingen. Am Ende war das Ziel natürlich das Hotelzimmer, in dem sie die restliche Nacht verbringen würden, aber keiner von beiden schien es besonders eilig zu haben. Ganz im Gegenteil, denn Seto schien ihn in eine spezielle Richtung zu ziehen, und Joey ließ es zu. Er würde seinem Drachen folgen, wohin er auch mit ihm gehen wollen würde.   Als irgendwann ein Steg – ihr Steg – in sein Sichtfeld gelangte, da wusste er, wohin Seto ihn gelotst hatte. Sie stellten ihre Schuhe im Sand ab. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrat Joey den Steg zuerst, und trotz der Tatsache, dass er keine Schuhe trug, knackte das Holz unter seinen Füßen. Seto war ihm dicht auf den Fersen, und gemeinsam gingen sie ganz nach vorn und setzten sich an den Ort, an dem das Schicksal sie schon so oft zusammengeführt hatte.   Sie beobachteten schweigend, wie die Sonne höher stieg. Der Himmel färbte sich leicht lila, während die Sonne in langsamen Schritten die Nacht vertrieb, und bot ihnen eine friedvolle, romantische Kulisse. Mit niemandem hätte Joey diesen Moment jetzt mehr teilen wollen als mit Seto. Noch immer den Blick nach vorn gerichtet, aufs offene Meer, hielten sie sich an den Händen und genossen einfach, dass sie zusammen waren, ließen gedanklich noch mal alle schönen Momente des Tages Revue passieren.   „Weißt du“, sagte Seto und durchbrach damit die Stille, „ich glaube, als wir hier das allererste Mal gesessen haben, als du mir von deinem Dad erzählt hast, war das der Moment gewesen, in dem ich mich in dich verliebt habe.“ Er seufzte auf und drehte den Kopf in Joeys Richtung, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. „Natürlich hätte ich es mir damals nie eingestanden. Ich habe mich schon oft gefragt, wann wohl der entscheidende Moment gewesen war, und dieser Tag hier am Meer hat alles verändert. Zumindest für mich.“   Joey erwiderte das Lächeln, während er sich ein bisschen zur Seite drehte, um Seto besser ansehen zu können. Er nickte und sagte dann: „Und für mich. Das war der Tag gewesen, an dem du mir zum ersten Mal gezeigt hast, wer du wirklich bist. Und andersherum war es genauso. Ich glaube, das war im Prinzip unser Startsignal. Auch ich habe mich damals in dich verliebt, denke ich jedenfalls heute. In den wahren Seto Kaiba.“   Joey rutschte ein Stück näher an Seto ran und legte ihm die Hand auf die Wange. „Danke, dass du diese Seite schon damals mit mir geteilt hast. Ich weiß, wie schwer es ist, sein wahres Ich zu zeigen. Aber mit dir, ich weiß nicht, da fiel es mir irgendwie immer leichter als bei anderen.“   Setos Lächeln verstärkte sich. „Mir ging es mit dir immer ganz genauso. Weißt du, du sagst immer, ich habe dich gerettet. Auch vorhin bei der Trauung. Was du da gesagt hast, Joey, das war...“ Joey konnte sehen, wie Setos Augen feucht wurden und nickte. Er wusste genau, was er sagen wollte, ohne dass er es jemals würde aussprechen müssen. „Es war alles wahr, Seto. Jedes einzelne Wort habe ich genauso gemeint.“   Ein leises Seufzen glitt über Setos Lippen. „Ich weiß. Es war wunderschön, was du gesagt hast. Aber was ich eigentlich sagen wollte: Du sagst immer, ich habe dich gerettet. Dabei habe ich das Gefühl, dass du eigentlich mich gerettet hast. Du gibst meinem Leben erst etwas, wofür es sich lohnt zu leben. Es ist mit Worten überhaupt nicht zu beschreiben, was ich für dich empfinde, Joey. Wenn du glücklich bist, dann bin auch ich der glücklichste Mensch auf Erden. Wenn du traurig bist, bin ich es auch. Oder ich bin wütend auf was auch immer diese Traurigkeit in dir ausgelöst hat. Ich will dich beschützen, vor allen Gefahren und all der Dunkelheit. Ich will der Mensch für dich sein, der deiner Liebe wert ist.“   Joey legte seinen Kopf an Setos Stirn ab, ihre Augen so nah, dass der Blonde jede Regung in seiner Augenfarbe wahrnehmen konnte. Der Strudel aus verschiedenen Blautönen zeigte ihm, was für ein Wirbelwind an Gefühlen gerade durch Seto fegen musste.   „Der bist du schon, Seto. Ich sehe die Person, die du wirklich bist. Und das ist genau der Mensch, in den ich mich so verliebt habe, und für nichts auf der Welt würde ich wollen, dass du dich änderst. Denn du bist gut, so wie du bist. Wir sind gut, wie wir sind, denn genauso sind wir das Puzzlestück, das das Puzzle unseres Lebens vervollständigt. Ich will für immer bei dir sein, an jedem Tag meines Lebens. Solange wir beide leben.“   Seto näherte seine Lippen, denen von Joey an, und kurz bevor sie aufeinandertrafen, flüsterte er: „Solange wir beide leben.“   Der nachfolgende Kuss war zärtlich und warm, steckte so voller Liebe und Gefühle. Die immer höher steigende Sonne wärmte ihre Wangen, während die Endorphine die Zellen ihrer Körper überfüllten. Als sie sich lächelnd wieder voneinander lösten, glitten ihre Blicke wieder zurück auf das Meer, das noch immer sanfte Wellen schlug.   Joey legte seinen Kopf auf Setos Schulter ab und beobachtete das Wasser, die seichten Auf- und Abbewegungen. Er hatte ihn gefunden, den Menschen, von dem er mit Fug und Recht behaupten konnte, dass er sein Seelenverwandter war. Sie verstanden sich blind, konnten sich austauschen, ohne Worte miteinander zu wechseln. Noch vor wenigen Jahren hätte er niemals gedacht, dass das Leben ihm jemals so viel Glück schenken würde. Doch jetzt saß er hier, mit der Liebe seines Lebens, an dem Ort, der das Symbol ihres gemeinsamen Schicksals war. Er konnte mit einer Zuversicht in die Zukunft blicken, die er so in seinem Leben noch nie verspürt hatte.    Er fühlte Setos warme Haut an seiner, dort, wo sich ihre Hände berührten. Seine Schultern hoben und senkten sich im Gleichklang mit seinem Atem. Fast dachte Joey, auch seinen Herzschlag spüren zu können, mit derselben Intensität, in der auch sein eigenes Herz hinter seiner Brust schlug. Und als Joey nun die Augen schloss, da wusste er es mit absoluter Sicherheit: Er liebte Seto, und Seto liebte ihn.   Von jetzt an für immer.   ~Owari~ Kapitel 40: Epilog - You rescued me ----------------------------------- ~ Ein paar Monate später ~   Mit einem Seufzen fuhr Seto den Laptop runter. Geschafft vom Tag lehnte er sich in seinen Bürostuhl zurück und massierte sich mit einer Hand die Nasenwurzel. Er atmete tief durch. Er hatte das ganze Wochenende durchgearbeitet – schon wieder. Wie lange würde Joey ihm das wohl noch durchgehen lassen? Zumindest war er drum herum gekommen, in die Firma fahren zu müssen, sodass er die Arbeit – zumindest die am Wochenende - von seinem Büro in der Villa hatte erledigen können. So war immerhin der Weg zu ihrem Apartment nicht so weit.   Als der Laptop vollständig runtergefahren war, bemerkte Seto erst, wie dunkel es mittlerweile geworden war. Er klappte ihn zu und schaltete die Schreibtischlampe an, und sofort fiel sein Blick auf das eingerahmte Foto auf seinem Tisch, das Joey und ihn bei ihrer Hochzeit zeigte, mit dem wellenschlagenden Meer und der strahlenden Sonne im Hintergrund. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, während er mit einer Hand den Ring an seinem Ringfinger hin und her drehte.   Nach ihrer Hochzeit waren sie ein paar Wochen herumgereist. Seto war zwar schon oft für Geschäftsmeetings im Ausland gewesen, aber er konnte sich nicht erinnern, davor jemals aus reinem Vergnügen verreist zu sein. Alles, was er getan hatte, hatte einen genauen Zweck gehabt. Erst mit und durch Joey hatte er gelernt, sich treiben zu lassen, einfach loszugehen, selbst ohne ein direktes Ziel vor Augen.   Von Japan aus waren sie zunächst nach Südkorea, dann nach Vietnam und zum Schluss auf die Philippinen geflogen. Sie hatten zwar vorab alle Unterkünfte gebucht, aber Joey hatte Seto davon überzeugen können, spontan zu entscheiden, worauf sie Lust gehabt hatten. Ihre Flitterwochen waren voll gewesen von vielen Abenteuern, die Seto niemals so geplant, geschweige denn gemacht hätte, wenn Joey nicht dabei gewesen wäre. Aber ganz egal, was es auch gewesen war – ob Städtetouren, Bergwanderungen oder Tauchen mit Haien – mit Joey an seiner Seite fühlte sich alles so richtig an. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals so frei hatte atmen können, wie wenn der Blonde bei ihm war. Und als sein Blick auf den Ring an seinem Finger fiel, da wusste er, dass das ein Gefühl war, das ihn für alle Zeit begleiten würde.   Gedankenverloren ließ er seinen Blick durch den Raum wandern – bis er an dem Bücherregal an der Seite des Zimmers hängen blieb. Schwungvoll stand er auf und ging darauf zu, holte etwas heraus. Er hatte schon sehr lange nicht mehr daran gedacht und konnte sich selbst auch nicht so richtig erklären, warum eigentlich. Vielleicht, weil ihn die Arbeit und die Hochzeitsvorbereitungen so vereinnahmt hatten? Oder weil im Anschluss an ihre Flitterwochen bergeweise Arbeit auf ihn gewartet hatte? Er ließ sich wieder in den Bürostuhl fallen und dachte, dass es vermutlich eine Mischung aus beidem war.   Er klappte den Ordner, der voll von Fotos von ihnen war, auf. Behutsam blätterte er die Seiten um, um möglichst sicherzustellen, dass keines der Blätter aus Versehen einriss. Er betrachtete jedes einzelne Foto, rief sich die wunderschönen Erinnerungen mit seinem Hündchen ins Gedächtnis. Er blätterte sich zur letzten Seite vor – und sah, dass noch Platz für ein allerletztes Foto war. Er lehnte sich zurück, ließ seinen Gedanken freien Lauf, während er überlegte, welches dafür wohl am besten geeignet wäre.   Erst ein Klopfen und das Öffnen seiner Bürotür holten ihn aus seinen Gedanken heraus. Er sah Joey hineintreten, der die Tür hinter sich schloss und für einen kurzen Augenblick stehen blieb, die Arme vor dem Körper verschränkt.   Den Mund verziehend, was wohl gespielt genervt wirken sollte, von Seto aber sofort durchschaut wurde, fragte Joey: „Kriege ich meinen Ehemann jetzt an den Wochenenden gar nicht mehr zu Gesicht, oder was? So habe ich mir das Eheleben aber nicht vorgestellt.“   Seto lachte auf und streckte seine Arme aus. „Komm her“, sagte er, halb flüsternd, und ein sanftes Lächeln legte sich auf Joeys Lippen. Und als das brave Hündchen, das Joey nun mal war, vergeudete er keine Zeit und ging auf Seto zu, ließ sich von ihm auf seinen Schoß ziehen. Trotz all der Zeit, die sie bereits miteinander verbracht hatten, spürte Seto noch immer all die Schmetterlinge in seiner Magengegend, wann immer Joey auch nur in seinem Blickfeld auftauchte. Und wenn er, wie jetzt auch, seine weichen Lippen zärtlich auf seine legte, breitete sich eine wohlige Wärme in seinem ganzen Körper aus.   Kaum hatten sie sich voneinander gelöst, schnipste ihm Joey gegen die Stirn und sein Lächeln verwandelte sich in ein freches Grinsen. „Was, hast du dich etwa hier verkrochen, nur um deinen Gedanken nachzuhängen, während ich sehnsüchtig im Bett auf dich gewartet habe?“   Schief grinsend legte Seto seine Stirn an die von Joey und zog ihn noch etwas enger in die Umarmung. „Erwischt. Aber es waren nur ein paar Minuten, versprochen.“ Mit seinem Kopf deutete er nun auf den vor ihm liegenden Ordner. „Außerdem habe ich darüber nachgedacht, welches Foto wir wohl einkleben sollten, um unser erstes, gemeinsames Fotoalbum zu vervollständigen.“   Joeys Blick schwenkte zu dem angesprochenen Ordner und Seto konnte sehen, wie der Blonde scharf nachdachte, den Blick an die Decke geworfen, die Arme um Setos Hals. Dann senkte er seinen Kopf wieder, sah sich im Raum um, so wie es auch der Braunhaarige noch vor wenigen Minuten getan hatte. Seine Augen blieben an dem eingerahmten Foto von ihnen auf Setos Schreibtisch hängen.   „Wie wäre es denn mit diesem?“, fragte Joey und deutete mit dem Kopf auf das Bild auf dem Schreibtisch. Für einige Sekunden überlegte Seto, doch als er das Foto noch mal ganz genau betrachtete, stand seine Entscheidung fest. Zusammen mit Joey auf seinem Schoß rollte er den Bürostuhl näher an den Bilderrahmen heran und griff es mit einer Hand, während seine andere noch immer an Joeys Rücken lag, um ihn zu stützen.   Zusammen betrachteten sie das Bild für eine Weile, während sich wie automatisch ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen legte. Die Erinnerungen an den wunderschönsten Tag in ihrem Leben würde sie immer begleiten, jeden Tag. Welches Foto also könnte perfekter sein als dieses, um das Fotoalbum zu komplettieren?   Joey nahm es ihm ab und entfernte den Rahmen, bis er das Bild in der Hand hielt. Sie rollten zurück zu ihrer Ausgangsposition, sodass der Ordner nun wieder direkt vor ihnen lag. Joey legte das Bild an die Stelle, an die es eingeklebt werden sollte, um zu prüfen, ob die Größe passte. Und wie hätte es anders sein können – es passte perfekt.   Joey drehte sich ein wenig, sodass er nun mit dem Rücken zu Seto auf seinem Schoß saß. Der Brünette legte seine Arme um Joeys Bauch, während dieser sich streckte und nach dem Kleber griff. Er bereitete das Foto entsprechend vor und klebte es ein, strich sanft darüber, damit es auch wirklich fest war und nicht mehr verrutschen konnte.   Zufrieden betrachtete er sein Werk und drehte sich dann wieder zu Seto um, noch immer ein Lächeln auf den Lippen. Der Blonde hob eine Hand und streichelte ihm sanft über die Wange, was ein wohliges Kribbeln auf Setos Haut hinterließ. Er lehnte sich der Berührung etwas entgegen, schloss für einen Moment die Augen und sog alle Empfindungen in sich auf.   Erst als Joey seine Hand wieder entfernte, öffnete Seto erneut die Augen. Der Blonde fing an, zappelig zu werden, und wenn er versuchte, seine Ungeduld zu verschleiern, hatte er keinen großen Erfolg damit.   „So, wo das jetzt geklärt ist – kommst du dann jetzt endlich ins Bett, Seto?“   Seto grinste verschmitzt, bevor er Joey hochhob und seinen Rücken und seine Kniekehlen jeweils mit einer Hand abstützte. Bei dieser ruckartigen Bewegung quietschte der Blonde auf, während sich Seto mit ihm auf dem Arm in langsamen Schritten der Tür näherte.   „Hey, ich kann selber laufen!“, rief Joey laut aus und zappelte, und Seto stoppte in der Bewegung, kurz bevor sie die Tür erreichten. Er lehnte seinen Kopf ein wenig zu Joey runter und lachte diabolisch auf. „Noch, ja. Allerdings nicht mehr, wenn ich mit dir fertig bin.“   „Seto!“, sagte Joey, halb lachend, halb errötend, doch er hörte auf zu strampeln und ließ sich brav von Seto aus dem Raum tragen. Mit gekonnten Handgriffen öffnete der Braunhaarige die Tür, auch wenn sich das mit Joey auf seinem Arm ein bisschen komplizierter gestaltete, und ließ sie hinter ihnen wieder ins Schloss fallen.   Und während die beiden sich ihren Weg zu ihrem Apartment bahnten, ließen sie einen Ordner voller Erinnerungen aufgeklappt im Arbeitszimmer zurück. Das Album war prall gefüllt mit ihren gemeinsamen Erlebnissen, an die sie sich auch noch würden erinnern können, wenn sie alt und gebrechlich wären. Und sie wussten - es würden noch viele weitere Ordner folgen. Der nächste wartete schon darauf, mit neuen Fotos und Erinnerungen gefüllt zu werden. Noch waren die Seiten weiß, wie ein bisher nicht geschriebenes Buch. Aber sie würden es füllen – denn heute war erst der Anfang. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)