Rescue me von Evi1990 (When a dragon saves a puppy - Seto x Joey) ================================================================================ Kapitel 1: Rescue me... from bad decisions ------------------------------------------ Er atmete noch einmal tief durch, bevor er allen Mut zusammen nahm, über die Brüstung stieg und auf dem kleinen Vorsprung zum Stehen kam. Zitternd hielt er sich am metallischen Geländer hinter ihm fest. Er musste schlucken - unter ihm ging es etwa 25 Stockwerke in die Tiefe. Der Wind peitschte ihm um die Nase und trotz des langen Mantels, den er sich heute angezogen hatte, war ihm ein wenig fröstelich zu Mute. Das konnte allerdings auch dem unaufhaltsamen Regen geschuldet sein, der vor wenigen Minuten begonnen hatte, ohne Gnade auf ihn niederzuprasseln. Erneut nahm er einen tiefen Atemzug und versuchte sich zu beruhigen. Das war er also, der Moment, den er so lange geplant hatte. In wenigen Minuten würde der ganze Schmerz nicht mehr sein, er würde nicht mehr sein. Manchmal fragte er sich, was wohl danach kommt, nach dem Tod. Werden wir wiedergeboren, wird mit dem Tod auch neues Leben begonnen, so wie es die Buddhisten glauben? Oder wird er am Ende doch in der Hölle landen? Oder - und er wusste nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte - war da am Ende einfach das Nichts? Egal, was es war, was ihn erwartete - es musste besser sein als das Leben. Sein Entschluss stand fest, er würde es tun. Immerhin hatte er sogar Abschiedsbriefe geschrieben, an Yugi, Tristan, Téa und die Anderen, an seine Schwester Serenity, ja selbst seinem Dreckssack von Vater, der keinen unerheblichen Anteil daran trug, dass er nun hier stand und seinem Leben ein Ende bereiten wollte, selbst ihm hat er einen Brief hinterlassen. Er sollte wissen, was ihn dazu getrieben hatte, sollte wissen, wie viel Schuld er trug. Er hatte einmal die Chance, ein guter Vater zu sein, aber er hat es vergeigt. Ein guter Vater sollte seinen Sohn vor den bösen Dingen beschützen, nicht sie ihm noch vorsätzlich zufügen. Die Erinnerungen an das Geschehene und der damit verbundene Schmerz holten ihn wieder ein. Nein, das würde niemals aufhören, er musste es tun. Ob er viel merken würde, wenn er auf dem harten Boden aufkam? Würde er noch viel spüren? Auch wenn er hoffte, dass dem nicht so war, so musste er den kurzen Moment des körperlichen Schmerzes auf sich nehmen, falls er ihn denn lange spüren würde, um den langwierigen, körperlichen und seelischen Schmerzen des Lebens zu entkommen. Es war soweit. Es war richtig. Es war die einzige Möglichkeit, die er hatte. Noch ein letztes Mal ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen, über die Dächer der Nacht, die Lichter der Stadt. Aufgrund der Dunkelheit konnte er die Menschen auf den Straßen kaum wahrnehmen, wusste aber, dass sie sich wie Ameisen unter ihm bewegten. Jeder ging seinem gewohnten Alltag nach. In der Ferne konnte er irgendwo einen Hubschrauber ausmachen. Er fixierte diesen Punkt am Himmel. Komisch, bildete er sich das nur ein oder kamen die Geräusche und der Hubschrauber auf ihn zu? Und selbst wenn es so wäre, vielleicht war er auf dem Weg zum Krankenhaus, in dessen Nähe er sich gerade befand. Und tatsächlich - der Hubschrauber flog in seine Richtung. Je näher er kam, desto lauter wurden die Geräusche. Er konnte nur hoffen, dass die Personen in dem fliegenden Gerät ihn nicht sahen. Er war für einen Moment erleichtert, als der Hubschrauber über ihn hinweg flog, und gerade, als er sich wieder seinem eigentlichen Vorhaben widmen wollte, bemerkte er, dass sich die Geräusche des Hubschraubers nicht weiter entfernten. Im Gegenteil - kamen sie etwa näher? Vorsichtig drehte er seinen Kopf um und konnte nicht glauben, was er da sah. Das Dach des Hochhauses, auf dem er stand, war nicht gemacht als Hubschrauberlandeplatz, aber er konnte wahrnehmen, dass jemand über eine Art Leiter aus dem Hubschrauber ausstieg. Na toll, so war das nicht geplant gewesen. Er wollte allein sterben, und es gehörte ebenfalls nicht zum Teil seines Plans, sich jetzt noch vor irgendjemandem für seine Entscheidung rechtfertigen zu müssen. “Was zum Teufel soll das werden, wenn's fertig ist, Wheeler?” War ja klar, von all den Millionen Menschen, die aus dem Hubschrauber hätten steigen können, musste gerade er es sein. Joey verstärkte seinen Griff am Geländer ein wenig. Was wollte der Andere hier? “Verpiss dich, Kaiba! Das hier hat mir dir rein gar nichts zu tun.” Als sich die Geräusche des Hubschraubers langsam wieder entfernten, schöpfte Joey für einen Moment die Hoffnung, wieder allein zu sein. Diese Hoffnung wurde allerdings kurz darauf schon wieder zunichte gemacht, als Kaiba sich erneut zu Wort meldete - scheinbar hatte er den Hubschrauber nur weggeschickt. “Da hast du nicht unrecht, das hier hätte normalerweise auch nichts mit mir zu tun und es wäre mir herzlich egal, was du mit deinem Leben machst oder nicht machst. Allerdings haben mich deine blöden ‘Kindergarten’-Freunde da mit reingezogen. Und was glaubst du würde die Presse wohl sagen, wenn ich, Seto Kaiba, CEO der KaibaCorp., willentlich dabei zusehe, wie sich ein dämlicher Köter in die tiefen stürzt?” “Moment, was…?!” Joey hatte Mühe, ihm zu folgen. “Sie haben dich geschickt?” “So in etwa. Sie haben mir deine süßen, kleinen Abschiedsbriefchen gezeigt und mich förmlich angebettelt, zu helfen.” “Aber warum zur Hölle denn dich?” Joey ärgerte sich über seine Freunde. Was haben die sich nur dabei gedacht, seinen absoluten Erzfeind hier mit reinzuziehen? Dass sie irgendwie versuchen würden zu helfen, konnte er ihnen ja gar nicht verübeln. Aber ihn? Wirklich? Kaiba zuckte mit den Schultern. “Sie wissen, ich habe Mittel und Wege, so ziemlich jede Person auf diesem Planeten ausfindig zu machen. Selbstverständlich habe ich zunächst dankend abgelehnt. Ich hab normalerweise wirklich besseres mit meiner Zeit zu tun, als einem kleinen Hündchen zu helfen.” “Du mieser…” “Aber”, unterbrach Kaiba Joey, “dein dämlicher Freund Taylor wollte es wohl nicht darauf beruhen lassen. Eigentlich ganz süß, wie er versucht hat mir zu drohen. Als ob das irgendwas ändern würde.” Kaibas Monolog wurde nur für einen kurzen Moment von seinem verächtlichen Schnauben unterbrochen, bevor er fortfuhr. “Tja, und dann sagte er sowas wie, wenn ich nicht helfe, würde er sofort zur Presse gehen und denen was von unterlassener Hilfeleistung erzählen.” “Ehrlich, Kaiba, das soll ich dir glauben? Seit wann interessiert dich denn, was irgendjemand auf dieser Welt von dir denkt?” Joeys Blick ist noch immer nach vorn gerichtet. Was auch immer Kaiba vor hatte, er durfte sich unter keinen Umständen dazu verleiten lassen, seinen Plan nicht in die Tat umzusetzen. Kaiba, der nur wenige Meter hinter Joey stand, verschränkte die Arme vor dem Körper, und mit hochgezogener Augenbraue erklärte er: “Oh, da hast du was falsch verstanden, Köter. Es interessiert mich nicht. Was mich aber interessiert, ist meine Firma. Was, glaubst du, würde das wohl für das Image und den Erfolg meiner Firma bedeuten, wenn man mir unterlassene Hilfeleistung vorwirft? Sicher, meine Anwälte würden das aus rechtlicher Sicht sicher für mich regeln, aber wer kauft schon noch Spiele von jemandem, der andere in den Tod springen lässt?” Das war zu viel für Joey. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Mit Schwung stieg er über das Geländer zurück auf das vermeintlich sichere Dach des Hochhauses und mit schnellen Schritten und düsterem Blick ging er auf Kaiba zu. Dieser war für einen Moment irritiert, fasste sich aber sofort wieder und wappnete sich für den Angriff des Blonden, der nun unvermeidlich folgen würde. “Was fällt dir eigentlich ein, Kaiba? Du bist das größte Arschloch, das mir in meinem Leben jemals begegnet ist, und glaub mir, ich bin vielen Arschlöchern begegnet, aber keiner war so selbstgefällig und egozentrisch wie du. Kannst du dir auch nur im Entferntesten ausmalen, warum jemand freiwillig sterben will, warum ich sterben will?!” Joey war wütend, so wütend. Er versetzte dem Größeren, der jetzt direkt vor ihm stand, einen kräftigen Stoß, sodass dieser einen Schritt nach hinten machen musste, um nicht komplett umgestoßen zu werden. Aber er wehrte sich nicht und ließ Joey gewähren. Joey bemerkte gar nicht, wie Tränen sich zu den Regentropfen auf seinen Wangen gesellten. Er atmete schwer und unregelmäßig und er hatte zunehmend damit zu kämpfen, nicht Kaiba zuerst vom Dach zu schubsen. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos und die vielen Erinnerungen, die er in der Vergangenheit so stark versucht hatte zu verdrängen, kamen mit voller Wucht zurück. Er konnte, wollte, durfte sich nicht von ihnen einnehmen lassen, also ging er erneut zum Angriff über. “Kannst du dir auch nur ein winziges bisschen vorstellen, wie es ist, jahrelang misshandelt und missbraucht zu werden? Wie es ist, keinen Ausweg zu haben? Keine teuren Anwälte, die für einen kämpfen würden?” Joey hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Hysterisch begann er zu lachen, bevor er weiter redete: “Ha, was frage ich überhaupt. Als ob der große Seto Kaiba, Mr. Eisklotz höchstpersönlich, auch nur einen Anflug von Gefühlen in sich hat. Sag mir, schlägt in deiner Brust überhaupt ein Herz, oder ist da auch nur ein großer Brocken Eis?” Kaiba verzog keine Miene, seine Augen waren unergründlich und zu Schlitzen geformt auf Joey gerichtet, seine Arme erneut vor dem Körper verschränkt. Joeys Körper war vornübergebeugt, bereit, erneut anzugreifen, wenn notwendig auch mit roher Gewalt. Als Kaiba allerdings nicht antwortete, straffte er sich, richtete sich gerade auf, und sagte verächtlich: “Dachte ich mir. Und jetzt lass mich in Ruhe, das hier geht dich weder etwas an noch wird es dich wohl kaum berühren, wenn ich nicht mehr da bin. In Wahrheit tue ich dir damit doch einen großen Gefallen.” Joey nahm ein paar Schritte rückwärts, bevor er sich umdrehte und erneut über die Brüstung kletterte. ‘Ja, so ist es gut, mach einfach so weiter’, redete sich Joey ein. Es war, als wäre alle Wut aus ihm gewichen. Er war bereit. Er löste zunächst eine Hand vom Geländer, bevor er es auch mit der zweiten Hand losließ. Nun musst er sich nur noch ein wenig vornüber beugen. Noch ein bisschen mehr… Und genau in dem Moment, als er zu fallen drohte, packte ihn eine Hand am Ärmel seines Mantels und zog ihn mit voller Kraft zurück aufs Dach. Krachend kam er auf dem harten Betonboden auf. Über ihm stand Kaiba, der ihn hasserfüllt ansah. “Wie ich schon sagte”, begann Kaiba, “ich kann das nicht zulassen. Deswegen schlage ich dir einen Deal vor.” Joey, der noch immer am Boden lag, strich über seine Hüfte und seinen Po, auf dem er gerade unsanft aufkam. Ein Deal? Was für ein lächerlicher Vorschlag war das denn? Und um Joeys Verwirrung noch zu erhöhen, ergänzte Kaiba: “Sechs Monate.” Joey richtete sich wieder auf. Verdammt, Kaiba versperrte ihm den Weg zur Brüstung. Keine Chance, da war jetzt kein Durchkommen. Und was zur Hölle erzählte Kaiba da eigentlich? “Man, Kaiba, kannst du mal aufhören, in Rätseln zu sprechen und endlich Klartext reden? Von deinen dämlichen Vorschlägen, von denen ich keine Ahnung habe, was sie eigentlich bedeuten sollen, kriegt man ja Kopfschmerzen.” Täuschte sich Joey, oder konnte er ein kurzes Schmunzeln in Kaibas Gesicht wahrnehmen? Falls es da war, war es so schnell wieder weg wie es gekommen war. “Dass du mir nicht würdest folgen können, ist ja nun auch wirklich keine Überraschung. So intelligent sind Straßenköter nun mal nicht.” Wütend gab Joey ein Knurren von sich und musste sich sehr beherrschen, nicht tatsächlich wie ein räudiger Straßenköter zu klingen. “Hättest du dann vielleicht die Güte, mich zu erleuchten und mir, verdammt noch mal, endlich zu erzählen, was du mir eigentlich sagen willst? Was für ein Deal, was für sechs Monate?” Ungeduldig fuhr sich Joey durch die Haare. Warum nur war er nicht einfach gesprungen, bevor dieser Dreckssack hier aufgetaucht war? “Nun gut. Wie du wohl schon verstanden haben wirst, geht es hier um den Schutz meiner Firma. Sollte das Ganze wirklich irgendwann mal an die Presse gelangen, muss ich zumindest glaubhaft darlegen können, dass ich ernsthaft versucht habe, dich von deinen Selbstmordplänen abzuhalten. Also, hier ist der Deal: In den nächsten sechs Monaten werde ich eine Reihe von Maßnahmen treffen und Aktionen durchführen, die dich überzeugen sollen, es nicht zu tun. Solltest du in sechs Monaten immer noch sterben wollen, werde ich dich nicht davon abhalten. Und bevor du jetzt ungehalten wirst: Du hast eigentlich keine Wahl. Wenn du nicht einwilligst, werde ich es trotzdem tun. Ich habe sowohl Mittel, als auch Wege dazu. Ich denke nur, dass es für dich vielleicht ein bisschen angenehmer ist, wenn du freiwillig zustimmst.” Obwohl Joey noch immer sehr verwirrt war, was das jetzt alles zu bedeuten hatte, konnte er ihm doch einigermaßen folgen. Und so schwer es ihm fiel - Kaiba hatte Recht. Er würde alles zum Schutz seiner Firma tun, das hatte er klargestellt. Und wenn er nicht freiwillig einstimmte, würde Kaiba ihn vermutlich einfach wegsperren oder so. Frustriert fuhr Joey sich durch die Haare. Er wollte seine Zustimmung nicht geben, und schon gar nicht wollte er vor Kaiba zugeben, dass er ihn in der Hand hatte. Verdammt, wie konnte der Plan, den er für heute geschmiedet hatte, so grundlegend schief gehen? Kaibas Lippen deuteten erneut ein Lächeln an - allerdings das der gehässigen Sorte - als er sah, dass Joey offensichtlich verstand, dass er mit dem Rücken zur Wand stand. “Dann ist es beschlossene Sache”, sagte Kaiba. “Heute ist der 6. November, unser Deal gilt damit bis einschließlich 5. Mai nächstes Jahr.” Er nahm sein Handy aus der Jackentasche, um den Piloten des Hubschraubers anzurufen, und nur wenige Momente später nahm Joey erneut den Lärm der Motoren wahr, die immer näher kamen, bis der Hubschrauber wieder direkt über ihnen flog. Erneut wurde die Leiter herabgelassen und Kaiba schaute ihn erwartungsvoll an. “Wie gesagt”, rief er dem Blonden zu, “wir können das hier auf die harte oder die weiche Tour machen. Deine Entscheidung.” “Du verdammtes Arschloch”, brachte Joey zähneknirschend hervor, mehr zu sich selbst als zu Kaiba gesagt. Aber er wusste, er hatte keine Wahl - zumindest nicht jetzt. Also lief er hoch erhobenen Hauptes auf die Leiter zu. Als er nach ihr griff, hielt ihn Kaiba für einen Moment erneut am Ärmel seines Mantels fest. Er musste näher an Joey rantreten, damit dieser seine Worte verstehen konnte. “Und noch was. Wenn du glaubst, ich verstehe nicht, was es bedeutet, so schlecht behandelt zu werden, täuschst du dich. Ich verstehe das sehr gut. Aber es gibt eben Menschen, die daran zerbrechen, und andere, die daraus gestärkt hervorgehen. Jeder wählt seinen Weg selbst.” Joey runzelte für einen Moment die Stirn. Er konnte es verstehen? Einen größeren Blödsinn hat er in seinem ganzen Leben noch nicht gehört. Das konnte ja wohl unmöglich wahr sein - oder? Kaiba ließ von ihm ab und kletterte nun doch als Erster die Leiter zum Hubschrauber hoch. Er blickte ein letztes Mal nach unten zu Joey, und fügte hinzu: “Glaub jetzt aber bloß nicht, dass mehr hinter diesem Deal steckt. Wie ich schon gesagt habe, hier geht es um den Schutz meiner Firma, einen so großen Imageschaden kann ich nicht zulassen.” Und da war er wieder, der gefühlskalte Eisklotz, wie Joey ihn kannte. Hatte er gerade wirklich für einen kurzen Moment das Gefühl gehabt, Kaiba könnte sowas wie… Mitgefühl besitzen? Lächerlich! Kopfschüttelnd erklomm nun auch Joey die Leiter hoch zum Hubschrauber, in dem Kaiba schon Platz genommen hatte. Als Joey ankam und seinen Platz neben Kaiba einnahm, reichte dieser ihm ein Headset, bevor er dem Piloten das Zeichen gab, loszufliegen. “Wo fliegen wir hin?”, fragte Joey. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, antwortete Kaiba: “In meine Villa.” Joey war schockiert - was zur Hölle sollte er in Kaibas Villa? Als Joey protestieren wollte, erklärt der Dunkelhaarige augenrollend: “Du glaubst doch wohl nicht wirklich, dass ich dich in das Drecksloch zurück fliege, aus dem du gekommen bist? So, wie ich es verstanden habe, scheint dein volltrunkener, nichtsnutziger Vater ja wohl ein Grund zu sein, warum ich mich überhaupt auf diesen Deal einlassen musste.” “Du musstest dich auf diesen Deal einlassen? Du hast ihn doch selbst vorgeschlagen, Arschloch!” “Korrekt, aber nicht, weil ich es so toll finde, einem Straßenköter zu helfen, falls du dich erinnerst.” Damit war die Diskussion beendet. Joey war sauer, allerdings mehr auf sich selbst. Sein Plan klang in seinen Ohren eigentlich immer so gut, aber offensichtlich hatte er nicht eingeplant, wie vehement seine Freunde versuchen würden, sein Leben zu retten. Eigentlich hatte er gar nicht damit gerechnet, dass ihn überhaupt jemand finden würde. Aber wie… “Hey, Kaiba, wie hast du mich eigentlich gefunden? Ich habe in keinem Brief erwähnt, wo ich es tun will. Hab sogar sehr darauf geachtet, nicht einen Hinweis zu liefern. Also?” Kaiba musste erneut mit den Augen rollen. Genervt beantwortete er die Frage von Joey. “Bist du wirklich so dumm, Wheeler? Ich habe Kontakte. Ich habe dein Handy orten lassen. Und dann war es ziemlich einfach.” Verdammt, wie dumm war Joey eigentlich, sein Handy mitzunehmen? Als ob er das dann noch gebraucht hätte. Aber es war einfach eine Angewohnheit, es mitzunehmen, wenn er aus dem Haus ging. Das wurde ihm jetzt zum Verhängnis. Seufzend blickte er aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Lichter der Stadt. Was würde in den nächsten Wochen und Monaten auf ihn zukommen? Würde Kaiba ihn in irgendeinen Kerker werfen? Was für ein Quatsch, Kaiba hatte eine Villa, keine Burg, und wir lebten auch nicht mehr im Mittelalter. Dennoch ließ Joey die Unsicherheit, was passieren würde, nicht los. Sein einziger Trost war, dass Kaiba ihn gehen lassen würde, in sechs Monaten. Auch wenn sechs Monate eine verdammt lange Zeit sein konnten… Der Flug zur Kaiba-Villa dauerte nicht wirklich lange, und der Hubschrauber landete auf dem dafür vorgesehenen Platz auf dem Dach. Die Motoren wurden abgestellt und alle verließen den Hubschrauber. “Folge mir”, gab Kaiba Joey zu verstehen, der ihm widerstrebend Folge leistete. Nach endlosen Treppen, Aufzügen und Gängen kamen Kaiba und Joey vor einer Tür zum Stehen. Kaiba zog eine Karte durch einen Schlitz neben der Tür, die sich anschließend mit einem Klicken öffnete. Joey trat ein und war sogleich überrascht - hinter der Tür verbarg sich ein ganzes Apartment, mit Küche, Bad, einem großen Schlaf- sowie einem Wohnzimmer. Es war recht spartanisch eingerichtet und diente sonst wohl als Gästeunterbringung. Kaiba hielt ihm eine Schlüsselkarte hin. “Hier, damit bekommst du die Tür auf. Abschließen musst du nicht, sobald die Tür geschlossen ist, kommt man nur mit einer entsprechend freigeschalteten Schlüsselkarte wieder rein.” “Du… du sperrst mich nicht ein?”, fragte Joey ein wenig verdutzt. Mit einem kühlen Lächeln auf den Lippen antwortete Kaiba: “Ich kann mir kaum vorstellen, dass du deine Meinung in sechs Monaten änderst, wenn du jetzt keine Privatsphäre mehr hast oder ich dich in ein Kellerloch sperre.” “Aha, und wo war meine Privatsphäre, als du mein Handy hast orten lassen?”, brachte Joey verärgert hervor. “Manchmal heiligt der Zweck die Mittel, Köter. Und keine Sorge, die Flure und alle Außenbereiche sind mit Kameras ausgestattet, wenn du flüchten willst, wird das meine Security bemerken. Was du hier in dem Apartment machst, ist allerdings deine Sache.” Damit drehte sich der Größere um und machte Anstalten zu gehen. “Warte, was… was wird denn jetzt passieren?” Kaiba öffnete die Tür, bevor er sagte: “Das werde ich dich noch wissen lassen. Gute Nacht.” Und damit schloss er die Tür und ließ Joey verwirrt und durcheinander zurück. Mit schnellen Schritten machte sich Kaiba auf den Weg in sein Büro. Wann immer er nicht in der Firma war, konnte man ihn mit großer Wahrscheinlichkeit dort antreffen. Mit routinierten Handbewegungen öffnete er die Tür, der einzigen in der Villa, die noch nicht auf das Schlüsselkarten-System umgestellt wurde, schlüpfte hindurch, setzte sich an seinen Schreibtisch und stellte die Schreibtischlampe an. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und genoss die Ruhe, ließ seinen Gedanken freien Lauf. Seufzend stellte er fest, dass er keine Ahnung hatte, was jetzt passieren würde. Er wurde selbst in die Ecke gedrängt, von dem idiotischen Kindergarten, den Wheeler seine Freunde schimpfte. Er musste alles daran setzen, dass diese ganze Situation unter Verschluss blieb, er konnte nicht zulassen, dass die Presse Wind davon bekam und es womöglich KaibaCorp. in ein schlechtes Licht rückte. Und er musste Mokuba schützen, denn so ein Imageschaden könnte im Zweifel auch negative Folgen für ihn haben. Kaiba informierte zuerst das Sicherheitspersonal über die Situation. Er würde sie alle NDAs* unterschreiben lassen müssen, sicher ist sicher. Er setzte auch den ‘Kindergarten’ in Kenntnis, dass er sich an seinen Teil der Abmachung gehalten hatte - zumindest vorläufig. Anschließend trug er einem Assistenten auf, Küche und andere operative Bereiche des Hauses zu informieren, dass sie wohl für einige Zeit einen Gast haben würde. Er selbst würde nicht drum rum kommen, selbst den Bewacher zu spielen, wenn es sein musste. Allerdings hatte er noch immer keine Ahnung, was er tun sollte. Er musste selbstverständlich ernsthafte Maßnahmen ergreifen, die er im Zweifel belegen können muss, falls Wheeler in sechs Monaten tatsächlich erneut zu dem Schluss kommt, einen Schlussstrich unter sein Leben zu setzen. Nur so konnte er die Firma und Mokuba schützen. Aber welche verdammten Maßnahmen können das sein? Zumindest eine Maßnahme hatte er schon getroffen - Wheeler würde die nächsten Wochen und Monate nicht in der toxischen Umgebung verbringen, die er normalerweise sein Zuhause nannte. Das beruhigte Kaiba etwas - ja, er hatte mit Maßnahmen schon begonnen. Aber das würde bei Weitem nicht reichen… Sein Gedankenkarussell wurde jäh unterbrochen, als es an der Tür klopfte und Mokuba hereintrat. “Hey, Seto, störe ich dich? Ich hab gehört, was passiert ist…” Vermutlich hatte ihn Roland, Kaibas rechte und manchmal auch linke Hand, in Kenntnis gesetzt. “Nein, komm rein”, erwiderte der Ältere erschöpft. “Es war nur ein langer Tag.” “Ja, das glaube ich dir. Ehrlich gesagt, war ich ganz schön überrascht zu hören, was du da gemacht hast. Ich dachte, du kannst Joey nicht ausstehen?” “Kann ich auch nicht”, entgegnete Kaiba, “aber mir blieb keine Wahl. Wenn es eine andere Option gegeben hätte, wäre mir das auch lieber gewesen. Und jetzt habe ich keine Ahnung, wie ich eigentlich vorgehen soll.” “Ja, ganz schön verzwickt, das Ganze… Wobei ich mir schon gut vorstellen kann, wie Joey sich fühlen muss, bei allem, was ich über seine Situation so gehört habe.” Der ältere der Kaiba-Brüder wurde hellhörig. “Seine Situation?” “Na ja, die Gerüchte über Joeys Vater wirst du ja wahrscheinlich kennen, oder? Man erzählt sich, er sei ein jähzorniger, aggressiver, gewalttätiger, ständig betrunkener Tyrann. Das soll wohl angefangen haben, als seine Eltern sich scheiden ließen und seine Schwester Serenity zu ihrer Mutter zog, während er bei seinem Vater bleiben musste. Ich kenne nicht so viele Details, was genau bei Joey Zuhause passiert, und ich kenne es ja auch nur vom Hörensagen, aber ich kann mir vorstellen, dass da noch viel mehr im Argen liegt, als wir wissen. Er ist wohl in keinem sehr liebevollen Umfeld aufgewachsen.” Seto Kaiba nahm wahr, dass der Jüngere wohl Mitleid mit Wheeler hatte, und auch er musste zugeben, dass Wheelers Situation tatsächlich schwierig zu sein schien, zumindest wenn man diesen Gerüchten glauben konnte. Aber auch ihre eigene Kindheit war schwierig gewesen, auch sie hatten mit Druck, ja sogar Misshandlungen durch Gozaburo, ihrem Adoptivvater, zu kämpfen gehabt, wobei Seto immer versucht hatte, Mokuba so gut es ging davor zu bewahren. Und trotz seiner eigenen herausfordernden Kindheit und Jugend - an Selbstmord hat er dabei nie gedacht. Es hat ihn eigentlich noch stärker gemacht. Aber Mokuba hatte vermutlich Recht - es musste noch mehr unter der Oberfläche des Joey Wheeler liegen, die ihn in diese Situation getrieben hat. Oder? Frustriert, weil er noch immer keine klare Lösung sah, dachte er erneut über den letzten Satz von Mokuba nach. Wheeler war nicht in einem liebevollen Umfeld aufgewachsen. Liebe - ist es das, was ihm fehlte? Geborgenheit? Fast wird Seto schlecht bei dieser Wortaufzählung. Damit konnte er nichts anfangen, der einzige Mensch, der ihm wichtig war, war Mokuba. Aber wenn es tatsächlich des Rätsels Lösung war, um an sein Ziel zu gelangen, was musste er tun? Vielleicht konnte Mokuba ihm helfen. Er war immer schon ein empathischer Junge gewesen, konnte sich in andere reinversetzen. Aber würde das in diesem Fall auch helfen? “Mokuba… was glaubst du, was würde Wheeler helfen? Irgendwas muss es doch geben…” “Hm… ich glaube, der erste Schritt, ihn von seinem Vater wegzuholen, war schon mal der richtige Ansatz. Er braucht ein gewaltfreies Umfeld und muss lernen, dass es so nicht sein muss. Er muss Vertrauen aufbauen in andere Menschen. Und er sollte das Gefühl haben, dass andere ihm vertrauen. Ich glaube, ganz im Inneren will er einfach nur geliebt werden…” Verdammt. So kitschig all das klang, was Mokuba da von sich gab - er könnte recht haben. Er redete von Vertrauen, Liebe… wie zur Hölle sollte Kaiba es schaffen, Wheeler all das zu geben, von dem er selber absolut nichts verstand? Er selbst war ja nun wirklich nicht als liebevoll bekannt, und er vertraute so gut wie niemandem, außer vielleicht Mokuba, und ganz vielleicht Roland, wobei er sich bei all seinen Angestellten immer rechtlich absicherte, falls doch mal was schief gehen sollte. Vielleicht sollte er für diese Sache hier jemand anderen beauftragen, der.... nein, diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Er konnte die Kontrolle hier nicht einfach so abgeben, dafür war das Thema zu heikel und die Gefahr, dass etwas schief gehen könnte, zu groß. Nein, er musste es selbst in die Hand nehmen. Er stand auf und drehte Mokuba den Rücken zu, um durch die große Fensterscheibe zu schauen. “Seto, was ist los?”, wollte Mokuba wissen. “Du könntest Recht haben, Mokuba”, begann Seto. “Wenn Vertrauen und Liebe das ist, was mich hier ans Ziel bringt, dann muss ich es schaffen, dass er genau das aufbaut. Ich… ich werde Wheeler dazu bringen, mir zu vertrauen und… sich in mich zu verlieben.” Mokuba starrte ihn ungläubig an. Selbstverständlich würde Seto selbst alle Emotionen aus dem Spiel lassen. Er war Meister der Manipulation und würde auch ohne eigene Gefühle dafür sorgen können, dass er an sein Ziel gelangte. Und am Ende würde er einfach dafür sorgen, dass sich Wheeler sich in jemand anderen verliebte und er wäre fein aus dem Schneider. Nach einem sehr langen Tag stand also nun endlich das Grundgerüst seines Plans fest, was ihn sehr beruhigte. Er hatte das Gefühl, wieder ein Stück weit die Kontrolle über eine Situation zu haben, in die er sich nicht freiwillig rein manövriert hatte. Morgen würde er sich daran machen, einen umfassenden Maßnahmenkatalog zu definieren, und da er von solchen ‘liebevollen Gefühlen’ - allein bei dem Gedanken bekam er schon eine unangenehme Gänsehaut - keine Ahnung hatte, musste er wohl einige Zeit in Recherche investieren. Er hatte also eine Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die noch weitreichende Folgen haben würde - für Joey, aber auch für ihn selbst. Auch, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnte, was ihm bevorstand und in was für einen emotionalen Strudel er selbst noch gezogen werden würde... *NDA = Non-Disclosure Agreement, Verschwiegenheitsvereinbarung Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)