Besser, ihr rennt! - Old version von ReptarCrane ================================================================================ Kapitel 22: 2 -7 ---------------- Die verdammte Kaffeemaschine war kaputt. Amára hatte das Bedürfnis, auf sie einzuschlagen, was natürlich nicht dazu beitragen würde dass sie wieder funktionierte, ihr aber zumindest dabei helfen würde, ihren Frust auszulassen, und mehr als kaputt konnte sie das verdammte Ding ja wohl auch nicht machen. Dennoch riss sie sich zusammen. Stellte die Tasse, die sie sich gerade erst genommen hatte, zurück in den Schrank, verließ die Teeküche und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Schreibtisch, der von Akten, Notizzetteln und sonstigen für die Arbeit notwendigen Utensilien beinahe überquoll. Wie sie den Tag ohne Koffein überstehen sollte, war ihr ein Rätsel. Sie konnte wohl nur hoffen, dass sie noch heute noch einmal nach draußen fahren konnte und so die Möglichkeit haben würde, sich in irgendeinem Diner einen Becher voll wässriger Plörre zu besorgen, die auch nicht weniger schmackhaft war als das Zeug, das einem hier im Policedepartment als ‘Kaffee’ untergejubelt wurde. Ihr Stuhl knarzte, als sie sich darauf fallen ließ, und um ein Haar wäre sie nach hinten übergekippt weil die verdammte Sitzfläche seit einem guten halben Jahr locker war und sie das immer noch jedes Mal wieder vergaß. Irgendwann würde sie wohl wirklich stürzen und sich den Schädel am Tisch hinter ihr aufschlagen. War so etwas als Arbeitsunfall von der Versicherung gedeckt, oder viel das unter eigene Doofheit? Nun, das hier war Amerika, von daher vermutlich beides. Amára fiel selbst auf, dass ihre Gedanken heute reichlich zynisch waren, doch wie sollte es auch anders sein, nachdem sie heute Nacht kaum Schlaf gefunden hatte weil sie wieder einmal den Eindruck gehabt hatte, dass ihr Uterus den Plan hatte, sie qualvoll um die Ecke zu bringen, sodass sie stundenlang zusammengekrümmt im Bett gelegen hatte und bloß immer wieder kurz in eine Art Halbschlaf gefallen war. Nach zwei Dolormintabletten waren die Schmerzen zwar erträglich geworden, ihre Laune jedoch hatte sich dadurch nicht gebessert. Irgendein Kollege hatte hinter ihrem Rücken bereits die Bemerkung gemacht, dass ihre schlechte Laune bestimmt damit zusammenhing, dass sie ihre Tage hatte, und obwohl das in diesem Fall der Wahrheit entsprach hätte sie ihm am liebsten die Augen ausgekratzt. Sie hatte immerhin auch häufig genug aus anderen Gründen schlechte Laune - chauvinistische Sprüche von Kollegen standen auf dieser Liste ganz weit oben - da empfand sie die Schlussfolgerung, es läge einzig an ihren Hormonen und diesem nutzlosen Organ in ihren Unterleib, beinahe als beleidigend. Sichtlich lustlos griff Amára nach einer der Mappen, blätterte darin und ließ sie dann mit einem Seufzen zurück auf die Tischplatte fallen. Es war ihr ein Rätsel, wie sie in ihrem aktuellen Zustand auch nur einen halbwegs klaren Gedanken fassen, geschweige denn sich wirklich auf einen dieser unzähligen offenen Fälle konzentrieren sollte... „Wow, du siehst ja wirklich beschissen aus.“ Amára hob den Kopf, bereits eine giftige Erwiderung auf den Lippen, die sie sich mit Mühe verkniff, als sie erkannte, wer da neben ihr stand und sie mit einem leichten Lächeln bedachte. Sie selbst verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, was aktuell die freundlichste Geste war, zu der sie sich in der Lage fühlte. „Kann ich nur zurückgeben. Aber bei mir liegt es wenigstens nur daran, dass ich schlecht geschlafen habe!“ „Na, vielen Dank.“ Adrián Rubero warf ihr einen betont verletzten Blick zu, dann streckte er seinen Arm aus und stellte den Kaffeebecher, den er in der Hand gehalten hatte, auf ihrem Tisch ab. „Aber das glaube ich dir sogar... ich war vorhin an einem Tatort, der mir etwas auf den Magen geschlagen ist. Aber hier, ich hab dir einen Kaffee mitgebracht. Hab vorhin schon gesehen dass die Maschine kaputt ist und hab mir gedacht, dass du bestimmt einen gebrauchen kannst wenn du zum Dienst kommst.“ „Adrián, habe ich dir schon mal gesagt, dass ich dich liebe?“ Amáras Grinsen wurde breiter und etwas weniger gezwungen, sie griff nach dem Becher und nahm einen großen Schluck. Der Inhalt schmeckte wirklich nach Kaffee, und nicht nach bitterem Wasser, was darauf schließen ließ dass Adrián ihn nicht von Peter’s Pancake Diner geholt hatte, was direkt gegenüber der Polizeiwache lag. „Manchmal“, erwiderte Adrián bescheiden. „Aber wenn du dir Hoffnungen machst, dass ich dich auf ein Date einlade, muss ich dich enttäuschen!“ „Oh, keine Sorge, dafür müsstest du dann doch etwas mehr tun, als mir ab und an Kaffee mitzubringen!“ Das entsprach zwar nicht direkt der Wahrheit, tatsächlich wäre eine solche nette Geste für Amára durchaus ein Grund gewesen, Interesse an jemandem zu haben, aber sie wusste, dass sie sich da bei Adrián keine Hoffnungen zu machen brauchte. Außerdem war er ohnehin nicht ganz ihr Typ. „Aber was war das denn für ein Tatort, der dir auf den Magen geschlagen ist?“, fragte sie nun, nahm dann einen weiteren Schluck Kaffee. Das Lächeln, das bis eben auf Adriáns Gesicht gelegen hatte, verblasste. Wurde überschattet von etwas, das wie Frustration, vielleicht auch wie Besorgnis wirkte. Jedenfalls wie etwas, was darauf hindeutete, dass ihm einiges an diesem Fall sauer aufstieß. „Es ging um einen Mord. Drüben in der Eastside. Eine ganze Familie wurde umgebracht, Vater, Mutter, und Tochter. Wobei umgebracht wohl nicht ganz das richtige Wort ist... abgeschlachtet trifft es wohl besser, auch wenn es reißerisch klingt. Aber ich meine das wirklich so. Du weißt dass ich schon einige Dinge gesehen habe, aber ich glaube mir ist noch nie etwas so auf den Magen geschlagen wie das...“ Das glaubte Amára ihm sofort. Seine ganze Art ließ darauf schließen, dass ihn, was auch immer genau er dort gesehen hatte, mitgenommen hatte, und natürlich wusste sie auch, dass Adrián niemand war, der grundsätzlich zart besaitet war. Dass ihm nun also etwas so sehr zu schaffen machte dass er auf diese Art darüber sprach, weckte ihre Neugierde. Mit einem vielsagenden Blick auf den Haufen Akten, der auf ihren Schreibtisch ausgebreitet lag, hakte sie nach: „Ich hab zwar selber mehr als genügend Fälle hier rumliegen die ich bearbeiten muss... Aber das meiste davon ist Kleinkram. Also, falls du jemanden brauchst, mit dem du dich austauschen möchtest...“ Natürlich sollte ein Polizeibeamter so etwas vorrangig mit dem ihm zugewiesenen Partner tun, mit dem er seine Fälle zusammen bearbeitete. Dass Ernest Trevor Bowman, der für Adrián eben dieser Partner war, jedoch niemand war, mit dem man sonderlich gut reden konnte, und das sowohl dienstlich als auch privat, war Amára gut bekannt. Das Blitzen in den Augen ihres Gegenübers verriet ihr, dass dieser auf ein solchen Angebot ausgewiesen war. Dennoch wirkte er nicht sonderlich enthusiastisch, als er erwiderte: „Ach, ich weiß nicht, ob das so sinnvoll ist. Bowman hat mir gesagt, ich solle mich da nicht so reinsteigern. Und dass die Sache ja wohl eigentlich klar wäre.“ „Aha. Und was meint er damit?“ „Er ist der Meinung, dass das mit irgendwelchen Gangaktivitäten zu tun hat, oder mit Drogen, oder irgendwas in dieser Art. Dass sich da jemand mit den falschen Leuten angelegt hat und dafür bestraft wurde. Und dass es keinen Sinn hätte, das weiter zu verfolgen, weil es eh zu nichts führen würde.“ „Aber du bist da nicht seiner Meinung.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, dennoch nickte Adrián. „Ich weiß, was in der Eastside für Dinge passieren. Ich hab meine Kindheit dort verbracht, und ich hab Dinge gesehen, die kein Kind sehen sollte. Auch kein Erwachsener. Niemand. Ich bin mir auch sicher, dass das, was ich heute gesehen habe, nicht einmal das Grausamste war, was mir je untergekommen ist. Aber dieses Bild...einfach...Die ganze Szenerie.“ Er stockte, seufzte. Kurz wartete Amára ab, ob er weitersprechen würde, und als er das nicht tat, tat sie es: „Was genau war das denn? Du kannst mir auch deinen Bericht geben, wenn du nicht drüber reden willst. Aber ich muss zugeben, dass ich wirklich neugierig bin!“ Irgendwie klang das morbide, immerhin ging es um einen Mordfall, um tote Menschen. Andererseits konnte sie auch nicht leugnen, dass sie ihren Betrug unter anderem aufgrund ihres Interessen an derartigen Taten gewählt hatte. Adrián zögerte. Er schien abzuwägen, ob er darüber reden wollte oder nicht, ob er seiner Kollegin einfach seine Notizen überreichen sollte, oder ob er vielleicht besser nichts dergleichen tat, denn immerhin hatte sie mit der ganzen Sache, mit dem Fall, nicht das Geringste zu tun. Trotzdem hatte er offensichtlich das Bedürfnis, über die Sache zu sprechen, und zwar nicht mit jemandem wie Bowman, der die sozialen Kompetenzen eines Pantoffeltierchens besaß und ziemlich schnell genervt war, wenn man mit ihm aus seiner Sicht zu viel über einen Fall redete. Also griff er schließlich in die Tasche seine Uniformjacke, zog den zerfledderten Notizblock heraus, der aussah als würde er ihn seit Beginn seiner Dienstzeit benutzen, und reichte ihn Amára. Es dauerte ein wenig, bis sie es geschafft hatte, Adriáns Schrift zu entziffern - zu Beginn hatte er noch halbwegs deutlich geschrieben, doch je weiter sie las, desto mehr sahen die Buchstaben nach Hieroglyphen aus. Was sie jedoch las, ließ sie ohne weiteres über das krakelige Schriftbild hinwegsehen. „Dios mío“, murmelte sie schließlich und gab Adrián seinen Block zurück. Sie verstand nun, was er gemeint hatte, als er gesagt hatte, dass es nicht bloß die Grausamkeit an sich gewesen war, die dieses Gefühl von Unbehagen in ihm hatte aufkommen lassen, sondern das Gesamtbild. Und vor allem konnte sie nachvollziehen, dass er Bowmans Aussage, es handele sich um eine absolut typische Banden- oder Drogenmilleu Tat, nicht zustimmte. „Ja, das kannst du laut sagen“, meinte Adrián mit unterdrückter Stimme, während er den Block wieder in seiner Jacke verstaute. „Bowman kann mir doch nicht wirklich erzählen wollen, dass das einfach bloß das Werk eines verärgerten Dealers oder so was ist!“ „Oh, er will dir das ganz bestimmt erzählen. Keine Ahnung, ob er das selber glaubt, oder ob er einfach keine Lust hat, seine Zeit mit diesem gesellschaftlichen Abschaum zu verschwenden...“ Ihre letzten Worte hatte Amara mit betont überspitzter Stimme hervorgebracht, und sie zudem mit Anführungszeichen in der Luft unterstrichen, um klarzumachen, dass sie hier nicht ihre eigene Ansicht, sondern ein Zitat wiedergab, welches Bowman bereits drei oder vier mal in ähnlicher Formulierung und in diversen Situationen von sich gegeben hatte. Das Lächeln, das sich auf Adriáns Gesicht ausbreitete, war bitter. „Ja, da hast du wohl recht. Er denkt wahrscheinlich, dass sich niemand daran stören wird, wenn er diesen Fall einfach als einen von vielen Fällen mit zu wenig Spuren für eine Verfolgung zu den Akten legen wird... und ja, verdammt, das ist wahrscheinlich auch so. Ich weiß nicht mal, ob die Familie noch irgendwelche Angehörigen hat, die sich dafür interessieren, was genau mit ihnen passiert ist, aber wenn da noch jemand ist, was ich irgendwie nicht glaube, und diese Leute auch in der Eastside wohnen, dann wird deren Meinung hier auch kaum jemanden ernsthaft interessieren.“ „Das ist wie bei manchen Serienmördern und ihren Opfern“, stimmte Amara ihm zu, wobei sie gedankenverloren einen Kugelschreiber zwischen ihren Fingern umher drehte. „Manche Opfer haben eben keine Lobby. Niemanden, den es interessiert, was mit ihnen passiert.“ „Klingt ziemlich düster... aber ja, um Grunde ist es so.“ Adrián klang jetzt ziemlich nachdenklich, und Amara glaubte, zu wissen, warum dem so war. „Ist es das, was du glaubst?“, fragte sie. „Dass das die Tat eines... werdenden Serienmörders war?“ „Na ja. Ob ich das glaube, weiß ich nicht, aber zumindest habe ich da dran gedacht.“ Adrián zuckte mit den Schultern. „Fällt mir einfach schwer zu glauben, dass jemand, der sich solche Mühe mit der Herrichtung seiner Opfer macht, so etwas nur einmal tut.“ „Vielleicht war es ja einfach war Persönliches.“ Wenn Amara ehrlich war, glaubte sie das zwar nicht wirklich, auch wenn es durchaus Aspekte gab, die darauf hindeuteten, aber auszuschließen war es wohl nicht. Adrián allerdings schien von dieser Theorie ebenso wenig zu halten wie sie. „Ja, vielleicht. Aber ich weiß nicht. Das ist alles so... so...“ Ein wenig hilflos zuckte er mit den Schultern, schien nach den richtigen Worten zu suchen, doch ohne Erfolg. Amara wäre gerne eingesprungen, aber ihr ging es da nicht anders. Vielleicht gab es gar keine Worte, um das, was sich dort in dieser Wohnung in der Eastside abgespielt hatte, wirklich treffend zu beschreiben. Und vielleicht konnten sie auch mit den wenigen Dingen, die sie bisher wussten, überhaupt keine Einschätzung darüber treffen, was nun dahintersteckte. Fest stand jedoch eines, zumindest für Amara - wobei, wenn sie genauer darüber nachdachte, waren es zwei Dinge. Das erste war dabei so offensichtlich, dass es wohl selbst jemand wie Bowman, der kein Interesse daran hatte sich tiefergehend mit der Sache zu beschäftigen, dem zugestimmt hätte: Es war keine Affekttat gewesen. Der Täter war nicht einfach vorbeigekommen, war vielleicht nach einem Streit wütend geworden und hatte deshalb beschlossen, die gesamte Familie Nelson auszulöschen. Zwar hatte darüber nichts in Adriáns Notizen gestanden, aber es erschien doch recht unwahrscheinlich, dass die für die Verstümmelungen der Leichen notwendigen Utensilien sich in der Wohnung befunden hatten, und dass der Mörder es dann auch noch für nötig gehalten hatte, sie zusammenzusuchen, um einen derart auffälligen Tatort zu inszenieren. Nein, er war bereits mit dem Vorhaben dort aufgetaucht, dieses Verbrechen zu begehen, ebenso, wie es sein Plan gewesen war, die Leichen auf diese Art herzurichten. Diesbezüglich war Amara sich vollkommen sicher. Und noch etwas glaubte sie zu wissen, und sie nahm an, dass Adrián diese Meinung teilte: Es steckte mehr dahinter als eine nicht beglichene Rechnung oder dergleichen. Etwas anderes. Vielleicht war es ein Täter, der vorhatte, weitere derartige Verbrechen zu begehen und sich damit in Zeitungen und Fernsehen einen Namen zu machen, wie der Zodiac Killer oder der Nightstalker. Vielleicht auch nicht, vielleicht gab es einen Hintergrund, den sie bisher nicht kannten, nicht kennen konnten, weil es nicht genügend Puzzleteile gab oder diese zumindest noch nicht entsprechend aufgedeckt worden waren, aber irgend etwas war da. Dass sie vollkommen in ihren Gedanken versunken gewesen war, registrierte Amara erst, als heißer Kaffee über ihren Handrücken lief und sie bemerkte, dass sie ihren Becher während ihrer Überlegungen immer mehr in eine Schieflage gebracht hatte. Nachdem sie ihrem Unmut über ihre Unaufmerksamkeit mit Hilfe einiger spanischer Schimpfworte Ausdruck verliehen hatte, für die sie sich von ihrer Mutter wohl eine gefangen hätte, stellte sie an Adrián gewandt die ihrer Meinung nach relevante Frage: „Und was willst du jetzt machen? Tun, was Bowman sagt, und es gut sein lassen?“ Tatsächlich war es in gewissem Maße eine rethorische Frage gewesen, und die Antwort, die Adrián ihr gab, überraschte sie keineswegs. „Das kann ich nicht. Ich weiß, dass es nicht stimmt, was er sagt, das war nicht einfach bloß eine Art von Abrechnung oder so was. Selbst wenn es das wäre würde ich mich beschissen dabei fühlen, dass wir das einfach zu den Akten legen, immerhin sind es verdammt noch mal Menschen die da sterben! Auch wenn ich Bowman dann zustimmen müsste, dass Ermittlungen wohl kaum etwas bringen würden.“ Er stockte, vermutlich, um Lust zu holen, schien dann jedoch nicht wirklich zu wissen, wie er weitersprechen sollte. Dieses Mal glaubte Amara, zu wissen, was er sagen wollte. „Aber da ist eben mehr“, ergänzte sie deshalb. „Ich hab den Tatort nicht gesehen, aber alleine durch deine Notizen gehe ich davon aus. Dem nicht nachzugehen wäre nicht nur falsch, weil Leute gestorben sind, sondern auch, weil die Gefahr besteht, dass noch mehr sterben werden. Das denke ich zumindest. Du doch auch, oder?“ Adrián nickte. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der ihr bestätigte, dass das, was sie sagte, genau das war, was ihm die ganze Zeit über bereits im Kopf herumgegangen war, und dass er froh war, dass sie so dachte und seine Vermutungen nicht als alberne Zeitverschwendung abtat, wie sein Partner das getan hatte. „Schön, dass du das auch so siehst. Ich weiß noch nicht wirklich, was ich tun will. Ich denke, ich werde ein wenig nachforschen, am besten so, dass Bowman nichts davon mitbekommt. Ich habe wirklich keine Lust darauf, mit ihm zu diskutieren.“ Nachdenklich ließ er seinen Blick über Amaras Schreibtisch gleiten, dann ergänzte er: „Auf jeden Fall werd ich nachprüfen, ob es vielleicht doch noch irgendwelche Angehörigen gibt. Falls ja, kann es ja durchaus sein, dass die noch irgend etwas Interessantes zu berichten haben! Ganz davon abgesehen, dass wir sie eh darüber benachrichtigen müssen, dass ihre Verwandten tot sind. Zumindest meines Wissens nach gehört das zu unserem Job dazu, egal, was Bowman dazu sagt.“ Er klang selbstsicher, als er das sagte, und dennoch machte es auf Amara den Eindruck, als wolle er sich mit seinen Worten in erster Linie selbst überzeugen. Wer konnte es ihm verübeln; Detective Bowman war wahrhaftig kein Mensch, mit dem man sich gerne anlegte, und genau das bedeutete es, wenn Adrián sich dazu entschied, dem Fall doch mehr Aufmerksamkeit zu widmen als es der Ansicht seines Partners nach notwendig war. „Dann viel Erfolg dabei“, meinte sie, bemühte sich dabei, ihrem Kollegen ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, was sich als schwierig erwies, da sie in diesem Augenblick eine neue Welle von Unterleibskrämpfen überrollte, die dafür sorgte, dass sie sich auf dem bedenklich knarrenden und kippelnden Stuhl nach hinten lehnte und die Beine kerzengrade von sich weg streckte. Das half ein wenig, wenn auch nicht viel. Adrián betrachtete sie kurz irritiert, schien dann aber zu begreifen. Einen Kommentar verkniff er sich - etwas, von dem er in der Zeit, die er Amara bereits kannte, gelernt hatte, dass es das Beste war, was er tun konnte. „Danke für das Gespräch“, sagte er stattdessen, und im Gegensatz zu seiner von Schmerzen gequälten Kollegin schaffte er es, zu lächeln. „Und dafür, dass du mir bestätigt hast, dass meine Gedanken zu dem Ganzen nicht vollkommen abwegig sind! Es stört dich hoffentlich nicht, wenn ich vielleicht noch öfter mit dir darüber rede?“ „Nein, absolut nicht“, presste Amara hervor, schloss die Augen und atmete einfach tief durch. Gleich würde der Schmerz wieder abklingen, doch in diesem Augenblick fühlte sich ihr Uterus so an, wie sie sich früher die Qualen im Fegefeuer vorgestellt hatte. Während Andrián sich umdrehte und zurück zu seinem eigenen Schreibtisch ging, wo er sich entweder seinen offenen Fällen widmen, oder mit der Recherche nach Angehörigen der ermordeten Familie suchen würde, taste Amara nach ihrer Handtasche und kramte darin herum, bis sie endlich die Packung mit den Schmerztabletten unter ihren Fingerkuppen spürte und sie sie herauszog. Was hatte die Natur sich eigentlich dabei gedacht, einen jeden Monat aufs Neue auf solch qualvolle Art und Weise leiden zu lassen, bloß, um einem mitzuteilen, dass man überraschenderweise auch dieses Mal bei vollkommener Abwesenheit irgendeines Sexualpartners nicht schwanger geworden war? „Ist wahrscheinlich immer noch besser, als den Brustkorb aufgeschnitten und die Zungen herausgeschnitten zu bekommen“, mumelte Amara zu sich selbst, steckte sich die Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Schluck ihres inzwischen merklich abgekühlten Kaffees herunter. Dieser Gedanke hatte nicht wirklich etwas Tröstendes an sich, tatsächlich kam es ihr in diesem Moment in der Tat so vor, als wäre sie dabei, zu sterben. Das Entscheidende jedoch war, dass das nicht passieren würde. Ihr Schmerz würde vorbeigehen, und dann hätte sie bis in knapp vier Wochen ihre Ruhe, falls sie es nicht endlich schaffte, einen Termin bei ihrer Frauenärztin zu vereinbaren, weil derartige Schmerzen eben nicht normal waren, auch, wenn jungen Leuten das gerne eingeredet wurde. Sie würde weiterleben, und nicht unter ihren Schmerzen an ihr zugefügten Verletzungen verenden, während irgendein Sadist ihren Körper auf eine Weise zur Schau stellte, als handele es sich dabei um eine Art Kunstwerk. Möglicherweise war es das auch für ihn... ein Kunstwerk. Eine Möglichkeit, sich selbst auszudrücken, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sich selbst zum Gesprächsthema zu machen. Zumindest in der Eastzeit wird das wohl auch funktionieren, dachte Amara, während sie merkte wie die Krämpfe allmählich abebbten. Die Leute in der Eastside werden da bestimmt drüber reden. Aber ob dieser Mord es wirklich in die Zeitung schafft... vielleicht irgendwo als Randnotiz, neben des anderen kleinen Bemerkungen über die steigende Kriminalität und die Gewaltrate in der Eastside, aber vielleicht nicht mal das. Denn wer will schon Artikel über Leute lesen, deren Existenz man schon zu Lebzeiten am liebsten geleugnet hat? Es ist wirklich wie mit den Serienmördern, die Prostituierte ermordet haben; die so lange weitermachen konnte, weil es niemanden interessiert hat. Es wird keine ausschweifenden Artikel darüber geben, dass eine arme Familie in einem von Gewalt geprägten Viertel umgekommen ist, weil so etwas am Ende eben wirklich Alltag ist! Möglicherweise war das sogar gut. Falls es der Person, die die Familie ermordet hatte, wirklich um Aufmerksamkeit ging, dann würde es sie vielleicht entmutigen, wenn nicht wie möglicherweise erhofft auf den Titelseiten der Zeitungen über ihre grausame Tat berichtet wurde. Oder aber das Gegenteil wäre der Fall. Sollten sich in nächster Zeit weitere Leichen finden, egal, ob in der Eastside oder in den angeseheneren Teilen von Red Creek - für die Opfer an sich machte das keinen Unterschied, die wären tot, egal, woher sie kamen - dann konnte das gut daran liegen, dass der Täter glaubte, damit durchzukommen. Dass er weitermachen konnte mit dem, was er, aus welcher Motivation heraus auch immer, tat, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, da Leute wie Detective Bowman der Meinung waren, Ermittlungen zu dem gewaltsamen Tod einer Familie am Rande der Gesellschaft würde sich nicht lohnen. Wie frustrierend es war, wenn man es so deutlich formulierte. Wie abwertend. Ja, gut möglich, dass es weitere Morde geben würde. Dass dahinter jemand steckte, für den das Töten mehr war als ein Mittel zum Zweck, dessen Motivation nicht darin bestand, sich für illegale Geschäfte oder dergleichen zu rächen, oder um seine Machtposition zu demonstrieren. Jemand, der es wieder tun würde, wenn er merkte, dass ihn niemand davon abhalten würde, der möglicherweise eine perverse Freude daran entwickeln würde, zu testen, wie weit er gehen konnte, auf welche Arten er die Menschen verstören, Angst verbreiten konnte. Und Amara fragte sich, wobei eine Mischung aus Frustration und Resignation in ihr aufstieg, wie lange man dieses Spiel wohl ungestraft spielen konnte, solange man sich auf Menschen konzentrierte, deren Existenz für die einflussreichen Leute der angesehenen Gesellschaftsschichten keinerlei Relevanz besaßen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)