Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 7: Rescue me... from too many heart beats ------------------------------------------------- Der 24. Dezember brach an und läutete damit die Weihnachtsfeiertage im Hause Kaiba ein. Statt eines Frühstücks oder Mittagessens gab es einen Weihnachtsbrunch, allerdings erst um elf Uhr, sodass Kaibas Frühstück lediglich aus Kaffee bestand, bis er dann beim Brunch das erste Mal feste Nahrung zu sich nahm. Das war so Tradition bei den Kaibas, genau wie das Weihnachtsdinner am Heiligen Abend. Direkt nach dem Brunch hatte Kaiba sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und hatte mehr oder weniger schlechte Laune. Weihnachten nervte ihn, all das Gesinge und Gebimmel, er konnte einfach nicht verstehen, was so besonders an diesen drei Weihnachtstagen sein sollte, die ja, zumindest, wenn man nicht religiös war, doch nur dem Konsum galten. Gut, einen Vorteil hatte es, seine Firma fuhr auch dieses Jahr zur Weihnachtszeit wieder Rekordgewinne ein, weil sie zwei Monate zuvor noch ein ganz neues Virtual Reality Spiel rausgebracht hatten, das die Kids nun unbedingt haben wollten. Aber das würde nicht die Tatsache aufwiegen, dass Mokuba schon seit Wochen tanzend und singend durch die gesamte Villa hüpfte und einen Weihnachtssong nach dem anderen trällerte. Kaiba musste sich für einen Moment die Schläfen massieren. Wenn er nicht aufpasste, würde er noch die Kopfschmerzen seines Lebens bekommen.   Und dann war da auch noch die Sache mit dem Hündchen. Vor knapp zwei Wochen waren sie sich so nahe gewesen, dort auf dem Weihnachtsmarkt, wenn auch nur für wenige, dafür aber umso außergewöhnlichere Momente. Seitdem spürte er eine Sehnsucht in sich, die er nicht ganz definieren konnte, weil er auch nicht wusste, wonach eigentlich. Aber es war ihm besonders nach diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt aufgefallen, und auch wenn er den ganzen Trubel nicht nachvollziehen konnte, so war er für diesen Tag doch dankbar. Er hatte wieder ein bisschen mehr von Wheeler erfahren und war wieder mal erstaunt darüber, wie offen sie beide mittlerweile miteinander sprechen konnten. Auch wenn er zugeben musste, dass er selbst kein Mann der großen Worte war. Aber Kommunikation musste ja nicht immer mit Worten passieren. Als Wheeler ihm auf dem Rückweg in der Limousine erklärte, wieviel Spaß er an diesem Tag gehabt hatte, da hatte er diesen Blick in seinem Gesicht, und es war ganz eindeutig, was er ihm damit sagen wollte. Er musste sich unheimlich beherrschen, sein wahnsinniges Lächeln nicht zu erwidern, aber ein Seto Kaiba lächelt nicht einfach mir nichts, dir nichts so daher. Nachher würde ihm das noch jemand als Schwäche auslegen, da musste er wirklich vorsichtig sein.   Das war auch das letzte Mal gewesen, dass er ihn hatte lächeln sehen. Wheeler zog sich danach ein wenig zurück und wirkte irgendwie abwesend und traurig. Kaiba kam nicht umhin, sich ständig zu fragen, ob das was damit zu tun hatte, was er ihm auf dem Weihnachtsmarkt erzählt hatte, nämlich seine ganz eigenen Gründe, warum er Weihnachten nicht so innig feiern würde wie es beispielsweise Mokuba gern tat. Und auch wenn sich ihre Gründe ein wenig unterschieden - im Kern ging es bei beiden um das Familiäre und die Erinnerung daran, was sie nicht mehr hatten.   Er gestand es sich nur ungern ein, war sogar ein wenig genervt davon und würde das sicherlich niemals laut aussprechen, aber - er wollte den Blonden wieder lächeln sehen. Es war befreiend, als er ihn so glücklich gesehen hatte. Seit diesem Tag nahmen goldbraune Augen immer mehr seine Gedanken ein, und er verfluchte sich dafür, dass es so war, aber je mehr er dagegen ankämpfte, desto hartnäckiger wurden diese Gedanken. Also gab er es irgendwann auf - es war ja immerhin alles in seinem Kopf, und so lange niemand ein Gerät erfand - und er hoffte inständig darauf, dass das noch lange so blieb - das seine Gedanken erkennen konnte, wäre er sicher. Was sich in seinem Kopf abspielte, musste allerdings unter allen Umständen unter Verschluss bleiben.   Er sah auf die Uhr, es war kurz nach 15 Uhr. Seine Überraschung für das Hündchen müsste bald hier eintreffen. Es war nicht ganz einfach gewesen, das zu organisieren, insbesondere nicht, ohne ihn einzuweihen, aber am Ende war er erfolgreich gewesen - was auch sonst. Er erhob sich von seinem aus Leder gefertigten Bürostuhl und machte sich auf die Suche nach Wheeler. Die Suche sollte nicht so lange dauern, denn er hörte Mokuba schon aus der Ferne durchs ganze Haus brüllen.   “Joey, los, die Girlande! Nein, noch ein bisschen höher! Oh, wie schön das alles schon aussieht!”   Bevor er den Festsaal betrat, musste er ein leises Lachen unterdrücken. Auch wenn er mit Weihnachten nicht viel anfangen konnte, Mokuba konnte es, und wenn er ihn so glücklich sah, war er es auch. Komisch, mit Wheeler ging es ihm eigentlich ziemlich ähnlich, wenn er so darüber nachdachte. Was passierte hier nur mit ihm, was machte das Hündchen mit ihm?   Er betrat leise den Festsaal, den sie jedes Jahr als Platz für den Baum ausgewählt hatten. Dort fand auch immer ihr Weihnachtsdinner am Heiligen Abend statt, normalerweise nur mit Seto und Mokuba, aber das wäre dieses Jahr anders. Mokuba lief wie wild hin und her, trug kleine bunte Kugeln zum Baum, Lichterketten oder andere Dekoration, die Wheeler offensichtlich daran befestigte. Kaiba analysierte den Blonden und konnte erneut feststellen, wie abwesend dieser wirkte. Er gab sich alle Mühe, das zu verbergen, und es schien ihm vor Mokuba sogar zu gelingen, aber wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass seine Bewegungen mechanisch wirkten, nicht so natürlich und ausgelassen, wie er es sonst von ihm gewohnt war. Er konnte nur hoffen, dass er den Glanz und die Freude in seine Augen zurück bringen konnte, mit dem, was er vor hatte. In diesem Moment vibrierte sein Handy und er überflog die Nachricht. Es war Zeit.   Er ging auf Wheeler zu, der den Baum, etwa einen Meter größer als er, noch immer wie automatisiert mit bunten Kugeln füllte. “Hey”, sagte Kaiba nur zu ihm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie hatten in den letzten zwei Wochen nicht mehr viel geredet, auch weil der Blonde sich so zurückgezogen hatte. Daher wollte Kaiba sich jetzt vorsichtig rantasten. Das Letzte, was er wollte, war, ihn noch trauriger zu erleben als er offensichtlich eh schon war.   Das Hündchen sah auf, lächelte ihn an, aber Kaiba konnte sehen, dass es nicht echt war, denn es erreichte seine Augen nicht. “Hey, was gibt’s?”, antwortete der Kleinere. “Hast du eine Sekunde? Ich würde dir gern etwas zeigen”, erklärte Kaiba und konnte sofort das Erstaunen in Wheelers Gesicht wahrnehmen. Er war froh, zumindest wieder ein bisschen Leben in seine Gesichtszüge zurückbringen zu können.   “Hey, Mokuba?”, rief der Blonde dem kleinen Kaiba-Bruder zu. “Kannst du hier kurz allein weiter machen?” Mokuba, der noch immer voll im Weihnachtsrausch war, nickte ihm freundlich zu. Kaiba hatte Mokuba nicht gänzlich eingeweiht, weil er nicht wollte, dass er sich aus Versehen verplapperte, aber er hatte ihm schon angekündigt, dass er sich Joey für eine Weile ‘ausleihen’ musste.   Der Blonde ließ vom Weihnachtsbaum ab und folgte Kaiba. Sie nahmen die Treppe nach unten und gingen durch die große Eingangstür nach draußen und dort direkt zur Straße, wo sie dann zum Stehen kamen.   “Was machen wir hier, Kaiba?” Es schneite leicht, und laut Wetterbericht sollte sich der Schneefall am späten Nachmittag und am Abend weiter erhöhen. Einige wenige Schneeflocken landeten auf Wheelers Wange und begannen augenblicklich zu schmelzen und sanft an seinen Wangen runterzulaufen. Innerlich verfluchte er sich für diesen Gedanken, aber Kaiba wollte seine Hand ausstrecken und ihm die Wassertropfen von der Wange wischen. Ein wohliger Schauer lief ihm über den Rücken und er musste wirklich mit seiner Fassung ringen, als er daran dachte. Statt diesem Wunsch nachzugeben, erklärte er: “Das wirst du gleich sehen, Hündchen, kann nicht mehr lange dauern.”   “Gut, mir ist nämlich arschkalt!”   Sie standen vielleicht zwei oder drei Minuten dort, als seine Limousine vorgefahren kam. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie Wheeler die Stirn runzelte. Er hatte den Braten noch immer nicht gerochen, und Kaiba wappnete sich innerlich für das, was gleich folgen würde.   Zuerst stieg ein Mädchen mit langen, hellbraunen Haaren aus dem Wagen, gefolgt von einer Frau mittleren Alters. Es war nicht zu übersehen, dass es Wheelers Mum war - sie hatte die gleichen Augen, die so strahlend hell leuchteten, als wäre sie die Sonne höchstpersönlich, und dieselben blonden Haare, auch wenn ihre gelockt waren. Er sah zum Hündchen rüber, dessen Gesichtsausdruck von Verwunderung nun zu einer Schockstarre wechselte.   “Serenity? Mum? Was…” Für einen kurzen Moment blieben alle stehen, auch seine Schwester und seine Mum blieben zunächst beim Wagen. Kaiba sah, wie Wheelers Augen sich langsam mit Tränen füllten. Dann, ganz plötzlich, löste sich der Knoten, und während der Blonde auf Serenity und seine Mum zurannte, schrie er voller Glück: “Oh mein Gott! Serenity! Mum! Oh mein Gott!” Kaiba blieb, wo er war und beobachtete für einen Augenblick die Familienzusammenführung. Sie lagen sich weinend in den Armen und er konnte sehen, dass sein Hündchen ein wenig zitterte und mit der Fassung rang. Auch Kaiba musste zugeben, dass ihn die Szene berührte. Und es machte ihn glücklich, weil es Joey glücklich machte, und er hoffte sehnsüchtig, damit endlich das Glänzen in seinen Augen wieder zu sehen.   Er wollte der Familie etwas Zeit allein geben, sein Job war getan. Er drehte sich um und lief zutiefst zufrieden zurück ins Haus, zurück in sein Arbeitszimmer. Auch wenn an Arbeit jetzt wirklich nicht zu denken war, brauchte er dennoch einen Moment Ruhe, um seine Gedanken und vor allem seine Gefühle zu ordnen.   ~~~~   Joey war noch immer fassungslos. Sie waren hier. Sie waren wirklich hier. Er konnte nicht glauben, was Kaiba da für ihn getan hatte. Als er sich umdrehte, um nach ihm zu sehen, war er verschwunden, und er nahm sich fest vor, mit ihm zu reden. Jedenfalls wenn er irgendwann seine Stimme zurückfand, im Moment war er mehr als sprachlos.   Noch immer lag sich die Familie in den Armen und ließ den Freudentränen einfach ihren Lauf. Joey hatte so viele Fragen, und doch genoss er einfach diesen Moment. Konnte man mehr Glück empfinden als in diesem Augenblick? Zu den vielen Endorphinen, die das höchste Glücksgefühl in ihm auslösten, mischte sich aber noch eine andere Empfindung - grenzenlose Dankbarkeit. Die letzten zwei Wochen waren schwer für ihn gewesen, weil er wusste, er würde an Heiligabend nicht bei seiner Familie sein, und auch wenn das nichts wirklich Neues war, so war da diese Schwere in ihm, dieser Schleier, der alles zu verdunkeln schien. All das löste sich in dem Moment, als Serenity und seine Mum aus der Limousine stiegen, wie in Luft auf, und er hatte das Gefühl, er könnte fliegen, wie ein Luftballon, prall gefüllt mit Helium, der nur den Weg nach oben kannte.   “Wir sind so glücklich, hier sein zu können, Joey”, sagte seine Schwester, wischte sich die Tränen aus den Augen und strahlte ihn an. Seine Mutter konnte nur nicken, strahlte ihn aber nicht minder intensiv an.   “Ich bin auch so unglaublich glücklich, dass ihr hier seid. Ihr habt mir so gefehlt, ehrlich. Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Wie seid ihr überhaupt hergekommen?”   Nun fand auch seine Mum zu ihrer Stimme zurück und antwortete: “Kaiba hat mich angerufen - keine Ahnung, woher er meine Telefonnummer hatte.”   Daraufhin musste Joey grinsen, zum ersten Mal seit Wochen. “Der Typ kriegt alles über dich raus, wenn er will.”   “Ja, kann ich mir gut vorstellen”, erwiderte seine Mum lachend. “Jedenfalls hat er uns eingeladen, herzukommen. Ich wollte erst absagen, weil wir einfach nicht das Geld hatten, um den Flug zu bezahlen, geschweige denn ein Hotelzimmer. Das war ja auch der Grund, warum wir es die letzten Jahre einfach nicht tun konnten, auch wenn es uns beiden das Herz gebrochen hat.” Daraufhin nickte Serenity energisch, um die Worte ihrer Mum zu unterstreichen.   “Aber daraufhin sagte er uns, dass er uns mit seinem Privatjet einfliegen wird und wir bei ihm in der Villa unterkommen könnten, selbstverständlich kostenfrei. Wir waren überwältigt, und ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass er ein Nein überhaupt akzeptiert hätte. Aber das sollte mir recht sein, es war endlich die Chance, auf die wir jahrelang gewartet haben. Und jetzt sind wir hier, und wir sind so unendlich dankbar.” Bei ihren letzten Worten musste sie wieder ein wenig vor Glück schluchzen.   “Mr. Wheeler?” Hinter Joey tauchte nun Roland auf. “Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber Mr. Kaiba bat mich, Ihren Gästen ihre Räumlichkeiten zu zeigen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?”   Joey nickte in seine Richtung und half den Beiden mit ihrem Gepäck. “Ich begleite euch.” “Okay, und dann musst du uns ganz genau erklären, was du hier eigentlich machst. Ich hab’ wirklich versucht, das aus Kaiba rauszukriegen, aber er hat immer wiederholt, dass er dir das überlassen wolle, uns darüber zu informieren. Klang alles ziemlich hochtrabend, war fast schon unheimlich.” Das brachte Joey zum Schmunzeln. Ja, das war er, sein Drache, wie er leibte und lebte. Jetzt fing er auch schon damit an, ihn ‘seinen Drachen’ zu nennen! Das versprach, ein verrückter Tag zu werden.   Sie wurden von Roland zu einem Apartment im zweiten Stockwerk gelotst, das aus zwei Schlafzimmern bestand. Es war ansonsten von der Ausstattung her Joeys Apartment unheimlich ähnlich. Er musste feststellen, dass in seinem Apartment noch gar nichts wirklich Persönliches war und es daher diesem Apartment sehr glich. Er nahm sich vor, das zu ändern, vielleicht würde er einfach mal eine Topfpflanze kaufen, das würde zumindest schon mal für den Anfang reichen und ein wenig Atmosphäre schaffen.   Als sie die Koffer zunächst provisorisch verstaut hatten, setzten sie sich in das zum Apartment gehörende Wohnzimmer, Joey nahm auf dem Sessel platz, seine Mum und Serenity auf dem Sofa ihm gegenüber. Joey wurde ein wenig nervös - er hatte ihnen natürlich auch einen Abschiedsbrief geschrieben, aber in den letzten Wochen nichts von ihnen gehört, und hatte jetzt auch nicht den Eindruck, als würden sie wahnsinnig viel wissen. Aber vielleicht wussten sie es doch? Er musste unbedingt rausfinden, was Sache war, aber bevor er anfangen konnte, sich einen Plan zu machen, wie er das schaffen könnte, legte Serenity auch schon mit ihren Fragen los.   “Hey, Joey, jetzt erzähl doch mal, was machst du hier? Ich kann mich noch genau an unsere Gespräche erinnern, hast du nicht immer gesagt, Seto Kaiba wäre dein Erzfeind?”   “Ist er auch - oder er war es zumindest. Keine Ahnung, da bin ich mir ehrlich gesagt selbst nicht so sicher. Ähm, habt ihr vielleicht in den letzten Wochen einen Brief von mir erhalten?”   Serenity und ihre Mum schauten sich fragend an. “Ich nicht, du, Mum?” Auch sie schüttelte den Kopf. “Nein, tut mir leid, war es ein wichtiger Brief? Wäre leider nicht das erste Mal, dass Post aus Japan nicht ankommt. Ich bekomme ab und zu noch Post von Freunden aus Japan, oder besser gesagt, sollte sie bekommen, aber es ist wie beim Lotto, so groß sind die Chancen, dass ein Brief ankommt.”   Joey war erleichtert. Er würde ihnen davon erzählen, aber nicht jetzt, nicht heute, nicht hier. Er war einfach froh, dass sie nichts von seinem Vorhaben mitbekommen hatten. Hätte er es allerdings in die Tat umgesetzt, hätten sie es nicht erfahren, zumindest nicht sofort und nicht so, wie er es sich für sie gewünscht hätte. Das versetzte ihm einen Stich, und er würde sich für das nächste Mal… Moment, das nächste Mal? Würde es denn ein nächstes Mal geben? Okay, zu viele Gedanken auf einmal. Er schob den Gedanken beiseite, damit würde er sich auch noch beschäftigen müssen, aber heute war nicht die richtige Zeit dafür. Er wollte sich nun erstmal vollständig auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Also wandte er sich erneut seiner Familie zu, um ihnen eine Antwort zu geben, die zwar der Wahrheit entsprach, aber doch weite Teile der Geschichte ausließ.   “Alles gut, ist nicht so wichtig. Also, warum bin ich hier? Sagen wir mal so, ich hatte Stress mit Dad - wird für euch ja keine Überraschung sein. Kaiba hat mich aufgegabelt und mir die Möglichkeit gegeben, für eine Weile hier zu bleiben. Tja, und hier bin ich.” Serenity wusste, dass er immer mal wieder mit ihrem Dad in Konflikt kam, allerdings hatte er nie von Gewalt gesprochen, nur von Auseinandersetzungen. Auch seine Mum wusste nicht, wie weit es ging, und er wollte unbedingt, dass das so blieb. Dass seine Mum sich schlecht fühlte, weil sie ihn bei ihrem Dad gelassen hatte, war das Letzte, was er wollte, denn sie traf keine Schuld bei dem Ganzen. Aber er wusste, würde sie die volle Wahrheit kennen, würde sie enorme Schuldgefühle empfinden.   Serenity lächelte ihn kurz an, wirkte dann aber wieder skeptisch. “Aber warum sollte er das tun? Was hätte er denn für einen Grund, dir das anzubieten, wenn ihr euch nicht ausstehen könnt?”   Himmel, er hatte gehofft, hier jetzt nicht ins Kreuzverhör zu geraten. Er musste sich was einfallen lassen, und zwar schnell.   “Na ja, wisst ihr… keine Ahnung, damit hatten irgendwie auch meine Freunde zu tun. Sie haben gesehen, dass ich da mal für eine Weile weg musste, und haben ihm mehr oder weniger die Pistole auf die Brust gesetzt. Haben ihm gedroht, ihm schlechte Presse zu bescheren, wenn er mir nicht hilft, oder sowas. Also hatte er nicht so wirklich eine Wahl, und ich auch nicht - wenn ein Kaiba sich mal für was entschieden hat, dann macht er kurzen Prozess und lässt keine Widerrede zu.” Sie mussten alle laut lachen, und das nahm die Spannung aus der Situation wieder raus. Er war sehr glücklich drum, denn er hatte die Geschichte nur leicht angepasst und nicht viel gelogen, hatte aber auch nicht alles preisgegeben. Tatsächlich war Kaiba im Moment der Einzige, der die volle Geschichte kannte, weil er ihm an ihrem Tag am Meer davon erzählt hatte. Selbst seine Freunde wussten nur oberflächlich davon, oder hatten vage Vermutungen. Und im Moment war er sehr zufrieden damit, wie es war, auch wenn es immer noch sehr überraschend und verwirrend gleichermaßen für ihn war, dass ausgerechnet der Drache alles wusste.   Weitere Fragen darüber, warum er jetzt ausgerechnet bei seinem Erzfeind wohnte, blieben aus, und Joey war sehr glücklich darüber. Noch eine ganze Weile unterhielten sie sich über ihre Anreise und was so die letzten Wochen bei ihnen los war.   Nach einiger Zeit stand Joey auf. “Hey, kann ich euch ein bisschen allein lassen? Richtet euch doch erstmal in Ruhe ein. Demnächst gibt es ein Dinner, und ich bin sicher, Kaiba hat euch eingeplant. Der plant echt immer alles bis ins kleinste Detail, also rechnet damit, dass euch jemand abholen kommt.”   “Alles klar, Joey, wir sehen uns dann später beim Essen. Wir freuen uns sehr darauf”, erklärte seine Mum mit einem strahlenden Lächeln. Mit diesen Worten verließ Joey das Apartment und machte sich auf zu seinem eigenen. Er wusste, es würde nachher noch eine kleine Bescherung geben - darauf hatte Mokuba vehement bestanden - aber er musste unbedingt vor dem Abendessen mit Kaiba sprechen. Er hatte noch überhaupt keine Ahnung, was er eigentlich sagen sollte, aber er musste ihm danken, und vielleicht würde sein kleines, wenn auch eigentlich unbedeutendes Geschenk ihm in der Situation helfen. Er wusste, er würde nicht mehr viel Zeit haben bis zum Abendessen, wenn er vorher noch mit Kaiba reden wollte, also zog er sich schnell schon mal um. Er trug ein weißes Hemd, schwarze Jeans und seine schwarzen Sneaker, und hoffte, das würde dem Anlass genügen. Dann schnappte er sich das kleine Geschenk aus der Tüte, das er auf dem Weihnachtsmarkt schon hatte verpacken lassen, und machte sich wieder auf den Weg. Er hatte so eine Vermutung, wo er Kaiba womöglich vorfinden würde.   Noch einmal tief Luft holend, trat Joey an Kaibas Bürotür, klopfte und öffnete sie vorsichtig. Es war schon dunkel draußen, und das einzige Licht, das aus dem Raum schien, war das einer Schreibtischlampe. Der Braunhaarige blickte kurz mit mürrischem Gesichtsausdruck auf, bis er erkannte, dass es Joey war, der eintrat, und sogleich wurden seine Gesichtszüge wieder weicher.   “Hey, komm rein”, sagte Kaiba, und ein wenig verlegen trat Joey ins Zimmer. Hier war er noch nie gewesen. Der Raum war an den Seiten gesäumt von Bücherregalen, die alle bis zum Rand gefüllt waren. Es sah schon fast aus wie eine Bibliothek. Sofern er das im seichten Schein der Schreibtischlampe erkennen konnte, war der Raum in dunkles Holz gekleidet und hatte fast etwas herrschaftliches. Passte zu seinem Drachen, das musste er zugeben.   Er schloss die Tür hinter sich und wusste nicht so richtig, wie er anfangen sollte. Er trat von einem Bein aufs Andere, und Kaiba beobachtete ihn intensiv. “Sind deine Schwester und deine Mum zufrieden mit der Auswahl des Apartments?”, fragte Kaiba.   “Oh, ja, auf jeden Fall, du hast ihnen ein tolles Apartment zugewiesen, danke.”   Der Blonde blickte auf das Geschenk in seinen Händen. Vielleicht fing er einfach damit an, möglicherweise half es ihm, irgendwie die richtigen Worte zu finden. Zumindest eine kleine Pause zum Denken würde es ihm verschaffen.   “Hier, das ist für dich”, sagte Joey, trat an den Schreibtisch ran und übergab das kleine Päckchen an Kaiba. Dieser nahm es ihm ab und für eine kurze Sekunde berührten sich ihre Finger dabei, was Joey eine elektrisierende Gänsehaut verpasste. Er beobachtete Kaiba genau, als er das kleine Geschenk auspackte - und einen Schlüsselanhänger mit einem kleinen Plüsch-Kuscheltier vom weißen Drachen mit dem eiskalten Blick in den Händen hielt.   “Das hast du auf dem Weihnachtsmarkt gekauft, oder?” Kaiba drehte den kleinen Drachen in seiner Hand in jede Richtung, um ihn genau zu betrachten. Joey nickte. “Genau. Ich weiß, es ist nicht viel, aber entweder hast du schon alles oder du kannst es dir selber leisten. Aber als ich es gesehen habe, wusste ich, das sollte dir gehören.”   Kaibas lange Finger betrachteten das kleine Kuscheltier noch immer intensiv in seiner Hand. War Joey jemals aufgefallen, wie lang und filigran Kaibas Finger waren? Jetzt, unter dem Licht der Schreibtischlampe, wurde es zumindest ziemlich offensichtlich.   “Danke, Hündchen”, begann der Größere. “Es… es gefällt mir wirklich unheimlich gut. Wirklich, nur…” Joey versetzte das einen kurzen Stich. Hatte er schon eine ganze LKW-Ladung davon Zuhause? War es ihm zu klein? War es nicht perfekt genug?   Kaiba schien seine Zweifel in seinen Augen sehen zu können, als er hoch blickte und sagte: “Es ist nur, ich hab’ gar kein Geschenk für dich.” Joey unterbrach ihn, indem er sich auf dem Schreibtisch abstützte und sich in seine Richtung lehnte. Und plötzlich sprudelten die Worte wie ein Wasserfall aus ihm heraus.   “Du hast kein Geschenk für mich? Ernsthaft, Kaiba? Das ist absoluter Quatsch. Du hast mir heute das beste Geschenk gemacht, das ich jemals bekommen habe. Du hast mir meine Familie geschenkt, und ich werde dir niemals genug dafür danken können. Ich weiß, dass der kleine Drache da keinen großen materiellen Wert hat, und ich hab’ ihn ja auch gekauft, bevor ich wusste, dass du mich so überraschen würdest. Ich habe keine Ahnung, wie ich das jemals wieder gut machen soll. Gott, Kaiba, weißt du eigentlich, was du da für mich getan hast? Und wie viel mir das bedeutet? Und wie unheimlich glücklich du mich damit gemacht hast? Ich… ich weiß nicht… das ist so… so…” Die Tränen kullerten in Bächen von seinen Wangen und sein ganzer Körper zitterte. Er wusste nicht, ob er sich noch lange würde auf den Beinen halten können. Sein Körper war so voll von Dankbarkeit für diesen Mann, der eigentlich sein Erzfeind war und ihm doch das schönste Geschenk seines Lebens gemacht hatte. Er hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich in tausend Teile zerspringen vor lauter Glücksgefühl.   Nur Sekunden später stand Kaiba vor ihm und nahm ihn in den Arm. Eine richtige Umarmung, kein Zögern, kein Warten, einfach nur Joey an Kaibas Brust. Er konnte wahrnehmen, wie der Größere schneller atmete, sein Herz schneller schlug. Joey umarmte ihn nun auch und intensivierte die Umarmung dadurch noch etwas, konnte aber die Tränen nicht zurückhalten. “Shhh, mein Hündchen, es ist alles gut”, hörte er den Braunhaarigen, der etwas mehr als einen halben Kopf größer war als er selbst, an sein Ohr flüstern. Er streichelte ihm sanft durchs Haar, und Joey wurde durch die milde Berührung ein wenig ruhiger.   Kaibas Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, und es schaffte wieder eine Intimität zwischen ihnen, die er, wie er jetzt feststellen musste, die letzten zwei Wochen schmerzlich vermisst hatte. “Kein Grund, dich bei mir zu bedanken. Ich hab’ die letzten zwei Wochen gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und du hattest mir ja auch auf dem Weihnachtsmarkt verraten, was das war. Es war keine große Mühe für mich, das zu tun, wirklich nicht. Ich… ich will nur…”   Joey musste ihn ansehen, musste ihm in die Augen sehen. Er wusste, dass Kaiba keiner war, der sich leicht mit Worten tat, aber seine Augen würden ihm immer sagen, was er dachte. Und im seichten Licht der Lampe konnte er sie genau betrachten, eine Nuance heller als sonst. Joey war erstaunt, dass Kaiba noch weiter sprach, und war noch dankbarer für dieses Situation, weil der Größere so sehr versuchte, über seinen eigenen Schatten zu springen.   “Ich will nur, dass du glücklich bist, mein Hündchen.” Und Joey erkannte an Kaibas Augen, dass er noch viel mehr zu sagen hatte, aber all das war schon so viel mehr, als er sich jemals hätte erhoffen können.   “Ich wünschte nur, ich könnte dir dasselbe Geschenk machen. Dir deine Eltern zurückbringen, dir deine Familie schenken, so, wie du mir heute meine geschenkt hast.”   Kaiba lehnte seine Stirn an die von Joey, als er einen Satz sagte, den Joeys Herz nun final zum Platzen brachte: “Zusammen mit Mokuba bist du längst die Familie für mich, die ich so lange verloren geglaubt hatte.”   Ihre Nasen berührten sich und Joey konnte Kaibas beschleunigte Atmung auf seiner Wange spüren. Er wusste nicht, wieviel Glück er noch würde ertragen können, aber er war süchtig, süchtig nach diesem Schwall an Endorphinen, die seinen Körper durchströmten. Sie öffneten die Augen, und goldbraun mischte sich mit eisblau. Langsam, fast schon in Zeitlupe, näherte sich Joey Kaibas Lippen. Noch zwei Zentimeter lagen zwischen ihnen, Joey konnte Kaibas warmen Atem an seinen Lippen spüren...   “Seeeeeeetooooooo! Das Dinner ist… oh!” Plötzlich stand Mokuba mitten im Arbeitszimmer und sah die beiden Männer, die noch immer sehr nah beieinander standen. Sofort trennten sie sich und Mokubas Gesicht lief hochrot an. Er wandte seinen Kopf ab, und bevor er wieder abzog, sagte er noch: “Sorry, wollte nicht stören. Das Essen ist fertig, kommt einfach runter, wenn ihr soweit seid, okay?” Und damit war er so schnell weg wie er gekommen war.   Joeys Hände zitterten und seine Atmung war noch immer beschleunigt. Adrenalin mischte sich mit den Endorphinen, und er konnte nicht glauben, was sie da beinahe gemacht hatten. Er sah Kaiba an und konnte erkennen, dass es ihm genauso ging. Dennoch konnte der Braunhaarige seine Fassung zuerst zurück gewinnen. Er musste sich einmal räuspern, dann sagte er: “Ich muss nochmal kurz zurück in mein Apartment, ich glaube, ich brauche ein neues Hemd.”   Joey musterte ihn verlegen, bevor er ein kleinlautes ‘Sorry’ von sich gab.   Kaiba schüttelte den Kopf und bedeutete ihm so, dass alles in Ordnung war. “Sehe ich dich dann gleich beim Essen, Hündchen?”   Joey, der noch immer nicht wieder Herr seiner Stimme - und Sinne - war, konnte nur nicken. Kaiba kam noch einmal kurz auf ihn zu, sah ihm tief in die Augen und streichelte seine Wange. Es war nur ein ganz flüchtiger Augenblick, und dennoch, selbst als Kaiba schon zwei Minuten aus der Tür war, brannte seine Berührung noch immer an seiner Wange.   Als er sich einigermaßen gesammelt hatte, machte er sich auf den Weg in den Festsaal. Sein Hemd schien in Ordnung und nicht vollgeheult, also musste er seines nicht noch wechseln gehen. Alle anderen waren schon dort, mit Ausnahme von Kaiba. Als Mokuba ihn sah, kam er sogleich rüber. “Hey, Joey, sorry für gerade eben. Ich wollte nicht…” Damit senkte der Kleine den Kopf und schon wieder färbten sich seine Wangen tiefrot.   “Alles in Ordnung, Mokuba. Es… es war ja gar nichts. Kein Grund, da irgendwas rein zu interpretieren. Komm, lass uns hinsetzen.”   Joey setzte sich an die große Tafel, ihm gegenüber seine Schwester und seine Mum, Mokuba saß zwei Plätze links von ihm. Die Tafel war riesig, vermutlich hätten hier auch 20 Menschen Platz, sodass neben allen bisher anwesenden Personen noch massig Plätze frei waren. Joey konnte in einer Ecke des Raumes ein Klavier mit einem Pianisten erkennen, der dezent Weihnachtslieder spielte. Es klang so wunderschön, und als Joey sich an all die schönen Dinge erinnerte, die heute schon passiert waren, bekam er wieder feuchte Augen. Aber er musste sich zusammenreißen. Er wollte diesen Abend jetzt nicht damit zubringen, Rotz und Wasser zu heulen, sondern einfach nur genießen. Mokuba hatte es außerdem geschafft, den Rest des Baumes zu schmücken, und mit den vielen verschiedenen Farben, Kugeln, Figuren und Lichtern erfüllte er den Raum mit so viel positiver Weihnachtsstimmung, dass Joey gar nicht anders konnte, als sich davon anstecken zu lassen. Und jetzt, wo er seine Familie hier hatte, gelang ihm das auch mit Leichtigkeit.   In diesem Moment ging die Tür erneut auf und Kaiba trat in den Raum. Es war offensichtlich, dass er den Raum nach etwas absuchte, und als seine eisblauen Augen auf die goldbraunen von Joey trafen, schien er gefunden zu haben, was er suchte. Für eine Sekunde blieb für Joey die Zeit stehen. Kaiba hatte sich ein dunkelblaues Hemd angezogen, so blau wie seine Augen. Die Haare lagen ihm ein wenig wild im Gesicht, so als ob er sich beeilt hätte, herzukommen, und er strich sie sich ein wenig aus der Stirn. Joey musste bei Kaibas Anblick schlucken. Er sah atemberaubend schön aus, und sofort vermisste er wieder die Berührung, die sie vorhin geteilt hatten.   Dann schien die Uhr sich wieder weiter zu drehen, und als Kaiba zwischen Mokuba und ihm platz nahm, wusste er, dass dies vermutlich der schönste Tag seines bisherigen Lebens sein würde.   ~~~~   Kaiba gab auf. Er wusste, er konnte nicht anders. Irgendwas zog ihn magisch zu Wheeler, und auch, wenn er nicht wusste, was es war - er hatte lange versucht, es zu ignorieren oder sich dem zu entziehen, aber es war zwecklos. Er wurde einfach magnetisch angezogen. Nichts wollte er jetzt mehr als in seiner Nähe sein.   Er war noch immer atemlos von dem, was gerade in seinem Arbeitszimmer passiert war. Würde er diesen Raum je wieder betreten können, ohne daran denken zu müssen? Sein Herzschlag beschleunigte sich, jedes Mal, wenn er an Wheelers Berührungen dachte. Er konnte seine Gefühle gar nicht in Worte fassen. Sie hatten eine Verbindung aufgebaut, die er so mit noch niemandem hatte. Natürlich hatte er auch ein enges Band mit Mokuba, aber das hier war anders. Es war gewaltig und unheimlich und mystisch und… wunderschön. Er hatte sich noch nie so leicht gefühlt wie heute, und wie ironisch es war, dass es an Weihnachten passierte.   Als Wheeler ihm sagte, er würde ihm gern dasselbe Geschenk machen, ihm seine Familie zurückbringen wollen, da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Wie unglaublich und unwirklich zugleich es sich anfühlte, als er verstand, dass Joey zu seiner Familie gehörte, obwohl sie doch noch gar nicht so lang zusammen wohnten. Aber die letzten knapp zwei Monate hatten alles verändert. Der Blonde nahm zu großen Teilen seine Gedankwelt ein, und ja, davon war er oft genervt, aber er konnte nichts dagegen tun. Es war eben so, wie es war.   In diesem Moment wurden seine Gedanken unterbrochen, als der erste Gang aufgetischt wurde. Wheeler nahm den Löffel und fing an, die Suppe zu löffeln, und Kaiba konnte ihm ansehen, wie sehr er sie genoss. Und schon wieder war es da, dieses unendliche Glücksgefühl. Wie viel davon konnte ein Mensch in so kurzer Zeit spüren, wie viel ertragen, ohne vor Glück zu platzen?   “Wie lange wollt ihr eigentlich bleiben?”, fragte Wheeler an seine Familie gerichtet. Seine Mum antwortete nachdenklich: “Na ja, wir wissen nicht, wie lange wir überhaupt bleiben dürfen. Wir würden schon gern ein paar Tage bleiben, müssten uns dann aber auch nach einer preiswerten Unterkunft umschauen und auch noch irgendwie an ein günstiges Rückflugticket kommen.”   Kaiba räusperte sich. “Selbstverständlich könnt ihr solange bleiben, wie ihr wollt. Das Gästeapartment, in dem ihr wohnt, wird nicht so schnell weitervergeben werden müssen und steht euch unbegrenzt zur Verfügung. Und natürlich stelle ich meinen Privatjet auch für euren Rückflug zur Verfügung. Sagt einfach kurzfristig Bescheid, wann ihr fliegen wollt, und ich arrangiere alles.”   Es war unglaublich, wie sehr sich Wheeler und seine Mum ähnelten. Ihre Augen wurden leicht feucht und sie musste gar nichts sagen, man konnte ihr die Dankbarkeit auch so ansehen. “Das ist unheimlich großzügig, Kaiba, vielen herzlichen Dank. Ich weiß gar nicht, wie wir das wieder gut machen können.” Hm, auch die Wortwahl ähnelte seinem Hündchen. Verblüffend.   “Das ist auch absolut nicht notwendig. Ihr seid Joeys Gäste, und damit auch meine, da ist das wirklich selbstverständlich.” Erst danach bemerkte er, dass er gerade zum ersten Mal Wheelers Vornamen benutzt hatte, zumindest außerhalb seiner eigenen Gedanken, und konnte den Blonden scharf einatmen hören, als das passierte. Im nächsten Augenblick spürte er Joeys Hand auf seinem Oberschenkel, und konnte seine Berührung hauchzart durch den Stoff seiner Hose spüren. Für einen kurzen Moment schauten sie sich tief in die Augen, und er erkannte dieselbe Dankbarkeit in seinen Augen wieder. Diese goldbraunen Augen, die ihn so oft schon in seinen Träumen verfolgt hatten, hatten nun endlich zu ihrem ursprünglichen Glanz zurück gefunden. Mit seinen Lippen formte Joey ein ‘Danke’, dann nahm er die Hand wieder weg und sofort vermisste Kaiba seine Berührung. Dennoch widmete er sich erneut seiner Suppe.   “In Ordnung, dann würden wir gern bis Neujahr bleiben, wenn das okay für dich ist, Joey?” Der Blonde strahlte, als er sagte: “Natürlich! Solange ihr wollt, Mum, solange ihr wollt.”   Nach fünf Gängen und mit sehr gefüllten Mägen endete dann das Dinner. Die Stimmung war ausgelassen und alle unterhielten sich miteinander, auch wenn Kaiba sich den Rest des Abends zurückhielt, einfach auch schon deshalb, weil er nicht wusste, was er hätte Sinnvolles beitragen sollen. Wheeler war da einfach anders - er konnte Menschen ohne Schwierigkeiten in ein Gespräch verwickeln, andere einbinden und ohne Probleme neue Themen einbringen. Das bewunderte er an ihm, dass er es schaffte, so offen und ungeniert zu kommunizieren, ohne sich zu viele Gedanken über die Wortwahl zu machen. Bei ihm war das einfach anders - er stand in der Öffentlichkeit und musste sich oft sehr genau Gedanken dazu machen, wie er was sagt, um nicht in die Klatschspalten der hiesigen Zeitschriften zu gelangen. Obwohl er da trotzdem immer mal wieder auftauchte, was ein nerviges, aber leider nicht zu verhinderndes Übel war.   Als nächstes stand die Bescherung an, die im großen Gemeinschaftswohnzimmer stattfinden würde. Mokuba rannte als Erster davon, der Kleine konnte es wie immer nicht abwarten. Joey ging neben seiner Mum als nächstes aus dem Raum, aber nicht, ohne sich noch mal zu ihm umzudrehen und ihm ein dankbares Lächeln zu schenken. Kaiba war in der größeren Gesellschaft nicht zu viel im Stande, aber er versuchte dennoch, ein sanftes Lächeln, wenn auch nur ganz leicht angedeutet, zurückzuschicken, und er hatte das Gefühl, Joey verstand es, denn sein Lächeln wurde noch ein bisschen breiter. Dann verließ auch er den Raum, und Serenity und er waren die Letzten, die aufbrachen.   “Hey, Kaiba”, sprach sie ihn direkt an. Sie hielt ihn auf, bevor sie den Raum verlassen konnten. “Ich bin dir unheimlich dankbar für das, was du für meinen Bruder getan hast. Er hat vorhin versucht, uns zu erklären, warum er überhaupt hier ist, und ganz ehrlich, ich mag ihn sehr lange nicht gesehen haben, aber ich kenne meinen Bruder. Ich weiß, dass er uns nicht die ganze Wahrheit erzählt hat. Er hat was von einem Brief erzählt, den wir nie erhalten haben, und der scheint Bedeutung zu haben. Ich weiß nicht, was drin steht, und ich weiß nicht, welchen Teil er wirklich ausgelassen hat, aber ich weiß, dass er sich hier wohlfühlt. Also, alles, was ich sagen will, ist, pass gut auf ihn auf, ja? Ich liebe ihn, und ich will, dass es ihm gut geht. Ich habe ihn jetzt natürlich lange Jahre nicht mehr persönlich gesehen, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er jemals so glücklich war wie heute, außer vielleicht, als wir noch Kinder waren. Wir waren viel in Kontakt die letzten Jahre, und er hatte eigentlich immer was zu meckern, aber heute… heute ist er einfach wie der unbeschwerte Junge von damals. Und ich bin froh, dass es so ist.” Und damit verschwand auch sie aus dem Raum. Kaiba brauchte einen Augenblick, um das zu verarbeiten. Er hatte ihnen also nicht die ganze Geschichte erzählt, auch Kaiba war dahingehend sehr diskret gewesen. Er wusste nicht, ob Wheeler sie überhaupt informiert hatte über sein… Vorhaben. Und offensichtlich hatte er es versucht, aber der Brief kam nicht an. Nicht unüblich in der internationalen Post, und etwas in ihm war erleichtert darüber, und er kam nicht umhin zu glauben, dass es seinem Hündchen damit genauso ging.   Nun machte auch er sich auf den Weg ins Wohnzimmer. Dort angekommen, herrschte ausgelassene Stimmung - Wheeler saß auf dem flauschigen, weißen Teppich am Boden und lehnte sich an das Sofa, ihm gegenüber war Mokuba, der auch auf dem Boden saß. Serenity und ihre Mum saßen jeweils auf einem Sessel. In der Ecke brannte der Kamin und die bodentiefen Fenster ließen den Ausblick auf den Park des Anwesens erahnen, der mittlerweile völlig zugeschneit war. Er konnte sehen, dass noch immer dicke Flocken vom Himmel fielen.   “Seto, da bist du ja endlich!”, holte ihn Mokuba aus seinen Gedanken. “Komm, wir wollen endlich anfangen!”   Er überlegte kurz, dann setzte er sich auf das Sofa, vor dem Joey saß. Sie waren sich sehr nah, Joeys Kopf war nur wenige Zentimeter von seinem Bein entfernt, und Kaiba wusste, das war genau der Platz, an den er jetzt gehörte.   Dann begann die Bescherung. Mokuba schenkte Joey einen Weihnachtspullover in rot, mit Rentieren drauf, absoluter Kitsch. Aber Joey schien er zu gefallen, er zog ihn sich sogar direkt drüber und schaute dann zu ihm auf. War ihm seine Meinung dazu etwa wichtig? Mit einem leisen Schmunzeln, das nur jemand sehen konnte, der so nah saß wie Joey es in diesem Moment tat, erfüllte er seinen fordernden Blick, und der schien zufrieden.   Mokuba bekam von Joey ebenfalls einen kleinen Kuscheltier-Schlüsselanhänger, allerdings mit einem Weihnachtsmann, und dennoch musste Kaiba an den kleinen Drachen denken, den Joey ihm geschenkt hatte, und sein Herz setzte für einen Moment aus. Würde er seine Gefühle heute noch mal in den Griff bekommen?   Serenity und Joeys Mum hatten auch ein Geschenk für ihn mitgebracht, eine Süßigkeitenbox aus den USA. “Wow, Mum, Serenity, das ist ja mega cool, vielen Dank! Vermutlich werde ich das alles gar nicht essen können.” Sein Lachen war wirklich ansteckend, und erneut musste Kaiba sich zur Disziplin ermahnen, um nicht mit einzusteigen. Dann hörte er den Blonden erneut reden. “Da ich nicht wusste, dass ihr kommt”, begann er und legte seinen Kopf nur ganz leicht an Kaibas Beine, “habe ich euch kein Geschenk kaufen können. Aber lasst uns doch in den nächsten Tagen einfach mal irgendwohin gehen, einen Ausflug machen oder so, ich lad’ euch ein!”   “Klingt toll, Joey, das machen wir”, erwiderte Serenity sichtlich begeistert. Auch Serenity und ihre Mum tauschten kleinere Geschenke, bevor Kaiba an der Reihe war, Mokuba seines zu geben. Es war ein QR-Code, der ihn zu einer App führte, die Kaiba entwickelt hatte, und Mokuba würde der Erste sein, der sie zu Gesicht bekam. Es war ein ganz neues Spiel, und sein kleiner Bruder war über die Maßen begeistert. “Danke, Seto, das ist richtig cool! Ich werde es gleich morgen ausprobieren! Hier, das ist dein Geschenk.”   Er hielt ihm einen Umschlag hin, und als er diesen nahm und anschließend öffnete, befanden sich darin zwei Karten für ein Klavierkonzert. Mokuba wusste, dass Kaiba sehr gern Klaviermusik hörte, und tatsächlich freute er sich über das Geschenk. Und er wusste auch schon sehr genau, wen er unbedingt dabei haben wollte. “Danke, Mokuba”, sagte er, und anschließend klatschte sein kleiner Bruder sofort in die Hände. “So, Leute, jetzt sind alle Geschenke verteilt, ich würde sagen, Zeit für ein paar Spiele!” Sein Hündchen zu seinen Füßen hüpfte aufgeregt auf und ab und freute sich offenbar sehr darüber, sich mal wieder einem kleinen Wettbewerb zu stellen, wenn auch nur bei belanglosen Gesellschaftsspielen.   Kaiba nahm lieber die Beobachterposition ein. Sie tranken heißen Tee, für Mokuba gab es einen warmen Kakao und Joeys Mum bekam sogar richtigen Glühwein. Schon nach wenigen Runden konnte er sehen, wie Joey in hohem Bogen aus dem Spiel flog.   “Verdammt”, fluchte dieser lachend, “das war wohl nix. Serenity, mach sie fertig!” Dem Gesichtsausdruck seiner Schwester nach zu urteilen, teilten sie ihren Ehrgeiz zu siegen. Joey stellte seine Tasse Tee neben sich ab und beobachtete noch eine Weile das Geschehen. Dann, als die Anderen nicht mehr auf ihn achteten, erhob er sich und ging zu einem der großen, bodentiefen Fenster und schaute nach draußen. Dann ging er noch einige Schritte weiter nach links, sodass er von ein paar hochgewachsenen Pflanzen verdeckt wurde, die Mokuba unbedingt kaufen wollte, weil Kaiba sich geweigert hatte, noch einen zweiten Weihnachtsbaum zu besorgen. Dass er jedes Jahr zuließ, dass überhaupt ein einziger Weihnachtsbaum in seinem Haus stand, grenzte schon an ein Wunder, aber wenn Mokuba unbedingt noch ein paar Pflanzen mehr im Haus haben wollte, war ihm das egal, solange es nicht noch mehr Weihnachtsbäume waren.   Woran sein Hündchen wohl gerade dachte?   Wenige Minuten nach Joey stand auch Kaiba auf und stellte sich neben ihn ans Fenster, ebenfalls verdeckt hinter den Pflanzen, sodass niemand sie sehen konnte - und er genoss es, weil es sich anfühlte, als wären es nur sie beide in diesem großen Raum. “Ist alles in Ordnung?”, fragte er ihn sanft. Joey schaute zu ihm auf und konnte seine Freude nicht verbergen. “Absolut. Ich glaube kaum, jemals einen so perfekten Tag erlebt zu haben. Danke, Kaiba, echt, ich kann dir überhaupt nicht sagen, wie dankbar ich bin. Aber ich werde es versuchen. Jeden Tag. Um dir hoffentlich irgendwann auch mal einen so perfekten Tag wie heute zu schenken.” Ein kurzer Blick nach hinten zeigte ihm, dass sie unbeobachtet und tatsächlich auch gut versteckt waren, dank Mokuba, der hier offensichtlich einen halben Dschungel aufgestellt hatte. Konnte er es wagen? Er würde das Risiko eingehen. Also lächelte er und konnte das Staunen in Joeys Gesicht sehen, was sein Lächeln noch ein wenig verstärkte.   “Dieser Tag war auch für mich perfekt. Und das an Weihnachten.” Beide lachten leise und waren bemüht, dass niemand sie bemerkte. “Hey”, setzte Kaiba erneut an, “Mokuba hat mir zwei Konzertkarten geschenkt, für ein Klavierkonzert im Januar. Möchtest du mich begleiten?”   “Will Mokuba denn nicht mit dir gehen? Immerhin hat er dir doch die Karten geschenkt.”   Kaiba schüttelte den Kopf. “Nein, Mokuba steht nicht so auf klassische Musik.”   “Okay, ich komme gern mit, ich hab’ aber keinen blassen Schimmer von klassischer Musik. Also wenn dich das stört…”   “Absolut nicht. Ich hätte dich wirklich gern dabei. Wirklich.”   Joey lächelte ihn an. “Okay, dann machen wir das.”    Sie schauten sich in die Augen, während ihre Körper sich immer näher kamen. Irgendwann berührten sich die kleinen Finger von Joeys rechter und Kaibas linker Hand, die sie sanft umeinander legten, ohne die Blicke voneinander zu lösen. Dann kamen die anderen Finger dazu, bis sich all ihre Finger ineinander verschlungen hatten. Joeys Augen waren ein einziger Goldstrom, und selbst, wenn er es versuchen würde, er würde seinen Blick nicht von ihnen lösen können. Das tat Joey für ihn, als er seinen Kopf an Kaibas Schulter legte und auch die anderen, bisher untätigen Hände ineinander verkeilte. Ihr Atem glich sich einander an und sie verwoben die Hände noch ein bisschen enger. Kaiba legte seinen Kopf gegen den von Joey, dessen Haare seine Nase kitzelten. In dieser Position verharrend, schauten sie gemeinsam hinaus und beobachteten die Schneeflocken, die noch immer unermüdlich auf die Erde herab rieselten. Und Kaiba wusste, von diesem Augenblick an, dass er verloren war. Er wusste nicht, was es war, was er fühlte, oder warum, aber er wusste, es war genau richtig so - und Joeys Blicke, seine Berührungen und seine beschleunigte Atmung zeigten ihm, dass es ihm genauso ging. Sie waren wie Ying und Yang, Feuer und Wasser, Himmel und Hölle, und dennoch standen sie hier, eng verbunden, umschlungen von einem Band, gegen das sie machtlos waren. Und so rieselte der Schnee weiter auf die Erde, die für die beiden heute völlig auf den Kopf gestellt wurde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)