Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 36: Rescue me... from coming home ----------------------------------------- Der Wind blies Joey um die Nase und wirbelte seine Haare wie wild durch die Luft. Immer und immer wieder flogen sie ihm mitten ins Gesicht, nur um danach wieder in alle Himmelsrichtungen befördert zu werden. Der Regen hatte zwar vor einiger Zeit aufgehört, dennoch waren seine Klamotten komplett durchnässt. Es war kalt, jedenfalls, wenn man ein Thermometer fragen würde. Doch Joey war warm, nein, heiß, und er spürte die Hitze von seinen Wangen bis hinunter zu seinen Zehenspitzen.   Noch immer hielt er die Luft an und für einen Moment war es so, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Setos Worte hallten in seinem Kopf wider, aber es war für Joey dennoch schwer zu verstehen. Als wenn das Echo so laut wäre, dass es sich so anhörte, als würden eintausend Menschen durcheinander quasseln.    Erst als Seto die Hände von seinen Wangen nahm, kam Joey wieder in die Realität zurück. Er blinzelte ein paar Mal, um den Mann vor sich wieder richtig fokussieren zu können. Die Geräusche von außen nahm er noch immer nur gedämpft wahr, weil in seinem Kopf weiterhin großes Chaos herrschte. Doch irgendwann, nach einiger Zeit, die Joey wie Stunden vorkam, da verschmolzen die verschiedenen Stimmen zu einer, und diese eine, verbleibende Stimme wiederholte Setos Satz, immer und immer wieder.   „Heirate mich, Joey.“   Hatte sich der Blonde womöglich verhört? Ja, so musste es gewesen sein. Unmöglich, dass Seto das wirklich gesagt hatte. Oder? Doch als Joey Seto dann wieder richtig in die Augen sah, da wurde klar: Er hatte sich nicht geirrt. Seto hatte ihn gerade wirklich gefragt, ob er ihn heiraten wollte. Setos Augen hatten ihm schon immer verraten, was in ihm vorging, und sie sprachen Bände.   Joey machte aus einem Impuls heraus einen Schritt zurück, und sofort konnte er Angst in Setos Gesicht aufblitzen sehen. Der Braunhaarige nahm seine Hand wieder, wollte ihn scheinbar aufhalten, erneut den Rückzug anzutreten. Joey hielt in der Bewegung inne und ließ weitere Sekunden – oder waren es Minuten? – verstreichen, ohne, dass Worte gewechselt wurden. In seinem Kopf drehte sich alles, und er hatte zunehmend damit zu kämpfen, sich auf den Beinen zu halten.   Er sah, wie Seto tief Luft holte und offenbar zum Sprechen ansetzte, als es plötzlich direkt über ihnen donnerte. Nur wenige Sekunden später spürte Joey die ersten Regentropfen auf seiner Wange, die diesen eine willkommene Abkühlung verschafften. Als der Regen stärker wurde, drückte Seto Joeys Hand noch etwas fester und rief ihm zu: „Komm mit!“   Er zog ihn an der Hand in Richtung Strand, danach den hölzernen Weg zum Parkplatz hoch. Joey ließ sich mitziehen, weil er noch immer keine Kontrolle über seine Gliedmaßen – oder seine Gedanken – zurückerlangt hatte. Wie in Schallgeschwindigkeit öffnete Seto das Auto, und bevor Joey sichs versah, saß er im Wagen, auf dem Beifahrersitz des Mannes, dem er in den letzten Monaten erfolgreich aus dem Weg gegangen war. Bis das Schicksal offensichtlich andere Pläne gehabt hatte.   Joey schmiss seinen mittelgroßen Trekkingrucksack, der in den letzten Monaten sein ständiger Begleiter gewesen war, auf den Rücksitz. Dann saßen beide Männer schweigend nebeneinander und beobachteten, wie der Sturm wieder heftiger wurde und den Nebel vertrieb, wie die Wellen sich noch stärker auftürmten und den Steg, auf dem sie noch vor wenigen Minuten gestanden hatten, komplett in Besitz nahmen. Die Scheiben beschlugen aufgrund der Feuchtigkeit und Joeys Atem ging noch immer schnell. Es fiel ihm schwer, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren. Aus dem Augenwinkel sah er Seto, der den Blick gerade nach vorn gerichtet hatte, und es war nicht schwer zu erkennen, dass auch er mit der Situation so seine Schwierigkeiten hatte.   Es führte kein Weg daran vorbei, dass sie darüber sprechen mussten, was da gerade passiert war, so viel war sicher. Da Joey aber noch immer weder wusste, was er dachte, noch was er fühlte, hatte er allerdings keine Ahnung, wie er das Gespräch beginnen sollte. Leichte Panik überkam ihn. Irgendwas musste er doch sagen, irgendwas!   „Joey, bitte, rede mit mir.“ In Setos Stimme klang ein Hauch Verzweiflung mit, und als Joey ihm wieder direkt in die Augen blickte, konnte er nackte Angst in seinem Gesicht erkennen. Noch einmal wandte er den Blick ab, schloss die Augen und atmete tief durch. Seine Gedanken waren ein totales Chaos, aber dennoch, Joey war Seto eine Antwort schuldig. Als er die Augen wieder öffnete, sah er kurz aus dem Seitenfenster, hinaus auf den Sturm, der noch immer unablässig wütete. Ihn überkam ein Impuls, einfach die Tür aufzureißen und wegzulaufen, aber er wusste, das würde die Situation auch nicht lösen. Außerdem war er ja nur gegangen, damit es Seto gut ging, und ihn jetzt einfach ohne eine Antwort sitzen zu lassen, wäre mehr als unfair. Das würde er nicht übers Herz bringen.   Mit einem erneuten, tiefen Atemzug drehte er sich wieder zu Seto um, dessen Blick unverändert ängstlich, aber auch erwartungsvoll auf ihn gerichtet war. Er räusperte sich, aus Angst, dass seine Stimme sonst versagen würde, dann fragte er: „Hast du das gerade ernst gemeint, Seto?“   Das war ganz offenbar nicht, was der Brünette hatte hören wollen. Joey konnte sofort erkennen, dass er unsicher aussah, was ihn sehr erstaunte. Normalerweise war Seto der starke, selbstsichere Part in ihrer Beziehung, und dass sie jetzt beide irgendwie eingeschüchtert von der ganzen Situation waren, half ganz und gar nicht. Aber war es nicht auch verständlich, dass Seto so reagierte? Wenn es andersherum gewesen wäre, wie hätte Joey sich wohl gefühlt, wenn Seto schon die bloße Frage danach, ob er ihn heiraten wollte, anzweifelte? Dass die Frage, so sie denn jemals gestellt wurde, eine Überraschung sein würde, lag ja auf der Hand, zumindest in den meisten Fällen, so vermutete Joey. Nicht, dass er wahnsinnig viele Erfahrungen auf dem Gebiet hatte sammeln können. Die meisten Dinge hatte er mit Seto zum allerersten Mal gemacht, und offensichtlich gehört dieses Gespräch jetzt auch dazu. Und auch wenn es unangenehm war – da mussten sie jetzt irgendwie durch, sie beide.   Seto nickte und signalisierte Joey somit, dass er tatsächlich eine ernstgemeinte Frage gestellt hatte. Joey seufzte auf und widerstand dem erneuten Impuls, die Tür zu öffnen und rauszustürmen. Stattdessen versuchte er, alles, was sich in seinem Kopf abspielte, irgendwie in Worte zu fassen, und hoffte, dass das irgendwie einen Sinn ergeben würde.   „Hältst du das nicht für ein bisschen... na ja... übereilt? Ich meine, ich war gerade monatelang weg. Warum jetzt? Warum so plötzlich, wo wir uns doch gerade das erste Mal seit Ewigkeiten wiedergesehen haben?“   Nun seufzte auch Seto und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, bevor er Joey wieder direkt in die Augen sah und antwortete: „Ich bin mir einfach sicher, dass ich mein Leben mit dir verbringen will. Ist das so falsch?“   Joey verschränkte die Finger ineinander, legte seine Hände in seinem Schoß ab und senkte den Blick darauf. Er ließ ein paar Atemzüge vergehen, bevor er erwiderte: „Nein, ist es nicht. Und dennoch frage ich mich, ob du überhaupt verstanden hast, warum ich gegangen bin.“   „Natürlich kann ich nachvollziehen, warum du gegangen bist. Du wolltest mich schützen, aber ehrlich, Joey, das brauchst du nicht. Ich habe alles Notwendige in die Wege geleitet. So etwas kann nicht noch mal passieren. So etwas wird nicht noch mal passieren.“   Konnte er Setos Worten vertrauen? Ihnen einfach so Glauben schenken? Wie er es ihm auch schon gesagt hatte, er war sich 100-prozentig sicher, dass eine keine absolute Garantie dafür gab. Aber immer wieder wegzurennen, wäre das denn die Lösung? Würde er damit dem Täter nicht geben, was er wollte? Würde er ihm diese Genugtuung geben wollen? Aber was wäre, wenn es doch wieder passierte? Könnte er sich das jemals verzeihen, in dem Wissen leben, dass er der Grund für Setos Leid war? Aber war er das jetzt nicht auch? Natürlich, Seto war nicht körperlich verletzt, aber es war nicht schwer zu sehen, wie stark er emotional gelitten hatte, während Joey nicht da gewesen war. Schuldgefühle breiteten sich in ihm aus. War es egal, was er machte? Gab es nur falsch, aber kein richtig? Was nur war der Weg, den er würde einschlagen müssen?   „Willst du so unbedingt nicht mehr bei mir sein, Joey?“ Seto seufzte, legte die Arme dann auf das Lenkrad und bettete seinen Kopf darauf, sodass Joey sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Dann geh. Ich werde dich nicht zwingen, bei mir zu bleiben. Das würde uns am Ende beide nicht glücklich machen.“   Aber war es das, was Joey wollte? Ein Leben komplett ohne Seto zu verbringen, wohlwissend, dass auch das sie nicht glücklich machen würde? Schon bei dem Gedanken daran, ihm nie wieder in seine wunderschönen Augen sehen zu können, tat Joeys gesamter Körper weh und er spürte ein Stich in seinem Herz. Und als er dann von der Seite sah, wie Seto stumme Tränen weinte, da wurde ihm eines bewusst: Er hatte vorgehabt, sein eigenes Leben in Glück zu opfern, damit Seto ein Leben hatte und glücklich sein konnte. Aber das war er nicht. Und Joey war es auch nicht.   Joey sog die Luft ein, bis seine Lungen bis zum Maximum gefüllt waren, nur um sie dann langsam wieder ausströmen zu lassen. Er legte Seto eine Hand auf den Oberschenkel, sodass dieser überrascht den Blick hob. Joey hielt den Anblick kaum aus. Setos Wangen waren nass, die Lippen feucht, die Augen gerötet. Es war offensichtlich, wie verletzt er sein musste.   Und während Joey ihm einzelne Tränen aus dem Gesicht wischte, erklärte er: „Das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur Angst, Seto. Um dich, nicht um mich. Ehrlich, ich wäre längst tot, wenn es dich nicht gäbe. Ich will einfach nur nicht, dass dir was passiert. Ich... ich weiß nicht, ich will einfach nicht so egoistisch sein. Alles, was ich will, ist, dass du leben kannst, und dass du glücklich bist.“   Und während sie für einen Moment den Regentropfen lauschten, die heftig auf das Autodach niederprasselten, nahm Seto seine Arme vom Lenkrad und nahm Joeys Hände in seine. Sein Blick hatte wieder etwas mehr an Selbstsicherheit gewonnen, an Hoffnung. Das Blau in seinen Augen war ein mindestens genauso intensiver Sturm wie der, in dessen Mitte sie sich gerade befanden. Es war so anziehend, dass Joey seinen Blick nicht abwenden konnte.   „Sei egoistisch, nur für diesen einen Moment, Joey. Wenn du mal alles andere außer Acht lässt und mal nur auf dein Herz hörst – was willst du, Joey? Was würde dich glücklich machen?“   Der Blonde ließ sich auf das Experiment ein. Er ließ die Augenlider sinken, erlaubte sich einen Moment, um über diese Frage nachzudenken. Er hatte gedacht, ihm würden jetzt alle möglichen Gedanken kommen, doch alles, was er vor seinem inneren Auge sah, war Seto. Er sah den starken, arroganten Seto, der er war, wenn er nicht mit Joey oder Mokuba zusammen war. Den liebevollen, zärtlichen Seto, wenn sie ganz allein waren. Den heißen, dominanten Seto, wenn sie Sex hatten. Den Seto mit dem sorgenvollen Blick, wenn Joeys Leben mal wieder Achterbahn mit ihm fuhr. Und er sah den traurigen, verletzten Seto, so, wie er ihn gerade auch gesehen hatte.   Die Antwort, die er geben musste, war eindeutig. Er öffnete die Augen wieder, und es legte sich sogar ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, als er sagte: „Du. Du würdest mich glücklich machen. Das tust du, in jeder Sekunde, in der ich bei dir sein darf. Wenn du lächelst, geht für mich die Sonne auf. Wenn du mich küsst, fühle ich eine Billiarde Schmetterlinge in meinem Bauch. Wenn du mich berührst, bekomme ich überall eine Gänsehaut. Ich liebe dich, Seto, das tue ich wirklich, aber...“   „Kein ‚Aber‘, Joey“, unterbrach ihn Seto und legte ihm einen Finger über die Lippen. „Ich hätte dir exakt dieselbe Antwort gegeben. Du bist es, der mich glücklich macht. Und du weißt so gut wie ich, dass wir beide nur dann richtig glücklich sind, wenn wir zusammen sind. Wir sind beide heute hierher gekommen, auch wenn wir nicht genau gewusst haben, was uns eigentlich hierhin geführt hat. Aber für mich ist das ein eindeutiges Zeichen, dass wir zusammen gehören.“   Er legte eine Hand auf Joeys Wange und liebkoste sie zärtlich, und der Blonde legte seine Hand darüber, schloss kurz die Augen und genoss einfach den Moment. Als er sie wieder öffnete, war Seto auf seinem Sitz ein wenig näher an Joey herangerutscht. „Du hast recht damit, dass ich mich mit der Frage vorhin vielleicht ein bisschen zu weit vorgewagt und dich überrumpelt habe. Nicht, dass ich die Frage nicht ernst gemeint hätte, denn das habe ich. Aber ich verstehe, dass das wohl gerade nicht der passendste Zeitpunkt dafür gewesen ist.“   Joeys Lippen verließ ein kurzes Lachen, bevor sich ein sanftes Lächeln auf seinem Mund manifestierte und er nickte. Zärtlich strich Seto ihm eine Haarsträhne hinter das Ohr, während er seine eigenen Bewegungen mit den Augen verfolgte und in nachdenklichem Tonfall sagte: „Ich will dich nur nicht wieder verlieren, Joey. Vielleicht habe ich gedacht, dass ich durch diese Frage genau das verhindern kann, auch wenn es vielleicht naiv klingt. Ich hätte mein ganzes Leben lang nach dir gesucht, mein Hündchen, ich hätte alles getan, um dich zu finden. Weil ein Leben ohne dich sich so leer anfühlt. Ich weiß nicht, ob ich dir jemals genug Sicherheit geben kann, damit du nicht das Gefühl hast, dass ich in ständiger Gefahr schwebe. Aber ich für meinen Teil weiß, dass ich die richtigen Konsequenzen daraus gezogen habe, was passiert ist, und das lässt mich glauben, dass sich so etwas nicht wiederholen kann. Aber du hast recht, es gibt keine Garantie dafür. Dennoch, ich will nicht ohne dich leben, Joey. Ich will dich bei mir haben, immer.“   Mit einem Ruck zog Joey Seto in eine feste Umarmung, legte seine Arme um dessen Nacken und drückte sich eng an ihn. Joey konnte es versuchen zu leugnen, aber er wusste, dass es ihm ganz genauso ging. Ein Leben ohne Seto wäre vielleicht möglich, aber sinnlos. Es würde ihn niemals glücklich machen. Und er hatte eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Wieder weglaufen, wohlwissend, dass sie dann beide zu einem unzufriedenstellenden Leben verdonnert wurden. Oder das Risiko eingehen und einfach dem Gefühl und auch den Stimmen der anderen vertrauen, dass alles gut werden würde, solange sie nur zusammen waren. Nur das Schicksal allein wusste, was alles noch auf sie warten würde, welche Herausforderungen sie gemeinsam würden bewältigen müssen. Aber Joey war es leid, davonzulaufen. Er hatte in seinem Leben schon so oft den Schwanz eingezogen. Aber das konnte nicht die Lösung sein. Vielleicht würde es eine ganze Weile dauern, diese Angst zu überwinden, aber er wusste, er musste es versuchen. Es führte kein Weg mehr daran vorbei. Das Band um Seto und ihn war so fest, dass es sie am Ende immer wieder zueinanderführen würde. Und Joey wusste innerlich, dass es gut so war.   Er näherte seine Lippen an Setos Ohr, zog sich noch ein wenig dichter an ihn ran, bevor er flüsterte: „Okay.“   Sofort löste sich Seto von ihm, hielt ihn an den Schultern fest und schaute ihn fast schon ungläubig an. „Okay?“, fragte er mit weit aufgerissenen Augen, so als ob er keine von Joeys Regungen verpassen wollen würde.   Der Blonde lächelte, nahm eine von Setos Händen und gab dieser einen zärtlichen Kuss auf den Handrücken. „Ja, okay. Vielleicht bereue ich es irgendwann, aber du hast recht. Ich will nicht ohne dich sein, ich will genauso bei dir sein, wie du bei mir. Aber... aber ich kann dich nicht heiraten. Noch nicht. Vielleicht kann ich es irgendwann, aber... ich weiß nicht, es ist noch zu früh, es ist zu viel auf einmal. Ich...“   Seto unterbrach ihn, indem er ihre Lippen in einem Kuss vereinigte. Es war nur ein ganz kurzer, zarter Kuss, und dennoch spürte Joey, wie die Schmetterlinge in seinem Bauch abhoben. Seto löste sich von ihm, strich ihm sanft mit dem Daumen über die Lippen und sagte: „Schon gut, Joey. Ich verstehe das absolut.“   „Es tut mir leid“, erklärte Joey, und er meinte es auch genauso. Doch Seto schüttelte nur den Kopf und lächelte, und für eine kurze Sekunde dachte der Blonde, dass es seine Augen nicht vollständig erreicht hatte. Und wenn dem wirklich so wäre, dann könnte er es ihm nicht verübeln, aber für den Moment war es die richtige Entscheidung so.   Seto zog ihn erneut in einen zärtlichen Kuss, dieses Mal etwas länger und intensiver, bevor er erklärte: „Und jetzt bringe ich mein Hündchen wieder nach Hause.“ Lächelnd nickte Joey ihm zu, schnallte sich an und spürte, wie sich das Glücksgefühl in seinem ganzen Körper ausbreitete, während Seto den Motor startete und sie sicher zurück nach Hause fuhr.   Die Fahrt zurück verlief mehr oder weniger schweigend, und mit jedem Kilometer, den sie der Stadt und der Villa wieder näher kamen, wuchs Joeys Unsicherheit. Zum einen fragte er sich noch immer, ob er mit der Entscheidung, zurückzukehren, wirklich den richtigen Entschluss gefasst hatte. Natürlich wollte er gern bei Seto sein, das stand außer Frage, aber die Angst, dass er am Ende doch zu einer Gefahr für Setos Leben werden würde, war noch immer da. Er wusste außerdem, dass er viel zu erklären hatte, gegenüber Mokuba, aber auch gegenüber seinen Freunden und seiner Familie. Er war nervös, vor allem den kleinen Kaiba gleich wiederzusehen. Wie würde er reagieren, wo er einfach so verschwunden war, für Monate? Würde er ihn verstehen können? Würde er ihn abweisen? Würde er ihn möglicherweise gar wieder rauswerfen? Natürlich hatte Seto das letzte Wort, aber würde Joey bleiben wollen, wenn er wüsste, dass er nicht willkommen war, zumindest nicht für Mokuba? Joey seufzte von sich selbst genervt auf. Da hatte er sich gerade dazu entschlossen, zurückzukehren, und auch das nur unter Bauchschmerzen, da dachte er schon wieder über Flucht nach. Er musste sich jetzt wirklich mal ein bisschen zusammenreißen. Es kam sowieso so, wie es kommen musste, und daran, dass er so lange weg gewesen war, konnte er jetzt auch nichts mehr ändern.   Als sie in die Tiefgarage der Villa fuhren, hatte der Sturm etwas nachgelassen, außerdem war es mittlerweile dunkel geworden. Bevor Joey aus dem Auto ausstieg, atmete er ein paar Mal tief durch, um sich mental auf das Zusammentreffen mit Mokuba vorzubereiten. Dann fuhr er gemeinsam mit Seto mit dem Fahrstuhl hinauf in das Haus.   Als sich die Türen mit einem lauten ‚Pling‘ öffneten, trat Joey einen Schritt in den Flur, mit den Händen an den Trägern seines Rucksacks geklammert, in der Hoffnung, dass sie ihm ein wenig Halt vermitteln würden. Von Mokuba war noch keine Spur, aber er wusste vermutlich auch nicht, dass sie kommen würden. Na ja, mit Seto hatte er irgendwann im Laufe des Tages sicherlich gerechnet, aber Joeys Ankunft würde ihn, gelinde gesagt, überraschen.   Er beobachtete, wie Seto auf sein Handy sah und dann sagte: „Sollen wir gleich zum Abendessen gehen? Oder willst du erst mal deine Sachen wegräumen?“ Joey überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Ich glaube, ich würde gern kurz duschen, wenn das okay wäre?“ Seto nickte, und gemeinsam gingen sie in ihr Apartment, das nun endlich auch wieder Joeys zuhause war.   Seto öffnete die Tür mit seiner Schlüsselkarte, und da fiel Joey wieder ein, dass er seine auch noch irgendwo in seinem Portmonee haben müsste. Er warf seinen Rucksack in eine Ecke, und noch bevor Joey etwas sagen konnte, kam ihm Seto zuvor. „Hast du deine Schlüsselkarte noch? Ich hatte sie aus Sicherheitsgründen sperren lassen, weil ich nicht wusste, ob du sie vielleicht auch weggeworfen hattest.“ Der Blonde holte seinen Geldbeutel heraus, und schon wenige Augenblicke später hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte. Er hielt sie Seto hin, der sie an sich nahm und sagte: „Ich werde sie schnell entsperren, während du duschen bist.“ Der Blonde nickte ihm zu, bevor Seto das Zimmer wieder verließ und Joey allein war.   Natürlich war er froh, wieder hier zu sein, aber irgendwie war es auch komisch. Hatte er es überhaupt verdient, hier wieder so freundlich empfangen zu werden, wo er doch einfach so abgehauen war? Er machte sich noch immer Sorgen, wie Mokuba reagieren würde. Dann schüttelte er den Kopf, in der Hoffnung, damit auch seine Gedanken abschütteln zu können, aber es funktionierte nur mittelmäßig. Er ging ins Bad und konnte feststellen, dass sich auch hier nicht wirklich etwas verändert hatte, selbst seine Zahnbürste stand noch in seinem Zahnputzbecher. Es war, als wäre er nie weg gewesen, und vielleicht gab es auch einen Teil in ihm, der die Zeit gern zurückdrehen würde. Vielleicht hätte er sich dann anders entschieden. Oder vielleicht auch nicht? Zum wiederholten Male schüttelte Joey heute genervt von sich selbst den Kopf. Es machte keinen Sinn, sich darüber noch Gedanken zu machen. Er konnte jede seiner Entscheidungen, auch diese, hier zu sein, noch so sehr anzweifeln, aber er hatte sie nun mal getroffen. Und er hatte sie aus Gründen getroffen, die ihm richtig und wichtig vorgekommen waren. Die Unsicherheit blieb, und dennoch, alles, was er jetzt tun konnte, war, das Beste aus der Gegenwart und der Zukunft zu machen.   Nach einer heißen Dusche fühlte er sich ein wenig besser. Er ging ins Ankleidezimmer und bemerkte, dass auch dieser Raum noch immer so aussah wie vor ein paar Monaten. All seine Kleidung lag noch da, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Er zog sich an und ging dann zurück ins Wohnzimmer, wo Seto schon auf ihn wartete. Er übergab ihm die Schlüsselkarte, die Joey sofort in seiner Hosentasche verstaute.   Seto sah ihn stirnrunzelnd an und nahm Joeys Hand, bevor er fragte: „Ist alles in Ordnung?“ Joey seufzte. „Ich weiß nicht. Ich bin irgendwie nervös.“   Der Brünette trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und berührte ihn zärtlich an der Wange. Er schenkte ihm ein liebevolles Lächeln, das Joey fast zum Schmelzen brachte. „Kein Grund, nervös zu sein, Joey. Das hier ist dein Zuhause, und das wird es auch immer bleiben. Ich für meinen Teil bin sehr glücklich, dass du wieder da bist. Wirklich.“ Joey erwiderte das Lächeln bevor er Seto an der Taille umarmte und seinen Kopf gegen dessen Schulter lehnte. Der Brünette zog ihn noch enger an sich, und für einige Augenblicke standen sie eng umschlungen da, bis Joey sich wieder löste. „Sollen wir?“, fragte er, und Seto nickte, noch immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Dann nahm er seine Hand, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins Esszimmer.   Joey atmete noch einmal tief durch, dann folgte er Seto in den Raum, in dem sich Mokuba schon befand. Der Blonde beobachtete alle Regungen des Kleineren genau. Zunächst lächelte er Seto zur Begrüßung an, dann schien er Joey zu bemerken. Seine Gesichtszüge zeigten zunächst Überraschung und Erstaunen, und während seiner nachfolgenden Worte haftete sein Blick weiterhin auf Joey. „Du hast ihn gefunden.“   Seto nahm seinen üblichen Platz ein, während Joey noch immer wie angewurzelt am Eingang stand. Der Braunhaarige lachte auf, dann erklärte er: „Na ja, ich würde eher sagen, wir haben uns gegenseitig gefunden.“ Joeys Blick ging wieder zu Mokuba, dessen Unterlippe leicht anfing zu beben. Doch dann fasste er sich wieder und stand auf, die Hände zu Fäusten geballt, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen, die Augen ein wenig zusammengekniffen.   Für eine Weile rührten sie sich nicht, alle drei nicht. Selbst wenn Joey es gewollt hätte, er hätte keine Worte gefunden, um diese Atmosphäre auch nur im Ansatz zu beschreiben. Lange hatte er sowieso keine Zeit, darüber nachzudenken, als Mokuba langsamen Schrittes auf ihn zukam, mit unverändertem Gesichtsausdruck. Als er direkt vor ihm stand, mit vielleicht noch einer Armlänge Abstand, konnte Joey sehen, wie sich Tränen in Mokubas Augen bildeten, und er sah, wie dieser mit aller Kraft versuchte, sie zurückzuhalten.   Er wusste nicht so richtig, was er sagen, was er tun sollte. War Mokuba traurig? Wütend? Beides? Er konnte es nicht so richtig sagen. „Mokuba, ich...“, begann Joey, doch er wurde sofort von Mokuba unterbrochen, der einen weiteren, kleinen Schritt auf ihn zukam und mit seinem Fuß dabei energisch auf den Boden stampfte.   „Weißt du eigentlich, wie beschissen es Seto gegangen ist, weil du einfach verschwunden bist?“ Wütend. Eindeutig wütend. Und Joey konnte es ihm überhaupt nicht verübeln. Er war aus Gründen gegangen, die er für richtig gehalten hatte. Er hatte immer nur das Beste für Seto im Kopf gehabt, auch jetzt noch, was vermutlich auch ein Grund dafür war, dass er noch immer nicht absolut sicher war, dass es richtig war, wieder hier zu sein. Aber er verstand, dass Mokuba das sauer machte – immerhin war Joey der Grund dafür gewesen, dass auch Seto gelitten hatte, vielleicht sogar noch mehr als während ihrer Trennung damals, weil der Braunhaarige nie gewusst hatte, wo genau er sich befunden hatte.   Mokuba drückte Joey mit der Hand energisch gegen die Brust, was den Blonden kurz nach hinten stolpern ließ, aber er wehrte sich nicht und ließ es einfach geschehen. „Kannst du dir nur ansatzweise vorstellen, wie viele Sorgen er sich gemacht hat?“   „Mokuba!“ Seto war aufgestanden und im Begriff, seinen kleinen Bruder davon abzuhalten, Dinge zu tun oder zu sagen, die er später womöglich bereuen würde, doch Joey hob die Hand und stoppte ihn. „Schon gut, Seto. Lass ihn.“ Nicht nur, dass Joey dachte, dass Mokuba überhaupt nicht unrecht hatte mit dem, was er da sagte. Nein, er hatte außerdem das Gefühl, dass Mokuba das gerade brauchte. Vielleicht hatte er all die Emotionen, die jetzt hochkochten, die letzten Monate krampfhaft versucht zu unterdrücken. Er sollte all den Raum und die Zeit bekommen, die er benötigte, um sie rauszulassen.   Joey konnte sehen, wie der Kleinere, der noch immer sehr dicht vor ihm stand, die Hände erneut zu Fäusten ballte. Er fing leicht an zu zittern, die Zähne fest aufeinandergedrückt, der Mund leicht geöffnet. Sein Atem ging schnell, das war kaum zu übersehen, und noch bevor Joey irgendwie reagieren konnte, fing Mokuba an zu schluchzen und dicke Tränen rollten seine Wangen hinunter.   „Kannst du dir vorstellen, wie es mir gegangen ist? Hast du auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, dass auch ich hier bin und dich vermissen würde? Ich hab mich so allein gefühlt. Du hast dich nicht mal von mir verabschiedet. Wie konntest du das nur tun, Joey?“   Als Mokubas Weinen immer stärker wurde, da erwachte Joey endlich aus seiner Schockstarre. „Mokuba...“, flüsterte er, dann zog er ihn in eine feste Umarmung, und auch der kleinere Kaiba drückte sich nun eng an ihn, schlang die Arme um seinen Oberkörper und ließ hemmungslos alle Gefühle raus, die sich so vehement angestaut hatten. Während Joey ihm immer wieder sanft über den Rücken streichelte, regten sich immense Schuldgefühle in ihm, und es fühlte sich so an, als ob er mit dem Schritt, den er für so notwendig gehalten hatte, seine Familie im Stich gelassen hatte, auch wenn er genau das Gegenteil hatte erreichen wollen – denn sein Rückzug hatte vor allem die Intention gehabt, genau diese Familie zu schützen. Doch was er am Ende erreicht hatte, war, dass sie alle gelitten hatten - sie alle drei. Und vermutlich auch jeder andere, dem Joey etwas bedeutete.   Der Blonde unterdrückte die aufsteigenden Tränen mit aller Kraft, zog seine Arme fester um den Kleineren und sagte dann: „Es tut mir so leid, Mokuba. Wirklich. Ich wollte dir nicht weh tun, ich wollte niemandem weh tun.“   „Hast du aber“, murmelte Mokuba abgehackt, nach jedem Wort unterbrochen von einem erneuten Schluchzen. Das ging Joey durch Mark und Bein und verpasste ihm einen erneuten Stich ins Herz. Er legte seinen Kopf auf dem von Mokuba ab und zog dessen Hinterkopf noch näher an seine Brust, bevor er sagte: „Ich weiß, und es tut mir wirklich unendlich leid. Das war wirklich das Letzte, was ich erreichen wollte, glaub mir.“   Für ein paar Minuten standen sie eng umschlungen da, bis Mokuba sich scheinbar langsam ein wenig beruhigte. Noch immer weinte er ein paar Tränen und war dicht an Joey gelehnt, als er sagte: „Tu das nie wieder, hörst du?“   Joey hatte gar nicht gemerkt, wie Seto plötzlich neben ihnen aufgetaucht war. Er streichelte seinem Bruder liebevoll über das Haar, sein Gesichtsausdruck sanft, bevor er erklärte: „Joey ist wieder hier, Mokuba. Es ist alles gut. Und er wird bleiben. Richtig, Joey?“   Erwartungsvoll schaute Seto ihn an, und Joey nickte. Er musste jetzt einfach alle Zweifel zur Seite schieben, auch wenn er sie noch immer hatte. Aber Mokuba hier so leiden zu sehen, das verpasste auch ihm unaufhörliche Wellen des Schmerzes, die durch seinen ganzen Körper gejagt wurden. „Ja“, sagte er, „ich gehe nicht wieder, hörst du, Mokuba? Ich bin hier.“   Eine Weile standen sie noch so da, bis sich Mokuba irgendwann von ihm löste und sich die restlichen Tränen aus den Augen und von den Wangen wischte. Er atmete kurz tief durch, dann nahm er eine von Joeys Hände in seine und sah ihn selbstbewusst an, und nicht zum ersten Mal – und vermutlich auch nicht zum letzten Mal in seinem Leben – fragte er sich, woher der Kleinere so eine immense Willensstärke und Kraft nahm. „Willkommen zuhause, Joey.“   Diese Worte machten den Blonden unheimlich glücklich, aber auch emotional. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden, und er versuchte, dagegen anzukämpfen, indem er ein paar Mal schluckte. Plötzlich merkte er, wie Seto die bisher freie Hand nahm, und Joey spürte ein Gefühl aufkommen, das er in den letzten paar Monaten schmerzlich vermisst hatte – Geborgenheit. Das Gefühl, zu wissen, genau am richtigen Ort zu sein. Und wenn er es nur in dieser Sekunde fühlte, dann würde er es nun in vollen Zügen genießen wollen.   Schlussendlich lösten sie sich voneinander und setzten sich gemeinsam an den Tisch, und schon kurze Zeit später wurde das Abendessen serviert. Während Joey sich noch fragte, wann er wohl das letzte Mal eine so vollwertige Mahlzeit gegessen hatte, fing Seto an zu erzählen, wie sie sich wieder getroffen hatten. Es war noch immer unglaublich für Joey, dass sie tatsächlich am selben Tag, zur selben Uhrzeit am gleichen Ort gewesen waren, nur, weil ihre Intuition sie dorthin geführt hatte. Aber vielleicht hatte Seto tatsächlich recht, vielleicht war es ein Zeichen – dafür, dass ihr gemeinsamer Weg vielleicht schmerzhaft, herausfordernd werden würde, aber dass es diesen Weg nur für sie zusammen gab. Dass sie, wo auch immer sie hingehen würden, immer wieder am selben Ort landen würden.   Dann richtete sich Mokubas Aufmerksamkeit wieder auf Joey und er fing an, den Blonden mit Fragen zu durchlöchern. „Sag mal, Joey, wo warst du eigentlich gewesen? Wo hast du geschlafen? Oh Gott, hast du überhaupt genug gegessen?“   Joey musste aufgrund des Schwalls an Fragen lachen. „Mokuba, eins nach dem anderen.“ Nun lagen auch Setos Blicke neugierig auf ihm, und er wusste, er war ihnen die Antworten mehr als schuldig. Also begann er, zu erzählen. „Ich hatte es Seto vorhin schon gesagt – ich war eine Weile aus der Stadt verschwunden. Die ersten paar Nächte habe ich tatsächlich auf Parkbänken verbracht, bevor ich mir einen Trekkingrucksack gekauft habe, zusammen mit einem Schlafsack und einem Zelt. Beides passte Gott sei Dank genau in den Rucksack, zusammen mit ein wenig Wechselkleidung und einer Wasserflasche. Ich hatte glücklicherweise genug angespart, um mir das alles leisten zu können. Mir war allerdings bewusst, dass meine Ersparnisse irgendwann zur Neige gehen würden und ich wieder eine Arbeit würde finden müssen. Das lag allerdings noch recht weit in der Zukunft, ich habe im Prinzip von Tag zu Tag gelebt. Ich hätte mich so sicherlich ein paar weitere Monate über Wasser halten können. Zum Waschen meiner Kleidung habe ich Waschsalons genutzt, und um mich selbst zu waschen, habe ich Onsen besucht.“   „Und hattest du Kontakt zu irgendwelchen anderen Menschen? Deinen Freunden oder so?“, fragte Mokuba, während er sich einen Löffel voll mit Essen in den Mund schob. Die Frage löste bei Joey erneut Schuldgefühle aus – er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass die anderen sich genauso große Sorgen um ihn gemacht hatten. Dennoch, er wollte offen und ehrlich sein, auch wenn es ihm unangenehm war, jetzt so offen darüber zu sprechen, wie er geplant hatte, Seto möglichst keine Anhaltspunkte für seine Suche zu geben.   „Nicht wirklich, nein. Ich habe allen am Anfang eine Nachricht geschickt, sodass sie Bescheid wussten, aber habe es dabei belassen.“ Er ließ es so vage. Er wusste nicht, wie viel Seto Mokuba erzählt hatte, aber dass er seine Handys und SIM-Karten gewechselt hatte wie seine Aufenthaltsorte, behielt er in diesem Moment lieber für sich.   „Und ehrlich gesagt“, fuhr Joey fort, „hatte ich auch nicht damit gerechnet, so schnell wieder in Kontakt mit anderen zu kommen. Und ich hatte ganz sicher nicht erwartet, Seto so bald wieder zu begegnen und so schnell zurückzukehren.“   Mokuba schob den Teller beiseite, der mittlerweile vollständig leer gegessen war, und hob eine Augenbraue an. „Und warum bist du wieder da?“ Er senkte den Blick, bevor er ergänzte: „Seto hatte mir, kurz nachdem du verschwunden warst, erklärt, warum. Beziehungsweise was du zu ihm gesagt hast. Also, was hat deine Meinung geändert?“   Joey überlegte kurz, was er ihm sagen sollte. Irgendetwas hinderte ihn daran, Mokuba die ganze Geschichte zu erzählen, inklusive der Frage, die Seto ihm gestellt hatte. Es war fast so, als wenn er nicht alle Details preisgeben wollte, um die Intimität, die Seto und er geteilt hatten, nur für sich zu haben. Also beschrieb er es ein wenig oberflächlicher. „Seto. Er hat meine Meinung geändert. Vielleicht hätte er das damals schon, als ich gegangen bin, aber bevor er irgendetwas sagen konnte, war ich auch schon verschwunden.“ Sein Blick schweifte zu Seto, der ihn ein ein wenig wehmütig ansah, doch sofort nach seiner Hand griff. Joey spürte, dass er diese Nähe jetzt brauchte, also drückte er dessen Hand fest, bevor er weitersprach.   „Die Unsicherheit und die Angst, wegen der ich ja schlussendlich gegangen bin, bleibt dennoch. Die wird auch nicht von jetzt auf gleich verschwinden. Aber die Begegnung mit ihm hat mir gezeigt, dass ich bei ihm sein will.“ Dann sah er wieder Mokuba an. „Und bei dir auch, Mokuba. Weil ihr neben meine Schwester und meiner Mum meine Familie seid. Ihr bedeutet mir alles, und es tut mir so leid, dass ich einfach gegangen bin.“   Joey seufzte tief und blickte unfokussiert auf einen Punkt auf dem Esstisch, bevor er fortfuhr. „Wenn ich ganz ehrlich bin, fällt es mir immer noch schwer, selbstsicher in die Zukunft zu blicken, nach allem, was so passiert ist. Ich habe Angst, am Ende doch der Grund zu sein, dass ihr noch mehr leiden müsst, nur, weil ich entschieden habe, bei euch zu sein.“   Daraufhin ergriff Mokuba erneut selbstsicher das Wort. „Aber, Joey, das ist doch nicht allein deine Entscheidung. Wenn es dieses Risiko denn wirklich geben sollte, denn für so groß halte ich es gar nicht, dann sind wir beide mehr als gewillt, es einzugehen. Stimmt’s, Seto?“   Der Brünette nickte. „Absolut. Das ist keine Verantwortung, die du allein zu tragen hast, Joey. Wir entscheiden uns gemeinsam für ein Leben zusammen, und wir tragen alle die Konsequenzen dieser Entscheidung. Wir werden alles teilen, egal was kommt, sei es Glück, Freude, Schmerz oder Angst. Sieh mich an.“   Als Joeys und Setos Augen sich trafen, und während sie sich weiterhin an den Händen hielten, sagte Seto: „Versprich mir, dass du nicht mehr gehen wirst. Dass wir von jetzt an alles gemeinsam durchstehen werden, egal, wie schwer es auch sein mag. Ich weiß, dass uns nicht nur ein Leben in Fröhlichkeit bevorsteht. Die wenigsten Leben werden so aussehen. Aber ich weiß, dass ich, dass wir dieses Leben mit dir verbringen wollen. Komme, was da wolle. Versprich es mir, Joey.“   Joey spürte, wie schon wieder Tränen seine Augen benetzten, und dieses Mal schaffte er es nicht, sie vollständig zurückzuhalten. Als er nickte, bahnte sich eine Einzelne davon den Weg über sein Gesicht und tropfte dann von seinem Kinn auf sein T-Shirt. „Versprochen.“   „Braves Hündchen“, flüsterte Seto lächelnd, während er die Spur der Träne auf Joeys Gesicht mit seinem Daumen nachzog. Dann löste er sich von ihm und sah kurz auf sein Handy. „Ich muss noch schnell was für die Firma erledigen. Joey, kannst du mir eine halbe Stunde Zeit geben und dann erst zurück in unser Apartment gehen?“   Was hatte Seto denn jetzt vor? Was auch immer es war, er kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass er keine Antwort aus ihm rausbekommen würde und im Prinzip auch keine andere Wahl hatte, als einzuwilligen. Also grinste er schief und nickte, und mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange verabschiedete Seto sich, sodass er mit Mokuba allein war.   Joey war froh, dass Mokuba ihr darauffolgendes Gespräch nicht mehr so tiefgründig gestaltete. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt, vor allem darüber, wie es für Mokuba gerade in der Schule lief. Dieses Gefühl von Normalität hatte Joey irgendwie vermisst, und vielleicht ging es Mokuba gerade ganz genauso.   Als die halbe Stunde rum war, verabschiedeten sich die beiden voneinander. Es war spät geworden und Joey spürte die Müdigkeit in seinen Gliedern. Gähnend öffnete er die Tür zu ihrem Apartment und stellte fest, dass Seto noch nicht da war. Vermutlich würde er ihn jetzt noch am ehesten im Arbeitszimmer antreffen können. Er zog seine Jeans aus und warf sie achtlos aufs Sofa, und im Anschluss machte er sich auf den Weg ins Schlafzimmer. Doch noch bevor er sich ins Bett fallen lassen konnte, zog etwas auf dem Schreibtisch seine Aufmerksamkeit an. Neugierig trat er näher – und sah, dass es ein Handy war.   Lächelnd nahm er es in die Hand – das war also Setos Plan gewesen, weshalb er nicht sofort ins Apartment hatte gehen dürfen. Er war dennoch überrascht, wie schnell Seto das organisiert hatte. Na ja, er blieb eben ein Kaiba, und manchmal fragte er sich, ob einem, wenn man mit diesem Namen geboren wurde, auch gleichzeitig Superkräfte übertragen wurden. Amüsiert über diesen Gedanken schüttelte er den Kopf, bevor er ein Déjà-Vu bekam von einem Zeitpunkt von vor ungefähr einem Jahr, als Joey gerade erst bei den Kaibas eingezogen war und Seto ihm mal eben so einen Laptop geschenkt hatte.   Kopfschüttelnd, aber ohne das Grinsen im Gesicht zu verlieren, öffnete er die Verpackung und steckte die beiliegende SIM-Karte hinein. Er startete das Handy und folgte den Anweisungen, bis das automatische Setup irgendwann beendet war. Das Erste, was er tat, war Seto eine Nachricht zu schicken, so, wie er es damals schon nach der Sache mit dem Laptop getan hatte. Er versuchte, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, dann tippte er die Nachricht und schickte sie ab.   ‘Danke fürs Kümmern, aber das ist ein bisschen viel. Ich geb’ dir das Geld wieder, sollte ich in ein paar Wochen zusammen haben.’   Ob Seto die Anspielung wohl verstand? Und wie sollte es anders sein, ploppte keine Minute später schon eine Antwort auf dem Display auf.   ‘Vergiss’ es, Hündchen. Sieh es einfach als Leihgabe an.’   Grinsend setzte sich Joey aufs Bett und starrte die Nachricht minutenlang an, glücklich darüber, dass Seto sofort begriffen hatte, worauf er sich bezogen hatte. Er wusste, dass er nun auch allen anderen würde Bescheid geben müssen, dass er wieder da war, aber es war schon spät und die meisten von ihnen vermutlich schon im Bett. Daher verschob er es auf den folgenden Tag, und das gab ihm auch noch mal etwas Zeit, sich mental auf alles, was da kommen würde, vorzubereiten.   Gerade, als er sich eigentlich schon ins Bett legen wollte, fiel ihm etwas ein. Also stand er nochmal auf, ging zu seiner Jacke und holte die SD-Karte raus. Er steckte sie in den dafür vorgesehenen Slot, und während er wartete, dass das Handy sie erkannte und die Daten geladen hatte, legte er sich ins Bett.   Auf dem Bauch liegend, die Arme mit dem Handy nach vorn ausgestreckt, scrollte er sich durch all die Bilder von Seto und ihm, die er jetzt schon seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Er liebte jedes Einzelne von ihnen, und er wusste auch immer, wann sie welches davon geschossen hatten. Aber sein Lieblingsfoto würde immer das bleiben, das Joey gemacht hatte, als Seto neben ihm friedlich geschlafen hatte, und auch jetzt würde er es wieder als Bild für den Sperrbildschirm und den Hintergrund einstellen.   Joey war so abgelenkt durch die Bilder und all die Erinnerungen, die dadurch ausgelöst wurden, dass er gar nicht mitbekam, wie Seto ihr Apartment betreten hatte. Erst, als dieser zu ihm unter die Decke krabbelte und ihn von hinten umarmte, sich halb auf seinen Rücken legte, registrierte er ihn. Als Joey keine Anstalten machte, sich über Setos Gewicht auf seiner Rückseite zu beschweren, rutschte der Braunhaarige, der sich offensichtlich ohne, dass Joey es irgendwie bemerkt hätte, bereits komplett bettfertig gemacht hatte, noch höher und legte seinen Kopf auf Joeys Schulter ab. Schweigend betrachteten sie die Fotogalerie, die Joey noch immer dabei war, komplett durchzuschauen.   Als Seto anfing, sanfte Küsse auf Joeys Hals zu verteilen, verlor der Blonde jegliche Konzentration. Er ließ die Arme und das Handy sinken, schloss die Augen und genoss die Liebkosungen. Nach einer Weile bewegte Seto seine Lippen ganz nah an sein Ohr und flüsterte ihm zu: „Ich liebe dich, Joey.“   Anschließend legte Seto sich neben den Blonden, und beide drehten sich so auf die Seite, dass sie sich direkt in die Augen sehen konnten. Setos blaue Augen zogen Joey sofort wieder in den Bann. Er hob eine Hand an und strich ihm eine Strähne aus der Stirn, und das Gefühl, ihn endlich wieder berühren zu können, war überwältigend. Er hatte jede Nacht von ihm geträumt, und trotz der Tatsache, dass es nicht immer schöne Träume gewesen waren, war er über jeden von ihnen dankbar. Immerhin war das die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, Seto in den letzten paar Monaten zu Gesicht zu bekommen. Wenn auch nur in seiner Traumwelt.   Sie näherten sich einander an, und als Joey seine Lippen auf die von Seto legte und sanft anfing, sie zu bewegen, explodierte ein ganzes Feuerwerk in seinem Bauch. Er hörte, wie Seto sanft in den Kuss seufzte und zog sich noch etwas näher zu seinem Drachen ran. Jede Stelle, die der Brünette berührte, wurde von einer intensiven Gänsehaut begleitet.   Sie lösten sich voneinander, doch Seto wollte offensichtlich nicht, dass die Liebkosungen schon zu Ende waren. Also streichelte er sanft Joeys Wange, bevor er sagte: „Ich weiß, Mokuba hat dich heute schon komplett mit seinen Fragen gelöchert, und du bist sicher müde, genauso wie ich. Aber darf ich dir noch eine letzte Frage für heute stellen?“   Joeys Gesichtsausdruck sprach offensichtlich Bände, als er sich die letzte große Frage von Seto ins Gedächtnis rief, die er ihm an diesem Tag gestellt hatte. Seto musste lachen und erklärte dann: „Nein, keine Sorge, nicht die. Es ist etwas anderes, etwas, das mich schon die ganze Zeit gewundert hat. Warum hast du deinen Job im Waisenhaus nicht gekündigt? Ich meine, wenn du tatsächlich nicht vorhattest, jemals wiederzukommen, warum dann nicht alle Brücken hinter dir abbrechen?“   Joey, noch immer auf der Seite liegend, stellte seinen Ellenbogen auf und stützte seinen Kopf mit seiner Hand ab, während er über Setos Frage nachdachte. „Gute Frage. Ich habe da, ehrlich gesagt, gar nicht groß drüber nachgedacht. Du hast total recht mit dem, was du sagst. Wer weiß, vielleicht hatte ich unbewusst die Hoffnung, tatsächlich irgendwann wiederzukommen, und habe es deswegen gemacht? Ich musste damals viele Entscheidungen in sehr kurzer Zeit treffen, und das ist dabei rausgekommen. Ich hatte zumindest nicht geplant, so schnell zurückzukommen, aber wie vorhin schon erwähnt, habe ich eher in den Tag hinein gelebt als groß darüber nachzudenken, was ich in Zukunft machen würde.“   Seto nahm Joeys freie Hand und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf den Handrücken, bevor er fragte: „Bereust du es, so schnell wiedergekommen zu sein?“ Der Blonde lächelte und rutschte näher an Seto ran, gab ihm einen kurzen, sanften Kuss auf den Mund. Dann antwortete er: „Nein, tue ich nicht. Das Gespräch vorhin mit dir und Mokuba hat gut getan. Ich weiß nicht, es fühlt sich alles ein bisschen leichter an. Und ich bin auf jeden Fall froh, wieder bei dir zu sein. Ich habe dich sehr vermisst, Seto, wirklich.“   „Und ich dich, Joey“, sagte Seto und zog den Blonden erneut in einen langen, intensiven Kuss. Anschließend zog er Joey fest in seine Arme, und schon wenige Minuten später wurde sein Atem so gleichmäßig, dass es für Joey nicht schwer war, festzustellen, dass er eingeschlafen war. Er musste wirklich erschöpft gewesen sein, und auch Joey spürte die Müdigkeit in all seinen Knochen.   Also schloss auch er die Augen, und während er langsam ins Traumland abdriftete, dachte er erneut über Setos Frage nach, als er ihn gebeten hatte, ihn zu heiraten. Natürlich war es nicht der richtige Zeitpunkt gewesen, aber hätte er einen besseren Zeitpunkt gewählt – hätte Joey dann ja gesagt? Er liebte ihn, mehr als alles andere auf der Welt, und er hatte versprochen, ihn nie wieder zu verlassen. Und er würde sein Versprechen halten. Und möglicherweise würde es in Zukunft mal einen Zeitpunkt geben, der geeigneter für diese besondere Frage wäre – und vielleicht, ganz vielleicht, wäre Joey dann bereit, seine Antwort zu ändern. Mit einem sanften Lächeln schlief nun auch Joey ein, wohlwissend, wieder an der Seite des Mannes zu sein, den er niemals wieder würde verlassen können. Denn selbst, wenn er es wollte – das Schicksal hatte einen anderen Weg für sie vorgesehen. Und sie würden ihn gehen, Hand in Hand, bis zum Schluss und darüber hinaus. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)