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Besser, ihr rennt! - Old version

von

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Prolog

„Du bist dir sicher, dass du es schaffst, ja?“

Die Stimme klang nicht wirklich interessiert, nicht wirklich einfühlsam, und Lea wusste, dass es mehr eine hohle Phrase war als eine wirkliche Frage. Dennoch nickte sie.

Was blieb ihr auch anderes übrig, für einen Rückzieher war es zu spät, auch wenn sie immer wieder aufs Neue Wellen des Bedürfnisses überkamen, genau das zu tun. Sich einfach umzudrehen und von hier zu verschwinden. Raus aus diesem alten Haus, das Lea seit ihrer Kindheit kannte, in dem es nach Zigarettenrauch und Feuchtigkeit stank, und nach etwas, das vor langer, langer Zeit irgendwo in den Wänden verendet war und seitdem dort vor sich hinrottete.

Als sie noch Kinder gewesen waren hatten Lea und ihr Bruder immer versucht, sich gegenseitig mit den erschreckendsten Theorien zu übertrumpfen, was es war, das diesen Geruch auslösen mochte, und dass ihre Mutter sie mehr als einmal darauf hingewiesen hatte, dass es lediglich Ratten waren, die immer wieder in den aufgestellten Fallen verendeten und deren Kadaver nur sporadisch entfernt wurden, hatte ihrer Fantasie keinen Abbruch getan.

Halt, Stopp!, dachte Lea. Das war jetzt egal. Die Vergangenheit spielte keine Rolle mehr, und jetzt daran zurückzudenken würde das alles bloß unnötig schwer machen.

„Sehr schön“, erwiderte ihr Begleiter, und half ihr dadurch dabei, ihre Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Sie wusste, dass sie sich keine Ablenkung leisten konnte. Kein Zögern, keine Gewissensbisse.

Sie musste das hier durchziehen. Das war das Einzige, was zählte.

Mit pochendem Herzen drückte sie auf die Klingel. Das laute Schrillen war gedämpft durch die Tür hindurch zu hören, und wieder fühlte Lea sich zurück in ihre Kindheit versetzt. Wieso auch hatte sich hier scheinbar absolut nichts verändert? Das war ihr bereits draußen aufgefallen, das gesamte Gebäude; nein, die komplette Straße hatte ausgesehen, als sei hier seit zweiundzwanzig Jahren – so lange ungefähr, wie Lea denken konnte – die Zeit stehengeblieben. Als könnten jeden Augenblick zwei kleine Kinder aus diesem Haus gerannt kommen, ein schlaksiger sommersprossiger Junge, und ein etwas pummeliges Mädchen mit rötlichem, immer zu zwei Zöpfen geflochtenem Haar, die sich gegenseitig die Straße entlangjagten und dabei wohl mehr als nur Glück hatten, niemals von einem fahrenden Auto erfasst zu werden.

Genau wie damals. Damals, als das Leben vielleicht nicht immer schön, aber im Vergleich zu heute doch zumindest angenehm einfach gewesen war.

Dieses Mal waren es die Schritte hinter der Tür, die Lea aus den Gedanken rissen. Selbst diese Schritte klangen genau wie damals, wenn sie von der Schule nach Hause gekommen war und wieder einmal ihren Schlüssel vergessen hatte; ein wenig unregelmäßig und laut auf den alten Dielen knarrend. Gott verdammt, wieso musste sie ausgerechnet heute so sentimental sein…

Mit einem leisen Quietschen wurde die Tür geöffnet, jedoch bloß ein Stück, so weit eben, wie es die vorgezogene Kette erlaubte. Das war zu erwarten gewesen. So hatte Mom es immer schon gemacht.

„Hey, Mommy“, sagte Lea mit einem zurückhaltenden Lächeln, und auf dem Teil des Gesichts der älteren Frau, der durch den Türspalt zu sehen war, zeichnete sich einige Sekunden lang pure Überraschung ab, bevor diese schließlich ebenfalls durch ein Lächeln ersetzt wurde.

„Lea!“, erklang die vertraute, ein wenig kratzige Stimme, begleitet von einem metallischen Klirren, das verkündete, dass die Sicherheitskette im Begriff war, entfernt zu werden.

Auch das war zu erwarten gewesen. Das Gesicht ihrer Tochter zu sehen war für Mrs. Nelson Grund genug, die natürliche Wachsamkeit, die man in Nachbarschaften wie dieser hier zwangsweise entwickelte, über Bord zu werfen und ohne weitere Nachfragen Einlass zu gewähren, trotz der Tatsache, dass Lea seit nun beinahe einem Jahr kaum mehr als ein paar Worte am Telefon mit ihren Eltern gewechselt hatte.

Für Mrs. Nelson gab es keinen Grund, ihrem ältesten Kind zu misstrauen. Und von der zweiten Person, die sich hinter Lea in der Dunkelheit des Flures verbarg, wohlweislich so platziert, dass sie nicht entdeckt werden würde, bis sie es nicht selber wollte, wusste sie nichts.

Lea musste sich zwingen, sich nicht umzudrehen, das hätte wohl trotz des familiären Vertrauens, das ihre Mutter ihr auch nach all der Zeit der Entfremdung noch entgegenbrachte, verdächtig gewirkt. Stattdessen konzentrierte sie sich ganz auf ihr gegenüber.

„Ich war grade in der Gegend“, begann sie zu erklären, dabei beobachtend, wie die Tür sich nun komplett öffnete und den Blick freigab auf die kleine, etwas untersetzte Frau, von der immer alle behauptet hatten, dass Lea ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. „Da dachte ich, ich schaue mal vorbei, und…“

Weiter kam sie nicht, bevor ihre Mutter die Arme ausbreitete und einen Schritt auf sie zumachte.

Geistesgegenwärtig tat Lea es ihr gleich, und so standen sie im Türrahmen und umarmte sich, etwas, worauf Lea gut und gerne hätte verzichten können. Doch hätte sie ohnehin keine Wahl gehabt, und wäre ihre Mutter noch weiter in den Flur hinausgetreten, dann hätte sie vielleicht doch die komplett in schwarz gekleidete Gestalt gesehen, und dann hätte sie womöglich geschrien, und der ganze wohlüberlegte Plan wäre vollkommen durcheinandergeraten.

Nein, das durfte sie keinesfalls riskieren. Lieber die Umarmung ertragen, um die sie ohnehin nicht herumgekommen wäre, und dabei die wichtige Frage stellen: „Ist Dad auch da?“

Nicht, dass sie ernsthaft erwartet hatte, dass ihr Vater irgendwo anders sein würde, dennoch fühlte sie sich erleichtert als ihre Mutter nickte und erwiderte: „Ja, er ist mit Lysann im Wohnzimmer! Die beiden werden sich so freuen, dich zu sehen…“

Unwillkürlich merkte Lea, dass sie sich anspannte. Dabei war auch diese Aussage keinesfalls eine Überraschung, dass Lysann nicht zuhause war wäre noch unwahrscheinlicher als bei ihrem Vater. Dennoch hatte Lea insgeheim darauf gehofft, dass sie vielleicht grade heute bei einer Freundin übernachten würde, oder was auch immer Kinder in ihrem Alter sonst für Gründe hatten, die Nacht nicht zuhause zu verbringen.

Sie war erst sechs, beinahe ganze zwanzig Jahre jünger als Lea, aber das war wohl der Vorteil daran, wenn man sein erstes Kind mit grade einmal knapp siebzehn hinaus in die Welt presste – man hatte, sollte sich dieses Kind als Versagerin entpuppen, genügend Zeit, noch einmal nachzulegen. Lea konnte nicht verhindern, dass sich bei diesem Gedanken ein bitteres Lächeln auf ihre Lippen schlich.

Es war nicht so, dass es ihr um Lysann leidtun würde. Sie hatte ihre Schwester nie sonderlich gemocht, was möglicherweise daran lag, dass mit ihrer Geburt im Grunde all der Scheiß begonnen hatte, der dafür gesorgt hatte, dass Lea vollkommen die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte. Auf der Straße gelebt hatte, ab und zu mit beinahe vollkommen fremden Männern mit nach Hause gegangen war, um gegen eine kleine Gefälligkeit eine warme Mahlzeit und einen trockenen Schlafplatz zu bekommen, und mehrmals dem Tod buchstäblich ins Auge geblickt hatte… Doch das war vorbei. Ihr Leben hatte sich gewandelt. War nun besser, als es je zuvor gewesen war, und als es jemals hätte werden können, wäre sie bei ihren Eltern wohnen geblieben und hätte wie sie ein Leben in dieser heruntergekommenen, trostlosen Gegend geführt… Ja. So viel Schmerz sie auch hatte erdulden müssen, so viel Erniedrigung und Leid, am Ende war es das wert gewesen. Oder würde es vielmehr wert gewesen sein, sobald diese eine letzte Sache vollbracht worden war.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf kam ihr die folgende Lüge leicht über die Lippen: „Ich freu mich auch, euch alle wiederzusehen! Das letzte Mal ist wirklich schon viel zu lange her…“

Unter normalen Umständen hätte sich ihr bei einer derartig verlogenen Schleimerei wohl der Magen umgedreht. Doch wenn dies hier eines nicht war, dann normale Umstände. Im Gegenteil. Denn nach dieser Nacht würde sie ihr neues, ihr wahres Leben beginnen.

„Das stimmt, Schatz!“, erwiderte ihre Mutter, und im Gegensatz zu Lea schien sie diese Worte vollkommen ernst zu meinen. Sie ließ die Arme sinken und trat einen Schritt zurück, machte eine einladende Bewegung, die die gesamte Wohnung zu umfassen schien, und fügte mit dieser altbekannten, typisch-mütterlichen Stimme hinzu: „Komm doch rein! Setz dich mit ins Wohnzimmer, ich mache dir einen Kakao oder einen Tee, wenn du magst…“

Selbst das war noch genau wie damals. Man kam nach Hause, und Mom bot einem ein heißes Getränk an, das sie einem zusammen mit einem Haufen Kekse servieren würde, ganz so, als würde die Familie nicht jeden Cent drei Mal umdrehen müssen, um sich überhaupt ausreichend zu Essen leisten zu können.

Eine weitere Welle der Nostalgie drohte Lea zu überrollen, doch entschlossen drängte sie sie zurück. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor ihrem Ziel. Und auch danach nie wieder.

Mit einem gespielt fröhlichen Lächeln blickte sie ihre Mutter an, gab sich Mühe, ihre Stimme unbekümmert klingen zu lassen, als sie nun mitteilte, was sie bisher so sorgsam verborgen hatte: „Sehr gerne… aber… Mom, ich bin nicht alleine hergekommen! Ich… habe einen Freund mitgebracht.“ Sie fühlte sich seltsam, als das Wort Freund, über ihre Lippen kam, und Moms irritierter Gesichtsausdruck machte das nicht grade besser. „Einen Freund?“, fragte sie mit kaum verhohlener Unsicherheit in der Stimme. „Oh, das… ist schön, Liebling!“

Ja sicher doch, ging es Lea durch den Kopf. Tu nicht so, ich weiß, was du in Wahrheit denkst! ‚Ein Freund? Du? Lea Nelson, meine tollpatschige, dicke, pickelgesichtige Tochter, die keinen graden Satz herausbringt, wenn sie mit einem Angehörigen des männlichen Geschlechts redet? Du willst mir wirklich erzählen, dass du, während du dein Leben immer weiter den Bach hinuntergehen lassen hast, einen Freund gefunden hast? Oh Gott, was erwartet mich denn jetzt? Ein bekiffter Junkie? Ein fetter, nach Alkohol stinkender Penner aus der Gosse? Ich weiß ja, dass wir nicht gerade der High Society angehören, aber sogar wir haben Ansprüche, und ich bezweifle, dass du es schaffst, die zu erfüllen! Also, um Gottes Willen, Kind, wen schleppst du mir hier ins Haus?‘ Ja, genau das denkst du hinter deiner fürsorglichen Fassade; du hältst mich für eine Versagerin, hast das immer schon getan, warst nur zu feige, es mir ins Gesicht zu sagen…

Das war, was Lea dachte, während sie sich merklich anspannte, und das in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Laut sagte sie: „Ja. Ich habe ihn bei einem Treffen kennengelernt, zu dem ich manchmal gehe! Ich dachte, ihr würdet ihn vielleicht gerne kennenlernen…“

„Oh, aber natürlich!“ Moms Lächeln wirkte nun ein gutes Stück weniger verunsichert, was jedoch nicht dazu führte, dass Lea ihm mehr Glauben schenkte. Wobei, vielleicht freute sie sich wirklich… dadurch, dass ihr wieder einmal ein Beweis dafür vor Augen geführt wurde, was für eine nichtsnutzige Tochter sie doch hatte.

Wieder diese verdammten Gedanken. Als würde es nun noch eine Rolle spielen, was ihre Eltern über sie dachten, als hätte es jemals wirklich eine Rolle gespielt…

In dem Moment, in dem Lea sich umdrehte, um ihren ‚Freund‘ ins Sichtfeld ihrer Mutter zu bitten, verzerrte sich ihr Gesicht zu einer hasserfüllten Grimasse. Verdammt, sie wünschte sich so sehr, dieser Frau hier und jetzt an die Kehle springen zu dürfen, auf sie einzustechen, wieder und wieder, so lange bis die Schreie verstummten und Muskeln und Nerven den Todeskampf aufgaben… Aber nein. Noch nicht. Noch ein wenig Geduld.

„Komm her!“, rief Lea auffordernd in die Dunkelheit, und als sie sich wieder Mom zuwandte, hatte sie wieder ein Lächeln aufgesetzt, und als sie den überraschten, beinahe ein wenig Fassungslosen Gesichtsausdruck ihrer Mutter erblickte, gewann eben dieses Lächeln einiges an Echtheit dazu.

Sie konnte sich vorstellen, dass ihr Begleiter nicht grade das war, was ihre Erzeugerin sich und dem angekündigten ‚Freund‘ vorgestellt hatte.

„Guten Abend, Mrs. Nelson. Ich bin Jefferey“, stellte Jefferey sich in seiner gewohnt höflichen Art vor, streckte dabei die Hand aus und setzte sein umwerfendes Lächeln auf. Lea konnte ihrer Mutter deren beinahe geschockte Reaktion nicht einmal verübeln, war sie selbst doch ebenfalls jedes Mal wieder von dem charmanten Mann mit dem dunklen Haar fasziniert, dessen Anzüge wahrscheinlich so viel kosteten wie Leas Familie in einem ganzen Jahr verdiente. Er war schlichtweg ausgesprochen charismatisch, und wusste, diese Tatsache zu seinem Vorteil einzusetzen.

Perplex ergriff Mom die ihr angebotene Hand und schüttelte sie. Sie schien noch immer damit zu ringen, ihre Fassung wiederzuerlangen und ihre Überraschung zu verbergen – Ja, Mom!, schoss es Lea wieder durch den Kopf, während eine Welle der Genugtuung sie überkam. Sie dir ruhig an, mit was für Leuten ich mich mittlerweile umgebe! Sieh ihn dir gut an, denn er und ich werden das Letzte sein, was du in deinem Leben zu sehen bekommen wirst.

Ein wohliges Kribbeln überkam sie bei diesem Gedanken. Wenn sie ehrlich war, dann überraschte sie das ein wenig, sie hatte angenommen, dass sie zumindest ein wenig moralische Zweifel bekommen würde, wenn sie so kurz vor dem großen Ereignis stand… kam das vielleicht noch? Falls ja, dann blieb nur zu hoffen, dass Lea diese Zweifel nicht lähmen würden, wenn es wirklich ernst wurde.

Während Lea in ihre Gedanken versunken gewesen war hatten Jefferey und Mom anscheinend Floskeln der Höflichkeit ausgetauscht, zumindest holten sie die Worte „Dann kommt mal rein und geht ins Wohnzimmer, ich hole euch etwas zu essen und zu trinken!“ aus ihren Gedanken. Wie automatisiert nickte Lea.

Folgte ihrer Mutter in den engen Flur, hinter sich wiederum die Schritte von Jefferey hörend, der die Tür hinter sich schloss, bevor er Mom, die grade nach links in die Küche abbog, fragte: „Kann ich Ihnen vielleicht beim Tragen helfen?“

Es war keine Überraschung, dass Mom dieses Angebot freudig annahm, so, wie Lea es vorausgesagt hatte. Das war gut. Das alles war sehr, sehr gut.

Die Blicke, die sie erntete, als sie das Wohnzimmer betrat, ihrerseits noch immer mit diesem falschen Lächeln auf den Lippen, glichen vom Grad der Verwunderung her dem ihrer Mutter beim Öffnen der Tür.

Dad saß in seinem Sessel vor dem Kamin, in dem knisternd ein Feuer brannte, das den kleinen Raum mit angenehmer Wärme erfüllte, grade richtig in einer regnerischen Oktobernacht wie dieser.

Lysann hockte ihm gegenüber auf dem Sofa, die Beine angezogen und in eine Decke eingewickelt, in den Händen eine dampfende Tasse Kakao. Oh, was für eine perfekte Familienidylle dieser Anblick doch erahnen ließ…

Ihre kleine Schwester war die erste, die aus der Starre der Verblüffung erwachte. „Lea!“, rief sie mit einem breiten Grinsen; sie sprang auf und rannte auf die unerwartete Besucherin zu, breitete die Arme aus… und verharrte erneut bewegungslos, als Lea ihre Hand, die sie vor Betreten des Raumes ins Innere ihres viel zu weiten Mantels gesteckt hatte, wieder herauszog. Ihr erfreuter Ausdruck im Gesicht – im Gegensatz zu ihrer Mutter nahm Lea der Kleinen diese Freude ab, auch wenn das auch nichts änderte – wich zunächst erneuter Überraschung, die dieses Mal jedoch nichts Positives mehr an sich hatte wie es zuvor der Fall gewesen war, bevor er letztlich zu einer Maske purer Angst wurde.

Wieder war da dieses Kribbeln, das Leas Körper durchfloss, sie hob den Blick, sah zu ihrem Vater, der grade im Begriff gewesen war, sich aus seinem Sessel zu erheben um seine Tochter zu begrüßen, dann jedoch wie eingefroren verharrt hatte, als diese den 22er Revolver hervorgeholt hatte.

Mit diesem zielte sie nun direkt auf den Kopf ihrer kleinen Schwester, und obwohl sie wusste, dass das nicht die Art war, auf die das alles enden würde, merkte sie nun letztlich doch die Nervosität in sich aufsteigen, von der sie gehofft hatte, dass sie vielleicht wirklich ausbleiben würde.

Ihre Hand begann zu zittern, ihr Herz schlug schneller in ihrer Brust.

Reiß dich zusammen!, wies sie sich selbst in Gedanken zurecht. Nervosität, womöglich gar eine Panikattacke, konnte sie sich nicht leisten. Ein Rückzug war nicht mehr möglich. Von dem Augenblick an, in dem sie den Revolver aus ihrem Mantel geholt und auf Lysanns Kopf gerichtet hatte, war das Schicksal ihrer Familie vollkommen und unumstößlich besiegelt gewesen.

Hinter ihr öffnete sich die Tür, was sie durch das vertraute Knarren erkennen konnte, Schritte waren zu hören, dann sah sie ihre Mutter, die ungeschickt an ihr vorbei weiter ins Wohnzimmer stolperte. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen weit aufgerissen. Einige quälend langsam verstreichende Sekunden lang sagte niemand etwas. Keiner der drei Bewohner schien wirklich zu begreifen, was vor sich ging – nun, wirklich verübeln konnte man ihnen das wohl nicht, das Gehirne brauchte für gewöhnlich nun einmal ein wenig, um extreme Situationen zu verarbeiten. Lea verstand das.

Jefferey offensichtlich nicht.

„Jetzt steh nicht einfach bloß rum!“, herrschte er sie an, während er mit seiner eigenen Waffe weiter auf Leas Mutter zielte. Seine harschen Worte ließen Lea zusammenzucken, und um ein Haar hätte sie den Abzug gedrückt, auf dem ihr Finger bereits die ganze Zeit über ruhte. Verdammt, das wäre schlecht gewesen. Vielleicht keine vollkommene Katastrophe, aber doch alles andere als gut…

Wieder durchschnitt Jeffereys scharfe Stimme die Stille: „Na, wird’s bald?“

Ungelenk, als wäre sie grade aus einem tiefen Schlaf gerissen worden, ließ Lea die Hand mit dem Revolver sinken und verstaute diesen wieder in ihrem Mantel, um mit der selben Bewegung die Rolle Panzertape zu greifen, die sie ebenfalls in den Tiefen des ausgebeulten Stoffen verstaut hatte. Sie machte einen Schritt auf Lysann zu, tastete mit zittrigen Fingern nach dem Anfang des Klebebandes… und hätte die Rolle um ein Haar fallen lassen.

„Verdammt!“, entfuhr es ihr leise, und die Art, wie ihre Stimme sich anhörte, gefiel ihr ganz und gar nicht. So zittrig und schrill. Nahezu verängstigt.

Sie hörte Jefferey hinter sich gereizt knurren, was nicht gerade dazu beitrug, dass sie sich entspannte. Von der höflichen, charmanten Art ihres Begleiters war nun nichts mehr übrig.

Hastig unternahm sie einen neuen Versuch, den Anfang der Rolle zu finden, und dieses Mal gelang es ihr, auch, wenn sie sich dabei einen Fingernagel einriss und ein brennender Schmerz sie durchzuckte.

Ruhigbleiben. Sie musste, verdammt nochmal, ruhig bleiben!

„Was…was soll das?“ Nun war ihr Vater derjenige gewesen, der das Wort ergriffen hatte, und Lea fragte sich unwillkürlich, ob seine Stimme bereits so kratzig und heiser geklungen hatte, als sie das letzte Mal miteinander geredet hatten, oder ob sie durch den übermäßigen Konsum von Zigaretten noch rauer geworden war.

Egal. Hör auf, nachzudenken. Konzentrier dich!

Eigentlich hatte Lea nicht vorgehabt, Dads Frage zu beantworten, hatte ihn einfach ignorieren wollen, um sich ganz der Fesselung von Lysann zu widmen, die sie zuvor grob nach hinten geschubst hatte, sodass das Mädchen wieder auf die Couch gefallen war, von wo aus es seine große Schwester nun mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Es würde ohnehin niemand von ihnen verstehen, nicht in diesem Leben. Sie sollte es gar nicht erst versuchen, zu erklären, das hatten sie ihr alle eingeschärft, und um ehrlich zu sein bezweifelte Lea sowieso, dass sie in der Lage wäre, die richtigen Worte dafür zu finden.

Dennoch konnte sie nicht umhin, etwas zu erwidern, es war, als würde ein innerer Druck in ihrer Brust sie dazu zwingen: „Keine Sorge, Dad. Ich weiß, dass ihr immer enttäuscht von mir wart. Ich war lange wütend deswegen… ein bisschen bin ich es immer noch. Aber heute Nacht werde ich euch vergeben. Und ich werde euch erlösen von euren Sünden, und dafür sorgen, dass wir ein glückliches Leben im Jenseits führen können!“

Sie sollte nicht so viel reden, das wusste sie, und dass sie es dennoch tat, lag wahrscheinlich an der Aufregung, aber das war keine Entschuldigung für diese sinnlose Ablenkung von ihren Vorhaben.

Während sie dabei war, Lysanns Hände mit dem Panzerband auf dem Rücken zu fixieren, während dieser mittlerweile Tränen übers Gesicht liefen, schloss Lea für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief durch.

Sie musste sich beruhigen. Es kam keinen Grund dafür, nervös zu werden, keinen Anlass zur Panik. Sicher, sie hatte erwartet, dass das passieren würde, aber deshalb war sie auch darauf vorbereitet gewesen. Zum Glück passierte es jetzt, und nicht in ein paar Minuten, wenn sie das Messer in der Hand halten würden, bereit, es ihrem Vater direkt ins Herz zu stechen.

Einatmen. Drei Sekunden Lang. Den Atem halten. Ausatmen, sieben Sekunden lang.

Sie hörte, wie wieder jemand etwas sagte, vermutlich ihre Mutter, vielleicht auch Lysann. Sie konnte es nicht sagen, war zu tief in ihrem Inneren versunken, darauf bedacht, ihren Herzschlag zu beruhigen und die in ihr aufsteigende Panik wieder zurückzudrängen.

Drei Sekunden lang einatmen. Den Atem halten. Sieben Sekunden lang ausatmen.

Es funktionierte, so wie jedes Mal, seit ihr diese Übung zum ersten Mal gezeigt worden war. Ihr Puls verlangsamte sich, ihre Körperhaltung entspannte sich ein wenig. Zu sagen, dass sie ruhig geworden war, wäre wohl ein wenig übertrieben gewesen, doch würde sie damit arbeiten können.

Ein leichtes Lächeln umspielte Leas Lippen, als sie die Augen wieder öffnete.

Sie wandte sich zu Jefferey, der seinerseits damit begonnen hatte, ihre Mutter zu fesseln, und sie mit einem Blick bedachte, in dem Strenge und Ungeduld sich miteinander vermischten.

„Du wirst das durchziehen, nicht wahr?“, hakte er nach, und der Klang seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass dies eine rein rhetorische Frage war.

Lea nickte. Ja. Sie war bereit.

Mehr als nur bereit

1 -1

Es war kalt.

Warum musste es so kalt sein?

Die Kälte allein wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen; nicht angenehm, aber zu ertragen, wenn sie sich auch eher nach einer eisigen Dezembernacht anfühlte als nach einem Spätabend im Oktober. Schlimmer aber war der Regen.

Schon als er heute Morgen aufgewacht war, mit schmerzenden Rücken und im Schlaf ungesund verdrehten Beinen, hatte es geregnet, und im Laufe des Tages hatte es nur wenige kurze Zeitepisoden gegeben, in denen kein Wasser vom Himmel gefallen war.

Er hatte versucht, sich an möglichst trockenen Plätzen aufzuhalten, doch das taten natürlich die meisten Leute, sodass er die Wahl gehabt hatte, halbwegs trocken zu bleiben, dafür jedoch eine durch zu viele Menschen ausgelöste Panikattacke zu riskieren, oder aber, sich dem ungemütlichen Wetter auszusetzen, aber zumindest seine Ruhe zu haben. Seine Wahl war auf Letzteres gefallen, und so war er nun, knappe zwölf Stunden später, in denen aus dem anfangs leichten Nieselregen ein typisches, herbstliches Unwetter geworden war, bis auf die Knochen durchnässt.

Sein Mantel klebte an seinem Körper, genau wie das Shirt und die Hose, die ihm beide viel zu weit waren, seine Haare hingen ihm in nassen Strähnen ins Gesicht, er zitterte. Bereits vor einer ganzen Weile war Müdigkeit in ihm hochgekrochen, das Bedürfnis, sich einfach hinzulegen und die Augen zu schließen, aber er hatte es bekämpft.

Noch nicht.

Nicht, dass er ein bestimmtes Ziel gehabt hätte; zwar war in ihm die leise Hoffnung vorhanden gewesen, vielleicht noch etwas halbwegs anständiges zu Essen auftreiben zu können, doch wirklich geglaubt hatte er es nicht. Er war ziellos durch die Straßen gestreift, zunächst entlang am Silversteam River, später dann weiter ins Zentrum der Eastside. War nur wenigen Menschen begegnet, von denen keiner dazu bereit gewesen war, ihm ein, zwei Dollar zu geben. Als wäre es ihm nicht ohnehin jedes Mal unangenehm genug, jemand Fremdes nach Geld zu fragen, auch wenn er dabei nicht mit angewiderten Blicken und abfälligen Kommentaren bedacht wurde.

Heute waren die Leute ganz besonders schlecht gelaunt gewesen – wer konnte es ihnen verübeln bei solch einem Wetter, auch wenn die meisten im Gegensatz zu ihm eine warme, trockene Wohnung hatten, in die sie zurückkehren konnten – und nachdem ihm ein bulliger, glatzköpfiger Typ mit gerötetem Gesicht, bei dem er nicht einmal in Betracht gezogen hätte ihn anzusprechen, Schläge angedroht hatte, hatte er beschlossen, es für heute gut sein zu lassen. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, in einem Laden eine Kleinigkeit zu essen mitgehen zu lassen, aber auch diese Idee hatte er verworfen. So geschwächt, wie er durch den Regen und die Kälte bereits war, hätte er kaum schnell genug weglaufen können, wenn es nötig gewesen wäre, ein Risiko, das er nicht bereit gewesen war, einzugehen. Nicht, bloß um zu verhindern, dass er für einen Tag nichts zu essen hatte; das war er gewohnt.

Vielleicht würde das Wetter morgen schöner werden, dann wären auch die Leute besser gelaunt, großzügiger im Umgang mit ihren Geldbeuteln… doch bis dahin musste er es erst einmal schaffen, ohne zu erfrieren.

„Sei nicht so überdramatisch“, murmelte er, zog den durchnässten Mantel enger um sich, als würde das irgendetwas bringen. „Wie soll das erst im Winter werden, wenn du dich jetzt schon so anstellst…“

Eine hervorragende Frage, auf die er keine Antwort wusste. Sicher war ihm damals, als er seine Entscheidung getroffen hatte, das, was er zuvor sein ‚Zuhause‘ genannt hatte, zu verlassen, klargewesen, dass das Leben auf der Straße hart werden würde. Wind, Regen, Hunger, andere Menschen, die ständige Aufmerksamkeit nötig machten, und eben die kalte Jahreszeit, die früher oder später auf ihn warten und ihre eisigen Hände nach ihm ausstrecken würde. Ein kleiner, naiver Teil hatte in ihm hatte vielleicht gehofft, dass ihm bis dahin noch genügend Zeit blieb, dass er es in den Monaten bis zum Winter geschafft hätte, sich etwas aufzubauen, was zumindest Ähnlichkeit mit so etwas wie einem geordneten Leben haben würde; eine feste Unterkunft, ein Job in einem Supermarkt oder sonst wo, der ihm regelmäßige Nahrung ermöglichen würde… und vielleicht sogar, mit diesem verdammten Zeug aufzuhören.

Ja. Das war wirklich naiv gewesen. Um fair zu sein, er wäre bereits mit einem dieser Dinge zufrieden gewesen, immerhin wäre es ein Anfang gewesen, aber nicht einmal das war ihm gelungen. Alleine am Leben zu bleiben und sich irgendwie durchzuschlagen hatte bereits seine gesamte Kraft beansprucht, da war kein Platz mehr gewesen für irgendwelche Lebensplanung. Also würde ihm kaum etwas anderes übrig bleiben, als auch den Winter im Freien zu verbringen, weiterhin auf den Straßen der Stadt durchzukommen, trotz Schneefall und ausgekühlten Böden, vor denen die dünnen Decken, die er in seinem Rucksack mit sich herumtrug, ihn nur bedingt schützen würden.

Er sollte jetzt nicht daran denken. Gedanken an den Winter würden nur dafür sorgen, dass er sich noch verzweifelter fühlte, als er ohnehin schon war, und es brachte doch nichts.

Ein weiteres, starkes Zittern durchfuhr seinen Körper. Kurz dachte er darüber nach, sich zwischen die Mülltonnen zu setzen, die in der Gasse, die er soeben passierte, an den Hauswänden aufgestellt waren, die Utensilien und das letzte bisschen Pulver aus seiner Tasche zu holen, und so dafür zu sorgen, dass ihm zumindest für eine Weile ein wenig wärmer wurde.

Zwei Gründe sorgten dafür, dass er es nicht tat.

Erstens war da das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, schon damals, als er mit den Planungen für seine Flucht begonnen hatte: Kein Konsum, solange er den Drang danach noch irgendwie kontrollieren konnte. Das war wohl kein sehr hoher Anspruch, nichts, womit man eine Sucht ernsthaft bekämpfen konnte, aber doch wohl besser als nichts.

Der zweite Grund dafür, dass er diesem zwar noch nicht allzu drängenden, aber dennoch deutlichen Verlangen nach ein wenig Entspannung nicht nachgab, war, dass er in diesem Moment registrierte, dass ihm gar nicht mehr kalt war. Ja, er zitterte noch immer, und er merkte die Nässe auf seiner Haut, aber er fror nicht mehr. Viel mehr fühlte es sich an, als würde sein Körper glühen, als würde er von innen heraus überhitzen wie ein Ofen, den man zu weit aufgedreht hatte…

War das nicht, was passierte, wenn man im Begriff war, zu erfrieren? Leute, deren Körpertemperatur bereits stark abgefallen war, fingen an, zu schwitzen und begannen infolgedessen, sich auszuziehen, da sie überhaupt nicht mehr in der Lage waren, klar zu denken?

„Ja, sicher. Das klingt kein bisschen überdramatisiert!“

Vielleicht war es das. Andererseits aber wusste er, dass es nicht wirklich kalt sein musste, um zu erfrieren, sondern dass es ausreichte, wenn man bei relativ geringen Temperaturen in nassen Klamotten durch die Gegend lief. Und nass war bei dem Zustand seiner Kleidung wohl noch untertrieben. Aber trotzdem. Leute, bei denen die Temperatur so weit gesunken war, dass sie in diesen Zustand der Kälteidiotie verfielen, waren allgemein nicht mehr in der Lage, noch irgendwie klar zu denken, geschweige denn, sich ihres eigenen Zustands bewusst zu sein. Welcher Mensch, der zumindest teilweise noch bei Verstand war, würde sonst auf die Idee kommen, sich in den schneebedeckten Wäldern von Sibirien oder Alaska oder sonst wo all seiner Kleider zu entledigen? Und wieso dachte er überhaupt über so etwas nach? Er würde nicht erfrieren! Nun, zumindest jetzt noch nicht.

Fakt war jedoch: Ihm war warm. Nein, nicht bloß warm, sondern geradezu heiß. Und dennoch zitterte er, so als hätte sein Körper selbst noch nicht verstanden, dass die Kälte verschwunden zu sein schien, was objektiv wohl auch der Wahrheit entsprach, subjektiv jedoch einfach bloß verwirrend war.

„Ich bekomme Fieber“, war der nächste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, und dieser war bloß bedingt weniger beängstigend als der daran, zu erfrieren. „Ich bekomme eine Grippe, oder eine Lungenentzündung, oder… keine Ahnung, ist auch egal, auf jeden Fall wird es mich ziemlich schwächen, und ich kann mir keine Schwäche leisten; scheiße, wieso bin ich den ganzen Tag im Regen herumgerannt, das war dumm, das war so dumm, wieso…“ Seine Gedanken jagten immer schneller durch seinen Kopf, wurden immer wirrer, lauter, schienen ihn anzuschreien, ihn gleichzeitig zu lähmen, als wäre es ihr Ziel, ihn in den Wahnsinn zu treiben… und dann, plötzlich, deutlicher und klarer als all die anderen Dinge, die in seinem Hirn grade durcheinander rasten, erklang diese Stimme, die mehr war als bloß das einfache Produkt seiner Vorstellungskraft.

„Willst du jetzt auch noch panisch werden? Denkst du, dass dich das irgendwie weiterbringt?“

„N…nein…“, krächzte er, die Worte unbewusst laut aussprechend, obwohl er wusste, dass das nicht nötig war. Was für eine dämliche Frage; war jemals eine Person der Meinung gewesen, dass Panik einen weiterbrachte?

Die Stimme fuhr fort, noch eine Spur eisiger als zuvor: „Dann reiß dich zusammen! Du erfrierst nicht, und du wirst auch nicht krank! Trotzdem solltest du langsam wirklich zusehen, dass du irgendeinen trockenen Platz findest, an dem du dich ein bisschen aufwärmen kannst!“

„Ein Platz zum Aufwärmen, ja sicher, sonst noch irgendetwas?“ Dieses Mal hatte er nicht laut gesprochen, aber selbst seine Gedanken klangen sarkastisch. Er könnte sich vielleicht in irgendeinen Hauseingang zurückziehen, aber Wärme spenden würde ihm das wohl kaum, und die Chance, etwas zu finden, mit dem er ein Feuer machen konnte, war nach einem solchen Regentag wie heute ebenfalls verschwindend gering.

Der Tonfall der Stimme war nun nicht weniger sarkastisch: „Natürlich wären Klamotten zum Wechseln, eine heiße Dusche und ein warmes Bett noch besser! Ich denke aber kaum, dass wir damit in absehbarer Zeit rechnen können, oder?“

„…Nein…nein, ich denke nicht.“

Diese Erkenntnis, obgleich nicht grade neu, machte ihn müde. Das war zwar mit Sicherheit nicht das Ziel der Stimme gewesen, doch es war nun einmal so, die Erschöpfung, die bereits seit Stunden hintergründig vorhanden gewesen war, wurde auf einen Schlag deutlicher, so, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Am liebsten hätte er sich hier und jetzt zu Boden sinken lassen, vollkommen gleichgültig, dass er sich mitten auf dem Bürgersteig an einer mittelmäßig stark befahrenen Straße befand, was nicht gerade einen geeigneten, geschweige denn sicheren Ort zum Ausruhen darstellte.

Das sah auch die Stimme so. „Geh weiter!“, herrschte sie ihn an, und er gehorchte, wenn auch nicht für lange. Die nächste Ecke, um die er bog, gab den Blick frei auf eine schmalere Straße, breiter als eine Gasse, aber definitiv keine Hauptverkehrsroute, in der sich überdachte Hauseingänge aneinanderreihten, die zwar nicht vor der Kälte, aber zumindest doch vor dem Regen ein wenig Schutz boten.

Trotz der mit jedem Schritt anwachsenden Erschöpfung, dem unangenehmen Gefühl durchnässter Kleidung auf seiner Haut und dem Zittern musste er lächeln. Das war besser als nichts, seine Ansprüche waren nicht sonderlich hoch.

Die Stimme knurrte in seinem Kopf, schien jedoch kein ernsthaftes Interesse daran zu haben, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, und so wählte er einen Hauseingang, dessen Überdachung ein wenig ausladender war als die der anderen, öffnete den Reisverschluss seines Rucksacks und zog seine beiden Decken heraus. Legte eine auf den zwar feuchten, aber nicht komplett nassen Boden, setzte sich darauf, zog nach kurzen Zögern seinen Mantel aus und legte sich die andere Decke um die Schultern.

Er hatte nicht wirklich vor, die Nacht hier zu verbringen. Wenige Leute reagierten erfreut, wenn sie einen schlafenden Obdachlosen vor ihrem Haus vorfanden, und mit Sicherheit würden ein paar Bewohner noch an ihm vorbei wollen, wenn sie von der Arbeit oder woher auch immer kamen.

Er wollte sich nur ein wenig ausruhen. Wieder zu Kräften kommen, ein wenig entspannen. Sofern das unter diesen Umständen eben Möglich war. Ein paar Minuten, maximal eine halbe Stunde, ungefähr, Zeit war nichts, was wirklich…

Er schaffte es nicht mehr, den Gedanken zu Ende zu bringen, bevor ihm die Augen zufielen und er in einen unruhigen, aber dennoch tiefen Schlaf fiel.

1 -2

„Darf ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragte die Kellnerin, und unwillkürlich zuckte Robin zusammen. Hob den Blick von der Tischplatte und starrte die junge Frau an, die da mit dem Notizblock in der Hand vor ihm stand und zwischen ihm und seiner Begleitung hin und her sah, augenscheinlich ein wenig ungeduldig auf eine Antwort auf ihre Frage wartend.

Was war er in letzter Zeit bloß so schreckhaft?

Schnell warf er einen Blick auf sein Glas, das vor ihm stand und bis auf einen kleinen Rest bereits leer war. Dass er sich nicht so recht daran erinnern konnte, seinen Tequila Sunrise ausgetrunken zu haben, war womöglich ein wenig bedenklich, aber auch nicht wirklich etwas Neues.

„Ich nehme noch… einen Martini“, erwiderte er schließlich nach kurzer Überlegung, während Sapphire, die neben ihm saß, bloß abwehrend die Hand hob. Das Glas Aperol Sprizz, das vor ihr stand, war noch zur Hälfte gefüllt, und das, obwohl sie es sich bereits vor anderthalb Stunden bestellt hatte.

Robin fand ihre Selbstbeherrschung bewundernswert… wobei es wahrscheinlich gar keiner Selbstbeherrschung bedurfte, überdurchschnittlich viele alkoholische Getränke in sich hinein zu kippen, wenn man keinen grundsätzlichen Drang danach verspürte. Bei ihm hatte dieser Drang in den letzten Monaten Ausmaße angenommen, die wahrscheinlich allmählich ernsthaft bedenklich wurden, aber so stressig, wie eben diese letzten Monate gewesen haben, hatte er nicht wirklich die Motivation dazu gehabt, etwas daran zu ändern.

Alkohol entspannte zumindest. Beruhigte die Gedanken, meistens zumindest.

Zugegeben, manchmal sorgte er auch für das genaue Gegenteil, ließ Robin melancholisch werden und in Selbstmitleid versinken, ein Zustand, für den er sich im Nachhinein immer reichlich schämte, wenn ihm dies auch nur äußerst selten in Gegenwart anderer passierte.

Im Normalfall aber war der Alkohol hilfreich. Keine sonderlich gesunde Ansicht, das war ihm bewusst, aber…

„Robin?“

Sapphires Stimme ließ ihn erneut zusammenschrecken. Gott, was war das heute bloß? Mit einem verlegenen Lächeln wandte er sich ihr zu, versuchend, sich die Anspannung, die er irgendwie bereits den ganzen Tag über verspürte, ohne, dass es einen Anlass dafür zu geben schien, nicht anmerken zu lassen – ein sinnloses Unterfangen, das wusste er. Sapphire kannte ihn besser als irgendjemand sonst, es würde ihm nicht gelingen, vor ihr zu verbergen, wie er sich fühlte. Das bestätigte auch der fragende Blick, mit dem sie ihn nun musterte.

„Entschuldigung…“ Ohne es wirklich zu merken griff Robin nach seinem Glas und trank den letzten Schluck daraus, bevor er sich wieder Sapphire zuwandte, die ihn gewohnt aufmerksam beobachtete. „Hast du was gesagt?“

„Ich habe gefragt, dein wievielter Cocktail das heute Abend ist.“ Sapphires Stimme klang nicht vorwurfsvoll, das würde auch nicht zu ihr passen. Trotzdem fühlte Robin sich unwillkürlich schuldig. „Der dritte“, gab er zurück, bemüht, seine Stimme ebenso neutral klingen zu lassen wie Sapphire. Er musste sich nicht rechtfertigen. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, und Sapphire war nicht seine Mutter, auch, wenn das Verhältnis, das die beiden zueinander hatten, dem im Grunde gleichkam.

Irgendwie musste er dennoch gereizt geklungen haben, denn Sapphire hob etwas argwöhnisch eine Augenbraue.

Robin seufzte. „Tut mir leid, irgendwie bin ich komisch drauf heute…“

„Ist mir aufgefallen.“ Sapphire nippte an ihrem Glas, ließ ihn dabei nicht aus den Augen. „Ist irgendetwas passiert? Irgendwas, worüber du reden willst?“

Er wünschte, es wäre so. Mit Sapphire zu reden war meistens hilfreich, sie hatte einfach eine Art an sich, die Ruhe ausstrahlte, und das, obwohl sie selbst wahrscheinlich mehr als viele andere in dieser Gegend mit stressigen Situationen zu kämpfen hatte. Robin bewunderte sie dafür, nicht nur, weil sie für ihn ohnehin die wichtigste Person in seinem Leben war.

Aber es gab einfach nichts, worüber er mit ihr hätte reden können. Da war kein Grund dafür, dass er derart angespannt war, nichts Greifbares jedenfalls, es war nichts passiert. Der Tag war verlaufen wie die meisten anderen auch – abgesehen davon, dass es ein paar Straßen weiter eine Schießerei zwischen zwei Mitgliedern verfeindeter Gangs gegeben hatten, aber auch das war maximal bedingt ein besonderes Ereignis, und bestimmt nichts, was Robin direkt tangierte. Das passierte eben, hier, in dieser Gegend, die von Armut geprägt und von Menschen bewohnt war, die an Gewalt als Lösungsstrategie gewöhnt waren. Zugegeben, in letzter Zeit schien es immer häufiger zu derartigen Eskalationen zu kommen, aber das war doch noch kein Grund, sich Sorgen zu machen. Schon gar nicht hier.

Die Bar, in der sie saßen und die Sapphire seit Jahren gehörte, lag zwar inmitten von Gebieten, die von diversen Gangs beherrscht wurden die miteinander verfeindet waren, die Gegend um sie herum selbst jedoch war so etwas wie eine Sicherheitszone, wofür Sapphire selbst gesorgt hatte. War sie Robin gegenüber stets fürsorglich und freundlich gewesen, so konnte sie auch ganz anders sein, wenn sie glaubte, dass von jemandem eine Bedrohung ausging.

Also. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Dass Robin wieder gedanklich abgeschweift war, merkte er erst, als er leicht Sapphires Hand auf seiner Schulter spürte, und dieses Mal schaffte er es immerhin nur innerlich zusammenzuzucken. Hastig, in der Hoffnung, dass er nicht wieder etwas verpasst hatte was sie gesagt hatte, gab er auf die letzte vernommene Frage zurück: „Nein, es ist nichts passiert. Ich weiß selber nicht, was mit mir los ist…“

Vielleicht würde ihm frische Luft gut tun. Ein kleiner Spaziergang, um den Kopf ein wenig frei zu bekommen.

Die Kellnerin kam zurück, stellte Robins Tequila Sunrise vor ihm ab und nahm das leere Glas wieder an sich. Sapphire beachtete sie nicht weiter. Sie konzentrierte sich ganz auf Robin, bedachte ihn mit einem verständnisvollen Lächeln. „Manchmal hat man eben solche Tage… sag einfach Bescheid, wenn ich dir bei irgendwas helfen kann, ja?“

„Natürlich. Sicher.“

Robin nahm einen Schluck seines Cocktails, doch irgendwie schmeckte er ihm heute nicht wirklich. Zu sehr nach Alkohol… wahrscheinlich bloß Einbildung, nur das, worauf sein Gehirn sich momentan konzentrierte.

Trotzdem. Ein Spaziergang wäre wohl wirklich nicht verkehrt.

Einen demotivierten Seufzer unterdrückend erhob Robin sich von seinem Stuhl und ließ seinen Blick betont unbeteiligt durch die, wie gewohnt, gut gefüllte Bar schweifen. Dieses Mal schaffte er es wirklich, seine Stimme neutral klingen zu lassen, als er, an Sapphire gewandt, sagte: „Ich werd mal etwas nach draußen gehen. Frische Luft schnappen.“

„Okay…“ Nun war da etwas skeptisches in Sapphires Tonfall, doch nichts, was ungewöhnlich gewesen wäre, nicht Robin gegenüber. Manchmal verhielt sie sich eben wirklich wie seine Mutter. Fehlte nur, dass sie ihm sagte, er solle auf sich aufpassen, auf gut beleuchteten Straßen bleiben und bloß nicht bei Fremden ins Auto steigen, die ihn mit Süßigkeiten oder Hundewelpen anlocken wollten.

Nun, das zumindest sagte sie nicht. Dafür aber: „Nimm einen Regenschirm mit, es schüttet!“

„Okay, klar“. Das Lächeln, das Robin nun aufsetzte, war ein wenig gezwungen, aber dennoch aufrichtig. Er hätte es wohl niemals offen zugegeben, doch er genoss es, wie Sapphire sich für ihn interessierte. Etwas, was seine leibliche Mutter seit Jahren nicht mehr getan hatte.

„Ich bin auch nicht lange weg“, rief er zum Abschied über die Schulter, als er bereits auf dem Weg zur Tür war, wo er bloß kurz innehielt, um einen der Regenschirme aus dem dort stehenden Schirmständer zu ziehen und aufzuspannen. Durch die Glasscheibe konnte er sehen, dass Sapphire Recht gehabt hatte, es schüttete wirklich.

Aber das würde ihn nicht aufhalten. Eine kurze Runde, zehn, vielleicht zwanzig Minuten. Dann zurück in die Wärme der Bar, sich wieder seinem Cocktail widmen, sich dabei mit Sapphire unterhalten und diesmal hoffentlich nicht wieder geistig abschweifen. Und danach am Besten in seine Wohnung und ins Bett.

Ja. Ein ganz normaler, unspektakulärer Abend. Absolut nichts Besonderes.

So dachte er in diesem Augenblick, in dem er hinaus auf die Straße trat und den Schirm schützend über sich hielt, nachdenklich nach links und rechts blickend, bis er sich schließlich für die Strecke in Richtung des Silversteam Rivers entschied, zumindest noch.

1 -3

Am Ende war Robin länger unterwegs gewesen, als er geplant hatte. Beinahe eine halbe Stunde hatte er am Ufer des Silversteam Rivers auf einer Bank gesessen und hinaus aufs Wasser gestarrt, das sich unter dem scheinbar immer stärker werdenden Regen stark kräuselte, bevor er überhaupt einmal einen Blick auf die Uhr geworfen und erstaunt festgestellt hatte, wie spät es bereits geworden war.

Nach dieser Erkenntnis war er sofort aufgestanden und hatte sich auf den Rückweg gemacht. Er wollte nicht, dass Sapphire sich Sorgen um ihn machte, und das würde sie tun, das wusste er, und je länger er brauchen würde, bis er wieder zurück war, desto größer würden diese Sorgen sein.

Mit schnellen Schritten ging er die Straßen zurück zur Bar entlang, den Blick dabei die meiste Zeit zu Boden gerichtet. Seine Anspannung hatte sich tatsächlich ein wenig gelöst, seine Gedanken wirkten freier, zwangloser, ohne, dass er hätte sagen können, woran genau er diesen Eindruck festmachte. Auf jeden Fall jedoch schien der Spaziergang eine gute Idee gewesen zu sein.

Er war vielleicht noch vier schmale Querstraßen von der Bar entfernt – keine drei Minuten Fußweg – als er die Gestalt sah.

Im ersten Moment, als sein Blick aus den Augenwinkeln darauf fiel, nahm er sie gar nicht als eine solche wahr, glaubte, das, was dort in diesem dunklen Hauseingang lag, wäre einfach ein Haufen alter Klamotten, den jemand dort abgelegt hatte. Als er jedoch den Kopf drehte und genauer hinsah – eher ein Reflex als eine bewusste Handlung - erkannte er, dass dem nicht so war.

Die Person, die dort auf einer dünnen Decke auf dem Steinboden lag, eingewickelt in eine zweite Decke, die ihr jedoch halb vom Körper gerutscht war und in einer Pfütze hing, schien vollkommen durchnässt zu sein. Sie schlief offensichtlich, oder zumindest hatte sie die Augen geschlossen und reagierte nicht, als Robin ein paar Schritte auf sie zumachte, allerdings war zu erkennen, dass sie atmete.

Es war ein junger Mann, Robin schätzte ihn auf vielleicht Anfang zwanzig. Seine vom Regen durchnässten, schulterlangen Haare klebten an seiner Haut, das Shirt das er trug war eindeutig viel zu dünn für diese Jahreszeit.

Red Creek war eine große Stadt. Dass Leute auf der Straße lebten war hier keine Besonderheit, so tragisch das auch war, insbesondere hier, in der von Armut und Kriminalität geplagten Eastside. Es mochte kaltherzig klingen, doch wenn man sich um jeden Obdachlosen, den man sah, Gedanken machte, würde man irgendwann wohl den Verstand verlieren.

Doch da waren zwei Dinge an dieser Person, die dafür sorgten, dass Robin sich nicht einfach umdrehte und weiterging, zurück in die Bar, um den Abend wie geplant fortzusetzen, und keinen weiteren Gedanken an diese Person zu verschwenden.

Einmal war da das Alter. Anfang zwanzig, das war kaum älter, als Robin selbst gewesen war, als er damals eine Zeit lang ohne festes Zuhause durch die Gegend gezogen war, nur, dass er immer so viel Glück gehabt hatte, dass er nie bei einem derartigen Mistwetter unter freiem Himmel hatte schlafen müssen. Und so junge Leute im Freien schlafen zu sehen war hier durchaus eine Besonderheit – die meisten von diesen gehörten einer der drei konkurrierenden Gangs an und besaßen dadurch zumindest ein Dach über dem Kopf.

Wie ein Gangmitglied wirkte diese Person jedoch nicht wirklich. Der Grund, dass Robin zu diesem Schluss kam, war zugleich auch der zweite, der für sein Innehalten verantwortlich war: Der Mann war unglaublich dürr.

Nicht, dass die den Gangs angehörigen Leute in Reichtum schwimmen würden, aber die meisten von ihnen wirken doch zumindest ansatzweise muskulös, was wohl auch notwendig war, um sich in diesem Milieu behaupten zu können. Auch Tätowierungen konnte Robin keine erkennen, welche ebenfalls ein deutliches Anzeichen für eine Gangzugehörigkeit darstellten.

Alles in allem war es eine schlichte Tatsache, resultierend aus eben diesen beiden Gründen, die verantwortlich war für das, was er im Folgenden tun würde: Robin fühlte sich stark an sich selbst erinnert.

Er hatte vielleicht nicht viele Nächte auf der Straße verbringen müssen, und die, die er durchgemacht hatte, waren laue und vor allem trockene Sommernächte gewesen, aber das hatte vollkommen ausgereicht, um ihn an das Ende seiner Kräfte zu bringen. Bis heute noch war er sich nicht im Klaren darüber, was passiert wäre, wenn er nicht auf Sapphire getroffen wäre, die sich um ihn gekümmert und ihn bei sich aufgenommen hatte, ihn behandelt hatte wie ihren eigenen Sohn.

Ob er überhaupt noch am Leben wäre. Oder ob sie ihn damals, in dieser schicksalhaften Nacht, zum Sterben zurückgelassen hätte.

Ja. Und nun stand er hier. Betrachtete diesen Typen, der ihn irgendwie so sehr an sein früheres Ich erinnerte, und machte nun sogar noch ein paar Schritte auf ihn zu, bis er vor den steinernen Stufen des Hauseingangs stand, wo er in die Hocke ging und zögerlich innehielt.

Was genau hatte er eigentlich vor?

Den Mann wecken und fragen, ob alles in Ordnung war? Die Chance, dass er mit etwas anderem als „ja“ antworten würde, schätzte Robin als reichlich gering ein, so waren Menschen nun einmal; sie gaben selbst dann nicht zu, dass es ihnen nicht gut ging, wenn dies mehr als offensichtlich war. Das war es in diesem Fall, war doch deutlich zu erkennen, wie sehr der Mann im Schlaf zitterte.

Also, was war der Plan? Nun, er hatte keinen. Nicht wirklich jedenfalls. Bloß eine wage Idee, von der er nicht wirklich wusste, wie vernünftig sie war (überhaupt nicht!, flüsterte die Stimme der Vernunft in Robins Hinterkopf, die er geflissentlich zu ignorieren versuchte), aber so wage sie auch sein mochte, Robin war klar, dass sie ihn nicht mehr loslassen würde. Dass er nicht mehr einfach nach Hause gehen konnte, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, ganz gleich, wie sehr er auch versuchen würde, keinerlei Empfindungen an sich heranzulassen.

Denn, obwohl er keinesfalls an eine höhere Macht oder Schicksal oder dergleichen glaubte, war da in diesem Augenblick dieser Gedanke in seinem Kopf, dass das hier seine Gelegenheit war, sich indirekt dafür zu revanchieren, dass sein eigenes Leben, das im Begriff gewesen war in eine Richtung abzudriften, in der er früher oder später wohl ebenfalls endgültig auf der Straße gelandet wäre, durch die überraschende Hilfe einer ihm damals vollkommen fremden Person eine Wendung genommen hatte. Dass es nun quasi seine Pflicht war, das Gleiche zu tun. Nicht unbedingt im selben Ausmaß wie Sapphire es damals bei ihm getan hatte, aber zumindest konnte er dafür sorgen, dass der Mann sich ein wenig aufwärmen konnte.

Also räusperte Robin sich. Setzte dazu an, etwas zu sagen, aber so weit kam er gar nicht erst.

Sein leises Räuspern hatte vollkommen ausgereicht, um den jungen Mann zusammenzucken zu lassen, er öffnete die Augen und schreckte auf, starrte Robin an während er vor ihm zurückwich, nach dem Rucksack griff der neben ihm stand und etwas aus einem halb geöffneten Seitenfach zog… Ein Messer, wie Robin auf einen Blick feststellen konnte.

Es war nicht groß, aber würde dennoch ausreichen, um ernsthafte Verletzungen zu verursachen.

Abwehrend hob Robin die Hände. „Hey, tut mir leid! Ich… wollte dich nicht erschrecken.“

„Was… was wollen Sie von mir?“ Wachsam fixierte der Mann seinen Gegenüber, hielt das Messer vor sich, während er sich ein wenig aufrichtete, ohne Robin dabei aus den Augen zu lassen.

Trotz der dezent überfordernden Situation schaffte Robin es, ein leichtes Lächeln aufzusetzen. Ja. Was genau wollte er eigentlich? Seiner Stimme war seine Unsicherheit ganz dezent anzumerken, als er antwortete: „Nun, ich… wollte fragen, ob ich dir irgendwie helfen kann.“ Wahrscheinlich war das nicht der beste Gesprächseinstieg, klang ein wenig von oben herab. Schnell fügte er hinzu: „Ich meine, es… ist ziemlich kühl, und du bist total nass…“ Das schien irgendwie nur bedingt besser.

Argwöhnisch musterte der Mann ihn. „Es…geht mir gut.“

Er griff nach der zur Hälfte heruntergerutschten Decke und zog sie sich wieder enger um die Schultern, wobei deutlich zu erkennen war, wie stark seine Hand zitterte.

Robin hob eine Augenbraue. „Ich will nicht unhöflich sein, aber du siehst nicht wirklich so aus, als würde es dir gut gehen.“ Ha, ha. Wenn das nicht unhöflich war, was dann?

Der Mann ließ das Messer ein wenig sinken, blieb aber weiterhin aufmerksam, verlor augenscheinlich nichts von seiner Wachsamkeit. Robin fragte sich, was er in diesem Moment wohl dachte. Wahrscheinlich hielt er ihn einfach für vollkommen seltsam.

„Es ist alles in Ordnung!“, wiederholte er, und in seiner Stimme lag ein gewisser Trotz.

Robin unterdrückte ein Seufzen. Diese Reaktion überraschte ihn nicht, sie war zu erwarten gewesen, war mehr als verständlich. Dennoch hatte er nicht vor, sich einfach so abwimmeln zu lassen.

„Hör mal“, setzte er erneut an. „Ich weiß, dass… ich auf dich wahrscheinlich grade sehr seltsam wirke! Aber ich sehe, dass es dir nicht gutgeht. Du zitterst, du bist komplett durchnässt… und das bei so einer Kälte!“

„Und was interessiert Sie das?“ Jetzt klang sein Gegenüber nicht mehr bloß trotzig, sondern beinahe spöttisch.

Nun, auch das konnte Robin ihm nicht wirklich verübeln.

Mit einem leichten Lächeln, von dem er hoffte, dass es vertrauenerweckend wirken würde, entgegnete er: „Nun, weißt du… du erkennst vielleicht mich nicht, aber vielleicht sagt dir der Name ‚Sapphire Duncan‘ etwas.“

Zu seiner Freude erkannte er im Gesicht seines Gesprächspartners eine Regung, die darauf schließen ließ, dass er durchaus etwas mit diesem Namen anfangen konnte. Unwillkürlich entspannte er sich ein wenig. Fuhr, nun ruhiger, fort: „Und vielleicht weißt du auch, dass Sapphire dafür bekannt ist, dass sie Leute unterstützt, die in Schwierigkeiten sind. Was, wie ich ja bereits sagte, auf dich zuzutreffen scheint…“ Er erwartete, dass an dieser Stelle ein Widerspruch erfolgen würde, doch dem war nicht so. „Und ich arbeite mit Sapphire zusammen. Und ich will dir einfach nur anbieten, dass du mit mir in ihre Bar kommen kannst, um dich da ein wenig aufzuwärmen.“ Er fand, dass er es soweit doch noch ganz gut geschafft hatte, sich auszudrücken. Dann jedoch fiel ihm noch etwas ein, und er fügte seiner vorangegangenen Erklärung hinzu: „Ich bin übrigens Robin. Und wie heißt du?“

Der junge Mann schien immer noch nicht vollends überzeugt davon zu sein, dass er nicht einfach einen kompletten Freak vor sich hatte, doch zumindest hatte er das Messer sinken lassen, hielt es nun nur noch locker in der Hand, während er Robin musterte, als würde ihm das dabei helfen, einschätzen zu können, ob er die an ihn gestellte Frage wirklich beantworten sollte. Nun, was immer genau für Gedanken durch den Kopf gehen mochten, letztlich schien er zu dem Entschluss zu kommen, dass von seinem Gegenüber zumindest keine Gefahr ausging. Er ließ das Messer zurück in seinen Rucksack gleiten, Robin dabei weiterhin nicht aus den Augen lassend, und antwortete knapp: „Jonny.“

Das war ein Anfang. Robin erwartete nicht, dass der Mann – Jonny – sofort damit aufhören würde, ihm zu misstrauen, das würde wohl niemand in seiner Lage tun, und das war auch vernünftig. Aber immerhin hatte er ihm seinen Namen verraten, und alleine das, beschloss Robin, würde er als Erfolg verbuchen.

Er lächelte noch ein wenig mehr, während er sein Gewicht auf sein anderes Bein verlagerte; so dazuhocken war auf Dauer verdammt anstrengend. „Okay, Jonny. Also. Kommst du mit, ins Warme? Es ist auch nicht weit, höchstens zwei, drei Minuten!“

Er sah, wie Jonny zögerte. Mit einem Mal wirkte sein Blick seltsam leer, so als wäre er in Gedanken versunken, und Robin war sich nicht sicher, ob das mit seiner Frage zusammenhing oder irgendetwas anderes vor sich ging. Es war ein wenig irritierend, dennoch entschied er, einfach abzuwarten. Schließlich war mit einem fremden Typen mitzugehen keine Entscheidung, die man leichtfertig treffen sollte. Also richtete er sich ein wenig auf, streckte nacheinander seine Beine aus um seine Muskeln zu entspannen, und eine bequemere Position einzunehmen, bis Jonny seine Wahl getroffen hatte.

1 -4

Was war bloß los mit diesem Typen? Wieso bestand er so sehr darauf, ihm zu helfen?

Jonny war im Grunde von dem Augenblick an irritiert gewesen, in dem er aus dem Schlaf gerissen worden war, obwohl in den ersten Sekunden die Angst davor, von jemandem mit weitaus weniger freundlichen Absichten angegriffen zu werden, noch überwogen hatte.

Allerdings war ihm ziemlich schnell klargewesen, dass von diesem Kerl keine wirkliche Gefahr ausging, auch, wenn er natürlich trotzdem wachsam geblieben war, alles andere wäre leichtsinnig und dumm gewesen.

Mittlerweile allerdings war Jonny einfach nur noch verwirrt. Freundlichkeit war nicht grade etwas, womit er in den letzten Jahren seines Lebens viel Erfahrung gemacht hätte. Schon gar nicht, ohne dass die andere Person im Gegenzug irgendetwas erwartete - eine Gegenleistung, einen Preis, den er für ihre Unterstützung zu zahlen hatte, und eigentlich war das immer etwas gewesen, das Jonny absolut nicht gefallen hatte.

Bei diesem Typen jedoch schien das anders zu sein. Natürlich, so etwas war nach solch kurzer Zeit nicht mit Sicherheit zu sagen, und Jonny würde ganz sicher nicht den Fehler begehen, ihn möglicherweise zu unterschätzen und ihm zu vertrauen.

Nein, bestimmt nicht. Diesen Fehler würde er bestimmt kein zweites Mal in seinem Leben machen.

Und dennoch… der Gedanke daran, ins Warme zu kommen, raus aus dieser furchtbaren Kälte, die seinen Körper ertauben ließ und es ihm schwer machte, klar zu denken, war wirklich ausgesprochen verlockend.

„Du solltest nicht mal daran denken!“ Die Stimme war wieder da, noch schärfer und bissiger als vorhin, was nicht sonderlich verwunderlich war. Eigentlich war Jonny überrascht, dass sie sich erst jetzt meldete. Er unterdrückte ein Seufzen, zog die halb durchnässte Decke enger um sich, als würde ihm das irgendwie dabei helfen, nachzudenken, eine vernünftige Entscheidung zu treffen.

„Was gibt es da groß zu überlegen?“, blaffte die Stimme ihn an. Verdammt, manchmal hasste er ihre Anwesenheit wirklich abgrundtief.

War es denn wirklich so unvernünftig, darüber nachzudenken, das Angebot anzunehmen? Es ging schließlich nicht darum, spontan irgendwo einzuziehen oder dergleichen; dieser Typ - Robin, wie er sich vorgestellt hatte - bot ihm lediglich einen Ort an, an dem er sich etwas aufwärmen konnte. Wieder zu Kräften kommen. Das konnte doch nicht verkehrt sein, im Gegenteil. Viel mehr wäre es doch leichtsinnig, in von Regen vollgesogenen Klamotten und durchgefroren hier draußen zu bleiben und zu riskieren, sich eine Lungenentzündung einzufangen, oder zumindest eine Erkältung, um nicht gleich vom Schlimmsten auszugehen.

Eine Erkältung wäre schon problematisch genug, alles, was einen schwächte, war problematisch, konnte bedeuten, dass man nicht in der Lage war, sich zu verteidigen, schnell genug wegrennen zu können, oder anderweitig zu verhindern, dass man zum Opfer von Leuten wurde, die einem nicht grade wohlgesonnen waren. Man konnte sich Schwäche nicht leisten, wenn man hier draußen überleben wollte. Also, war es, logisch betrachtet, nicht die bessere Entscheidung, mit Robin mitzugehen als hier draußen eine Krankheit in Kauf zu nehmen?

So überzeugend Jonny selbst diese Schlussfolgerung auch fand, die Stimme schien anderer Meinung zu sein.

„Dann such dir irgendwo ein offenes Kellerfenster, oder eine Brücke unter der es trocken ist! Du wirst schon zurecht kommen, auch ohne Hilfe!“ Das Wort ‚Hilfe‘ klang bei ihr so, als handele es sich dabei um ein ganz besonders widerliches Insekt.

Jonny wusste, warum das Ding, das viel mehr war als ein bloßer Gedanke, der ihm ab und an in den Kopf kam, sich derart sträubte. Er wusste es, und er verstand es, und das war im Grunde auch das Komplizierte daran, denn es bedeutete, dass er es nicht einfach ruhigen Gewissens ignorieren und als Paranoia abstempeln konnte. Er konnte es nicht bloß beiseite schieben, denn es gab einen Grund dafür, dass es da war und derart auf ihn einredete, versuchte, ihn davor zu bewahren, einen Fehler zu begehen.

Aber wäre es denn wirklich ein Fehler?

Es war verwirrend, so gottverdammt verwirrend!

Am liebsten hätte Jonny geschrien. Nicht unbedingt, weil es ihm bei seiner Entscheidungsfindung geholfen hätte, aber zumindest hätte es wohl diesen Druck verringert den er empfand, und der ihm das Gefühl gab, keinen wirklich klaren Gedanken fassen zu können, weil sich alles irgendwie falsch anfühlte...

Mit einem Mal fühlte er sich unendlich erschöpft. Er war müde, er war erledigt, und der Gedanke daran, frierend eine weitere Nacht in einem zwar vielleicht trockenen, aber zugigem Gebäude oder unter einer Brücke zu verbringen, fühlte sich in diesem Augenblick vollkommen unerträglich an.

Nicht so. Nicht in diesen durchnässten Klamotten. Wer wusste schon, ob er in diesem Zustand morgen überhaupt wieder aufwachen würde...

„Du übertreibst schon wieder!“, knurrte die Stimme, aber Jonny hatte den Eindruck, dass sie nicht mehr so selbstsicher klang, wie es zuvor der Fall gewesen war. Und es war nicht übertrieben!

Die Temperaturen mochten noch nicht in der Nähe des Gefrierpunktes liegen, doch um zu erfrieren war das auch gar nicht nötig, wenn man dafür eben bis auf die Knochen durchnässt war.

Und selbst, wenn das nicht der Fall wäre... vollständig bei Kräften würde er unter diesen Umständen morgen wohl kaum sein.

Also hob Jonny nun den Blick, sah wieder zu Robin, der die ganze Zeit geduldig auf eine Antwort gewartet und geschwiegen hatte. Gab sich alle Mühe, seine Stimme ruhig und weiterhin distanziert klingen zu lassen, als er nach einer Zeitspanne, die er selbst nicht einzuschätzen vermochte, auf das Vorgangs bereitete Angebot erwiderte: „Okay, gut. Meinetwegen, ich komme mit.“

Er hatte seinen Satz noch nicht beendet gehabt, da hatte Robin bereits angefangen, leicht zu Lächeln. Es war kein spöttisches Lächeln, kein herablassendes, kein wusst-ichs-doch-dass-du-auf-meine-Hilfe-angewiesen-bist-Lächeln. Das war gut. Ein solches Lächeln hätte Jonny nur schwer ertragen können.

Robin wirkte einfach nur aufrichtig erfreut.

Was für ein seltsamer Typ, schoss es Jonny durch den Kopf, während er sich erhob, sich die Decke von den Schultern zog und sie zusammenfaltete. Die Stimme, nun wieder gewohnt überzeugt von dem, was sie von sich gab, pflichtete ihm bei: „In der Tat! Aber unterschätz ihn trotzdem nicht. Denk dran: Niemand wird ohne Grund nett zu einem heruntergekommenen Straßenjungen sein! Irgendetwas wird er sich schon davon versprechen, und du solltest zusehen, dass du schon verschwunden bist, wenn er es einfordern will!“

So bedrohlich diese Worte auch klangen - Jonny wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen. Er hatte einmal den Fehler gemacht, zu glauben, jemand würde ihm vollkommen uneigennützig seine Hilfe anbieten nicht nur das, er hatte dieser Person vollkommen vertraut.

Und dafür hatte er bezahlt.

Nein, das würde ihm nicht noch einmal passieren, dazu brauchte er keine warnende Stimme, um sich darüber im Klaren zu sein.

Bloß eine Weile aufwärmen, das war alles. Vielleicht hätte er auch Gelegenheit, zumindest seinen Mantel ein wenig zu trocknen, aber weiter reichten seine Erwartungen an diese überraschende Einladung nicht.

„Fertig?“, fragte Robin schließlich, nachdem er dabei zugesehen hatte, wie Jonny seine Decken in seinem Rucksack verstaut und sich seinen Mantel übergezogen hatte. Letzteres war keine sonderlich gute Idee gewesen, hatte Jonny doch sofort das Gefühl, noch um einiges stärker zu frieren.

Er warf Robin einen kurzen Blick zu, nickte. Am besten auch nicht zu viel Konversation. Wenn man redete, war es schwieriger, distanziert zu bleiben.

„Okay.“ Robin war bereits im Begriff sich umzudrehen, hielt dann jedoch noch einmal inne. Musterte Jonny, so als wäre ihm grade noch etwas eingefallen, griff dann nach der Kapuze seiner Jacke und zog sie sich über den Kopf, hielt Jonny dann den Schirm hin, den er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte. „Hier. Du solltest wirklich nicht noch nasser werden.“

Ein wenig perplex sah Jonny ihn an. Der Kerl irritierte ihn immer mehr. Unsicher griff er nach dem Schirm, ohne sich dabei sicher zu sein, ob er ihn überhaupt annehmen wollte, erstarrte dann in der Bewegung, zögerte. War es schon zu viel, dieses Angebot auch noch anzunehmen? Das war doch albern, es war bloß ein Regenschirm. Aber trotzdem...

Robin schien der Zwiespalt, der in Jonny herrschte, nicht entgangen zu sein. „Komm schon“, forderte er ihn auf und drückte ihm den Griff des Schirms in die noch immer ausgestreckte Hand. „Wie gesagt, es ist nicht weit bis zur Bar, und bis dahin reicht meine Jacke.“

„Ich...weiß nicht ob es noch einen Unterschied macht, ob ich noch nasser werde oder nicht...“ Verärgert registrierte Jonny, dass seine Stimme zitterte. Das war nicht wirklich verwunderlich, fand er diese ganze Situation doch reichlich überfordernd, aber trotzdem; dieser ihm völlig fremde Mann musste doch nicht mitbekommen, dass er verunsichert war! Es war nicht gut, wenn er das tat. Er könnte es ausnutzen, nein, er würde es ausnutzen, ganz bestimmt, würde versuchen, diese Unsicherheit noch zu verstärken und so zu verhindern, dass Jonny noch in der Lage war, klar zu denken, was ihm wiederum erlauben würde, Kontrolle auszuüben, und...

Da war sie wieder, diese verdammte Paranoia. Er hasste sie, hasste es, wie übertrieben panisch sie ihn wirken ließ, in welch unrealistisch-düsteren Ton sie seine Gedanken tauchte. Sie war weitaus mehr als bloße Vorsicht, ließ ihn stets das Schlimmste annehmen, und obgleich er selbst ein eher pessimistischer Mensch war, so war diese Art, die Dinge zu betrachten, schlicht fürchterlich anstrengend.

Die Person, die hier vor ihm stand und ihm grade ihren Regenschirm in die Hand gedrückt hatte, mochte ihm fremd sein, ja. Sie mochte seltsam sein, irritierend, komisch. Aber all das musste nicht bedeuten, dass sie wirklich irgendetwas Grausames mit ihm vorhatte.

„Nein, das muss es nicht!“ Wieder die Stimme. Als wäre die Paranoia alleine nicht schlimm genug. „Aber es könnte sein! Willst du wirklich den gleichen Fehler ein zweites Mal machen und mit einer fremden Person mitgehen, die dich zu sich einläd? Hast du denn nichts gelernt? Willst du wirklich riskieren, dass das alles wieder von vorne losgeht?“

Möglicherweise hätte die Stimme noch weiter gesprochen, hätte weiter auf Jonny eingeredet, ihn mit Vorwürfen verunsichert, so lange, bis er den Regenschirm von sich geworfen hätte und losgerannt wäre, so schnell, wie es ihm in seinem aktuellen Zustand eben möglich gewesen wäre, fort in die Nacht, ohne irgendein spezifisches Ziel.

Aber die Stimme kam nicht mehr dazu, noch etwas zu sagen. Denn Robin kam ihr zuvor.

„Ich will nicht hetzen“, sagte er, dabei weiterhin lächelnd, und Jonny konnte sehen, dass er nun auch ein wenig zitterte. „Aber wenn ich hier noch lange stehe, bin ich auch bald durchgeregnet. Also...kommst du?“

Dieses Mal zögerte Jonny nicht. Es brachte nichts, noch weiter hier herumzustehen und mit der Stimme und seiner Paranoia herumzudiskutieren; das würde zu keinem Ergebnis führen. Er warf sich den Träger seines Rucksacks über die Schulter und setzte sich in Bewegung, ging die steinernen Stufen hinab und trat aus dem sporadischen Schutz des Hauseingangs heraus. Blieb neben Robin stehen und sah ihn abwartend an.

Ja. Es war sinnlos, zu viel über alles nachzudenken. Und es wäre leichtsinnig, dieses Angebot abzulehnen. Die Stimme hatte unrecht, es war nicht wie damals, er würde keinesfalls noch einmal diesen Fehler machen, der letztlich überhaupt erst dafür gesorgt hatte, dass er nun hier war.

Es ging bloß um einen einzigen Abend.

Und obwohl er Robin nicht kannte, obwohl er ihn seltsam fand, wusste, dass er sich nach solch einer Zeit kein Urteil erlauben konnte, ihn nicht unterschätzen durfte - Jonny war sich sicher, dass er vor diesem Mann nichts zu befürchten hatte, was vergleichbar gewesen wäre mit dem, was damals geschehen war.

1 -5

Die Bar hatte sich in der Zeit, in der Robin unterwegs gewesen war, ein wenig geleert.

Das sah Robin bereits durch die Glasscheibe der Eingangstür, als er noch davor stand und bereits im Begriff war, seine Jacke auszuziehen, um sich ihr drinnen möglichst schnell an dem direkt neben der Tür stehenden Kleiderständer entledigen zu können.

Einige der Tische waren nun unbesetzt, und allgemein wirkte die Atmosphäre ruhiger, entspannter, weniger aufgeregt als es zwangsweise der Fall war, wenn sich ein paar Dutzend Menschen auf solch relativ beengtem Raum befanden. Man merkte, dass der Abend sich dem Ende neigte, es auf Mitternacht zuging.

„Da sind wir.“ Lächelnd wandte Robin sich zu seinem Begleiter um, während er die Tür aufdrückte, woraufhin ihm eine Welle warmer Luft von drinnen entgegenstemmte, die sich, nachdem er durch den starken Regen doch ein wenig ausgekühlt war, ausgesprochen angenehm anfühlte.

Jonny antwortete nicht. Stand einfach bloß da uns starrte an Robin vorbei, wobei seine Hände sich um den Griff des Regenschirms klammerten, so als würde dieser ihm auf irgendeine Art Sicherheit geben. In seinen Augen war etwas zu erkennen, das vielleicht noch keine Angst, aber zumindest doch Nervosität widerspiegelte.

Ein wenig irritiert drehte Robin sich nun ganz zu ihm um, wobei die Tür wieder hinter ihm ins Schloss fiel. „Alles in Ordnung?“, fragte er, hoffend, dass man ihm seine Verwirrung nicht allzu sehr anmerkte.

Nun richtete Jonny seine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. „J...Ja..., es...es...“, begann er, brach dann ab und schloss die Augen. Roben konnte hören, wie er etwas vor sich hinflüsterte, jedoch nicht verstehen, was er sagte. Aber wahrscheinlich waren die Worte auch nicht für ihn bestimmt.

Geduldig, wenn auch weiterhin irritiert, wartete Robin ab, bis sein Gegenüber seine Gedanken weit genug geordnet hatte, um weiterzusprechen. Als es schließlich so weit war, fuhr Jonny, mit ein wenig ruhigerer Stimme, fort: „Ich war nur... überrascht, wie viele Leute da drin sind.“ Er lachte, es war kein amüsiertes Lachen. „Hätte ich mir auch vorher denken können, ja.“

„Hast du... ein Problem mit vielen Menschen?“ Dieser Gedanke erschien Robin, in Anbetracht von Jonnys beinahe verängstigter Reaktion, naheliegend. Er kannte das von sich selbst: Die Nervosität, die in einem hochkroch, wenn man sich in an einem Ort befand, an dem man von einer unübersichtlichen Menge von Leuten umgeben war. Das Gefühl, die ganze Zeit angestarrt zu werden, obwohl es dafür keinerlei Grund gab, der Glaube, dass die Menschen über einen sprachen, tuschelten, sich das Maul zerrissen. Früher war Robin regelmäßig von Panikattacken übermannt worden, sobald sich mehr als zehn Personen in seiner Nähe aufgehalten hatten, und obwohl er in diesen Situationen stets viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war um viel von seiner Umwelt mitzubekommen, die ihm in diesem Zustand ohnehin seltsam surreal und nicht greifbar erschienen war, konnte er sich vorstellen, dass er von außen ähnlich gewirkt haben musste, wie Jonny es jetzt tat.

Der unruhige Blick, der hektisch hin und her huschte. Die hochgezogenen Schultern, die angespannte Körperhaltung. Die verkrampften Hände, von der sich eine immer noch an den Griff des Regenschirms klammerte, während die andere so fest das Handgelenk umfasst hielt, dass die Haut darunter sich bereits weiß färbte. Er betrachtete Robin mit einem wachsamen Ausdruck in den Augen, schien abzuwägen, ob und wie er diese Frage beantworten sollte.

Er löste seine Hand, mit der er bis eben noch seinen Arm umklammert hatte, und strich sich damit die nassen Haare aus dem Gesicht, Robin dabei weiterhin abschätzend mustern. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis er endlich antwortete: „Ein wenig, Ja. Es... macht mich einfach nervös, wenn viele Menschen um mich herum sind. Ich fühle mich...unsicher.“

Wieder legte er seine Hand um sein Handgelenk - so dürr, wie er war, war es ein Leichtes für ihn, es komplett zu umfassen - die Fingernägel bohrten sich in die bleiche Haut.

Ein wenig besorgt, musterte Robin ihn. „Ist schon okay“, begann er, ohne wirklich zu wissen, was er sagen wollte, bemüht, seine Stimme beruhigend, aber nicht mitleidig klingen zu lassen. Er konnte sich vorstellen, dass Jonny auf ein derartiges Empfinden ihm gegenüber nicht grade begeistert reagieren würde. „Du kannst dich zu mir und Sapphire an den Tisch setzen, wenn du willst. Wir sitzen ganz hinten in einer der Nischen, wo man am meisten Ruhe hat. Und vor Blicken geschützt ist man dort auch recht gut. Wobei ich auch nicht glaube, dass dir jemand viel Aufmerksamkeit schenken wird.“

Das stimmte. Jonny würde sich, mit seinem an einigen Stellen zerrissenen Mantel und dem alten Rucksack, den er trug, kaum von den anderen Besuchern der Bar abheben.

Sapphire mochte Wert darauf gelegt haben, die Einrichtung ihres Etablissment elegant und anschaulich zu gestalten, die Besucher hingegen wirkten allesamt nicht so, als würden sie in den höchsten sozialen Kreisen verkehren.

Das war auch überhaupt nicht das Ziel dieses Ortes. Die Bar sollte ein Zufluchtsort für diejenigen sein, die nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Für die, die ein wenig Ablenkung von ihrem Alltag brauchten, der hier, in dem verarmtesten und von Kriminalität geprägtesten Stadtteil von Red Creek, alles andere als einfach war.

Ja. Jonny würde hier kein bisschen auffallen. Viel mehr war Robin derjenige, der mit seinen relativ hochwertigen Klamotten, den eleganten Hemden und Anzügen, die Blicke auf sich zog, weil er nicht so recht in das Gesamtbild zu passen schien. Die Leute hier kannten ihn, wussten, wer er war, und trotzdem bekam er manchmal mit, wie jemand ihn argwöhnisch ansah oder verwirrt über sein Auftreten war. Mittlerweile war es ihm egal. Er wusste, dass er trotz dieses Unterschieds der Masse der Anwesenden gegenüber von diesen respektiert wurde.

Jonny allerdings schien nichts von alledem zu wissen. Er blickte durch die Glasscheibe der Tür und schien die Besucher der Bar genauestens abzuscannen, abzuwägen, ob er wirklich dort hineingehen sollte, oder ob es vielleicht besser wäre, wieder ins Dunkel der Nacht zu verschwinden.

Robin hoffte inständig, dass er nicht zu letzterem Schluss kommen würde. Er wusste nicht genau, warum... aber irgendwie fühlte er sich verantwortlich für diesen jungen Mann, den er erst vor wenigen Minuten kennengelernt und mit dem er kaum mehr als zehn Sätze gewechselt hatte.

Nun, was auch immer genau in Jonnys Gedanken vor sich gehen mochte - letztlich schien er zu dem Schluss zu kommen, dass er seine Nervosität nicht die Oberhand behalten lassen würde.

Ohne ein Wort ging er näher an Robin heran, sodass er vom Vordach der Bar ein wenig vor dem Regen geschützt wurde. Klappte den Schirm zusammen, schüttelte ihn etwas um die Tropfen zu entfernen, und sah Robin dann abwartend an.

Dieser merkte, wie ihn innerlich eine gewisse Erleichterung überkam. Ein zweites Mal drückte er die gläserne Tür auf, und ein zweites Mal schlug ihm warme Luft entgegen. „Den Schirm kannst du direkt hier abstellen“, meinte er, während er selbst seinen Mantel auszog und ihn an die Garderobe hängte.

Jonny tat wie angewiesen, ließ seinen Blick dabei jedoch weiterhin durch die Bar streifen. Jede Bewegung eines der Besucher schien seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, jedes laute Lachen im Stimmengewirr ließ ihn leicht zusammenzucken.

Schnell wandte Robin sich ab. Höchstwahrscheinlich war es seinem Gast nicht grade angenehm, die ganze Zeit über angestarrt zu werden. „Dann komm mal mit“, rief er über die Schulter, setzte sich in Bewegung und steuerte auf die hintere Ecke der Bar zu. Eine kontinuierliche Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, zeigte ihm, dass Jonny ihm folgte.

Sapphire saß noch immer an dem kleinen Tisch, an dem Robin sie zurückgelassen hatte, neben ihr, augenscheinlich unangenehmer, Robins kurz vor seinem Aufbruch bestellter Tequila Sunrise. Sie telefonierte, wie Robin aus der Nähe feststellen konnte, weshalb er auf eine verbale Begrüßung verzichtete, sich stattdessen schweigend auf seinen Platz fallen ließ und Jonny mit einer Geste bedeutete, sich auf einen der beiden freien Stühle zu setzen.

Ein wenig zögerlich leistete dieser der Anweisung Folge, warf dabei einen unsicheren Blick zu Sapphire, die ihn ihrerseits ebenfalls ein wenig irritiert, dabei aber keinesfalls unfreundlich musterte. Bemüht, möglichst leise zu sprechen, beugte Robin sich ein Stück über den Tisch, murmelte: „Willst du was trinken?“

Kurz wirkte Jonny unschlüssig, schien ernsthaft zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf.

Nicht wirklich überraschend. So misstrauisch, wie er offenbar war, vermutete er womöglich, dass man ihm irgendetwas ins Getränk mischen würde oder dergleichen.

Innerlich seufzte Robin. Sicher, es war vollkommen natürlich, wachsam zu sein, wenn man von einer fremden Person eingeladen wurde, mit ihr zu kommen, ohne, dass es dafür einen richtigen Grund zu geben schien. Aber das hier war ein öffentlicher Ort, es war nicht so, als befänden sie sich in irgendeiner abgelegenen Wohnung, wo niemand mitbekäme, wenn man schrie.

Andererseits - was wusste er schon? Er hatte keine Ahnung, was Jonny möglicherweise schon erlebt hatte, welche Erfahrungen er gemacht hatte, die dafür sorgten, dass er hier und jetzt nicht das kleinste Bisschen Unaufmerksamkeit zuließ. Robin hatte nicht vor, in wilde Spekulationen zu verfallen, sich auszumalen, was vielleicht und vielleicht auch nicht in Jonnys Vergangenheit vorgefallen sein mochte. aber irgendetwas schien dort gewesen zu sein. Dessen war er sich ganz sicher.

Trotz der Tatsache, dass Jonny sein Angebot, etwas zu Trinken zu bestellen, abgelehnt hatte, winkte Robin einen der Kellner zu sich. Wartete, bis der Mann an ihren Tisch gegangen war, bedeutete ihm dann, sich ein wenig zu ihm herunterzubeugen, und murmelte dann, weiterhin darauf bedacht, Sapphire nicht bei ihrem Telefonat zu stören: „Holen Sie uns bitte ein... zwei Handtücher.“

Der Mann nickte. Warf einen kurzen Blick zu Jonny, der grade seinen durchnässten Mantel ausgezogen und über seinen Stuhl gehängt hatte, drehte sich dann um und ging zurück in Richtung Tresen.

Jonny sah ihm nach, wobei sein Blick auch immer wieder zurück zu Robin und Sapphire huschte. Er wirkte weiterhin angespannt, wachsam. Bereit, auf jede mögliche Gefahr zu reagieren.

„In Ordnung, dann sehen wir uns morgen!“ Sapphires Stimme hatte ganz dezent an Lautstärke zugelegt, ein für sie typisches Zeichen dafür, dass sich das Telefonat dem Ende neigte.

Unwillkürlich wandte Robin sich ihr zu, und Jonny tat es ihm gleich, schien sich noch ein wenig mehr anzuspannen und krallte sich an die Tischplatte. Sah zu, wie Sapphire das Handy sinken ließ und den Anruf beendete, das Telefon in die neben ihr stehende Handtasche steckte, und sich dann ein wenig zu Robin drehte. Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, nicht auf irgendeine Art streng, sondern lediglich neugierig, als sie fragte: „Okay, also. Wen hast du da mitgebracht?“

Bei ihren letzten Worten hatte sie sich von Robin abgewandt, stattdessen Jonny angesehen, worüber Robin ziemlich froh gewesen war. Es hätte sich recht unwohl dabei gefühlt, über seinen Gast zu reden, als wäre dieser nicht in der Lage für sich selbst zu sprechen.

Ein Blick auf Jonny jedoch ließ die Frage in ihm aufkommen, ob das wirklich die bessere Option gewesen war.

1 -6

Sicher, Jonny war bereits die ganze Zeit über nervös gewesen. Hatte gewirkt, als würde er jeden Augenblick damit rechnen, die Flucht ergreifen zu müssen, wovor auch immer, als könnte jede unachtsame Sekunde schreckliche Folgen für ihn nach sich ziehen. Nun jedoch schien er geradezu panisch zu sein.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Sapphire an, die Arme nun vor der Brust verschränkt, die Schultern hochgezogen, die Finger so krampfhaft in die Arme gekrallt, dass es schmerzhaft sein musste. Robin hatte den Eindruck, dass er versuchte, etwas zu sagen, doch nicht fähig war Worte zu bilden, oder auch nur einen einzigen Laut hervorzubringen. Und mit jeder Sekunde, die verstrich, und in der die Blicke der beiden anderen am Tisch sitzenden Personen auf ihm ruhten, schien dieser Zustand schlimmer zu werden.

Robin sah zur Seite. Er war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, nachvollziehen zu können, wie Jonny sich fühlte, auch, wenn es lange her war, dass er selbst das letzte Mal eine solche Panikattacke erlitten hatte. Den jungen Mann anzustarren, wäre kein bisschen hilfreich. Im Gegenteil.

Auch Sapphire schien das erkannt zu haben. Statt Jonny wandte sie ihre Aufmerksamkeit einer der in der Nähe stehenden Kellnerinnen zu, hob die Hand und rief: „Entschuldigung?“ Wartete, bis die Frau an ihren Tisch gekommen war, um dann ihre Bestellung anzugeben: „Bringen Sie uns bitte ein gegrilltes Käsesandwich und eine heiße Schokolade.“

Die Dame nickte, drehte sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Tresen, während Sapphire sich wieder Jonny zuwandte. Zu seiner Erleichterung konnte Robin feststellen, dass er nicht mehr ganz so verängstigt wirkte, wie es eben noch der Fall gewesen war, auch, wenn zu sagen, dass er sich entspannt hätte, wohl übertrieben wäre. Seine Hände lagen nun wieder vor ihm auf dem Tisch, sein Blick folgte einige Sekunden lang der Kellnerin, bis er ihn wieder auf einen unbestimmten Punkt an der Wand hinter Robin richtete, augenscheinlich darum bemüht, weiter seine Fassung zurückzugewinnen. Das war gut. Vielleicht war es wirklich eine Panikattacke gewesen, wie Robin sie selbst nur allzu gut kannte, die sich angebahnt hatte, aber offensichtlich hatte Jonny es geschafft, das Schlimmste noch abzuwenden. Zumindest vorerst.

Sapphire nahm einen Schluck von ihrem Aperol Spritz - das Glas hatte sich kaum geleert, seit Robin gegangen war, wirklich beeindruckend, diese Selbstbeherrschung – bevor sie, ohne Jonny dabei direkt anzusehen, fragte: „Ich hoffe doch, du magst Käse und Kakao?“

„…Ähm…“ Überfordert sah Jonny sie an, wenn auch bloß für kaum mehr als eine Sekunde, bevor er den Kopf abermals senkte und die Tischplatte betrachtete. Er wirkte wieder ein wenig angespannter, aber dass er nun in der Lage war, zu reden, war wohl als Fortschritt zu betrachten. „Ja, sch-schon, a-a-aber…“ Er stockte, krallte eine Hand in seine Haare, schloss die Augen, atmete tief durch. Einige Momente verstrichen, Momente, in denen niemand etwas sagte, bloß das Stimmengewirr im Hintergrund und die mäßig laute Musik verhinderten eine komplette Stille. Ein Schweigen, das weder Robin noch Sapphire vorhatten, zu durchbrechen.

Schließlich sah Jonny wieder auf. Er verschränkte die Hände ineinander, ließ seinen Blick von Robin zu Sapphire und zurück huschen, so als wolle er abschätzen, wie er das, was er vorhatte auszudrücken, am Besten formulieren sollte. „Das klingt schon g-g-gut…“, begann er schließlich, brach wieder ab, und ein verärgerter Ausdruck überschattete sein Gesicht. Wieder verstrichen ein paar Sekunden, jedoch weitaus weniger als zuvor. „Aber ich… ich brauche nichts zu Essen. Ich habe auch gar kein Geld, u- und…“

Bevor er weiterreden konnte, was vermutlich ohnehin ein weiteres Mal einige Augenblicke gedauert hätte, in Anbetracht der Tatsache, dass ihm die Stimme erneut weggebrochen war, machte Sapphire eine wegwerfende Handbewegung und warf ihm einen strengen, jedoch weiterhin nicht unfreundlichen Blick zu. „Um Geld brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Und dass du nichts zu essen brauchst… das nehme ich dir nicht ab. Aber auf jeden Fall brauchst du etwas, um dich aufzuwärmen! Das kannst du doch nicht wirklich abstreiten, oder?“

Ein wenig verblüfft sah Jonny sie an. Robin konnte ihm diese Reaktion nicht verübeln; Sapphires direkte, manchmal dezent überrumpelnde Art war etwas, was ihn damals, in der ersten Zeit, in der er sie kennengelernt hatte, des Öfteren überfordert hatte. Allerdings wirkte sie dabei niemals überheblich, oder gar unfreundlich, es war nicht so, dass sie den Drang hatte herrisch über alles zu bestimmen, nein… es war schlichtweg so, dass sie auf diese Weise versuchte, anderen zu helfen.

Nun sah sie Jonny wieder direkt an. Lächelte dabei, und ihre Stimme hatte etwas ausgesprochen Beruhigendes an sich, als sie sagte: „Ich kann mir vorstellen, dass Robin dich hier hergebracht hat, damit du dich etwas aufwärmst, oder? Da ist eine heiße Schokolade und ein warmes Essen doch sehr hilfreich! Mach dir keine Sorgen, niemand hier hat vor, dich zu vergiften oder so… das wäre auch schlecht für den Ruf meiner Bar!“

Vielleicht hatte Robin sich geirrt, doch kurz glaubte er, ein leichtes Lächeln auf Jonnys Gesicht sehen zu können. Es hielt bloß ein, zwei Sekunden an, bevor der ernste Ausdruck zurückkehrte, zusammen mit der gewohnten Unsicherheit, als Jonny, halb Sapphire zugewandt, murmelte: „Das ist wi-wirklich nett…“

„Hier, die Handtücher, die Sie wollten.“ Der Kellner war aufgetaucht wie aus dem Nichts, und dieses Mal zuckte nicht nur Jonny zusammen, auch Robin erschrak und hätte beinahe sein Glas umgestoßen. Schnell rang er sich ein Lächeln ab, schaffte es ein „Danke“ hervorzubringen, während er dem Mann die Handtücher abnahm und sie hinüber zu Jonny reichte. Dieser musterte sie kurz skeptisch, und allmählich hatte Robin den Eindruck, dass dieses Misstrauen, das der junge Mann alles und jedem entgegenzubringen schien, möglicherweise bereits eine Art Reflex war. Zumindest konnte er sich nicht so recht vorstellen, was an Handtüchern gefährlich sein sollte.

Schließlich aber nahm Jonny die Tücher doch entgegen, legte sich eines um die Schultern, drehte sich etwas vom Tisch weg und begann mit dem anderen, notdürftig seine Haare abzutrocknen. „D-danke“, murmelte er, wobei nicht ganz klar war, ob dieses Wort nun Robin oder Sapphire galt. Im Grunde jedoch war das auch egal. Zumindest schien er allmählich ruhiger zu werden, sich nicht mehr ganz so hektisch und paranoid umzublicken, und auch Sapphires Angebot von etwas Essen und Trinken hatte er letztlich nicht abgelehnt. Zwar hätte Sapphire, deren fürsorgliche und zuvorkommende Art, die in starkem Kontrast stand zu dem Verhalten, das sie in anderen Situationen an den Tag legte, Robin selbst schon unzählige Male erlebt hatte, ihm das wohl ohnehin nicht durchgehen lassen, aber trotzdem.

Es war ein Anfang.

1 -7

Er hasste es, wenn er anfing, zu stottern. Fühlte sich dabei immer wie ein Kind, wie der kleine Junge, der vor seiner Klasse stand und ein Gedicht aufsagen sollte, sich jedoch bereits dermaßen am Titel aufhängte, dass der Lehrer ihn schließlich mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld aufforderte, sich wieder auf seinen Platz zu setzen, während die Mitschüler in hämisches Kichern ausbrachen.

Aber er war kein kleines Kind mehr, und das hier war nicht die Schule. Hier waren keine Leute, die er kannte, und trotzdem fing er wieder mit diesem verdammten Gestottere an, fühlte sich hilflos und unfähig, als sei seit damals nicht ein einziger Tag verstrichen…

Er war kein Kind mehr, er war zweiundzwanzig Jahre alt, und in der Schule war er zum letzten Mal vor fünf Jahren gewesen. Vor ihm saßen keine Mitschüler, sondern Menschen, die ihm vollkommen fremd waren, die zwar nett zu ihm waren, denen er aber nicht zu viel Vertrauen entgegenbringen durfte, und die sich insgeheim bestimmt über seine Unfähigkeit, zu sprechen, amüsierten.

Er war kein Kind mehr, und… Erst jetzt registrierte Jonny, dass seine Gedanken sich immer und immer wieder im Kreis drehten. Wie ein Mantra wiederholten sie sich, sorgten dafür, dass er sich schwach fühlte, etwas, was er sich nicht leisten konnte in einer solchen Situation, die…

Ja. Was für eine Situation war das hier überhaupt? Draußen auf der Straße war er bereits von Robins Art überfordert gewesen. Sapphire jedoch, deren Namen er bereits einige Male gehört hatte, von der er jedoch kaum mehr wusste, alles dass sie eine Art Berühmtheit war; nicht bloß hier in der Eastside, sondern in der gesamten Stadt, wirkte nicht weniger irritierend auf ihn. Sie hatte nichts an sich, was ihn ihr gegenüber misstrauisch werden lassen würde, sodass er sich selbst geradezu dazu zwingen musste, eben dieses Misstrauen dennoch nicht zu vergessen. Wenn er etwas wusste, dann, dass es vollkommen gleichgültig war, wie freundlich oder harmlos jemand nach außen hin wirkte. Jeder erste Eindruck konnte eine Fassade sein. Eine Maske, hinter der sich finstere Abgründe verbargen, Bosheit und Zorn, das Vorhaben, mit der Zeit aufgebautes Vertrauen gnadenlos auszuschlachten und zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Aber nicht mit ihm. Nicht noch einmal.

So sehr war er in seine Gedanken versunken, in diesen Strudel aus Erinnerungen und Warnungen an sich selbst, dass er erst zum Ende hin mitbekam, dass Sapphire wieder mit ihm sprach. „…du nun?“, war alles, was er von der an ihn gerichteten Frage mitbekam.

Mit einem entschuldigenden Lächeln – dass er lächelte, fiel ihm erst einige Sekunden später auf – wandte er sich ihr erneut zu, ohne sie dabei direkt anzusehen, das wäre zu anstrengend gewesen, zu beängstigend. „Entschuldigung, w-wie bitte?“

„Ich wollte wissen, wie du heißt.“ Sapphire lächelte ebenfalls, wirkte weiterhin nicht ungeduldig oder dergleichen, nahm dann noch einen Schluck von ihrem Getränk, bevor sie hinzufügte: „Ich könnte natürlich auch Robin fragen. Aber ich finde es unhöflich, über jemanden zu reden, der mit am Tisch sitzt.“

Jonny atmete tief durch. Das ist keine schwierige Frage, sagte er sich selbst in Gedanken, als würde das dabei helfen, ruhiger zu werden. Ja, vielleicht war es keine schwierige Frage, aber seinem Stottern war es egal, wie komplex etwas war, was er sagen wollte; es war eben manchmal einfach da.

Trotzdem. Einfach schweigend dazusitzen war auf Dauer auch keine Option.

„Jonny“, antwortete er schließlich, und eine Welle der Erleichterung überkam ihn, als er es geschafft hatte, das Wort ohne Probleme herauszubekommen.

Sapphires Lächeln wurde noch ein wenig breiter. „Okay. Freut mich! Ich bin Sapphire, aber das wird Robin dir ja sicherlich schon erzählt haben.“

Jonny nickte, griff dabei nach dem Handtuch auf seinem Kopf, dessen Existenz er kurzzeitig vergessen hatte, und zog es herunter. Er zitterte noch immer ein wenig, doch bei Weitem nicht mehr so stark, wie es draußen der Fall gewesen war, und allmählich war Wärme im Begriff, sich in seinem Körper auszubreiten.

So sehr er auch an seinem Misstrauen festhielt – mittlerweile war er zu der Überzeugung gelangt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, mit hier herzukommen, statt draußen im Regen zu verharren.

„Wird nur nicht zu leichtsinnig, Jonny!“ Da war sie wieder, die Stimme. Jonny konnte nicht wirklich sagen, dass er sie vermisst hatte, viel mehr hatte ihre Abwesenheit, seit sie die Bar betreten hatten, ihn verwundert.

Es störte ihn auch nicht, dass sie jetzt da war, er hoffte bloß, dass sie es nicht übertreiben würde damit, auf ihn einzureden, dass sie ihn nicht in einem Ausmaß mit Warnungen und Kommentaren überschütten würde, dass es ihm schwerfallen würde, klare Gedanken zu fassen.

So nervös ihn diese Situation auch machte, so beängstigend er sie immer wieder empfand… er hatte nicht vor, die Kontrolle abzugeben.

Die Kellnerin kam zurück und stellte, auf eine Geste von Sapphire hin, eine große Tasse voll mit dampfendem Kakao vor Jonny ab. „Das Sandwich kommt gleich“, verkündete sie, bevor sie sich umdrehte und weiter ihrer Arbeit nachging.

Jonny nickte automatisch, schaffte es aber nicht, ein „Danke“ hervorzubringen – verdammt, er hasste sich manchmal so sehr dafür, wie schwer ihm soziale Interaktion fiel.

„Oh, das ist doch nun wirklich irrelevant“, kommentierte die Stimme in einem nun etwas spöttischen Tonfall, der ziemlich typisch für sie war, wenn sie gerade einmal anstatt Warnungen bissige Kommentare von sich gab. „Hier wird sich ohnehin niemand an dich erinnern!“

Nun, das stimmte wohl. Wenn er die Bar nachher verlassen würde war es unwahrscheinlich, dass er jemals hierher zurückkommen, geschweige denn jemanden, mit dem er heute hier zu tun hatte, wiedertreffen würde. Was machte es da schon, dass er auf die Kellnerin vermutlich unhöflich gewirkt hatte? Wieso machte er sich überhaupt über so etwas Gedanken?

„Dann lass es dir schmecken“, hörte er Robin sagen, und automatisch hob er den Kopf und warf ihm ein scheues Lächeln zu. Bloß eine kleine Geste, eine winzige Handlung, auf die die Stimme jedoch sofort mit einem verärgerten Zischen reagierte. „Du sollst aufpassen, Jonny! Du bist viel zu nett!“

Was für ein unsinniger Kommentar, in Anbetracht der Tatsache, dass Jonny bisher kaum geredet und sich eigentlich die ganze Zeit über abweisend verhalten hatte. Aber gut, im Vergleich zu dem, was dieses Ding in seinem Kopf Robin und Sapphire womöglich bereits entgegengeworfen hätte, war er vermutlich wirklich nett.

Darauf konzentriert, der Stimme nicht allzu viel Beachtung zu schenken – sie machte ihn im Moment bloß nervös, und überhaupt, was war überhaupt verkehrt daran, ein wenig freundlich zu sein, immerhin war er ja trotzdem vorsichtig – betrachtete Jonny die vor ihm stehende Tasse. Der Kakao roch köstlich. Oben befand sich eine kleine Krone aus Sahne, die mit etwas Dunklem – vermutlich Schokoladenpulver – bestreut worden war, neben der Tasse, auf dem Untersetzer, lagen dazu zwei Kekse.

Allein ihr Anblick rief Jonny ins Gedächtnis, wie hungrig er eigentlich war, und ohne wirklich Kontrolle über diese Handlung zu haben griff er nach einem davon, tauchte ihn kurz in den Kakao und biss dann hinein.

Es war einfach nur ein trockener Keks, doch er schmeckte unfassbar gut. Nach wenigen Sekunden bereits griff Jonny nach dem zweiten Keks, um diesen in einer ähnlich kurzen Zeitspanne zu verspeisen, dann nahm er einen Schluck von der heißen Schokolade.

Wie gut es sich anfühlte, wie die warme Flüssigkeit seine Kehle hinunterlief, ihn von innen wärmte und das Zittern seines Körpers noch weiter verringerte. Gleichzeitig überkam Jonny ein irgendwie nostalgisches Gefühl. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass er das letzte Mal Kakao getrunken hatte.

Als Kind hatte er dieses Getränk geliebt, hatte es praktisch jeden Tag getrunken während er in seinem Zimmer gesessen hatte, vertieft in ein Buch oder einen Comic.

Nein, Stopp. Immer noch nicht. Keine Gedanken an die Vergangenheit, an Zeiten, die längst vorüber waren, und die nicht mehr zurückkommen würden. Niemals mehr.

„Werd nicht sentimental!“, bestätigte ihn die Stimme auch sofort in diesem Vorsatz, und Jonny gab sich Mühe, bei dem nächsten Schluck den er nahm nicht an das zu denken, was früher einmal gewesen war.

Es würde ihn bloß traurig machen. Verletzlich. Und das wiederum bedeutete Schwäche.

Jonny stellte die Tasse ab und hob den Blick. Sapphire und Robin hatten sich jeweils ihren eigenen Getränken zugewandt, wechselten dabei ein paar Worte über eine Person, deren Namen Jonny nichts sagte, und schenkten ihm dabei nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit, was ihm nur recht war. Falls einer der beiden etwas von seinem spontanen, leichten Anfall von Sehnsucht mitbekommen hatte, so ließ er es sich nicht anmerken.

Mit einem leisen Aufatmen lehnte Jonny sich zurück.

Er fühlte sich in der Tat ein wenig entspannter, und das nicht bloß, weil das Zittern mittlerweile aufgehört hatte. Ihm war immer noch leicht kalt, was in Anbetracht der nassen Klamotten, die er immer noch trug, nicht verwunderlich war, aber diese Kälte war nichts im Vergleich dazu, wie er sich da draußen gefühlt hatte.

Draußen. Alleine der Gedanke daran ließ ihn erneut kurz frösteln.

Sofort sprang die Stimme wieder ein. „Gewöhn dich nicht an diesen Luxus hier, Jonny! Du weißt, dass du praktisch nur eine kurze Schonfrist bekommen hast! Du musst wieder da raus, das ist dir ja wohl klar, oder?“

Ja, natürlich war es das. Aber das bedeutete ja wohl nicht, dass er die Zeit, die er hier saß und nicht Wind und Wetter ausgesetzt war, nicht genießen durfte…

„Wenn du es genießt, dann wird es dir schwer fallen, wieder zu gehen! Muss ich dir das wirklich sagen?“

Leicht schüttelte Jonny den Kopf. Nahm noch einen Schluck Kakao, einfach, um irgendetwas zu tun.

Das alles war ihm doch klar. Überhaupt, diese Gedanken waren doch vollkommen überflüssig. Robin hatte ihm angeboten, sich aufzuwärmen, und Sapphire spendierte ihm nun etwas zu essen, aber das war es auch. Sie saßen in einer Bar, an einem öffentlichen Ort…

„Das habt ihr damals auch getan!“

Dieses Mal ließen die Worte Jonny zusammenzucken. Schnell stellte er die Tasse wieder ab, verschränkte die Finger ineinander und fixierte einen Punkt an der Wand hinter Robin, der ihm gegenüber saß. Er hatte wieder angefangen zu zittern. Dieses Mal aber nicht vor Kälte.

Wie er es hasste, wenn die Stimme darauf abzielte, ihn zu verletzen. Sie wusste genau, dass ihn das beeinflussbarer und kontrollierbarer machte, und genau das war es, was sie wollte: Die Kontrolle übernehmen, der Situation auf ihre Weise begegnen, was in diesem Fall wohl bedeutete, ohne ein weiteres Wort aufzustehen und zu gehen. Für den Fall, dass Robin oder Sapphire versuchen würden, ihn aufzuhalten, noch einen bissigen Kommentar ablassen, und dann weiter nach draußen gehen und verschwinden.

Ja. Mit Sicherheit war das das, was die Stimme für das Beste hielt.

Aber das war nicht das, was Jonny wollte.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich bei jeder Gelegenheit auf das Ding in seinem Kopf verlassen, ihm quasi jedes Mal die Kontrolle überlassen, wenn ihn etwas verunsichert hatte.

Das war leichter gewesen damals, als er kaum in der Lage gewesen war, seinen Alltag durchzustehen, als er noch regelmäßiger und heftiger von Panikattacken heimgesucht worden war als heute.

Aber er hatte keine Lust mehr, sich jedes Mal in sich selbst zurückzuziehen, wenn er verunsichert war, und alles dieser Stimme zu überlassen, die sich und ihn vielleicht gut verteidigen konnte; das wollte er gar nicht abstreiten, aber mit Sicherheit auch nicht immer die richtigen Entscheidungen traf.

Und die Entscheidung, die Chance auf etwas Wärme und sogar eine richtige Mahlzeit einfach wegzuwerfen, erschien Jonny alles andere als richtig.

Zu seiner Überraschung schwieg die Stimme nun. Es war nicht immer ein gutes Zeichen, wenn sie das tat – manchmal zog sie sich einfach bloß eine Weile zurück, um dann so überraschend wieder aufzutauchen, dass es ihm schwerfiel, nicht vor ihr zurückzuweichen und die Kontrolle zu verlieren.

Für den Augenblick jedoch war er einfach bloß froh, dass sie ruhig war.

Als hätten sie mitbekommen, dass Jonny nun dazu in der Lage war, ungestört ein wenig klarere Gedanken fassen zu können, wandten Robin und Sapphire sich ihm wieder zu. Robin hatte sein Glas in der Zeit, in der sie hier saßen, bereits halb geleert, wie Jonny nun feststellte, und irgendwie fand er diesen Gedanken beunruhigend.

Das war doch Alkohol, was er dort trank, oder?

Allerdings wirkte Robin nicht wirklich so, als wäre er betrunken, oder zumindest nicht auf die Art, die Jonny beunruhigen würde. Die Art von Betrunkenheit, die er gewohnt war.

Er hatte jedoch nicht die Gelegenheit, weiter über diese Sache nachzudenken, denn Sapphire hatte offensichtlich die Absicht, ein Gespräch mit ihm anzufangen.

„Darf ich fragen, was du so spät und im strömenden Regen in diesem eher… nun, wenig attraktiven Stadtviertel machst?“, fragte sie, wobei sie Jonny mit einem Blick bedachte, der ehrliches Interesse ausdrückte.

Ein wenig unschlüssig erwiderte Jonny eben diesen Blick für Bruchteile einer Sekunde, bevor er wieder dazu überging, die Tischplatte zu betrachten. „Nun“, begann er, ohne wirklich eine Idee zu haben, wie er diesen Satz fortsetzen sollte. „I-ich…“

Wieder dieses verdammte Stottern! Er schloss die Augen, atmete einmal tief durch.

„Ich wollte eigentlich… nicht ausgerechnet unbedingt hier sein. Ich bin e-einfach durch die Straßen gelaufen… w-wollte mich ein bisschen ausruhen… und bi-bin dann wohl eingeschlafen.“

„Ah.“ Sapphire nickte. „Das heißt, du hast keinen bestimmten Ort, an den du normalerweise gehst, um dich auszuruhen?“

„Nun…nein.“ War das nicht eine irgendwie unnötige Frage? Sah er nicht aus wie jemand, der seit Monaten auf der Straße lebte und es irgendwie immer grade so geschafft hatte, am Leben zu bleiben?

Wieder nickte Sapphire, und als sie ihre nächste Frage stellte war da kein Mitleid in ihrem Blick, wie Jonny es manchmal in den Augen von Leuten auf der Straße sah, die ihn betrachteten und wahrscheinlich darüber nachdachten, was für ein armseliger und unglücklicher Mensch er doch sein musste. Nein, da war weiterhin einfach bloß ruhige Freundlichkeit in Sapphires Stimme: „Du hast also kein Zuhause?“

Allein dieses Wort – „Zuhause“ – reichte aus, um Jonny zusammenzucken zu lassen.

Er zog instinktiv die Schultern hoch, so als würde ihn das vor der Wirkung dieses Wortes schützen, was es natürlich nicht tat… Zuhause. Zuhause. Zuhause. Was bedeutete das überhaupt?

Nun, zum Philosophieren war das hier definitiv nicht der richtige Zeitpunkt und so zwang Jonny sich dazu, den Kopf zu schütteln.

Eigentlich wäre das als Antwort genug gewesen. Wenn Sapphire noch mehr wissen wollte, dann würde sie sicherlich nachfragen, und sollte dem nicht so sein, dann war das auch okay, Jonny hätte wohl kaum ein Problem damit gehabt, nicht mehr von sich preiszugeben als unbedingt notwendig.

Und trotzdem, ohne es wirklich zu wollen, geschweige denn zu wissen, warum er es tat, sprach er weiter.

„Ich bin eigentlich seit Monaten dr-draußen unterwegs. Nicht unbedingt hier in diesem Viertel, a-aber in der Stadt.“

Warum war es irgendwie so erleichternd, zu reden? Vielleicht hatte die Stimme recht, vielleicht war er wirklich dabei, all seine Vorsicht zu verlieren und direkt auf den nächsten Abgrund zuzulaufen, nachdem er aus dem Letzten gerade erst entkommen war…

„Das klingt wirklich anstrengend.“ Diesmal war es Robin gewesen, der das Wort ergriffen hatte. Auch er sah zu Jonny und auch in seinem Blick war kein Mitleid auszumachen. Dafür etwas anderes, das Jonny nicht zuzuordnen vermochte…

Jonny zuckte mit den Schultern. Murmelte, bemüht, dabei möglichst gleichgültig zu klingen: „Man gewöhnt sich daran.“

Das war eine Lüge, oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Natürlich wurde es leichter mit der Zeit, man lernte einige Tricks, mit denen man besser zurechtkam, fand Orte, an denen man relativ gut Zuflucht suchen konnte, lernte, wie man am besten an Essen kam. Aber wirklich daran gewöhnen, mit nichts als zwei dünnen Decken auf meist hartem Untergrund zu schlafen, dabei immer Wachsam sein zu müssen, dass niemand ihm zu nahe kam, morgens nicht zu wissen wo er abends landen, ob er überhaupt noch am Leben sein würde, würde er sich wohl nie.

Wahrscheinlich war das auch Robin und Sapphire klar, aber niemand widersprach ihm, und dafür war Jonny ihnen sehr dankbar. Überhaupt empfand er ihre Art als recht angenehm. Dass sie ihn nervös machten war nichts Besonderen, doch schienen sie ihn nicht zu verurteilen, nicht auf ihn herabzusehen, wie es die meisten Leute, die sich nicht in einer Situation wie der seinen befanden, es taten.

„So, bitteschön!“ Die Kellnerin war wieder da und stellte einen Teller mit einem noch dampfenden Sandwich vor Jonny ab, dieses Mal, ohne auf eine Geste von Sapphire zu warten.

Möglicherweise lag es daran, dass er bis eben noch geredet hatte, zumindest schaffte Jonny es dieses Mal, sich ansatzweise in ihre Richtung zu drehen und ein leises, aber deutliches „Dankeschön“ herauszubringen.

Ein Anfang.

„Dann guten Appetit!“, meinte Robin lächelnd, während Jonny sich dem Essen zuwandte, und mit einem Mal schien sein Hunger noch einmal größer geworden zu sein.

„Dankeschön“, murmelte Jonny noch einmal, dieses Mal an Robin gewandt.

Das Sandwich roch ebenso köstlich wie der Kakao, zwischen den Toastscheiben quoll gegrillter Käse hervor, und daneben lagen einige Tomaten- und Gurkenscheiben.

Und es schmeckte genau so gut wie es aussah.

Vielleicht hatte Sapphire noch mehr Fragen an ihn, wollte mehr über seine Situation, sein Leben wissen, warum auch immer; irgendwie hatte Jonny den Eindruck, dass sie sich wirklich für ihn interessierte. Aber falls dem so war, dann schien sie damit noch warten zu wollen, und so konnte Jonny sich erst einmal ganz auf sein Essen konzentrieren; die erste richtige Mahlzeit, die er seit einer gefühlten Ewigkeit zu sich nahm.

1 -8

Sie hatte es getan.

Sie hatte es wirklich getan.

Und irgendwie war es ihr nicht einmal so schwer gefallen, wie sie erwartet hatte… Der Anfang war hart gewesen, wie sie mit dem Messer dagestanden und ihre Familie betrachtet hatte, oder viel mehr das, was früher einmal ihre Familie gewesen war.

Aber das waren sie nicht mehr, nicht wirklich.

Sie waren Sünder, und es war ihre Aufgabe, nein, ihre Pflicht, sie zu erlösen.

Dieser Gedanke hatte es leichter gemacht. Hatte ihre Bedenken überschattet und ihre Unsicherheit verdrängt, und als sie dann fertig gewesen war, unter Jeffereys wachsamen Augen alles exakt so hergerichtet hatte, wie es sein musste, war da nur noch Erleichterung gewesen.

Der Anblick, der sich ihr geboten hatte, hatte kein Entsetzen in ihr ausgelöst, und zum Teil mochte das dem Elixier zu verdanken sein, das man ihr vor Antritt ihrer Mission zu trinken gegeben hatte, aber das konnte wohl nicht der einzige Grund war.

Sie fühlte sich einfach…frei. Als hätte sie das Richtige getan.

Was es natürlich auch war, auch, wenn es auf den ersten Blick anders anmuten mochte, grade für Leute, die keine Ahnung davon hatten, warum sie es getan hatte…

Aber was spielte das schon für eine Rolle? Es spielte keine Rolle, was irgendwelche Menschen dachten; sie waren ohnehin unwissend, genau, wie ihre Familie es gewesen war, und früher oder später würden auch sie dafür bezahlen.

Lea lächelte, als sie Jefferey durch die nur sporadisch von Laternen beleuchteten Straßen der Eastside folgte, noch immer erfüllt von Erleichterung und Euphorie.

Sie hatte es getan.

Sie hatte es wirklich getan.

1 -9

Nachdem Jonny sein Sandwich aufgegessen hatte, was beeindruckend schnell gegangen war, lehnte er sich zurück und starrte auf irgendeinen unbestimmten Punkt an der Wand.

Robin wusste nicht, worüber er nachdachte – sie hatten, seit er angefangen hatte zu essen, kein Wort mehr gesprochen. Sapphire hatte vor einigen Minuten einen Anruf bekommen und war mit einer entschuldigenden Geste aufgestanden und seitdem nicht zurückgekommen, und so saß Robin alleine mit seinem Gast am Tisch und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte.

Möglichst unauffällig musterte er Jonny. Das hatte er, seit sie hier saßen, schon einige Male getan, meist, ohne sich dessen bewusst zu sein, und ihm war klar, dass das wahrscheinlich ziemlich seltsam wirken musste.

Die Stille, die zwischen ihnen herrschte, war unangenehm, irgendwie angespannt, beinahe bedrohlich, ohne, dass er hätte sagen können, wodurch dieses Gefühl ausgelöst wurde. Möglicherweise war es die Ungewissheit. Die unausgesprochene Frage, die im Raum zu hängen schien, wie es nun weitergehen sollte. Zumindest stellte er sich diese Frage.

Gut möglich, dass Jonny nicht darüber nachdachte, dass es für ihn eine Selbstverständlichkeit war, dass er, nachdem er seine heiße Schokolade ausgetrunken hatte, aufstehen und gehen würde, wohin auch immer, wahrscheinlich ohne die Absicht, jemals wieder hierher zurückzukommen.

Aber konnte Robin das wirklich zulassen?

„Warum nicht?“, schoss es ihm durch den Kopf; ein kühler, emotionsloser Gedanke, der ihn mit seiner Gleichgültigkeit selbst ein wenig erschreckte. „Du kennst den Typen nicht. Ihn hierher mitgenommen zu haben ist schon mehr als genug!“

Vielleicht stimmte das. Robin wusste, dass er nicht einmal das hätte tun müssen, dass er genau so gut hätte weitergehen und den jungen Mann in dem Hauseingang hätte schlafen lassen können, ohne, dass es irgendwelche Folgen gehabt hätte. Wenn man es genau nahm, dann war es sogar verdammt riskant gewesen, einfach so einen Fremden dort draußen auf der Straße anzusprechen. In dieser Gegend konnte eine solch leichtsinnige Handlung schnell ernsthafte Verletzungen oder gar den Tod nach sich ziehen…

Ein Bild blitzte in Robins Kopf auf: Jonny, wie er grade aufgewacht war, nach seinem Rucksack griff und das Messer herausholte, Robin dabei anstarrend als wolle er ganz genau abschätzen, ob er ihn auf der Stelle angreifen sollte…

Aber Jonny hatte ihm nichts getan. Er war vielleicht ein wenig abweisend, doch das konnte man ihm wohl kaum vorwerfen, schließlich war diese Situation hier für ihn nicht weniger potenziell gefährlich als für Robin. Er redete zwar nicht viel, und doch war da etwas, was den Gedanken, ihn einfach wieder gehen zu lassen, ihn alleine seinem Schicksal da draußen zu überlassen, wo er doch eben grade erzählt hatte dass er keinen Ort hatte, an dem er bleiben konnte, und der Winter immer näher rückte, in Robin ein Gefühl von Schuld auslöste.

Wieder warf er einen Blick zu Jonny. Möglicherweise bildete er es sich bloß ein, doch er hatte den Eindruck, dass Jonny seine heiße Schokolade langsamer trank, als es notwendig gewesen wäre. Nun, das wäre wohl kaum verwunderlich; draußen goss es noch immer in Strömen, schien gar nicht mehr aufhören zu wollen, und die Aussicht, wieder dort hinaus zu gehen, war wohl alles andere als verlockend.

Trotzdem… auch wenn Jonny sich Zeit ließ… er würde nicht ewig hierbleiben, und wenn Robin einfach bloß weiter schweigend dasaß, in Gedanken versank, sich aber zu keiner Handlung durchringen konnte, dann würde er früher oder später gehen, und Robin mit vermutlich reichlich schlechtem Gewissen zurück lassen, mit Selbstvorwürfen darüber, dass er nichts getan hatte, um ihn aufzuhalten.

Ihn aufhalten.

Wie dramatisch das klang. Als hätte er irgendein Anrecht darauf, dieser ihm fremden Person vorzuschreiben, was sie am besten tun sollte und was nicht. Als könnte er das wirklich beurteilen.

Aber wie dem auch sei, einfach bloß stumm zu verharren war keine Option. Und so gab Robin sich Mühe, ein Lächeln aufzusetzen von dem er hoffte, dass es nicht allzu nervös wirkte, schob sein inzwischen leeres Glas von sich weg und fragte: „Und, hat das Sandwich geschmeckt?“

Smalltalk, das war gut. Normalerweise lag ihm so etwas überhaupt nicht, aber der Vorteil an solch recht banalen Floskeln war, dass sie meist unverfänglich waren.

Jonny wandte sich ihm zu, hielt diesmal sogar für einen Moment Blickkontakt, bevor er wieder die Tischplatte betrachtete und nickte. „…Ja. Es war wi-wirklich lecker.“

Dass er manchmal leicht stotterte, war Robin bereits aufgefallen, er hatte jedoch nicht vor, das in irgendeiner Weise zu kommentieren. Das wäre wohl alles andere als unverfänglich gewesen.

„Schön zu hören“, erwiderte er stattdessen, und sein Lächeln wurde etwas weniger gezwungen. Wenn er erst einmal angefangen hatte zu reden, dann wurde es für gewöhnlich immer leichter. „Ich mag Käsesandwichs auch gerne. Ist vielleicht kein besonders ausgefallenes Gericht, aber trotzdem.“

„Für mich ist es ziemlich besonders.“ Jonny hatte sehr leise gesprochen, und direkt, nachdem er diese Worte hervorgebracht hatte, wirkte er, als sei er selber erschrocken darüber, dass er es getan hatte. Seine Körperhaltung, die in den letzten Minuten immer lockerer geworden war, wurde nun wieder angespannter, ein weiteres mal krallte er sich in sein Handgelenk und fixierte mit starrem Blick weiterhin die Tischplatte.

Einen Augenblick lang hatte Robin das dringende Bedürfnis, ihn beruhigend eine Hand auf die Schulter zu legen.

Das tat er nicht, vor allem, da er befürchtete, dass Jonny diese Berührung keinesfalls als beruhigend empfinden würde, im Gegenteil.

Stattdessen betrachtete Robin ebenfalls den Tisch. „Gut, das kann ich mir vorstellen“, gab er zu. Mit dem Smalltalk schien es vorbei zu sein, das Gespräch schien unvermeidbar auf weitaus ernstere Thematiken zuzusteuern. „Es ist für dich wahrscheinlich nicht selbstverständlich, überhaupt etwas Warmes zu essen zu bekommen, oder?“

Nun sah Jonny ihn wieder an. Kurz wirkte er verwirrt, schien nicht zu wissen, was er auf diese Aussage erwidern sollte, dann breitete sich ein Ausdruck auf seinem Gesicht aus, der etwas Spöttisches, beinahe Abwertendes an sich hatte.

„Etwas Warmes zu essen? Nein, das ist sicher nichts selbstverständlich!“ Er lachte, und Robin wurde selbst klar, was für eine unnötige Frage das eigentlich gewesen war. „Es ist nicht selbstverständlich, überhaupt etwas zu essen zu bekommen! Ich weiß, das ist schwer vorstellbar für Leute, die sich noch nie über so etwas Gedanken machen mussten, aber…“ Er stockte. Seine Körperspannung ließ wieder ein wenig nach, verlegen senkte er den Blick und strich sich mit einer Hand durch die Haare. „Entschuldige“, murmelte er, ohne Robin dabei anzusehen.

Der zuckte bloß mit den Schultern. „Du musst dich nicht entschuldigen. Die Frage war auch…wirklich komisch.“ Noch immer lächelte er leicht, auch, wenn Jonny das im Moment wohl nicht sah. „Aber… dass ich mir über sowas nie Gedanken gemacht habe, stimmt nicht.“

Ja, der Smalltalk war definitiv vorbei. Ohne wirklich darüber nachzudenken, war Robin dazu übergegangen, ein persönliches Thema in das Gespräch zu bringen, und dazu noch eines, über das es ihm häufig schwer viel, zu sprechen. In dieser Situation jedoch war das nicht der Fall, die Worte kamen ohne Probleme über seine Lippen, ohne, dass er wirklich über das nachdachte, was er sagte, als er fortfuhr: „Du hast mich doch vorhin gefragt, weshalb es mich so interessiert, wie es dir geht. Wo ich dich ja überhaupt nicht kenne. Und das stimmt auch, ich kenne dich nicht. Aber ich kenne die Situation, in der du dich befindest. Teilweise zumindest.“

Erfreut stellte er fest, dass Jonny ihn nun wieder ansah, zwar nicht in seine Augen oder sein Gesicht, aber immerhin.

„Ich habe nie wirklich auf der Straße gelebt, ich musste nur manchmal eine Nacht draußen verbringen. Aber ich hatte eine ganze Zeitlang kein Zuhause. Ich hatte das Glück, dass ich Leute kannte, die mich bei sich übernachten ließen… wobei ich das heute nicht mehr wirklich ‚Glück‘ nennen würde. Wie auch immer – ich war vielleicht nie vollkommen obdachlos. Aber Geld hatte ich auch keins, oder sonst irgendwas, womit ich ein halbwegs stabiles Leben hätte führen können. Also zumindest kann ich mir wohl ansatzweise vorstellen, wie das ist.“

Jonny war seiner Erzählung, die bloß eine sehr komprimierte Zusammenfassung dessen, was Robin in dieser Zeit passiert war, gewesen war, gefolgt, ohne ihn zu unterbrechen, allerdings war ihm deutlich anzumerken dass da Fragen waren, die ihm währenddessen gekommen waren, und als Robin nun fürs Erste mit seinen Schilderungen endete, fragte er zögerlich: „Du warst…mal in so einer Situation?“ Er musterte Robin, lachte wieder leicht. „Tut mir leid, aber… das hätte ich jetzt nicht erwartet.“

„Das nehme ich als Kompliment.“ Robin lachte ebenfalls. Er fühlte sich erleichtert, zwar war die Stimmung noch immer angespannt, aber zumindest wirkte Jonny nun ein kleines bisschen weniger verschlossen. „Um fair zu sein, es ist auch schon ein paar Jahre her. Seitdem hatte ich Zeit, mein Leben zumindest halbwegs auf die Reihe zu bekommen… Also, wenn man das so nennen kann. Immerhin lebe ich immer noch im kriminellsten und heruntergekommensten Viertel der Stadt! Aber es ist definitiv besser als damals.“

Sein Lächeln wurde etwas abwesend, sein Blick leicht verschwommen. „Aber ich hätte das alleine wohl nicht geschafft. Sapphire hat mich damals gefunden und mich… im Grunde adoptiert.“ Wieder lachte er, aber es war ein wehmütiges Lachen, keines, das wirkliche Freude ausdrückte. „Ich war damals misstrauisch. Also, eigentlich auch genauso, wie du. Ich dachte mir, wieso sollte mir eine Person, die ich noch nie zuvor gesehen habe, helfen? Und dann noch in diesem Ausmaß? Eigentlich weiß ich das bis heute noch nicht so genau. Es ist einfach… Sapphires Art.“

Sapphires Art, ja. Sapphires Art, die ihm damals das Leben gerettet hatte.

Jonny musterte Robin nachdenklich. Schien die Worte auf sich wirken zu lassen, sie zu überdenken und zu überlegen, was er mit diesen Informationen anfangen sollte. Diese Dinge, über die Robin bisher bloß einer einzigen Person gesprochen hatte – abgesehen von Sapphire selbst – und das bei Weitem nicht so kurz, nachdem sie sich kennengelernt hatte.

Wieso fiel es ihm in Jonnys Gegenwart so leicht, darüber zu reden? Bloß, weil er sich in einer ganz ähnlichen Situation befand?

Nachdenklich betrachtete Jonny seine Tasse. Irgendetwas schien in ihm vorzugehen, etwas, das ihn beschäftigte, und Robin hätte nur allzu gerne gewusst, was es war. Doch glaubte er kaum, dass Jonny darüber reden würde, und Robin würde auch nicht nachfragen. Nicht jetzt.

Vielleicht, wenn es möglicherweise einmal eine spätere Gelegenheit gäbe…

„Überraschend, dass es Leute gibt, die einem wirklich einfach nur helfen wollen.“ Jonny nahm einen Schluck Kakao. Sein Blick hatte noch immer diesen leicht abwesenden Ausdruck an sich, sodass Robin sich nicht ganz sicher war, ob er mit ihm sprach oder mit sich selbst.

Trotzdem entschied er sich, zu antworten: „Ja, das dachte ich mir damals auch. Aber…“ Er hielt inne. Zögerte. Überlegte, wie er seine folgenden Worte wählen sollte.

Je länger sie hier so saßen, desto sicherer war er sich, dass er Jonny nicht einfach wieder nach draußen gehen lassen wollte. Es mochte unverständlich sein, die meisten hätten über so eine Vorstellung wohl bloß den Kopf geschüttelt. Aber war das wichtig? War es wichtig, was andere dachten?

„Aber ich wollte dir heute ja schließlich auch helfen“, beendete er schließlich seinen zuvor begonnenen Satz.

Jonny hob den Blick, schien darüber nachzudenken, ob er darauf etwas erwidern sollte, aber Robin sprach bereits weiter; wenn er es jetzt nicht schaffte, über das zu reden was ihm durch den Kopf ging, wäre es wohl unwahrscheinlich dass dieses Gespräch noch einmal eine solch passende Gelegenheit dafür bieten würde: „Ich hab ja gemerkt, wie überrascht du warst, und ich weiß auch, dass das nicht wirklich Standard ist. Ich will auch gar nicht behaupten, dass ich ein unglaublich guter Mensch bin, weil ich mich um jeden kümmere, das stimmt auch nicht.“ Irgendwie verlor er gerade ein wenig den Faden. „…Egal. Jedenfalls… ich wollte dir helfen. Und…“

Wieder stockte er. Wieso war es so schwierig, das, was er dachte, auszusprechen? Sapphire tat so etwas ständig, bei ihr sah es so einfach aus, wenn sie Leuten Hilfe anbot die es nicht gewohnt waren, dass sich jemand für sie interessierte. Also wieso bekam er das nun nicht hin? Es konnte doch nicht so schwierig sein…

„Und ich würde dir gerne weiterhin helfen.“

Die Worte waren wie von alleine gekommen. Hörten sich im ersten Moment fremd an, als kämen sie nicht von Robin, sondern von irgendjemand anderem. Aber dem war nicht so. Es war seine Stimme gewesen, die sie ausgesprochen hatte, ohne, dass er sich dessen bewusst gewesen war, und nun, wo sie nach draußen gedrungen waren, spürte Robin eine starke Nervosität aufsteigen.

Was tat er hier? Warum tat er es?

Vielleicht war es eben diese Nervosität, die ihn dazu brachte, einfach weiterzureden, während er versuchte, Jonnys erst verwirrten und dann skeptischen Gesichtsausdruck zu ignorieren, sich dieses Mal ganz auf das, was er sagte, zu konzentrieren: „Ich weiß, dass das seltsam klingt! Ich kenne dich nicht, und du kennst mich nicht. Du hältst mich wahrscheinlich für einen… totalen Freak! Aber ich…“

Wörter, wo waren die Wörter, die er brauchte? Wann war es ihm das letzte Mal derart schwer gefallen, sich auszudrücken?

„Aber ich würde mich wirklich nicht gut dabei fühlen, dich einfach wieder nach da draußen gehen zu lassen. Zu wissen, dass du… keinen Ort hast, an den du gehen kannst…“

Nun breitete sich ein Lächeln auf Jonnys Gesicht aus. Es war kein freundliches Lächeln, nein. Wirkte viel mehr bitter und argwöhnisch, und genau so klang auch seine Stimme, als er entgegnete: „Nun, tut mir leid, wenn du dich wegen mir schlecht fühlst. Aber das wirst du ja wohl kaum verhindern können!“

Die Worte fühlten sich ein wenig an, wie Nadelstiche. Ein weiteres Mal war Robin irritiert darüber, wie unsicher er sich in dieser Situation fühlte… gemeinsam mit Sapphire hatte er bereits mit so vielen Leuten gesprochen, denen sie ihre Hilfe angeboten hatten. War er wirklich so viel schwieriger für ihn, das alleine zu tun?

Woran auch immer es liegen mochte, er musste versuchen, sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

„Ich könnte dir einen Platz zum Schlafen anbieten“, murmelte er, registrierend, dass ihm das mit dem ‚Unsicherheit nicht anmerken lassen‘ nicht wirklich gelang. „Ich sagte ja bereits, dass es Sapphires Art ist, Leuten zu helfen. Sie besitzt einen Gebäudekomplex, direkt hier neben der Bar. Er sieht nicht schön aus, ist ziemlich heruntergekommen; na ja, wie eigentlich alles hier in der Gegend. Die Wohnungen da drin sind klein, aber… dafür gibt es eine Menge davon. Und in allen davon wohnen Menschen, die zu Sapphire gekommen sind, weil sie Hilfe brauchten. Weil sie kein Zuhause mehr hatten, oder weil sie dort nicht mehr sicher waren. Es ist… eine Art Zufluchtsort. Und ich bin mir sicher, dass es noch eine Wohnung gibt, die frei wäre…“

Das war für den Moment alles, was ihm dazu einfiel. Er wusste nicht, ob es alles war, was wichtig war, aber zumindest sollte es ausreichen, um Jonny einen Überblick über das zu geben, was er ihm da anbot, ihn davon zu überzeugen, dass er sich keine Sorgen machen musste, auf irgendein obskures, fragwürdiges Angebot einzugehen. Wobei er nicht wirklich wusste, ob er das, was er da eben versucht hatte, akkurat zusammenzufassen, wirklich weniger fragwürdig klang.

Jonny sah ihn an. Er hatte beide Hände um seine Tasse gelegt, wirkte, als müsse er sich an ihr festhalten. Sein Blick hatte einen Ausdruck angenommen, den Robin nicht deuten konnte… war es bloße Verwirrung? Argwohn? …Spott? Oder vielleicht sogar…etwas Positives?

„…Damit ich das richtig verstehe…“, begann er, und sein Tonfall war ebenso unmöglich zu interpretieren, wie es bei seinem Blick der Fall war. „Du bietest mir eine Wohnung an? Einfach so? Dir…ist ja wohl bewusst, dass ich kein Geld und keinen Job habe, um dir Miete zu bezahlen!“ Er lachte, und zumindest das klang eindeutig bitter.

Robin gab sich Mühe, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. „Es geht nicht um Geld, es geht…“ Ja, worum eigentlich? Was genau wollte er mit alldem bezwecken? „Es geht… einfach darum, dass du die Möglichkeit hättest, dich… wieder ein wenig zu sammeln“, beendete er schließlich seinen Satz, nur, um gleich darauf zu merken, wie seltsam das klang. Hastig fügte er hinzu: „Ich meine… mir hat es damals wirklich geholfen, einfach einen festen Ort zu haben, an dem ich gewohnt habe. Es war… einfach weniger stressig so. Ich konnte mein Leben ordnen, ich hab angefangen, in Sapphires Bar zu kellnern, Geld zu verdienen… und jetzt bin ich hier!“

„Oh, und du meinst, dass für mich genau das Gleiche gilt wie für dich? Dass du… ich weiß auch nicht… der Maßstab für alles bist?“

Dieses Mal konnte Robin nicht verhindern, dass er bei Jonnys Worten leicht zusammenzuckte. Ein wenig verwirrt sah er seinen Gegenüber an, versuchte ein weiteres Mal, seine Unsicherheit in den Hintergrund zu drängen, sie nicht zum Vorschein kommen zu lassen, sie sich bloß nicht anmerken zu lassen…

Irgendetwas an Jonny wirkte mit einem Mal so… anders. Nicht bloß eine einzige Sache, die klar zu benennen gewesen wäre, nein, es war viel mehr das Gesamtbild, das sich verändert zu haben schien.

Seine Körperhaltung, zuvor die ganze Zeit über angespannt und leicht zusammengesunken, wirkte mit einem Mal aufrechter, selbstbewusster, so als wolle er sich nicht länger vor irgendetwas verstecken. Sein Blick wirkte kühl, aber auf eine andere Art als die Male zuvor, und seine Stimme hatte einen seltsamen Unterton angenommen, der in Robin für einen Moment den Gedanken aufkommen ließ, dass es plötzlich eine andere Person war, mit der er da sprach.

Aber das war es nicht. Es war immer noch Jonny, und dieser Anflug einer Veränderung, die vielleicht ein spontaner Ausdruck von Selbstbewusstsein oder aber eines Verteidigungsreflexes gewesen war, weil er nicht wusste, wie er auf dieses Thema reagieren sollte, verschwand ebenso schnell wieder, wie er aufgetreten war.

Als Jonny nun weitersprach klang er wieder wie vorher, und auch seine Anspannung und der vorige Ausdruck in seinem Gesicht waren zurückgekehrt. „Entschuldige bitte. Aber das klingt so simpel, wenn du das sagst! Und weißt du…“ Wieder lachte er, klang dabei noch ein wenig bitterer als zuvor. „Ich lebe nicht erst seit ein paar Monaten auf der Straße. Ich hatte zwischendurch nur… eine Pause. Ich habe schon mal gedacht, dass alles besser wird. Ich habe schon mal Hilfe von jemandem angenommen. Und es ist nicht besser geworden! Im Gegenteil!“

Er nahm einen weiteren Schluck Kakao, während Robin ihn, nun geradezu erschrocken, ansah, versuchte, seine Gedanken neu zu ordnen, das, was er soeben gehört hatte, einzusortieren.

Wieder so eine Sache, die ihn an ihn selbst erinnerte. Ich habe gedacht, dass alles besser wird. Und es ist nicht besser geworden. Im Gegenteil.

Konnte er diesen Teil seiner Vergangenheit wirklich auch noch ansprechen? Verdammt, alleine, dass er darüber nachdachte, war bereits verwunderlich! Wobei… war es das wirklich? In diesem Moment wurde ihm klar, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass er sich auf so eine Weise mit einem vollkommen Fremden unterhielt, und als ihm diese Erkenntnis gekommen war, hätte er beinahe laut gelacht.

Wie viele Cocktails hatte er heute Abend noch mal getrunken? Drei? Vier?

Zu viele offensichtlich; zwar merkte er den Alkohol an sich kaum, fühlte sich lediglich ein bisschen benommen, doch das konnte er ohne Weiteres ausblenden.

Was der Alkohol aber offensichtlich noch tat, war, ihn kommunikativ zu machen. Und irgendwie auch ein wenig sentimental.

Aber war das schlimm? Oder war es, im Gegenteil, vielleicht sogar gut, dass es ihm in dieser Situation so leicht fiel, über diese Dinge zu reden, die er sonst nur schwer in Worte zu fassen vermochte? Immerhin waren seine Schilderungen bisher recht abstrakt gewesen, er hatte nichts verraten, was ihn wirklich verwundbar gemacht hätte, und Jonny schien sich ihm gegenüber zumindest ein wenig mehr zu öffnen, seit er wusste, dass Robin seine Lage bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen konnte.

Also warum nicht damit weitermachen?

Es war wohl wirklich dem Alkohol geschuldet, dass Robin nicht wirklich weiter darüber nachdachte, was er tat, obgleich ihm ohnehin grundsätzliche eine gewisse Naivität innewohnte. Irgendetwas an Jonny ließ ihn nicht glauben, dass er es bereuen könnte, ihm von diesen Dingen aus seinem Leben zu erzählen, und so begann er erneut, zu sprechen: „Ja, ich… kann verstehen, dass du das alles eher… kritisch siehst. Als ich damals… von zuhause weg bin, habe ich auch gedacht, es wird alles besser. Ich dachte, die Entscheidung, bei Freunden unterzukommen, wäre die Richtige. Das war es nicht, aber das habe ich lange nicht wirklich eingesehen. Und dann… wusste ich nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hab auch irgendwann aufgehört, zu glauben, dass es jemals wieder besser wird. Ich hab meine zweite Chance ziemlich… verkackt. Aber dann habe ich eben… noch eine Dritte bekommen.“

Noch so eine sehr komprimierte Zusammenfassung, die aber dennoch das Wichtigste beinhaltete. Sie wirkte weit weniger dramatisch, als es in Wirklichkeit der Fall gewesen war, aber Robin hatte keinesfalls vor, Mitleid zu erregen oder dergleichen.

Alles was er wollte, war, dass Jonny seinem Angebot eine Chance gab.

Abwartend sah er seinen Gegenüber an, der noch immer angespannt dasaß und seine Tasse umklammerte. Nachdenklich an die Wand hinter Robin blickte, und augenscheinlich überlegte, was er auf das eben Gehörte erwidern sollte.

Das war gut, oder? Er dachte nach. Irgendetwas schienen Robins Worte in ihm ausgelöst zu haben, und das, so beschloss dieser, konnte als Erfolg verbucht werden.

Nun blieb bloß abzuwarten, wie Jonny weiter reagieren würde.

1 -10

Was sollte er tun?

Allein, dass er über diese Frage nachdachte, das wusste Jonny, war bereits eine Art von Zugeständnis. Als er gemeinsam mit Robin betreten hatte, war er noch fest davon überzeugt gewesen, dass es wirklich bloß um diesen einen Abend ging, darum, raus aus dem Regen ins Warme zu kommen – nicht einmal mit der Mahlzeit, die er bekommen hatte, hatte er gerechnet.

Und nun saß er hier, seit über einer Stunde. Hörte zu, was Robin ihm erzählte; dieser Typ, der wirkte, als hätte er sich niemals wirklich in Schwierigkeiten befunden, der elegante Kleidung trug, die schwarzen Haare ordentlich frisiert, und offensichtlich kein Problem damit hatte, nachts auf der Straße fremde Menschen anzuquatschen, als wäre das etwas vollkommen Normales und nicht etwa etwas, was, grade in dieser Gegend, potenziell tödlich enden konnte. Und eben dieser Typ, der nicht bloß offen, sondern geradezu naiv wirkte, berichtete davon, dass er ebenfalls einmal keine feste Wohnung und sein Leben alles andere als im Griff gehabt hatte?

Das passte irgendwie nicht recht zusammen.

Und dennoch… auch, wenn das Bild, das sich ergab, seltsam wirkte – Jonny glaubte ihm.

Robin wirkte nicht, als würde er lügen. Um genau zu sein wirkte er nicht einmal, als könnte er überhaupt lügen, so zugewandt und vertrauenswürdig, wie er rüberkam... Aber das war natürlich Unsinn. Jeder Mensch log, ob man es ihm nun auf den ersten Blick ansah oder nicht.

Doch nicht jetzt. Nicht in dieser Angelegenheit. Aus irgendeinem Grund war Jonny sich da vollkommen sicher.

„Oh, du bist dir sicher; das ist ja großartig!“ Wieder die Stimme. Sie klang aufgebrachter als zuvor, eindringlicher, und kurz hatte Jonny das Bedürfnis, sie laut anzuschreien und ihr zu sagen, dass sie verdammt nochmal still sein sollte. Das tat er nicht, natürlich nicht. Was das für einen Eindruck auf Robin, und wahrscheinlich auch die anderen Besucher der Bar, deren Anwesenheit er zwischendurch so gut es eben ging ausgeblendet hatte, machen würde, konnte er sich vorstellen.

Also beschloss er, die Stimme zu ignorieren. Betrachtete seine Hände, die er noch immer um seine Kakaotasse gelegt hatte – zwar war ihm mittlerweile nicht mehr kalt, doch die Wärme, die die heiße Schokolade noch immer abgab, fühlte sich dennoch sehr angenehm an – und überlegte.

Dieses Angebot, diese Vorstellung, einen festen Ort zu haben an dem er wohnen konnte, zumindest übergangsweise, war in der Tat verlockend… und doch eigentlich zu schön, um wahr zu sein.

Wo war der Harken? Es musste doch einen geben, solche Dinge passierten nicht einfach, schon gar nicht ihm.

Die Stimme hatte recht; er sollte aus seinen Fehlern gelernt haben. Es gab nichts geschenkt, und wenn man am Anfang den Eindruck bekam, dass dem so wäre, dann war der Preis, den man am Ende zahlen musste, dafür umso höher.

Ein weiteres Mal hätte Jonny am liebsten geschrien.

Es war alles so verwirrend, schien unmöglich zu sein, zu einem vernünftigen Ergebnis zu kommen, sich sicher zu sein, was das Richtige war… gab es das überhaupt, ‚das Richtige‘?

Sofort meldete sich die Stimme wieder. „Natürlich gibt es das! Das Richtige wäre es, nicht zweimal auf die gleiche Masche reinzufallen! Nicht ernsthaft so naiv zu sein, zu glauben, dass einfach plötzlich alles gut wird!“

Aber das dachte er doch gar nicht. Er war nicht der Meinung, dass Robins Angebot anzunehmen automatisch die Lösung all seiner Probleme bedeuten würde. Er war nicht naiv, auch wenn die Stimme das behauptete, und eigentlich wusste auch sie das, wusste, wie misstrauisch er war, wie vorsichtig, wie sehr er Leute auf Distanz hielt.

Und dennoch dachte er gerade ernsthaft über all das nach.

Natürlich war da die Chance, dass sich alles wiederholen würde, dass er ein weiteres Mal jemandem vertraute, der bloß am Anfang nett zu ihm war, und ihn mit der Zeit immer mehr ausnutzte, manipulierte, verletzte. Vielleicht war diese Chance nicht einmal gering, er wusste es nicht.

Aber andererseits: Was war seine Alternative?

Er konnte wieder nach draußen gehen, in den Regen, in die Kälte. Mit etwas Glück würde er einen halbwegs trockenen Platz finden, an dem er seine Ruhe hatte und wo es nicht bereits von anderen Obdachlosen wimmelte – darauf konnte er sich allerdings nicht verlassen.

Er würde morgen im besten Fall leicht frierend, im schlimmsten Fall durchnässt und vor Kälte zitternd aufwachen (oder tot, doch diesen Gedanken versuchte er, zu verdrängen), und dann würde alles wieder von vorne losgehen; die Suche nach Essen, nach einem ruhigen Ort, die furchtbare Überwindung, Leute anzusprechen, wenn er wieder einmal dringend Geld brauchte. Die ewige Angespanntheit, die Wachsamkeit. Die Angst davor, einmal nicht genug aufzupassen, sich nicht verteidigen zu können, wenn es plötzlich nötig war. Die Hoffnung, einen geschützten Platz zum Schlafen zu finden, was wohl mit jedem Tag schwerer würden dürfte, jetzt, wo der Winter sich näherte.

Inwiefern sollte das besser oder weniger riskant sein als das Annehmen eines Angebotes, bei dem er nicht einmal wusste, ob es wirklich etwas Negatives mit sich bringen würde? War das nicht ein Wagnis, das man eingehen konnte, wenn man sich die Alternative vor Augen hielt?

Darauf schien die Stimme keine Antwort zu haben, denn zu Jonnys Überraschung schwieg sie. Er konnte sich gut vorstellen, dass es ihr nicht passte, ihm zuzustimmen, dass ihr aber die Gegenargumente ausgegangen waren, zumindest für den Moment. Immerhin war es nicht so, dass sie von Grund auf bösartig war, auch, wenn man das bei ihrer gehässigen Art durchaus denken konnte. Doch am Ende wollte sie auch bloß das Beste für ihn, und dass er auf der Straße lebte war ebenfalls nichts, womit sie wirklich glücklich war.

Auch, wenn man es manchmal leicht vergessen konnte: Dieses Ding, das sich vor einiger Zeit in seiner Psyche eingenistet hatte und seitdem eigentlich durchgängig bei ihm gewesen war, wollte ihn einfach bloß beschützen.

Mit nun ein wenig klareren Gedanken hob Jonny den Blick und sah in Robins Richtung. Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dagesessen hatte und in seinen Überlegungen versunken gewesen war; es kam ihm vor, als wäre es reichlich lange gewesen.

Dennoch hatte Robin die ganze Zeit über schweigend dagesessen, hatte nichts getan, um seine Gedanken zu unterbrechen, ihn gar unter Druck zu setzen, ihm endlich eine Antwort zu geben.

Das war ein gutes Zeichen. Oder?

Jonny nahm noch einen Schluck Kakao, während er gedanklich ordnete, was er sagen wollte.

Er konnte das alles noch ewig zerdenken, doch wenn er ehrlich war, dann hatte er seine Entscheidung bereits getroffen.

Die Aussicht, weiterzumachen wie bisher, erschien ihm in diesem Augenblick unerträglich; ein Gefühl, das ihn in den letzten Wochen immer wieder mal überkommen hatte, das er jedoch stets versucht hatte, zu ignorieren… Einhergehend mit der Gewissheit, dass er das alles, dieses Leben auf der Straße, nicht mehr lange würde ertragen können. Ertragen wollte.

„Okay.“ Er hatte das Wort ausgesprochen, ohne sich dessen bewusst zu sein, war noch gar nicht fertig damit, sich zurechtzulegen, was er sagen wollte.

Sofort wandte Robin sich ihm zu, und kurz lag pure Überraschung in seinem Blick, als könne er nicht glauben, was er da hörte. Dann schien er sich wieder zu fangen, setzte wieder dieses leichte Lächeln auf, das irgendwie so vertrauenerweckend wirkte, und fragte mit ruhiger Stimme: „Was, okay?“

Jonny zögerte. Plötzlich war die Unsicherheit wieder präsent, die er doch gradeerst mühsam zurückgedrängt hatte, und kurz überlegte er, ob er einfach bloß den Kopf schütteln und schweigen sollte, so tun, als hätte er nichts gesagt, doch einfach weitermachen wie ursprünglich geplant…

Aber nein. Das wäre feige gewesen. Feige, und unvernünftig. Und verdammt, er wollte nicht so weitermachen, wie er vorhin noch gedacht hatte!

Außerdem hatte er bereits begonnen, zu reden, ein Anfang war gemacht, und so gab er sich erneut Mühe, seine Nervosität zu ignorieren, seine Gedanken nicht wieder allzu wirr werden zu lassen und sprach, mit zu seiner Verärgerung ein wenig zittriger Stimme, weiter: „Okay, we-wenn du… das alles wirklich e-ernst meinst, was du ge-gesagt hast…“ Wieder dieses Stottern, wieder diese Wut auf sich selbst, die es in ihm auslöste.

„U-und dir wirklich klar ist, dass… ich dir nichts dafür geben kann, da-dass du mir hilfst… dann… nehme ich das Angebot an.“

Es war nicht leicht gewesen, diese Worte auszusprechen.

Auf einmal war da diese Vorstellung, diese Angst, die Jonny überkam, dass Robin ihn anstarren und dann in Gelächter ausbrechen würde. Ihn fragen würde, ob er wirklich geglaubt hatte, dass das ernstgemeint gewesen wäre, ob er wirklich so dumm sei, ob man ihm eigentlich alles erzählen könnte; und dass er ihn danach auffordern würde, auf der Stelle zu verschwinden, bevor er von ihm auch noch etwas für das Essen und den Kakao verlangen würde.

Aber Robin tat nichts davon. Stattdessen wurde das Lächeln auf seinem Gesicht breiter, er beugte sich etwas vor, und in seinen Augen war ein Ausdruck zu erkennen, den Jonny für ehrliche Freude hielt. „Das… freut mich!“, sagte er, und auch er schien in diesem Moment nicht wirklich zu wissen, wie er seine Gedanken formulieren sollte.

Jonny lächelte nun ebenfalls leicht. Robins Reaktion war erleichternd, auch, wenn er die Horrorvorstellung von eben dieser, die ihn spontan überkommen hatte, nicht wirklich für realistisch gehalten hatte. Bisher hatte Robin den ganzen Abend über noch nicht so gewirkt, als würde er irgendetwas von dem, was er sagte, nicht ernst meinen.

Dennoch kehrte erst einmal wieder Stille ein. Alles wirkte seltsam, und dennoch gleichzeitig entspannt, auch wenn Jonny immer noch nicht wirklich wusste, wie genau das Ganze nun weiter ablaufen sollte, und Robin schien es da ähnlich zu gehen.

Doch bevor einer von ihnen das Gespräch erneut aufgreifen konnte, stand plötzlich Sapphire wieder neben ihrem Tisch. In ihrer Hand hielt sie einen Stoffbeutel, und der Blick, den sie Jonny zuwarf, war so freundlich, wie er es vor ihrem Weggang gewesen war.

„Schön, dass du noch da bist!“, meinte sie, während sie sich an Robin vorbeischob und sich auf ihren Platz setzte. Gleich darauf schob sie den Beutel über den Tisch zu Jonny hinüber. „Ich hab dir ein paar Klamotten rausgesucht, die dir passen sollten. Du solltest wirklich nicht so lange in diesen klitschnassen Sachen rumlaufen, das ist ungesund!“

Perplex nahm Jonny die Tasche an sich und warf einen Blick hinein. Je länger er hier saß, und je mehr Dinge passierte, desto weniger fühlte er sich in der Lage, all diese Freundlichkeit, diese Hilfsbereitschaft zu verarbeiten.

Während er den Inhalt des Beutels inspizierte – ein dunkles Sweatshirt, eine graue Hose, sogar Socken und eine Boxershorts waren darin zu finden, wobei er sich fragte, wo Sapphire all diese Sachen so schnell aufgetrieben hatte – hörte er Robin an Sapphire gewandt sagen: „Jonny und ich haben uns etwas unterhalten. Ich habe ihm angeboten, dass er erst mal eine Weile hierbleiben kann, damit er nicht weiter draußen schlafen muss… nebenan ist doch noch was frei, oder?“

Der Tonfall, in dem Robin sprach, klang derart banal, als redete er über das Wetter.

Augenblicklich spürte Jonny Nervosität in sich aufsteigen – Robin mochte ihm vielleicht ein nett gemeintes Angebot gemacht haben, doch was war, wenn Sapphire damit überhaupt nicht einverstanden war? Wenn sie nicht dazu bereit war, einem dahergelaufenen Stadtstreicher eine ihrer Wohnungen zu überlassen, was durchaus verständlich gewesen wäre, wenn sie darauf bestand, dass er so schnell wie möglich aus ihrer Bar verschwand?

Wenn das bisschen Hoffnung, das Jonny sich so mühsam erlaubt hatte, zu empfinden, sofort wieder enttäuscht werden würde?

Angespannt starrte er die Tischplatte an, während er auf Sapphires Reaktion wartete. Die Zeit, die bis dahin verstrich, fühlte sich quälend lang an, zog sich zäh wie Honig, und als Sapphire schließlich zu sprechen begann, zuckte Jonny unwillkürlich zusammen.

„Oh, ja sicher. Wenn ich mich nicht täusche, stehen gerade vier oder fünf Wohnungen leer…“

Ihre Stimme klang nicht einmal wirklich überrascht. Als hätte sie bereits damit gerechnet, dass Robin ihm ein solches Angebot machen würde…

Grade war Jonny im Begriff, sich wieder ein wenig zu beruhigen, als Sapphire noch etwas sagte, was dafür sorgte, dass er sich erneut anspannte, allein schon aus dem Grund, dass sie plötzlich mit ihm sprach.

„Und was genau hast du dann vor? Versteh mich nicht falsch. Ich weiß, dass es ein guter Anfang ist, einen festen Ort zu haben, an dem man wohnt. Aber hast du irgendeinen Plan, was du dann tun willst…“

„…Äh…“ Überfordert warf Jonny einen Blick zu Robin, als ob der ihm irgendwie helfen könnte. Spannte sich noch mehr an, krallte seine Hände in die Tischplatte, spürte, wie sein Herz begann, schneller zu schlagen. „I-ich weiß nicht genau…“

Die Frage hatte ihn kalt erwischt. Er hatte sich schon so oft gefragt, was eigentlich sein Plan war, und nie hatte er eine Antwort darauf gefunden. Er hatte keinen Plan. Hatte nie einen gehabt, und schien grundsätzlich unfähig zu sein, einen zu entwickeln. Was also half es ihm, wenn er wieder einmal kurzzeitig eine feste Unterkunft besaß, wenn er doch weiterhin keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben anfangen sollte?

Er merkte selbst, wie er dabei war, wieder panisch zu werden. Diese Gedanken waren lähmend, ließen ihn innerlich verzweifeln, ihn zu erdrücken.

Und dann war da wieder Sapphires Stimme, freundlich wie zuvor, kein bisschen abwertend, trotz seines Zugeständnisses, keinerlei Ahnung zu haben wie er die ihm angebotene Hilfe wirklich nutzen wollte: „Kein Grund, nervös zu werden! Man kann ja nicht an alles auf einmal denken. Dir wird sicher noch was einfallen, wenn du erst mal ein bisschen zur Ruhe gekommen bist. Aber bis dahin könnte ich dir zumindest eine Möglichkeit anbieten, um ein wenig Geld zu verdienen.“

Drogen, schoss es Jonny unwillkürlich durch den Kopf, kaum, dass Sapphire die Worte ausgesprochen hatte. Sie will, dass ich für sie Drogen verkaufe, oder irgendwas anderes in dieser Richtung…es ist wirklich genau wie damals, verdammt, ich hätte es mir denken können…

Die verdammte Panik wurde immer schlimmer, machte rationales Denken schwieriger und schwieriger. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihn andauernd überwältigte, ihn stets das Schlimmste befürchten ließ, auch wenn es dafür keinen wirklich vernünftigen Grund gab!

Bemüht, zumindest äußerlich ruhig zu wirken, sah Jonny Sapphire an, bemühte sich, zu lächeln, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. „W-was…wäre das für eine Möglichkeit?“

Gut so. Fragen stellen. Sich vergewissern, was Sache war, und sich nicht in irgendwelchen Spekulationen verrennen.

Die Antwort, die er erhielt, ließ seine Panik auf der Stelle ein wenig zurückweichen.

„Du könntest hier in der Bar arbeiten. Das tun viele, die hier wohnen, zumindest zeitweise. Man wird nicht reich damit, aber es wäre zumindest etwas.“

Kurz hatte Jonny das Bedürfnis, erleichtert aufzuatmen. Ein Job in einer Bar war definitiv etwas anderes als ein Drogenkurier oder dergleichen; wirkte wirklich seriös, würde ihm womöglich wirklich ein Gefühl von Kontrolle verleihen. Aber trotzdem…

„Sowas…hab ich noch nie gemacht“, erwiderte er zögerlich, wobei er sich zwang, Sapphire weiterhin anzublicken. „Ich hab keine Ahnung, w-wie sowas geht… und…u-und ich kann auch nicht sonderlich gut mit Menschen…“

„Oh, das macht nichts.“ Sapphire winkte ab, schien überhaupt nichts an Jonnys Aussage bedenklich zu finden. „Das kann dir jemand zeigen, wie das alles geht. Und wenn es dir wirklich so schwer fällt, mit Menschen zu reden, dann kannst du auch größtenteils hinter dem Tresen arbeiten, das ist dann vielleicht leichter, als wenn du durch den Laden laufen musst. Es wäre ja auch bloß eine Übergangslösung.“

Ein weiteres Mal an diesem Abend fühlte Jonny sich überrumpelt. Was passierte hier? Was war auf einmal los?

Was Sapphire da erzählte klang nicht schlecht. Es klang sogar wirklich ziemlich gut. Er hatte nicht wirklich eine Ahnung, was ihn erwartete, wenn er diesen Job annahm, aber irgendwie würde er das schon hinbekommen… und wählerisch zu sein konnte er sich in seiner Situation wohl nicht wirklich leisten.

Zögerlich ließ er seinen Blick durch die Bar schweifen, über die Tische, von denen nun bloß noch wenige besetzt waren, die Leute, die sich in ihrer Kleidung kaum wirklich von ihm unterschieden, und von denen Sapphire und Robin sich definitiv mehr abhoben als Jonny.

Seine Gedanken waren wieder einmal wirr, doch da gab es vier Worte, die sich aus dem Chaos, das in seinem Kopf herrschte, herauskristallisierte, und die er schließlich, mit noch immer leicht zitternder Stimme, herausbrachte: „Okay. Dann… vielen Dank.“

Er sah, wie Robin und Sapphire einen irgendwie zufriedenen Blick tauschten.

Wieder so eine Sache, die ihn irritierte; war es für die Beiden wirklich etwas Positives, dass er diesem Angebot zugestimmt hatte? Konnte es ihnen im Grunde nicht egal sein, was er tat?

Aber er kam ohnehin schon seit langem nicht mehr wirklich hinterher, was hier eigentlich passierte, und warum, und all das zerdenken erschien im mittlerweile einfach nur noch anstrengend. Er merkte auch immer mehr, wie erschöpft er eigentlich war, und der Gedanke, diese Nacht statt auf dem harten Boden in der Kälte in einem richtigen Bett verbringen zu können, erschien ihn mit jeder verstreichenden Sekunde verlockender.

Vielleicht war ihm diese Erschöpfung anzusehen, vielleicht ging es Sapphire auch einfach ähnlich. Zumindest wandte sie sich wieder zu Jonny, weiterhin mit ihrem freundlichen Lächeln.

„Die Details können wir ja morgen besprechen. Komm einfach am Nachmittag in die Bar… spätestens gegen 17 Uhr, würde ich sagen. Ich werde jemanden beauftragen, dir alles zu erklären.“

Sie erhob sich, und Robin rückte etwas näher an den Tisch heran, um sie vorbeizulassen.

„Ich gehe den Schlüssel für eine der freien Wohnungen holen. …Und noch ein paar Klamotten, die du zum Schlafen anziehen kannst. Du kannst in Ruhe deinen Kakao austrinken, und dann zeigt Robin dir, wo du hin musst. Wie gesagt – über alles Weitere reden wir morgen!“

Jonny hätte sich gerne auf eine Weise bei ihr bedankt, die den Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, gerecht wurden, doch alles, was er herauszubringen vermochte, war ein weiteres, simples „Danke“.

Er sah Sapphire nach, wie sie durch die Bar schritt und dann durch eine Tür hinter dem Tresen verschwand, wandte sich dann wieder zu Robin, der sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und auf seinem Handy herumtippte. Als er bemerkte, dass Jonny ihn beobachtete, legte er das Gerät zur Seite und sah ihn, noch immer lächelnd, an.

Dieses Mal gelang es Jonny, zumindest leicht zurückzulächeln.

Das alles war verrückt. Kam ihm vor wie ein Traum, so unrealistisch und unwahrscheinlich. Viel zu gut, um wahr zu sein.

Aber trotzdem…es passierte. Er schlief nicht, da war er sich ganz sicher, und ebenso sicher war er sich, dass er in letzter Zeit nichts konsumiert hatte, das derartige Sinnestäuschungen auslösen könnte.

Das alles passierte wirklich. Es war real, und so sehr es ihn auch verwirrte, verunsicherte, ihn skeptisch hinterfragen ließ ob das alles wirklich so vollkommen positiv sein konnte… in diesem Moment war er sich vollkommen sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

1 -11

Robin hatte gesagt, dass das Gebäude, in dem die Wohnungen lagen, ziemlich heruntergekommen sei, und als Jonny nun mit ihm gemeinsam das Gebäude betrat, konnte dieser diese Aussage nur bestätigen.

Nicht, dass er sich beschwert hätte. Es mochte aussehen, als habe sich seit mindestens einem halben Jahrhundert niemand mehr darum gekümmert, dass die Wände oder der Fußboden oder die hölzerne Treppe halbwegs anschaulich aussahen, aber zumindest schien es nirgends ein Loch in der Mauer zu geben oder dergleichen, denn es zog nicht, wie Jonny das aus anderen, weitaus verfalleneren Bauwerken kannte.

Dennoch schien sein Blick unfreiwillig ein wenig skeptisch gewirkt zu haben, denn Robin, der grade wieder zu ihm aufgeholt hatte nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte unwillkürlich: „Keine Sorge, zumindest die Wohnungen sehen ein bisschen freundlicher aus!“

Ein wenig peinlich berührt senkte Jonny den Blick. „Ich… wollte mich nicht beschweren. Bin ganz andere Sachen gewohnt.“

„Das kann ich mir vorstellen…“ Mittlerweile war Robin etwas vorgegangen und hatte bereits die ersten Stufen der Holztreppe erklommen, deren Stufen unter seinen Schritten bedenklich knarrten. Jonny tat es ihm gleich, und das Knarren erschien ihm, obgleich er sich durchaus denken konnte dass diese Treppe schon ganz andere Sachen ausgehalten hatte ohne zu kollabieren, derart bedenklich, dass er ausgesprochen froh war, als sie im ersten Stock angekommen waren und wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

Robin drehte sich zu ihm um, lächelte, und ein weiteres Mal schien er genau zu wissen, was Jonny eben durch den Kopf gegangen war. „Ich weiß, die Treppe klingt etwas besorgniserregend, aber uns hält die definitiv noch aus. Ein Stockwerk müssen wir noch höher.“

Aus einer der Wohnungen, an denen sie vorbeigingen, ertönten Stimmen; das Lachen von Kindern, das Bellen eines Hundes. Einige Türen weiter war grade eine ältere Frau dabei, ihre Fußmatte zu säubern, wobei sie mit dem Besen immer und immer wieder über die gleiche Stelle fegte, als bekäme sie gar nicht wirklich mit, was sie da tat. Sie reagierte auch nicht, als Robin sie im Vorbeigehen grüßte, schien vollkommen in Gedanken versunken zu sein… vielleicht auch einfach in ihrer eigenen Welt.

Die nächsten Stufen knarrten nicht ganz so bedenklich wie die vorherigen, und das zweite Stockwerk wirkte mit seinen weiß gestrichenen Wänden – zumindest waren sie wohl einmal weiß gewesen, auch wenn sie nun von dunklen Flecken bedeckt waren und im flackernden Licht der Deckenlampe eher gelblich wirkten – einladender als die unteren Etagen mit ihren komischen, altmodischen, bräunlich-gemusterten Tapeten.

Hier oben auf dem Gang war kein Mensch zu sehen, auch keine Geräusche zu hören, aber das war wohl auch kaum verwunderlich, wenn man bedachte, wie spät es war.

„So, da sind wir.“ Robin blieb vor einer der Türen stehen, holte den Schlüssel, den Sapphire ihm zuvor gegeben hatte, aus der Tasche, und steckte ihn ins Schloss. Mit einem Quietschen, das die Stille der Umgebung unangenehm laut durchschnitt, öffnete sich die Tür, und gab den Blick frei auf einen dunklen Raum, in dem bloß ein paar Schwache Silhouetten auszumachen waren, auf die der halbvolle Mond von draußen sein silbriges Licht warf.

Robin wandte sich nach rechts, tastete an der Wand herum, fand schließlich den Lichtschalter und betätigte ihn mit einem Klicken.

Eine matte Glühlampe flammte auf, flackerte, wirkte, als stünde sie kurz vor dem Ende ihres Lebens.

„So…bitteschön.“ Robin machte einen Schritt in den Raum hinein, ging dann zur Seite, um auch Jonny ein Eintreten zu ermöglichen, der dieser stummen Aufforderung auch sogleich folgte.

Der Raum war nicht groß, zwanzig Quadratmeter vielleicht, und beinhaltete neben einem Bett, einem Stuhl und einem wackelig anmutenden Tisch auch eine schmale Küchenzeile, die vielleicht ein Drittel des Raumes einnahm. Ein Surren kam aus dieser Richtung, das, wie ein zweiter Blick vermuten ließ, von dem kleinen Kühlschrank stammte, der in der rechten Ecke auf der Anrichte stand.

Andere Leute hätten über diese winzige Wohnung, die kaum mehr war als eine Abstellkammer, wahrscheinlich bloß die Nase gerümpft. Hätten auf dem Absatz kehrt gemacht und das Gebäude mit schnellen Schritten verlassen, um sich nach einer Bleibe umzusehen, die ihren Ansprüchen mehr gerecht wurde.

Für Jonny jedoch war dieses Zimmer mit seiner spartanischen Einrichtung ein absoluter Luxus.

Er stellte die Tasche mit den Sachen, die Sapphire ihm gegeben hatte, auf dem Boden ab, daneben seinen Rucksack, ging zum Bett, das direkt unter dem Fenster stand und ließ sich auf die blanke Matratze sinken. Das Gestellt quietschte ein wenig, aber das war ihm in diesem Moment vollkommen gleichgültig; es war Monate her, seit her zum letzten Mal die Möglichkeit gehabt hatte, in einem Bett zu schlafen. Und dass er in einem eigenen Bett geschlafen hatte, war noch viel, viel länger her…

„Ich hoffe, du fühlst dich nicht zu eingeengt“, meinte Robin, der noch immer neben der Tür stand, und unwillkürlich musste Jonny lachen. Vielleicht konnte Robin wirklich bis zu einem gewissen Grad verstehen, wie es war, auf der Straße zu leben, aber offensichtlich war ihm nicht so recht klar, was es bedeutete, wenn man in so einer Situation dann zum ersten Mal die Aussicht auf eine warme, trockene Unterkunft hatte, die man sich nicht einmal mit anderen teilen und für die man vorerst zumindest nichts bezahlen musste. Er hätte sich wohl auch mit einer tatsächlichen Abstellkammer zufrieden gegeben, vor allem, wenn in dieser zumindest eine weiche Matratze gelegen hätte.

Robin jedoch schien von Jonnys Lachen irritiert zu sein. Verwirrt blickte er ihn an, scheinbar nicht in der Lage, diese Reaktion einzuordnen, und so hob Jonny seinem Ausdruck von Amüsement schnell hinterher: „Nein, ich fühle mich definitiv nicht eingeengt! Ich bin sogar eher… überrascht, dass es hier sogar eine Küche gibt! Ich dachte, du redest vielleicht… wirklich mehr von einem kleinen Zimmer… ach, ich weiß auch nicht.“

„Na ja, es ist ja ein kleines Zimmer.“ Nun lächelte Robin wieder, dann wandte er sich in Richtung der eben angesprochenen Küche und deutete auf eine schmale Tür, die Jonny bisher nicht aufgefallen war. „Aber du hast sogar ein Bad! Also… ein kleines Bad. Und ich meine wirklich klein. Zwei Quadratmeter vielleicht. Man kann sich neben der Dusche grade mal so umdrehen, und es gibt kein Fenster. Aber du hast eins!“

„Eine Dusche? Mit warmem Wasser?“ Jonny hatte die Frage gestellt, ohne darüber nachzudenken, und kam sich gleich darauf ein wenig seltsam vor. Aber die Vorstellung, endlich einmal nicht unter eisig kaltem oder in manchen, seltenen Fällen lauwarmem Wasser in der einen Notunterkunft, die Red Creek zu bieten hatte, stehen zu müssen, kam ihm schlichtweg wahnsinnig verlockend vor.

„Oh…ja, sicher.“ Robin nickte, wirkte nun ein wenig amüsiert. „Ist zwar kein Luxusapartment hier, aber für warmes Wasser reicht es gerade noch.“

Das klang verdammt gut. Jonny war vielleicht erschöpft, aber für eine heiße Dusche würde seine Energie gerade noch ausreichen. Er hasste das Gefühl, durchgeregnet zu sein, ohnehin, es fühlte sich einfach unangenehm an wenn ihm seine Haare strähnig ins Gesicht fielen und das Gefühl der durchnässten Klamotten noch ewig auf der Haut zu spüren war.

Dass er wieder einmal in seinen Gedanken versunken war, bemerkte er erst, als Robins Stimme ihn aus diesen wieder herausriss.

„Ich geh kurz in den Keller und hol dir noch Bettzeug. …Oh, und Handtücher wären wahrscheinlich auch gut, oder?“

Er wartete nicht ab, bis Jonny ihm geantwortet hatte. Drehte sich um und schritt durch die Tür, ging mit schnellen Schritten den Flur entlang, was begleitet wurde von einem stetigen Knarren der Dielen, und verschwand schließlich hinter dem Treppengeländer.

Ein wenig unschlüssig blickte Jonny ihm nach, verharrte noch ein wenig auf der Matratze, widerstand dabei dem Drang, sich einfach zurückfallen zu lassen und die Augen zu schließen. Würde er das tun, so wäre es nicht unwahrscheinlich, dass er noch vor Robins Rückkehr von seiner Erschöpfung übermannt worden und eigeschlafen wäre. Und das wäre aus mehr als nur einem Grund problematisch gewesen.

„Oh, das wäre problematisch gewesen? Wenn das mal das einzig Problematische hier wäre!“ Die höhnische Stimme war so plötzlich und unerwartet in seinen Gedanken aufgetaucht, dass Jonny erschrocken zusammenzuckte und beinahe aufgeschrien hätte.

Kurz blickte er sich um, so als bestünde die Möglichkeit, dass sich nach Robins Verschwinden noch jemand in diesem Zimmer aufhalten könnte, dann zischte er leise: „Hör zu, ich kann mir nicht vorstellen, dass du mir gerade irgendwas Hilfreichen mitteilen willst, also sei doch einfach ruhig, okay?“

Er erwartete nicht wirklich, dass das Ding seiner Aufforderung Folge leisten würde, und mit dieser Annahme sollte er recht behalten.

„Oh, ich finde meine Anmerkungen durchaus hilfreich! Vorhin hast du noch selbst gesagt, dass du nichts weiter willst, als dich ein wenig aufzuwärmen. Du hast gesagt, dass das alles ist. Und jetzt sieh dich an!“ Ein bitteres Lachen, das Jonny gleichzeitig ärgerte und ihn nervös werden ließ. „Du hockst in einer Wohnung, die dir wildfremde Menschen angeboten haben! Du hast alles angenommen, was sie dir angeboten haben, wie ein ausgehungerter Hund dem man Fleischreste hinwirft… ohne darüber nachzudenken, dass das Fleisch vielleicht verdorben oder vergiftet sein könnte!“

Wieso konnte die Stimme nicht einfach still sein? Wieso musste sie die Paranoia, die doch sowieso bereits eine seiner vordergründigen Empfindungen war, noch derart anstacheln?

Gerne hätte Jonny sie einfach zum Verstummen gebracht, doch in all der Zeit, die sie ihn nun bereits begleitete, hatte er nicht herausgefunden, wie er das anstellen konnte – sie schwieg nur dann, wenn sie es selbst wollte, oder aber, wenn ihr keine Argumente mehr einfielen, doch dieser Zustand hielt nie lange an.

Was brachte es also, wenn er wütend wurde. Das einzige, was das bewirken würde, wäre, dass die Stimme sich über ihn amüsierte, das wusste er aus Erfahrung, und das war eine Genugtuung, die er ihr nicht gönnen wollte.

Also gab er sich Mühe, ruhig und unbeeindruckt zu klingen, als er, noch immer leise, erwiderte: „Nette Metapher, wirklich. Aber erstens bin ich kein Hund. Und zweitens willst du doch nicht wirklich behaupten, dass ich über diese Entscheidung nicht nachgedacht habe! Ich habe praktisch die ganze Zeit über nichts anderes getan! Aber als ich dich gefragt habe, was wirklich besser daran wäre, zurück auf die Straße zu gehen, konntest du mir keine Antwort geben. Ist dir da inzwischen was zu eingefallen, oder gibst du einfach zu, dass meine Entscheidung vielleicht doch nicht so verkehrt war und bist ruhig?“

Sie war nicht ruhig. Natürlich nicht.

Und was sie nun sagte, ließ Jonny, der gerade dabei gewesen war, sich ein wenig zu beruhigen und sich zu erlauben, das, was er getan hatte, als richtig zu empfinden, erschrocken zusammenzucken.

„Ich hab nie behauptet, dass die Alternative leicht wäre! Aber findest du nicht auch, dass das alles ein bisschen zu gut gelaufen ist heute Abend? Jemand spricht dich einfach auf der Straße an, lädt dich zu sich ein, bieten dir sogar eine Wohnung an. Ist dir nicht mal der Gedanke gekommen, dass dieser Robin vielleicht einfach nur dafür sorgen will, dass du lange genug an einem Ort bleibst? Darf ich dich daran erinnern, dass du dich immer noch versteckst?“

Niemand hätte ihn daran erinnern müssen. Der Gedanke daran war die ganze Zeit über präsent, begleitete Jonny ebenso wie die Stimme, drängte sich jedes Mal erneut in den Vordergrund wenn er anfing, sich halbwegs sicher zu fühlen.

Der Gedanke daran, dass jeder Mensch, dem er begegnete, ihn möglicherweise erkennen könnte. Wusste, wer er war, und was er getan, was er sich erlaubt hatte. Und sollte das wirklich jemals passieren, dann war klar, dass es nicht lange dauern würde, bis auch Er davon wusste.

„Nein, das... das ist Unsinn“, murmelte Jonny, bloß, um gleich darauf festzustellen, dass seine Worte alles andere als überzeugend klangen. War es das wirklich? Unsinn? Oder nicht viel eher eine logische Erklärung dafür, dass dieser Abend so unglaublich positiv verlaufen war?

Wieder diese verdammte Paranoia. Ob berechtigt oder nicht, es war so anstrengend; immer wieder dieselbe Gedankenspirale, kein Ende in Sicht, bloß mehr und mehr Zweifel, ‚Vielleicht’s und ‚Aber wenn’s.

Erschöpft, nicht mehr in der Lage, Energie für etwas aufzubringen, weder zum Nachdenken noch für eine Diskussion, schloss Jonny die Augen. Er war es leid, immer und überall vom Schlimmsten auszugehen. Das brachte ihn nicht weiter, machte ihn einfach bloß fertig, sorgte dafür, dass er niemals zur Ruhe und gleichzeitig kein Stück voran kam.

Vielleicht hatte das Ding in seinem Kopf recht. Vielleicht war das hier eine Falle. Aber wenn dem so war, wenn hierzubleiben tatsächlich das Ende seines monatelangen Versteckspiels – und sehr wahrscheinlich auch seines Lebens – bedeuten sollte, dann hätte er vorher zumindest noch einmal eine Nacht in einem richtigen Bett schlafen können.

„Oh, du hängst wohl nicht mehr sonderlich an deinem Leben, was?“, höhnte die Stimme. Sie wollte ihn verletzen, ihn reizen, ihn dazu bringen, sich aufzuregen, das wusste er, doch damit würde sie keinen Erfolg haben.

Die einzige Reaktion, zu der er sich durchrang, war ein Schulterzucken, davon abgesehen verharrte er vollkommen regungslos mit weiterhin geschlossenen Augen auf der Matratze, bis das entfernte Knarren von Dielenbrettern, gefolgt von dem näheren der Treppenstufen, Robins Rückkehr ankündigten.

Es kostete Jonny ein wenig Mühe, die Augen wieder zu öffnen. Er erhob sich von der Matratze, wobei das Bettgestell erneut quietschte, und griff nach seinem Rucksack, um diesen auf dem Tisch abzustellen und anzufangen, ihn auszupacken. Er schaffte es jedoch gerade einmal, des Reißverschluss aufzuziehen, bevor Robin die Wohnung betrat.

„So“, kommentierte er seine Rückkehr, während er die Tür mit dem Fuß anstieß und sie so ins Schloss fallen ließ.

Er hatte beide Arme voll mit einem wirren Haufen an Stoff, den er, in Ermangelung eines besseren Platzes dafür, vorerst auf dem Bett ablegte.

Sofort ließ Jonny von seinem Rucksack ab, ging zu Robin und betrachtete das Durcheinander. Dabei stellte er nun auch die Frage, die ihm vorhin bereits durch den Kopf gegangen war, als Sapphire ihm die halbwegs passend erscheinenden Klamotten überreicht hatte: „Wo kommen die ganzen Sachen denn her? Habt ihr… das einfach alles hier rumliegen?“

Ein wenig überrascht blickte Robin ihn an, nickte dann. „Ja. Es sind alles schon ältere Sachen, das siehst du ja wahrscheinlich. Wir sammeln hier alles, was wir so bekommen können, damit immer was da ist, wenn wir es brauchen. Ist nicht selten, dass spontan Menschen hier unterkommen, die erst einmal überhaupt nichts haben.“

„Verstehe“, murmelte Jonny, obwohl er das eigentlich nicht wirklich tat. Was genau war das hier? Robins Aussagen nach zu urteilen war es eine Art Zufluchtsort für alle möglichen Leute aus dieser verarmten Gegend, die Zuflucht suchten, aber was bedeutete das?

Er wusste, dass es zu den alltäglichen Praktiken von Gangs oder auch der Mafia gehörte, sozial benachteiligte Leute zu unterstützen und dort einzugreifen, wo der Staat versagte, aus dem simplen Grund, das das ihre Legitimität und ihren Einfluss steigerte.

Gehörten Sapphire und Robin zu einer der Gangs hier in der Eastside? Den Eindruck machten sie auf Jonny eigentlich nicht, aber ihm war bewusst, dass er sich nicht gut genug mit dieser Thematik auskannte um sich da sicher zu sein. Zumindest wäre das eine mögliche Erklärung für das alles hier. Eine Art… Schutzprogramm einer Gruppierung, die sich, aus rein taktischen Gründen, mehr um die Außenseiter der Gesellschaft kümmerte als die Stadtverwaltung oder wer auch immer es tat.

Und es wäre eine Erklärung, die beruhigender war als das, was das Ding in seinem Kopf ihm einzureden versuchte.

Während ihm all diese Gedanken gekommen waren, die auf eine leicht absurde Art durchaus Sinn ergaben, hatte Jonny damit begonnen, das Gewirr aus Decke, Kissen, Bezügen und Handtüchern auseinander zu sortieren und halbwegs ordentlich auf dem Boden zu verteilen, einfach, um nicht bloß schweigend in der Gegend herumzustehen. Robin hatte recht, die Sachen sahen allesamt dezent abgenutzt aus, aber die rochen nach Waschpulver, und solange sie frisch gewaschen worden waren empfand Jonny sie als mehr als ausreichend.

Robin stand derweil noch immer neben ihm, beobachtete, wie er die Sachen ordnete, schien sich nicht ganz sicher zu sein, ob er gehen oder noch etwas sagen sollte.

Schließlich entschied er sich jedoch für Letzteres: „Brauchst du noch irgendwas?“

„Hm?“ Jonny hob den Blick, faltete nebenbei eines der beiden Handtücher zusammen, die sich in dem Haufen Stoff befunden hatten. „Nein, ich denke nicht. Danke.“

Dieses ‚Danke‘ erschien ihm eindeutig zu schwach, doch wusste er nicht wirklich, wie er sich sonst ausdrücken sollte. Was sagte man schon in solch einer Situation? Gab es da überhaupt Worte, die bedeutungsvoll genug waren?

„Okay. Gut“, gab Robin zurück, er machte nicht den Eindruck, als hätte er das simple ‚Danke‘ als unangemessen empfunden. „Dann lasse ich dich mal in Ruhe. Den Schlüssel hab ich dir auf den Tisch gelegt. Das Schloss klemmt etwas, du musst die Tür randrücken, wenn du abschließt.“

Er zögerte noch kurz, wirkte ein wenig unschlüssig, bevor er sich dann umdrehte und in Richtung Tür ging.

„Na dann“, rief er noch über die Schulter, „Wir sehen uns dann wohl morgen in der Bar.“

„Ja, bis morgen“, erwiderte Jonny noch, dann fiel die Tür hinter Robin ins Schloss.

Einen Augenblick lang stand Jonny einfach bloß da. Versuchte, all die Gedanken, die sofort wieder im Begriff waren auf ihn einzuströmen zurückzudrängen, und gleichzeitig erneut dem Bedürfnis zu widerstehen, sich einfach aufs Bett fallen zu lassen und die Augen zu schließen.

Noch nicht. Später.

Das erste, was er tat, nachdem er sich aus seiner Starre gerissen und in Bewegung gesetzt hatte, war, zum Tisch zu gehen und den Schlüssel zu nehmen, den Robin dort abgelegt hatte. Damit zur Tür zu gehen und sie wie angewiesen an den Rahmen zu drücken, den Schlüssel im Schloss umzudrehen bis das beruhigende Klicken zu hören war. Prüfend drückte er die Klinke herunter, die Tür rührte sich nicht.

Das war gut. Nein, mehr als das. Das bedeutete, dass das, was das Ding in seinem Kopf versucht hatte ihm einzureden, noch ein wenig unwahrscheinlicher erschien. Wieso sollte man ihm die Gelegenheit geben, sich einzuschließen, wenn es das doch nur schwerer machte, an ihn heranzukommen?

Wie aufs Stichwort erklang die Stimme erneut. „Wieso? Damit du dich sicher fühlst! Du weißt, wie gerne Er spielt, oder?“

Das stimmte. Auch das war eine Sache, die Jonny wohl niemals vergessen würde, egal, wie sehr er es auch wollte. Die Erinnerungen würden ihn begleiten, irgendwann vielleicht verblassen, in ferner Zukunft, wenn er denn die Gelegenheit haben würde, eine solche zu erleben, aber mit Sicherheit würden sie nie ganz verschwinden.

Also ja. Vielleicht war das alles hier ein Spiel.

Aber wenn man es rational betrachtete, dann war das schlichtweg um einiges unwahrscheinlicher, als dass Jonny einmal in seinem Leben Glück gehabt hatte und auf Leute getroffen war, die ihm wirklich helfen wollten.

„Ich werde mich nicht vollkommen sicher fühlen“, murmelte er leise, während er den Schlüssel zurück auf den Tisch legte und sich daran machte, das Bett zu beziehen. „Aber ich werde mir tatsächlich erlauben, mich darüber zu freuen, mal wieder bequem, trocken und im Warmen schlafen zu können, ob dir das nun passt oder nicht!“

Warm war es allerdings gar nicht wirklich, wie er nun erst richtig feststellte. Ein Blick auf den Heizungsregler, der auf Null stand, erklärte auch schnell, warum. Ein Detail, das sich leicht beheben ließ.

Dieses Mal knurrte die Stimme bloß. Schien keine Lust mehr dazu zu haben, zu diskutieren, und Jonny konnte nicht behaupten, dass er das schade fände.

Möglichst schnell fuhr er mit dem Bettbeziehen fort, griff dann nach den beiden Handtüchern und der Tasche von Sapphire und wandte sich in Richtung Bad.

Auch, wenn er erschöpft war und trotz seiner noch immer durchnässten Klamotten nicht mehr wirklich fror, eine heiße Dusche würde sich jetzt mit Sicherheit unglaublich angenehm anfühlen.

1 -12

„Glaubst du, das er irgendwie gefährlich sein könnte?“

Überrascht sah Robin von seinem Cocktail auf – dieses Mal hatte er sich einen ohne Alkohol bestellt, dazu hatte er sich selbst gezwungen – und blickte Sapphire an. Brauchte einen Augenblick, bis er ihr folgen konnte, bis eben hatte ihre Unterhaltung sich noch um eine Schießerei vor ein paar Tagen drei Blocks weiter gedreht.

Der plötzliche Themenwechsel irritierte ihn ein wenig, ebenso wie die Frage an sich.

„Jonny?“, harkte er nach, um dann auf Sapphires Nicken hin hinzuzufügen: „Wieso sollte er? Er scheint keiner der Gangs anzugehören… und wenn er irgendwelche bösen Absichten gehabt hätte, dann hätte er doch sofort versuchen können, mich anzugreifen.“

Er hatte ja sogar ein Messer, fügte er in Gedanken hinzu, hütete sich jedoch, diese Tatsache laut auszusprechen. Sapphire hätte sich bloß aufgeregt.

So bestand ihre Reaktion lediglich aus einem Nicken, gedankenverloren betrachtete sie ihr mit Cranberrysaft gefülltes Glas – sie hatte es in der Zwischenzeit tatsächlich geschafft, ihren ersten und wohl auch einzigen Cocktail des Abends zu leeren – und tippte mit ihrem Zeigefinger rhythmisch gegen den Rand. Eine Eigenart, die sich immer bei ihr zeigte, wenn sie über etwas nachdachte. Was sie nun bereits seit einer ganzen Weile zu tun schien.

„Denkst… du denn, dass er gefährlich sein könnte?“ Eigentlich hatte Robin diese Frage nicht stellen wollen. Sie alleine erschien ihm bereits wie eine Art Eingeständnis, als würde er damit zugeben dass er diese Option für durchaus denkbar hielt, und somit auch, dass er möglicherweise eine Entscheidung getroffen hatte, die unangenehme Konsequenzen für ihn oder Sapphire haben könnte.

Aber dem war nicht so. Er hatte die Wahrheit gesagt; er glaubte nicht daran, dass irgendetwas an Jonny bedrohlich sein könnte, auch, wenn er nicht wusste, woher er diese gefühlte Gewissheit nahm.

Wenn man es so formulierte, klang sein Handeln in der Tat nicht sonderlich gut durchdacht. Bloß neigte er eben häufig dazu, eher auf sein Gefühl als vorrangig auf seinen logischen Verstand zu hören, und dieses hatte ihm doch recht deutlich gesagt, dass er vor Jonny nichts zu befürchten hatte.

Die Antwort auf diese Frage schien auch Sapphire nicht leicht zu fallen.

Sie dachte eine ganze Weile darüber nach, während sie weiterhin gegen des Rand ihres Glases tippte, wodurch ein metronomartiges Klack-Klack-Klack ertönte. Ihr mochte das vielleicht beim Überlegen helfen – Robin hingegen machte es nervös.

„Nun… ich würde es auf jeden Fall nicht ausschließen“, begann sie schließlich. „Schon rein aus Prinzip. Man kann bei niemandem mit völliger Sicherheit sagen, ob er potenziell ein Risiko darstellt, das weißt du ja wohl auch selbst.“

Automatisch nickte Robin. Natürlich tat er das.

„Du kannst mir glauben, dass ich nicht erlaubt hätte, dass er bleibt, wenn ich einen ernsthaften Anhaltspunkt für einen Verdacht gehabt hätte. Du hast vollkommen recht, er hätte dich wohl ohne große Probleme da draußen angreifen können, wenn es ihm darum gegangen wäre, an Geld zu kommen…“

Nun klang ihr Tonfall vorwurfsvoll, und ebenso wirkte auch der Blick, mit dem sie Robin bedachte, was wiederum bewirkte, dass dieser sich auf der Stelle schuldig fühlte.

„Ich weiß, das war vielleicht nicht unbedingt die vernünftigste Entscheidung, einen Fremden auf der Straße anzusprechen und aufzuwecken…“

„Da kann ich dir nur zustimmen.“

„…Und das hätte theoretisch auch anders ausgehen können. Ich weiß doch selber nicht, warum ich nicht einfach weitergegangen bin. Nur irgendwie hätte sich das… falsch angefühlt.“

Da war es wieder – dieses Argumentieren mit Gefühlen. Robin wusste, dass Sapphire das nicht würde nachvollziehen können; es war nicht so, dass sie kein Mitgefühl und keine Empathie besaß, immerhin war sie selbst so ziemlich der hilfsbereiteste Mensch, den er kannte.

Aber niemals hätte sie ein Bauchgefühl alleine zum Anlass genommen, sich selbst in eine solch riskante Situation zu begeben. Sie hätte nachgedacht und abgewogen, und Robin musste zugeben, dass seine Handlung nicht die war, für die man sich bei einer logischen Herangehensweise entschieden hätte.

Sapphire betrachtete ihn, weiterhin mit diesem nachdenklichen Blick. Als wäre sie dabei, zu überlegen, wie sie das, was sie ihm sagen wollte, so in Worte verpacken konnte, dass er sich nicht davon angegriffen fühlen würde.

Schließlich sagte sie: „Gut, mit diesem Gefühlt hattest du ja anscheinend… zumindest vorläufig recht. Und wie gesagt, ich finde auch nicht, dass er sich irgendwie so verhalten hat dass man denken könnte, er sei nicht einfach nur jemand, der ein bisschen Hilfe gebrauchen kann. Bloß wissen können wir es eben nicht. Ich will nur, dass du das nicht vergisst.“

Sie hätte das alles auch wesentlich deutlicher ausdrücken können, das wusste Robin. Hätte ihm direkt ins Gesicht sagen können, dass ein Gefühl keine Basis für eine derartige Entscheidung darstellte, dass man solche Entscheidungen rational treffe musste, wenn man Wert darauf legte, in diesem Umfeld, in dem sie sich bewegten, lange zu überlegen.

Ihm war klar, dass sie sich bei jeder anderen Person weitaus weniger diplomatisch ausgedrückt hätte als sie es bei ihm getan hatte, und dennoch änderte das nichts daran, dass ein gewisser Trotz in ihm hochkochte.

Irgendwie schienen alle Menschen um ihn herum nicht das geringste Problem mit dieser ach so fantastischen Rationalität zu haben. Nur ihm fiel es immer wieder schwer, seine Gefühle auszublenden, musste sich immer dazu zwingen, was ihm im Laufe der Jahre zwar immer leichter gefallen war, jedoch noch immer keine vollkommene Selbstverständlichkeit war.

Und heute war ihm diese Rationalität – möglicherweise vor allem durch den Effekt des Alkohol, wie er sich eingestehen mochte – wohl vollkommen abhandengekommen.

„Du hast mir damals auch geholfen, obwohl du keine Ahnung hattest, wer ich bin“, murmelte er.

Es war eher eine Art Trotzreaktion, ihm war klar, dass das nicht wirklich das Gleiche war, und Sapphires Antwort zeigte, dass sie genau so dachte: „Du weißt ja wohl selbst, dass das nicht vergleichbar ist! Ja, sehr wahrscheinlich brauchte Jonny auch Hilfe, aber dich habe ich damals getroffen, als ein Haufen Gangmitglieder auf dich eingeprügelt hat! Du hast nicht bloß schlafend irgendwo rumgelegen, sondern blutend am Boden! Du wärst nicht vielleicht oder vielleicht auch nicht in absehbarer Zeit an Unterkühlung gestorben, sondern noch in dieser Nacht an deinen schweren Verletzungen! Wäre ich einfach weitergegangen anstatt dir zu helfen, dann wäre ich direkt für deinen Tod mitverantwortlich gewesen. Das wäre etwas, was ich ganz sicher nicht mit meinem Gewissen vereinbaren könnte!“

Im Laufe ihrer Schilderung hatte ihre Stimme einen Klang angenommen, der ziemlich gut das widerspiegelte, was Robin bei den Erinnerungen, die die Worte in ihm hochkommen ließen, empfand: Zittrig und dünn, was so gar nicht zu ihrer sonstigen, selbstbewussten und gefassten Art zu passen schien, und was ein Ausdruck der Angst und des Schmerzes war, den dieses lange zurückliegende Erlebnis in ihnen beiden ausgelöst hatte, und es noch immer tat.

Augenblicklich verspürte Robin das Bedürfnis, aufzustehen und Sapphire zu umarmen. Sich von ihr umarmen zu lassen.

Bevor er aber das oder irgendetwas anderes tun konnte, sah Sapphire ihn bereits wieder an, und in ihrem Blick lag nun etwas entschuldigendes und zugleich liebevolles.

„Tut mir leid. Ich… wollte dich nicht daran erinnern. Das hätte ich nicht tun dürfen!“

„Schon okay“, gab Robin zurück, und auch das war keine Lüge.

Sicher, es war alles andere als angenehm, an diese Nacht zu denken, in der er dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Jahre danach noch hatte es einige, augenscheinlich vollkommen unscheinbare Dinge gegeben, die als Trigger fungiert und ihn sofort all das wieder hatten durchleben lassen. Darüber zu reden war beinahe unmöglich gewesen, und Robin war sich sicher, dass er dieses Erlebnis ohne Sapphire und seine Therapeutin nicht annähernd so gut hätte verarbeiten können, wie es ihm letztlich gelungen war.

Heute war es eine schmerzhafte Erinnerung, die aber eben nicht mehr war als das: Eine Erinnerung.

Vergangen, und nicht mehr dazu fähig, ihn wirklich zu verletzen.

Sapphire musterte ihn, lächelte. Doch es war ein ernstes Lächeln, und ebenso ernst klang auch ihre Stimme, als sie erwiderte: „Nein, das ist nicht okay. Das war unsensibel. Ich wollte nur, dass dir klar ist, dass das nicht wirklich vergleichbar war, mit dem was du gemacht hast… Aber da bin diesmal wohl ich diejenige gewesen, die etwas zu emotional geworden ist.“

Ihre Wortwahl war so durchdacht, wie es immer der Fall war, und dennoch merkte Robin ihr an, dass ihre Gefasstheit, die sie nach außen zur Schau stellte, nicht vollkommen echt wahr.

Sie senkte den Blick, seufzte, nahm einen Schluck von ihrem Saft. Dann fuhr sie fort: „Ich denke, du weißt, dass ich mir sehr schnell Sorgen um dich mache. Aber noch mal: Ich denke keinesfalls, dass deine Entscheidung falsch war! Ich wünschte bloß, du hättest sie aufgrund von gründlichen Überlegungen getroffen, statt wegen deines Bauchgefühls.“

Robin nickte. Das, was Sapphire sagte, war ihm durchaus klar. Er wusste in der Tat, wie schnell sie sich um ihn sorgte, und es wäre gelogen gewesen zu behaupten, dass er sich darüber nicht irgendwo freuen würde.

Seit Sapphire ihn damals gerettet hatte – ihm das Leben gerettet hatte, wie sie vollkommen zutreffend festgestellt hatte – war sie zu der wichtigsten Person in seinem Leben geworden, und das basierte auf Gegenseitigkeit, auch wenn Sapphire es sich nicht immer unbedingt auf den ersten Blick anmerken ließ.

Sie war das, was früher für ihn seine Mutter gewesen war, bevor das alles zerbrochen und sein ganzes Leben aus den Fugen geraten war.

„Schön, dass… wir uns zumindest grundsätzlich einig sind“, meinte er, bevor er ebenfalls nach seinem Glas griff und den kläglichen Rest der rötlichen Flüssigkeit in sich hineinkippte. „Es war auch… eine ziemlich gute Idee von dir, ihm anzubieten, dass er hier arbeiten kann. Und auch sehr nett. Du hättest ihn ja… immerhin auch einfach rausschmeißen können, bei meiner fraglichen Entscheidungsfindung.“

„Oh, das hätte ich bestimmt nicht getan!“, gab Sapphire zurück, und nun lächelte sie wieder, schien ihre gewohnte Fassung zurückerlangt zu haben. „Ich lege schließlich selbst auch Wert darauf, Leuten zu helfen. Ganz davon abgesehen, dass ich ja anfangs noch gar nicht wusste, wie genau euer Aufeinandertreffen abgelaufen und was dein Grund war, ihn mitzubringen. Beziehungsweise…“ Sie musterte ihn, schien abzuwägen, ob sie weitersprechen sollte, und entschied sich letztlich dafür. „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass… er dich an dich selbst erinnert hat. Damals. Und dass das der Grund dafür war, dass… du ihn angesprochen hast. Auch wenn ich gehofft hatte, dass es nicht der einzige Grund gewesen wäre.“

Wieder einmal war Robin fasziniert davon, wie gut Sapphire seine Gedanken zu kennen schien. Möglicherweise war er auch schlichtweg leicht zu durchschauen, aber die Tatsache, dass sie quasi genau das ausgesprochen, was ihm vorhin durch den Kopf gegangen war als er sich mit Jonny unterhalten hatte, beeindruckte ihn zutiefst.

Dennoch zögerte er kurz, bevor er antwortete: „Möglich. Vielleicht hat… das da auch mit reingespielt. Aber wie kommst du darauf? Hast du da so eine große Ähnlichkeit zwischen Jonny und mir bemerkt?“

„Oh… wenn du so fragst, ja, ich finde schon, dass es da Parallelen gibt!“

Sapphire lachte und nippte an ihrem Glas. „Du warst… genau so unschlüssig, ob du meine Hilfe annehmen solltest, nachdem es dir wieder etwas besser ging. Du hast genau so viel hin und her überlegt. Und du warst genau so überfordert damit, dass jemand dir wirkliche Hilfe angeboten hat!“

Sie lächelte, und nun musste auch Robin lachen.

Wenn sie es so ausdrückte, dann war es wirklich mehr als offensichtlich. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass seine Schwierigkeiten, an der Ernsthaftigkeit von Sapphires Hilfsangebot zu glauben, derart groß gewesen waren wie es bei Jonny der Fall zu sein schien, wirkte dieser doch so, als sei er von Grund auf bereits eher misstrauisch, doch die Ähnlichkeit war nun, da Sapphire sie angesprochen hatte, nicht zu übersehen.

„Du hast wohl recht, da sind definitiv Gemeinsamkeiten“, sagte er. „Aber… das spricht ja wohl auch eher dafür, dass er kein schlechter Mensch ist, oder?“

„Ich sage doch, ich glaube nicht, dass er das ist. Wirklich nicht. Ich will nur, dass du nicht zu schnell Vertrauen fasst, nur, weil ihr vielleicht viel Gemeinsam habt. Das wäre einfach… leichtsinnig.“

Robin nickte. Sie hatte recht damit, dass es unklug wäre, zu schnell zu vertrauen, das wusste er, ebenso, wie er wusste, was es für Folgen haben konnte, wenn er es doch tat.

Und so schwer es ihm auch fiel – er würde sich anstrengen, dieses Wissen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

1 -13

Er hatte vollkommen vergessen, wie gut es sich anfühlte, heiß zu duschen.

Bestimmt eine halbe Stunde lang stand Jonny nun bereits unter der Dusche, hatte seinen Gedanken nachgehangen und den heutigen Tag und insbesondere die letzten paar Stunden Revue passieren lassen, und allmählich merkte er, wie die hohe Temperatur des Wassers, die er, seit er hier stand, immer und immer weiter erhöht hatte, auf seinen Kreislauf schlug.

Er fühlte sich benebelt, sein Herz pochte laut – zu laut vielleicht – und sein Körper fühlte sich irgendwie taub an, was den angenehmen Nebeneffekte, dass das heiße Wasser auf seiner Haut nicht schmerzte.

Es wäre besser, langsam zum Ende zu kommen, das war ihm klar, das Wasser abzudrehen, und wieder nach draußen in das in der Tat sehr winzige Bad zu treten, von dem die Dusche allein beinah die Hälfte einnahm und das sich, trotz der Tatsache, dass er die Tür offengelassen hatte, damit die Feuchtigkeit sich nicht zu sehr in dem Raum sammelte, mit Sicherheit gut genug aufgeheizt hatte, dass ihn kein allzu großer Temperaturunterschied erwarten dürfte.

Und trotzdem konnte er sich nicht wirklich dazu durchringen. Noch nicht. Noch zwei Minuten, vielleicht drei…

Die Berührung war so plötzlich da, dass er erschrocken aufschrie. Sie war kaum mehr gewesen als ein Lufthauch, als wäre es bloß der Duschvorhang gewesen, der über Jonnys Hüfte gestrichen hatte, doch das konnte nicht sein, denn dort, wo er die Berührung gespürt hatte, befand sich neben ihm lediglich die Wand.

Die Empfindung, für die es keinerlei erkennbare Ursache zu geben schien, war genau so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetreten war, jedoch nur, um gleich darauf um einiges intensiver zurückzukehren.

Es fühlte sich an, als würde jemand über seinen Rücken streichen, dann wieder über seine Hüfte, und obwohl er sah, dass dort nichts oder niemand war, änderte das nichts daran dass es sich absolut real anfühlte.

Hektisch tastete Jonny nach dem Regler und stellte das Wasser auf einen Schlag aus.

Zog den Vorhang zur Seite und tastete nach dem Handtuch, das er vorhin auf das Waschbecken gelegt hatte, und trat aus der Dusche, wobei das Gefühl der Berührung erneut kurzzeitig verschwand.

Mit hastigen Bewegungen begann Jonny, sich abzutrocknen, wobei er so sehr zitterte, dass er einige Male beinahe das Handtuch fallengelassen hätte.

„Bleib ruhig, da ist nichts. Niemand“, murmelte er, griff nach dem Haufen Klamotten, den er sich aus dem Beutel herausgezogen hatte und zog eine Shorts heraus. Ja, das stimmte, niemand war hier, doch änderte das nichts daran, dass diese Berührungen real gewirkt hatten, als hätte wirklich jemand hinter ihm gestanden und ihn angefasst…

Jemand… Er…

Beinahe wütend schüttelte Jonny den Kopf und nahm sich das nächste Kleidungsstück, das er in die Finger bekam.

Das war jetzt erst mal das Wichtigste: Sich etwas anziehen. Sich weniger verwundbar fühlen. Weniger ausgeliefert. Weniger…

„Oh, wegen mir musst du dich aber nicht extra anziehen!“

Es war nicht das Ding in seinem Kopf, das nun mit ihm sprach. Das Ding konnte gehässig sein, abfällig, manchmal grausam.

Aber seine Anwesenheit hatte Jonny niemals so viel Angst gemacht, ihn sich auf der Stelle dermaßen schlecht fühlen lassen, wie der Klang dieser Stimme, die er jetzt hörte. Am liebsten wäre er losgerannt, einfach weg, raus aus dem Bad, aus der Wohnung, aus dem Gebäude, irgendwohin, ganz egal wo… Hauptsache weg.

Doch das tat er nicht. Zwang sich, ruhig zu bleiben, regelmäßig zu atmen, das Shirt, das er sich gegriffen hatte, über den Kopf zu ziehen, wobei der kurze Moment dabei, in dem er nichts sehen konnte, sich grauenhaft anfühlte.

Wieder eine Berührung, dieses Mal deutlicher. Als würde jemand über seine Schulter streichen, über seinen Arm, über seinen Nacken. Ganz leicht bloß, und doch fühlte es sich an, als drücke man ihm heißes Metall auf die Haut.

„Jonny, rede mit mir“, flüsterte die Stimme. Sie klang nun ganz nah, ließ ihn erschaudern und das Bedürfnis, zu rennen, noch einmal größer werden.

Ohne es wirklich zu wollen erwiderte Jonny: „Lass mich. Du bist nicht wirklich hier…“

Das mochte stimmen, doch die Tatsache, dass er selbst antwortete, ließ ihn nicht gerade überzeugend wirken.

Ein Arm legte sich von hinten um seine Schulter. Er war nicht zu sehen, war körperlos, genau wie die Stimme, und dennoch da, ebenso wie das leise Kichern, das nun erklang, und Jonny ein weiteres Mal zusammenzucken ließ.

Dieses Kichern.

Sein Kichern.

Dieses ganz spezielle Kichern, das darauf hindeutete, dass er wütend war, dass ihm etwas nicht gefallen hatte, dass er der Meinung war, etwas klarstellen zu müssen.

Aber er ist nicht hier!, versuchte Jonny, sich klarzumachen, während er versuchte, sich die Jogginghose, die Sapphire ihm zum Schlafen rausgesucht hatte, anzuziehen, aber seine Hände zitterten so stark, dass er sie fallen ließ.

Reflexartig kniete er sich hin, um sie aufzuheben, wollte sich gerade wieder aufrichten, als er einen Stoß in den Rücken bekam, der dafür sorgte, dass er nach vorne stürzte und um ein Haar mit dem Kopf gegen die Toilettenschüssel geprallt wäre.

Einen Augenblick lang lag er vollkommen erstarrt da, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen, und im nächsten Moment spürte er ein Gewicht auf seinem Rücken, das es ihm vollkommen unmöglich machte, sich aufzurichten.

Erschrocken schnappte er nach Luft, merkte, wie Panik im Begriff war, in ihm aufzusteigen, während er gleichzeitig versuchte, eben diese zurückzudrängen…

Ruhig, ganz ruhig, das passiert nicht wirklich, das ist nur in deinem Kopf, er ist nicht wirklich hier…

Wie zum Beweis des Gegenteils antwortete die Stimme – Seine Stimme – in einem zugleich amüsierten und verärgerten Tonfall: „Red dir das ruhig ein, wenn es das für dich leichter macht, Jonny-Boy! Du hättest doch wissen müssen, dass du nicht vor mir weglaufen kannst! Ich hab es dir gesagt!“

Oh ja, das hatte er getan. Und er hatte Jonny auch unmissverständlich klargemacht, wie ernst es ihm mit dieser Aussage gewesen war…

„Du hättest das nicht tun sollen. Du hättest bei mir bleiben sollen.“

Das Gefühl von Händen, die über seine Schulterblätter strichen, während das unsichtbare Gewicht auf ihm ihm das Atmen schwer machte.

„Du hättest nicht weglaufen sollen!“

Jonny spürte, wie jemand in seine Haare griff und sich darin festkrallte. Sein Kopf wurde zurückgerissen und er schrie vor Schreck und Angst auf, schloss die Augen, bloß um sie gleich darauf wieder zu öffnen, weil die Schwärze noch grauenhafter war als der Anblick der vergilbten Badezimmerwand…

Eine der nicht wirklich existenten, sich dafür aber verdammt echt anfühlenden Hände strich über seinen Hals, während die andere ihn weiter an den Haaren fest hielt und ihn bei jedem der folgenden Worte leicht schüttelte, als wäre er eine Katze,, die man im Genick gepackt hatte: „Du gehörst mir! Hast du das etwa vergessen? Ich dulde nicht, dass mein Eigentum mich so behandelt! Mich einfach so stehenlässt und wegrennt! Sich vor mir versteckt! Nach allem, was ich für dich getan habe!“

Er sollte aufhören. Sollte ihn in Ruhe lassen, einfach verschwinden, aus diesem Bad, aus seinem Kopf, aus seinem Leben!

Jonny keuchte vor Schmerz, als er wieder nach unten gestoßen wurde und mit der Schläfe auf dem Boden aufschlug, während das Gewicht auf ihm sich plötzlich zu verdoppeln schien, sämtliche Luft aus seinen Lungen presste, es ihm vollkommen unmöglich machte, zu atmen…

Das ist nicht echt!, versuchte er noch einmal, sich ins Gedächtnis zu rufen, während die Hand, die nun über seine Wange strich, diese Behauptung unglaubwürdig erscheinen ließ.

Er ist nicht wirklich hier, er hat keine Ahnung, wo ich bin, er wird mich nicht finden, er…

An diesem Punkt endeten seine Gedanken, als wären sie ein altes Tonband, das plötzlich und unerwartet gerissen war. Da war nur noch Stille, und das Gefühl, dass sein Körper, auf dem immer noch dieses unglaubliche Gewicht lastete, nicht mehr ihm zu gehören schien, irgendwie weit entfernt war, als wäre er von ihm abgetrennt worden…

Fühlte es sich so an, wenn man starb?

War das möglich? Konnte man durch etwas sterben, das eigentlich gar nicht wirklich da war?

Allerdings fragte Jonny sich in diesem Augenblick ebenso, ob es sich überhaupt lohnte, über diese Frage nachzudenken.

Oder ob er den Tod, falls es wirklich das war, was diese seltsame Abspaltung von seinem eigenen Körper verursachte, nicht einfach dankbar hinnehmen sollte.

1 -14

Anders als Jonny hatte es keinesfalls das Gefühl, dass diese Berührungen irgendetwas realistisches an sich hatten.

Sicher, Es spürte sie durchaus, auch das Gewicht, das auf seinem Rücken lastete, aber das war nicht echt, und auch nichts, was es davon abhalten konnte, sich aufzurichten und zu erheben.

Das Gewicht fiel von ihm ab wie ein Mantel, den man abstreifte, die Berührungen verschwanden, ließen noch kurz ein unangenehmes Gefühl zurück, dort, wo sie zu spüren gewesen waren, aber auch das verblasste schnell.

Obwohl es wusste, dass es nichts würde erblicken können, was der Auslöser für Jonnys Panik und seinen Zusammenbruch gewesen war – oh, es gab einen Auslöser, aber der war nicht wirklich hier und würde es hoffentlich auch nie sein – blickte es sich in dem winzigen Raum um, inspizierte die Dusche mit dem zurückgezogenen Vorhang, das Waschbecken (wer kannte sie nicht, die Gefahren, die sich in Waschbecken versteckten) und den Spiegel, warf noch einen kurzen Blick in den Nebenraum und machte sich dann daran, sich die Jogginghose anzuziehen, die Jonny so ungeschickt auf den Boden hatte fallen lassen.

Es war lange her, dass so etwas das letzte Mal in diesem Ausmaß passiert war.

Verfolgt gefühlt hatte Jonny sich oft, und das war auch gut so, das sorgte dafür, dass er nicht leichtsinnig wurde, normalerweise zumindest.

Das, was er heute getan hatte und weswegen sie beide nun letztlich hier gelandet waren, konnte man zwar durchaus als „leichtsinnig“ bezeichnen, aber…

Das war kein Grund, dass es Jonny gewünscht hätte, einen derartigen Horrortrip erneut zu durchleben. Der Junge mochte manchmal naiv sein, so sehr, dass es wirklich wütend darüber wurde, dass es wünschte, er würde merken, was das für Konsequenzen haben könnte.

Aber nicht so. Nicht durch derartige psychotische Flashbacks.

Nachdem es das Handtuch zum Trocknen über das Waschbecken gelegt hatte – nicht, dass es sich normalerweise viel aus Ordnung machte, es war mehr eine automatische Handlung – schaltete es das Licht aus, ging zurück in die spartanische Kombination aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche und löschte auch dort das Licht.

Bevor es sich im Dunkeln zurück zum Bett tastete, drückte es die Türklinke hinunter, rüttelte ein paar Mal daran, um sich zu vergewissern, dass wirklich abgeschlossen worden war, wandte sich dann um und ließ sich auf die Matratze fallen.

Das Bett knarrte bedenklich, was es dazu veranlasste, argwöhnisch eine Augenbraue hochzuziehen. Es, beziehungsweise Jonny, wog wirklich nicht viel, und unwillkürlich stellte es sich die Frage, was sonst schon für Leute in diesem Zimmer gewohnt hatten.

Aber eigentlich war das auch unwichtig. Nichts, womit es seine Zeit verschwenden sollte.

Ein weiteres Knarren, als es sich auf dem Bett ausstreckte und die Decke über sich zog.

Niemals, hätte es Jonny gegenüber diese Tatsache zugegeben, doch in diesem Moment, in dem es auf der weichen Matratze lag, spürte, wie sich die Wärme, die die heiße Dusche bereits auf seiner Haut erzeugte, sich nun auch in seinem Inneren ausbreitete, kam ihm die Entscheidung, das Angebot von diesem Robin anzunehmen und zu bleiben, nicht mehr wirklich falsch vor. Nicht ungefährlich, aber irgendwo in der Tat vernünftig.

Es hatte kein wirkliches Problem mit Kälte, so, wie es alle möglichen Extreme gut ertragen konnte – Hitze, Angst, Schmerz. Zumindest momentan empfand es die Temperaturen draußen noch als absolut erträglich.

Aber ihm war nicht entgangen, wie sehr das kühle Wetter Jonny schwächte.

Der Junge besaß kaum mehr Klamotten, als er am Körper trug, und nichts dafür war für den Winter geeignet, der unaufhaltsam näher rückte, abgesehen vielleicht von dem Mantel, der aber auch nicht sonderlich dick war. Fast an jedem Morgen der vergangenen Tage war Jonny mit schmerzenden Gliedmaßen aufgewacht und hatte erst einmal eine ganze Weile gebraucht, um überhaupt halbwegs zu irgendwelchen Handlungen in der Lage zu sein, und noch einmal länger, um seinen jeweiligen Schlafplatz zu verlassen und sich auf den Weg zu machen.

Er hatte mehr als Glück gehabt, dass es zu keinem dieser Zeitpunkte nötig gewesen war, sich zu verteidigen, denn dazu wäre er kaum in der Lage gewesen, selbst dann nicht, wenn es ihm dabei geholfen hätte.

Auch das hätte es ihm gegenüber nie eingestanden, aber Jonny hatte recht gehabt als er gesagt hatte, dass die Alternative, weiterhin auf der Straße zu leben, nicht unbedingt sicherer war.

Optimal war wohl keine der beiden Optionen, doch allmählich konnte es sich mit dem Gedanken anfreunden, diese Möglichkeit, etwas zur Ruhe zu kommen, zu nutzen und neue Kräfte zu sammeln. Natürlich ohne dabei unaufmerksam zu werden.

Wie es dann weiterging, würde es sich schon überlegen, selbstverständlich war es keine Perspektive, lange zu bleiben, aus verschiedenen Gründen. Allen voran der Tatsache, dass es grundsätzlich unklug wäre, sich zu lange an einem Ort aufzuhalten. Schlimm genug, dass Jonny sich bisher geweigert hatte diese Stadt zu verlassen, wo sie doch keine dreißig Meilen von dem Ort entfernt lag, von dem sie geflohen waren.

Es war frustrierend, wie sentimental er manchmal sein konnte, dass er es nicht über sich brachte, seine sogenannte Heimatstadt hinter sich zu lassen, aber es hatte keine Lust mehr, sich darüber aufzuregen.

Das Wichtigste war, dass sie sich unauffällig verhielten. Keine Spuren hinterließen.

Bloß nichts taten, was Seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte.

Und falls das doch passieren sollte… falls es sich wirklich nicht vermeiden sollte, so sehr sie auch aufpassten… dann würde es alles tun, um sich zu verteidigen und Jonny zu beschützen.

Kostete es, was es wolle.

1 -15

Jeanny war noch wach, als Lea das gemeinsame Zimmer betrat. Sie lag in ihrem Bett vertieft in ein Buch, das sie mit der kleinen Leselampe, die sie an den Rand geklemmt hatte, beleuchtete, blickte jedoch sofort auf, als sie das Quietschen der Tür vernahm.

Selbst in der Dunkelheit konnte Lea das aufgeregte Glitzern in den Augen ihrer Freundin erahnen, den neugierigen Blick spüren, mit dem sie sie musterte, während sie fragte: „Und? Hat alles geklappt? Hast du es geschafft?“

Lea nickte, bevor ihr klar wurde, dass Jeanny, die ihre Brille nicht trug, das wohl nicht sehen konnte, worauf sie laut hinzufügte: „Ja. War alles…gar kein Problem.“

Gar kein Problem. Und viel leichter, als sie erwartet hatte.

„Du musste mir unbedingt alles erzählen!“ Trotz ihrer gedämpften Stimme – eigentlich sollte sie längst schlafen, die vorgeschriebene Schlafenszeit war lange verstrichen – war Jeanny ihre Aufregung deutlich anzuhören, sie schien beinahe zu platze vor Neugierde.

Wieder nickte Lea. „Ja, sicher. Morgen. Jetzt will ich… einfach nur schlafen.“

„Versteh ich. Sollte ich auch langsam tun. Aber ich konnte einfach nicht, ohne zu wissen, ob du es geschafft hast!“

Es kostete Jeanny hörbar Mühe, leise zu sprechen, normalerweise war sie nicht der Typ, der so etwas tat, im Gegenteil. Sie löste ihre Leselampe von ihrem Buch, während Lea zu ihrem Bett ging und sich darauf legte – ihre Schlafsachen hatte sie bereits angezogen, nachdem sie sich unter der Dusche das Blut abgewaschen hatte – klappte das Buch zu, legte es auf ihren Nachttisch und schaltete die Lampe aus.

Dunkelheit erfüllte den Raum, und einen Augenblick lang, ohne, dass es dafür einen bestimmten Grund gegeben hätte, überkam Lea das grauenhafte Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Ganz ruhig, versuchte sie, sich zu beruhigen. Du bist einfach gestresst. Kein Wunder nach diesem Abend. Aber dafür gibt es keinen Grund, es ist alles gut gegangen…

Ja. Das war es. Gut. Es war alles gut.

Sie war bereits im Begriff, gedanklich abzudriften und in einen tiefen Schlaf zu sinken, aus dem sie am nächsten Morgen wohl nur schwer wieder erwachen würde, als ein weiteres Mal Jeannys Stimme erklang. Sie flüsterte bloß, dennoch zuckte Lea zusammen, als hätte sie sie angeschrien.

„Sag mir wenigstens, wie es sich angefühlt hat! Bitte!“

Lea unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste, dass Jeanny wahrscheinlich keinen Schlaf würde finden können, bevor sie eine Antwort auf diese Frage bekommen hatte, und sie konnte sich wohl glücklich schätzen, dass es nur diese eine Sache war, die sie momentan wissen wollte. Sie mochte Jeanny, aber deren Aufgekratztheit und Ungeduld konnte manchmal durchaus sehr anstrengend sein.

„Tja… schwierig, zu beschreiben.“ Leas Erwiderung kam ein wenig zögerlich, und sie entsprach nur zur Hälfte der Wahrheit.

Ja, es war schwierig in Worte zu fassen, was sie empfunden hatte, als sie ihrer gesamten Familie das Leben genommen hatte. Aber der Hauptgrund dafür war, dass sie sich nicht mehr ganz sicher war, was sie dabei gefühlt hatte.

Irgendwie war alles hinter eine Art Nebel verschwunden, fühlte sich dumpf an, als hätte jemand die Gefühle genommen und sie weggebracht, irgendwo hin, wo Lea sie zwar sehen, aber nicht erreichen konnte.

Während sie es getan hatte, hatte sie sich so lebendig gefühlt, so energiegeladen, so…gut.

Und nun kam sie sich vor wie betäubt.

Aber das konnte sie Jeanny nicht sagen. Die würde das bloß komisch finden, hatte sie selbst doch schon des Öfteren von dem Tag erzählt, an dem sie die Familienmitglieder, die sie noch gehabt hatte – ihre Mutter, ihren Stiefvater und ihren Halbbruder – umgebracht hatte, und wie sehr sie es genossen hatte, wie frei sie sich dabei gefühlt hatte.

Hatte Lea das vorhin nicht auch noch getan? War sich frei vorgekommen? Wo war dieses Empfinden jetzt?

Jeannys Stimme riss sie aus den Gedanken; sie klang noch ungeduldiger als zuvor.

„Komm schon, versuch’s wenigstens! Lass mich nicht so hängen!“

„Schon gut, schon gut. Es war…“

Wieso bloß fielen ihr keine Worte ein? Irgendetwas, das Jeanny zumindest vorläufig zufriedenstellen würde?

„…Intensiv.“, beendete Lea schließlich ihren Satz. Ja, das war eine gute Beschreibung. Besser als nichts zumindest. „Ich hab mich… wirklich lebendig gefühlt.“

Das war nicht einmal gelogen, wenn sie sich richtig erinnerte, auch, wenn sie im Grunde bloß die Worte benutzte, mit denen Jeanny immer ihr entsprechendes Ereignis beschrieben hatte.

Das schien allerdings genau das zu sein, was diese hören wollte.

„Ich weiß! Es ist unglaublich, oder?“, flüsterte sie aufgeregt, wobei sie sich anscheinend hektisch bewegte, denn ihr Bett machte einige knarrende Geräusche.

Lea nickte wieder, und dieses Mal war es ihr egal, dass Jeanny sie nicht sehen konnte.

Sie wollte einfach bloß schlafen.

„Ja. Gute Nacht“, murmelte sie, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass Jeanny weiter nachhaken würde, doch dem war nicht so.

Stattdessen erhielt sie bloß ein leises „Gute Nacht“ als Antwort, gefolgt von dem Rascheln einer Bettdecke, dann herrschte Stille.

Angenehme Stille.

Trotz der Tatsache, dass Lea unfassbar müde war, sich beinahe wie erschlagen fühlte, dauerte es, bis es ihr letztlich gelang, einzuschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihr im Kopf herum, die sie nicht abschalten konnte, die sie verwirrten und wach hielten und die Zweifel, die, seit sie hierher zurückgekommen war und begonnen hatte, dich das Blut abzuwaschen, langsam aber deutlich begonnen hatten, in ihr zu wachsen, noch stärker werden ließen.

Kein Grund zur Sorge!, versuchte sie, sich einzureden, zog sich die Decke über den Kopf, als würde sie das vor ihren eigenen Gedanken schützen. Das ist einfach nur der Stress. Das war ein großer Schritt heute Nacht, aber es war nötig. Es war das Richtige!

Ja, das war es. Daran gab es überhaupt keinen Zweifel.

Und morgen, wenn das Tageslicht die Dunkelheit verdrängte und damit auch die finsteren Überlegungen, die sich in Lea ausbreiteten und sie um den Schlaf brachten, würde sie selbst auch wieder vollkommen daran glauben.

2 -1

Jonny wusste nicht, warum er rannte, er wusste nur, dass er es tun musste.

Sein Atem ging schwer, sein Brustkorb schmerzte, seine Beine fühlten sich an, als würden sie jeden Moment unter ihm wegknicken, und obwohl die umstehenden Häuser an ihm vorbeiflogen und er seine Schritte auf dem rissigen Asphalt hören konnte kam es ihm gleichzeitig so vor, als würde er keinen Zentimeter von der Stelle kommen.

Das ist ein Traum, schoss es ihm durch den Kopf, während er um eine Ecke rannte und in eine Straße abbog, die vollkommen identisch war mit der, aus der er soeben gekommen war.

Das ist ein Alptraum, in Alpträumen ist es vollkommen normal, dass man nicht wirklich wegrennen kann, aber es ist eben nur das, nur ein Traum…

Als hätte diese Erkenntnis gereicht, um die Stabilität dieses Traumes zu kippen, zerflossen die Konturen der Gebäude um ihn herum wie flüssiger Teer. Die Häuser verschwanden, der Boden löste sich auf, zumindest augenscheinlich, doch Jonny hatte nicht das Gefühl, zu fallen.

Im nächsten Moment baute sich die Umgebung um ihn herum neu auf, besaß nun ein anderes Aussehen, eines, das ihm erst seit dem heutigen Abend bekannt war, das sein Unterbewusstsein jedoch erstaunlich detailgetreu nachzubauen zu vermochte…

Er befand sich in Sapphires Bar.

Saß auf einem der Stühle, der seltsam deplatziert in der Mitte des Raumes stand und so normalerweise alles Gästen im Weg gewesen wäre, doch im Moment würde das kaum ein Problem darstellen, denn es gab keine Gäste.

Abgesehen von ihm war der Raum vollkommen leer.

Er wollte aufstehen, von hier verschwinden, oder zumindest hinter der Theke oder unter einem der Tische Schutz suchen, denn was auch immer ihn in seiner vorigen Traumsequenz verfolgt hatte, er war sich sicher, dass es seine Suche nach ihm noch nicht aufgegeben hatte.

Im nächsten Moment jedoch merkte Jonny, dass sich zu verstecken für ihn nicht möglich sein würde. Ebenso wenig, wie erneut wegzurennen.

Er konnte überhaupt nichts tun, denn aus irgendeinem Grund war er an dem Stuhl, auf dem er saß, festgebunden.

Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken, als er den Blick senkte und seine Handgelenke anstarrte, oder eher die Seile, mit denen sie an den Stuhllehnen gefesselt waren, so fest, dass er sie keinen Millimeter bewegen konnte.

Sein Atem, der gerade dabei gewesen war, sich nach seiner Flucht ein wenig zu beruhigen, ging nun wieder schneller, das Adrenalin schoss durch seinen Körper, aber dieses Mal konnte er eben nicht rennen, so sehr sein Körper auch wollte, dass er es tat.

Alles was er tun konnte, war dazusitzen, erfolglos zu versuchen, seine Fesseln zu lockern, wobei sie rauen Seile schmerzhaft in seine Haut schnitten und sie aufschürfte, und abzuwarten, was passieren würde…

Wieso konnte er nicht einfach aufwachen?

Er wusste, dass es ein Traum war, und normalerweise sollte dieses Wissen dafür sorgen, dass der Traum endete, die Bilder und die Empfindungen verschwanden und er in der Lage war, die Augen zu öffnen und sich dort wiederzufinden, wo er am vorigen Abend eingeschlafen war.

Aber nichts davon passierte.

Die Umgebung blieb, genau wie das Gefühl der Fesseln, nichts verblasste, nichts wurde undeutlicher. Fühlte sich im Gegenteil eher noch realistischer an.

Dann erklangen Schritte hinter ihm.

Sie bewegten sich ohne Zweifel auf ihn zu, in einem Tempo, das nahezu unnatürlich langsam zu sein schien, und keinen Zweifel daran ließ, dass ihr Urheber ganz genau wusste, dass Jonny nicht vor ihm weglaufen konnte.

Wer auch immer ihn durch die Straßen und Gassen verfolgt hatte – und er fürchtete, nur zu gut zu wissen, wer es war – die Person hatte ihn gefunden. Konnte sich nun alle Zeit der Welt nehmen, um zu tun, was auch immer sie tun wollte, ohne, dass Jonny in der Lage war, irgendetwas dagegen zu tun.

Bei dieser Vorstellung wurde ihm schlecht.

Ja, es war bloß ein Traum, aber gleichzeitig war es viel mehr als das, genau wie sein Erlebnis am Vorabend, an das er sich plötzlich wieder ausgesprochen deutlich erinnerte.

Die Berührungen und die Stimme waren auch nicht echt gewesen.

Doch das hatte keine Rolle gespielt, denn sie waren ihm absolut echt vorgekommen!

Als hätte die Person bloß darauf gewartet, dass Jonny diese Szene wieder deutlich vor Augen hatte, als könnte sie seine Gedanken lesen, stieß sie nun ein spöttisches Lachen aus, und sollte Jonny noch irgendeinen Zweifel daran gehabt haben, dass es sich bei seinem Verfolger wirklich um Ihn handelte, so wäre dieser Zweifel somit vollkommen ausgelöscht worden.

Im nächsten Augenblick war Er direkt hinter Jonny, so dicht, dass der Seinen Atem spüren konnte, während Er mit ihm sprach: „Ich habe dir gesagt, dass ich dich überall finde. Ich habe es dir gesagt! Du hättest einfach hören sollen, aber nein… jetzt sieh dir an, wohin uns dein Verhalten gebracht hat. Sieh dir an, was ich deinetwegen jetzt tun muss…“

„Dann tu’s einfach“, flüsterte Jonny, und er war selbst überrascht, wie fest seine Stimme klang. „Bring mich einfach um!“

Das Wissen, dass das alles nur ein Traum war, war in den Hintergrund gerückt. Wahrscheinlich spielte das auch gar keine Rolle, er würde vielleicht wieder aufwachen und augenscheinlich unverletzt sein, aber wenn sich die Fesseln, Sein Atem und die Angst derart realistisch anfühlten, dass würden das die Schmerzen sicher auch tun.

Er würde sich wirklich fühlen, als würde er sterben, und er konnte bloß hoffen, dass diese von seinem eigenen Unterbewusstsein erschaffene Projektion seiner wohl größten Furcht es möglichst kurz machen würde.

„Dich umbringen?“ Die Stimme lachte, ein Klang, der Jonny ein weiteres Mal erschaudern ließ. „Oh, ich werde dich nicht einfach umbringen, Jonny-Boy! Dafür schuldest du mir zu viel!“

Jonny hatte befürchtet, dass Er das sagen würde. Es war nicht der Tod, der ihm am meisten Angst machte, das wusste Er ganz genau, und darum würde Er ihn auch nicht so leicht davonkommen lassen.

Wieder zerrte Jonny an den Fesseln, doch der einzige Effekt, den diese Handlung mit sich brachte, war, dass hinter ihm ein hämisches Lachen erklang.

„Du solltest deine Kraft lieber sparen! Du wirst mir nicht entkommen, dieses Mal nicht.“

Eine Hand legte sich auf Jonnys Schulter, strich über seinen Hals und seine Wange.

Dieses Mal konnte er sie sogar sehen, wenn auch bloß aus den Augenwinkeln.

Dieses Mal war es keine körperlose Stimme.

Während sein Herz und sein Puls immer schneller rasten, schloss Jonny die Augen.

Ihn zu hören war schlimm genug, zu spüren, was Er tat, noch schlimmer.

Aber wenn er Ihn dabei auch noch würde sehen müssen, würde er wahrscheinlich vollkommen den Verstand verlieren.

Genau das jedoch war es, was Er unter anderem von ihm verlange.

Jonny merkte, wie die Berührungen kurz verschwanden, nur, um gleich darauf wieder zurückzukehren, und nun, das wusste er, ohne die Augen zu öffnen, stand Er direkt vor ihm.

„Sieh mich an, Jonny“, murmelte Er, in einem Tonfall, der mit einem Mal weich, geradezu zärtlich klang.

Das war schlimmer, als wenn er wütend gewesen wäre oder geschrien hätte.

Viel schlimmer.

Die Lider weiterhin fest geschlossen schüttelte Jonny den Kopf. Ihm war klar, dass seine Gegenwehr kaum etwas bringen würde, dass Er am Ende immer bekam, was Er wollte.

Als hätte Er ein weiteres Mal Jonnys Gedanken gelesen, was in Anbetracht der Tatsache, dass das hier immer noch ein Traum war, wohl nicht unwahrscheinlich war, ertönte nun wieder Seine Stimme, und nun hatte sie nichts Zärtliches mehr an sich: „Sei nicht so stur! Du hast lange genug mit mir gespielt! Ich habe keine Lust mehr, meine Zeit mit dir zu verschwenden! Sieh! Mich! An!“

Jonny wollte nicht, aber seine Augen öffneten sich wie automatisch.

Er sah die Gestalt, die vor ihm stand, sich zu ihm gebeugt hatte und die Hände auf den Armlehnen abstützte, ihn mit einem Blick musternd, da ihn auf der Stelle erzittern ließ.

Es waren schon immer Seine Augen gewesen, die Jonny am meisten verunsichert hatten. Dieser Ausdruck, der darin lag, wenn irgendetwas Ihn verärgerte oder einfach nicht so lief, wie Er es wollte.

So kalt und emotionslos. Berechnend. Und ohne jedes Mitleid.

„Sehr schön“, murmelte Er, sich dabei weiter vorbeugend. „Es bringt dir nichts, die Augen zu verschließen. Und denk dran… alles, was passiert, ist deine eigene Schuld.“

Ein Seufzen, ein Kopfschütteln. Eine weitere Veränderung in Seinem Tonfall.

Nun hörte er sich an, als wäre er schlicht vollkommen enttäuscht von allem, was geschehen war.

„Ich verstehe einfach nicht, warum du das gemacht hast. Ich habe doch so viel für dich getan. Du warst alles für mich! Ich habe dich geliebt!“

Eine Hand legte sich auf Jonnys Knie, ließ ihn heftig zusammenzucken.

Jonny sah die Hand an, versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und gleichzeitig seinen Atem zu kontrollieren, zwei Unterfangen, die in diesem Augenblick gleichermaßen unmöglich erschienen.

Die Worte hallten in seinem Kopf wider, vermischten sich zu einem undurchdringlichen Wirrwarr, setzten sich fest wie eine Zecke und schienen ihn in Endlosschleife anzuschreien: Warum? Warum? Ich habe so viel für dich getan! Warum? Du warst alles für mich! Ich habe dich geliebt! Warum? Geliebt!

Worte, die wie Nadelstiche in seinem Hirn schmerzten und die Übelkeit in ihm noch stärker werden ließen.

„Ich war nicht alles für dich…“, flüsterte Jonny. Er hatte nichts sagen wollen, aber irgendwie schien er keine wirkliche Kontrolle mehr über sich zu haben, die Worte waren einfach so herausgekommen, und nachdem er nun angefangen hatte, zu reden, konnte er nicht mehr damit aufhören.

„Ich war dein Spielzeug! Du hast mich nicht geliebt, du hast es geliebt, mich zu kontrollieren! Du…“

Der Schlag, der ihm direkt im Gesicht traf, war so heftig, dass er mitsamt dem Stuhl umgekippt wäre, wäre dieser nicht festgehalten worden.

Im ersten Moment tat es nicht einmal weh. Fühlte sich eher taub an, so, als hätte etwas Kaltes zu lange auf seiner Haut gelegen. Er schmeckte Blut, merkte, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen… weinte er wirklich, oder war das bloß eine rein körperliche Reaktion auf den Schlag?

Dann kam der Schmerz.

Jonny hatte recht gehabt mit seiner Vermutung: Es war wirklich vollkommen gleichgültig, dass das hier bloß ein Traum war.

Den Schmerz kümmerte das nicht. Er war derart stark, dass Jonny glaubte, sein Jochbein wäre gebrochen, er unterdrückte das Bedürfnis, zu schreien, wusste, dass Ihn das bloß erfreuen würde, dass es für Ihn das Schönste wäre, zu sehen, wie Jonny litt.

Diese Genugtuung würde er Ihm nicht geben.

„Wag es nicht, so mit mir zu reden!“, fauchte er, stützte sich dabei nun auf Jonnys Handgelenken ab, was in diesem augenblicklich die Angst hochkommen ließ, dass jeden Moment seine Knochen unter dem Gewicht brechen würden. „Das ist der Dank dafür, dass ich dir geholfen habe? Dass ich verhindert habe, dass du elendig auf der Straße verreckt bist wie eine dreckige Ratte? Dass ich mich als Einziger für dich interessiert habe?“

Jonny sah den Mann an, der da so dicht vor ihm stand, ihn mit diesem Blick anstarrte, der so hasserfüllt war wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Der metallische Geschmack in seinem Mund war stärker geworden, und kurz überkam Jonny das Bedürfnis, diesem verdammten Arschloch das Blut einfach ins Gesicht zu spucken.

Das würde nichts bringen, ihm nicht dabei helfen, aus dieser Situation zu entkommen, aber vielleicht wäre es zumindest ein gutes Gefühl.

Was würde ihm überhaupt dabei helfen, zu entkommen? Da war nichts, was ihm einfiel, und selbst wenn, wenn er es irgendwie schaffen würde, seine Fesseln zu lösen, die Person vor ihm wegzustoßen und aufzuspringen, vielleicht sogar nach draußen zu rennen... was dann?

Dann würde er wieder weglaufen.

Durch verworrene Straßen und enge Gassen, hinter sich weiterhin die Schritte seines Verfolgers, der ihn früher oder später ohnehin erreichen würde...

Vielleicht würde er es schaffen, vorher aufzuwachen. Verdammt, es musste doch möglich sein, diesem Traum zu entkommen... war es überhaupt noch ein Traum? Oder war er schon längst aus einer Schlafphase in einen Zustand übergegangen, der kein richtiger Schlaf war, aber auch nicht wirklich wach, in dem es vollkommen unmöglich war zu unterscheiden, was real war und was nicht...

Das alles hier war es nicht, oder?

...So war es doch...?

Wie zum Beweis des Gegenteil spürte Jonny in diesem Moment eine Hand an seinem Hals. Sie legte sich um seine Kehle, drückte ihm die Luft ab, gerade so stark, dass er noch genügend Sauerstoff bekam um nicht das Bewusstsein zu verlieren, dabei aber instinktiv nach Atem rang und wieder heftig an seinen Fesseln zerrte, als sein Körper sich in aufkommender Panik verkrampfte.

Er trat nach seinem Angreifer - dass seine Beine nicht fixiert waren wurde ihm jetz erst bewusst - und traf auch irgendetwas, was vermutlich dessen Schienbein war, doch die einzige Wirkung, die diese Handlung nach sich zog, war, dass der Griff um seinen Hals noch stärker wurde.

"Hör auf, dich zu wehren", blaffte ihn die Person an, von der Jonny so sehr gehofft hatte sie niemals wieder zu sehen, die ihn jedoch seit seiner Flucht immer wieder in seinen Träumen heimgesucht hatte. Dies hier jedoch war von der Intensität und dem gefühlten Realismus her ein absoluter Höhepunkt.

"Wenn du einfach ruhig bist, dann ist es auch schneller vorbei..."

"Fick dich!"

"...Was?"

Einen Augenblick lang lockerte sich der Griff, was Jonny die Gelegenheit gab, nach Luft zu schnappen und kostbaren Sauerstoff einzuatmen.

"Ich sagte Fick dich!", wiederholte er, dabei das Bedürfnis unterdrückend, zu husten, was ihm so lange gelang, bis Er seinen Griff wieder verstärkte.

Einen Augenblick lang schien sein Gegenüber sprachlos zu sein. Fassungslos starrte Er Jonny an, Sein Augenlid zuckte, ebenso wie Sein Mundwinkel, offenbar hatte Er große Schwierigkeiten, Seinen Körper in diesem Moment unter Kontrolle zu halten.

Auch Seine Stimme hatte etwas Instabiles, Zittriges an sich, als Er sich noch etwas vorbeugte und zischte: "Das hast du gerade nicht wirklich gesagt. Sag mir, dass ich mich verhört habe. Sag mir, dass du nicht so mit mir geredet hast!"

Es kostete Jonny unfassbar viel Mühe, dem von Wut erfüllten Blick, der auf ihn gerichtet war und ihn zu durchbohren schien, standzuhalten.

Wäre da nicht tief in seinem Hinterkopf noch immer der Gedanke gewesen, dass das alles nur ein ausgesprochen realistischer Traum war, dann hätte er dies wohl kaum geschafft - so jedoch klammerte er sich daran fest wie an einen Rettungsanker, wiederholte die Worte im Stillen immer und immer wieder.

Es ist nicht echt. Es ist nicht echt. Es ist nicht echt.

Laut, so laut jedenfalls, wie die Hand an seiner Kehle es zuließ, sagte er: "Nein, du hast dich nicht verhört! Lass mich los, lass mich in Ruhe, verschwinde und..."

Im nächsten Moment spürte Jonny, wie der Griff an seinem Hals sich löste. Dann umklammerten zwei Hände seinen Kopf, drückten so fest gegen seine Schädelknochen dass er befürchtete, diese könnten jeden Augenblick brechen, und wieder war es mit einem Mal vollkommen gleichgültig, dass das bloß ein Traum war...

Die Todesangst, die in ihm hochkroch, war absolut echt.

Der wütende Blick war noch immer auf Jonny gerichtet, doch nun hätte sich zu dem Ausdruck von Zorn, der alleine schon beängstigend genug war, noch etwas anderes hinzugemischt.

Etwas, das noch viel, viel beunruhigender war.

„Ich hätte nie meine Zeit mit dir verschwenden sollen“, murmelte Er, mit einer Stimme, die jegliche Emotion verloren hatte und die exakt zu dem Wahnsinn in Seinen Augen passte. Sein Griff verstärkte sich, ließ Jonny glauben, seine Kieferknochen knacken zu hören.

„Ich hätte dich nie so besonders behandeln sollen! Ich habe gedacht, dass du etwas Besonderes bist, dabei bist du die Luft nicht wert, die du atmest! Und ausgerechnet du bist der, der noch da ist? Der überlebt hat? Oh, deine Eltern wären sicher stolz, wenn sie dich heute sehen würden! Wenn sie wüssten, was aus dir geworden ist!“

Das war nicht mehr Er, der dort sprach. Nicht wirklich.

Es war Seine Stimme, ja, diese eisige, scharfe Stimme ohne jedes Mitgefühl, doch die Worte konnten nicht von Ihm kommen.

Jonny hatte niemals mit Ihm über dieses Thema gesprochen. Er wusste nichts von seiner Familie, von den Schuldgefühlen, die ihn plagten, von der immer präsenten Angst, nicht gut genug zu sein, sie zu enttäuschen.

„Es ist...immer noch ein Traum“, murmelte Jonny, zwang sich dabei, dem Blick seines Gegenübers nicht auszuweichen. „Nur ein Traum. Nur ein...“

Eine Hand löste sich von seinem Gesicht, um gleich darauf seine Stirn zu umfassen.

Jonny spürte die erneute Berührung, fühlte den kräftigen Ruck, mit dem Er seinen Kopf drehte.

Hörte das Knacken.

Schmerz war da dieses Mal nicht.

Vielleicht war das normal, vielleicht tat es nicht weh, wenn das Genick brach, weil die Nerven bereits durchtrennt waren bevor sie die Reize weiterleiten konnten.

Nicht, dass das wichtig gewesen wäre in diesem Moment.

Er merkte auch noch, wie die Hände ihn losließen, und plötzlich schien da kein Stuhl mehr zu sein, keine Fesseln, bloß das Gefühl, zu fallen...

Und noch einmal diese Stimme, bevor da nur noch Schwärze war.

„Oh, ich werde dich finden, Jonny-Boy! Und wenn es so weit ist, dann wirst du dir den Tod verdienen müssen!“

Wie er auf dem Boden aufschlug, merkte er nicht mehr.

2 -2

Manchmal bereute Scarlett ihre Entscheidung, sich einen Hund angeschafft zu haben, zutiefst. Heute war ein solcher Tag.

Das lag nicht an dem Tier an sich - Pammy war so lieb wie eh und je, ignorierte Konsequent sämtliche anderen Hunde, denen sie unterwegs begegneten, und konzentrierte sich vollkommen darauf, ihre Geschäfte zu erledigen.

Das Problem war das beschissene Wetter.

Natürlich war es normal im Oktober, dass es regnete, windig war und kühl, doch als Scarlett um kurz nach sechs ihre Wohnung verlassen hatte und vor die Tür getreten war hatte sie kurz Angst gehabt, dass die kleine Terrierhündin von den sturmartigen Böhen mitgerissen werden könnte.

Nun, das war nicht passiert - dafür waren sie beide nach wenigen Minuten bereits komplett durchnässt.

„Komm schon, Pammy“, murmelte Scarlett und zerrte leicht an der Leine, was Pammy jedoch ebenso wenig zu beeindrucken schien wie dieses Dreckswetter. Obwohl ihr kurzes struppiges Fell bereits vollkommen durchnässt war nahm die Hündin das keinesfalls als Anlass, von dem Baum abzulassen den sie bereits seit einer Weile ausgiebig beschnüffelte.

Allmählich reichte es Scarlett. Sie war normalerweise wirklich geduldig, gerade, wenn es um ihren kleinen Liebling ging, doch heute war sie ohnehin bereits irgendwie mit dem falschen Fuß aufgestanden, nach einer Nacht, in der sie nicht sonderlich gut geschlafen hatte, und der Regen gab ihr nun den Rest.

„Komm jetzt“, forderte sie ein weiteres Mal, diesmal mit weitaus strengerer Stimme, und als Pammy es immer noch nicht über sich brachte, sich von dem scheinbar ausgesprochen interessanten Baum zu lösen, beugte sich Scarlett kurzerhand zu ihr herunter und nahm sie auf den Arm.

Auf das empörte Blaffen der Hündin erwiderte sie nur: „Wir waren jetzt wirklich lang genug draußen! Da kommt schon gar nichts mehr, und gekackt hast du auch. Also ab nach Hause jetzt!“

Weitere Proteste erfolgten nicht, Pammy schien keine großen Schwierigkeiten damit zu haben, den Heimweg anzutreten. Vermutlich freute sie sich sogar darüber, getragen zu werden.

Scarlett war froh, dass der Weg nach Hause nicht mehr weit war, die zwölf Kilo des Terriers wurden erstaunlich schnell erstaunlich schwer.

Sie schloss die Haustür auf, wobei sie Pammy weiterhin auf den Arm behielt, ließ sie erst runter, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und die Treppe hinter sich gebracht hatte, die in den ersten Stock und damit zu ihrer Wohnung führte.

Dort setzte sie die Hündin ab, löste die Leine und machte sich selbst daran, den Schlüssel aus ihrer Manteltasche zu kramen.

Nie zuvor hatte Pammy irgendetwas getan, das in Scarlett den Gedanken hätte aufkommen lassen, dass sie das besser nicht getan hätte.

Pammy hörte aufs Wort. Die meisten anderen Lebewesen, ob Menschen oder Tiere, waren ihr gleichgültig, sie interessierte sich nicht sonderlich für Spielzeuge oder Autos, für eigentlich nichts außer ihrer Besitzerin.

Nun jedoch war Pammy abgelenkt.

Sie tippelte ein Stück von Scarlett weg, die davon zunächst nichts mitbekam, streckte die Schnauze in die Luft und schnupperte.

Es war kein Essensgeruch, der ihre Aufmerksamkeit erregt hatte, genau genommen war es gar nichts, was sie bereits zuvor einmal irgendwann gerochen hatte.

Möglicherweise war es der Teil des Jagdhundes in ihr, der so empfindlich auf diesen seltsamen, metallischen Geruch reagierte, der Teil, der ihren Vorfahren bei der Jagd dabei geholfen hatte, verwundete Tiere aufzuspüren.

Die Hündin wusste natürlich nicht, was sie so faszinierte. Sie wusste nur, dass sie wissen wollte, was dieser Geruch war. Und warum die Tür der Wohnung, aus der er kam, nur angelehnt war...

Scarlett bemerkte erst, dass Pammy sich davongemacht hatte, als sie ein paar Meter weiter den Flur entlang eine Tür quietschen hörte. Gerade hatte sie es nach einer gefühlten Ewigkeit geschafft, den Schlüssel endlich ins Schloss zu stecken, doch nun ließ sie ihn los, starrte einen Augenblick lang perplex auf die Tür, die Pammy soeben aufgestoßen hatte, bevor sie dem Tier mit langen Schritten folgte.

„Pammy“, rief sie dabei. „Was soll das? Komm hier her! Aber sofort!“

Die Hündin reagierte nicht, und rückblickend betrachtet war Scarlett sich sicher, dass das der Moment gewesen war, in dem sie begonnen hatte, sich unwohl zu fühlen.

Irgendetwas konnte nicht stimmen. Noch nie zuvor hatte Pammy sich so verhalten.

Zudem war es ebenfalls merkwürdig, dass die Nelsons, in deren Wohnung die Hündin verschwunden war, ihre Tür nicht nur nicht abgeschlossen, sondern offenbar lediglich angelehnt gehabt hatten. Dies hier war keine Gegend, in der man so etwas tat.

„Pammy, verdammt“, zischte Scarlett. Vorsichtig zog sie die Haustür ein Stück weiter auf, um selbst hindurchgehen und sich so den Terrier hoffentlich schnell schnappen zu können, bevor er noch auf die Idee kam, irgendwelchen Schaden anzurichten. „Wenn du nicht sofo-“

Das Wort blieb ihr im Halse stecken. Der Anblick, der sich ihr bot, hatte ihren Kopf auf einen Schlag leergefegt.

Die Haustür der Nelsons führte direkt ins Wohnzimmer, was Scarlett erwartet hatte, sodass sie sich bereits eine Entschuldigung um Kopf zurechtgelegt hatte, falls sie die Familie gerade beim Essen störte oder dergleichen.

Als ihr Blick aber auf die drei Körper fiel, die sich an der gegenüberliegenden Wand des Raumes befanden, wurde ihr klar, dass sie sich diese Entschuldigung sparen konnte.

Die Nelsons würden sich durch nichts mehr gestört fühlen.

Die Abgeklärtheit, mit der diese Erkenntnis Scarlett im ersten Moment traf, hätte diese beinahe zum Lachen gebracht. Nicht, weil irgendetwas hieran lustig gewesen wäre, mehr aufgrund der Skurrilität, die diese Situation innehatte.

War ihre Reaktion nicht reichlich unpassend? Sollte sie bei diesem Anblick nicht in Panik verfallen, schreien, nach draußen stürzen und um Hilfe rufen?

Stattdessen stand sie da, betrachtete die Szenerie, versuchte, zu verarbeiten, was los, was geschehen war, und war dabei nicht sonderlich erfolgreich.

Pammy, die auf dem mit rotem Flecken übersäten Teppich in der Mitte des Raumes saß, wandte sich zu ihrer Herrin um und fiepte leise.

Dieses Geräusch, so hoch und leicht verzweifelt wirkend, ließ Scarlett aus ihrer Starre erwachen.

Ein Gefühl von Übelkeit kroch in ihr hoch, mit Mühe unterdrückte sie das Bedürfnis, den Inhalt ihres Magens hier und jetzt zu entleeren.

Es überraschte sie selbst, dass sie es wirklich über sich brachte, ein paar Meter weiter in den Raum hinein und damit näher an die drei Leichen heranzugehen, um sich Pammy zu schnappen und gemeinsam mit ihr mit schnellen Schritten die Wohnung zu verlassen.

Weg von den Toten. Weg von all dem Blut.

2 -3

„Also, wenn ihr meine laienhafte Meinung hören wollt: Die sind tot!“

Es hatte nach seiner Ankunft keine halbe Minute gedauert, bis Norris mit einem bemühten Grinsen im Gesicht diesen Kommentar von sich gegeben hatte.

Adrián biss die Zähne zusammen, ermahnte sich innerlich, keinen Kommentar dazu abzugeben, Norris bloß keine Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, so geschmacklos sein Verhalten an Tatorten auch jedes Mal wieder war.

Norris war wie eine seltsame Art Vampir: Anstatt Blut schien er Aufmerksamkeit zum Überleben zu brauchen, wobei es ihm völlig gleichgültig war, ob diese positiver oder negativer Natur war.

Daher gab Adrián sich Mühe, diese - vergleichsweise harmlose - Bemerkung seines Kollegen zu ignorieren und sich für den Moment vorrangig darauf zu konzentrieren, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten.

Es war nicht so, dass er noch nie zuvor eine Leiche gesehen hatte.

Auch wenn er praktisch frisch von der Polizeiakademie kam war ihm der Anblick von toten Menschen, auch solchen, die durch Gewalteinwirkung ums Leben gekommen waren, nicht fremd, und objektiv betrachtet war das hier wohl nicht einmal das Schlimmste, was ihm bisher untergekommen war. Er konnte sich an Unfallopfer erinnern, die nicht einmal mehr identifiziert werden konnten, von denen auch nach gründlicher Suche nicht alle Körperteile gefunden werden konnten.

Das hier jedoch war anders. Es war kein Unfall gewesen.

Jemand hatte das hier ganz bewusst getan, hatte es tun wollen, und er hatte sich nicht einfach damit zufriedengegeben, seine Opfer zu töten.

Wieder hörte Adrián hinter sich Norris’ Stimme: „Immerhin musste die Kleine dem Tod wohl nicht - ins Auge sehen!“

Es folgte ein Lachen, und nun fuhr Adrián doch herum, funkelte seinen Kollegen an, öffnete den Mund um ihn anzublaffen, er solle seine respektlosen Kommentare gefälligst runterschlucken und am Besten daran ersticken - aber jemand kam ihm zuvor.

„Wenn Sie Ihre pseudo-lustigen Sprüche nicht auf der Stelle unterlassen, dann sorge ich dafür, dass Sie auf der Stelle diesen Tatort verlassen!“

Es war Wendy Elliot, die sich, genau wie Adrián, zu Norris gewandt hatte und diesen nun gereizt anfunkelte. Die Kriminaltechnikerin ging ihm gerade einmal bis zur Schulter, dennoch hob Norris abwehrend die Hände und setzte das schiefe Grinsen auf, das er immer zur Schau trug wenn ihm etwas unangenehm war.

„Schon gut, schon gut, Lady. War doch nur Spaß.“

Leere Worte, die Elliot nicht im Geringsten zu beeindrucken schienen.

„Ganz davon abgesehen, dass das hier ein Tatort und damit nicht der richtige Platz für ihre Späße ist, ist es für mich eine Voraussetzung für Spaß, dass etwas witzig ist. Das, was sie hier von sich geben, ist aber einfach nur geschmack- und respektlos. Ich weiß nicht, ob Sie der Meinung sind, dass sie eine Art witziger Side-Kick in einer TV-Serie sind, aber ich kann Ihnen sagen, sie sind weder das eine noch das andere. Also machen Sie Ihre Arbeit und behalten Sie ihre Kommentare für sich!“

Einen Moment lang glotzte Norris sie perplex an, dann presste er die Lippen zusammen und wandte sich ab, stapfte in Richtung Wohnungstür und verschwand auf dem Gang, um wohl einen der Nachbarn zu befragen, wie es von vornherein sein Job gewesen war.

Adrián glaubte, ihn im Vorbeigehen „Dämliches Weibsbild!“, murmeln zu hören, und er war sich sicher, dass Elliot es ebenfalls vernommen haben musste, doch falls dem so war ließ sie es sich nicht anmerken.

Sie würdigte Norris keines Blickes mehr und wandte ihre Aufmerksamkeit stattdessen wieder ihrer Arbeit zu.

Das tat auch Adrián, auch wenn sein Magen erneut ein empörtes Gurgeln von sich gab, als er die Leichen genauer betrachtete.

Die Mitglieder der Familie Nelson, denen auch diese Wohnung gehörte - nun, gehört hatte wohl, genau genommen - befanden sich alle drei an der langen Wand des Raumes, gegenüber der Haustür.

Alleine deshalb hätte man sie nur schwer übersehen können, es war dem Mörder nicht darum gegangen, seine Tat zu verbergen. Im Gegenteil.

Der Anblick des kleinen Mädchens war, paradoxerweise, noch am Leichtesten zu ertragen.

Die Tatsache, dass sie schätzungsweise erst sechs oder sieben Jahre alt gewesen war, machte ihren Tod zwar umso schrecklicher, doch zumindest hatte sie vermutlich nicht großartig leiden müssen.

Zumindest, wenn man davon ausging, dass ihr die Augen erst nach ihrem Ableben entfernt worden waren.

Adrián hoffte, dass dem so war.

Die Todesursache, mutmaßlich bisher, war in ihrem Fall ein Schuss gewesen, der direkt in ihren Hinterkopf gegangen war. Sauber und gezielt. Das unterstützte die Vermutung, dass die Augäpfel postum entfernt worden waren... der Mörder hatte nicht gewollt, dass das Mädchen litt.

Bei den beiden Erwachsenen war das offensichtlich nicht der Fall gewesen.

Auch hier stand die Todesursache natürlich noch nicht mit Sicherheit fest, eine Einschussstelle jedoch hatte bisher noch niemand an den Körpern entdeckt. Das würde sich möglicherweise ändern, sobald sie richtig untersucht werden konnten, was sich aktuell noch schwierig gestaltete, da die Sicherung der Spuren an den Körpern noch nicht abgeschlossen war.

Somit hatten alle Anwesenden bisher nur die Vorderseite der beiden Leichen gesehen, die blutüberströmt und kopfüber an der Wand lehnten.

Mr. und Mrs. Nelson waren an den Schultern und an den Beinen mehrmals mit Klebewand umwickelt und so an der Tapete befestigt worden, aufrecht und mit an den Körper gedrückten Armen und Beinen.

Und ich scheitere schon daran, meine Poster so anzubringen, dass sie nicht nach fünf Minuten wieder runter fallen, schoss es Adrián durch den Kopf als er die Szenerie noch einmal betrachtete, und gleich darauf schämte er sich für diesen Gedanken. Er kam sich vor wie Norris, auch wenn er den Mist, der ihm spontan in den Kopf kam, zumindest nicht laut aussprach.

Jedenfalls, bisher hatte man die beiden Körper noch nicht ausführlich untersucht, trotzdem ging wohl niemand davon aus, dass den beiden ein so gnädiger Tod wie der durch eine Kugel gewährt worden war.

Das Mädchen hatte auf eine morbide Art friedlich gewirkt, wie sie dagelegen hatte, die Arme ausgebreitet als wollte sie einen Schneeengel machen, das augenlose Gesicht zur Seite gewandt, weg von ihren Eltern. Wäre da nicht das Blut gewesen, hätte man annehmen können, sie würde bloß schlafen.

Der Anblick der Erwachsenen hingegen hatte absolut nichts friedliches an sich.

Sie waren lediglich mit ihren Unterhosen bekleidet, die restlichen Klamotten, die sie wohl getragen hatten, sagen sorgsam zusammengefaltet auf dem Sofatisch.

Es bestand kein Zweifel daran, dass der Großteil des Blutes an der Wand, auf dem Boden und auf dem Teppich von ihnen und nicht von ihrer Tochter stammte.

Beiden war mit augenscheinlich chirurgischer Präzision der Brustkorb geöffnet worden. Zertrümmerte Rippen ragten aus der Öffnung, die durch das Beiseiteklappen der Haut entstanden war und den Blick freigab auf das Innenleben des menschlichen Körpers, wie es wohl in einem Anatomiebuch hätte abgebildet sein können.

In beiden Fällen sah es aus, als wären die Lungenflügel achtlos beiseite geschoben worden, um an das zu kommen, was dahinter lag, das lebenswichtige Organ zu ergreifen und es aus dem Brustkorb zu entfernen...

Die zwei Herzen, die man direkt vor den Gesichtern der beiden Leichen auf dem Boden liegend gefunden hatten, waren bereits eingepackt worden und befanden sich vermutlich auf dem Weg ins Labor.

Dennoch bekam Adrián dieses Bild nicht aus dem Kopf... zwei Menschen, die mit weit aufgerissenen, toten Augen das Organ anstarrten, das sie vor wenigen Stunden noch am Leben erhalten hatte.

Die Erinnerung an diesen Anblick brachte Adriáns Magen wieder dazu, bedenklich zu grummeln, schnell drehte er sich weg. Er war nie der Meinung gewesen, zartbesaitet zu sein, aber das hier ging ihm an die Nieren. Oder besser, es machte ihn fertig, um keine weitere Assoziation mit irgendwelchen Organen hervorzurufen. Das würde nicht dazu führen, dass er sich besser fühlte.

Das war alles so sinnlos. So unbegreiflich. Wieso sollte jemand so etwas tun?

Es wäre gelogen, hätte Adrián behauptet, Verbrecher und ihre Taten nie verstehen zu können.

Selbst bei Mördern konnte er teilweise nachvollziehen, warum sie ihre Opfer getötet hatte, was selbstverständlich nicht bedeutete, dass er es in irgendeiner Weise guthieß.

Aber das hier?

Was für einen Grund konnte es geben, jemandem so etwas anzutun? Seinen toten Körper so herzurichten, ihm das Herz herauszureißen; ein Akt, der, wie Adrián aus diversen Fachbüchern wusste, mit nicht wenig Aufwand verbunden war.

Was brachte einen Menschen dazu, so etwas zu tun? Hass? Wut? Pure Mordlust, kombiniert mit Sadismus?

Hastig kritzelte Adrián auf seinem Notizblock herum, den er bereits die ganze Zeit über in der Hand hielt und auf dem er alle Gedanken festhielt, die ihm in den Kopf kamen.

Bisher waren es hauptsächlich Stichpunkte über den Zustand der Leichen.

Er überflog sie, kontrollierte, ob er irgendetwas vergessen hatte, war gerade zu dem Schluss gekommen, dass dem nicht so war, als neben ihm eine Stimme sagte: „Den Erwachsenen fehlen außerdem die Zungen.“

Ein wenig überrascht sah Adrián auf und musterte Wendy Elliot, die ihrerseits ihre Aufmerksamkeit seinen Notizen widmete.

„Haben Sie schon mal was von Privatsphäre gehört?“, fragte er mit einem leichten Lächeln, das die Kriminaltechnikerin zurückhaltend erwiderte.

„Nun, ich dachte, Sie möchten dass Ihre Notizen vollständig sind.“, entgegnete sie, tippte dann auf eine Stelle auf seinem Block und ergänzte: „Brustkorb schreibt man übrigens mit b hinten, und nicht mit p.“

„...Flüchtigkeitsfehler!“, murmelte Adrián hastig. Er hasste es, wenn ihm so was passierte, selbst wenn es außer ihm niemandem auffiel. „Aber noch mal zurück: Ihnen fehlen die Zungen?“

„Ja.“ Elliot nickte. „Sie sind ihnen herausgeschnitten worden. Dem Blutverlust nach zu urteilen, als sie noch lebendig waren.“

„Autsch. Und die Todesursache? Haben Sie dazu schon Vermutungen?“

„Ich bin Kriminaltechnikerin, keine Gerichtsmedizinerin. Da müssen Sie sich schon an die wenden.“

„Oh, ja. Sicher. Natürlich.“

Etwas verlegen warf Adrián einen erneuten Blick auf die Leichen. Die Münder der Erwachsenen standen weit offen, als wollten sie schreien, aber er hatte nicht so genau hingesehen dass er das Fehlen ihrer Zungen erkannt hätte.

„Wer tut so etwas“, murmelte er, eher zu sich selbst als an Elliot gerichtet. „Das ist doch...krank!“

„Nun, das würde ich nicht unbedingt sagen.“ Elliots Stimme klang nüchtern und sachlich. Entweder das Ganze ging ihr nicht im Geringsten nahe, oder sie hatte ihre Emotionen hervorragend unter Kontrolle. „Man muss nicht ‘krank’ sein, um grausame Taten zu begehen. Viele berüchtigte Serienmörder wurden von Psychiatern für zurechnungsfähig befunden, und ein Großteil der Menschen, die wirklich unter psychischen Krankheiten leiden, würden niemals etwas Derartiges tun. Ich denke, es ist mehr eine Art Schutzreflex, so etwas als ‘krank’ zu bezeichnen. Weil man sich damit von so etwas abgrenzt. Man selber ist schließlich nicht ‘so’. Dabei ist die Geschichte der Menschheit voll mit Grausamkeiten, es liegt in unserer Natur. Was natürlich nicht heißt, dass das gut ist. Aber wenn Sie und Ihre Kollegen den Mörder finden wollen, sollten Sie sich nicht unbedingt darauf fixieren, nach einem klischeehaften Irren zu suchen.“

Kurz war Adrián sprachlos. Auf einen solchen Redeschwall war er nicht gefasst gewesen, normalerweise war Elliot keine Person vieler Worte. Nicht, dass er das, was sie gesagt hätte, nicht interessant gefunden hätte. Im Gegenteil.

„Nun, das stimmt wohl“, gab er zu, seine Anerkennung ob ihrer Sachlichkeit dabei nicht verbergend. „Krank ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Eher... ich weiß auch nicht... schockierend.“

„Definitiv. Ich habe so etwas brutales bisher außerhalb von Slasher-Filmen noch nicht gesehen. Sie?“

„Nein. Und ich hätte es auch nicht unbedingt gebraucht.“

Gab es wirklich Leute, die an solch einem Anblick Gefallen fanden? Hatte, wer auch immer hierfür verantwortlich gewesen war, das aus purem Sadismus getan?

Adrián glaubte es nicht wirklich. Er war kein Experte, kein Psychologe oder Profiler, aber es erschien ihm nicht wirklich passend, dass hier zwei so unterschiedliche Darstellungen der Leichen vorgenommen worden war. Wenn das Mädchen nur eine Art Kollateralschaden gewesen wäre - wie falsch das klang, es ging um ein Menschenleben - weil sie eben da gewesen war, warum waren dann ihre Augen entfernt worden? Deutete das nicht eher auf ein persönliches Motiv hin?

Die Erwachsenen hätte man wohl wirklich einem Menschen zuordnen können, der vielleicht am Anfang einer Mordkarriere - noch so ein grauenhaftes Wort, aber irgendwie passte es - stand und sich mit dieser besonders blutigen Signatur einen Namen machen wollte. Wieder kam ihm unwillkürlich das Wort ‘krank’ in den Kopf, schnell bemühte er sich, es durch ‘grausam’ zu ersetzen.

Aber das Mädchen.

Wäre es wirklich ein werdender Serienkiller gewesen, wieso hatte er sie dann nicht einfach erschossen - dass ihr Tod schnell ging war ihm offensichtlich wichtig gewesen - und es dabei belassen, oder aber mit ihr das Gleiche gemacht wie mit ihren Eltern?

Adrián war froh, dass dem nicht so war, aber warum?

„Rubero, wollen Sie den ganzen Tag hier rumstehen oder auch mal arbeiten?“

Die Stimme seines Kollegen ließ Adrián zusammenzucken, worüber er sich selbst ärgerte.

Er wandte sich um, bemerkte dabei, dass Elliot sich bereits wieder daran gemacht hatte, den Tatort zu sichern, und erblickte Detective Bowman, der ihn wiederum streng musterte.

„Nun, ich arbeite“, gab Adrián zurück; es fiel ihm schwer, nicht schnippisch zu klingen, aber er wusste dass er dafür bloß einen Anschiss von seinem Partner zum Thema mangelndem Respekt gegenüber höhergestellten Beamten kassieren würde. Nicht, dass Bowman wirklich höher gestellt wäre, sie waren beide Detectives, auch wenn er einige Jahre mehr Erfahrung in dem Job hatte als Adrián. Aber Bowman nahm sich gerne wichtiger, als er eigentlich war.

Nun musterte er Adrián mit diesem Blick, den nur er auf diese Art beherrschte. Er bedeutete: Willst du mich verarschen, ich sehe, dass du nur Scheiße machst! Eine sehr klare Definition, aber an dieser Bestand eben kein Zweifel.

„Ich habe nur gesehen, wie sie mit Elliot gequatscht haben!“

„Wir haben uns über die Leichen unterhalten. Das gehört ja wohl zu meinem Job dazu.“ Es war wirklich, wirklich schwierig, nicht schnippisch zu werden.

„Wozu der ganze Aufwand?“ Bowman warf einen abschätzigen Blick auf die Toten, der so gleichgültig war dass er auch einem Stück Fleisch in der Metzgerei hätte gelten können, und rümpfte die mit geplatzten Äderchen übersäte Nase. „Das waren irgendwelche Gangmitglieder. Einer von den beiden hat sich mit den falschen Leuten angelegt, und das ist das Ergebnis. Kommt davon, wenn man sich mit solchem Abschaum abgibt!“

Perplex sah Adrián seinen Kollegen an, versuchte zu verarbeiten, was er da gerade gehört hatte.

„Gangmitglieder? Wie kommen Sie darauf?“

„Oh, bitte! Ich weiß, Sie sind noch nicht lange im Dienst, aber ich dachte, Sie sind hier aufgewachsen! Sie müssten doch wissen, wie es hier zugeht! In der Eastside werden im Jahr fast so viele Leute ermordet, wie in der ganzen Stadt geboren werden!“

„Ja, aber da geht es um Schießereien oder Drogendeals oder so. Nicht um... was auch immer das hier ist!“

„Das hier wird auch genau so was sein! Ein verschuldeter Junkie, der seine Drogen nicht mehr bezahlen konnte, jemand der etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen sollen... Passiert hier jeden Tag, Sie sollten sich da wirklich nicht so reinsteigern!“

„Reinstiegern? Entschuldigen Sie mal, aber soweit ich weiß ist das unser Job!“

„Unser Job ist es, Verbrecher festzunehmen, ja. Aber ich sag Ihnen was. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier in der Gegend so was sehe. Es ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Ja, vielleicht ist es ein bisschen grausamer als der Durchschnitt. Aber am Ende kommt es aufs Gleiche raus: Wir befragen die Leute, niemand will etwas sagen, da sie wissen, dass sie sonst die nächsten sein könnten. Ganz davon abgesehen, dass es sie ebenfalls kaum interessiert!

Sie können Ihre Zeit damit verschwenden, nach einem Täter zu fahnden, den Sie niemals finden können, weil er nur einer von unendlich vielen Bastarden ist, für die das hier zu ihrem alltäglichen Geschäft gehört. Hey, vielleicht erwischen Sie ihn sogar, aber wenn, dann eher durch Zufall als durch gute Arbeit! Nehmen Sie meinen Rat an, Rubero. Dieser Scheißjob ist hart genug, Sie müssen Ihre Energie nicht an so aussichtslose Dinge verschwenden, denn morgen wird sowieso schon der nächste arme Teufel wegen seiner Drogenschulden um die Ecke gebracht werden, und wenn er Pech hat, seine ganze Familie mit ihm. Das ist es, was hier passiert ist. Das ist das, was in unserem Bericht stehen wird, und ich kann Ihnen nur raten, es so zu machen wie ich und sich auf Ihren Haufen ungelöster Fälle zu konzentrieren, die Sie noch auf Ihrem Schreibtisch liegen haben, anstatt sich dieser Sisyphos-Aufgabe zu stellen, wie man so schön sagt!“

Adrián hätte Bowman gerne mitgeteilt, dass seine Metapher nicht wirklich passend war. Das, was er da von sich gegeben hatte, klang eher nach einem Kampf gegen Windmühlen. Aber das hätte Bowman wohl kaum interessiert, ebenso wie alles andere, was Adrián in diesem Augenblick durch den Kopf ging.

Meinte Bowman das wirklich ernst? Wollte er den Fall einfach so stehen lassen, die Akte schließen und ihn als ein Cold Case verrotten lassen?

Es mochte stimmen, dass sie bereits mehr als genug offene Fälle hatten - wie wahrscheinlich jede Polizeistation einer größeren Stadt war das Police Department von Red Creek hoffungslos unterbesetzt - doch bei diesen handelte es sich zum Großteil nicht um Kapitalverbrechen.

Wenn er jedoch ehrlich war, dann wunderte diese Einstellung seines Partners Adrián nicht einmal besonders. Er hatte in der Zeit, die er nun als Polizist in dieser Stadt arbeitete, bereits mitbekommen, dass Bowman nicht gerade der motivierteste Beamte war, dem man hier über den Weg laufen konnte, und dieser Eindruck wurde immer wieder aufs Neue bestätigt.

Ein wenig fassungslos ließ Adrián seinen Blick wieder zu den Leichen wandern, die in unveränderter Position von Elliot und einem weiteren Typen, den Adrián auch schon einmal irgendwo gesehen hatte, begutachtet wurden.

Drei Tote, von denen zumindest zwei vermutlich unter grausamen Schmerzen ums Leben gekommen waren. Deren Körper verstümmelt und in einer Art präsentiert worden waren, die durchaus als Provokation verstanden werden konnte. Seht her, ich habe keinen Respekt vor Menschen, weder lebendig noch tot.

Und wenn es nach Ernest Trevor Bowman ging, dann würde ihr Mord mit einigen wenigen Randbemerkungen versehen in einem dicken Ordner voller Banden-Aktivitäten landen, ohne, dass jemals wieder ein Blick darauf geworfen werden oder irgendwelche Fragen dazu gestellt werden würden.

Und bei diesem Gedanken drehte sich Adrián ein weiteres Mal an diesem Morgen der Magen um.

2 -4

Lola hatte verschlafen.

Das passierte ihr öfters in letzter Zeit, und jedes Mal wieder schreckte sie zusammen, wenn ein Blick auf die Uhr ihr verriet, dass sie ihren Wecker ungefähr drei bis fünf Mal überhört haben musste und ihr nun noch eine halbe Stunde blieb, bis ihre Schicht ihn Sanders’ Grocery Store begann, was wiederum bedeutete, dass sie in spätestens fünfzehn Minuten aus dem Haus sein musste.

Wie immer an solchen Morgen war sie ins Bad gehetzt, hatte sich ihre hüftlangen Braids hochgebunden und sich wieder einmal vorgenommen, sie demnächst um einige Zentimeter zu kürzen, hatte ihre Morgenroutine in Rekordzeit hinter sich gebracht und war dann weiter nach unten in die Küche gestürzt, wo sie nun von ihrer Mutter mit einem leicht besorgten Blick empfangen wurde.

„Hast du schon wieder verschlafen, Kind?“, fragte diese und faltete die Zeitung zusammen, in der sie bis eben gelesen hatte.

Lola nickte abwesend, konzentrierte sich vorrangig darauf, sich unfallfrei Kaffee aus der immer irgendwo tropfenden Kanne einzugießen. Ganz egal wie spät sie auch dran war - ohne Kaffee brauchte sie gar nicht erst versuchen, sich dem Arbeitstag zu stellen. Spätestens nach einer halben Stunde würde sie im Stehen einschlafen.

„Ja. Muss nach dem Wecker wieder eingeschlafen sein, ich weiß auch nicht...“

„Das ist ja wohl auch kein Wunder! Du arbeitest viel zu viel!“

Zu der Besorgnis hatte sich nun auch die typische Strenge in die Stimme ihrer Mutter gemischt, vorwurfsvoll betrachtete sie ihre Tochter.

Am liebsten hätte Lola laut geseufzt.

„Es geht mir gut, Mom. Ja, es ist etwas anstrengend, aber ich komm klar!“

Etwas anstrengend war untertrieben, es gab durchaus einen Grund dafür, dass Lola jeden Abend nach ihrer Schicht in der Bar in einen komaartigen Schlaf fiel, und sich morgens, wenn der Wecker sie zur Arbeit im Supermarkt weckte, am liebsten einfach unter dem Bettdecke verkriechen und ihn ignorieren würde. Wenn sie ihn denn eben überhaupt hörte.

Mit Sicherheit sah man ihr ihre Erschöpfung auch an, auch wenn Lola so gut es ging versuchte, sie mit Make-Up zu kaschieren.

Aber selbst das hochwertigste Make-Up der Welt hätte ihre Mutter in dieser Beziehung nicht täuschen können.

Diese musterte Lola nun ein wenig argwöhnisch, schien jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass es keinen Sinn hatte, weiter zu diskutieren. Stattdessen nahm sie nun einen Schluck aus ihrer eigenen Kaffeetasse, um dann abrupt mit einem neuen Thema zu beginnen: „Drüben in der Carlton Lane hat es einen Mord gegeben. Drei Tote, wohl eine Familie. Das Kind war wohl gerade einmal sechs oder sieben Jahre alt. Hat mir Mrs. Walter erzählt, als ich sie vorhin beim Müllrausbringen getroffen habe.“

Sie stellte ihre Tasse wieder ab, sah weiterhin zu Lola, die den Blick ihrer Mutter überrascht erwiderte.

„Mrs. Walter hat das wohl auch nur von einer Freundin gehört, die in dem Haus wohnt in dem das passiert ist, aber sie meinte, es wäre wirklich grausam gewesen. Irgendeine Racheaktion von einer der Gangs vermutlich...“

Ein Kopfschütteln. „Kannst du dir das vorstellen? Ein Kind ermorden? Gibt es da nicht irgendeinen... Ehrenkodex bei diesen Banden, der so was verbietet?“

„Ich weiß nicht“, murmelte Lola, die noch dabei war zu verarbeiten, was sie eben gehört hatte.

Sie war in dieser Gegend aufgewachsen, und mittlerweile sollten sie derartige Dinge nicht mehr schockieren, und trotzdem zuckte sie noch immer innerlich zusammen, wenn sie von einem Mord oder einer tot aufgefundenen Person hörte. Nicht, dass sie es schlimm fände, noch solche Reaktionen an den Tag zu legen. Schlimmer wäre es wohl für sie, wenn sie irgendwann nur noch mit Gleichgültigkeit reagierte. Was früher oder später möglicherweise der Fall sein würde, wenn sie es nicht irgendwann schaffte, sich ein Leben außerhalb der Eastside aufzubauen, wie sie es sich bereits seit Jahren wünschte.

Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, über derartige Dinge nachzudenken.

Mit großen Schlucken trank Lola ihren Kaffee aus und stellte die leere Tasse auf der Küchentheke ab. Schnappte sich ihren Mantel, den sie wie immer über ihren Stuhl gehängt hatte und sagte, an ihre Mutter gewandt: „Ich bin dann erst mal weg. Bin gegen drei wieder da, und meine Schicht in der Bar fängt dann um fünf an. Wir können also zusammen mittagessen.“

„Schön. Sei vorsichtig, Liebling.“ Die Besorgnis in der Stimme von Mrs. Arias war deutlich erkennbar, ebenso wie der beinahe ängstliche Blick, mit dem sie ihre Tochter musterte. „Es sind einige Cops draußen unterwegs wegen dieser Sache. Pass auf dich auf.“

„Mach ich. Bis nachher“, erwiderte Lola, knöpfte ihren Mantel zu und griff nach ihrer Tasche. Warf ihrer Mutter noch ein - hoffentlich beruhigendes - Lächeln zu, bevor sie sich abwandte und hinaus aus der Küche und aus der Wohnung ging.

Während sie sich in schnellem Schritt auf den Weg zur Arbeit machte schweiften ihre Gedanken ab.

Früher einmal hatte sie die Mahnungen ihrer Mutter, die diese ihr bei jeder Gelegenheit mit auf den Weg gegeben hatte, für übertrieben gehalten. Sie hatte nicht verstanden, wieso sie so sehr aufpassen sollte, wenn Polizei in der Nähe war, schließlich hatte sie noch nie in ihrem Leben etwas angestellt, wenn man von dem Kaugummi absah, das sie mit sieben Jahren am Kiosk in die Ecke eingesteckt hatte, ohne es zu bezahlen.

Mom’s Warnungen waren ihr immer so willkürlich vorgekommen.

„Sei vorsichtig, wie du dich verhältst, wenn Cops in der Nähe sind“, hatte Mrs. Arias Lola schon als kleines Kind eingebläut, und Lola hatte nie verstanden, warum. Der Vater ihrer besten Grundschulfreundin Cathy Martin war Polizist gewesen, und Mr. Martin hatte sich ihr gegenüber immer sehr freundlich verhalten.

Aber Lola war älter geworden, und sie hatte ihre Erfahrungen gemacht. Die sogenannten zufälligen Kontrollen auf der Straße, die irgendwie immer vorrangig sie und ihre schwarzen Freunde getroffen hatten, während einer ihrer Mitschüler, der ebenfalls manchmal mit ihnen unterwegs gewesen und dafür bekannt war, mit mindestens dreißig Meilen über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit durch die Innenstadt zu brettern, bis auf eine grüßende Geste keinerlei Aufmerksamkeit von den Beamten bekam.

Sie war abends auf dem Nachhauseweg von einer Freundin, die in einem der vornehmen Viertel drüben in der Westside wohnte, von einem Cop aus einem Streifenwagen heraus mit der Frage angesprochen worden, ob sie vorhabe in eine der Villen einzubrechen oder was sie ansonsten hier verloren hatte, und damals war sie fünfzehn Jahre alt gewesen und hatte außer ihrem Schulrucksack nichts bei sich gehabt.

Sie hatte die Medien verfolgt, die Berichte über die Tode von Michael Brown, Walter Scott, George Floyd und unzähligen anderen Opfern rassistischer Polizeigewalt, die Proteste der Black-Lives-Matter Bewegung, aber auch die die Aufmärsche des Ku-Klux-Klans und anderer rassistisch motivierter Gruppierungen, die ihr als Kind bereits mit ihrem Auftreten Angst gemacht hatten, wenn sie sie im Fernsehen gesehen hatte.

Und spätestens, als ihre Mutter ihr dann im alter von sechzehn Jahren erzählt hatte, wie ihr Vater damals vor zehn Jahren wirklich ums Leben gekommen war, dass er bei dem Raubüberfall auf seinen Laden keinesfalls von dem Täter, sondern von einem Polizisten erschossen worden war, der der Meinung gewesen war, dass es sich bei Mr. Arias um den Schuldigen handelte und der es bevorzugt hatte erst zu schießen und dann Fragen zu stellen, war Lola klar geworden, dass all diese Warnungen keinesfalls aus der Luft gegriffen waren.

Gerne hätte sie ihrer Mutter auch heute gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte und dass es keinen Grund gäbe, weshalb ihr, einer unschuldigen Fünfundzwanzigjährigen auf dem Weg zu einem ihrer zwei Nebenjobs, etwas passieren sollte.

Aber nach all dem, was sie mittlerweile erlebt und mitbekommen hatte, wäre das schlichtweg gelogen gewesen.

Was für eine deprimierende Art, den Tag zu beginnen, schoss es Lola durch den Kopf, während sie ihr schnellen Gehtempo zu einem moderaten Laufschritt steigerte. Sie sollte versuchen, an etwas anderes zu denken als an Leichen und den in den vereinigten Staaten von Amerika strukturell verankerten Rassismus.

Ansonsten wäre sie wahrscheinlich bereits vor der Frühstückspause so frustriert, dass es ihr schwerfallen würde, sich ihre schlechte Laune den Kunden gegenüber nicht anmerken zu lassen.

Immerhin war ihr auf ihrem Weg bisher nicht ein einziges Polizeiauto oder ein Cop begegnet. Von einer erhöhten Polizeipräsenz, wie ihre Mutter sie erwähnt hatte, hatte sie bisher nichts bemerkt.

Lola war sich nicht sicher, ob sie froh darüber sein sollte, oder ob es nicht vielleicht eher besorgniserregend war, dass ein angeblich so grausamer Mord an einer ganzen Familie hier in dieser Gegend derart wenig Reaktion der Behörden hervorrief.

2 -5

Das Knarren der Treppenstufen wirkte noch bedrohlicher als am gestrigen Abend, als Robin sie gegen Mittag hinaufstieg, in den Händen eine Plastikschale, deren locker aufliegender Deckel bei jedem Schritt klapperte.

Irgendwann würde mit Sicherheit eine der Stufen durchbrechen, wenn nicht gleich die ganze Treppe in sich zusammenstürzen würde, und Robin konnte nur hoffen, dass dieser Tag nicht heute war.

Heute begegnete ihm niemand auf seinem Weg nach oben, das ganze Haus wirkte still, nicht einmal Kinderlärm war zu hören. Dabei war es eigentlich zu spät, als dass alle noch schlafen würden.

Als Robin den zweiten Stock erreicht hatte und vor der Tür zu der Wohnung, die nun vorübergehend seinem neuen Bekannten gehörte, stehenblieb, stellte er die große Schale neben sich ab und klopfte.

Er hätte auch klingeln können, doch er war sich recht sicher, sich zu erinnern, dass diese Klingel schon seit einer Ewigkeit nicht mehr funktionierte, daher versuchte er es gar nicht erst. Die Wohnung war ohnehin nicht groß genug, als dass man sein Klopfen hätte überhören können.

Dennoch kam keine Reaktion.

Ungefähr eine Minute lang stand Robin da, bevor er noch einmal klopfte, erneut ohne Erfolg.

Vielleicht war es albern, dennoch merkte er, wie sich ein ungutes Gefühl in ihm ausbreitete.

Er verspürte das Bedürfnis, einfach die Tür zu öffnen und in die Wohnung zu schauen, einfach bloß, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, auch, wenn er nicht wirklich wusste, was denn sein sollte. Wahrscheinlich schlief Jonny einfach bloß, und einfach so ins Zimmer zu platzen wäre - freundlich ausgedrückt - reichlich unhöflich. Falls die Tür nicht ohnehin abgeschlossen worden war, was bei Jonnys misstrauischer Art naheliegend war.

Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen, weder auf einer logischen noch auf einer emotionalen Ebene. Wieso musste Robin sich eigentlich dauernd daran erinnern, dass er Jonny kaum kannte, und sich daher auch nicht so viele Gedanken um ihn machen sollte?

Er klopfte noch einmal, dieses Mal jedoch nur halbherzig.

Aus der Wohnung erhielt er noch immer keine Antwort, dort blieb es vollkommen still, dafür aber ertönte plötzlich eine Stimme neben Robin, die ihn erschrocken zusammenzucken ließ: „Sie brauchen nicht zu klopfen. Es ist keiner da.“

Bemüht, sich den Schrecken, den ihm der plötzliche Klang der Stimme eingejagt hatte, nicht anmerken zu lassen, wandte Robin sich um und erblickte ein kleines Mädchen, das ihn von hinter der halb geöffneten Tür der Nachbarwohnung anblickte.

Er kannte sie vom Sehen, so wie eigentlich alle Bewohner des Gebäudes, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern.

„Ach, wirklich?“, hakte er nach.. „Woher weißt du das denn?“

„Hab gesehen, wie der Mann, mit dem Sie gestern hergekommen sind, weggegangen ist. Und bisher ist er nicht wiedergekommen.“

Robin merkte, wie die Nervosität in ihm stärker wurde.

„Bist du dir da sicher?", fragte er, worauf das Mädchen nickte.

„Ja. Ich bekomm alles mit! Mein Zimmer ist direkt hier vorne, und ich höre immer wenn hier jemand lang geht! Mamá sagt, das liegt daran, dass die Wände so dünn sind! Manchmal nervt das, aber eigentlich find ich das gut. Vor allem, wenn ich höre, wie Leute miteinander sprechen! Manchmal erzählen die wirklich lustige Sachen, oder spannende, oder sie benutzen Schimpfwörter! Mamá will immer, dass ich mir die Ohren zuhalte, wenn im Fernsehen geflucht wird, damit ich mir die Wörter nicht merke, aber die auf dem Flur höre ich! Das erzähle ich ihr aber nicht, sonst..."

„Okay, okay." Abwehrend ob Robin die Hände, betrachtete das Mädchen ein wenig überfordert. Kinder irritierten ihn jedes Mal, besonders, wenn sie so mitteilungsbedürftig waren wie dieses.

„Aber du bist dir auch sicher, dass es wirklich der Mann aus dieser Wohnung war, der weggegangen ist?"

„Ja."

„Und... warum bist du das?"

„Ich hab's gesehen!" Das Mädchen bedachte Robin mit einem Blick, als ob sie nicht ganz fassen konnte, wie schwer von Begriff er war. „Ich hab laute Geräusche gehört, und hab dann durch das Guckloch nach draußen geguckt." Sie deutete auf den Türspion, der so weit oben in der Wohnungstür angebracht war, dass Robin sich fragte, wie sie dort herangekommen war, aber er entschied sich, nicht weiter nachzufragen.

„Die Geräusche haben komisch geklungen, und ich hab gedacht, dass da jemand versuchen würde eine Tür aufzubrechen. Also hab ich nachgeguckt, aber da war nur der Mann, den ich gestern mit Ihnen zusammen gesehen hab. Er hat versucht, die Tür abzuschließen, glaub ich, aber er hat sich dabei irgendwie doof angestellt. Hat den Schlüssel fallengelassen, und ihn ein paar Mal in die falsche Richtung gedreht, glaub ich. Darum hat sich das bestimmt auch so komisch angehört."

Sie legte den Kopf schief, sah Robin an. „Was wollen Sie denn von ihm?"

Im ersten Moment hatte Robin das Bedürfnis, mit einem schnippischen „Was geht dich das an?" zu kontern, doch diese Erwiderung verkniff er sich. Bloß, weil Kinder ihn mit ihrer direkten Art irritierten, ja, geradezu verunsicherten war das kein Grund, ihnen gegenüber unhöflich zu werden, zumal dieses hier ja auch die Fragen, die er gestellt hatte, beantwortet hatte. Daher entschied er sich für eine andere Erwiderung: "Ich wollte ihm was zu essen vorbeibringen." Und dann, nach einer kurzen Pause, in der weder das Kind noch er etwas sagten: „Hatte der Mann... viele Sachen dabei? Taschen oder so?"

Er hoffte, dass das Mädchen diese Frage verneinen würde, ihm mitteilte, dass Jonny einfach so ausgesehen hatte, als würde er einen Spaziergang machen und nicht etwa planen, schnell wieder endgültig von hier zu verschwinden.

Ihre Antwort war diesbezüglich jedoch wenig beruhigend.

„Er hatte einen Rucksack dabei. Sonst hab ich nichts gesehen, aber gestern Abend hatte er ja auch nicht mehr dabei, glaube ich.“

Kurz dachte Robin daran, dass das Mädchen wirklich verdammt viel Zeit damit zu verbringen schien, ihre Nachbarn zu beobachten; hätte Jonny das gewusst wäre er vermutlich noch paranoider geworden. Doch dieser Gedanke war im Augenblick nebensächlich.

Würde Jonny seinen Rucksack mitnehmen, wenn er einfach nur spazieren gehen wollte? Nun, warum nicht, da sprach schließlich nichts gegen, auch wenn es umständlich erschien, wenn er nicht gerade einkaufen gehen wollte. Aber vielleicht hatte er das ja vor. Oder vielmehr, sich anderweitig irgendwie Essen zu besorgen, wo er doch laut eigener Aussage kein Geld hatte. Er konnte ja schließlich nicht wissen, dass Sapphire Robin losgeschickt hatte, um ihm etwas von dem gestern übriggebliebenen Essen aus der Bar vorbeizubringen.

Nun drückte Robin doch die Klinke herab, versuchte, die Tür zu öffnen, aber ohne Erfolg. Sie war abgeschlossen.

Er erlaubte sich, das als gutes Zeichen anzusehen - wieso hätte Jonny abschließen sollen, wenn er nicht vorhatte, zurückzukommen? Sinnvoller wäre es doch gewesen, den Schlüssel auf dem Tisch oder sonst wo in der Wohnung zu platzieren und die Tür unverschlossen zu lassen.

„Warum gucken Sie so komisch?“

Die Anwesenheit des Mädchens hatte Robin beinahe vergessen, weshalb er bei dem Klang ihrer Stimme wieder fast zusammenzuckte, wie er es auch beim ersten Mal getan hatte, als sie ihn angesprochen hatte.

Um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht entgegnete er: „Ich gucke nicht komisch. Ich hab nur nachgedacht, sonst nichts.“

Das war schließlich nicht gelogen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, dem Mädchen die Schale mit dem Essen mit der Anweisung zu übergeben, sie an Jonny weiterzureichen, falls dieser zurückkommen würde. Wenn das passieren würde, was Robin hoffte, dass würde die Kleine das mit Sicherheit mitbekommen.

Allerdings war er sich nicht ganz sicher, ob Jonny etwas essen würde, was ihm eine vollkommen fremde Person überreichte, selbst, wenn es sich bei dieser Person um ein Kind handelte. So wie Robin ihn bisher kennengelernt hatte, hielt er es nicht für unwahrscheinlich, dass Jonnys Misstrauen zu groß sein würde, um das Essen anzurühren.

Ein wenig frustriert hob er die Schale wieder vom Boden ab, wandte sich um, warf noch einen Blick auf das Mädchen, das noch immer mit unbeeindruckter Mine neben ihm stand und ihn beobachtete.

„Soll ich was ausrichten?“, fragte sie, blickte dann auf die Schale und fügte hinzu: „Oder ihm das da geben?“

Einen Moment lang war Robin versucht, doch Ja zu sagen, dann schüttelte er den Kopf. “Nicht nötig, danke. Ich komm einfach später noch mal wieder.“

„Okay.“ Die Kleine zuckte mit den Schultern, drehte sich um und lief zurück zu ihrer Wohnung. Über die Schulter hinweg rief sie noch: „Er hat ausgesehen als hätte er Angst! Als ob er vor jemandem weglaufen würde! Vielleicht kommt er gar nicht zurück, weil er Angst vor irgendwas hat!“

Dann verschwand sie in der Wohnung und schloss die Tür hinter sich.

Einen Moment lang verharrte Robin unschlüssig, blickte dem Mädchen nach. Das Gefühl von Nervosität, das er bereits seit seinem ersten Klopfen an Jonnys Tür verspürt hatte, war noch stärker geworden, so sehr er auch versuchte, es zu ignorieren.

Dass Jonny ängstlich ausgesehen hatte war bestimmt kein Grund zur Sorge, versuchte er sich einzureden. Jonny hatte auch gestern unruhig gewirkt, ein wenig schreckhaft, selbst dann noch als er zugestimmt hatte, zu bleiben. Anscheinend war das nicht ungewöhnlich für ihn, und überraschend war das wohl auch nicht wirklich, wenn man bedachte, in was für einer Situation er sich befand.

Trotzdem klang das, was das Mädchen gesagt hatte, beunruhigend.

Als ob er vor jemandem weggelaufen wäre.

Dass da jemand war, vor dem Jonny weglief, sich versteckte, daran zweifelte Robin keineswegs. Anders war seine Paranoia wohl kaum zu erklären, und auch die paar Äußerungen, zu denen Jonny sich am gestrigen Abend hatte hinreißen lassen, hatten etwas derartiges angedeutet.

Aber dieser Jemand, wer immer er auch sein mochte, war mit Sicherheit nicht hier. Abgesehen davon, dass nicht einfach jeder in dieses Gebäude hineinkam, wofür von Sapphire bezahlte ‘Sicherheitsleute’ sorgten, waren kaum zwölf Stunden vergangen, seit er Jonny hier hergebracht hatte. Wenn, vor wem auch immer er sich versteckte, ihn bisher nicht gefunden hatte, dann wohl kaum jetzt auf einmal innerhalb dieser kurzen Zeit.

All diese Gedanken gingen Robin durch den Kopf, während er die zwei Treppen zurück nach unten ging, diesmal das Knarren gar nicht richtig wahrnehmend, und gerade war er im Erdgeschoss angekommen, als er das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür registrierte.

Er erblickte Jonny, bevor der ihn sah.

Mit gesenktem Kopf, die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht gezogen, mit einer Hand den Träger seines Rucksacks umklammernd, betrat er das Gebäude, bemerkte Robin zunächst nicht, obwohl der bloß wenige Meter von ihm entfernt am Fuß der Treppe verharrt hatte, schien vollkommen in Gedanken versunken zu sein.

Robin spürte, wie Erleichterung ihn überkam, und obwohl er fürchtete, dass er Jonny, der nichts von seiner Umgebung mitzubekommen schien, erschrecken würde, rief er dennoch: „Da bist du ja! Ich wollte gerade zu dir!“

Zu seiner Überraschung wirkte Jonny nicht, als habe der unerwartete Klang von Robins Stimme ihn erschreckt. Genauer gesagt reagierte er im ersten Moment überhaupt nicht, verharrte bloß in seiner Bewegung und hob dann den Blick, betrachtete Robin mit einem Ausdruck in den Augen, der irgendwo zwischen Verwirrung und Orientierungslosigkeit lag. Als wüsste er weder so recht, wo er war, noch, wer die Person war, die da vor ihm stand und ihn angesprochen hatte.

Dann jedoch schien ihm bewusster zu werden, was um ihn herum passierte, und er schaffte es sogar, ein leichtes Lächeln aufzusetzen.

„Oh, Hey. Ich war ein bisschen spazieren... wolltest du was Bestimmtes von mir?“

Die Art, wie er die Worte aussprach, erschien Robin seltsam, sie klangen irgendwie träge, beinahe schläfrig, und es lag etwas darin, das sich wie ein Dialekt aus einem der Südstaaten anhörte.

Am auffälligsten jedoch war der monotone Klang, den das Gesagte hatte. Vollkommen unpassend zu der nervösen Art, die Jonny bisher an den Tag gelegt hatte.

So verwirrend Robin das auch fand, er bemühte sich, ich diese Irritation nicht anmerken zu lassen. Erwiderte stattdessen auf die gestellte Frage: „Ich wollte dir was zu Essen vorbeibringen. In der Küche in der Bar bleibt eigentlich immer was übrig, und die Mitarbeiter dürfen sich dann immer was mitnehmen. Und ich dachte mir, du hast ja bestimmt nichts zu essen da...“

„Oh, danke. Das ist nett.“

Jonny klang nicht misstrauisch, allerdings war da auch sonst nichts an seinem Tonfall, was Rückschlüsse auf sein aktuelles Empfinden zuließ, abgesehen davon vielleicht, dass er nicht ängstlich wirkte. Was Robin, vor allem nach dem, was ihm das Mädchen erzählt hatte, erwartet hatte.

Kurz fragte er sich, ob Jonny vielleicht getrunken hatte, oder etwas anderes zu sich genommen, was seine Nervosität unterdrückte, das hätte wohl auch die seltsam benommene Art erklärt, mit der er redete. Zwar wirkte er nicht betrunken, aber doch irgendwie so, als wäre er nicht ganz im Hier und Jetzt.

Auch der Blick, mit dem Jonny Robin musterte, während er auf ihn zuging und ihm die Schale abnahm, wirkte abwesend. Als sehe er seinen Gegenüber nicht an, sondern viel mehr durch ihn hindurch.

„Danke“, sagte er dabei noch einmal, als habe er vergessen, dass er sich bereits bedankt hatte, und dieses Mal war Robin sich relativ sicher, dass der Dialekt in seiner Stimme wie der eines ehemaligen Bekannten klang, der ursprünglich aus Arkansas stammte. Er beschloss, dieses Detail abzuspeichern, wofür auch immer.

„Kein Problem. Wie gesagt, es bleibt eigentlich eh immer was übrig“, gab er zurück, und fügte dann hinzu, weil es sich gerade anbot und es ihn ohnehin interessierte: „Du kannst dir dann abends gerne immer was mitnehmen. Es bleibt doch dabei, dass du erst mal in der Bar arbeiten willst...?“

Jonny antwortete nicht gleich, was womöglich damit zusammenhing, dass er momentan allgemein abwesend wirkte und einen Moment zu brauchen schien, um zu verarbeiten, was Robin meinte. Dann jedoch nickte er.

„Ja. Ich komm dann rüber. Siebzehn Uhr war das, oder?“ Das Wort Uhr klang bei ihm dabei mehr wie Uh-wa.

Robin nickte, und wahrscheinlich war ihm seine Erleichterung darüber, dass Jonny die Frage nicht verneint hatte, deutlich anzusehen. Das kümmerte ihn in diesem Moment allerdings herzlich wenig, er freute sich eben immer noch darüber, dass Jonny das Angebot angenommen hatte, da war ja wohl nichts verkehrt dran, oder?

„Ja, genau. Die Bar wird noch abgeschlossen sein, eigentlich öffnet die erst um sechs. Entweder zu klingelst, oder du gehst hinten Rum durch den Hintereingang für Angestellte.“

„Okay. Gut.“

Ein paar Sekunden lang stand Jonny noch da, als müsse er überlegen, ob er noch etwas sagen oder einfach nach oben gehen wollte. Am Ende entschied er sich für Letzteres.

Nachdem er an Robin vorbei und die ersten Treppenstufen hinaufgegangen war, und Robin seinerseits angefangen hatte, sich in Richtung Tür zu bewegen, drehte Jonny sich jedoch noch einmal um.

Seine Stimme klang nun ein wenig wacher, wobei der Akzent, der wirklich ziemlich an den von Robins Bekannten erinnerte, wieder ein wenig in den Hintergrund gerückt war, jedoch noch immer deutlich wahrnehmbar war.

„Dann bis nachher. ...Du bist doch dann auch da, oder?“

„Ja, sicher.“

Tatsächlich hatte Robin noch nicht darüber nachgedacht, ob er sich heute Abend wieder in die Bar setzen oder seine Zeit lieber anderweitig verbringen sollte, entweder mit etwas Entspannendem oder geschäftlichen Dingen. Aber wo Jonny ihn nun so direkt fragte wäre es ihm falsch vorgekommen, zu sagen, dass er womöglich in seiner Wohnung bleiben und nicht in der Bar auftauchen würde. Möglicherweise schrieb er sich selbst da zu viel Bedeutung zu, doch er hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass seine Anwesenheit, beziehungsweise die einer zumindest Ansatzweise bekannten Person, dafür sorgen konnte, dass Jonny nicht ganz so nervös sein würde.

Also warum nicht? Er musste sich ja nicht unbedingt wieder betrinken.

„Gut. Dann bis nachher“, sagte Jonny noch einmal, und vielleicht bildete Robin es sich ein, doch er glaubte, gesehen zu haben, wie Jonny erfreut gelächelt hatte, bevor der sich wieder umgedreht und seinen Weg die knarrende Treppe hinauf fortgesetzt hatte fortgesetzt hatte.

„Bis nachher.“

Obwohl Jonny ihn nicht mehr ansah hob Robin dennoch die Hand, bevor er weiter zur Eingangstür und nach draußen ging, dabei zufrieden feststellend, dass seine Nervosität, die sich in den letzten knapp zehn Minuten in ihm eingenistet hatte, beinahe vollständig verschwunden war.

Dafür, dass er zunächst befürchtet hatte, Jonny wäre ohne ein Wort zu sagen einfach wieder verschwunden, was das Ganze wirklich gut gelaufen.

2 -6

„Du willst das also wirklich machen, ja? Du willst wirklich in dieser Bar arbeiten?“

Die Stimme klang dieses Mal nicht vorwurfsvoll, eher etwas erschöpft, als habe sie die ganzen Diskussionen allmählich leid.

Jonny machte sich nicht die Mühe, seine Lider zu öffnen - teils aufgrund der Erschöpfung, die seit er aus seinem unruhigen Schlaf am frühen Morgen aufgewacht war angehalten hatte, teils, weil er nicht wollte, dass die bunten Bilder, die vor seinen geschlossenen Augen abliefen, verschwanden.

„Mhm“, erwiderte er, wobei er sich nicht wirklich sicher war, ob er diese Äußerung laut hervorgebracht oder bloß gedacht hatte.

Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte.

Es mochte an seinem allgemeinen Zustand liegen, an der Entspannung und der wohligen Wärme, die seinen Körper erfüllten, an dem Gefühl, sich seit einer Ewigkeit in einer Art Halbschlaf zu befinden, dass die Stimme nicht mit Aggression reagierte.

Jonny war sich sicher, dass sie unter normalen Umständen nicht so einfach akzeptiert hätte, was er vorhatte, dass sie versucht hätte, ihn davon zu überzeugen, dass es besser wäre, von hier zu verschwinden, so, wie sie es gestern getan hatte.

Dass sie, nachdem er im Bad seinen Blackout gehabt hatte, nicht einfach dafür gesorgt hatte, dass er gegangen war, hatte ihn beim Aufwachen überrascht, auf seine Nachfragen diesbezüglich hatte er jedoch keine Antwort erhalten.

Vielleicht würde sie später wieder auf ihn einreden, wenn die Wirkung der Drohe nachließ, die er auf seinem kleinen Spaziergang in einer unbeobachteten Ecke zu sich genommen hatte, wofür er sich bereits im Moment des Konsums gehasst hatte. Aber wenn er es heute nicht nötig gehabt hatte, nach diesem grauenhaften Traum, aus dem er durchgeschwitzt und schwer atmend erwacht war, wann dann?

Bei dem Gedanken an den Traum erschauderte Jonny, und kurz drohten die Visionen in eine düstere Richtung abzudriften, stabilisierten sich dann jedoch wieder und zeigten weiterhin das Haus, auf das er sich, seit er sich auf das Bett hatte fallen lassen, konzentriert hatte.

„Bevor ich in die Bar gehe, muss ich wahrscheinlich noch mal duschen“, schoss es ihm gleichzeitig durch den Kopf, und er musste daran denken, wie furchtbar er ausgesehen hatte als er vorhin kurz in den Spiegel geblickt hatte.

Prompt reagierte die Stimme auf diese Feststellung.

„Du könntest auch einfach liegenbleiben. Das wäre besser. Du müsstest dich nicht mit Leuten herumschlagen, und überhaupt, dich nicht zu etwas verpflichten wo du dann vielleicht nicht mehr rauskommst...“

Wie irritierend es war, wenn sie derart umsichtig anstatt aggressiv klang. Natürlich hatte Jonny sie bereits so erlebt, das war schließlich nicht sein erster Trip, trotzdem war er immer wieder aufs Neue überrascht.

„Ich verpflichte mich zu überhaupt nichts“, murmelte er, während eine Woge von Wärme über ihn hinwegschwappte. „Aber stell dir vor... es ist nicht meine Wunschvorstellung, auf ewig auf der Straße zu leben. Wobei ewig wohl auch sehr optimistisch ausgedrückt ist, ich weiß nämlich nicht, wie lange ich es unter diesen Umständen wirklich schaffe, am Leben zu bleiben. Und... wie lange ich das überhaupt wollen würde.“

Dieser Gedanke kam ihm leichter, jetzt, wo sein Verstand derart benebelt war, aber er erschreckte ihn nicht. Es war einfach eine Tatsache, und sie zu leugnen hätte das Problem, das dahintersteckte, nicht behoben.

Als die Stimme ihm nun antwortete, hatte sie einen Hauch von ihren gewohnten Spott zurückgewonnen.

„Und du denkst, so ein Job als Kellner oder was auch immer hilft dir dabei, dein Leben auf die Reihe zu bekommen?“

„Wäre wohl ein Anfang. Dadurch, dass ich immer weiter weglaufe und mich verstecke, wird jedenfalls nichts besser.“

Es war angenehm, das ganze einmal so optimistisch zu betrachten, auch wenn Jonny klar war, dass dieser Optimismus zusammen mit der Wirkung der Droge verschwinden und dem üblichen Misstrauen und der Paranoia weichen würde. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn er auch nüchtern so überzeugt von seiner Entscheidung gewesen wäre, wie er es jetzt war.

Jetzt fühlte es sich wirklich richtig an. Nicht naiv, nicht leichtsinnig, nicht gefährlich.

Einfach richtig. Wie ein Punkt, an dem die Möglichkeit bestand, dass von hier aus wirklich und wahrhaftig alles besser werden konnte.

Wenn er bloß alles richtig machte.

2 -7

Die verdammte Kaffeemaschine war kaputt.

Amára hatte das Bedürfnis, auf sie einzuschlagen, was natürlich nicht dazu beitragen würde dass sie wieder funktionierte, ihr aber zumindest dabei helfen würde, ihren Frust auszulassen, und mehr als kaputt konnte sie das verdammte Ding ja wohl auch nicht machen.

Dennoch riss sie sich zusammen. Stellte die Tasse, die sie sich gerade erst genommen hatte, zurück in den Schrank, verließ die Teeküche und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Schreibtisch, der von Akten, Notizzetteln und sonstigen für die Arbeit notwendigen Utensilien beinahe überquoll.

Wie sie den Tag ohne Koffein überstehen sollte, war ihr ein Rätsel.

Sie konnte wohl nur hoffen, dass sie noch heute noch einmal nach draußen fahren konnte und so die Möglichkeit haben würde, sich in irgendeinem Diner einen Becher voll wässriger Plörre zu besorgen, die auch nicht weniger schmackhaft war als das Zeug, das einem hier im Policedepartment als ‘Kaffee’ untergejubelt wurde.

Ihr Stuhl knarzte, als sie sich darauf fallen ließ, und um ein Haar wäre sie nach hinten übergekippt weil die verdammte Sitzfläche seit einem guten halben Jahr locker war und sie das immer noch jedes Mal wieder vergaß. Irgendwann würde sie wohl wirklich stürzen und sich den Schädel am Tisch hinter ihr aufschlagen. War so etwas als Arbeitsunfall von der Versicherung gedeckt, oder viel das unter eigene Doofheit? Nun, das hier war Amerika, von daher vermutlich beides.

Amára fiel selbst auf, dass ihre Gedanken heute reichlich zynisch waren, doch wie sollte es auch anders sein, nachdem sie heute Nacht kaum Schlaf gefunden hatte weil sie wieder einmal den Eindruck gehabt hatte, dass ihr Uterus den Plan hatte, sie qualvoll um die Ecke zu bringen, sodass sie stundenlang zusammengekrümmt im Bett gelegen hatte und bloß immer wieder kurz in eine Art Halbschlaf gefallen war.

Nach zwei Dolormintabletten waren die Schmerzen zwar erträglich geworden, ihre Laune jedoch hatte sich dadurch nicht gebessert.

Irgendein Kollege hatte hinter ihrem Rücken bereits die Bemerkung gemacht, dass ihre schlechte Laune bestimmt damit zusammenhing, dass sie ihre Tage hatte, und obwohl das in diesem Fall der Wahrheit entsprach hätte sie ihm am liebsten die Augen ausgekratzt.

Sie hatte immerhin auch häufig genug aus anderen Gründen schlechte Laune - chauvinistische Sprüche von Kollegen standen auf dieser Liste ganz weit oben - da empfand sie die Schlussfolgerung, es läge einzig an ihren Hormonen und diesem nutzlosen Organ in ihren Unterleib, beinahe als beleidigend.

Sichtlich lustlos griff Amára nach einer der Mappen, blätterte darin und ließ sie dann mit einem Seufzen zurück auf die Tischplatte fallen. Es war ihr ein Rätsel, wie sie in ihrem aktuellen Zustand auch nur einen halbwegs klaren Gedanken fassen, geschweige denn sich wirklich auf einen dieser unzähligen offenen Fälle konzentrieren sollte...

„Wow, du siehst ja wirklich beschissen aus.“

Amára hob den Kopf, bereits eine giftige Erwiderung auf den Lippen, die sie sich mit Mühe verkniff, als sie erkannte, wer da neben ihr stand und sie mit einem leichten Lächeln bedachte.

Sie selbst verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, was aktuell die freundlichste Geste war, zu der sie sich in der Lage fühlte.

„Kann ich nur zurückgeben. Aber bei mir liegt es wenigstens nur daran, dass ich schlecht geschlafen habe!“

„Na, vielen Dank.“

Adrián Rubero warf ihr einen betont verletzten Blick zu, dann streckte er seinen Arm aus und stellte den Kaffeebecher, den er in der Hand gehalten hatte, auf ihrem Tisch ab. „Aber das glaube ich dir sogar... ich war vorhin an einem Tatort, der mir etwas auf den Magen geschlagen ist. Aber hier, ich hab dir einen Kaffee mitgebracht. Hab vorhin schon gesehen dass die Maschine kaputt ist und hab mir gedacht, dass du bestimmt einen gebrauchen kannst wenn du zum Dienst kommst.“

„Adrián, habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?“

Amáras Grinsen wurde breiter und etwas weniger gezwungen, sie griff nach dem Becher und nahm einen großen Schluck.

Der Inhalt schmeckte wirklich nach Kaffee, und nicht nach bitterem Wasser, was darauf schließen ließ dass Adrián ihn nicht von Peter’s Pancake Diner geholt hatte, was direkt gegenüber der Polizeiwache lag.

„Manchmal“, erwiderte Adrián bescheiden. „Aber wenn du dir Hoffnungen machst, dass ich dich auf ein Date einlade, muss ich dich enttäuschen!“

„Oh, keine Sorge, dafür müsstest du dann doch etwas mehr tun, als mir ab und an Kaffee mitzubringen!“

Das entsprach zwar nicht direkt der Wahrheit, tatsächlich wäre eine solche nette Geste für Amára durchaus ein Grund gewesen, Interesse an jemandem zu haben, aber sie wusste, dass sie sich da bei Adrián keine Hoffnungen zu machen brauchte. Außerdem war er ohnehin nicht ganz ihr Typ.

„Aber was war das denn für ein Tatort, der dir auf den Magen geschlagen ist?“, fragte sie nun, nahm dann einen weiteren Schluck Kaffee.

Das Lächeln, das bis eben auf Adriáns Gesicht gelegen hatte, verblasste. Wurde überschattet von etwas, das wie Frustration, vielleicht auch wie Besorgnis wirkte. Jedenfalls wie etwas, was darauf hindeutete, dass ihm einiges an diesem Fall sauer aufstieß.

„Es ging um einen Mord. Drüben in der Eastside. Eine ganze Familie wurde umgebracht, Vater, Mutter, und Tochter. Wobei umgebracht wohl nicht ganz das richtige Wort ist... abgeschlachtet trifft es wohl besser, auch wenn es reißerisch klingt. Aber ich meine das wirklich so. Du weißt dass ich schon einige Dinge gesehen habe, aber ich glaube mir ist noch nie etwas so auf den Magen geschlagen wie das...“

Das glaubte Amára ihm sofort. Seine ganze Art ließ darauf schließen, dass ihn, was auch immer genau er dort gesehen hatte, mitgenommen hatte, und natürlich wusste sie auch, dass Adrián niemand war, der grundsätzlich zart besaitet war. Dass ihm nun also etwas so sehr zu schaffen machte dass er auf diese Art darüber sprach, weckte ihre Neugierde.

Mit einem vielsagenden Blick auf den Haufen Akten, der auf ihren Schreibtisch ausgebreitet lag, hakte sie nach: „Ich hab zwar selber mehr als genügend Fälle hier rumliegen die ich bearbeiten muss... Aber das meiste davon ist Kleinkram. Also, falls du jemanden brauchst, mit dem du dich austauschen möchtest...“

Natürlich sollte ein Polizeibeamter so etwas vorrangig mit dem ihm zugewiesenen Partner tun, mit dem er seine Fälle zusammen bearbeitete. Dass Ernest Trevor Bowman, der für Adrián eben dieser Partner war, jedoch niemand war, mit dem man sonderlich gut reden konnte, und das sowohl dienstlich als auch privat, war Amára gut bekannt.

Das Blitzen in den Augen ihres Gegenübers verriet ihr, dass dieser auf ein solchen Angebot ausgewiesen war. Dennoch wirkte er nicht sonderlich enthusiastisch, als er erwiderte: „Ach, ich weiß nicht, ob das so sinnvoll ist. Bowman hat mir gesagt, ich solle mich da nicht so reinsteigern. Und dass die Sache ja wohl eigentlich klar wäre.“

„Aha. Und was meint er damit?“

„Er ist der Meinung, dass das mit irgendwelchen Gangaktivitäten zu tun hat, oder mit Drogen, oder irgendwas in dieser Art. Dass sich da jemand mit den falschen Leuten angelegt hat und dafür bestraft wurde. Und dass es keinen Sinn hätte, das weiter zu verfolgen, weil es eh zu nichts führen würde.“

„Aber du bist da nicht seiner Meinung.“

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, dennoch nickte Adrián.

„Ich weiß, was in der Eastside für Dinge passieren. Ich hab meine Kindheit dort verbracht, und ich hab Dinge gesehen, die kein Kind sehen sollte. Auch kein Erwachsener. Niemand. Ich bin mir auch sicher, dass das, was ich heute gesehen habe, nicht einmal das Grausamste war, was mir je untergekommen ist. Aber dieses Bild...einfach...Die ganze Szenerie.“ Er stockte, seufzte.

Kurz wartete Amára ab, ob er weitersprechen würde, und als er das nicht tat, tat sie es: „Was genau war das denn? Du kannst mir auch deinen Bericht geben, wenn du nicht drüber reden willst. Aber ich muss zugeben, dass ich wirklich neugierig bin!“

Irgendwie klang das morbide, immerhin ging es um einen Mordfall, um tote Menschen. Andererseits konnte sie auch nicht leugnen, dass sie ihren Betrug unter anderem aufgrund ihres Interessen an derartigen Taten gewählt hatte.

Adrián zögerte. Er schien abzuwägen, ob er darüber reden wollte oder nicht, ob er seiner Kollegin einfach seine Notizen überreichen sollte, oder ob er vielleicht besser nichts dergleichen tat, denn immerhin hatte sie mit der ganzen Sache, mit dem Fall, nicht das Geringste zu tun.

Trotzdem hatte er offensichtlich das Bedürfnis, über die Sache zu sprechen, und zwar nicht mit jemandem wie Bowman, der die sozialen Kompetenzen eines Pantoffeltierchens besaß und ziemlich schnell genervt war, wenn man mit ihm aus seiner Sicht zu viel über einen Fall redete.

Also griff er schließlich in die Tasche seine Uniformjacke, zog den zerfledderten Notizblock heraus, der aussah als würde er ihn seit Beginn seiner Dienstzeit benutzen, und reichte ihn Amára.

Es dauerte ein wenig, bis sie es geschafft hatte, Adriáns Schrift zu entziffern - zu Beginn hatte er noch halbwegs deutlich geschrieben, doch je weiter sie las, desto mehr sahen die Buchstaben nach Hieroglyphen aus.

Was sie jedoch las, ließ sie ohne weiteres über das krakelige Schriftbild hinwegsehen.

„Dios mío“, murmelte sie schließlich und gab Adrián seinen Block zurück. Sie verstand nun, was er gemeint hatte, als er gesagt hatte, dass es nicht bloß die Grausamkeit an sich gewesen war, die dieses Gefühl von Unbehagen in ihm hatte aufkommen lassen, sondern das Gesamtbild.

Und vor allem konnte sie nachvollziehen, dass er Bowmans Aussage, es handele sich um eine absolut typische Banden- oder Drogenmilleu Tat, nicht zustimmte.

„Ja, das kannst du laut sagen“, meinte Adrián mit unterdrückter Stimme, während er den Block wieder in seiner Jacke verstaute. „Bowman kann mir doch nicht wirklich erzählen wollen, dass das einfach bloß das Werk eines verärgerten Dealers oder so was ist!“

„Oh, er will dir das ganz bestimmt erzählen. Keine Ahnung, ob er das selber glaubt, oder ob er einfach keine Lust hat, seine Zeit mit diesem gesellschaftlichen Abschaum zu verschwenden...“ Ihre letzten Worte hatte Amara mit betont überspitzter Stimme hervorgebracht, und sie zudem mit Anführungszeichen in der Luft unterstrichen, um klarzumachen, dass sie hier nicht ihre eigene Ansicht, sondern ein Zitat wiedergab, welches Bowman bereits drei oder vier mal in ähnlicher Formulierung und in diversen Situationen von sich gegeben hatte.

Das Lächeln, das sich auf Adriáns Gesicht ausbreitete, war bitter.

„Ja, da hast du wohl recht. Er denkt wahrscheinlich, dass sich niemand daran stören wird, wenn er diesen Fall einfach als einen von vielen Fällen mit zu wenig Spuren für eine Verfolgung zu den Akten legen wird... und ja, verdammt, das ist wahrscheinlich auch so. Ich weiß nicht mal, ob die Familie noch irgendwelche Angehörigen hat, die sich dafür interessieren, was genau mit ihnen passiert ist, aber wenn da noch jemand ist, was ich irgendwie nicht glaube, und diese Leute auch in der Eastside wohnen, dann wird deren Meinung hier auch kaum jemanden ernsthaft interessieren.“

„Das ist wie bei manchen Serienmördern und ihren Opfern“, stimmte Amara ihm zu, wobei sie gedankenverloren einen Kugelschreiber zwischen ihren Fingern umher drehte. „Manche Opfer haben eben keine Lobby. Niemanden, den es interessiert, was mit ihnen passiert.“

„Klingt ziemlich düster... aber ja, um Grunde ist es so.“

Adrián klang jetzt ziemlich nachdenklich, und Amara glaubte, zu wissen, warum dem so war.

„Ist es das, was du glaubst?“, fragte sie. „Dass das die Tat eines... werdenden Serienmörders war?“

„Na ja. Ob ich das glaube, weiß ich nicht, aber zumindest habe ich da dran gedacht.“ Adrián zuckte mit den Schultern. „Fällt mir einfach schwer zu glauben, dass jemand, der sich solche Mühe mit der Herrichtung seiner Opfer macht, so etwas nur einmal tut.“

„Vielleicht war es ja einfach war Persönliches.“ Wenn Amara ehrlich war, glaubte sie das zwar nicht wirklich, auch wenn es durchaus Aspekte gab, die darauf hindeuteten, aber auszuschließen war es wohl nicht. Adrián allerdings schien von dieser Theorie ebenso wenig zu halten wie sie.

„Ja, vielleicht. Aber ich weiß nicht. Das ist alles so... so...“ Ein wenig hilflos zuckte er mit den Schultern, schien nach den richtigen Worten zu suchen, doch ohne Erfolg. Amara wäre gerne eingesprungen, aber ihr ging es da nicht anders. Vielleicht gab es gar keine Worte, um das, was sich dort in dieser Wohnung in der Eastside abgespielt hatte, wirklich treffend zu beschreiben.

Und vielleicht konnten sie auch mit den wenigen Dingen, die sie bisher wussten, überhaupt keine Einschätzung darüber treffen, was nun dahintersteckte.

Fest stand jedoch eines, zumindest für Amara - wobei, wenn sie genauer darüber nachdachte, waren es zwei Dinge.

Das erste war dabei so offensichtlich, dass es wohl selbst jemand wie Bowman, der kein Interesse daran hatte sich tiefergehend mit der Sache zu beschäftigen, dem zugestimmt hätte: Es war keine Affekttat gewesen. Der Täter war nicht einfach vorbeigekommen, war vielleicht nach einem Streit wütend geworden und hatte deshalb beschlossen, die gesamte Familie Nelson auszulöschen. Zwar hatte darüber nichts in Adriáns Notizen gestanden, aber es erschien doch recht unwahrscheinlich, dass die für die Verstümmelungen der Leichen notwendigen Utensilien sich in der Wohnung befunden hatten, und dass der Mörder es dann auch noch für nötig gehalten hatte, sie zusammenzusuchen, um einen derart auffälligen Tatort zu inszenieren.

Nein, er war bereits mit dem Vorhaben dort aufgetaucht, dieses Verbrechen zu begehen, ebenso, wie es sein Plan gewesen war, die Leichen auf diese Art herzurichten.

Diesbezüglich war Amara sich vollkommen sicher.

Und noch etwas glaubte sie zu wissen, und sie nahm an, dass Adrián diese Meinung teilte: Es steckte mehr dahinter als eine nicht beglichene Rechnung oder dergleichen. Etwas anderes. Vielleicht war es ein Täter, der vorhatte, weitere derartige Verbrechen zu begehen und sich damit in Zeitungen und Fernsehen einen Namen zu machen, wie der Zodiac Killer oder der Nightstalker. Vielleicht auch nicht, vielleicht gab es einen Hintergrund, den sie bisher nicht kannten, nicht kennen konnten, weil es nicht genügend Puzzleteile gab oder diese zumindest noch nicht entsprechend aufgedeckt worden waren, aber irgend etwas war da.

Dass sie vollkommen in ihren Gedanken versunken gewesen war, registrierte Amara erst, als heißer Kaffee über ihren Handrücken lief und sie bemerkte, dass sie ihren Becher während ihrer Überlegungen immer mehr in eine Schieflage gebracht hatte.

Nachdem sie ihrem Unmut über ihre Unaufmerksamkeit mit Hilfe einiger spanischer Schimpfworte Ausdruck verliehen hatte, für die sie sich von ihrer Mutter wohl eine gefangen hätte, stellte sie an Adrián gewandt die ihrer Meinung nach relevante Frage: „Und was willst du jetzt machen? Tun, was Bowman sagt, und es gut sein lassen?“

Tatsächlich war es in gewissem Maße eine rethorische Frage gewesen, und die Antwort, die Adrián ihr gab, überraschte sie keineswegs.

„Das kann ich nicht. Ich weiß, dass es nicht stimmt, was er sagt, das war nicht einfach bloß eine Art von Abrechnung oder so was. Selbst wenn es das wäre würde ich mich beschissen dabei fühlen, dass wir das einfach zu den Akten legen, immerhin sind es verdammt noch mal Menschen die da sterben! Auch wenn ich Bowman dann zustimmen müsste, dass Ermittlungen wohl kaum etwas bringen würden.“

Er stockte, vermutlich, um Lust zu holen, schien dann jedoch nicht wirklich zu wissen, wie er weitersprechen sollte.

Dieses Mal glaubte Amara, zu wissen, was er sagen wollte.

„Aber da ist eben mehr“, ergänzte sie deshalb. „Ich hab den Tatort nicht gesehen, aber alleine durch deine Notizen gehe ich davon aus. Dem nicht nachzugehen wäre nicht nur falsch, weil Leute gestorben sind, sondern auch, weil die Gefahr besteht, dass noch mehr sterben werden. Das denke ich zumindest. Du doch auch, oder?“

Adrián nickte. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der ihr bestätigte, dass das, was sie sagte, genau das war, was ihm die ganze Zeit über bereits im Kopf herumgegangen war, und dass er froh war, dass sie so dachte und seine Vermutungen nicht als alberne Zeitverschwendung abtat, wie sein Partner das getan hatte.

„Schön, dass du das auch so siehst. Ich weiß noch nicht wirklich, was ich tun will. Ich denke, ich werde ein wenig nachforschen, am besten so, dass Bowman nichts davon mitbekommt. Ich habe wirklich keine Lust darauf, mit ihm zu diskutieren.“ Nachdenklich ließ er seinen Blick über Amaras Schreibtisch gleiten, dann ergänzte er: „Auf jeden Fall werd ich nachprüfen, ob es vielleicht doch noch irgendwelche Angehörigen gibt. Falls ja, kann es ja durchaus sein, dass die noch irgend etwas Interessantes zu berichten haben! Ganz davon abgesehen, dass wir sie eh darüber benachrichtigen müssen, dass ihre Verwandten tot sind. Zumindest meines Wissens nach gehört das zu unserem Job dazu, egal, was Bowman dazu sagt.“

Er klang selbstsicher, als er das sagte, und dennoch machte es auf Amara den Eindruck, als wolle er sich mit seinen Worten in erster Linie selbst überzeugen. Wer konnte es ihm verübeln; Detective Bowman war wahrhaftig kein Mensch, mit dem man sich gerne anlegte, und genau das bedeutete es, wenn Adrián sich dazu entschied, dem Fall doch mehr Aufmerksamkeit zu widmen als es der Ansicht seines Partners nach notwendig war.

„Dann viel Erfolg dabei“, meinte sie, bemühte sich dabei, ihrem Kollegen ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, was sich als schwierig erwies, da sie in diesem Augenblick eine neue Welle von Unterleibskrämpfen überrollte, die dafür sorgte, dass sie sich auf dem bedenklich knarrenden und kippelnden Stuhl nach hinten lehnte und die Beine kerzengrade von sich weg streckte.

Das half ein wenig, wenn auch nicht viel.

Adrián betrachtete sie kurz irritiert, schien dann aber zu begreifen. Einen Kommentar verkniff er sich - etwas, von dem er in der Zeit, die er Amara bereits kannte, gelernt hatte, dass es das Beste war, was er tun konnte.

„Danke für das Gespräch“, sagte er stattdessen, und im Gegensatz zu seiner von Schmerzen gequälten Kollegin schaffte er es, zu lächeln. „Und dafür, dass du mir bestätigt hast, dass meine Gedanken zu dem Ganzen nicht vollkommen abwegig sind! Es stört dich hoffentlich nicht, wenn ich vielleicht noch öfter mit dir darüber rede?“

„Nein, absolut nicht“, presste Amara hervor, schloss die Augen und atmete einfach tief durch. Gleich würde der Schmerz wieder abklingen, doch in diesem Augenblick fühlte sich ihr Uterus so an, wie sie sich früher die Qualen im Fegefeuer vorgestellt hatte.

Während Andrián sich umdrehte und zurück zu seinem eigenen Schreibtisch ging, wo er sich entweder seinen offenen Fällen widmen, oder mit der Recherche nach Angehörigen der ermordeten Familie suchen würde, taste Amara nach ihrer Handtasche und kramte darin herum, bis sie endlich die Packung mit den Schmerztabletten unter ihren Fingerkuppen spürte und sie sie herauszog.

Was hatte die Natur sich eigentlich dabei gedacht, einen jeden Monat aufs Neue auf solch qualvolle Art und Weise leiden zu lassen, bloß, um einem mitzuteilen, dass man überraschenderweise auch dieses Mal bei vollkommener Abwesenheit irgendeines Sexualpartners nicht schwanger geworden war?

„Ist wahrscheinlich immer noch besser, als den Brustkorb aufgeschnitten und die Zungen herausgeschnitten zu bekommen“, mumelte Amara zu sich selbst, steckte sich die Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Schluck ihres inzwischen merklich abgekühlten Kaffees herunter.

Dieser Gedanke hatte nicht wirklich etwas Tröstendes an sich, tatsächlich kam es ihr in diesem Moment in der Tat so vor, als wäre sie dabei, zu sterben.

Das Entscheidende jedoch war, dass das nicht passieren würde.

Ihr Schmerz würde vorbeigehen, und dann hätte sie bis in knapp vier Wochen ihre Ruhe, falls sie es nicht endlich schaffte, einen Termin bei ihrer Frauenärztin zu vereinbaren, weil derartige Schmerzen eben nicht normal waren, auch, wenn jungen Leuten das gerne eingeredet wurde.

Sie würde weiterleben, und nicht unter ihren Schmerzen an ihr zugefügten Verletzungen verenden, während irgendein Sadist ihren Körper auf eine Weise zur Schau stellte, als handele es sich dabei um eine Art Kunstwerk.

Möglicherweise war es das auch für ihn... ein Kunstwerk. Eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sich selbst zum Gesprächsthema zu machen.

Zumindest in der Eastzeit wird das wohl auch funktionieren, dachte Amara, während sie merkte wie die Krämpfe allmählich abebbten. Die Leute in der Eastside werden da bestimmt drüber reden. Aber ob dieser Mord es wirklich in die Zeitung schafft... vielleicht irgendwo als Randnotiz, neben des anderen kleinen Bemerkungen über die steigende Kriminalität und die Gewaltrate in der Eastside, aber vielleicht nicht mal das. Denn wer will schon Artikel über Leute lesen, deren Existenz man schon zu Lebzeiten am liebsten geleugnet hat? Es ist wirklich wie mit den Serienmördern, die Prostituierte ermordet haben; die so lange weitermachen konnte, weil es niemanden interessiert hat. Es wird keine ausschweifenden Artikel darüber geben, dass eine arme Familie in einem von Gewalt geprägten Viertel umgekommen ist, weil so etwas am Ende eben wirklich Alltag ist!

Möglicherweise war das sogar gut. Falls es der Person, die die Familie ermordet hatte, wirklich um Aufmerksamkeit ging, dann würde es sie vielleicht entmutigen, wenn nicht wie möglicherweise erhofft auf den Titelseiten der Zeitungen über ihre grausame Tat berichtet wurde.

Oder aber das Gegenteil wäre der Fall.

Sollten sich in nächster Zeit weitere Leichen finden, egal, ob in der Eastside oder in den angeseheneren Teilen von Red Creek - für die Opfer an sich machte das keinen Unterschied, die wären tot, egal, woher sie kamen - dann konnte das gut daran liegen, dass der Täter glaubte, damit durchzukommen. Dass er weitermachen konnte mit dem, was er, aus welcher Motivation heraus auch immer, tat, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, da Leute wie Detective Bowman der Meinung waren, Ermittlungen zu dem gewaltsamen Tod einer Familie am Rande der Gesellschaft würde sich nicht lohnen.

Wie frustrierend es war, wenn man es so deutlich formulierte. Wie abwertend.

Ja, gut möglich, dass es weitere Morde geben würde. Dass dahinter jemand steckte, für den das Töten mehr war als ein Mittel zum Zweck, dessen Motivation nicht darin bestand, sich für illegale Geschäfte oder dergleichen zu rächen, oder um seine Machtposition zu demonstrieren.

Jemand, der es wieder tun würde, wenn er merkte, dass ihn niemand davon abhalten würde, der möglicherweise eine perverse Freude daran entwickeln würde, zu testen, wie weit er gehen konnte, auf welche Arten er die Menschen verstören, Angst verbreiten konnte.

Und Amara fragte sich, wobei eine Mischung aus Frustration und Resignation in ihr aufstieg, wie lange man dieses Spiel wohl ungestraft spielen konnte, solange man sich auf Menschen konzentrierte, deren Existenz für die einflussreichen Leute der angesehenen Gesellschaftsschichten keinerlei Relevanz besaßen.

2 -8

Auch zu ihrer Arbeit in der Bar wäre Lola um ein Haar zu spät gekommen.

Das lag dieses Mal nicht daran, dass sie verschlafen hätte, sondern an ihrer Mutter, die ihr, nachdem Lola bereits einen halben Häuserblock entfernt gewesen war, derart panisch hinterher gerufen hatte, als würde sie gerade einen Herzanfall erleiden oder anderweitig medizinische Hilfe benötigen.

Nachdem Lola alarmiert zurück gesprintet war, um die Ursache für die Aufregung ihrer Mutter zu erfahren, hatte sie anstelle von Schilderungen über Schmerzen in der Brust oder dergleichen lediglich eine Dose mit selbstgebackenen Keksen erhalten.

„Du hast die Plätzchen vergessen! Ich hab dir doch extra gesagt, dass du sie mitnehmen sollst!“, hatte Mom gesagt, und kurz hatte Lola das drängende Bedürfnis verspürt, loszuschreien und so ihren kurzzeitigen Schrecken zum Ausdruck zu bringen.

Solch eine Reaktion hätte jedoch bloß zusätzlich Zeit gekostet, zumal sie im zweiten Augenblick auch froh gewesen war, dass es nichts Ernstes gewesen war, weswegen sie einfach die Keksdose an sich genommen und sich wieder im Laufschritt auf den Weg zur Bar gemacht hatte, nicht ohne die erneuten Abschiedsworte ihrer Mutter mit einem „Ich dich auch, Mom“ zu quittieren.

Letztlich hatte sie es dann aber doch irgendwie geschafft, um kurz vor halb fünf durch den Hintereingang in die Bar zu treten - nicht, dass es an sich ein großes Problem gewesen wäre, ein paar Minuten zu spät zu kommen, aber Lola hasste Unpünktlichkeit nun einmal, und ebenso sehr hasste sie es, an ihrer Arbeitsstelle nicht genügend Zeit zu haben, um sich in Ruhe vorbereiten zu können.

Die Kekse hatte sie vorläufig in ihrem Spint verstaut - Spint war eigentlich ein viel zu edler Ausdruck für das, was es war, doch es klang nun einmal besser als ‘abschließbare instabile Schrankwandtür’ - hatte sich die Schürze umgebunden, die zur Uniform gehörte, und war dann dazu übergegangen, Vorbereitungen zu treffen, damit die Arbeit den Abend über möglichst reibungslos ablaufen würde.

Sie war gerade dabei, einige Gläser abzuspülen, die irgendjemand heute Nacht nach Feierabend einfach auf der Theke hatte stehenlassen, als sie sah, wie Robin Curtis auf sie zukam.

Unwillkürlich blickte sie auf und sah ihm entgegen. Zu sagen, dass sie und Robin befreundet waren, wäre wohl zu viel gewesen, aber eine gewisse Sympathie war durchaus vorhanden, auch, wenn Lola sich nie ganz sicher war, wie genau sie mit ihm umgehen sollte. Er war so etwas wie ihr Chef, obgleich sie beide ungefähr im selben Alter sein mussten und diese Tatsache dezent irritierend war. Immerhin hatten sie sich ziemlich bald nach ihrem Kennenlernen vor gut drei Jahren darauf geeinigt, sich mit Vornamen anzusprechen, was die Kommunikation zumindest etwas erleichterte und umständliche Satzkonstruktionen zur Vermeidung der direkten Ansprache unnötig machte.

„Hallo, Robin“, begrüßte sie ihn nun, als er beim Tresen angekommen und dort stehengeblieben war, sie dabei direkt anblickend. Ihren Empfang erwiderte er mit einem knappen „Hey“, und Lolas Vermutung, dass er irgend etwas von ihr wollte, wurde direkt bestätigt, als er ohne Umschweife fortfuhr: „Gut, dass du heute Dienst hast. Kann ich dich darum bitten, jemand neues einzuarbeiten? Einfach bloß die Grundlagen erklären, was zu tun ist, wenn man hinter dem Tresen arbeitet. Und ein bisschen darauf achten, ob alles klappt.“

„Klar, sicher.“ Lola nickte. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas tat, da viele Leute bloß temporär in der Bar arbeiteten gehörte sie zu denen, die am längsten hier beschäftigt waren und somit über die meiste Erfahrung verfügten.

Dennoch hatte sie das Gefühl, dass das nicht der einzige Grund war, weshalb Robin ausgerechnet sie darum bat.

Wie bereits erwähnt waren die beiden keine Freunde, dennoch hatte Lola mittlerweile genügend Zeit in Robins Gegenwart verbracht, um diesen recht gut einschätzen zu können. Und irgend etwas an seiner heutigen Bitte erschien ihr anders, als es die vorigen Male der Fall gewesen war. Irgendwie... persönlicher.

Ihre Zustimmung bewirkte, dass Robin sich ein wenig zu entspannen schien.

„Hervorragend, danke dir. Er sollte bald hier sein, dann stelle ich euch vor.“

„Alles klar. Allerdings..."

Leicht zögerlich warf Lola einen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, dass ihre Worte keine dritte Person erreichen würden, beugte sich dann zusätzlich noch etwas vor und sagte in gedämpftem Tonfall: „Mr. Fowler arbeitet heute hinter der Theke, und ich kann mir vorstellen, dass mit dem zusammen zu arbeiten am ersten Tag sehr stressig sein kann..."

Nicht bloß am ersten Tag, fügte sie gedanklich hinzu, Mr. Fowler ist immer anstrengend.

Sie nahm an, dass Robin verstand, was sie meinte, und dem war auch so.

„Ich werd ihm gleich sagen, dass er seine Ungeduld heute etwas kontrollieren soll", entgegnete er, ebenfalls leise sprechend, während er in Richtung des betreffenden Kollegens blickte, der an seinem Lieblingsplatz in der rechten hinteren Ecke des Raumes stand und die Leute mit einem Blick beobachtete, der deutlich zeigte, dass er sich für eine Art Chef aller anwesenden Mitarbeiter hielt.

Diese Annahme, die nicht wahr sondern bloß eine Form von Selbstüberschätzung war, ging zum Teil wohl darauf zurück, dass Fowler am längsten von allen Mitarbeitern hier in der Bar arbeitete, was er auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit betonte.

Zum anderen lag dieses Denken jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit schlicht in seinem Charakter begründet.

Mr. Fowler war das Gegenteil von dem, was man als einen angenehmen Menschen bezeichnen würde, da waren sich alle, die ihn kannten, einig.

Seine schroffe Art hätte in Kombination mit seinem fortgeschrittener Alter vielleicht liebenswert oder charmant wirken können, aber seine Arroganz und der Hang dazu, sich in jede Situation ungefragt einzumischen und seine Meinung beizutragen machten ihn einfach bloß anstrengend. Dass er der Ansicht war, für ihn würden andere Regeln gelten als für alle anderen, war bloß noch die Spitze des Eisbergs.

Lola war kein unsicherer oder sonderlich emotionaler Mensch, sie hatte kein Problem damit, Fowler Kontra zu geben wenn sie es als angemessen empfand. Dennoch fühlte sie jedes mal mit, wenn ein Mitarbeiter nach einem Gespräch mit Fowler den Tränen nah oder anderweitig aufgebracht war.

Nun beobachtete Lola, wie Robin zu dem älteren Mann ging und mit ihm sprach.

Das würde mit Sicherheit helfen - selbst Fowler hatte schnell begriffen, dass man Robins Anweisungen, trotz dessen jungen Alters und seiner schmalen, eher kleinen Statur Folge leisten sollte, wenn man kein Interesse daran hatte Probleme zu bekommen.

Allerdings machte es manchmal den Eindruck, als wäre seine Boshaftigkeit für Fowler ein Zwang. Als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, sie nicht regelmäßig an anderen auslassen zu können, als wäre er eine außerirdische Kreatur die sich von den aufgebrachten und verletzten Reaktionen seiner Mitmenschen ernährte.

Den ein oder anderen genervten Kommentar würde er sich gegenüber jemandem, der neu war und dementsprechend nicht so schnell und sicher arbeitete, wie es aus Fowlers Sicht nötig war, mit Sicherheit nicht verkneifen können.

Als sie sich wieder umdrehte, um mit dem fortzufahren, was sie getan hatte bevor Robin zu ihr gekommen war, fiel ihr Blick auf die Gestalt, die im Türrahmen des Personaleingangs stand und sich unsicher in der Bar umblickte.

Der Mann wirkte ängstlich und angespannt, ein wenig so, als denke er darüber nach, sofort wieder von hier zu verschwinden.

Das, sowie die Tatsache, dass sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, ließ Lola zu der für sie logischen Schlussfolgerung kommen, dass es sich hier um den von Robin erwähnten neuen Mitarbeiter handelte.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht stellte sie das Glas, das sie zuvor abgetrocknet hatte, auf dem Tresen ab, ging um diesen herum und auf den Fremden zu. Robin war hinter ihr noch immer mit Fowler beschäftigt, offenbar wollte er wirklich sichergehen, dass dieser seine Launen heute unter Kontrolle hielt.

"Hey", sagte sie in ihrem gewohnt freundlichen Tonfall. "Du bist neu hier, oder? Ich bin Lola."

Aus einem Impuls heraus verzichtete sie darauf, zur Begrüßung ihre Hand auszustrecken, und als sie sah, wie der Mann sie erschrocken ansah und einen kleinen Schritt zurückwich wusste sie, dass das eine gute Entscheidung gewesen war.

"Hallo." Er gab sich sichtlich Mühe, ruhig zu wirken, wenn auch ohne großen Erfolg. Lola hatte jedoch nicht vor, ihn das merken zu lassen.

"Und du bist...?", fragte sie, vor allem, um ihm ein wenig dabei zu helfen, die Konversation aufrecht zu halten; offensichtlich war er reichlich überfordert mit dieser für ihn neuen Situation.

Kurz blickte er sie ein wenig verwirrt an, dann gelang es ihm tatsächlich, leicht zu lächeln. "Oh... Entschuldigung. Ich heiße Jonny..."

Er verstummte, schien wieder nicht zu wissen, was er sagen sollte; die Finger seiner rechten Hand krallten sich so stark in sein linkes Handgelenk, dass tiefe, halbmondförmige Abdrücke zurückblieben, als er es wieder losließ.

„Mr. Curtis hat mir gesagt, dass heute jemand Neues kommt“, fuhr Lola fort, ergänzte dann, als sie Jonnys fragenden Blick bemerkte: „...Robin. Er hat mich gebeten, dir alles zu zeigen, was hinter dem Tresen so gemacht werden muss. Hast du schon mal in so einem Bereich gearbeitet?“

„Nein...“ Jonny schüttelte den Kopf, sein Lächeln verblasste.

Schnell fügte Lola hinzu: „Das ist kein Problem. Hatte ich, bevor ich hier angefangen habe, auch nicht, und ich hab trotzdem alles schnell gelernt. Es ist nicht so schwierig wie es anfangs wirkt, keine Sorge.“

Jonny wirkte nicht wirklich überzeugt, aber falls er darauf noch etwas hatte erwidern wollen wurde er von Robin davon abgehalten, der sein Gespräch mit Fowler beendet hatte und nun zu ihnen kam.

Fowler wiederum blickte ihm nach, mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, dass ihm das, was er zu hören bekommen hatte, missfiel, aber sagen tat er nichts mehr. Der Blick, den er Jonny zuwarf, den er zweifellos ebenfalls sofort aus den Neuen identifizierte, drückte alles andere als Sympathie aus.

"Ach, ihr habt euch schon kennengelernt", stellte Robin fest, und Lola und Jonny nickten beinahe synchron.

Kurz überlegte Lola, ob er ihn auf Fowler ansprechen und Jonny damit auf die Eigenheiten seines zukünftigen Kollegen aufmerksam machen wollte, und entschied sich letztlich dafür. Mochte sein, dass die Aussicht, für den kleinsten Fehler, der objektiv noch nicht einmal einer sein musste, Jonny noch weiter verunsichern würde, aber das war vermutlich immer noch besser, als vollkommen unvermutet mit diesen Launen konfrontiert zu werden.

Also fragte sie mit gesenkter Stimme: „Und, was hat Mr. Fowler gesagt? Hält er seine bissigen Kommentare fürs Erste zurück?“

Sie bemerkte ein Flackern in Robins Blick, beinahe ein Anflug von Ärger. Als wäre es ihm gar nicht recht, dass sie dieses Thema angesprochen hatte.

Lola musste zugeben, dass sie diese Reaktion ein wenig überraschte. Sie mochte Robin, fand ihn durchaus sympathisch und hatte in den letzten drei Jahren auch sehr wohl mitbekommen, dass er nicht so gleichgültig und distanziert war, wie es auf den ersten Blick den Anschein machte. Doch dafür, sich übermäßig Gedanken über das individuelle Wohlbefinden seiner Mitarbeiter zu machen, war er nun nicht gerade bekannt.

"Wird er", antwortete er schließlich. Setzte dann ein leichtes Lächeln auf und fügte, an Jonny gewandt, hinzu: "Wie gesagt, mach dir keine Gedanken. Das klappt schon alles, und Lola wird dir ja alles zeigen."

Bestätigend nickte Lola.

Mittlerweile hatte sie die Vermutung, dass die beiden sich womöglich schon länger kannten, und Robin deshalb mehr auf Jonny einging, als er es für gewöhnlich bei neuen Mitarbeitern tat.

Andererseits - sah man sich Jonny an, der Robin einen scheuen Blick zuwarf während dieser redete und der sich sichtlich Mühe gab, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, wurde dieser Verdacht nicht gerade bestätigt.

Unwillkürlich musste Lola an Mr. Mitten denken, den Kater, den sie als Kind gehabt hatte, den ihr Vater im tiefsten Winter fast erfroren und mit tiefen Wunden übersät auf der Straße gefunden hatte. Sie hatten nie herausgefunden, wem das Tier vorher gehört hatte, aber die Tierärztin, zu der sie den halb toten Kater gebracht hatten, hatte gesagt, dass die Wunden ihm mit ziemlicher Sicherheit mit Absicht zugefügt worden waren.

Lola hatte Mr. Mitten geliebt, aber der Kater hatte sich in den zehn Jahren, in denen er bei ihrer Familie gelebt hatte, insgesamt bloß vier oder fünf Mal streicheln lassen und sich sonst die meiste Zeit über unter Möbeln und auf Schränken versteckt. Das, was ihm angetan worden war, hatte es ihm unmöglich gemacht, Vertrauen zu Menschen zu fassen, er schien immer darauf gefasst gewesen zu sein, dass man ihm erneut Schmerzen zufügen würde, war immer angespannt gewesen und bereit zur Flucht - und genau diesen Eindruck machte auch Jonny auf Lola. Angespannt und bereit, zu fliehen, sobald er fürchtete, dass jemand ihn verletzen könnte.

„Komm mit“, forderte sie ihn auf und wandte sich wieder in Richtung Tresen. „Ich such dir passende Arbeitsklamotten raus und zeig dir, wo du dich umziehen und deine Sachen lassen kannst. Wenn du dann soweit bist kommt der Rest, aber immer mit der Ruhe.“

Jonny nickte, folgte ihr, wobei er zuvor noch einen kurzen Blick zu Robin warf, als müsse der ihm noch einmal versichern, dass Lola nicht vorhatte ihn in einer dunklen Ecke mit einer Axt zu ermorden. Robins ermutigendes Nicken schien ihm zumindest vorerst Bestätigung genug zu sein.

Ich kann mich nicht erinnern, Robin schon mal so fürsorglich gesehen zu haben, dachte Lola, während sie nach hinten durch den Flur an der Küche vorbei und in den schmalen Nebengang ging, von dem wiederum die Umkleidekabinen abgingen.

Es war nicht so, dass Robin sich ihr gegenüber jemals unfreundlich verhalten hatte. Aber gerade zu Anfang hatte sie eben doch gemerkt, dass er nicht sonderlich viel Interesse daran hatte, mit ihr oder anderen Angehörigen auf einer tieferen als der geschäftlichen Ebene zu interagieren, oder sich großartig mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen.

Er war immer schon in der Lage gewesen, Probleme zu lösen - wie er es vorhin bei Fowler getan hatte - und sich durchzusetzen, und man konnte ihm auch sagen, wenn es einem schlecht ging und man eine Pause brauchte. Er war nicht unbedingt unsensibel, aber eben zumeist eher gleichgültig und, von seinem Hang zur Impulsivität abgesehen, sachlich.

Und nun stellte Lola, als sie sich noch einmal umdrehte, um zu überprüfen, ob sie das Glas, das sie zuletzt hatte abwaschen wollen auf dem Tresen stehenlassen hatte, fest, dass Robin ihnen nachsah, mit einem Blick, in dem selbst aus dieser Entfernung eine gewisse Besorgnis zu erkennen war.

Ob sie sich nun bereits länger kannten oder nicht - für Jonny empfand Robin eindeutig mehr als seine gewöhnliche kühle Professionalität.

Ein Lächeln erschien auf Lolas Gesicht, als sie feststellte, dass sie das irgendwie sehr für ihn freute.

2 -9

Es klappte in der Tat alles, so, wie Lola gesagt hatte, zumindest, bis der Zeiger der altmodischen Wanduhr über der Eingangstür auf sieben Minuten nach elf sprang.

Die ersten Gäste waren um kurz nach halb sechs eingetroffen, und Lola hatte ihr Versprechen gehalten und Jonny geduldig erklärt, was er wie zu tun hatte, hatte sich nicht anmerken lassen, falls seine leichte, durch seine Nervosität bedingte Begriffsstutzigkeit sie genervt hatte, und war selbst dann freundlich geblieben, als Jonny sie zeitweise durch die zynischen Kommentare der Stimme in seinem Kopf überhaupt nicht mehr verstanden hatte.

Und es war wirklich erstaunlich schnell leichter geworden.

Die meisten Besucher an diesem Abend hatten an den Tischen Platz genommen, nur wenige saßen an der Bar, sodass Jonny kaum direkten Kontakt zu Fremden hatte. Die Gespräche, die er führte, waren kurz, gingen nicht über die Aufgabe der Bestellungen und ein, zwei Höflichkeitsfloskeln hinaus. Es war ungewohnt, und Jonny hätte auch nach fünf Stunden noch nicht behauptet, dass er sich wohlgefühlt hätte, aber es war kein Alptraum, er hatte keine Panikattacke bekommen, keine der Horrorszenarien, die er sich im Voraus ausgemalt hatte wie er es immer tat, wenn er einer unbekannten Situation gegenüberstand, war eingetreten.

Alles in allem konnte man sagen: Es war in Ordnung.

Und dann kam die Frau.

Zunächst beachtete sie niemand, als sie die Bar betrat, oder viel mehr hineinstolperte, als habe sie bereits das ein oder andere Glas Alkohol zu viel konsumiert. Von diesem leicht unbeholfenen Auftreten abgesehen war auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an ihr zu erkennen, sie trug einen abgenutzten schwarzen Mantel dessen Kapuze sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, hielt eine Handtasche fest an ihre Brust gepresst und wandte sich mehrmals um, als vermute sie jemanden hinter sich, der sie keinesfalls einholen durfte.

Das alles nahm Jonny am Rande wahr, er stand gerade mehr oder weniger planlos herum und wartete darauf, dass jemand eine neue Bestellung aufgab, ließ dabei seinen Blick durch die Bar schweifen, wobei er auch kurz die eben erwähnte Frau musterte. Ein Gast, wie so viele andere, die im Laufe des Abends ein und aus gegangen waren, in ihrem Verhalten womöglich ein wenig sonderbar, im allgemeinen Vergleich jedoch nicht auffällig.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Jonny, wie sie auf die Theke zuging, machte sich bereit, ihre Bestellung aufzunehmen, hoffte, dass sie nicht so undeutlich sprach wie es ihr schwankender Gang nahelegen konnte; es war so unangenehm ein oder gar mehrmals nachzufragen, weil er das Gesagte nicht richtig verstanden hatte…

Die Frau hatte etwa ein Drittel des Raumes durchquert, befand sich grade auf Höhe des an der Wand angebrachten Gemäldes, das man wohl als abstrakte Kunst einordnen konnte, als sie zusammenbrach.

Irgendjemand schrie auf, als sie auf dem Boden aufschlug, es war ein Schrei der Verblüffung und weniger des Schrecks. Er klang ebenso surreal wie des dumpfe Geräusch des auf den Dielen aufschlagenden Körpers, wobei Jonny im Nachhinein vermutete dass sein Unterbewusstsein diesen Klang bloß im Nachhinein hinzugedichtet hatte um das Bild des Geschehens zu vervollständigen, denn eigentlich war es viel zu laut in der Bar um etwas Derartiges aus dieser Entfernung wahrzunehmen.

Allerdings wurde es nun ziemlich schnell ruhiger. Das Stimmengewirr, das den Raum zuvor erfüllt hatte ebbte ab, alle Blicke schienen nun auf die Frau gerichtet zu sein, zumindest für einige Sekunden, bevor die meisten sich wieder abwandten und weitermachten mit dem, was auch immer sie zuvor getan hatten. Einige wenige beobachteten weiterhin, wie die Frau versuchte, sich wiederaufzurichten, und schließlich brachte es eine Besucherin über sich, aufzustehen und sich neben der augenscheinlich stark geschwächten Person auf den Boden zu knien, sich vorzubeugen und in leisem Tonfall auf diese einzureden.

Das alles geschah in einem Zeitraum von kaum mehr als fünfzehn Sekunden, in denen Jonny dastand und die Szenerie beobachtete.

Er war nicht wirklich überrascht darüber, dass niemand dem Geschehen besondere Aufmerksamkeit widmete. In einer Gegend, in der es nichts Außergewöhnliches war, auf der Straße auf durch Prügeleien oder Schießereien verwundete Menschen zu treffen zuckte man bei so etwas irgendwann nicht einmal mehr mit der Wimper; man nahm es eben hin, wandte den Blick ab und hoffte, dass jemand anderes sich darum kümmerte, oder eben auch nicht, egal, Hauptsache, man selbst hatte seine Ruhe. Solch eine Denkweise hatte nichts Heroisches an sich, aber sie stellte zumindest sicher, dass man überlebte.

Diese Gedanken gingen Jonny durch den Kopf, während er zusah, wie die eine Frau der anderen aufhelfen wollte, die sich jedoch nicht einmal auf die Knie aufrichten konnte ohne einen schmerzerfüllten Schrei auszustoßen.

Und gleich darauf schrie die andere Frau.

„Oh, Scheiße! Ein Krankenwagen! Wir brauchen einen Krankenwagen!“

Wieder wandten die Leute sich ihr zu, wobei wenige von ihnen besorgt und der Großteil genervt wirkte. Als könnten sie es nicht fassen, dass man ihnen einen entspannten Abend durch derartiges Drama verdarb.

„Wieso, was ist denn?“, brüllte jemand über die Musik hinweg, und jemand anderes, der sich mutmaßlich nicht einmal in der Nähe der Frau befand, erwiderte in gleicher Lautstärke: „Hat wahrscheinlich zu viel gesoffen!“

Im nächsten Moment drehte irgendjemand die Musik leiser, was mit einem allgemeinen Murren quittiert wurde, sowie einem empörten: „Was soll der Scheiß?“

Jonny sah Lola, die gemeinsam mit einer weiteren Kellnerin den Raum durchquerte, bevor er sich abwandte und suchend den Bereich hinter der Theke inspizierte.

So, wie die Frau sich bewegt hatte, war sie keinesfalls betrunken gewesen, das wurde ihm rückblickend nun klar. Nein, sie hatte Schmerzen gehabt. Große Schmerzen, vermutlich war sie verletzt. Und wie zur Bestätigung eben dieser Vermutung brüllte nun jemand: „Oh Fuck, ist das viel Blut!“

Das Stimmengewirr schwoll wieder an, und diesmal wirkte es merklich unruhiger als zuvor, was wohl kaum verwunderlich war in Anbetracht der Tatsache, dass der bisher ganz normale Abend eine überraschende Wendung genommen hatte.

Es kam Jonny wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich den Koffer entdeckte.

Er hing an der Wand neben dem Kühlschrank, sodass er von den meisten Orten der Bar aus nicht gesehen wurde, was wohl kaum der Sinn hinter einem Erste-Hilfe-Set sein konnte, aber Jonny hatte nicht vor, jetzt lange darüber nachzudenken. Er riss den roten Kasten von der Wand, hätte ihn dabei beinahe fallenlassen, drehte sich um und wäre fast in Mr. Fowler hineingelaufen, der ihm einen missbilligenden Blick zuwarf, sich ansonsten aber nicht in seiner Ruhe stören ließ. Das Geschehen schien ihn absolut kalt zu lassen.

Als Jonny, den Kasten fest umklammernd und versuchend, all die Anwesenden auszublenden und sich nicht von ihnen nervös machen zu lassen bei der auf dem Boden liegenden Frau ankam, hatten Lola und ihre Kollegin sie bereits auf den Rücken gedrehte, die Knöpfe ihres Mantels geöffnet und die Bluse ein Stück hochgeschoben, wodurch der Blick frei wurde auf ein dunkles Loch, das in der Bauchregion klaffte. Auch Robin war da, wie Jonny im Rande registrierte, während er sich zu Boden sinken ließ und den Koffer öffnete, was ihm erst beim zweiten Versuch gelang, so zittrig waren seine Hände.

Es war wirklich viel Blut. Die Bluse der Frau war vollkommen damit durchtränkt, es lief ihr aus dem Mund und bildete eine Lache auf dem Boden, was darauf hindeutete, dass sie nicht bloß am Bauch, sondern auch am Rücken verletzt war.

Eine Schusswunde, dachte Jonny, nahm eine Bandage in die Hand und machte sich daran, sie aus der Plastikverpackung zu befreien. Jemand hat auf sie geschossen und die Kugel ist am Rücken wieder ausgetreten… zu weit an der Seite, um die Wirbelsäule zu verletzen, sonst hätte sie kaum mehr so gut laufen können. Und zu tief um die Lunge zu verletzen, was ebenfalls gut ist, weil so immerhin die Lunge nicht kollabieren wird.

Diese Gedanken kamen ihm ganz automatisch, liefen auf einer hinteren Ebene seines Verstandes ab während er primär damit beschäftigt war, die Bandage auf die Wunde zu drücken. Wortfetzen erreichten ihn, die darauf hindeuteten, dass jemand am Telefon mit dem Notruf sprach, und auch das war gut, denn mehr als die Blutung so gut wie möglich zu verringern konnte Jonny nicht tun. In Anbetracht der mutmaßlichen Austrittswunde am Rücken war diese Maßnahme womöglich auch bloß bedingt erfolgreich.

Es dauerte bloß wenige Sekunden, bis die Bandage von Blut rot getränkt war. Die Frau wimmerte, schien Schmerzen zu haben, mehr als verständlich in ihrer Lage, doch darauf konnte Jonny momentan keine Rücksicht nehmen. Einfach weiter Druck ausüben, hoffen, dass die Blutung nachließ, sich nicht irritieren lassen von dem schmerzverzerrten Gesicht und den unwillkürlichen Muskelzuckungen, die den Körper durchfuhren…

„Kann ich dir helfen?“

Lolas Stimme überraschte Jonny, er wandte sich ihr zu ohne seinen Kraftaufwand auf die Wunde zu verringern und sah, dass sie eine weitere Bandage ausgepackt hatte und ihm hinhielt. Hinter ihr stand Robin, damit beschäftigt, die unbeteiligten Gäste davon abzuhalten, die Szenerie zu begaffen oder gar Aufnahmen davon mit ihren Handys zu machen. Auch das kam Jonny in diesem Augenblick weit entfernt vor.

„Danke“, erwiderte er, die Worte kamen ganz automatisch, ohne dass er darüber nachdachte, ebenso wie seine Bewegungen, mit denen er Lola die Bandage abnahm und die mit Blut vollgesogene beiseitelegte. Alles wirkte surreal in diesem Moment.

Er nahm wahr, wie Lola an ihm vorbei ging und sich neben den Kopf der Frau kniete, sich vorbeugte und mit ihr sprach.

Gut. Jonny hatte nicht den Eindruck, dass er selbst in diesem Moment dazu in der Lage gewesen wäre, wenngleich Kommunikation mit der verletzten Person äußerst wichtig in solchen Situationen war. Er hatte kein Problem damit, die Wunde abzudrücken, wobei seine Hände bereits blutverschmiert waren; es war nicht das erste Mal, dass er so etwas tat. Doch mit der Frau zu sprechen überforderte ihn alleine beim Gedanken daran vollkommen.

„Der Krankenwagen ist auf dem Weg!“, rief jemand – vermutlich die Frau, die der Verletzten zuerst zur Hilfe gekommen war – was dafür sorgte, dass Jonny ein Gefühl der Erleichterung verspürte. Er hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, was er tat, bereits von dem Moment an nicht als er sich auf die Suche nach dem Erste-Hilfe-Kasten gemacht hatte, und mit Sicherheit hätte er die gleiche Entscheidung auch bewusst getroffen, würde es darauf ankommen… aber in diesem Moment, in dem er hier auf dem Boden hockte, versuchte, die starke Blutung zu stillen und die Frau so lange am Leben zu halten bis die Sanitäter eintrafen wünschte er sich, er hätte es nicht getan.

Es war ein egoistischer Gedanke, und später, als er in einer ruhigen Minute daran zurückdachte, schämte er sich dafür. Möglicherweise hätte auch Lola oder sonst jemand das Gleiche getan wie er und das vorläufige Überleben der Frau gesichert, vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre sie verblutet, während ein Haufen Leute um sie herumstand und gaffte, aber zumindest hätte Jonny nicht dort gesessen, vollgeschmiert mit Blut und bemüht, die Gedanken, die auf ihn zu drängten zurückzuhalten; die Erinnerungen, die schmerzhaften Gefühle, die sie auslösten, die damit verbundene Panik…

Er sah auf, weg von der Wunde, zu Lola, die noch immer mit der Verletzten sprach, die wiederum panisch nach Luft rang und pfeifend atmete – sie muss damit aufhören, sie muss sich beruhigen, schoss es Jonny durch den Kopf, obgleich ihm bewusst war dass das in ihrer Situation alles andere als einfach war – und als sein Blick auf das Gesicht der angeschossenen Frau fiel zuckte er heftig zusammen und wäre um ein Haar zurückgestolpert.

Das Gesicht war nicht mehr das der Person, die vor wenigen Minuten, die nun wie Stunden erschienen, die Bar betreten hatte. Die Züge hatten sich verändert, verformt, waren zu etwas geworden, das Jonny nur allzu bekannt vorkam und von dem er gehofft hatte, es niemals mehr sehen zu müssen…

Nein, nein, das stimmt nicht, das ist nicht wahr, das ist nur eine fremde Frau! Es ist nicht Anton! Nicht Anton! Nicht…

Die Worte hallten in Jonnys Kopf wider wie ein Mantra, schienen mit jeder Wiederholung an Bedeutung zu verlieren, nichts weiter zu sein als eine leere Phrase, die keinerlei Bedeutung innehatte. Natürlich. Es war eine fremde Frau, daran gab es logisch betrachtet keinen Zweifel, aber Logik spielte in diesem Augenblick für Jonny bloß eine untergeordnete Rolle. Er wollte aufspringen und zurückweichen, am besten wegrennen, weit weg, fort von dieser Person, deren Verletzung und Zustand so viel Ähnlichkeit mit dem hatte, was vor etwas über zwei Jahren passiert war, zu einer Zeit, die Jonny mittlerweile wie ein anderes Leben vorkam.

Die Nacht, in der er und Anton zusammengesessen hatten, sich unterhalten und getrunken hatten, bis plötzlich die Tür aufgerissen worden war und eine Person in den Raum gestürmt war, die Jonny noch nie zuvor gesehen hatte.

Der Schuss, der sich gelöst hatte, Antons schmerzerfüllter Aufschrei als er von der Wucht eines Bleigeschosses nach hinten gerissen wurde und auf dem Boden aufschlug, der röchelnde Atem, das Blut, das aus seinem Mund und der Wunde an seiner Brust gelaufen war.

Auch damals hatte Jonny instinktiv gehandelt, hatte das getan, was ihm aus dem Erste-Hilfe-Kurs damals in der Schule noch im Gedächtnis geblieben war, während die Person, die den Schuss abgegeben hatte, versucht hatte, so schnell zu verschwinden wie sie aufgetaucht war, was jedoch von einigen von Antons Angestellten verhindert worden war.

Er hatte Anton damals wohl das Leben gerettet, das hatten zumindest die eintreffenden Sanitäter ihm mitgeteilt. Und so lobenswert diese Handlung objektiv betrachtet auch gewesen sein mochte, so hatte es doch unzählige Momente in den nächsten Monaten gegeben, in denen Jonny sich gewünscht hatte, er hätte ihn sterben lassen.

Aber das spielte jetzt keine Rolle. Das hier war nicht Anton, auch, wenn sein verwirrter Verstand versuchte, ihm genau das einzureden, das hier war irgendeine Frau, die er noch nie zuvor gesehen und zu der er keinerlei Verbindung hatte, und so sehr diese beiden Situationen sich auch ähnelten, er durfte sich nicht davon abhalten lassen, weiter mit dem zu machen, was er eben gerade tat.

Diese Frau konnte nichts für Antons missbräuchliches Verhalten. Für die Verletzungen, die Jonny ihm zu verdanken hatte, sowohl physischer als auch psychischer Natur – die Tatsache, dass er die Realität gerade derart wahnhaft verzerrt wahrnahm war ein gutes Beispiel dafür. Er musste das Bedürfnis unterdrücken, aufzuspringen und wegzulaufen, sich irgendwo zu verstecken, womöglich in flashbackartige Gedankengänge zu verfallen und starr dazuhocken bis es irgendwann vorüber war… nicht bloß für die Frau, die bestimmt von Lola oder jemand anderem weiterversorgt werden würde, sollte er wirklich fliehen.

Sondern vorrangig für sich selbst.

So sehr war Jonny in seinen Gedanken versunken, damit beschäftigt, sich nicht von Panik überwältigen zu lassen, dass er zunächst nicht wahrnahm, wie die Verletzte sich plötzlich etwas aufrichtete, dabei ein gurgelndes Röcheln ausstieß und weiteres Blut aushustete. Er hob erst den Blick als er Lolas Bewegung wahrnahm, die sich vorbeugte, versuchte, die Frau, deren Gesichtszüge nun nicht mehr denen von Anton glichen, sanft zurückzudrücken, dabei sagte: „Legen Sie sich wieder hin. Es wird alles gut, der Krankenwagen ist gleich da! Es wird alles gut!“

Jonny widersprach nicht, warum auch, auch wenn er nicht glaubte, dass es stimmte; vielleicht kam wirklich jeden Moment Hilfe, aber selbst dann wäre es fraglich, dass die Frau es wirklich schaffen würde, zu überleben. Auch wenn ihre Lunge nicht verletzt zu sein schien, so hatte sie doch eine Menge Blut verloren, womöglich hatte sie eine ziemlich weite Strecke zurückgelegt, bis sie schließlich hier angekommen war…

Aber natürlich sagte man so etwas einer verletzten Person nicht.

Falls die Frau verstand, was Lola zu ihr sagte, so ignorierte sie es jedoch. Richtete sich noch etwas weiter auf, öffnete den Mund, woraufhin noch mehr Blut hinauslief, verzog das Gesicht vor Schmerz, was in Jonny das Bedürfnis aufkommen ließ, sie zurückzuschubsen damit sie verdammt noch mal liegen blieb. Er hatte das Gefühl, dass ein ganzer Schwall Blut aus der Wunde unter der Bandage strömte, bedingt durch die Bewegung des Oberkörpers, die in dem momentanen Zustand definitiv unterlassen werden sollte.

Das schien auch Lola so zu sehen, mit eindringlicher Stimme widerholte sie: „Bitte legen Sie sich hin! Sie sollten sich nicht bewegen, sonst…“

„Der Blutmond kommt!“

Jonny hatte tatsächlich erwartet, dass die Frau etwas sagen würde, das klang als würde es von Anton stammen; ein weiterer Streich, der ihm sein verdrehter Verstand spielte um ihn zu verunsichern.

Diese Worte jedoch, gurgelnd und nach Luft ringend hervorgebracht, ergaben keinerlei Sinn, weder für ihn noch anscheinend für Lola, die vollkommen irritiert aussah und sich ein wenig weiter herabbeugte, als sie nachhakte: „Was meinen Sie?“, gefolgt von einem schnell hinterhergeschobenen: „Oh, Sie sollten jetzt nicht reden! Sparen Sie Ihre Kraft…“

„Der Blutmond… bald… bald ist er…“

Husten, gefolgt von einem pfeifenden Aufatmen. Jonny und Lola tauschten einen kurzen Blick, bevor Lola sich wieder der Verletzten zuwandte, versuchend, sie dazu zu bringen, sich zu schonen: „Der Krankenwagen ist gleich da. Den Ärzten können Sie dann alles erzählen, aber erst mal ist es wichtig, dass Sie…“

„Keine Zeit! Ich werde… sie werden…“

Wieder Husten. Ein Röcheln.

„Bald… bald…“

„Was ist ‚bald‘?“

Plötzlich hockte Sapphire neben Lola, betrachtete die verwundete Frau mit eindringlichem Blick, als hoffe sie, ihr so die nötige Kraft für eine Antwort zur Verfügung stellen zu können. Lola öffnete den Mund, vielleicht um zu protestieren, Sapphire zu sagen dass Anstrengung momentan vermieden werden sollte, doch die Angesprochene ließ ihr keine Zeit dazu; mit weit aufgerissenen Augen erwiderte sie Sapphires Blick, holte keuchend Luft, wobei ihr gesamter Körper sich verkrampfte.

Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme heiser und gurgelnd, Worte begleitet von weiterem Blut, das ihr aus dem Mund lief.

„Die Ernte. Blut…mondernte. Alles wird… brennen.“

Es war schwierig für Jonny, sie zu verstehen, und so fragte er sich im ersten Moment, ob es möglicherweise an ihm lag, dass das Gesagte keinen Sinn ergab, doch ein Blick auf Lola und Sapphire verriet, dass die beiden ebenso verwirrt waren.

„Was meinen Sie damit?“, hakte Sapphire nach, unbeeindruckt von Lolas ausgestrecktem Arm, mit dem sie sie davon abhalten wollte, sich weiter vorzubeugen.

Ein weiteres Mal schnappte die Frau nach Luft, verkrampfte sich erneut, um dann in einen gurgelnden Hustenanfall auszubrechen, der begleitet wurde von jaulenden Schmerzensschreien und Tränen, die ihr übers Gesicht liefen.

„Fuck“, hörte Jonny Lola zischen, was genau dem entsprach was ihm soeben durch den Kopf gegangen war.

Wahrscheinlich war bisher wirklich nicht allzu viel Zeit vergangen, seit die Frau die Bar betreten und der bisher so überraschend ruhig verlaufende Abend eine solch unerwartete Wendung genommen hatte – doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit.

Die Bandage war schon wieder vollkommen durchgeblutet, doch Jonny traute sich nicht, sich umzudrehen und eine neue aus dem Kasten zu nehmen. Wahrscheinlich machte es gar keinen großen Unterschied mehr, doch er wollte den Druck, den er auf die Wunde ausübte, nicht verringern. Und was machte es schon, dass seine Hände vollkommen rot verfärbt waren und aussahen, als habe er gerade jemanden ausgeweidet…

Er war wieder so sehr auf die Verletzung konzentriert, darauf, zumindest irgendetwas zu tun was dabei helfen konnte, dass die Frau am Leben blieb, dass er nicht wahrnahm wie sich die Tür zur Bar öffnete und zwei Sanitäter hineinkamen. Erst als einer von ihnen mit lauter Stimme „Lassen Sie uns zu der Verletzten durch!“, rief, registrierte Jonny ihre Anwesenheit – zu spät offensichtlich, wenn es nach dem Größeren der beiden ging.

„Aus dem Weg!“, blaffte der stämmige Mann, stieß Jonny zur Seite, womit dieser nicht gerechnet hatte; ungeschickt versuchte er, sich abzufangen, kam jedoch in derart verdrehter Haltung auf seinem Handgelenk auf, dass ein kurzer, stechender Schmerz hindurchzuckte.

Perplex starrte Jonny den Sanitäter an, kroch dann noch ein Stück weiter weg von der Verletzten, versuchte, die Nervosität zurückzudrängen, die die unerwartete Berührung in ihm ausgelöst hatte.

Für den Mann war das vermutlich nicht einmal eine bewusste Handlung gewesen, wahrscheinlich war er einfach bloß darauf fixiert gewesen seinen Job zu tun und sich um die Patientin zu kümmern.

Aber Jonny fühlte sich, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Nicht, was den Schmerz anging, der war bereits wieder verblasst – aber das Gefühl. Dieser Schrecken, der tief in seinen Knochen steckte und ihn zittern ließ, ihm ein weiteres Mal innerhalb kürzester Zeit das Gefühl gab, nicht in einer Bar, sondern zurück in dem Gebäude zu sein, in dem er Monate seines Lebens verbracht hatte, wo er Antons Launen ausgeliefert war und jeden Tag aufs Neue hoffen musste, nicht zusammenzubrechen. Es irgendwie zu schaffen, keine Schwäche zu zeigen. Zu verbergen, wie armselig er sich fühlte und wie verletzt er war von all den Dingen, die geschehen waren, zu denen Anton ihn gebracht hatte.

Diese Gedanken fühlten sich furchtbar an, und noch schlimmer war irgendwie die Tatsache, dass ein kleiner Schubser eines Sanitäters, der einfach bloß seine Arbeit erledigen wollte, ihn dermaßen aus dem Konzept brachte.

„Hey, ist alles okay?“

Robins Stimme, die neben ihm erklang, überraschte Jonny ebenso wie sein vorheriger Sturz, allerdings auf eine weitaus weniger negative Weise. Er spürte eine Hand, die sich auf seine Schulter legte – eine leichte Berührung, kaum mehr als ein Lufthauch, der ihn dennoch zusammenzucken ließ.

Er wandte den Kopf, sah Robin an, der seinerseits den Blick erwiderte, und in seinen Augen glaubte Jonny ehrliche Besorgnis zu erkennen. Schnell nickte er.

„Ja, alles gut…“

Wahrscheinlich sah er nicht wirklich so aus, als würde das der Wahrheit entsprechen, allein schon wegen des Blutes, das an seinen Händen und seiner Kleidung klebte und den Eindruck vermitteln konnte, er sei entweder selbst ziemlich schwer verletzt oder hätte gerade jemanden abgestochen.

Wieder solch ein Anblick, der drohte, ihn in eine Art Flashback zurückzureißen.

Er wollte noch etwas sagen, etwas, das ein wenig überzeugender klang als diese zuvor hervorgebrachte Floskel, aber bevor er auch nur darüber nachdenken konnte was das sein sollte stieß die verwundete Frau, die bisher seit dem Eintreffen der Sanitäter ruhig gewesen war, einen gellenden Schrei aus. Das Geräusch zog sich in die Länge, wurde lauter und schriller, bis sich schließlich aus dem simplen Ton Worte formten, die Jonny bereits bekannt waren, aber trotzdem für ihn keinerlei Sinn ergaben:

„Blutmond! Es wird brennen! Alles! Ihr alle! Der Blutmond, und die Ernte, und…“

Dann brach ihr die Stimme weg, sie verfiel in ein rasselndes Husten, krümmte sich auf dem Boden zusammen, während die Sanitäter versuchten, sie zu beruhigen.

Das Geschrei hatte Jonny ein weiteres Mal zusammenzucken lassen – er hasste es, wenn Leute schrien, das war ein weiterer, schmerzhafter Trigger - aber nicht nur das; ohne es zu bemerken war er weiter zurückgewichen, weg von der Frau und ihrem ohrenbetäubenden Kreischen, näher zu Robin, der seinerseits ebenfalls erschrocken den Griff um Jonnys Schulter etwas verstärkt hatte.

Er war wirklich nah, näher, als es Jonny irgendjemand in den letzten Monaten gewesen war.

Auch das konnte ein Trigger sein, war es bereits oft genug gewesen, bereits vor Anton, aber danach noch weitaus stärker. In diesem Moment jedoch fühlte Jonny nichts Schlechtes dabei. Wahrscheinlich war alles andere bereits zu viel, womöglich hatte seine Psyche bereits damit begonnen, alles abzublocken – „Das klingt so negativ!“, murmelte die Stimme, „Willst du denn nicht, dass ich aufpasse, dass du nicht zusammenbrichst?“ – sodass Robins Berührung, die Nähe, nichts weiter war als eine unbedeutende Vorstellung. Nichts, was dazu bereit war die scharfen Krallen in seinen Verstand zu schlagen und das Trauma hervorzuzerren, das er so sorgfältig zu vergraben versucht hatte.

Dennoch rückte Jonny schnell wieder etwas von Robin weg, starrte dabei verlegen zu Boden, und war gleichzeitig überraschenderweise froh darüber, dass Robin seine Hand nicht von seiner Schulter zurückzog, sondern bloß den Griff wieder etwas lockerte.

Wann hatte er eine Berührung das letzte Mal als etwas Positives wahrgenommen? Er konnte sich nicht erinnern. Diese Berührung jedoch hatte etwas Beruhigendes an sich, etwas, das ihm half, nicht in einen dunklen Abgrund aus Panik und Schrecken zu verfallen, ausgelöst durch die überfordernde, surreale Wendung, die der Abend in den letzten Minuten genommen hatte.

Robins Hand lag noch immer auf seiner Schulter, als die Sanitäter schließlich die Bar wieder verließen, die Frau auf einer Trage zwischen sich rollend. Wie viel Zeit vergangen war, bis die Frau so weit stabilisiert worden war, dass sie transportiert werden konnte, vermochte Jonny nicht zu sagen, alles fühlte sich verzerrt an, unwirklich; es hätten genau so gut Minuten wie auch Stunden sein können.

Und während er das alles beobachtet hatte, wobei er immer wieder kurz den Blick gesenkt und seine eigenen rot verfärbten Hände betrachtet hatte, waren diese Worte in seinem Kopf widergehallt wie ein Echo in den Bergen, ohne dabei mehr Sinn als zuvor zu ergeben:

„Blutmond. Die Blutmondernte. Es wird brennen. Brennen.“

Vielleicht sollte man dem keine große Bedeutung beimessen. Die Frau hatte wahrscheinlich unter Schock gestanden, hatte viel Blut verloren. Es war nicht überraschend, wenn in solch einem Zustand Dinge von sich gegeben wurden, die keinerlei Sinn in sich hatten und die nicht mehr waren als zufällige Gedanken, die aus welchem Grund auch immer plötzlich auftauchten…

Ja, wahrscheinlich war es das. Bloß das, und nichts weiter.

Doch dieser Ausdruck in den Augen der Frau, der Nachdruck in ihrer Stimme, ihr gesamtes Verhalten, das wirkte, als sei es ihr unfassbar wichtig, das hervorzubringen was vermutlich keiner der Anwesenden verstanden hatte, all das machte es Jonny schwer, die Worte einfach bloß als Unsinn abzutun.

2 - 10

„Du hast sowas nicht zum ersten Mal gemacht, oder?“

Diese Frage war Robin durch den Kopf gegangen, seit er zugesehen hatte, wie Jonny sich um die verwundete Frau gekümmert hatte, oder vielleicht auch schon vorher, als er beobachtet hatte, wie er mit dem Erste-Hilfe-Kasten auf die Verletzte zugekommen war.

Robin selbst war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die umsitzenden Gäste davon abzuhalten, aufzuspringen und das Geschehen zu begaffen, um auf einen derartigen Gedanken zu kommen. Selbst, wenn er sich um die Frau gekümmert hätte, was er deshalb nicht getan hatte, weil Lola und Nancy bereits dabei gewesen waren, hätte er wohl nicht an den Kasten gedacht, und einfach versucht, die Blutung mit Taschentüchern oder seiner Anzugjacke zu stillen.

Jonny, der ihm gegenübersaß und gerade dabei gewesen war, einen Schluck aus seinem Wasserglas zu nehmen, hielt inne.

Zögerte, schien abzuwägen, was er antworten soll, und erwiderte schließlich in bemüht neutralem Tonfall: „Nein. Hat man das gemerkt?“

„Schon, ja“, antwortete Lola an Robins Stelle. Sie saß neben Robin und nippte an einem alkoholfreien Cocktail, den sie sich selbst schnell hinter der Bar zusammengemixt hatte, nachdem sie sich das Blut abgewaschen und frische Klamotten aus Sapphires Vorrat angezogen hatte. Sie betrachtete Jonny mit abwartendem Blick, schien gespannt auf eine Antwort zu warten, die dieser augenscheinlich allerdings nicht wirklich geben wollte.

Unschlüssig betrachtete er seine Hände, die sein Glas umklammert hielten - zu fest für das ansonsten gefasste Auftreten, welches er an den Tag legte.

Er will nicht zeigen, dass ihm das nahegegangen ist, ging es Robin durch den Kopf, ein Gedanke, den er gleichzeitig verständlich und absurd fand. Absurd deshalb, weil es doch kein Wunder war, dass es einen nicht kalt ließ, wenn direkt vor einem ein schwer verletzter Mensch um sein Leben kämpfte, drohend, diesen Kampf jeden Augenblick zu verlieren.

Verständlich, weil es ihm selbst nicht anders ging.

Nicht bloß in diesem Fall kannte Robin diese Reaktion von sich selbst, nein. Viel mehr war dieses Verhalten für ihn Standard.

Sich bloß nicht anmerken lassen, wenn einen etwas traf oder belastete, keine Emotionen zeigen. Keine Schwäche. Keine Angst.

Hart bleiben. Unbeeindruckt. Bloß nicht verletzlich. Sich nicht angreifbar machen.

Es war wohl kaum überraschend, dass Jonny, der seinen Aussagen zufolge eine ganze Weile auf der Straße gelebt hatte, sich dieses Benehmen angewöhnt hatte. Eine Fassade errichtet hatte.

Er war gut, das musste Robin zugeben. Seine Maskerade schien perfekt einstudiert, routiniert. Wies bloß wenige Risse auf, die wohl auch nur dann erkennbar waren, wenn der Beobachtende selbst Erfahrung mit so etwas hatte.

„Tja“, entgegnete Jonny schließlich, strich dabei mit den Fingerspitzen über den Rand seines Glases. Sein Blick wirkte leer, abwesend. Als wäre er gedanklich ganz woanders. Mehr sagte er nicht, und ein weiteres Mal verspürte Robin das Bedürfnis, ihm über den Arm zu streichen. Oder, noch besser, ihn einfach in den Arm zu nehmen.

Das tat er nicht, denn mit Sicherheit wäre das keine gute Idee gewesen, alles andere als angenehm für seinen Gegenüber, der ohnehin bei jeder kleinen Berührung zusammenschreckte, als wäre sie ein Schlag. Und überhaupt, wieso hatte er überhaupt den Wunsch, jemanden zu umarmen, den er so gut wie gar nicht kannte?

Dieses Mal war es Lolas Stimme, die Robin aus seinen Gedanken riss und aufblicken ließ.

„Denkt ihr, die Polizei wird herkommen und uns befragen?“

Eine gute Frage, die Robin sich ebenfalls bereits gestellt hatte, wobei er jedoch zu keinem Ergebnis gekommen war. „Möglich“, erwiderte er daher, dabei mit den Schultern zuckend. „Aber was sollen wir schon groß sagen? Wir haben ja auch keine Ahnung, was passiert ist.“

„Schon. Aber wir haben gehört, was die Frau gesagt hat.“

„Dieses wirre Zeug?“ Robin stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. „Inwiefern sollte das hilfreich sein?“

Er hatte nicht wirklich viel davon mitbekommen, was die Verletzte von sich gegeben hatte. Eigentlich wusste er bloß, was die Barbesucher wiedergegeben hatten, die sich ausgetauscht hatten, nachdem der Rettungswagen davongefahren war, rätselnd und mutmaßend, was für einen Sinn hinter dem Gerede womöglich stecken könnte.

Natürlich war niemand zu einem Ergebnis gekommen, das irgendwie schlüssig gewirkt hätte. Vermutlich gab es überhaupt keine tiefere Bedeutung hinter diesen Sätzen, die geklungen hatten wie Zitate aus einem Horrorroman.

Blutmond. Blutmondernte. Was sollte das überhaupt sein?

Dass Lola ihm auf seine eigentlich rhetorisch gemeinte Frage geantwortet hatte bemerkte Robin erst, als sie ihm auf die Schulter tippte.

„Hm?“

„Ich sagte, dass es ja nicht direkt hilfreich sein muss. Aber wer weiß, vielleicht ergibt das für die Polizei ja doch mehr Sinn als für uns!“

Natürlich war das möglich. Robin konnte es sich nicht wirklich vorstellen, aber was hieß das schon.

Er nahm einen weiteren Schluck seines Cocktails, betrachtete die Tischplatte. Überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, war gerade zu dem Entschluss gekommen, dass er Lola zustimmen wollte, als Jonny ihm zuvorkam.

„Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass das die Polizei großartig interessiert, oder?“

Seine Stimme klang bitter, und beinahe ein wenig spöttisch.

Kurz herrschte Schweigen am Tisch. Dann entgegnete Lola ein wenig zögerlich: „Na ja… ich weiß nicht. Wir wissen ja gar nicht, was passiert ist!“ Sie lachte – ein nervöses Lachen, das deplatziert wirkte und wohl der Tatsache geschuldet war dass sie nicht wirklich wusste, was sie sagen sollte.

Jonny sah nicht einmal von seinem Glas auf.

„Jemand hat auf eine Frau geschossen. Ich meine, ich hätte sicher nichts dagegen wenn herausgefunden werden würde, wer das war! Aber die Mühe wird sich doch niemand machen! Nicht hier. Nicht in der Eastside.“

Niemand widersprach. Es stimmte. Robin erwartete nicht wirklich, dass irgendjemand vorbeikommen und eine Befragung veranstalten würde, und selbst wenn das passieren würde – es würde zu nichts führen.

Die Frau hatte nicht anders ausgesehen als all die anderen Besucher der Bar. Schlichte Kleidung, kein Schmuck, nichts, was darauf hindeuten könnte, dass sie nicht aus der Gegend war. Das wäre der einzige Grund gewesen, dass sich jemand wirklich dafür interessieren würde, was geschehen war. Wenn es jemand von außerhalb gewesen wäre. Keine Bewohnerin der Eastside, deren Existenz niemanden, der im Rest von Red Creek lebte, großartig kümmerte. Ein weiteres Opfer der hohen Kriminalitätsrate dieses Viertels. Eine Zahl in einer Statistik, die Jahr um Jahr besorgniserregender anmutete, jedoch niemals ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Denn die Eastside und ihre Bewohner waren nichts, was für den Durchschnittsamerikaner von Bedeutung war.

„Ist irgendwie alles verdammt deprimierend“, murmelte Lola, und auch dem war nicht zu widersprechen.

Nun sagte niemand mehr etwas. Robin starrte abwesend vor sich hin, hing seinen Gedanken nach, und Lola und Jonny taten vermutlich das gleiche. Das einzige Geräusch, das die leere Bar erfüllte, war das Ticken der Uhr hinter dem Tresen.

Blutmond, dachte Robin ein weiteres Mal, während ein Schauer über seinen Rücken lief. Dieses wirre Gerede, das keinen Sinn ergab. Vermutlich von absolut keiner Bedeutung war.

Wieso konnte er es nicht einfach vergessen?



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Kommentare zu dieser Fanfic (42)
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Von:  Drachenprinz
2021-05-23T20:28:49+00:00 23.05.2021 22:28
Oh Mann... das ist aber wirklich deprimierend zu wissen, dass sich kein Schwein für einen interessiert und die Polizei auch gar keinen Bock hat, den Verbrechen wirklich auf den Grund zu gehen, nur weil man eben in so einem Viertel wohnt. ._. Ätzende Ansicht... Dass jemand weniger wert sein soll, nur weil er aus einer ärmeren Gegend kommt oder was auch immer. Oder ÜBERHAUPT, dass manche Leute mehr wert sein sollen als andere.
Aber ich mag es irgendwie, wie die drei da zusammensitzen und sich unterhalten! Und wie Robin sich Gedanken darum macht, dass Jonny sich nicht anmerken lassen will, wie nah ihm das geht. Und dass er selbst das anscheinend auch oft tut... Naww, das ist irgendwie schon traurig alles. ;-;
Von:  Drachenprinz
2021-01-07T23:28:52+00:00 08.01.2021 00:28
Yay, ich hab es endlich geschafft, das Kapitel zu Ende zu lesen! XD Irgendwie bin ich auch grad Matsche und mein Hirn macht nicht mit... Ich hatte vorhin schon mit Lesen angefangen und das dann einfach VERGESSEN, bis mir irgendwann wieder eingefallen ist "Ach ja, ich wollte ja das Kapitel lesen!". Yo.

Ich hoffe, ich kann einen irgendwie sinnvollen Kommentar formulieren, aber ich versuch's mal. xD
Ich fand das Kapitel auf jeden Fall wieder sehr toll und spannend! Anton... Das war das erste Mal, dass man den Namen erfahren hat, oder? Ich war mir ja erst nicht sicher, ob damit der Typ gemeint ist, vor dem Jonny so Angst hat, als da stand, dass er mit diesem Anton zusammengesessen und ihm dann das Leben gerettet hat. Das klang erst mal, als wäre das einfach ein Freund von ihm gewesen, mit dem alles in Ordnung war. Aber offensichtlich ja nicht... :x
Dass Jonny da solche Flashbacks hat und sich wünscht, sich nicht um die Frau gekümmert zu haben, wenn das solche Sachen in ihm auslöst, finde ich sehr, sehr verständlich. Und mich hätte das auch mega aus der Bahn geworfen, von so einem Sanitäter weggeschubst zu werden. :'D Also, echt... Könnte ich auch so GAR NICHT mit umgehen! Ich versteh dich, Jonny, ich bin auch ein Wrack. X'D
Das mit diesem Blutmond und so... hmm. Klingt nach irgendeiner Verschwörung, oder vielleicht ein Serienkiller, der immer beim Blutmond zuschlägt. Das erinnert mich wieder an 'Roter Drache'. :D Und es gab ja auch diese Sache mit dem Mord an der Familie... Wie hieß die Tochter nochmal? Leah...? Mein Namensgedächtnis ist nicht so geil. XD
Aber diese leichte Nähe zwischen Jonny und Robin, und wie Jonny darüber nachdenkt und feststellt, dass ihn das nicht triggert... naawwww. <3 Feels und so. Mal wieder. x'D
Ich bin weiterhin sehr gespannt auf alles! Auch was das jetzt mit dieser Frau auf sich hat und so. °-°
Von:  Drachenprinz
2020-12-07T19:32:40+00:00 07.12.2020 20:32
Alter, ey, Mütter. X'D
Oh, Robin ist Lolas Chef! Das ist interessant! Wobei das ja da alles eher nicht so genau zu betrachten ist, hab ich das Gefühl.
Oh Gott, wenn ich an Lolas Stelle wäre und mit diesem Mr. Fowler zusammenarbeiten müsste... NEE! Aber solche Leute kennt man ja. :'D Ich würde damit nur überhaupt nicht klarkommen, das würde mir wahrscheinlich den letzten Nerv rauben. xD
Ach Mann, das ist irgendwie niedlich, wie Jonny da so überfordert rumsteht und nicht weiß, was er sagen soll. qwq So muss ICH gewirkt haben, als ich am ersten Tag vor vier Jahren im Kochkurs war. X'D Ich hoffe doch, dieser Mr. Fowler lässt seine angeborene Boshaftigkeit nicht an Jonny aus und traumatisiert ihn damit sofort. ò.Ó
Nawww, mich macht das hier alles schon wieder so fertig! Erst mal find ich das irgendwie so süß, dass man Robin direkt anmerken kann, dass er sich um Jonny mehr sorgt als um andere normalerweise, die er kaum kennt. qwq Und dann dieser Vergleich mit dem Kater... Maaaaann, ey! ;___;
Und dann diese letzten beiden Sätze, ich sterbe, ich hab so Feels. x_x Freu mich auf jeden Fall, wie immer, wieder sehr aufs nächste Kapitel! c:
Von:  Drachenprinz
2020-12-01T00:08:09+00:00 01.12.2020 01:08
Scheiß Kaffeemaschine, ey! Draufhauen ist immer gut! xD
"War so etwas als Arbeitsunfall von der Versicherung gedeckt, oder viel das unter eigene Doofheit? Nun, das hier war Amerika, von daher vermutlich beides." Ich musste lachen. X'DD
Ach, der Adriàn! Aus dessen Sicht war ja auch schon mal ein Kapitel, ne? Ist ja schon süß, wie die beiden miteinander umgehen. °-°
Boah, das kenn ich, wenn man seinen Becher unbewusst total schief hält. XD
Oh Gott, bei diesen Beschreibungen der Periodenschmerzen fühl ich mich ja schon getriggert. :'D Ein Glück, dass ich das wahrscheinlich bald ganz los bin, es ist so furchtbar, wenn sich das so anfühlt! x_X
Aber Tabletten mit Kaffee runterspülen soll man ja eigentlich nicht, möglichst immer mit Leitungswasser, damit die richtig wirken. xD
Ich hab das zwar schon mal so angedeutet erwähnt, aber ich muss nochmal sagen, dass ich es echt cool finde, wie in diesen Polizei-Arbeit-Sequenzen hier so ein Hannibal-Feeling aufkommt! :D Erinnert mich ein wenig daran, wie ich 'Roter Drache' gelesen hab, was mittlerweile ja auch schon fast... acht Jahre her ist. Meine Fresse, die Zeit. Ich habe es GELIEBT, das zu lesen, und das macht mich hier etwas nostalgisch. xD Überhaupt mag ich es, aus wie vielen verschiedenen Perspektiven man einen Einblick in das ganze Geschehen bekommt! Freu mich natürlich auch, wieder aus Jonnys oder Robins Sicht zu lesen. c:
Antwort von:  ReptarCrane
01.12.2020 08:11
Hilft immer, Jaja xD
Ja ich weiß dass man das möglichst mit Wasser machen sollte, aber ich's mach eigentlich auch immer mit was anderem, einfach weil ich Wasser nicht mag und eigentlich nie welches da habe x'D
Dass sich das an Roter Drache erinnert fasse ich mal als Kompliment auf! :D
Antwort von:  ReptarCrane
01.12.2020 11:10
...wie mir Grad auffiel: da ist sie wieder, meine teilzeit-legasthenie! Es viel mir auf, ja! xDD
Von:  Drachenprinz
2020-11-27T22:52:28+00:00 27.11.2020 23:52
Aaah, hattest du dich hierfür über Drogentrips informiert? Das klingt ja interessant, dass er bestimmte Bilder vor sich sieht, auf die er sich konzentriert... Überhaupt, wie das beschrieben ist, klingt das eigentlich ziemlich genau wie der Zustand, den ich hab, wenn ich mich einfach entspannt hinlege und im Halbschlaf Musik höre, dann drifte ich ja auch manchmal irgendwie ab und fühle mich so bzw. nehme solche Sachen wahr. x'D
Schon spannend, dass sich das auch auf seine andere Seite so auswirkt. Und dass er alles sachlicher betrachten kann und so! Aber ich schwöre, ich KENNE so ein Gefühl, und ich schwöre auch, ich hab noch nie Drogen genommen. XD Ich glaub, mein Körper produziert solche Stoffe von selbst, keine Ahnung!
Bin auf jeden Fall gespannt, wenn Jonny dann in der Bar kellnert!
Antwort von:  ReptarCrane
28.11.2020 11:43
Tjaaa, wer weiß, was da in deinen Medikamenten so drin is...xDDD
Ich musste ja bei diesen Berichten daran denken, wie ich als Kind nach meiner Platzwunde am Kopf abendsim Bett gelegen hatte und ein ganz ähnliches Gefühl hatte. Wer weiß was da in der Betäubungsspritze drin war, die ich vorm Nähen bekommen hatte xDD
Antwort von:  Drachenprinz
28.11.2020 14:20
Hmm, aber das hatte ich auch schon, bevor ich Medikamente genommen hab. XD Als Kind hab ich sogar schon so hypnagoge Sachen vor mir gesehen, wenn ich die Augen fest zugemacht hab, das fand ich immer toll! Aber ich glaube tatsächlich, es ist so ab 2016 mehr geworden... Spannende Sache. :'D
Oh, ja, wer weiß! Opium-Spritze. xD
Von:  Drachenprinz
2020-11-26T23:20:08+00:00 27.11.2020 00:20
Wie geil ist dieses Mädel denn... X'D Okay, mich irritiert sowas ja auch manchmal, aber ich stell mir das schon gerade witzig vor, wie die Kleine da Robin so zuquatscht, was sie alles im Hausflur mitbekommt. :'D
Aber ich kann das so verstehen, wie Robin sich Sorgen macht, das würde mir an seiner Stelle auch so gehen... ;-;
Oh, das ist interessant, dass Jonny so anders wirkt... ist das vielleicht gerade 'der Andere' (bzw. 'Es'), der/das da die Kontrolle hat und mit Robin redet? Das mit dem Dialekt, den er da raushört, find ich ja auch spannend. °-°
Aber wo Robin so drüber nachdenkt, ob Jonny was zu sich genommen hat... hmm, ja, vielleicht auch das, immerhin wurde ja schon erwähnt, dass er von irgendeiner Substanz abhängig ist!
Ich bin mir nicht sicher... welches Wort ist da gemeint, das mehr wie 'Uh-wa' klingt? Wenn das den Dialekt beschreibt, das find ich ja eine coole Sache, dass man sich das beim Lesen besser vorstellen kann, wie die Sprache klingt, aber ist natürlich auch nicht einfach, mit deutschen Wörtern einen eigentlichen amerikanischen Dialekt nachzustellen. xD
Ich frag mich, ob Jonny vielleicht tatsächlich aus den Südstaaten kommt und sich den Dialekt nur abgewöhnt hat, der aber manchmal (vor Allem, wenn er unter dem Einfluss von Drogen steht oder emotional aufgewühlt ist oder so) wieder durchkommt. Auf jeden Fall schön, dass ihm anscheinend nichts passiert ist und er sich doch noch ganz nett mit Robin unterhalten hat. °-°
Antwort von:  ReptarCrane
27.11.2020 12:14
Jaaa die war sehr amüsant zu schreiben xD
Es ist mysteriös... x'D
... ich hab Grad noch mal nachgeschaut, da steht doch "Das Wort Uhr klang bei ihm dabei mehr wie Uh-wa"...? x'D
Antwort von:  Drachenprinz
27.11.2020 12:17
Das kann ich mir vorstellen. XD
... ÖÖÖÖÖH. Jetzt bin ich stark irritiert! Also, als ich jetzt gerade auch nochmal geguckt hab, hab ich das auch gesehen, aber ich hätte schwören können, als ich den Satz gestern mehrere Male gelesen hab, stand 'Uhr' da nicht. :'DD Also, wahrscheinlich stand es da schon und mit meinem Hirn ist einfach irgendwas kaputt, aber ich hab das WIRKLICH nicht gesehen und hab echt genau draufgeguckt. XDD
Antwort von:  ReptarCrane
27.11.2020 12:19
Ich war mir ja auch nicht mehr ganz sicher , ob ich das vielleicht nur schreiben WOLLTE und es nicht getan hatte... aber geändert hatte ich nach dem Upload nichts mehr xD
Von:  Drachenprinz
2020-11-25T00:05:56+00:00 25.11.2020 01:05
Hach ja, Wecker überhören kenne ich auch... x'D Meistens hör ich den zwar irgendwie (und penn dann trotzdem direkt wieder ein), aber ich hab den auch manchmal schon gar nicht gehört. Ist natürlich scheiße, wenn man sich dann so hetzen muss. x_x
Jaja, die Braids, von denen hattest du mir ja schon erzählt! Aber woah, HÜFTLANG! Das ist schon beachtlich, stell ich mir aber auch optisch sehr, sehr cool vor. :D
Aber Mann, ey... ich find's ja einerseits irgendwie cool, dass du da diese tatsächlichen Fälle (wie das mit George Floyd und so) eingebaut hast, das lässt das Ganze noch realistischer wirken! Aber es ist schon echt tragisch, wie oft sowas offenbar vorkommt und dass man sich als unschuldiger, lieber Mensch da solche Sorgen machen muss, nur wegen seiner Hautfarbe. >:( Gerade, dass Polizisten sowas tun, die einem doch eigentlich helfen sollten... versteh ich einfach nicht, sowas.
Naja. Auf jeden Fall wirkt Lola bisher schon mal sympathisch, auch wenn man jetzt noch nicht viel von ihr kennt! Und diese Gedanken, auch bezüglich des Mordes, würde ich mir wohl auch machen... Bin ich froh, dass ich nicht in so einer Gegend wohne. :'D
Jetzt bin ich mal gespannt, ob Lola bald auch noch auf Jonny trifft und/oder ob sie Robin und Sapphire kennt. Da steht ja was von einem 'Job in der Bar', ich schätze dann mal, damit ist Sapphires Bar gemeint...? Echt interessant, wie das so alles zusammenhängt. c:
Antwort von:  ReptarCrane
25.11.2020 11:27
So ging's mir ja gestern, als ich auch zu spät kam...x'D
Meine Braids waren damals, durch die Extensions, auch Hüftlang xD
Jaaa... zu dem Thema waren auch die Recherchen, in denen ich mich gestern so verloren hatte, das war einbrach nur deprimierend :'D
Freut mich auf jeden Fall, dass du Lola schon mal sympatisch findest :D
Antwort von:  Drachenprinz
25.11.2020 12:14
Oh, ich hatte gar nicht auf dem Schirm, dass du auch Extensions hattest und das so lang war! Stell ich mir sehr badass vor. °-°
Ach so, das kann ich gut verstehen! Wenn ich manchmal für Geschichten was recherchiere, find ich das auch so interessant, dass ich mich da ewig mit aufhalte. xD Aber ja, bei dem Thema stell ich mir das auch deprimierend vor. ._.
Von:  Drachenprinz
2020-11-24T00:01:01+00:00 24.11.2020 01:01
Wendy ist mir direkt sympathisch. XD "Witziger Side-Kick in einer TV-Serie", das ist irgendwie zu gut. :'D Aber ehrlich, immer diese Menschen, die unbedingt Aufmerksamkeit brauchen, egal, wie! Irgendwie musste ich ja schon wieder direkt an Trump denken, hm.
Oha, ich hab mir gedacht, dass da irgendwas mit Augen passiert ist, nach dem Spruch, den dieser Norris da losgelassen hat. Jaja... immer diese Mörder, die gern Augen entfernen. Ich frag mich aber schon, falls das hier wirklich Leas Werk war, was sie mit den Augen dann gemacht hat. °-°
... Der Kommentar mit den Postern wär mir vielleicht auch in den Kopf gekommen. X'D
Schon eine sehr interessante Art, jemanden umzubringen bzw. das so herzurichten, mit den Herzen und so. ô_o Das ist bestimmt symbolisch. Hach, erinnert mich direkt an die Hannibal-Serie, ich find sowas ja voll faszinierend. xD
"'Brustkorb' schreibt man mit 'b'"... ja, ich mag Wendy. X'DD Oh, ihre darauffolgende Erklärung zu dem Wort 'krank' find ich auch hervorragend. Alles so Sachen, die sie sagt, mit denen ich mich irgendwie identifizieren kann. :'D
Also... ich könnte mir die Symbolik ja so vorstellen (falls das hier Leas Familie war - ich weiß, ehrlich gesagt, nicht mehr, ob im Prolog irgendwo der Nachname der Familie erwähnt wurde °-°), dass die Herzen und Zungen rausgerissen wurden, weil Leas Eltern zu ihr so 'herzlos' waren und Dinge zu ihr gesagt haben, die sie verletzt und irgendwann ihnen gegenüber abgestumpft haben. Und der kleinen Tochter fehlen die Augen, weil sie nie gesehen hat, was da eigentlich in der Familie passiert ist, sozusagen 'weggeschaut' hat, wenn auch nicht bewusst. Aber vielleicht mache ich es mir mit der Erklärung auch zu leicht, das kam mir nur so direkt in den Sinn. XD Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass die Leichen nur aus Provokation so hergerichtet wurden, das ist sicher irgendeine Metapher!
Von:  Drachenprinz
2020-11-22T00:21:56+00:00 22.11.2020 01:21
Hach ja, Gassi gehen bei Scheißwetter. x'D Und hey, wieder ein neuer Charakter!
XDDD Ich muss irgendwie so lachen gerade über das, was Scarlett zu Pammy sagt, weil, echt, wer kennt das nicht! Also, als Hundehalter jedenfalls. :'D Alles schon erledigt, schon nichts mehr im Tank, aber dann ist da so ein Baum, der gefühlt zehn Minuten lang beschnüffelt und inspiziert werden muss! Oder ein fucking Grashalm!
Oh... okay. Ich nehme dann mal an, das war Leas Familie, die Scarlett bzw. Pammy da gefunden hat? :'D Muss schon krass sein, wenn man sowas einfach vorfindet. XD Ich würde mir ja direkt Sorgen machen, dass ein irrer Mörder rumläuft, der mich als nächstes killt. Urgh.
Gut, jetzt weiß ich natürlich nicht, ob Scarlett tatsächlich ein wichtigerer Charakter ist oder eher als Übergang hier gedacht war, aber wenn, dann finde ich es trotzdem schön, dass sie so lebendig wirkt und man sich so in sie hineinfühlen kann! Auf jeden Fall, wie immer, sehr spannend! :D
Antwort von:  ReptarCrane
23.11.2020 20:18
Jaja, das kann Crispy ja auch sehr gut xD
Also ich glaub ich wär einfach total überfordert und würd mich wahrscheinlich fragen, ob ich noch träume oder so...x'D
Also es kann sein, dass Scarlett noch mal irgendwann auftaucht, aber eigentlich hab ich sie mir nur für diese eine Szene ausgedacht xD
Von:  Drachenprinz
2020-11-20T22:47:02+00:00 20.11.2020 23:47
Ich finde dieses Traum-Gefühl erst mal echt authentisch beschrieben! Und wie sich das dann auflöst und die Szene sich verändert... Ich muss sagen, ich hab mich grad erst gefragt, ob das jetzt doch kein Traum mehr ist sondern Jonny einfach aufgewacht ist und tatsächlich da an diesen Stuhl gefesselt ist. Ich denke zwar eher nicht, immerhin war ja auch das unter der Dusche und danach nur eine Halluzination, aber... hmm. ._. Stell ich mir auf jeden Fall echt beängstigend vor!
Und ja! Dass Schmerz im Traum genauso real sein kann wie in Echt, kann ich nur bestätigen. Ich hab schon krasse Schmerzen in Träumen erlitten, das war teils schon mal echt Folter. :'D Aber okay, manche sagen auch, man kann im Traum keinen Schmerz fühlen... Ich träume allerdings auch realistischer als die meisten, also, ich schätze, das ist von Person zu Person unterschiedlich und hängt bestimmt auch mit dem Zustand der Psyche zusammen. °-°
Alter... hab das Kapitel grad durchgelesen, und das war schon echt... intensiv. Ich habe sehr mitgefühlt. Boah. Was für ein Arschloch. :'D Dem sollte man auch mal den Schädel einschlagen, ey. Aber in Kombination mit so einer Abhängigkeit, ist das schon echt krass... Mann, ich hab echt Hass auf den Typen!!
Aber echt mal wieder toll geschrieben, sehr fesselndes Kapitel!
Antwort von:  ReptarCrane
21.11.2020 00:10
Yay, dass freut mich dass es gut beschrieben ist :D und auch, dass du erst mal nicht wusstest ob es echt ist oder nicht xD
Ja also ich spüre auch Schmerzen im träumen.
Freut mich, dass es dir gefahren hat, ich glaub das Kapitel fand ich auch bisher beim schreiben am intensivsten x'D jaaaa... voll netter Typ und so :'D


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