Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 22: Schlaflose Nächte -----------------------------    Schlaflose Nächte       Selina besuchte eine der beiden Kampfkünstlerklassen im zweiten Jahr der Coeur-Academy. Sie hatte dunkle Haare, dunkelblaue Augen, war durchschnittlich hübsch und recht schlank. Eigentlich war sie nicht gerade talentiert im Kämpfen, aber im Fernkampf hatte sie inzwischen ihre Nische entdeckt. Von ihren Klassenkameraden wurde Selina sehr gemocht, aber leider war das nicht immer so gewesen… Seit einem dreiviertel Jahr hatte sie erst ihre Ruhe, um genau zu sein. Davor war sie das so ziemlich beliebteste Mobbingopfer ihres Jahrgangs gewesen. Eigentlich waren es auch nur drei Mädchen, die an Selina einen Narren gefressen hatten, doch wie das mit dem Gruppenzwang so ist, hatte sie das Gefühl, dass sich auf einmal die ganze Stufe gegen Selina verschworen hatte. Und das, obwohl sie eigentlich total freundlich war, keine voreiligen Schlüsse zog und immer hilfsbereit war. Jedenfalls sagten ihre Freunde so etwas, wer weiß, ob das nun wirklich stimmte… Aus leerem Gerede machte sie sich auch nichts, das war weniger ihr Problem bei den Mobbing-Attacken damals. Aber sie konnte es nicht ertragen, wenn über jemanden schlecht geredet wurde. So wie über ihren Kindergartenfreund Valentin Masiur. Sie war noch ganz klein gewesen und dennoch hatte dieser Junge es geschafft, sich so sehr in ihr Gedächtnis einzubrennen, dass sie nach wie vor gelegentlich an ihn denken musste. Damals lebten beide in Rolexa und waren nahezu unzertrennlich. Valentin war ein netter Junge und immer total lieb zu ihr gewesen. Aber leider galt er ansonsten als Unruhestifter und hatte häufig Ärger bekommen, weil er andere Kinder verprügelt hatte. Dabei waren es immer die anderen Kinder gewesen, die den Streit angefangen hatten… Er schien es damals wirklich schwer gehabt zu haben, bis auf Selina bei irgendjemandem Anschluss finden zu können. Vielleicht war auch das der Grund gewesen, weshalb er war immer etwas traurig gewirkt hatte? Selina wusste es nicht. Doch eines Tages kam er nicht mehr. Nie mehr hatte sie ihn zu Gesicht bekommen, diesen hübschen Jungen mit den hübschen grünen Augen. Dafür aber Lisa Rapuko, die Tochter des Bürgermeisters. Damals noch ein Jahr über Selina, hatte Lisa sie letztes Jahr, bei ihrer Aufnahme auf die Coeur-Academy wiedererkannt. Wir hatten uns eigentlich schon immer gehasst, sinnierte Selina. Lisa wusste natürlich über ihre und Valentins ‚Beziehung‘ Bescheid und nutzte Selinas Unwissenheit gnadenlos aus. So bekam Selina ständig von ihr zu hören, dass Valentin auf das FESJ geschickt wurde, in Wahrheit ein Monster und Mörder sei und so weiter und so fort. Natürlich hatte Selina ihr kein Wort geglaubt, doch sie hätte den Mund halten sollen. Lisa zu widersprechen war der größte Fehler, den Selina je gemacht hatte. Denn wer auch nur ein Wort gegen die Bürgermeistertochter sagte, war der Feind. Und Feinde mussten gedemütigt werden. Grausam und qualvoll. Doch selbst jetzt, wenn Selina auf ihre traurige Schulzeit zurückblickte, geprägt von fiesen Mobbingattacken und dem Auslachen Anderer, würde sie Lisa immer und immer wieder widersprechen. Valentin war keiner für das FESJ. Er war kein Mörder! Und erst recht kein Monster!!! Dennoch hatte sich Selina nicht getraut, zur Schulleitung oder Schülervertretung zu gehen. Lisa hatte ihr diesen Weg schön ‚schmackhaft‘ gemacht. Doch nachdem sie einem halben Jahr lang Lisas Grausamkeiten ausgesetzt war, sollte Selina endlich erlöst werden. Damals kniete sie noch bitter schluchzend vor der Goldkette ihrer verstorbenen Mutter, die Lisa und ihre Gruppe freudig auseinandergerissen hatten, als sie von einem Jungen angesprochen wurde. „Warum meldest du sie nicht?“ Verwundert hatte Selina den Kopf gehoben und schaute in das engelsgleiche Gesicht des Besitzers dieser ruhigen und zugleich kraftvollen Stimme. Benedict Ryū no chi ging in Selinas Klasse und war für die Mädchen der Traumtyp schlechthin. Dennoch wirkte er so furchteinflößend, dass niemand es wagen würde, ein Gespräch mit ihm anzufangen, in der Angst, er würde sie verschlingen oder was auch immer Grausames mit ihnen anstellen, das ihre Fantasie ihnen vorgaukelte. Aber er war halt auch ständig so allein, als würde er die Gesellschaft absichtlich meiden. Daher war Selina auch zu Recht verwundert, als er sie angesprochen hatte. Trotzdem hatte sie geantwortet: „Ich habe Angst, dass sie dann noch gemeiner werden…“ Benedict hob alle Einzelteile der Kette auf und fügte sie beeindruckend schnell wie ein Puzzle zusammen. Auf magische Weise war sie wieder ganz. Als er sie Selina gab, sagte er nur: „Das werden sie nicht.“ Er half ihr auf die Beine und begleitete sie sogar ins Büro der Schülervertretung. Es war so befreiend, endlich den Vertrauensschülern von allem berichten zu können und als diese Lisa schließlich zu sich riefen, fühlte sich Selina durch Benedicts Anwesenheit erstaunlich sicher, auch wenn sie nicht wusste weshalb. Doch Lisa rastete natürlich total aus. „Was soll der Scheiß, du Flittchen?!“, schrie sie und schlug zu. Selina, die damals im Nahkampf noch ein totaler Versager war, hob verängstigt die Arme vor das Gesicht und kniff die Augen zusammen, als sie bemerkte, dass der Schlag sie überhaupt nicht getroffen hatte. Genauer gesagt hatte Benedict Lisas Faust bereits abgefangen, ehe sie sich Selina auch nur um einen Millimeter hätte nähern können. Benedict sagte nichts, doch sein bedrohlicher Blick, der zur Hälfte durch die interessanten schneeblonden Haare verdeckt wurde, sprach Bände. Im Nachhinein musste Selina leicht amüsiert feststellen, dass Benedict sein Handeln damals höchstwahrscheinlich bereut hatte. Die Schülervertretung war so begeistert von seinem Eingreifen gewesen, dass er der diesjährige Schulsprecher werden musste. Der Direktor bezeichnete ihn seit jenem Tag als den eiskalten Engel, sodass Benedict kurz darauf von der ganzen Schule so genannt wurde, die Mädchen gingen ihm nur noch selten aus dem Weg, Lisa setzte allerlei Gerüchte über eine dramatische Beziehung in die Welt und wiederholte das Jahr angeblich nur wegen ihm. Als Selina Benedict gefragt hatte, warum er ihr geholfen hatte, meinte er nur: „Dir sollte es nicht so ergehen, wie einst mir.“ Zwar wurde Selina aus dieser Aussage nie schlau, aber was für einen Grund Benedict auch gehabt haben möge, er war ihr Held. Ob es ihm nun gefiel oder nicht. Doch nun war Selina besorgt um ihren Helden. Zwar sagte Benedict noch nicht einmal im Unterricht etwas, was auch gar nicht nötig war, denn auf dieser Schule legte man nur Wert auf das, das die Schüler auf Papier bringen konnten, doch er war trotzdem aufmerksam und schlau. So schlau, dass er sogar ein Stipendium besaß. Die ganze Klasse war erschrocken, als Benedict im Geschichtsunterricht fast eingenickt wäre, den ausgerechnet der Vampir Herr Norito hielt. Selbst der so ziemlich strengste Lehrer der Schule fand Benedict sympathisch, sodass er ein Auge zudrückte. Aber eben, im Damischunterricht, war er nun wirklich eingeschlafen. „Benedict Ryū no chi. Würden Sie gefälligst die Augen aufmachen und meinen Unterricht mitverfolgen, so wie Ihre Mitschüler.“, mahnte ihn die blonde Elfe Frida Flatterfroh mit scharfer Stimme. Schlaftrunken blinzelte Benedict mehrmals, bis er halbwegs wach war und bemerkte, in welcher Situation er sich befand. „Verzeihen Sie.“, murmelte er beängstigend matt. Auch Frau Flatterfroh schien nun besorgt. „Haben Sie schlecht geschlafen? Sind Sie krank?“, erkundigte sie sich, doch Benedict wandte lediglich den Blick ab. Keine Antwort. Er sah aber wirklich übermüdet aus. Die tiefen, dunklen Augenringe bildeten einen starken Kontrast zu seiner weißen Haut und den weißen Haaren. Frau Flatterfroh schüttelte den Kopf. „Benedict, Sie gehen jetzt unverzüglich auf Ihr Zimmer und hüten das Bett. Für den Rest des Tages sind Sie vom Unterricht befreit.“ Es war offensichtlich, dass Benedict von der Anweisung nicht begeistert war, dennoch erhob er sich ohne ein Wort des Einwandes. Frau Flatterfroh zeigte auf Selina. „Sie begleiten ihn.“ Sie tat wie geheißen. Auf dem Weg zum Jungenhaus musterte sie Benedict erneut. Er sah wirklich krank aus. „Soll ich vielleicht einen Sanitäter holen? Du bist doch mit diesem Indigoner aus dem ersten Jahr befreundet. Ich könnte ihm später in der Pause Bescheid sagen, falls du das möchtest.“ Benedict ließ Selina an der Eingangstreppe vor dem Jungenhaus zurück. „Handel, wie dir beliebt.“, antwortete er nur und ließ die Tür hinter sich in die Angeln fallen.   ~*~   Immerhin war ihr bester Freund ein Stipendiat und Musterschüler und konnte obendrauf auch noch gut erklären. Sonst wäre Laura beim Nachholen des Stoffes der letzten Tage erbärmlich gescheitert. Doch so hatte sie dank Carsten vier Tage in wenigen Stunden verstanden. Überrascht richtete sich Lauras Aufmerksamkeit auf ein Mädchen mit dunklen, gelockten Haaren, das direkt auf die Gruppe zukam. „Du bist doch Carsten, oder?“ „Ähm… Ja, wieso?“, fragte der Angesprochene. Laura bemerkte bewundernd, dass Carsten trotz der Distanz, die er vorerst bei jedem aufgrund seiner Schüchternheit hatte, noch total freundlich klang. Inzwischen fixierte auch die restliche Gruppe das Mädchen und Laura würde nur zu gerne wissen, was in den Köpfen einiger Spezialisten vor sich ging. Sie selbst hatte nicht den leisesten Schimmer, warum jemand aus einer höheren Stufe zu ihnen kam. Auch wenn das Mädchen Laura irgendwie bekannt vorkam… Wo hatte sie sie schon mal gesehen? „Könntest du bitte zu dem Schulsprecher gehen und herausfinden, was mit ihm los ist? In letzter Zeit ist er andauernd müde, bis Frau Flatterfroh ihn heute sogar vom Unterricht befreit hat.“ „Was hat er denn?“, erkundigte sich Laura besorgt. Und warum erfahren wir das erst jetzt?! Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Du bist doch seine Freundin, eigentlich solltest du das am ehesten wissen.“ Laura fiel vor Schreck fast vom Stuhl. „Ich bin nicht seine Freundin!“ Verärgert und verlegen zugleich funkelte sie Lissi an. „Tut mir leid Süße, so ein Gerücht hätte ich niemals in die Welt gesetzt.“, trällerte diese amüsiert. „Um ehrlich zu sein denkt vermutlich jeder Außenstehende, dass ihr ein Paar seid.“, vermutete Susanne. Laura konnte nur noch „Schön wär’s.“ vor sich hin murmeln. Als würden wir wie ein Paar sein… Das gibt keinen Sinn. Immerhin ging Benni Laura mal wieder erfolgreich aus dem Weg. Wäre sie doch nur nicht so talentlos im Umgang mit Schusswaffen! Oder überhaupt irgendwelchen Waffen! Das Mädchen lächelte gutmütig. „Er ist halt kompliziert.“ „Das musst du mir nicht sagen!“, fuhr Laura sie gereizt an und hätte sie vermutlich angesprungen, hätte Carsten sie nicht an der Schulter gepackt und zurück auf den Stuhl gedrückt. „Ich schau mal nach ihm.“, meinte er beschwichtigend und erhob sich. „Ist er auf seinem Zimmer?“ Das Mädchen nickte. „Jedenfalls sollte er dorthin.“ Nachdem Carsten seinen Platz zwischen Ariane und Laura verlassen hatte, verpasste diese Laura einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein. Verwirrt und verärgert funkelte Laura ihre Zimmerkameradin an. Und wozu sollte das nun gut sein? „Ach Moment, du bist doch das Mädchen neulich! Vom Bus! Oder?“, ging Laura ein Licht auf. Das Mädchen lächelte sie an. „Selina. Freut mich.“ Etwas peinlich berührt kratzte sich Laura am Hinterkopf. „Ich bin Laura… ähähä… Tut mir leid wegen eben…“ Selina lachte auf. „Kein Problem. Aber siehst du, der Bus hat dich doch am Leben gelassen.“ Mit diesen Worten machte auch sie sich verstohlen grinsend von dannen. „Okay, was sollte das eben?!“, fauchte Laura Ariane an. „Also echt Laura, dass du so zickig reagierst passt gar nicht zu dir.“, tadelte Ariane. „Genauso sinnfrei ist es, wenn du dich erst entschuldigst, nachdem du sie wiedererkannt hattest… Auch wenn ich gerne wissen würde, was sie mit dem Bus gemeint hat.“, rätselte Öznur. „Ist nicht so wichtig… Und woher weiß sie dann früher als wir von Bennis Lage?! Obwohl wir mit Benni befreundet sind?!?“, fragte Laura verzweifelt und besorgt zugleich. „So mehr oder weniger befreundet.“, ergänzte Öznur. „Vielleicht gehen sie ja in dieselbe Klasse? Ich will lieber wissen, was du angestellt hast! Mit ‘nem Bus!“ Schnaubend wandte sich Laura ab. „Geht dich nix an…“ „Wohl eher: Es ist zu peinlich, um es zu erzählen.“, bemerkte Anne grinsend. „Ach, lasst mich doch einfach in Ruhe!“, schnauzte Laura, stand auf und stapfte die Treppen runter nach draußen. Bedrückt stellte sie fest, dass sie sich in letzter Zeit wirklich bescheuert benahm. Aber es gab zu viele Dinge, die sie gerade fertigmachten. Als wäre der geheimnisvolle Gegner und ihr wahrscheinlicher Tod nicht schon schlimm genug… Jetzt ging es auch noch Benni schlecht! Traurig und enttäuscht warf Laura einen Blich auf das Jungenhaus, ging allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Warum sagt Benni mir nie etwas?   ~*~   Carsten ging die mittlere Etage des Jungenhauses entlang, bis er bei der Schülervertretung angelangt war. Dafür, dass Benni eigentlich gänzlich anspruchslos war, lebte er hier sehr privilegiert. Carsten hätte eher gehofft, dass Benni einen aufgeweckten, lustigen Zimmergenossen hätte, doch egal. Eigentlich war es sogar besser, wenn er alleine lebte, denn er hatte einen ausgesprochen leichten Schlaf. Daher wusste Carsten auch, dass er wach war, als er in das abgedunkelte Einzelzimmer trat. „Hey, Benni.“ „Was?“, kam Bennis typische Gegenfrage. Carsten wechselte zu Indigonisch, der Sprache, mit der er großgezogen wurde. „Alles in Ordnung?“ Benni richtete sich auf. „Nein.“, antwortete er in derselben Sprache. Carsten ließ sich auf dem schwach beleuchteten Sofa nieder und fuhr in seiner Muttersprache fort. „Na schön, was ist los? Wenn du schon im Unterricht einschläfst, kann das nichts Gutes bedeuten.“ Es entstand eine lang gedehnte Pause, die Carsten geduldig ausnutzte, um Benni in dem spärlichen Licht eindringlicher zu beobachten. Er sah wirklich übel aus, die Sorge aller war durchaus berechtigt. Benni zog die Beine an, sein leerer Blick ruhte auf der weißen Bettdecke. Immer noch keine Antwort. Carsten verließ das Sofa wieder und ging rüber zum Bett. Er verglich die Temperatur seiner Stirn mit der von Benni. „Fieber hast du nicht… Und ich glaube nicht, dass dein Schlaf jemals von den Mondphasen beeinflusst wurde.“ Carstens Blick schweifte im Zimmer umher und kam bei dem Bücherregal zum Stehen. „Stress wegen Hausaufgaben oder Prüfungen hast du sowieso nie… Noten bedeuten dir dafür zu wenig. Daran, dass du zu weit entfernt von freier Natur bist, kann es bei der Lage dieser Schule auch nicht liegen…“, überlegte Carsten laut, immer noch auf Indigonisch. Schließlich seufzte er. „Okay, ich gebe es auf.“ Sein prüfender Blick ruhte wieder auf Benni. Ihm entging die Anspannung in der Stimme seines besten Freundes nicht, als dieser das Ratespiel endlich auflöste. „Ich habe seit Nächten den identischen Traum…“ Carsten wusste genauso gut wie jeder andere, dass das ein schlechtes Omen war. Na gut, bei einem guten Traum eher weniger. Aber ein Traum, der seinem besten Freund, dem stärksten Kämpfer Damons, derart zusetzte, war sicherlich alles andere als gut. Carsten setzte sich neben Benni aufs Bett und spürte trotz der gewissen Entfernung eine Eiseskälte, die von Bennis Körper ausging. „Was hast du geträumt?“ Zu seinem Glück war Benni durch jenen Traum müde genug, um Carsten endlich mal eine ausführliche Antwort zu geben. Immerhin ein Vorteil an seiner Lage. „Je ne sais pas… Dennoch weiß ich, dass es sich andauernd um denselben Traum handelt. Als sei es ein Déjà-vu… Mein Verstand weiß nie, was als nächstes geschehen wird, jedoch mein Herz.“ „Kannst du dich noch an irgendetwas aus dem Traum erinnern?“ Bennis überraschend kurze Aussage war alles andere als ermutigend. „Feuer und Zerstörung.“   ~*~   Es war eine Zumutung, zuhören zu müssen, während die schweren Augenlider dem Zufallen nahe waren. Der Wunsch, einfach aufzustehen, den Klassenraum zu verlassen und sich im Stall in das gefügige Stroh zu legen, war nur allzu immens. Doch Benni war sich durchaus im Klaren, dass er dazu verpflichtet war, seine guten Noten zu halten, um sein Stipendium zu bewahren. Des Weiteren hatte Benni nicht die Laune, all den Stoff aufarbeiten zu müssen, dessen Versäumnis lediglich durch diesen verdammten Traum verursacht würde, wegen dem er jede Nacht hochschrak und sich an ausschließlich zwei Begriffe erinnern konnte. Benni hob seinen Blick und schaute in die warnenden Augen Herr Noritos. Da das Gelass für den Vampir abgedunkelt wurde, verleitete das selbstverständlich erst Recht zum Einschlafen. „Nun, dann wollen wir heute mit dem magischen Krieg beginnen.“, äußerte Herr Norito schließlich, nachdem er sich wieder dem gesamten Kurs zugewandt hatte. „Wie Sie alle hoffentlich wissen, ist das Ende des magischen Krieges der Beginn unserer Zeitrechnung. Das bedeutet, der Krieg gehört seit bereits 179 Jahren der Vergangenheit an. Doch seine Auswirkungen sind auch heute noch zu spüren. Nun, da ich Ihnen das lehren muss, was in unseren Geschichtsbüchern steht, müssen wir kurz die ehemalige Herrscherfamilie wiederholen. Miss Müller?“ Selina erhob sich und begann zu sprechen. „Die Herrscherfamilie ‚Yoru‘ teilte sich mit den Dryaden unseren Kontinent. Sie lebten in friedlicher Koexistenz mit- und nebeneinander. Über den Ursprung der Kaiserfamilie ist nicht allzu viel bekannt. Ihr Urahn, ein Vampir, war der erste und zugleich längste Führer von Rutoké, welches heute als das zerstörte Gebiet bekannt ist. Ein Name wurde nie überliefert, da er nur ‚Herrscher der Nacht‘ genannt wurde, woraus sich der Name Yoru aus dem Japanischen herleiten lässt.“ „Sehr schön, Miss Müller, Sie können sich setzen.“ Selina befolgte die Anweisung. „Jedoch ist zu ergänzen, dass Rutoké nicht nur aus dem heutzutage genannten zerstörten Gebiet bestand. Auch Damon gehörte einst zu Rutoké. Doch dies war der einzige Bereich, der nach dem Krieg wiederaufgebaut wurde. Zur Zeit des Herrschers der Nacht entstanden ebenso die zwölf Dekrete des Yoru-Clans, die den Grundstein einer strengen Etikette bildeten. Benedict, würden Sie uns diese bitte in korrekter Reihenfolge auflisten?“ Widerwillig stand Benni auf, die Blicke, die ihm seine Mitschüler zuwarfen, missachtend. Durch die Vorliebe des Vampirs, Benni nicht minder als einmal in der Woche nach diesem Regelwerk abzufragen, führte dazu, dass Benni es bereits im Schlaf beherrschte. Eine subsidiäre Eigenschaft, wie er nun feststellte. Ohne zu überlegen listete er auf: „Das Volk ist dem Herrscher zu ewiger Treue und unwiderruflichem Gehorsam verpflichtet. Es hat sich entsprechend eines Wesens mit Verstand zu verhalten. Unstimmigkeiten zwischen dem Herrscher und dem Volk werden friedvoll behoben. Es ist der Herrscherfamilie untersagt, mehr als ein Kind zu zeugen. Der Mann hat das Oberhaupt der Familie zu sein. Er hat seiner Gemahlin Liebe, Treue und Ehrlichkeit entgegenzubringen. Er hat seinem Reich mit Herz und Verstand zu dienen. Er hat seinem Sohn den rechten Weg zum Herrscher zu weisen. Die Frau hat für das seelische Wohl der Familie zu sorgen. Sie hat ihrem Gemahl zu gehorchen und ihm zu jeder Zeit eine hilfreiche Stütze zu sein. Sie hat ihrem Reich mit Wohlwollen zu dienen. Sie hat ihrem Sohn ein liebevolles Leben zu bieten und ihn zu einem gütigen und gerechten Herrscher zu erziehen.“ Auf Herr Noritos Nicken hin nahm Benni wieder Platz, als die Hand einer Mitschülerin nach oben schoss. „Stimmt es wirklich, dass das zweite Kind der Yoru-Familie, falls es mal eins gab, umgebracht werden musste? Und wie war das, wenn ein Mädchen geboren wurde? In den Dekreten ist nur von dem ‚Sohn‘ die Rede.“ Herr Norito nickte. „In der Tat würde ein Regelverstoß mit dem Leben des Kindes bestraft werden und auf deine zweite Frage: Überraschender Weise wurde nie ein Mädchen geboren, daher weiß niemand, welche Folgen dies hätte. Wobei ich vermute, sie wären nicht so gewalttätig, wie jener Regelverstoß.“ „Wie ging das eigentlich mit dem Regierungswechsel vor sich?“, erkundigte sich ein Mitschüler auf einem Platz hinter Benni. „Das haben wir letztens erst durchgesprochen.“, herrschte Herr Norito ihn an, woraufhin der Junge kleinlaut erwiderte: „Bitte entschuldigt, ich war letzte Woche krank…“ „Wenn das Oberhaupt der Yorus, also der Kaiser, gestorben ist, wird das dem Zera, also dem Kaiser der Dryaden gemeldet. Der Sohn des ehemaligen Kaisers musste folglich zu dem Schloss des Zera pilgern und wurde dann dort von ihm zum nächsten Kaiser gekrönt. Bei den Dryaden lief das genauso ab, so stand kein Kaiser über dem anderen.“, erklärte sein Sitznachbar. „Hättest du dich gemeldet, wäre es vortrefflich gewesen.“, kommentierte Herr Norito trocken. Benni schloss die ihm schwer wirkenden Augen, als die Pausenklingel ertönte und die Schüler wie Fische aus dem Klassenraum strömten. Als nur noch Herr Norito und er im Raum waren fragte Benni letztendlich: „Stimmt es, dass die ‚Unfähigkeit‘ des Yoru-Clans den magischen Krieg evoziert hat?“ „Zweifeln Sie an der Historizität der uns überlieferten Quellen?“ Benni schüttelte den Kopf. „Also sind Sie der Annahme, dass der Krieg von jemandem angezettelt wurde, von dem die Quellen nichts wussten.“, vermutete Herr Norito. „Ihre Aussage war sehr spekulativ.“, meinte Benni nur, sein Lehrer nickte. „Gut beobachtet, ich bin erfreut, dass Sie trotz Ihrer besorgniserregenden Müdigkeit so gut zuhören. Zu der Zeit, als sich Kampfkünstler und Zauberer gegeneinander wandten, lebten nahezu alle Vampire noch in der Unterwelt, doch uns sind die Schlichtungsversuche des Yoru-Clans nicht entgangen. Ich vermute, der einzige Grund, warum sich Historiker den Krieg nicht erklären können liegt darin, dass sie nichts von dem Verursacher dieses Chaos wissen, weshalb sie die Unfähigkeit der Yorus zu dem Auslöser machten. Bedauernswerterweise gibt es darüber allerdings nur Legenden.“ Legenden… Benni erhob sich. „Habt Dank.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)