Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 23: Don't rescue me --------------------------- Vorsichtig klopfte er an Setos Bürotür und öffnete sie. Der Raum war dunkel und verlassen. Sie hatten sich hier verabredet, um gemeinsam loszugehen, aber Seto schien irgendwohin verschwunden zu sein.   Joey schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Er verschränkte seine Arme vor seinem Körper und seufzte hörbar auf. Schon Wahnsinn, wie schnell sechs Monate vergehen konnten. Sechs Monate im Vergleich zu einem ganzen Leben kamen ihm so kurz vor, so wenig Zeit, und doch mehr als genug, um ihn grundlegend zu verändern. Er war nicht mehr der impulsive, aufbrausende, sich ständig prügelnde Junge, der er noch war, bevor Seto in sein Leben gestolpert war. Er war zu einem Mann geworden. Hatte sich seiner Vergangenheit gestellt, und auch wenn er glaubte, sie noch nicht vollständig überwunden zu haben, so wusste er, er würde ein ganzes Leben mit Seto an seiner Seite Zeit haben, genau das zu schaffen. Und heute würden sie genau das feiern – das Leben. Das, das sie bereits zusammen verbracht hatten und das, was noch vor ihnen liegen würde. Es war zwar erst Mitte April und damit waren die sechs Monate rein rechnerisch betrachtet noch nicht um, aber sie waren sich einig gewesen, dass das sowieso kaum noch Relevanz hatte.   Laut ausatmend kam er wieder in der Realität an. Seto war noch immer nicht aufgetaucht und Joey wurde langsam ungeduldig. Ruckartig stieß er sich von der Tür ab und ging ein paar Schritte weiter in den Raum hinein, sah sich um, in der Hoffnung, etwas zu finden, das ihn beschäftigte, während er wartete. Setos Büro sah eigentlich aus wie immer. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages schienen durch das Fenster direkt auf den Schreibtisch, auf den Stuhl, auf dem Seto sonst immer saß, wenn er fokussiert an etwas arbeitete. Es war kein einziges Geräusch zu hören, außer Joeys regelmäßiger Atem.   Gedankenverloren strich der Blonde über die Buchrücken in den Regalen. Er erkannte vor allem Fachbücher aus Segmenten, von denen er nicht mal ansatzweise etwas verstand. Ob Seto die alle gelesen hatte? Ein leichtes Lächeln legte sich auf Joeys Lippen – sein Drache war einfach unheimlich schlau, vermutlich könnte er jedes Einzelne dieser Bücher ohne Probleme schon vor dem Frühstück lesen. Joey würde das selbst dann nicht gelingen, wenn er sich wirklich anstrengte.   Mit einem amüsierten Kopfschütteln löste Joey den Blick von den Regalen, als ihm plötzlich etwas auf dem Schreibtisch des Braunhaarigen auffiel – ein Ordner, aufgeschlagen. Zwar vermutete Joey, dass er sowieso kein Wort verstehen würde, aber dennoch – seine Neugierde war geweckt. Also trat er näher, und als sein Blick auf die aufgeschlagenen Seiten fiel, weiteten sich seine Augen.   Er musste dichter rangehen, um zu erkennen, dass seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Bilder von ihm? Während er die aufgeschlagene Seite so betrachtete, da sah er, dass es nicht nur Fotos waren, die ihn allein zeigten, sondern auch welche, auf denen er mit Seto zusammen abgebildet war. Verwirrung machte sich in ihm breit – warum hatte Seto einen Ordner mit Bildern von ihm auf seinem Schreibtisch? Die Tatsache, dass dieser hier so offen rumlag, sagte ihm, dass der Braunhaarige gerade etwas damit angefangen haben musste. Er blätterte auf die nächste Seite, aber die nachfolgenden Seiten blieben leer. Und als er wieder zurückblätterte, fiel ihm auf, dass das letzte Foto auch das aktuellste war, was Seto vermutlich von ihnen besaß. Es war das Bild, das Yugi geschossen hatte, als sie auf der Parkbank beim Kirschblütenfest gesessen hatten.   Joey blickte kurz auf und horchte einen Moment, aber es waren noch immer keine Schritte zu hören. Es schien, als wenn er noch eine ganze Weile länger allein bleiben würde. Also zog er sich den Bürostuhl ran und fing an, den Ordner von hinten nach vorn durchzublättern.   Statt eine Antwort darauf zu finden, was das zu bedeuten hatte, befiel ihn eine sich stetig steigernde Ratlosigkeit. Je weiter er blätterte, desto mehr Bilder sah er, vor allem von sich selbst. Da gab es die Fotos von ihrer Reise zu seiner Familie in die USA, ein Foto von ihm, wie er gespannt den Klängen des Klavierkonzerts lauschte, das er mit Seto besucht hatte, dann ein weiteres Foto, offensichtlich von Silvester, wie er ausgelassen mit seinen Freunden tanzte. Auch eine Aufnahme von ihm an seinem Geburtstag gab es, wie er gespannt Setos Brief las. Das löste ein angenehmes Kribbeln in seinem Körper aus, als er sich daran zurückerinnerte, wie viel ihm dieser Brief bedeutete.   Er hatte noch immer keinen blassen Schimmer, was das hier alles war, aber er wurde magisch in den Bann gezogen von all den Fotos. Er blätterte weiter zur nächsten Seite, in der Hoffnung, endlich eine Antwort auf seine Frage zu bekommen, warum es offensichtlich einen Ordner voll von Bildern von ihm gab. Die nächsten Fotos zeigten ihn und Serenity beim Sandburgenbauen am Meer, ihn, wie er Gesellschaftsspiele mit seiner Familie und Mokuba spielte, wohl an Weihnachten. Er stockte – die darauffolgende Aufnahme zeigte ihn auf einem Steg sitzend, die Seto offensichtlich gemacht haben musste, als sie das erste Mal zusammen am Meer waren. Der Tag, der rückblickend betrachtet alles für sie verändert hatte. Mittlerweile hatte er sich bis fast ganz zum Anfang des Ordners vorgekämpft, aber ein letztes – oder eher erstes – Bild gab es noch: Joey beim Joggen im Park der Kaibas. Was zum...   Dann bemerkte er, dass es offensichtlich eine weitere Seite gab, die allererste, doch statt Fotos zierte Setos filigrane Handschrift dieses Blatt. Joey hatte zunächst Mühe, sich einen Reim darauf zu machen. Es sah aus wie eine Mindmap und er arbeitete sich von einem Ast zum nächsten – bis er die Mitte, den Ausgangspunkt betrachtete, der für Seto allem Anschein nach die Kernfragestellung seines Brainstormings gewesen war.   Sein Gehirn hatte Mühe, diese Worte entsprechend zu verarbeiten. Joey konnte sie lesen, aber verstand sie nicht. Doch dann eröffnete sich deren Bedeutung in vollem Umfang, und Joey begriff. Schwer atmend erhob er sich abrupt von dem Bürostuhl, der mit schneller Geschwindigkeit nach hinten rollte. Nein, das... das konnte doch unmöglich wahr sein. Was zur Hölle hatte das alles zu bedeuten? Er merkte, wie all die plötzlich auftretenden Fragen ihm die Kehle zuschnürten und er Schwierigkeiten bekam, Luft zu holen. Ihm wurde heiß und er konnte das Blut in seinen Ohren rasen hören. Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufschluchzen zu müssen, und spürte die heißen Tränen seine Wangen hinablaufen. Hatte er sich doch so getäuscht? Wie... wie konnte das nur passieren?   Er drehte sich vom Schreibtisch und damit auch von den Beweismitteln darauf weg, stützte sich mit beiden Armen an der hinter ihm befindlichen Wand ab und konnte sich nur mit Mühe und Not einigermaßen auf den Beinen halten. Seine Tränen tropften zuhauf auf den Boden und er konnte ein abgehacktes Schluchzen nun nicht mehr verhindern. Er spürte, wie ihm die Magensäure aufstieg und ihm schlecht wurde, und für einen kurzen Moment hatte er das überwältigende Bedürfnis, sich übergeben zu müssen, konnte es aber gerade noch zurückhalten.   Und schlagartig wich die Verzweiflung, die sich die letzten Minuten in ihm breitgemacht hatte, einem anderen Gefühl: Wut. Zunächst auf sich selbst, weil er so dumm gewesen war zu glauben, dass er den wahren Seto Kaiba kennengelernt hatte. Nun musste er feststellen, dass all das eine Lüge war, so wie es sein Bauchgefühl am Anfang ihn schon hatte vermuten lassen. Und dann fühlte er Hass, so viel Hass auf den Mann, der ihn hatte glauben lassen, dass er ihn liebte. Ein kurzes, hysterisches Lachen entwich Joeys Kehle. Er hatte sich so blenden lassen, und wie bescheuert er gewesen war, ihm blind zu vertrauen. Er hätte es doch besser wissen müssen, aber als er noch eine realistische Chance gehabt hätte, sich von ihm zu entfernen, hatte er es nicht getan, hatte sich in einen emotionalen Strudel ziehen lassen und bis zuletzt selbst geglaubt, das wäre Liebe gewesen. Aber das war keine Liebe, nein, es gab nur ein Wort, das es exakt beschreiben konnte: Manipulation. Und Joey hatte es zugelassen und die Augen verschlossen vor dem Offensichtlichen.   Er spürte eine Ruhe in sich aufkommen, die ihm fast ein bisschen Angst machte. Wie konnte er plötzlich so gelassen sein, wo doch gerade seine ganze Welt, oder zumindest die Welt, wie er sie geglaubt hatte zu kennen, um ihn herum zusammenbrach und in tausende Scherben zersplitterte? Er blickte sich um, dann fand er Stift und Zettel und kritzelte hektisch drauf, was er zu sagen hatte. Neben die Notiz legte er sein Handy – er würde denselben Fehler schließlich nicht zwei Mal machen. Dann entfernte er sich vom Schreibtisch. Wie automatisch trugen ihn seine Füße in Richtung der Tür, die er öffnete und noch mal einen kurzen Blick zurückwarf. Er merkte, wie ihm schon wieder die Tränen in die Augen stiegen, als er sich gedanklich von diesem Raum verabschiedete, denn er wusste, er würde nicht zurückkehren – nie mehr.   ~~~~   „Hey, Joey, sorry, dass ich so spät bin, ich wurde in der Firma aufgehalten. Musstest du... hm?“ Als Seto die Tür zu seinem Büro öffnete, war er schon viel zu spät dran und war daher davon ausgegangen, sein Hündchen direkt hier anzutreffen. War er vielleicht in sein Apartment zurückgekehrt? Er könnte es ihm nicht verübeln, wenn es so wäre, immerhin war er bestimmt 30 Minuten zu spät.   Seto holte sein Handy aus seiner Tasche und wählte Joeys Nummer. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass er ganz in der Nähe ein vibrierendes Geräusch wahrnehmen konnte, kaum hatte er den grünen Hörer auf seinem Telefon gedrückt. Verwirrt blickte er auf und versuchte rauszufinden, aus welcher Richtung die Töne kamen, als er merkte, dass sie von seinem Schreibtisch herrührten.   Er legte wieder auf und ging mit langsamen Schritten auf seinen Schreibtisch zu. Tatsächlich, Joeys Handy lag hier, aber warum? Verwundert kratzte er sich am Hinterkopf und trat näher heran – und dann sah er ihn. Sein Herz setzte sofort einige Herzschläge aus, seine Augen weiteten sich entsetzt und er versuchte, die Punkte logisch miteinander zu verbinden.   Er hatte vergessen, den Ordner wegzuräumen. Joey musste offensichtlich vor ihm hier gewesen sein, das zeigte allein schon die Tatsache, dass sich sein Handy in diesem Raum befand. Außerdem wusste Seto, dass er nicht die erste, sondern die letzte Seite des Ordners aufgeschlagen hatte. Ihm blieb die Luft weg – kein Zweifel, Joey hatte den Ordner gesehen, inklusive der ersten Seite, auf der er seinen eigentlichen Plan vermerkt hatte, als Joey zu ihnen gezogen war – der Plan, Joey dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben, und ein Netz aus Ideen, wie er das schaffen könnte.   In dem Moment fiel sein Blick auf einen Brief neben dem Ordner, direkt neben Joeys Handy, und es war unverkennbar die Schrift des Blonden.   ‚Seto,   ich hätte es wissen sollen. Und jetzt sollte ich wütend auf dich sein, aber weißt du was? Ich bin es nicht. Nicht du warst der Dumme hier, der sich hat blenden lassen. Das war ich. Habe wirklich gedacht, du liebst mich. Lächerlich, oder? Du hast wahrscheinlich gedacht, du hast mich in der Falle, und hey, ehrlich? Das hattest du. Vielleicht wollte ich mich auch täuschen lassen. Ich wundere mich zwar, dass du wirklich so weit gegangen bist und wie viel du getan hast, um deine gute Reputation zu erhalten, aber du bist eben Seto Kaiba. Wie hast du immer gesagt? Der Zweck heiligt die Mittel. Glückwunsch, du hast es echt geschafft, deinen Plan in die Tat umzusetzen. Du musst richtig stolz auf dich sein.   Wie auch immer, da das die letzten Worte sind, die du von mir hören – oder besser, lesen – wirst, kann ich auch mit komplett offenen Karten spielen. Ich habe dich wirklich, wahrhaftig geliebt, Seto. Die letzten Monate waren die schönsten in meinem gesamten Leben. Du hast mich vergessen lassen, wie dunkel mein Leben war. Hast mir geholfen, aufzustehen, wenn ich zu schwach war. Hast mir meinen Lebenswillen zurückgegeben.    Und jetzt wache ich auf und stelle fest, dass das alles eine Lüge war. Du hast mein Leben zu einem Kartenhaus gemacht, mit dir als stützende Pfeiler – und jetzt hast du die unterste Karte herausgezogen. Und ich bin wieder ganz am Anfang. Ich weiß jetzt, dass ich diesem Teufelskreis niemals werde entkommen können. Niemals. Weil die Person, die mir am meisten geholfen hatte, da rauszukommen, nicht der Mensch ist, den ich geglaubt habe zu kennen.   Aber auch ich habe dazu gelernt – dieses Mal wirst du mich nicht finden können. Und selbst, wenn du es tust – es wird zu spät sein.   Leb wohl, mein Drache.   Joey‘   Zitternd hielt er das Blatt in seinen Händen. Ein Schwall aus Tränen, wie er sie noch nie geweint hatte, rann seine Wangen hinunter. Er konnte nicht mehr atmen und er spürte Panik in sich aufsteigen. Für eine Sekunde war er wie in einer Schockstarre, unfähig, sich zu bewegen.   Dann ging alles ganz schnell. Er griff zu seinem Handy, rief Roland an und alarmierte die Polizei. Vielleicht war es schon zu spät, möglicherweise konnte er ihn nicht mehr retten – aber er würde nicht aufgeben. Er konnte nicht. Er musste es versuchen und sich an die winzige Hoffnung klammern, dass er noch rechtzeitig kommen würde, dass er zu ihm zurückkehren würde.   Gehetzt stürmte er aus seinem Büro und rannte los, wohin, wusste er nicht wirklich. Auf dem Flur stieß er mit Mokuba zusammen, der ihn geschockt ansah – er hatte ihn noch nie weinen sehen, und Seto konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er, der sonst immer so kontrolliert war, gerade auf seinen kleinen Bruder wirken musste. Aber ihm war das gerade egal, genauso wie alles andere. Er musste Joey finden und er würde alles tun, was nötig war.   „Seto, was...“, hörte er Mokuba stottern. Seto fehlte die Luft zum Atmen, um viel zu antworten, sodass nur wenige Wörter es schafften, seinen Mund zu verlassen, als er antwortete: „Joey... der Brief... in meinem Büro... bitte warte hier, falls er zurückkommt.“   Mit diesen Worten lief er wieder los, noch immer vollkommen ziellos. Aber er wusste, er würde jeden Stein in dieser verdammten Stadt umdrehen und ihn finden. Er hatte keine andere Wahl. Er wusste nur nicht, ob er noch atmen würde, wenn er ihn endlich fand.   ~~~~   Es war wärmer als das letzte Mal, als er hier gestanden hatte. Ein leichter Wind wehte ihm um die Nase, während sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages verabschiedeten. Das Geländer hinter ihm war von ihnen noch angewärmt. Schon seltsam, wie sich das heute so anders anfühlen konnte. Aber was machte er sich vor, auch er war heute ein anderer Mensch, da war es nur natürlich, dass er sich auch anders fühlte. Aber der heutige Tag hatte ihm gezeigt, dass diese Veränderung, die er zuweilen als sehr positiv empfunden hatte, auf harten Lügenmärchen aufgebaut war.   Er hatte so sehr gehofft, es wäre wahr gewesen. Irgendwann in den letzten Monaten war ihm bewusst geworden, dass er sich eigentlich hatte retten lassen wollen, und Seto war sein Ritter in glänzender Rüstung gewesen. Zumindest hatte er sich das bis heute eingebildet. Aber es war alles nur ein Spiel gewesen, und Joey hatte sich blindlings darauf eingelassen.   Joey atmete ein Mal tief durch. Er konnte die Vergangenheit nun nicht mehr ändern und es gab auch keinen Grund mehr, noch mehr darüber zu trauern. Er war dämlich gewesen, ja, aber er würde jetzt die Konsequenzen daraus ziehen, die er schon vor sechs Monaten hätte ziehen sollen.   Er sah nach unten, es würde kaum eine halbe Minute dauern, bis er auf den Boden aufschlug. Als er vorhin gemerkt hatte, wo er hingelaufen war, war er von sich selbst überrascht gewesen – es war dasselbe Hochhaus wie noch vor einem halben Jahr. Aber irgendwas daran gab ihm den Mut, den er jetzt so dringend benötigte. Dieses Mal würde er nicht zögern, weil er wusste, es würde nichts und niemanden mehr geben, der ihn jetzt noch retten konnte.   Es war so weit. Er löste beide Hände gleichzeitig vom Geländer und fing an, sich langsam nach vorn zu beugen. Und als er die Augen schloss und sich Zentimeter für Zentimeter weiter nach vorne beugte, flossen ihm wieder all die verzweifelten Tränen über die Wangen und kämpften sich ihren Weg nach draußen. Vor seinem inneren Auge zog sein Leben noch mal an ihm vorbei – die Scheidung seiner Eltern, die Gewalt, Setos Verrat. Es schmerzte so sehr, dass er nur hoffen konnte, dass es nun endlich vorbei wäre.   Wie in Zeitlupe verging die Zeit, als er plötzlich energische Schritte hinter sich hörte. Sein erster Fuß war gerade dabei, sich von dem Vorsprung zu lösen, als ihn kräftige Arme zurück ans Geländer zogen und er laut ausatmen musste. Er hatte gar nicht gemerkt, wie er die Luft angehalten hatte.   Er spürte, wie derjenige, der ihn festhielt, zitterte, am ganzen Körper, konnte seinen holprigen Atem an seinem Ohr hören, das leise Schluchzen wahrnehmen. Er brauchte gar nichts sagen, er wusste sofort, wer da hinter ihm stand, weil er ihn an seinem Geruch erkannte. Er hätte wissen sollen, dass es eine bescheuerte Idee gewesen war, dasselbe Hochhaus wie noch vor einem halben Jahr zu wählen. War ja klar, dass er hier suchen würde.   Joeys ganzer Körper wurde plötzlich schlaff. Er hatte es schon wieder nicht geschafft, seinen Plan in die Tat umzusetzen, aber er hatte keine Kraft mehr, darüber wütend zu werden. „Lass mich sterben, bitte“, waren die einzigen Worte, die er kraftlos und mit monotoner Stimme rausbrachte.   Das Schluchzen hinter ihm wurde lauter, aber seine Stimme war nicht mehr als ein unruhiges Flüstern. „Ich kann nicht, Joey.“   In dieser Position verharrten sie eine Weile. Joey war dem Abgrund noch immer so nahe, aber er wusste, Seto war einfach stärker, und so stark wie jetzt hatte er ihn noch nie erlebt, trotz der Tatsache, dass sein ganzer Körper bebte. „Warum nicht?“, fragte Joey, aber eigentlich war ihm die Antwort egal. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, wollte einfach nur, dass es endlich vorbei war.   Er hörte Seto einige Male tief ein- und ausatmen, vermutlich sein verzweifelter Versuch, sich irgendwie zu beruhigen. „Weil ich dich liebe, mein Hündchen.“   Und da spürte Joey die Wut erneut in sich aufsteigen, mit einer Wucht, die ihn zu überwältigen drohte. Die Energie kehrte zurück in seine Glieder und er versuchte, sich aus Setos Zwängen zu befreien, aber der Braunhaarige war ihm einfach überlegen. In seinen Armen zappelnd, schrie Joey aufbrausend: „Hast du dein Spiel jetzt nicht lange genug mit mir gespielt? Du hast dich doch jetzt abgesichert, hast über die Monate genug Beweise gesammelt, um deine Firma zu schützen, nun lass mich endlich sterben! Das war der eigentliche Deal, schon vergessen?“   Aber Seto bewegte sich keinen Zentimeter. „Bitte, lass es mich erklären, Joey. Es ist nicht so, wie du glaubst. Bitte, komm zurück auf das Dach.“ Joey spürte Seto heftig weinen, aber er durfte sich jetzt nicht wieder von ihm einlullen lassen. Er musste sich noch mal daran erinnern, wie er ihn die letzten Monate an der Nase herumgeführt hatte.   Joey schnaubte wütend auf, als er antwortete: „Da gibt es nichts mehr zu erklären. Es war eindeutig, dass du mich verarscht hast. Und ich war so dumm, es nicht zu merken.“   Plötzlich spürte er, wie er ruckartig zurück aufs Dach gezogen wurde. Es kam so überraschend für ihn, dass er nicht die Zeit hatte, sich zu wehren, und gerade, als er sich wieder umdrehen wollte, um erneut über die Brüstung zu steigen, wurde er von Seto in eine Umarmung gezogen. Er strampelte, um sich von ihm zu lösen, aber statt damit erfolgreich zu sein, wurde er nur noch mehr aufs Dach und weiter vom Geländer weggezogen.   Setos Mund war direkt an seinem Ohr, sodass er seine Worte nun klar und deutlich verstehen konnte, auch wenn es nicht mehr als ein Raunen war. „Doch, es gibt eine ganze Menge zu erklären. Bitte, hör mir einfach zwei Minuten zu, okay?“   In einem letzten Versuch probierte er, sich von dem Brünetten zu lösen, aber es war einfach zwecklos. Er würde hier nicht wegkommen. Also musst er es mit den Mitteln eines Kaiba versuchen – Manipulation.   „Gut, ich höre dir zu, unter einer Bedingung“, begann Joey. Seto nickte und Joey wusste, er würde allem zustimmen, was er jetzt sagen würde. „Wenn du mich nicht überzeugen kannst, lässt du mich sterben.“   Ein erneutes Schluchzen kam aus Setos Kehle und Joey hasste sich dafür, dass es immer noch eine so starke Wirkung auf ihn hatte. Noch immer wollte ein Teil von ihm Setos Umarmung erwidern, ihm über den Rücken streicheln und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Dieser Part war offensichtlich der masochistische Anteil in ihm, der es wohl wahnsinnig toll fand, so betrogen und verletzt zu werden. Aber glücklicherweise konnte er sich beherrschen und würde dieser Sehnsucht ganz sicher nicht mehr nachkommen.   Nun war es Seto, der mit dem Rücken zur Wand stand. Ihm blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen, wenn er wollte, dass Joey ihm Gehör schenkte. Joey spürte ihn zaghaft nicken und sein Zittern verstärkte sich sogar noch ein wenig.   Dann fing Seto mit seiner Erklärung an. „Ich lege jetzt alle Karten auf den Tisch und will ganz offen und ehrlich zu dir sein. Denn nichts anderes hast du jetzt verdient. Eigentlich hättest du das schon viel früher verdient, aber ich war einfach zu feige, weil ich wusste, ich könnte dich dadurch verlieren, aber jetzt weiß ich, es war falsch, es dir nicht zu sagen. Es tut mir so leid, Joey...“   Sein Monolog wurde nur kurzzeitig durch ein weiteres Aufschluchzen unterbrochen, dann fuhr er fort.   „Die Wahrheit ist, dass das, was du in meinem Ordner gefunden hast, mein Plan war, ganz am Anfang. Als ich dich das erste Mal hier aufgegabelt habe, wäre es mir aus emotionaler Sicht egal gewesen, ob du gesprungen wärst. Ich hatte rein wirtschaftliche Interessen, und wie du an meinem Plan gesehen hast, hätte ich alles dafür getan, diese zu schützen. Und wenn ich dich dafür hätte manipulieren müssen, dann hätte ich das eben getan. Am Anfang habe ich das ja auch. Aber das änderte sich schneller, als ich es selbst für möglich gehalten hätte.“   Joey spürte, wie Seto die Umarmung noch verstärkte. Er konnte seine Überraschung über die Ehrlichkeit des Braunhaarigen nicht verbergen. Das, was er sagte, war so abscheulich, so niederträchtig, dass es wahr sein musste, dessen war sich Joey ganz sicher. Doch bevor er weitere Gedanken daran verschwenden konnte, sprach Seto weiter.   „An dem Tag, als wir zusammen am Meer waren, veränderte sich alles für mich. Ich verlor mein eigentliches Vorhaben total aus dem Blick, und es war ja auch nicht so, als ob ich schon eine großartige Strategie ausgearbeitet hatte. Ehrlich gesagt war ich absolut ratlos. Ich verstand eben nichts von Liebe und dergleichen. Bis du kamst und mir genau das beigebracht hast. An unserem Tag am Meer hast du mir die Augen geöffnet und mir gezeigt, wer du wirklich bist. Und ich habe dir gezeigt, wer ich wirklich bin. Diese Seite kennt niemand von mir, in weiten Teilen nicht mal Mokuba, noch immer nicht. Aber es war echt, das kannst du mir glauben, genauso wie alles, was darauf folgte.“   Plötzlich spürte er, wie Seto die Umarmung löste und sich seine zwei großen Hände an seine Wangen legten und seinen Kopf so zogen, dass er ihm in seine tiefblauen Augen schauen musste. Joey erkannte, wie rot und verweint sie waren und kämpfte mit aller Kraft dagegen an, Mitleid zu empfinden. Nicht Seto war hier das Opfer, das musste er sich immer und immer wieder vor Augen halten.   Mit verzweifeltem Unterton redete der Braunhaarige weiter. „Es war alles echt, Joey. Bevor wir uns das erste Mal geküsst haben, da habe ich mir immer wieder überlegt, wann ich dich wiedersehen könnte, also nicht nur beim Frühstück oder in der Schule, sondern wie ich es schaffen könnte, dich ganz für mich zu haben. Wie ich dich zum Strahlen bringen könnte. Und dann haben wir uns geküsst, und ich wusste, ich würde nie wieder von dir loskommen. Damals war es mir noch nicht so bewusst, aber heute kann ich klar sagen, dass das der Zeitpunkt war, an dem ich mich vollends in dich verliebt habe. Und als wir uns dann auch körperlich vereinigt hatten, setzte das dem Ganzen noch die Krone auf. Glaubst du wirklich, dass ich das hätte spielen können? Ich liebe es, dich so zu berühren und zu wissen, dass ich der Einzige für dich bin. Und dass du der Einzige für mich bist, der mich jemals so sehen wird. Ich liebe dich, Joey, und ich sage es dir gern eine Million Mal, wenn es das ist, was du brauchst. Ich liebe dich, immer. Bitte, du musst mir glauben!“   Aber Joey konnte nichts erwidern, er war wie gelähmt. Noch vor wenigen Stunden hatte er daran geglaubt, dass Setos Augen ihm immer alles sagen würden, was in ihm vorging, selbst wenn er gar nichts sagte. Und auch jetzt konnte er die vielen Emotionen darin sehen, und würde er noch immer seiner Naivität folgen, die er bis jetzt an den Tag gelegt hatte, dann würde er ihm und seinen Worten Glauben schenken, weil seine Augen ihm genau dasselbe signalisierten. Aber er konnte nicht – oder wollte nicht.   „Und das mit dem Ordner“, fuhr der Brünette fort, noch immer mit festem Griff um sein Gesicht, „das hatte am Anfang tatsächlich den Zweck, ‚Beweise‘ zu sichern, wenn du so willst. Aber spätestens seit unserem Tag am Meer hatte sich das völlig verändert. Ich habe es weniger als Beweissicherung als vielmehr als eine Erinnerungssicherung gesehen. Ich wollte die Momente mit dir festhalten und sie mir für immer bewahren. Sie mir immer ansehen können, wenn ich wollte. Die erste Seite, die Mindmap, die du gesehen hast, die habe ich in den ersten Tagen erstellt, kurz nachdem du zu uns gezogen bist. Danach habe ich sie nicht mehr angerührt. Es wurde mehr ein Fotoalbum daraus, weil ich einfach nicht genug von dir kriegen konnte, und noch immer nicht kann. Joey, nur ein Wort, und wenn du möchtest, verbrenne ich den ganzen, verdammten Ordner. Damit wäre auch der ursprüngliche Zweck zerstört, aber das interessiert mich nicht, weil es den gar nicht mehr gibt. Was mich aber interessiert, bist du. Nichts von dem, was ich dir gesagt habe, war gelogen. Ich möchte dich glücklich machen, auch wenn das jetzt gerade nicht danach aussieht. Ich will dich lachen sehen, für dich da sein, wenn du weinst oder drohst zu fallen. Ich will mein gesamtes Leben mit dir verbringen, Joey. Ich liebe dich, mehr als alles andere auf der Welt, und ich würde alles für dich tun oder aufgeben. Gott, wenn du sagen würdest, dass ich meine Firma verkaufen soll, dann würde ich das tun, wenn es das ist, was ich tun muss, damit du in meinem Leben bleibst. Ich weiß, dass ich dein Vertrauen missbraucht habe, sehr sogar, und ich werde mein Leben lang daran arbeiten, das auszubügeln. Aber bitte, bleib bei mir. Bitte...“   Nach seinen letzten Worten flossen wieder vereinzelte Tränen Setos Wangen hinab und Joey hatte das überwältigende Bedürfnis, sie ihm einfach wegzustreichen, ihn in den Arm zu nehmen und sanft zu küssen. Er konnte nicht verhindern, dass Setos Worte eine Wärme in ihm auslösten und ihm selbst die Tränen in die Augen schossen, aber er durfte sich nicht manipulieren lassen - das hatte er in den letzten Monaten viel zu oft zugelassen.   Also setzte Joey eine harte Miene auf und fragte: „Bist du fertig?“ Atemlos nickte Seto. Joey nahm nun Setos Hände von seinem Gesicht und für einen kurzen Moment konnte er Hoffnung in den Augen des Brünetten aufblitzen sehen. Das war allerdings schnell wieder verschwunden, als Joey ihre Hände wieder löste und Seto mit einer Hand gegen seine Brust von sich wegschob.   „Gut, dann darfst du jetzt gehen. Leb Wohl.“ Joey drehte ihm den Rücken zu und machte Anstalten, wieder in Richtung des Geländers zu laufen, um erneut über die Brüstung zu steigen und seinem Leben nun endlich ein Ende zu bereiten. Seto wollte es aber wohl nicht darauf beruhen lassen – er kam ihm zwar nicht mehr körperlich nahe, aber seine verzweifelten Schreie schossen Joey durch Mark und Bein, sodass er sich für einige Sekunden nicht bewegen konnte.   „Nein!! Bitte, wenn du es nicht für mich tust, dann denk daran, wen du noch zurücklässt. Menschen, die dir etwas bedeuten und denen du etwas bedeutest. Deine Freunde, deine Mum, deine Schwester. Wie werden sie sich fühlen, wenn sie dich verlieren?“   Joey hielt inne und spürte, wie er schon wieder keine Luft bekam. Er wusste, dass Seto ihn hier gerade gnadenlos manipulierte, aber ein Teil von ihm konnte das auch nachvollziehen - es war die letzte Möglichkeit, die er hatte. Und verdammt, Joey gab es nur ungern zu, aber es wirkte. Konnte er das all diesen Menschen, die Seto gerade aufgezählt hatte, wirklich antun? Vor sechs Monaten hätte er es noch getan, aber heute, da insbesondere das Band mit seiner Familie wieder sehr viel enger war, sah die Sache irgendwie ganz anders aus.   Joey ballte die Hände zu Fäusten, denn er wusste, er musste aufgeben. Es führte kein Weg daran vorbei, er würde jetzt nicht mehr springen können. Er war wütend und verzweifelt, weil er wusste, dass er dafür jetzt all den Schmerz in Kauf nehmen musste, aber er würde Seto nicht mehr die Genugtuung geben, ihn so zu sehen. Also atmete er tief durch, drehte sich dann wieder zum Brünetten um und sagte in forderndem Ton: „Gib mir dein Handy.“   Seto musste sich für einige Momente sammeln, bis er offensichtlich verstanden hatte, was Joey da von ihm verlangte. Er holte das Handy aus seiner Jackentasche und überreichte es dem Blonden, der zielgerichtet eine Nummer eintippte und auf den grünen Hörer drückte. Schon nach wenigen Sekunden nahm die Person in der anderen Leitung ab und er hörte die vertraute Stimme verwirrt fragen: „Kaiba?“   „Nein, hier ist Joey, Yugi. Hey, kann ich für ein paar Tage bei dir unterkommen?“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, sah er, wie Seto die Augen weitete, aber er bewegte sich nicht vom Fleck.   „Joey, was... ja, klar kannst du für ein paar Tage herkommen. Was ist passiert?“   „Das erkläre ich dir später. Ich hole schnell ein paar Sachen und mache mich dann auf den Weg.“ Damit beendete der Blonde das Gespräch und gab Seto das Handy zurück. Mit gebührendem Abstand lief er an ihm vorbei, dann sagte er: „Es wird jetzt folgendermaßen ablaufen: Wir fahren zurück in die Villa. Dort packe ich ein paar Sachen und dann verschwinde ich. Und du wirst mich nicht davon abhalten.“   Er merkte, dass Seto etwas sagen wollte, und ohne sich noch mal nach ihm umzudrehen, hob er eine Hand und bedeutete ihm, zu schweigen. „Du brauchst es erst gar nicht versuchen. Du wirst mich nicht aufhalten können.“ Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und konnte spüren, wie Seto ihm widerwillig folgte. Alles in ihm tat weh und der Schmerz drohte, ihn zu übermannen, aber er würde es dem Braunhaarigen nicht mehr zeigen. Er würde ihm beweisen, dass er keine Macht mehr über ihn hatte, egal, welch schmeichelnde oder schöne Worte er auch wählen würde. Es war vorbei, und Joey hatte schlagartig das erdrückende Gefühl, es noch nicht mal bis an die Startlinie geschafft zu haben.   ~~~~   Er hatte Joey das Leben gerettet – schon wieder. Aber zu welchem Preis? Er verließ ihn, und wenn Seto ehrlich zu sich selbst war, dann hatte er es auch nicht anders verdient. Er hätte auf Mokuba hören sollen, Joey in den Plan einweihen sollen, als er noch eine Chance dazu gehabt hatte. Aber das war in den letzten Wochen wieder so in den Hintergrund gerückt, dass er sich keine Gedanken mehr dazu gemacht hatte, selbst dann noch nicht, wenn er wieder ein neues Foto in den Ordner klebte. Er hatte nicht gelogen, dieser Ordner war mittlerweile nur noch ein Fotoalbum, und er liebte jedes Foto darin, weil alle sein Hündchen abbildeten.   Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich absolut machtlos. Er musste zusehen, wie Joey jetzt in sein Apartment ging und seine Sachen packte. Er würde ihn verlassen, einfach so aus seinem Leben verschwinden, und es gab nichts, das er tun konnte, um ihn aufzuhalten. Er hatte alles gesagt, was er sagen konnte, aber das hatte den Blonden nicht überzeugen können, zu bleiben.   Schon wieder registrierte er, wie sich sein ganzer Körper zusammenzog. Er stand vor Joeys Tür und wartete darauf, dass das Unvermeidliche passierte, während er gleichzeitig versuchte, zu atmen. Das wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer, weil er wusste, dass die Person, die ihm die Luft zum Atmen gab, gleich aus seinem Leben verschwinden würde.   Er hörte, wie sich die Tür neben ihm öffnete und sah den Blonden austreten, der ihn mit einem verachtenden Blick ansah. Seto wurde schlecht, er hielt seinem Blick fast nicht stand. „Joey... bitte, geh nicht“, flehte er ihn an, in einem allerletzten Versuch. Joey sah ihn eindringlich an, aber er wurde nicht schlau aus seinen Augen. Er kam ein paar Schritte auf ihn zu, ziemlich dicht sogar. Dann stellte er sich auf seine Zehenspitzen, damit sein Mund sein Ohr erreichte, und flüsterte ihm zu: „Leb wohl, Kaiba.“ Dann zog er an ihm vorbei und entfernte sich.   Noch Minuten danach stand Seto wie versteinert im Gang. Erst nach einer ganzen Weile machte er sich wie in Trance auf den Weg in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Er war gegangen, der Mensch, der ihm am allermeisten bedeutete und den er mehr, als es Worte beschreiben konnten, liebte, hatte sich unwiderruflich von ihm abgewendet. Ein Gefühl breitete sich aus seiner Magengegend in alle Richtungen innerhalb seines Körpers aus, eine Verzweiflung und Wut auf sich selbst, so stark, dass er es nicht mehr kontrollieren konnte. Er schrie laut auf, ging auf seinen Schreibtisch zu und feuerte den Ordner in eine Ecke. Nein, das war nicht genug. Er nahm die Schreibtischlampe und ließ sie an der gegenüberliegenden Wand zerschellen, bevor er einige Bücher aus den Regalen nahm und sie kreuz und quer durch den Raum fliegen ließ. Erst, als er mit der nackten Faust gegen eine Wand schlug und merkte, dass er blutete, verebbte die Wut und machte reiner Verzweiflung Platz. Er hockte sich auf den Boden, gegen die Wand gelehnt, und sackte völlig in sich zusammen, ließ allen Tränen freien Lauf. Er war absolut machtlos gegen das, was er gerade fühlte. Das, was ihm im Leben einen Sinn gegeben hatte, war fort, und es zog ihm den Boden unter den Füßen weg.   Erst als er merkte, wie sein kleiner Bruder ihn umarmte, entkam er seinen Gedanken wieder. Er hob seinen Kopf an und sah Mokuba in die Augen. „Joey ist fort, Mokuba. Ich hab‘ ihn verloren.“ Er schlug sich die Hände über den Kopf und fiel erneut in sich zusammen, seine Stimme nicht mehr als ein krächzendes Aufschluchzen. „Ich weiß, Seto, ich weiß“, hörte er Mokuba sagen, und als er von ihm in eine erneute, feste Umarmung gezogen wurde, da merkte er, wie auch der Kleinere ein Meer aus Tränen vergoss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)