Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 32: Rescue me... Stay with me! -------------------------------------- Joey wusste nicht, wie lange er am Ende in diesem Gang gesessen hatte. Die Zeit war wie im Schneckentempo vergangen und stand damit im krassen Gegensatz zu der Geschwindigkeit seines Herzens, das noch immer rasend hinter seiner Brust schlug. Irgendwann war eine Krankenschwester aufgetaucht und hatte ihn untersucht. Er war mental so abwesend gewesen, dass er es einfach hat über sich ergehen lassen. Innerlich war er absolut leer.   Nachdem er alle Emotionen rausgelassen hatte, war nichts mehr übrig geblieben. In seinem Kopf war nur völlige Dunkelheit zurückgeblieben. Diese Dunkelheit breitete sich langsam, Stück für Stück, über seinen ganzen Körper aus, und er wusste, wenn Seto starb, würde sie sein ganzes Leben einnehmen. Es würde keine einzige Lichtquelle mehr zurückbleiben.   Mokuba hatte ihn die ganze Zeit über mit besorgtem Blick beobachtet, das konnte Joey aus dem Augenwinkel heraus sehen. Nach der ausgiebigen Untersuchung hatte die Krankenschwester festgestellt, dass er nicht mehr als einen mentalen Schock erlebt hatte, aber körperlich unversehrt war. Aber was es denn so? Joey konnte dem nicht unbedingt zustimmen. Nichts an ihm war unversehrt. Alles tat ihm weh: Sein Herz hinter seiner Brust wog schwer, die Lungen wie aus Blei, sein Hals so eingeengt, dass er kaum noch Luft bekam. Sein Körper wurde von einer nicht enden wollenden Welle des Schmerzes überzogen, und er konnte absolut nichts dagegen tun.   Die Krankenschwester wollte ihm Beruhigungsmittel geben, aber er lehnte ab – was würde das schon bringen? Was hätte er jetzt davon, wenn sein Herz wieder ruhiger schlagen würde? Das würde Seto auch nicht helfen. Außerdem hatte er das Gefühl, er würde dann mit seiner Aufmerksamkeit noch viel stärker ins Nirwana abdriften, wenn er sich jetzt mit Medikamenten vollpumpen ließe. Allerdings wollte er klar im Kopf sein, sollten sie neue Informationen vom Arzt bekommen, was Setos Zustand betraf, auch wenn Joey noch nicht wusste, wie viel Zeit bis dahin vergehen würde. Oder wie dieser Bericht aussehen würde.   Was würde passieren, wenn Seto starb? Rein objektiv betrachtet würde es vermutlich ziemlich großes Aufsehen geben. Er würde von Journalisten belagert werden, aber keine ihrer Fragen beantworten können, weil er selbst nicht wusste, was eigentlich passiert war beziehungsweise wie sie sich in diese Situation reinmanövriert hatten. Es würde eine Beerdigung geben, vermutlich würde Mokuba ein paar Worte sagen, genauso wie Joey. Und dann wäre es vorbei. Und er stand vor einer Wahl, die er niemals haben wollte: Ein Leben ohne Seto, oder ihre Wiedervereinigung im Jenseits, wie auch immer das aussehen würde.   Die metaphorische Schlinge um Joeys Hals zog sich enger, bis er fast keine Luft mehr bekam. Er wusste, dass es eigentlich nur eine Option gab, wenn es Seto nicht schaffen würde. Wie würde es sich wohl anfühlen, ein drittes Mal auf diesem Hochhaus zu stehen, wohlwissend, dass es nichts und niemanden mehr gab, das oder der ihn retten konnte? Würde Seto ihm dabei zusehen, wo auch immer er sich in diesem Augenblick befand? Wie würde sich der Wind auf Joeys Haut anfühlen, wenn er flog, wenn auch nur für wenige Sekunden? Würde er vornüber fallen wollen, so, wie er es die ersten beiden Male versucht hatte? Nein, dieses Mal würde er anders vorgehen wollen – mit dem Rücken zum Boden, den Blick in den Himmel gerichtet, denn wenn Seto ihm von da oben tatsächlich zusah, dann wollte er ihm dabei in die Augen sehen. Auch wenn das ein wenig unfair wäre – immerhin könnte Seto ihn sehen, andersrum war das aber nicht der Fall.   Wie würde der Himmel aussehen, wenn er es tat? Würde ein Stern besonders hell leuchten, damit Joey wusste, wohin er blicken musste? Oder würde es regnen, wie beim allerersten Mal, und wenn dem so wäre, waren es Setos Tränen darüber, dass Joey nicht den Mut hatte, dieses Leben weiterzuleben? Trotz der überwältigend vielen Fragen wusste er eines ganz sicher: Er würde nicht allein sterben. Er wäre bei ihm, und das gab ihm irgendwie eine besondere Ruhe.    Er erinnerte sich an das erste Mal, damals, als Seto mit dem Hubschrauber aufgetaucht war und ihn mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt hatte. Wie sehr würde er sich wünschen, das würde auch beim dritten Mal passieren, so es denn dazu kommen würde. Dass Seto einfach auftauchen würde, wenn es sein musste, dann eben auch wieder in seiner gewohnt arroganten Kaiba-Art. Und dann würden sie von vorn beginnen. Es gab nichts, was Joey jetzt mehr wollte. Den Reset-Knopf drücken, zurück auf Anfang, zurück zu diesem schicksalhaften Abend des 6. November des Vorjahres, an dem ihre gemeinsame Reise begonnen hatte. Wenn Joey die Chance hätte, das alles noch mal zu erleben, er würde es tun, um alle Fehler, die er auf diesem Weg bisher gemacht hatte, zu korrigieren. Damit sie ein gemeinsames Leben haben konnten. Damit sie für immer zusammen bleiben könnten. Damit sie sich vor nichts fürchten müssten, weil sie die Gewissheit hatten, dass nichts und niemand sie jemals würde trennen können.   Joeys ganzer Körper krampfte sich zusammen und er konnte nur mit Mühe und Not ein Schluchzen unterdrücken. Wie dumm von ihm. Alle seine Gedanken waren einfach nur dumm. Natürlich würde er diese Möglichkeit niemals haben. Wenn Seto starb, dann würde sein Weg dort auch enden. Er hätte nicht die Kraft, ein Leben zu leben, in dem es ihn nicht mehr gab. Er hatte ja sowieso erst mit ihm und durch ihn einen Überlebenswillen entwickelt. Und wenn er verschwand, einfach so, dann würde sich auch dieser in Luft auflösen.   Ja, er wüsste, was in dem Moment zu tun wäre. Aber noch stand nichts fest, noch konnte er hoffen. Er musste einfach versuchen, sich an diesen winzigen Funken Hoffnung zu klammern, mehr blieb ihm auch eigentlich nicht übrig. Er musste sich dem beugen, was auch immer kam, auch wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass die Liebe seines Lebens bei ihm bleiben würde. Aber darauf hatte er keinen Einfluss. Nicht mehr.   Als die Krankenschwester längst gegangen war, hörte er Mokuba irgendwann neben sich seufzen – und Joeys schlechtes Gewissen, das er bisher nur in Bezug auf Seto gehabt hatte, erweiterte sich nun auch auf Mokuba. Verdammt, Joey war so sehr mit seinem eigenen Schmerz beschäftigt gewesen, dass er total ausgeblendet hatte, wie es Mokuba jetzt gehen musste, und das verpasste ihm einen erneuten Stich ins Herz.   Er sah zu Mokuba rüber. Der Kleinere wirkte erschöpft, und wer konnte es ihm verübeln? Er saß links neben ihm, vornübergebeugt, die Unterarme auf den Oberschenkeln abgestützt, den Blick gesenkt. Er weinte nicht, aber sein angespanntes Gesicht offenbarte ganz deutlich, wie es in seinem Inneren gerade wohl aussehen mochte.   Wieder holten die Gewissensbisse Joey ein, und als er spürte, wie die Tränen zurückkamen, musste er sich abwenden. Er biss sich auf die Unterlippe, bis er den metallischen Geschmack seines Blutes auf seiner Zunge spürte. Erst dann ließ er wieder davon ab.   Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgendwas. „Mokuba, es... tut mir so leid...“, sagte Joey, weil es das Erste war, was ihm eingefallen war, und konnte nicht verhindern, dass er erneut zu schluchzen anfing. Mit den Handballen verdeckte er seine Augen, er schaffte es einfach nicht, Mokuba jetzt direkt ins Gesicht zu schauen. Was war er nur für ein elender Feigling. Sein Mund verzog sich und er kämpfte mit aller Kraft dagegen an, unkontrollierbar loszuweinen.   Dann nahm er ein erneutes Seufzen von Mokuba wahr, und kurze Zeit später auch seine Stimme, als er sagte: „Joey, es ist nicht deine Schuld, hörst du?“ Erst in diesem Moment realisierte Joey, dass Mokuba ja rein gar nichts von den Briefen wusste. Der Blonde bekam Angst. Wenn er es wüsste, würde er ihn dann hassen? Dafür, dass er selbst nicht genug unternommen hatte, und das jetzt der Grund war, warum Seto vielleicht nicht mehr lange zu leben hatte?   Er musste es auf einen Versuch ankommen lassen. Der Kleinere hatte die Wahrheit verdient. Joey ließ den Kopf hängen und seine Haare fielen ihm so ins Gesicht, dass er kaum mehr etwas sehen konnte. Er verschränkte seine Hände in seinem Schoß, den Blick auf die verkeilten Finger gerichtet, dann erzählte er Mokuba von den Briefen, und danach auch von dem Angriff.    Wieder überkam ihn das Gefühl, dass er jetzt anstelle von Seto auf dem OP-Tisch liegen sollte. Er hatte es nicht verdient, hier zu sitzen und frei atmen zu können. Er sollte sterben, nicht Seto, nicht der Mann, der so eine glorreiche Zukunft vor sich hatte. Was war sein eigenes Leben schon wert? Es wäre kein großer Verlust für die Menschheit, wenn Joey nicht mehr da wäre, ganz im Gegensatz dazu, wie es wäre, wenn Seto plötzlich verschwinden würde. Joeys Leben war nicht mehr als das einer Eintagsfliege, die völlig ziel- und planlos durchs Leben glitt, ein Leben, das kaum geringere Wichtigkeit haben konnte. Es war Seto, der diesem Leben überhaupt erst eine Bedeutung gab. Ohne ihn wäre es absolut sinnlos.   Nach Joeys Monolog war es für eine Weile still. Was vermutlich nur Minuten waren, kam Joey wie Stunden vor. Er sah erst wieder hoch, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte – Mokubas Hand. Er sah nun zu ihm auf, und Mokubas Gesichtszüge zeigten, entgegen all seinen Erwartungen, keine Wut. Nein, sie waren eher sanft, auch wenn er seine Trauer über die Geschehnisse nicht verbergen konnte. Aber das war auch keine große Überraschung für Joey.   „Ich weiß, dass mein Bruder ein ziemlicher Dickkopf sein kann, Joey. So, wie ich es verstanden habe, hast du ja versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.“   „Ja, aber es war nicht genug! Ich hätte noch mehr tun sollen! Ich hätte wissen sollen, dass das schlimm endet!“ Gerade, als Joey wieder wie ein Häufchen Elend in sich selbst und seinem Selbstmitleid zusammensinken wollte, stellte sich Mokuba vor ihn hin, griff ihn an beiden Schultern und drückte ihn hoch, sodass der Blonde dem Kleineren nun endlich doch ins Gesicht sehen musste. Sein Blick war ein wenig wütend – ja, genau das hatte Joey auch erwartet. Und verdammt noch mal, er sollte wütend sein. Joey hatte es wirklich verbockt, und wenn er könnte, er würde alles dafür geben, diesen Fehler rückgängig zu machen. Doch jetzt war es zu spät.   Plötzlich fing Mokuba an, Joey zu schütteln, bevor er in bestimmendem Tonfall sagte: „Joey. Lass es mich ganz deutlich sagen: Es. Ist. Nicht. Deine. Schuld! Weißt du, wer an dem Ganzen hier die Schuld trägt? Die Person, die auf meinen Bruder geschossen hat, und nur diese! Und es ist mir egal, wie wir es anstellen, aber wir werden diesen Mann zur Rechenschaft ziehen, komme, was da wolle!“   Verblüfft blickte er Mokuba an. Es war erstaunlich, wie ähnlich er Seto war. Es war nicht das erste Mal, dass er das feststellte, und vermutlich würde es auch nicht das letzte Mal sein, aber es war beeindruckend. Es war für ihn vermutlich ebenso der schwerste Tag in seinem bisherigen Leben, aber er bewies eine Stärke, die Joey so niemals haben würde. Es war beneidenswert.   Mokuba setzte sich zurück auf den Stuhl neben ihn, überkreuzte die Arme und wirkte gedankenverloren. Dann fragte er, den Blick auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand gerichtet: „Weißt du, wer der Angreifer war?“   Joey überlegte für einen Moment. Vor seinem inneren Auge erschien wieder die dunkle Gestalt, die ihnen vor dem Café aufgelauert hatte. Nichts an ihm kam Joey bekannt vor, auch nicht seine Stimme. Wer nur war dieser Mann, und warum hatte er sie überhaupt angegriffen? Er spürte, wie Wut und Verzweiflung in ihm aufkamen. Warum hatte Joey ihn nicht aufgehalten, als er es noch gekonnt hatte? Dieser verdammte Mistkerl...   Mit zu Fäusten geballten Händen beantwortete er Mokubas Frage. „Nein, aber ich glaube, Seto hat ihn erkannt. Zumindest kam es mir so vor. Sie schienen sich auf jeden Fall zu kennen, ich weiß aber nicht, woher. Fällt dir jemand ein, mit dem Seto in letzter Zeit Stress gehabt hat?“   Mokuba schnaufte verächtlich, bevor er antwortete: „Wie viel Zeit hast du? Die Liste ist lang. Und es könnte vermutlich jeder von ihnen sein.“ Er seufzte. „Ich fürchte, wir müssen darauf hoffen, dass Seto es schafft und uns hoffentlich mehr erzählen kann.“   In dem Moment schien Mokuba die Situation erst richtig bewusst zu werden. Dass Setos Leben gerade auf Messers Schneide stand. Joey konnte sehen, wie seine Augen sich plötzlich weiteten, wie seine Unterlippe anfing zu beben, kurz bevor die ersten Tränen über seine Wangen kullerten. Er musste jetzt stark sein für ihn, so wie Mokuba es gerade für ihn gewesen war.   Er zog den Kleineren in eine Umarmung, und für einige Minuten schluchzte Mokuba hemmungslos an seiner Brust. Danach wurde es ganz still. Jeder hing seinen Gedanken nach. Aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten wurden Stunden, und Joey konnte die Müdigkeit in allen Gliedern fühlen, aber er kämpfte gegen sein natürliches Bedürfnis nach Schlaf an, so gut es eben ging. Er konnte nicht riskieren, nicht wach zu sein, wenn sie erfahren würden, wie die OP ausgegangen war.   Als die ersten Sonnenstrahlen den nächsten Tag ankündigten, öffnete sich die Tür und ein Arzt trat hinaus. Er war kurz überrascht, Mokuba zu sehen, aber er fasste sich schnell wieder. Auch er sah erschöpft aus, was nicht überraschend war. Die OP hatte viele Stunden gedauert.   Kaum hatte Joey den Arzt entdeckt, sprang er auf. „Wie geht es ihm? Ist er...“ Er traute sich nicht, die Frage zu Ende zu stellen, doch er sah den Arzt nicken, und für eine Sekunde machte sich Erleichterung in ihm breit. Zumindest, bis der Arzt erklärte: „Ja, wir konnten Mr. Kaiba erfolgreich operieren. Er hatte großes Glück – es wurden keine großen Blutgefäße getroffen, sonst hätte er vermutlich nicht gerettet werden können. Er hat dennoch eine Menge Blut verloren. Deswegen...“   Für einen Moment sah er ein wenig unsicher zwischen ihnen hin und her. Joey verstand überhaupt nicht, was er andeuten wollte und eine erneute Welle von Panik erfasste ihn. „Was ist passiert? Was ist mit ihm?“   Der Arzt seufzte, dann erklärte er weiter: „Deswegen mussten wir ihn in ein künstliches Koma legen. Das ist mehr oder weniger eine Vorsichtsmaßnahme und dazu gedacht, ihn zu stabilisieren und seinen Körper zu entlasten. Ich kann noch nicht genau sagen, wie lange wir das Koma aufrecht erhalten müssen, weil es sehr darauf ankommt, wie gut er sich erholt. Ich gehe aber zumindest von einigen Tagen aus, gegebenenfalls können es auch Wochen sein. In seltenen Fällen können es auch Monate sein, davon würde ich zunächst aber nicht ausgehen, basierend auf seinen Verletzungen.“   Joey und Mokuba waren gleichermaßen geschockt. „Und... und was bedeutet das jetzt? Was passiert jetzt?“, fragte Joey, und in seinem Kopf herrschte das reinste Chaos. War Seto noch in Lebensgefahr? War es noch nicht vorbei? Wann würde er ihn sehen dürfen?   Seine konfusen Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als der Arzt antwortete: „Nun, wir können zunächst erst mal nur abwarten. Er braucht jetzt vor allem eines, nämlich Ruhe. Aber Sie dürfen ihn auch besuchen, das könnte sogar helfen.“   Joey spürte sofort die Erleichterung. Er würde ihn wiedersehen. Oh Gott, Seto war noch da. Er war nicht einfach aus seinem Leben verschwunden. Er wusste zwar nicht, was er jetzt genau von der nächsten Zeit erwarten konnte, aber zumindest hatte Seto überlebt. Das war schon mehr, als er noch vor wenigen Minuten zu hoffen gewagt hatte. Mit einer Hand musste er sich an einer nahegelegenen Wand abstützen, um nicht umzufallen. Für einige Momente musste er tief durchatmen, während einzelne Tränen dem Gefühl der Befreiung in ihm Ausdruck verliehen. Erst, als er spürte, wie Mokuba seine freie Hand nahm, vermutlich, weil er selbst gerade auch ein wenig mehr Kraft brauchte, sammelte sich der Blonde wieder.   „Kann er uns denn hören, wenn wir mit ihm sprechen?“, fragte Joey den Arzt, der sich anschließend nachdenklich am Hinterkopf kratzte. „Möglicherweise. Es gab schon Patienten, die sich an etwas erinnern konnten, das während des Komas passiert war, auch wenn das selten ist. Erwarten Sie allerdings keine Reaktion darauf.“   „Und wie sind die Heilungschancen?“, stellte nun Mokuba eine Frage, wenn nicht sogar die wichtigste von allen. Joey hatte das Beben in seiner Stimme bemerkt, und auch Joeys Körper wurde vollgepumpt mit Adrenalin und ließ ihn zittern. Er spürte, wie Mokubas Händedruck sich verstärkte, und Joey tat es ihm gleich. Der Blonde hatte es die letzten Stunden vollkommen ausgeblendet, war quasi nur mit sich beschäftigt gewesen, aber jetzt wusste er, er war nicht allein. Genauso wenig wie Mokuba. Sie würden das gemeinsam durchstehen, denn was auch immer kommen mochte, sie würden sich gegenseitig Kraft geben können. Joey würde es nur zulassen müssen, oder er würde in seinem Schneckenhäuschen einsam und allein verrotten.   Als der Arzt wieder das Wort ergriff, verlagerte sich Joeys Aufmerksamkeit von Mokuba auf den Mann im weißen Kittel. „Die schätze ich gut ein. Sobald Mr. Kaiba sich stabilisiert hat, werden wir die Aufwachphase einleiten, erst danach wissen wir mehr. Darüber kläre ich Sie dann auf, wenn es so weit ist, ich denke, für den Moment ist es für Sie wichtig zu wissen, dass er lebt und es ihm den Umständen entsprechend gut geht, auch wenn er noch sehr schwach ist. Er wird jede notwendige Versorgung bekommen. Gehen Sie nach Hause, für heute sollte er sich erst mal schonen.“   Der Arzt verabschiedete sich, und während sie dem Mann hinterher sahen, der Seto das Leben gerettet hatte, konnten sich beide für einige Sekunden nicht bewegen. Zeitgleich wandten sie sich einander zu und alle Dämme brachen zusammen. Joey zog Mokuba in eine innige Umarmung, und sie weinten alle Tränen der Erleichterung, die ihr Körper hergeben wollte. Erst, als ihr Schluchzen vollständig versiegt war, lösten sie sich wieder voneinander und verließen gemeinsam das Krankenhaus.   Sie gingen zurück in die Villa, auch wenn Joey nichts lieber wollte, als bei Seto zu sein, aber er wusste, es ging gerade nicht und dass er die Ruhe jetzt wirklich bräuchte. Irgendwie schaffte er es, den Tag rumzubringen, auch wenn er nichts weiter tat, als im Bett zu liegen und Löcher in die Luft zu starren. Als es Nacht wurde, stellte er fest, dass es sich ziemlich ähnlich anfühlte zu damals, als sie für kurze Zeit getrennt gewesen waren. Nur, dass er es dieses Mal war, der in der Villa schlief, nicht Seto. Joey drehte sich auf die Seite und blickte auf den leeren Platz neben ihm. Es war so einsam ohne seinen Drachen an seiner Seite. Er streckte seinen Arm aus und streichelte sanft über die Stelle, auf der Seto sonst immer lag. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er wäre da. Träumte davon, wie Seto seine Hand nahm und sie zärtlich küsste. Wie er ihn in eine Umarmung zog und ihm sanft über den Rücken streichelte. Wie er ihm ins Ohr flüsterte, wie sehr er ihn liebte.   Und noch während er an das Paar eisblauer Augen dachte, wurde er von der Erschöpfung in Besitz genommen. Sein Körper gab sich nun endlich dem Bedürfnis nach Schlaf hin, den er die letzten zwei Tage nicht bekommen hatte. In dieser Nacht träumte Joey von all den schönen Momenten mit Seto aus den vergangen letzten Monaten – und er hoffte, dass sie die Chance bekommen würden, noch mehr positive Erinnerungen zu machen.   Die nächsten Tage sahen für den Blonden eigentlich immer gleich aus. Joey ging jeden Tag zu Seto ins Krankenhaus. Mokuba hatte in der Zwischenzeit Gott sei Dank dafür gesorgt, dass die Paparazzi von ihrem Sicherheitspersonal in Schach gehalten wurden, sodass er die meiste Zeit ungestört bei Seto verbringen konnte. Sowieso hatte Mokuba sich um erstaunlich viel gekümmert, weil Joey mitunter so apathisch war, dass er selbst kaum ansprechbar war. Das Einzige, was Joey in den letzten Tagen zustande gebracht hatte, war, dem Waisenhaus Bescheid zu geben und zu erklären, was passiert war. Mrs. Nakamura war außerordentlich verständnisvoll gewesen – sie hatte es selbst auch schon in den Nachrichten gesehen – und hatte ihm gesagt, er solle sich alle Zeit nehmen, die er bräuchte. Er war unheimlich dankbar dafür, weil er sich gerade absolut nicht im Stande sah, seiner Arbeit so nachzugehen, wie er es von sich selbst erwarten würde.   Als er Seto das erste Mal auf dem Krankenbett gesehen hatte, einen Tag nach seiner OP, war Joey mehr als geschockt gewesen. Er hatte blass ausgesehen, so als wäre ihm jegliches Leben aus den Adern gesaugt worden. Überall an seinem Körper waren Schläuche und Kabel befestigt. Er trug eine Atemmaske, die an ein entsprechendes Beatmungsgerät angeschlossen war. Eine Magensonde und ein Tropf mit Infusionen stellte die Nährstoffversorgung sicher. Die Ärzte hatten Joey außerdem erklärt, dass er von einer Kühldecke bedeckt wurde, um die Körpertemperatur zu senken. Dadurch würde der Stoffwechsel verlangsamt und der Sauerstoffverbrauch vermindert, sodass der Körper mehr eigene Reserven hatte beziehungsweise diese nicht aufgebraucht werden müssten, was zu einer weiteren und hoffentlich schnellen Erholung beitragen würde.   Im ersten Moment hatte er ihn kaum anschauen können, weil sein Anblick kaum auszuhalten gewesen war. Erst am zweiten Tag nach der OP hatte er angefangen, mit Seto zu reden, weil er vorher auch einfach nicht gewusst hatte, was er hätte sagen sollen. Bis er einfach drauf losgeredet hatte, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Er war nicht sicher, ob Seto auch nur ein Wort von dem, was er sagte, mitbekam, aber vielleicht half es ja trotzdem etwas.   Nun war es der vierte Tag nach der OP, und Joey hörte sein Handy vibrieren, während er neben Setos Bett auf einem Stuhl saß. Der Blonde warf einen Blick auf das Handydisplay und erkannte, dass er eine Nachricht von seinen Freunden hatte – schon wieder. Sie hatten die letzten Tage immer wieder versucht, ihn über sämtliche Kanäle zu erreichen, aber Joey hatte sich ziemlich bedeckt gehalten. Er hatte kurz eine Nachricht geschickt und erklärt, was passiert war, auch wenn sie es sicherlich ebenfalls schon durch die Nachrichten mitbekommen hatten, war mit sonstiger Kommunikation aber unheimlich sparsam umgegangen. Er hatte einfach nicht die Kraft gehabt, zu antworten. Er machte nachts kaum mehr ein Auge zu und war ansonsten jede freie Minute bei Seto. Die Ärzte hatten ihm zwar gesagt, dass es stetig bergauf ging und er sich immer und immer weiter stabilisierte, aber dass er hier so hilf- und wehrlos lag, war für Joey dennoch kaum zu ertragen.   In diesem Moment vibrierte das Handy erneut, allerdings deutlich länger, und Joey erkannte dann auch, warum: Yugi rief ihn an. Mit einem Seufzen erhob er sich von seinem Stuhl und verließ – wenn auch widerwillig – den Raum, um Seto die nötige Ruhe zu geben, die er brauchte. Auf dem Gang angekommen, zog er die Tür hinter sich zu und nahm den Anruf an.   „Hey, Yugi“, begann Joey, „entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe. Es war einfach... ein bisschen viel auf einmal.“   „Hey, Joey. Bitte mach dir keine Gedanken, das verstehen wir schon. Wir... wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wir sind vor dem Krankenhaus, aber wir wurden nicht durchgelassen, weil nur enge Angehörige zu euch dürfen.“   „Ihr seid hier?!“ Joey war auf der einen Seite unheimlich überrascht. Er hatte gedacht, dass Yugi längst auf dem Weg zu seinem Turnier in die USA war, aber möglicherweise hatte er da auch was durcheinandergebracht. In seinem Kopf herrschte momentan sowieso ein Krieg der Gedanken, wundern würde es ihn daher nicht. Und auf der anderen Seite war er tatsächlich auch froh, dass sie hier waren, also entschied er sich, wenn sie schon mal da waren, wenigstens kurz ‚Hallo‘ zu sagen.   Joey verließ das Krankenhaus durch den Vordereingang und wurde sofort von besorgten Mienen begrüßt. Er umarmte seine Freunde, und als sie sich wieder voneinander lösten, fragte Yugi: „Wie geht es dir?“   Joey seufzte laut. Das war die Frage aller Fragen, und das in einem Satz zu beschreiben, fiel ihm wirklich schwer. Aber er wusste, er war ihnen eine Antwort schuldig, also versuchte er, so gut es eben ging, eine Antwort zu formulieren. „Na ja, den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Es gibt nicht viel, was ich tun kann. Ich rede mit Seto, aber ich habe keine Ahnung, ob er mich überhaupt wahrnimmt.“   „Und wie geht es Kaiba?“, fragte Téa, und ihr Gesichtsausdruck hatte nicht an Sorge eingebüßt. Joey wandte sich ihr zu und erwiderte: „Er liegt noch immer im Koma, aber die Ärzte sagen, es geht bergauf und dass er sich tatsächlich schneller erholt als gedacht.“   „Er ist eben ein Kaiba, oder? Als ob ein Kaiba jemals was in halber Geschwindigkeit gemacht hätte“, warf Tristan ein, und seine Mundwinkel zogen sich in ein leichtes Grinsen. Und tatsächlich übertrug sich dieser Anflug von Belustigung auch auf Joey und den Rest der Gruppe, wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Das konnte Tristan immer schon gut, die unangenehme Anspannung aus Situationen rauszunehmen. Und auch wenn seine Witzchen in solchen Momenten durchaus auch unangebracht sein konnten, so war Joey jetzt doch froh um Tristans Gabe.   „Gibt es etwas, das wir tun können, Joey?“, fragte Yugi und auch alle anderen Blicke waren nun wieder erwartungsvoll auf den Blonden gerichtet. Joey zuckte mit den Schultern, als er antwortete: „Ich denke nicht. Es bleibt nicht viel mehr als abwarten, schätze ich.“   „Aber wenn was ist, ruf uns bitte an, ja? Selbst, wenn nichts ist. Wir sind deine Freunde, und egal, was kommt, wir halten zusammen.“ Yugi verlieh seinen Worten mit einem entschlossenen Blick noch mehr Ausdruck. Joey lächelte für den Bruchteil einer Sekunde. Er war wirklich froh, dass er die Kraft gefunden hatte, jetzt mit seinen Freunden zu sprechen. Er hatte in den letzten Tagen wieder viel zu viel Zeit in seinem eigenen Kopf verbracht, und Joeys Freunde schafften es wieder mal aufs Neue, ihn aus seinem Schneckenhaus herauszulocken.   Er nickte ihnen zu, bevor sie sich voneinander verabschiedeten und Joey zurück zu Seto ins Krankenhaus ging. Er atmete noch ein Mal tief durch, bevor er die Tür zu Setos Zimmer öffnete und hindurchschlüpfte. Die Sonne schien mit voller Kraft durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, und Setos Gesicht wirkte durch die Sonnenstrahlen unheimlich sanft, fast so, als würde er einfach nur schlafen. Aber das ständige Piepsen der Geräte und alle Vorrichtungen im Raum machten deutlich, dass dem nicht so war.   Seufzend ließ sich Joey erneut auf den Stuhl neben Setos Bett nieder. Er nahm seine Hand und fing an, darüber zu berichten, worüber er sich gerade mit seinen Freunden unterhalten hatte, und als er erwähnte, dass sie sich auch um ihn ein wenig Sorgen gemacht hatten, musste er unwillkürlich lächeln. Joey konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Seto jetzt darauf reagieren würde.   Doch das Lächeln war schnell wieder verflogen. Er sah zu Seto hinab und konnte nicht verhindern, dass er wieder traurig wurde. Der Braunhaarige hatte sich in den letzten Tagen keinen Zentimeter bewegt. Es gab nicht mal ein Flackern der Augenlider. Nichts deutete darauf hin, dass er noch lebte, außer die Zahlen und Linien auf den Monitoren, die seine Vitalwerte erfassten.   Mit langsamen Bewegungen strich Joey über Setos Hand und erinnerte sich, dass es gut wäre, mit ihm zu sprechen. Was könnte er erzählen? Es gab eigentlich nichts, was er ihm nicht schon gesagt hätte. Er wusste so ziemlich alles über ihn. Doch da kam ihm plötzlich eine Idee, und er ließ den Gedanken einfach freien Lauf.   „Das erste Mal in meinem Leben, das ich dich gesehen habe, war bei der Einführungsveranstaltung in der Oberschule. Ich hatte keine Ahnung, dass du damals schon so viel Verantwortung über deine eigene Firma hattest. Ich weiß nur noch, dass du ziemlich distanziert gewirkt hast. Um mich schwirrten schon am ersten Tag andere Menschen herum wie die Motten um das Licht, aber du warst immer allein. Ich glaube, bei der Zeremonie war Mokuba auch irgendwo, und ich kann mich erinnern, dass er der Einzige war, der dir näher gekommen ist. Mir war es damals gar nicht so bewusst, aber heute weiß ich, dass meine Augen dich verfolgt haben. Ich wollte wissen, warum du so bist, wie du bist. Warum du so distanziert wirkst. Warum du immer allein bist. Irgendwie hast du mich damals schon fasziniert, auch wenn ich das bis vor wenigen Monaten niemals, niemals laut ausgesprochen hätte.“   Joey lachte. „Tja, und dann hast du dich die restlichen drei Jahre wie der größte Arsch der Nation benommen. Jedenfalls bis zu dem Tag, der eigentlich mein Ende sein sollte. Und dann doch mein Anfang war.“   Mit einem liebevollen Gesichtsausdruck schaute er Seto an. Noch immer keine Reaktion. Joey hoffte wirklich sehr, dass irgendwas, wenn auch nur ein ganz kleines Bisschen, zu Seto durchdringen würde. Aber selbst, wenn die Chancen gering waren, er würde nicht aufhören zu reden. Bis er wieder vollständig zu ihm zurückgekehrt war.   Als er gerade wieder ansetzen wollte, klopfte es an der Tür und Mokuba trat ein. Mit einem Nicken begrüßten sich die beiden, und Mokuba zog sich einen weiteren Stuhl heran und setzte sich neben Joey. Den Blick auf Seto gerichtet, fragte er: „Wie geht es ihm?“   Joey, der noch immer Setos Hand fest in seiner eigenen hielt, erwiderte: „Unverändert.“ Mehr gab es dazu eigentlich auch nicht zu sagen. Auch Mokuba war jeden Tag ins Krankenhaus gekommen und hatte selbst gesehen, wie wenig passiert war. Aber tief in ihrem Inneren gaben sie die Hoffnung nicht auf, dass er es schaffen würde.   Just in diesem Moment klopfte es erneut und Setos Arzt betrat das Zimmer, den Blick auf das Klemmbrett in seiner Hand gerichtet. Der Arzt begrüßte sie kurz, bevor er Setos Werte auf den Monitoren ablas und auf dem Klemmbrett notierte. Dann sah er Joey und Mokuba entschlossen ins Gesicht, bevor er verkündete: „Ich denke, es ist an der Zeit, ihn aufzuwecken. Sein Körper hat sich in den letzten Tagen erstaunlich schnell erholt und stabilisiert.“   Joeys Augen weiteten sich und er wurde von seinen Gefühlen überwältigt. Überraschung vermischte sich mit Freude und sofort begann sein Herz zu rasen. Ihm schossen eine Million Fragen durch den Kopf, doch bevor er auch nur eine davon verbalisieren konnte, sagte der Doktor: „Der Aufwachprozess kann einige Stunden dauern. Wir werden Stück für Stück die Narkosemittel reduzieren, sodass der Körper von Mr. Kaiba langsam wieder selbstständig die Kontrolle über alle Körperfunktionen übernimmt, bis er wieder zu vollem Bewusstsein gelangt. Zumindest für die Anfangsphase müsste ich Sie beide leider aus dem Raum bitten.“   Joey nickte und erhob sich von seinem Platz. Er sah zu Mokuba rüber, der irgendwie nachdenklich wirkte, dann jedoch ebenfalls aufstand und den Arzt fragte: „Können wir denn in ein paar Stunden wieder zurückkommen?“   Der Arzt nickte. „Ja, nur die nächsten ein bis zwei Stunden besser nicht. Danach sollte es kein Problem mehr sein.“   Ohne lange zu überlegen und mit selbstsicherem Blick schaute Mokuba nun Joey an. „Joey, sollen wir zu einem Schrein gehen und unsere Wünsche aufschreiben? Heute ist doch das Tanabata-Fest. Und danach kommen wir wieder her.“   Das Tanabata-Fest... stimmt, heute war der 7. Juli. Moment, der 7. Juli? Verdammt. Er hatte im Eifer des Gefechts total ausgeblendet, dass Mokuba heute Geburtstag hatte.   „Mokuba, tut mir total leid, dass ich deinen Geburtstag vergessen habe, ich...“   Mokuba grinste schief, als er ihn unterbrach: „Joey, bitte, es gibt gerade wirklich Wichtigeres. Ich werde noch so viele Geburtstage in meinem Leben haben. Mach dir keinen Kopf. Komm, lass uns gehen.“ Sie nickten dem Arzt zum Abschied zu und verließen anschließend gemeinsam das Krankenhaus.   Beim Schrein angekommen, stellte Joey sofort fest, wie voll es war. Himmel und Menschen waren unterwegs, um ihre Wünsche aufzuschreiben und zu beten. Worum sie die Götter wohl bitten würden? Was war es, dass sich die anderen Menschen wünschten? Was trieb sie um?   Joey richtete seinen Blick für einen Moment in Richtung Himmel. Er war strahlend blau, es war nicht eine Wolke zu sehen. Es war ein ziemlich heißer Tag, aber wenn man im Schatten stand, war es einigermaßen auszuhalten. Ab und zu sah er mal ein paar Zettel durch die Lüfte fliegen, vermutlich Wünsche, die vom leichten Wind weggeweht wurden. Dass das Wetter so gut war, war auch ein gutes Vorzeichen. Und es gab Joey Hoffnung, dass am Ende alles gut werden würde.   Für Joey war klar, was er als seinen Wunsch aufschreiben würde. Es gab nichts, das er mehr wollte, als dass Seto aus dem Koma erwachen und es ihm gut gehen würde. Dass er es schaffen würde. Joey brauchte jetzt mehr denn je seinen Optimismus, denn er wusste, dass er für Seto da sein musste, sobald dieser wieder bei vollem Bewusstsein war.   Also schrieb der Blonde seinen Wunsch auf den entsprechenden Zettel und hängte ihn an einen der Bambusbäume. Für einen Augenblick schloss er die Augen und brachte beide Handinnenflächen vor dem Gesicht zusammen. In einem letzten Gebet bat er die Götter inständig, Seto wieder gesund zu ihm zurückkehren zu lassen. Er würde jedes Opfer bringen, wenn er ihn nur nicht verlieren würde.   Joey öffnete seine Augen erneut und sah, dass Mokuba mittlerweile auch einen Wunsch an den Baum geklemmt hatte, und er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass sich ihre Wünsche nicht sonderlich voneinander unterschieden. Im Anschluss machten sie sich gemeinsam auf den Rückweg ins Krankenhaus, und Joeys Nervosität stieg von Minute zu Minute, weil er nicht so richtig einschätzen konnte, was ihn erwarten würde.   Zurück im Krankenhaus gingen sie zielgerichtet in Setos Zimmer. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, konnte der Blonde sehen, dass sein Beatmungsgerät bereits entfernt worden war, sodass er wieder selbstständig atmen konnte. Den Monitoren nach zu urteilen, war seine Körpertemperatur schon wieder einigermaßen angestiegen und er bekam auch wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Wach war er allerdings noch nicht.   In den Stunden darauf saßen Joey und Mokuba mehr oder weniger schweigend an Setos Bett, während um sie herum ständig Ärzte oder Krankenhauspersonal zugange waren. Als es Abend wurde, wurde das Licht gedimmt, doch Joey kam überhaupt nicht auf die Idee, den Raum zu verlassen. Er würde hier nicht weggehen, bis Seto wieder bei Bewusstsein war, und ein Blick auf Mokuba ließ ihn vermuten, dass dieser es ähnlich sah.   Noch immer hielt Joey Setos Hand – und als diese sich plötzlich bewegte, wenn auch nur ganz leicht, erschrak Joey, ließ sogar einen kurzen, piepsigen Schrei aus. Der Blonde wusste gar nicht so richtig, was er machen sollte, weil er so überrumpelt worden war. Also beobachtete er nur, genauso wie Mokuba und Setos Arzt, und alle Augen waren auf den Brünetten gerichtet, der langsam aus seinem Tiefschlaf zu erwachen schien.   Seto blinzelte immer mal wieder, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er vollständig zu sich kam und die Augen vollständig öffnen konnte. Als er die eisblauen Augen seines Freundes sah, zum ersten Mal seit Tagen, wurden seine eigenen Augen feucht und er begann leicht zu zittern. Er rutschte mit dem Stuhl noch näher an Setos Bett, die Hand noch immer auf die des Brünetten gelegt, und flüsterte: „Seto...“ Seine Stimme war leise und zittrig, aber dennoch laut genug gewesen, dass Seto es gehört haben musste.   Und dann sah er ihn an. Eisblau traf auf Goldbraun. Die Spannung im Raum war zum Zerreißen gespannt, jeder wartete ab, was passieren würde. Doch dann runzelte der Braunhaarige die Stirn, und seine ersten, heiseren Worte seit Tagen hallten noch Sekunden danach in dem ansonsten stillen Raum wider:   „Wer bist du?" Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)