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Flashlight

von

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Die erste Sitzung

Am nächsten Tag fuhr Sebastian mit Ciel in die Praxis eines Bekannten mitten in London. Er wollte so schnell wie möglich mit der Therapie beginnen, auch wenn er bezweifelte, dass der Junge schon am ersten Tag überhaupt etwas sagen würde.

Sebastian parkte in einer Seitenstraße. Obwohl es schon elf Uhr vormittags war, war noch nicht allzu viel los. Er stieg leise seufzend aus, die letzte Nacht war doch recht kurz gewesen, umrundete sein Auto und öffnete die Beifahrertür. Ciel, der sich schon selbst abgeschnallt hatte, kam ihm entgegen gesprungen. „Na komm“, lächelte Sebastian und hielt ihm eine Hand hin, die auch sogleich ergriffen wurde.
 

Sie legten den Weg schweigend zurück, während Ciel sich neugierig umschaute. In der Gegend, in der sie waren, reihte sich ein altes Stadthaus an das nächste. Vor einem blieb Sebastian schließlich stehen, drückte die Tür auf und betrat mit Ciel an der Hand das Gebäude. Die Eingangshalle war groß und recht unspektakulär. Zu beiden Seiten standen ein paar große Vasen und kleine, palmenartige Pflanzen. Ciel hatte nicht viel Zeit sich umzusehen, da er direkt weiter zu der großen Treppe gezogen wurde, die in den ersten Stock führte. Oben angekommen ging ein Gang nach links, dort wiederum führten mehrere Türen in verschiedene Räume. Die Wände waren alle in cremeweiß gehalten und vereinzelt waren große, bunte Bilder aufgehängt worden.

Sebastian klopfte an die dritte Tür auf der rechten Seite. Als ein gedämpftes „Herein!“ ertönte, drückte er die Klinke herunter und betrat mit Ciel an der Hand den Raum. Dieser hatte die gleiche Wandfarbe, der Boden war ebenso aus braunem Holz. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein großes Regal, gefüllt mit Büchern und Ordnern. Daneben stand ein großer Schreibtisch, von dem gerade ein Mann mit perfekt gekämmten, braunen Haaren aufstand und seine Brille zurecht rückte. Die linke Wand bestand fast nur aus einem großen Fenster, während rechts von der Tür eine Sitzecke war, bestehend aus einem schwarzen Ledersessel und einem dunkelroten Sofa. Direkt daneben lag ein weinroter Teppich, auf dem zwei Kinderstühle und ein Kindertisch standen. Auf dem Teppich lagen verschiedene Spielsachen und auf dem kleinen Tisch weiße Blätter und Buntstifte.

„Guten Morgen, Dr. Michaelis“, sagte der Unbekannte kühl. „Guten Morgen. Ciel, das ist Dr. Spears.“ Dieser beugte sich zu dem Jungen mit einem angedeuteten Lächeln und hielt ihm die Hand hin. „Hallo Ciel, schön dich kennen zu lernen. Weißt du, wieso du hier bist?“ Der Junge nickte und klammerte sich etwas fester an Sebastians Hand. Dieser hatte es ihm beim Frühstück erklärt. Zwar würde er sich gerne selbst um Ciels Therapie kümmern, doch das wäre nicht gut und würde ihn nur verwirren. „Na schön, dann lass ich euch jetzt alleine und hole dich in einer Stunde wieder ab, okay?“, sagte er zu Ciel gewandt. Dieser schaute ihn mit großen blauen Augen ängstlich an. Sebastian kniete sich zu ihm: „Ich hole dich in einer Stunde wieder ab, versprochen! Du musst keine Angst vor Dr. Spears haben, er ist einer der Besten auf diesem Gebiet und möchte sich nur mit dir unterhalten.“ Er drückte den Jungen noch einmal kurz zum Abschied, dann stand er auf und verabschiedete sich kurz von William, bevor er ging.
 

„Setz dich“, sagte William mit einem leichten Lächeln und deutete in die Sitzecke. Ciel schaute ihn kurz an, dann ging er zögerlich in die gedeutete Richtung. Wo sollte er sich nun hinsetzen? Nach kurzem Überlegen entschied er sich für den Kinderstuhl. Mit großen Augen schaute er William an, der ihm gefolgt war und sich nun auf dem anderen Stuhl niederließ, obwohl er dafür viel zu groß war. Es sah ulkig aus und so gluckste Ciel leise. Der Größere hob eine Augenbraue, sagte aber nichts dazu.

„Ciel, weißt du was ein Therapeut ist?“ Er bekam ein Kopfschütteln als Antwort. Gut, etwas anderes hatte er auch nicht erwartet. „Also, ein Therapeut ist jemand, der anderen Menschen hilft mit ihren Problem klar zu kommen, oder schlimme Dinge, die sie erlebt haben, zu verarbeiten.“ Schweigen. „Das ist mein Beruf. Wir sind hier, weil ich dir helfen möchte, das Erlebte zu verarbeiten. Verstehst du?“ Ciel nickte zögerlich. So ganz verstand er es immer noch nicht, obwohl Sebastian es ihm schon erklärt hatte. „Nun, alles, was du mir in diesem Raum sagst, wird hier bleiben. Ich weiß, das ist nicht einfach zu verstehen. Aber das wirst du mit der Zeit.“ Ciel nickte kurz, auch wenn er den Sinn noch nicht wirklich verstand, dann betrachtete er neugierig den Raum.
 

In der Zwischenzeit ging Sebastian einkaufen. Auch wenn er persönlich William T. Spears nicht sonderlich mochte, war dieser einer der besten Kindertherapeuten Londons. So kurzfristig einen Termin bei ihm zu bekommen war schier unmöglich, doch sie kannten sich von Studienzeiten und William schuldete ihm noch einen Gefallen.
 

Eine Stunde später kam Sebastian, wie versprochen, um Ciel abzuholen. Dieser schaute ihn mit leuchtenden Augen an und schien sich offensichtlich zu freuen, dass er wieder kam. Seit Sebastian ihn bei sich aufgenommen hatte vor ein paar Tagen, hatten sie praktisch jede Minute zusammen verbracht. „Dann sehen wir uns in einer Woche wieder, Ciel“, verabschiedete William sich von ihm. Sie hatten sich eine Stunde an geschwiegen, aber das war zu erwarten gewesen. Er glaubte auch nicht, dass der Junge in der nächsten Sitzung mehr reden würde.

Als sie das Gebäude verließen, griff Ciel wie selbstverständlich nach Sebastians Hand. Dieser betrachtete ihn mit einem warmen Lächeln.

Draußen wurden sie von hellen Sonnenstrahlen begrüßt und kniffen kurz die Augen zusammen, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Ciel gähnte leise. Kein Wunder, die letzte Nacht war ziemlich nervenaufreibend und kurz gewesen. Da es bald Zeit für das Mittagessen war, fragte Sebastian: „Hast du Hunger?“ Ciels Magen grummelte leise, das war Antwort genug. „Dann lass uns etwas essen gehen. Worauf hast du Lust?“, fragte Sebastian, nachdem sie in der Fußgängerzone angekommen waren. Ciel schaute sich um und deutete dann auf ein Fast Food Restaurant. Sebastian seufzte leise. „Na schön, aber nur ausnahmsweise!“ Normalerweise war er gegen dieses Essen, schon allein weil es absolut ungesund war. Seltsamerweise war es ein Magnet für Kinder.
 

Drinnen wimmelte es von gestressten Müttern und schreienden Kindern. Ciel ergriff Sebastians Hand noch fester und drückte sich an dessen rechtes Bein. Er fühlte sich eindeutig unwohl und der Ältere wollte schon vorschlagen wieder zu gehen, aber Ciel wollte hier essen und er konnte ihn doch nicht immer mit Samthandschuhen anfassen.

Die Schlange an der Kasse war zum Glück recht kurz. „Was möchtest du?“, fragte Sebastian und erhielt ein Schulterzucken als Antwort. „Hast du hier schon mal gegessen?“, fragte er. Ciel verneinte. Da sie schon an der Reihe waren zu bestellen, entschied Sebastian sich für einen einfachen Cheeseburger, ein paar Chicken Nuggets, Pommes und Wasser für Ciel und für sich ein Menü. „Wir haben auch Angebote für Kinder“, teilte ihm die gelangweilte, füllige Frau hinter der Kasse kaugummikauend mit, „da ist auch ein Spielzeug dabei.“ Sebastian Blick wanderte kurz zu eben diesen, entschied dann bei seiner Bestellung zu bleiben. Sie mussten ein paar Minuten warten, dann bekam er ein volles Tablett hin geschoben.
 

Mit dem Tablett in der Hand suchte Sebastian nach einem freien Tisch und steuerte dann einen Zweiertisch an. Er wäre zwar lieber nach draußen gegangen, doch dort war auch der Raucherbereich und da wollte er wirklich nicht essen.

Nachdem sie sich gesetzt hatten, packte Ciel den Cheeseburger aus und betrachtete ihn eingehend. Sebastian wollte schon fragen, ob etwas nicht in Ordnung sei, doch dann biss er herzhaft hinein. „Schmeckt’s?“, fragte er lächelnd und Ciel nickte. Seine Augen leuchteten.
 

Wieder zu Hause in Sebastians Wohnung klingelte dessen Handy. Verwundert fischte er es aus seiner Hosentasche und schaute auf das Display. Als er die Nummer sah, verzog er unwillig seine Mundwinkel. Kurz zögerte er, überlegte, einfach nicht abzuheben und die Anruferin mit seiner Mailbox plaudern zu lassen, doch aufgeschoben war nicht aufgehoben. Ein genervtes Seufzen unterdrückend hob er ab. „Michaelis?“, meldete er sich monoton. Ciel stand neben ihm und schaute ihn neugierig an.

Die Anruferin, seine persönliche Sekretärin, teilte ihm gerade mit, dass einige Dokumente von ihm durchgesehen werden mussten. „Hat das nicht Zeit bis nach meinem Urlaub?“ Er konnte den genervten Unterton in seiner Stimme kaum unterdrücken. Wollte er auch gar nicht. Er war nicht mal eine Woche weg und schon kamen sie wieder an gekrochen. Sebastian atmete tief durch und schloss kurz die Augen. Wie er diese Klinik doch manchmal hasste! „Na schön, schicken Sie mir jemanden, der mir die Unterlagen bringt.“ Aufgebracht ging Sebastian in die Küche. Er würde mit Sicherheit nicht in die Klinik fahren! Und schon gar nicht mit Ciel. Den Jungen alleine lassen war keine Option.

Nach einigem Hin und Her hatte er die arme Frau überzeugt. Mit einem tiefen Seufzen legte er auf und sein Handy auf die Arbeitsplatte seiner Kochinsel. Er lehnte mit der Hüfte dagegen und registrierte erst jetzt Ciels, fast schon besorgten, Blick. „Die Arbeit ruft“, sagte Sebastian und schenkte ihm ein kleines Lächeln. „Du wirst dich heute wohl selbst beschäftigen müssen.“ Ciel nickte, dann verließ er die Küche und steuerte das Wohnzimmer an. Dort waren seine Spielsachen. Sebastian hatte das unterste Fach seines Regals, das aus insgesamt acht gleichgroßen Würfeln bestand, freigeräumt.
 

Ciel ging davor in die Hocke und überlegte, was er nehmen sollte, entschied sich dann für ein Puzzle. Mit dem Karton in der Hand ging er zu dem niedrigen Wohnzimmertisch und öffnete die Schachtel. Die Puzzleteile waren noch in einer Plastikhülle eingepackt. Ciel versuchte sie mit den Fingern zu öffnen, doch er schaffte es nicht. „Warte“, sagte Sebastian, der sich plötzlich neben ihn kniete, mit einer Schere in der Hand. Erschrocken zuckte der Kleinere zusammen. Schnell war die Tüte aufgeschnitten und die Puzzleteile auf dem Tisch verteilt.

Ciel richtete die Schachtel so aus, dass er das Bild sehen konnte und sortierte dann die Teile, um mit dem Rand anfangen zu können. Sebastian beobachtete ihn kurz, dann ertönte auch schon die Klingel. Kamen die Unterlagen nun schon per Luftpost? Als er die Haustür öffnete stand dort eine junge Frau, vielleicht eine Praktikantin. Sie lächelte ihn offen an und warf ihm einen möglichst intensiven Blick durch ihre getuschten Wimpern zu, nachdem sie ihn für eine halbe Sekunde gemustert hatte. „Dr. Michaelis?“, fragte sie. Er nickte nur knapp als Antwort. „Ich sollte Ihnen die Unterlagen bringen“, sagte sie und versuchte sich an einem verführerischen Unterton, der allerdings seine Wirkung verfehlte. „Danke“, sagte Sebastian, nahm die dicke Mappe an und schloss die Tür, ohne sich zu verabschieden.
 

Lustlos ging er in sein Arbeitszimmer. Es war nicht so, dass er seine Arbeit nicht mochte, aber dieser Papierkrieg war manchmal wirklich mehr als nur lästig. Seufzend schlug er die Mappe auf und las sich das erste Dokument durch.
 

Fast eine Stunde später kam Ciel zu ihm und hielt ihm ein Bild hin. „Für mich?“, fragte Sebastian, nahm das Blatt an und betrachtete es. Dort waren Strichmännchen zu sehen. Das größte hatte braune Haare, das mittlere trug einen Rock und hatte blonde Haare und das kleinste hatte blaue. Darüber, in der linken, oberen Ecke befand sich eine gelbe Sonne und rechts ein großes Haus. Alle drei lächelten und hielten sich an den Händen. „Bist du das? Mit deinen Eltern?“, fragte Sebastian und Ciel nickte. „Möchtest du über sie reden?“ Kopfschütteln. Er seufzte innerlich, damit hatte er schon gerechnet. Es war klar, dass der Junge nicht gleich sein Herz ausschütten würde. „Was … machst du da?“, fragte Ciel plötzlich und schaute ihn neugierig an. „Das ist nur langweiliger Papierkram, nicht besonders spannend.“ „Papa hat das auch immer gemacht“, sagte Ciel. Einer Eingebung folgend fragte der Größere: „Interessiert dich das?“ Nicken. „Ich durfte immer auf Papas Schoß sitzen und ihm helfen“, erklärte Ciel stolz. „So? Na dann komm her“, sagte Sebastian mit einem Schmunzeln und hob den Jungen hoch, um ihn auf seinen Schoß zu setzen. „Was hast du dann immer gemacht?“ „Gestempelt und ihm Blätter gereicht“, sagte Ciel und seine Augen leuchteten. Sebastian unterdrückte das aufkommende Bedürfnis ihn zu knuddeln, da der Kleinere in diesem Moment einfach nur goldig war.

So verbrachten sie noch eine gute Stunde, dann waren sie fertig. Ciel hatte offensichtlich Spaß dabei gehabt. Auch wenn er keine Ahnung hatte, um was es eigentlich ging, aber das war auch nicht wichtig.
 

Bis zum Abendessen spielte Sebastian mit dem Jungen. Danach ließ er ihn einen Kinderfilm schauen, während er die Küche wieder aufräumte. Er selbst hatte den Film nie gesehen, es ging wohl um Fische, die einen verloren gegangenen Freund suchten.

Als Sebastian das Wohnzimmer 20 Minuten später betrat blieb er kurz erschrocken stehen. Ciel saß auf dem großen Sofa, presste ein Kissen gegen seine Brust und weinte bittere Tränen. Mit großen Schritten durchquerte Sebastian den Raum und ließ sich neben dem weinenden Etwas nieder. „Hey … was ist denn los?“, fragte er besorgt. Statt einer Antwort warf Ciel sich plötzlich in seine Arme und weinte noch herzzerreißender. Er streichelte ihm sanft über den Rücken und murmelte ihm beruhigende Worte zu, in der Hoffnung, er würde sich beruhigen.

Nach einiger Zeit brachte Ciel unter viel schluchzen „Mutter … tot …“, heraus. Verwundert runzelte Sebastian die Stirn. „Seine … seine Mutter …“, presste der Junge leise heraus und wurde von neuen Schluchzern geschüttelt, „ist tot.“ Der Größere warf einen Blick auf den Fernseher, als ihm dämmerte, was los war. Die Mutter der Hauptfigur war wohl gestorben. Das erinnerte Ciel höchst wahrscheinlich daran, dass seine Eltern auch tot waren. Laut Scotland Yard hatte er sie gefunden, aber es war nicht bewiesen.
 

Lange saßen sie einfach nur so da und Ciel weinte sich alles von der Seele. Sebastian wunderte sich, wie ein so kleiner Mensch so viele Tränen produzieren konnte. Gleichzeitig zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Der Junge tat ihm so leid und er konnte nichts tun, außer für ihn da zu sein.

Irgendwann beruhigte Ciel sich wieder. Sebastians Shirt hatte einen großen, nassen Fleck, doch das störte ihn nicht. Sanft wischte er die Tränenspuren aus dem kindlichen Gesicht und strich ihm ein paar aschblaue Haarsträhnen hinters Ohr. Sein Blick flackerte kurz zu dem Fernseher, der Film war wohl fast vorbei. „Schau mal, es gibt ein Happy End“, sagte Sebastian und versuchte zu lächeln, auch wenn ihm gar nicht danach war. Schniefend wandte Ciel seinen Kopf in die Richtung und seine Mundwinkel zuckten kurz. Immerhin hatte es wohl geholfen.

Sebastian reichte ihm ein Glas Wasser, das auf dem Wohnzimmertisch stand. Ihm war wichtig, dass der Junge auch genug trank. „Hier, trink was. Du bist bestimmt durstig.“ Ciel nahm das Glas in beide Hände und leerte es zügig. Weinen machte immer unglaublich durstig. Sebastian ließ ihn los, stand auf und holte Taschentücher aus einem Schrank. Er reichte Ciel eines, der sich auch sofort die verstopfte Nase putzte. Anschließend ließ er sich erschöpft gegen den Größeren sinken, der sich wieder neben ihn gesetzt hatte, und schloss müde die Augen. Durch das sanfte Streicheln über seinen Rücken döste er langsam ein.



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