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Demon Girls & Boys

von

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Zwischen Liebe und Verdammnis

Zwischen Liebe und Verdammnis

 

 

 

Er rannte einen Weg entlang. Er rannte und rannte, ohne sich wirklich von der Stelle zu bewegen. Er konnte nicht fliehen. Vor was auch immer er davon rannte, er konnte dem nicht entkommen.

Seine Beine gaben unter ihm nach, schwer atmend stützte er sich auf den Händen ab. Alles brannte. Er brannte. Sein Körper schmolz dahin.

Übrig blieb die Gestalt eines kleinen Jungen. Ein Rotzlöffel, verheult und verschnupft, zusammengekauert hinter verschlossener Tür.

Von außen hörte er Gebrüll, Geschrei, so laut als befände es sich bei ihm im Zimmer. Gepolter. Noch mehr Gebrüll und Geschrei.

Valentin hielt sich die Ohren zu. Er wollte das nicht mehr, er wollte das nicht mehr hören müssen! Rotbraune verstrubbelte Haare klebten an der verschwitzten Stirn, eine Stelle blutete ein bisschen. Da hatte die Gürtelschnalle ihn erwischt. Tränen rannen über die sommersprossigen Wangen und die Nase, und tropften schließlich auf den Boden.

Es hörte immer noch nicht auf, es wurde immer lauter.

Lass sie in Ruhe!

Ein Beben setzte ein, erst schwach, dann immer stärker und stärker. Sachen kippten um, eine von seinen Superheldenfiguren fiel aus dem Regal.

War es inzwischen still? Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts, bis plötzlich…

Ein Rütteln. Jemand versuchte die Tür zu öffnen. Brüllte, schlug dagegen, brüllte nochmal.

Valentin blieb still, bewegungslos vor Angst. Atmete nicht.

Vielleicht merkt er ja gar nicht, dass ich da bin…

Und dann, eine raue Stimme. Leise, bedrohlich. „Ich weiß, was du bist.“

Sein Herz setzte aus. Grüne Augen weit aufgerissen, überwältigt vom Schock.

„Du hast unserer Familie lange genug Leid zugefügt. Du hast ihr genug geschadet! Aber nicht mehr. Du wirst uns kein Unglück mehr bringen.“

Schritte entfernten sich, eine Tür wurde zugeschlagen.

Finsternis.

Doch Valentin saß weiterhin da, unbeweglich, gegen eine steinerne Wand gelehnt. Sein Atem ging schnell, war panisch.

Er hasste die Dunkelheit. Er hatte Angst vor ihr. Er spürte, wie seine Lunge immer mehr schmerzte. Wie sie sich wie ein Luftballon ausdehnte, kurz vorm Zerplatzen.

Dann öffnete sich eine Tür. Erst drang nur ein schmaler Lichtstrahl ins Zimmer, doch bald wurde er immer größer.

Valentin klammerte sich an dem kalten Boden fest, seine Fingernägel waren schon lange abgescheuert, die Fingerkuppen wund und blutig.

Die Tür war ganz offen, tauchte die schwarze Silhouette in ein unheimliches Licht. Groß, mächtig, bedrohlich. Sie kam auf ihn zu, griff nach ihm.

Valentin schrie und weinte. Er versuchte sich zu befreien, aber ohne Erfolg. Er konnte nur weiter schreien.

 

„Jack, es ist alles gut! Du musst aufwachen!“

 

Nach Luft ringend riss Jack die Augen auf. Sein Herz pochte so stark, als wäre es kurz davor seine Brust zu zerreißen. Das Licht blendete ihn. Er wollte den linken Arm heben, um sich davor zu schützen, doch ein stechender Schmerz fuhr durch seine Schulter und ließ ihn zusammenzucken. Jack biss die Zähne zusammen und versuchte nach der Verletzung zu tasten, hatte aber kaum die Kraft sich zu bewegen.

„Keine Sorge, die Kugel ist draußen.“, meinte die Stimme, die ihn zuvor aus dem Traum gerissen hatte.

Er wandte sich dem Besitzer dieser Stimme zu, doch das Licht blendete immer noch. Er sah nur undeutliche Schemen einer Person, sowohl mit den Augen als auch mit der Erde.

Jack wollte etwas sagen, wusste aber nicht was.

Stattdessen meinte Carsten: „Die Schienen von deiner Erd-Energie sind richtig gut. Aber du solltest es trotzdem nicht herausfordern und lieber noch etwas liegen bleiben.“

Allmählich schärfte sich Jacks Sicht und er konnte die kinnlangen schwarzen Haare besser von dem Gesicht mit den lila Augen unterscheiden. Der Besitzer dieser magischen Augen warf ihm ein freundliches, mitfühlendes Lächeln zu.

„Ach Schade… Dabei ist mir gerade so nach einem kleinen Tänzchen…“, kommentierte Jack matt.

Belustigt schüttelte Carsten den Kopf und wandte sich irgendwas anderem zu, was Jack ohnehin nicht erkennen konnte.

Die Erinnerungen kehrten schneller zurück als ihm lieb war. Und so gerne Jack es ihm auch verschweigen würde…

„Hör mal… Wegen Benni…“, brachte er mühsam mit rauer Stimme hervor.

Er hörte ein Klappern, als Carsten etwas aus den Fingern rutschte und auf den Boden fiel. Seine Stimme klang beängstigend schwach. „Ich… Ich weiß… Wolf hat es schon…“

Schweigend schaute Jack zur verschwommenen Decke hoch, die immer noch ein bisschen schwankte. Stille breitete sich aus, nur Carsten werkelte weiterhin mit irgendetwas herum. Es schien nichts Wichtiges. Eher etwas, womit er sich einfach beschäftigen konnte. Womit er sich ablenken konnte.

Schließlich ein Klopfen. Die Tür wurde geöffnet und eine liebe Stimme, die wohl Laura gehören musste, fragte: „Hey Carsten, wir wollten wissen, ob du heute Abend schon wieder hier in der Kantine essen willst.“

„Ähm ja, hatte ich vor.“

Laura seufzte und klang leicht enttäuscht. „Okay… Dann… bis morgen.“

Ohne ein weiteres Wort schloss die Tür sich wieder.

Nach einer Weile meinte Jack: „Hey, komm… Tu ihr den Gefallen.“ Schwach lachte er auf. „Ich werd schon nicht davonrennen.“

Carsten zögerte. „Jack, du… Du hast fast drei Tage durchgeschlafen und bist immer noch ziemlich geschwächt…“

Allmählich gab Jack dem erdrückenden Gefühl der Erschöpfung nach und schloss die Augen wieder. „Umso mehr ein Grund…“

Ob Carsten noch etwas dazu sagte, bekam er gar nicht mehr mit. Die Folgen vom Angriff des Werwolfs waren immer noch deutlich spürbar, genauso wie die gebrochenen Knochen und die ganzen kleineren Wehwehchen. Doch der höllische Schmerz in seiner Schulter stellte konsequent alles in den Schatten.

Dieses vertraute Gefühl war seltsam, beinahe unheimlich. Doch so hatte er schon immer am besten einschlafen können. Geplagt von Schmerzen, denen sein Körper irgendwann nicht mehr standhalten konnte. Es war nicht schön, doch so vergaß er zumindest die Angst vor den Albträumen…

 

Es war still. Zu still.

Auch wenn Jack die panische Angst vor der Dunkelheit inzwischen überwunden hatte, war ihm diese Ruhe nicht geheuer. Es gab immer unbekannte Gefahren, die in der Finsternis lauern konnten.

Unbehagen breitete sich in Jacks Brust aus. Er hasste es, nicht genau zu wissen was in seiner Umgebung vor sich ging. Doch zumindest konnte er sich inzwischen diesbezüglich Abhilfe schaffen.

Während Jack zur schwarzen Decke hoch schaute, konzentrierte er sich auf seine Tastsinnfähigkeiten. Das Krankenhaus lag ruhig da, fast so als würde es selbst schlafen. Das Zimmer war ansonsten leer, Carsten war vermutlich wirklich zum Abendessen nach Hause gegangen. Zum Glück. Er versuchte viel zu häufig alleine mit dieser ganzen Belastung fertig zu werden. Falls er nicht direkt schon wieder am Verdrängen war.

Irgendwann nahm Jack Schritte wahr. Sie waren leise und doch bestimmt. Er schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Carsten war es nicht. Die Person war weiblich, mit normaler Statur. Vielleicht eine Krankenschwester, die Nachtschicht hatte? Zumindest trug sie ein kleines Metallkästchen mit sich.

Die Schritte stoppten vor seiner Zimmertür. Interessant.

Langsam und leise wurde die Türklinke heruntergedrückt und vorsichtig die Tür geöffnet.

Früher wäre Jack spätestens jetzt in Panik geraten. Früher, als er noch nicht diese Fähigkeiten gehabt hatte. Als er jeder Unwissenheit, jeden grausigen Vorstellungen und Erwartungen hilflos ausgeliefert gewesen war.

Doch jetzt konnten weder Fantasie noch grausame Erfahrungen seine Sinne mehr benebeln. Denn er wusste es genau. Er wusste genau, was Sache war.

Jack blieb weiterhin ruhig, während die Person in das Zimmer schlich und lautlos das kleine Kästchen auf dem Tisch in der Nähe absetzte. Es waren nur wenige geschickte Handgriffe, bis sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatte und auf leisen Sohlen zum Bett kam.

Zu blöd, dass es nicht Jacks Ohren waren, die sie hätte täuschen müssen.

Einen Moment lang zögerte Jack. Er hatte schon häufig mit dem Gedanken gespielt, wie einfach es wäre. Wie einfach er den ganzen Scheiß um sich herum vergessen könnte.

Doch wie sonst auch setzte sich der Überlebensinstinkt durch.

Eine Steinwand schoss aus der Erde. Sie traf das Handgelenk der Frau, sodass der kleine Gegenstand davon flog, kaum hörbar auf dem Boden aufschlug und unter einen Schrank rollte, wo er schließlich zum Stillstand kam.

„Du bist wach.“, stellte die Frau fest.

„Hast du ernsthaft geglaubt ich könnte so ruhig und friedlich schlafen?“, konterte Jack. „Und? Hat Mars nun dich geschickt, da er es selbst nicht geschafft hatte mich zu töten?“

Sie schnaubte. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Ähm, ich schon. Immerhin ist es mein Leben, um das es da geht.“

Jack schaute weiterhin zur Decke hinauf, doch er merkte wie seine Gesprächspartnerin die Hände zu Fäusten ballte. Zorn lag in ihrer Stimme als sie fragte: „Wie kannst du es wagen… Wie kannst du es wagen überhaupt noch hier zu sein?!“

„Hey, sei ruhig. Das hier ist ein Krankenhaus.“

„Du verfluchtes-“ Sie wollte auf ihn zustürmen, doch ehe es so weit kam sperrte Jack sie in einem Erdgefängnis ein, mit nur einem freien Spalt für Frischluft.

Sie hämmerte gegen die Wände, doch Jack war nicht so blöd ein Gefängnis zu erstellen, welches eine Kampfkünstlerin würde zerstören können, um sich genau diese Kampfkünstlerin vom Leib zu halten.

„Du verdammter Hurensohn, lass mich hier raus!“, schrie sie.

„Wow, wir werden ja direkt persönlich.“ Jack spielte mit dem Gedanken auch das Luftloch zu schließen, damit das Gezeter zumindest ein bisschen leiser wäre.

Die Beleidigungen und Beschimpfungen gingen noch eine ganze Weile weiter und Jack hörte schon lange nicht mehr zu. Dafür kamen nun auch noch Kopfschmerzen hinzu. Als ginge es ihm nicht schon beschissen genug.

Er stöhnte auf. „Ey, geht’s auch ein bisschen leiser? Oder soll ich die Bullen wegen Ruhestörung rufen?“

„Derjenige der hinter Schloss und Riegel gehört bist du! Du verdammter Drecksack hast meinen Bruder ermordet!“

Jack zuckte mit den Schultern, merkte aber zu spät, dass das ja auch scheiße weh tat. „Kann sein.“, meinte er nur. „Mars hat mir viele Aufträge gegeben. Gut möglich, dass dein Bruderherz da auch dabei war.“ Hä? Moment mal… „Sag mal… warum arbeitest du überhaupt für ihn, wenn er deinen Bruder auf seiner Abschussliste hatte?“

„Das war nicht Mars, du verdammtes Arschloch! Du hast ihn ermordet! Du, der Besitzer des Orangenen Skorpions!“

Haaaaaaaalt mal. Das konnte nicht sein. „Der ehemalige Häuptling hatte eine Schwester?! Dich? Weiß Carsten, dass du seine Tante bist?! Seid ihr überhaupt blutsverwandt? Immerhin kommst du doch aus-“

„Ich bin nicht die Schwester von diesem Kerl, du Vollidiot! Das war vor sechs Jahren! Vor sechs Jahren hattest du meinen Bruder umgebracht! Wilhelm Masiur!!!“

Alle Farbe wich aus Jacks Gesicht. Einen Namen, den er so lange schon nicht mehr gehört hatte. Den er nie wieder hatte hören wollen. Wilhelm Masiur… „… Meinen… Vater?“

So langsam dämmerte es Jack. Die dunklen Haare, die hellblauen Augen… Sie sahen sich ansonsten zwar kaum ähnlich, aber wenn man es wusste…

Übelkeit stieg in Jack hoch als Erinnerungen über ihn herfielen. Dieser Mann… Dieses-

„Monster! Du Monster hast ihn umgebracht!!!“, schrie sie unter Tränen und schlug erneut gegen das Steingefängnis.

„Er war das Monster!“ Jacks Geduldsfaden riss. „Er hat-“

„Du hast ihn ermordet! Ihn und diese Ausgeburt von Frau, die es auch noch wagen konnte so eine Kreatur wie dich in die Welt zu setzen!!!“

Jack warf die Decke zurück, stand auf und schlug gegen die steinerne Wand. Ein Beben fuhr durch den Raum. „Halt die Fresse!!!“

Er spürte das Brennen in seinen immer noch gebrochenen Beinen, doch das war ihm gleich. Diese verfluchte Frau, wie konnte sie es wagen…

„Weißt du, was die Medien damals berichtet haben?! Blutbad in Rolexa! Familie zu Schaschlik-Spießen verarbeitet! Der Orangene Skorpion ist zurück!“

„Sei still!!!“ Tränen, kochend heiß, rannen über Jacks Gesicht. Er kannte die ganzen Artikel, jeden einzelnen davon und noch viele mehr. Und immer war es der Orangene Skorpion gewesen. Immer hatte dessen Dämonenbesitzer die ganze Familie umgebracht. Immer!

Sie lachte hysterisch. „Ich hatte mir Rache geschworen! Grausame Rache! Deshalb bin ich zu Mars. Und weißt du, wen ich dort getroffen hatte?! Die Missgeburt persönlich! Genau der, nachdem ich gesucht hatte! Und trotzdem waren mir die Hände gebunden! All die Zeit!!! Aber jetzt… Jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich-“

Jack nahm all das gar nicht wahr. Er sackte auf den Boden. Genauso wie damals. Das Zittern seines Körpers glich einem Erdbeben. Es war ein Erdbeben. Gläser klirrten, eine angebrochene Kekspackung stürzte vom Tisch, Krümel verteilten sich auf den Fliesen. Er meinte vor seinen Augen eine Blutlache zu sehen. So viel Blut, alles bestand aus Blut.

Übelkeit. Keine Luft. Selbstvorwürfe. Selbsthass. Und ein tosender Schmerz.

Warum hast du nichts gemacht?! Warum konntest du sie nicht retten?! Du warst es! Es war alles deine schuld! Wenn du nicht wärst, wäre sie noch am Leben! Wegen dir-

„Ich hab sie nicht getötet!!!“, schrie er verzweifelt.

Plötzlich ging das Licht an. „Was ist denn hier los?!?“

Entfernt nahm Jack wahr, wie Carsten das Zimmer betrat und kurz darauf auch schon neben ihm kniete. „Jack, was ist passiert?!“

„Ich war das nicht…“, versuchte Jack sich zu verteidigen, immer noch gefangen in der Vergangenheit.

„Jack!“ Carsten hielt ihn an den Schultern, berührte dabei die Stelle mit der Schusswunde. Der Schmerz brachte ihn allmählich in die Gegenwart zurück.

Jack atmete schwer, immer noch nicht in der Lage seine aufgebrachten Emotionen unter Kontrolle zu bringen.

„Ach du Schande, was geht denn hier ab?!“, fragte Öznur schockiert.

Anscheinend waren auch die anderen gekommen. „Was… was macht ihr hier?“

„Ich habe sie angerufen.“, hörte er eine unbekannte Frauenstimme, vermutlich eine Ärztin, die hier arbeitete. „Eigentlich wollte ich direkt die Polizei rufen, doch als ich erkannte aus welchem Zimmer es kommt, habe ich lieber Carsten und die Chefin informiert.“

Auch Carstens Stiefmutter schien anwesend. „Vielen Dank, Lakota.“

Derweil war Susanne zu dem großen Steinklotz gegangen, um zu schauen, wer der Verantwortliche dieses ganzen Lärms war und wen Jack da eigentlich eingesperrt hatte.

Sie staunte nicht schlecht. „F-Frau Reklöv?“

„WAS?!“ Der Schock der anderen Mädchen war nicht zu überhören.

„Jack, was soll das?! Lass sie raus! Das ist unsere Chemielehrerin!!!“, rief Öznur aufgebracht.

Obwohl Jack sich inzwischen relativ beruhigt hatte, zitterten seine Hände immer noch wie Espenlaub. Er bekam die Aufforderung zwar mit, leistete ihr aber trotzdem keine Folge. Niemals würde er diese Frau rauslassen.

„Verdammt, lass sie raus, du Vollidiot.“, zischte Anne.

Keine Reaktion.

Janine sagte irgendetwas auf Russisch, was entweder nach einem Fluch oder einer Beleidigung klang. „Frau Reklöv, ziehen Sie bitte den Kopf ein.“

Als sich Janine sicher war ihre Lehrerin nicht zu verletzen, zerschnitt sie die obere Hälfte des Brockens mit einer gelb schimmernden, gewaltigen Magiesichel.

Susanne half der Frau fürsorglich dabei, über die untere Hälfte zu klettern. „Geht es Ihnen gut? Hat er Sie verletzt?“

Natürlich war Jack der Böse. Wie immer. Doch es war ihm egal. Er war es gewohnt.

… Das redete er sich zumindest ein.

Frau Reklöv druckste benommen irgendeinen Scheiß, den die Mädchen ihr natürlich direkt abkauften. Die meisten zumindest.

Lissis Stimme war schon fast gruselig, als sie ihre Schwester aufforderte: „Susi, geh weg von ihr.“

„Was?“

„Sie ist nicht diejenige, um die du dich sorgen solltest.“

Spöttisch lachte Anne. „Wer dann? Jack?!“

Carsten half derweil Jack dabei auf die Beine zu kommen, so dass er sich auf die Bettkante setzen konnte. Das ganze war für seinen ohnehin schon angeschlagenen Zustand alles andere als hilfreich. Das gesamte Zimmer schaukelte und Jack spürte, wie einige der Verletzungen wieder zu bluten anfingen.

Plötzlich kam von weiter hinten im Raum Arianes Stimme. „Carsten, was ist das?“

„Was?“ Carsten richtete sich auf und ging zu ihr rüber.

Jack merkte, wie Ariane mit den Fingern unter dem Schrank tastete, wo zuvor…

„Autsch!“ Erschrocken zog Ariane ihre Hand zurück.

„Alles okay?!“, erkundigte sich Carsten direkt besorgt und betrachtete die Fingerkuppe, auf der ein kleiner roter Bluttropfen zu sehen war.

Zumindest, bis Ariane die Hand schüttelte. „Ja, ja, da war nur was Spitzes, was mich gepikst hat.“

Carsten betrachtete den Boden vor dem Schrank, wo sich einige Tropfen von der Flüssigkeit ausgebreitet hatten, die sich zuvor in der Spritze befunden hatte.

Er verstand direkt.

„Janine, komm schnell her.“

„W-was?“

„Sofort!“

Bei Carstens strengem Ton zuckte sie zwar zusammen, kam aber direkt zu ihm und Ariane rüber. Carsten hielt inzwischen wieder Arianes Hand mit der kleinen Verletzung, die viel zu klein für seine viel zu große Besorgnis schien. Zumindest für Ahnungslose.

„Du kannst sie ja inzwischen kontrollieren.“, meinte er nur und reichte Arianes Hand an Janine.

Ihrem Blick nach zu urteilen verstand nun auch sie was los war. Ein gelbes Leuchten erfüllte den Raum, was Jack direkt den Abend ihrer Flucht aus der Unterwelt ins Gedächtnis rief. Ein Schaudern durchfuhr seinen Körper, der sich noch zu gut an dieses plötzlich lähmende Gefühl und den buchstäblichen Herzstillstand erinnerte.

Die Verwirrung vom Rest hatte sich in keiner Weise verringert.

„Was ist denn los?“, fragte Laura besorgt.

Carsten richtete sich auf und ging zu Frau Reklöv rüber, wo er wortlos Susanne zur Seite schob, in Lissis Richtung, die ihre Schwester direkt außer Reichweite zog.

„Neulich bei diesem Sturm… Wie konnte es dazu kommen, dass die Elfen behauptet haben, alle seien in Sicherheit, obwohl Sie genau wussten, dass Lissi losgegangen war, um Susanne und Anne zu suchen?“

Frau Reklöv schien verwirrt. „Wie meinst du das, Carsten?“

Carsten biss die Zähne zusammen als müsste er seinen Ärger mit aller Kraft in Zaum halten. „Verkaufen Sie mich nicht für dumm. Sie müssten unten bei den anderen Schülern gewesen sein, wo sich Susanne und Anne ohne Lissi befunden hatten, die ihnen davor noch gesagt zu haben schien, dass sie die beiden holen geht. Und trotzdem hieß es, alle wären in Sicherheit gewesen.“

„Carsten, worauf willst du hinaus?“

„Sie waren immer sehr nachlässig, was Privatgespräche im Unterricht betrifft. Könnte es sein, dass auch zufälliger Weise mal einige wie Lissi und Ariane über einen geplanten Besuch in Indigo gesprochen haben?“

Jack wusste nicht ob es Einbildung war, doch das Lila seiner Augen schien bedrohlich zu glühen.

„Was haben Sie als Chemie-Lehrerin eigentlich sonst so in der Sammlung? Da waren zumindest sehr viele Gefahrenstoffe, die ich meinen Schülern eher weniger in die Finger drücken würde. Wobei ich vermute, dass Sie die ganz gefährlichen Mittel wie Eisblumenessenz eher in Ihren privaten Räumlichkeiten aufbewahren.“

Laura schreckte auf. „Eisblume?! Du meinst- du meinst das Gift?!“

Jack meinte sich zu erinnern. Stimmt, Benni war schon damals für Mars ein Dorn im Auge gewesen, da er ständig -wenn auch unbewusst- seine Pläne durchkreuzt hatte. Eines Tages, irgendwann im Februar, hatte Mars schließlich den Auftrag gegeben Benni zu-

Anne verschränkte die Arme vor der Brust. „Du meinst, dieser Spion an der Coeur-Academy, das ist Frau Reklöv?“

„Was?!?“ Schock war in die Gesichter von Susanne, Öznur und nahezu allen anderen der Mädchen geschrieben.

Sie hatten damals Benni vergiftet?!“, schrie Laura aufgebracht.

„Er hatte sie nie im Unterricht gehabt, weshalb er sie durch die Verkleidung nicht direkt hatte erkennen können. Aber Benni hatte schon damals gemeint, dass die eine Bedienstete ihm seltsam bekannt vorkäme.“, erklärte Carsten gezwungen ruhig.

„Sie haben…“ Tränen sammelten sich in Lauras Augen. Tränen vor Zorn.

Carsten wies auf die Stelle unterm Schrank, vor dem Ariane und Janine immer noch standen und nicht glauben konnten, was da gerade vor sich ging. „Mars scheint keine Gefangenen mehr machen zu wollen. Kann das sein?“

Frau Reklöv lachte los. Es war schrill, beinahe hysterisch, und ließ es in Jacks Ohren klingeln. „Wer weiß?! Vielleicht ist das so, vielleicht auch nicht? Vielleicht wollte ich auch einfach nur endlich Gerechtigkeit?!? Gib mir meinen Bruder zurück!!!“ Hätte Carsten sie nicht festgehalten, wäre sie direkt auf Jack losgestürmt. „Das ist alles deine schuld! Nur weil du da warst, hatten sie nicht genug Geld um über die Runden zu kommen!!! Nur wegen dir Drecksbalg lebten sie am Existenzminimum! Und kaum warst du weg, kaum wurde es endlich besser, da kommst du auf einmal zurück und bringst sie alle um!!!“

Jack wollte irgendwas erwidern. Sich verteidigen. Irgendwie! Er kniff die Augen zusammen.

Ich war das nicht!

Doch er wusste, er würde diese Worte niemals mit Überzeugung aussprechen können. Da er sie selbst gar nicht glaubte.

Es ist nicht meine Schuld…

Und warum war sie trotzdem nicht mehr da? Wenn er nicht aus der Anstalt rausgekommen wäre… Wenn er nicht zu ihr zurückgekehrt wäre… Wenn er nicht gewesen wäre…

… Dann würde seine Mutter jetzt noch leben.

Jacks Finger verkrallten sich in den Bettlaken, nicht wissend, wie er reagieren sollte. Wie er damit fertig werden sollte.

Er nahm mit halbem Ohr wahr, wie Carsten meinte: „Wir sollten die Polizei rufen.“

Jack blickte auf, erwartete eigentlich einen Kommentar von wegen ‚Die sollten lieber jemand anderes holen.‘, doch stattdessen hörte er Frau Reklöv auflachen. „Das würde euch so passen!“

Hatte Jack schon erwähnt, dass sie Kampfkünstlerin war? Genauer eine Assassine? Und was für Nachteile Magier im direkten Nahkampf hatten?

Man hörte Eagle „Pass auf!“ rufen, doch selbst der Besitzer des Grauen Adlers konnte bei seiner Entfernung nicht schnell genug handeln.

Sie war zu nah, der Dolch all die Zeit zu gut versteckt gewesen. Unter diesen Bedingungen war es ihr ein leichtes, ihn direkt in Carstens Herz zu rammen.

Er wäre hier und jetzt im Bruchteil einer Sekunde vor ihren Augen gestorben.

Wenn Carstens Reflexe nicht gut genug wären, dass er ihn direkt mit dem rechten Arm zur Seite schlug. Dunkelrotes Blut sickerte aus dem Schnitt, als er den Angriff ableitete in genau die Richtung, mit der Frau Reklöv sich selbst blockierte und nicht weiter kontern konnte. Als Carsten ihr mit der Faust so einen gezielten Hieb in die Seite verpasste und sie zum Abschluss mit einem Roundhouse Kick zu Fall brachte, stand außer Frage, dass der Junge Kampfkunsterfahrung hatte.

Carsten wich einen Schritt zurück, immer noch im Verteidigungsmodus. Doch er hatte Frau Reklöv so gezielt ausgeknockt, dass keine Gefahr mehr von ihr ausging. Erst, als er sich diesbezüglich ganz sicher war, ließ sein Körper den Schock auch zu ihm durch.

Keuchend sackte Carsten auf den Boden, wo er kurz darauf auch schon von Eagle und Laura flankiert wurde.

„Carsten, ist alles in Ordnung?! Bist du verletzt?! Sag was!!!“, schrie Laura panisch und ließ ihn gar nicht zu Wort kommen, falls er dazu überhaupt im Stande war.

Auch Susanne kam zu ihm rüber, um die Blutung des länglichen Schnittes zu stoppen.

Doch Carsten fing sich überraschend schnell. Mit dem Blick auf den Dolch, der einen Meter von ihm entfernt lag, meinte er nur: „Mir geht es gut, keine Sorge…“

Eagle runzelte die Stirn, ganz offensichtlich traute er der Aussage seines kleinen Bruders nicht. „Dir geht’s gut? Keine Sorge?! Die spießt dich vor unseren Augen fast auf und wir sollen uns keine Sorgen machen?!“

„Eagle wirklich, es ist alles okay! Ich hatte mich nur erschreckt.“, verteidigte sich Carsten.

Eigentlich war es schade, wie misstrauisch sie seinen Worten gegenüberzustehen schienen. Aber gleichzeitig auch wenig überraschend. Jack wollte nicht wissen, wie viel er ihnen all die Zeit schon verschwiegen hatte. Wie viele Geheimnisse sie bereits aufgedeckt hatten.

Susanne prüfte ihn auf weitere Verletzungen, tastete vorsichtig die Brust ab, da sie mit bloßem Auge nichts erkennen konnte. Und auch mit ihrer Energie schien sie nach etwas zu suchen. Doch sie kam zu demselben Entschluss. Erleichtert atmete sie auf.

Auf ihre Reaktion hin verschränkte Anne die Arme vor der Brust, schien aber selbst erleichtert. „Das nennt man wohl Glück im Unglück.“

Ariane legte eine Hand über ihr Herz. „Könntest du bitte aufhören uns ständig so einen Schrecken einzujagen?“

Derweil halfen Eagle und Laura ihm wieder auf die Beine. Wobei Laura dabei weniger eine Hilfe war, da sie sich die ganze Zeit an ihn klammerte. Offensichtlich hatte sie sich noch viel mehr erschreckt als der Angegriffene selbst.

Anne runzelte die Stirn. „Aber Carsten, sag mal… Bist du ein doppelt Begabter?“

Stimmt, diese Schnelligkeit und Stärke waren eigentlich typisch für Kampfkünstler und nicht für Magier.

„Was?! Nicht dein Ernst.“ Ungläubig starrte Öznur Carsten an, doch dieser schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht doppelt begabt.“

Auch Eagle betrachtete seinen kleinen Bruder irritiert. „Und wie willst du uns das eben dann erklären? Das waren definitiv Techniken aus Taekwondo und Karate.“

Laura, die sich so langsam wieder beruhigte, war von allen am wenigsten überrascht. „Benni hat dir Kampfsport beigebracht, oder?“ Sie kicherte. „Die Technik war viel zu sauber und effizient.“

Jack ging ein Licht auf. Oh ja, das ergab Sinn. Sehr viel Sinn.

Anne schüttelte den Kopf. „Das erklärt immer noch nicht die Geschwindigkeit und Kraft eines Kampfkünstlers.“

Stimmt.

Lachend schüttelte Carsten den Kopf und ging zu dem Dolch rüber, um ihn aufheben und genauer betrachten zu können. „Verstärkungsmagie.“, erklärte er. „Ich hatte euch doch erzählt, dass Benni und ich immer gemeinsam trainiert haben. Aber ständig ‚Magier gegen Kampfkünstler‘ war viel zu einseitig, weshalb wir ein bisschen improvisieren mussten. Benni hatte mit seiner Energie einen Magier darstellen können und da er mir sowieso ein bisschen Kampfsport beigebracht hat, habe ich mit diesem Wissen und Verstärkungsmagie so gut es ging versucht, einen Kampfkünstler nachzustellen.“

„Wow, nicht schlecht.“, kommentierte Jack. Immerhin war es eigentlich dauerfrustrierend Bennis Trainingspartner zu sein. Da musste man schon ein bisschen was draufhaben, damit sich das für ihn lohnte und man selbst nicht ständig auf die Schnauze bekam. Und noch eine Sache ergab für Jack endlich Sinn: „Das erklärt auch, warum Benni immer so aussieht als würde er zaubern, wenn er seine Energien einsetzt. Er ist diese Gesten von dir und eurem gemeinsamen Training gewöhnt.“

Eagle schnaubte. „Als hättest du Ahnung.“

„Doch, es stimmt.“, stellte sich Carsten direkt dazwischen.

Jack verdrehte die Augen. „Ich hatte mir einige Monate beim Training regelmäßig von ihm die Fresse polieren lassen. So langsam sollte ich seinen Kampfstil kennen.“

Janine schien es zu stören, dass Jack so vertraut über Benni sprach. „Jetzt tu nicht so, als wärt ihr die besten Freunde.“

„Die besten vielleicht nicht, aber zumindest hat er mir nie den Kopf abgeschlagen, wenn ich seine Kekse weggegessen habe.“, kommentierte Jack achselzuckend.

Autsch, da war was., erinnerte seine linke Schulter ihn direkt mit brennendem Schmerz an die Schusswunde.

Mit einem bedrückten Seufzen hockte sich Carsten zu Frau Reklöv, die immer noch bewusstlos auf dem Boden lag. „…Wie konnte es überhaupt so weit kommen?“

Ob er mit den Gedanken bei Benni oder seiner Chemielehrerin oder Jack war konnte man nicht wirklich heraushören. Vielleicht war es auch die gesamte Situation.

Ja, auch Jack fragte sich gelegentlich, wie man in so einer Scheiße landen konnte. Aber sein Leben war ja ohnehin ein einziges Trauerspiel. Da überraschte einen nicht mehr allzu viel.

Während er die Frau betrachtete, von der er bis vor wenigen Minuten noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie eine entfernte Verwandte war, spürte er die Blicke der anderen auf sich ruhen. Er mochte es überhaupt nicht, so gemustert zu werden. „Wollt ihr ‘nen Striptease oder warum starrt ihr mich so an?“

Bei Eagles angeekeltem Laut lachten Carsten und Lissi auf.

Schließlich meinte Janine: „Du scheinst wohl nicht nur die Familienmitglieder anderer Personen zu ermorden.“

Nicht schon wieder diese Anschuldigungen…

„… Hast du wirklich deine Familie umgebracht?“, fragte Laura zögernd, ihre Stimme zitterte leicht.

Nein!

Anne schnaubte. „Frau Reklöv hatte das doch selbst gesagt, dass er alle ermordet hat.“

Nein!!!

Jack kniff die Augen zusammen. Wieder konnte er das nicht aussprechen.

Ich bin nicht schuld!

Wieder konnte er das nicht sagen.

Er hörte Ariane fragen: „Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen?“

Es war eine indirekte Aufforderung an ihn, davon zu erzählen. Doch Eagle meinte sofort: „Er ist ein Mörder, mehr müssen wir nicht wissen.“

„Jeder hat seine Gründe.“ Carsten hatte sich inzwischen aufgerichtet und Jack nahm wahr, wie einige Ärzte vorbeikamen und die Chemielehrerin aus dem Zimmer trugen.

Er merkte, wie sich jemand neben ihn setzte. Als er aufblickte, fuhr er erschrocken zurück. (Aua, scheiß Verletzungen!)

„Schon mal was von persönlichem Freiraum gehört?“, fragte er Lissi, deren Gesicht für seinen Geschmack deutlich zu nah an seinem gewesen ist.

Lissi kicherte. „Sorry, Jackie-Chan. Aber du hast so hübsche grüne Augen! Und diese leichten Sommersprösschen auf der Nase sehen so süß aus!!!“

Ihr Gequietsche bereitete Jack schon wieder Kopfschmerzen.

Zufrieden streifte sich Lissi die Schuhe von den Füßen und setzte sich Jack gegenüber in den Schneidersitz. „Darf ich raten?“

„Mir egal.“

„Häusliche Gewalt, oder?“

Jack hielt inne und betrachtete das Mädchen, was entspannt auf dem Bett saß. Er musste sich noch nicht einmal die Mühe geben, ihre Vermutung zu bestätigen. Sie wusste genau, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

„Stimmt das?“, fragte Laura betroffen. Als Jack nicht antwortete, meinte sie nur: „D-das… das tut mir leid…“

Er seufzte. „Ich will kein Mitleid. Ich will Kekse.“

Lissi kicherte. „Das lässt sich garantiert einrichten.“

„Aber was ist denn passiert, dass du-“, setzte Ariane an. Auch die anderen waren inzwischen nähergekommen.

Jack setzte sich halbwegs normal aufs Bett, um sich gegen die Kissen zu lehnen. Weiche, flauschige Kissen. Wie gerne würde er einfach mal ne Mütze Schlaf bekommen. Richtigen Schlaf und nicht diese bescheuerten Albträume, die ihn jede Nacht aufs Neue hochfahren ließen.

Schließlich fragte er auf das seltsame Schweigen hin: „Was denn? Wollt ihr, dass ich euch meine ganze Lebensgeschichte erzähle?“

„Na ja… vielleicht könnten wir dich so zumindest besser verstehen…“, meinte Laura zögernd.

Jack atmete aus. „Sicher, dass ihr das wollt? Könnte ziemlich deprimierend werden. Da gibt es keinen Glitzerstaub, Feen und rosa Einhörner. Und erst recht kein Happy End.“

Laura senkte den Blick. „Das gibt es doch sowieso nie…“

Jack lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sollte er das wirklich? Wollte er das wirklich? Diesen Leuten von allem erzählen und ihnen damit nur noch mehr Angriffsflächen bieten?

Tatsächlich gab es irgendeinen Drang in Jacks Innerem, der darüber sprechen wollte. Der sich einfach mal alles von der Seele schreien wollte, sich irgendjemandem anvertrauen.

Aber um sich jemandem anzuvertrauen musste man diesem jemand vertrauen.

Und das fiel Jack schwer. Extrem schwer. Spontan fielen ihm drei Personen ein, bei denen das in Frage käme. Der eine hatte alle Hände voll zu tun mit dem Wiederaufbau einer Schule. Der andere hatte jegliche Macht über sich und seinen Körper verloren. Aber der dritte…

Jacks Blick fiel auf Carsten, der ihm schon wieder dieses liebe, aufheiternde Lächeln zuwarf. Wie zum Teufel hatte der Typ so eine Ausstrahlung, dass jeder ihm am liebsten von all den Qualen und Sorgen erzählen würde, von denen er geplagt wurde?

Carsten schien zu merken, wie Jack schwankte. Er richtete sich auf und setzte sich neben Lissi auf die Bettkante. „Ihr hattet damals nicht viel Geld, oder?“

Es war nur eine Frage, sie wirkte fast schon nebensächlich. Und doch war es dieser kleine Schubs, der Jack von seinen Zweifeln losriss.

„Nicht so viel, das stimmt.“, antwortete er und ohne darüber nachdenken zu können, begann er bereits zu erzählen. „Ich weiß nicht genau wie es früher war, aber mein Vater schien eine ziemlich gute Stelle gehabt zu haben und sorgte für das ganze Familieneinkommen. Vermutlich war das der Grund, warum meine Mutter ihr Studium nicht mehr zu Ende geführt hatte, als ich auf die Welt gekommen bin. Aber für sie war das okay, sie war gerne Hausfrau und Mutter. Aber… Irgendwie ist die Firma wohl pleite gegangen. Ich hab keine Ahnung, wie mein Vater ursprünglich war. Vor all dem. Wahrscheinlich nicht so ein Arschloch. Doch seitdem… Seit ich denken kann…“

Eine Gestalt tauchte vor Jacks innerem Auge auf. Dunkle Haare und helle Augen. Sie war groß und bedrohlich und hatte immer nach Zigaretten und Alkohol gestunken. Es war ekelerregend gewesen.

„… Statt sich einen neuen Job zu suchen oder statt zu sparen… Er hat alles Geld für Saufen und Spaß auf den Kopf gehauen. Obwohl es meine Mutter war, die uns mit Minijobs versucht hat über Wasser zu halten, hatte er sich den Großteil vom Geld unter den Nagel gerissen. Häufig war gegen Ende des Monats nur noch genug für das Mittagessen übrig. Manchmal nicht einmal mehr das.“ Jack verschränkte die Arme vor der Brust, den Schmerz seines gebrochenen Arms und der blutigen Wunden ignorierend. Er bemerkte sie nicht einmal. Ihm war einfach nur noch kalt. Eiskalt. „Er… er ist häufiger mal ausgerastet, wenn meine Mutter oder ich etwas in seinen Augen falsch gemacht hatten. Also… Eigentlich war alles was wir taten falsch. Kein Essen kaufen war falsch, denn dann konnte er sich ja nicht vollfressen. Essen kaufen war falsch, denn dann hatte er weniger Geld, um es für seinen eigenen Scheiß herauszuwerfen. Wenn er mich aufgefordert hatte ihm Bier zu bringen bekam ich eine gewischt, weil ich zu langsam war. Wenn ich mich weigerte, dann… Dann hatte ich Glück, wenn ich es noch rechtzeitig geschafft hatte die Kinderzimmertür abzuschließen…“ Trotz zusammengebissener Zähne fiel es ihm schwer, das Zittern seiner Stimme unter Kontrolle zu halten. Seine Augen brannten. Er spürte, wie jemand eine Hand auf seinen Arm legte. Doch er selbst sah nur, wie sein Vater mit dem Gürtel ausholte.

Bei dem imaginären Schlag zuckte Jack zusammen.

„A-aber… Wieso seid ihr nicht weggelaufen?! Du und deine Mutter?!“, fragte Laura schluchzend.

Susanne nickte betroffen. „Es gab doch sicher einen Ort, wo ihr einen Unterschlupf bekommen hättet. Bei Großeltern, oder auch in speziellen Einrichtungen, die genau dafür da sind.“

„Ich weiß es nicht… Ich weiß es einfach nicht.“ Er kniff die Augen zusammen. Sie brannten immer noch, schmerzten höllisch. Und das Salz der Tränen machte alles umso schlimmer. „Wir… wir hatten uns an den kleinen Momenten erfreut. Die Stunden, in denen er sich sonst wo in der Stadt rumgetrieben hatte. Wir hatten ein kleines Versteck gehabt, wo wir immer Kekse oder Schokolade gebunkert hatten, wenn es uns mal möglich gewesen war etwas von dem Geld abzuzapfen, ohne dass er es direkt gemerkt hatte…“ Traurig lachte Jack auf. Er hatte immer versucht, seine Mutter in diesen freien Momenten zu trösten, ihr Mut zuzusprechen. Doch in Wahrheit war immer sie es gewesen, die ihm Mut gemacht hatte. Die ihn aufgefordert hatte durchzuhalten, nicht aufzugeben…

„War er es auch gewesen, der dich… dorthin geschickt hatte?“, erkundigte sich Ariane.

Jack nickte. „Damals… Zu der Zeit wurden die Dämonenbesitzer noch gejagt. Ich wusste davon. Ich wusste, dass ich meine Kräfte geheim halten musste, wenn ich nicht sterben wollte. Aber… es war schwer. Es war schwer das alles zu kontrollieren, wenn… Wenn man hört wie im Raum nebenan…“ Er versuchte das Gebrüll, das Geschrei, die ganzen Schläge aus dem Kopf zu schütteln. „Ich glaube, er hatte Angst vor mir. Oder vor dem, was die Dämonenjäger alles tun könnten. Was sie ihm antun könnten. Eins von beidem. Oder beides. Zumindest hatte er dann nach einem Weg gesucht mich loszuwerden.“ Jack seufzte. „Und dieser Weg war das FESJ.“

„Und dieser Ort war nicht viel besser…“, vermutete Lissi. Nein, sie wusste es.

„Im Gegenteil.“, erwiderte Jack nur.

Er merkte sofort wie Fragen in der Luft lagen. Er wusste auch welche Fragen es waren.

Doch bevor es jemand schaffte eine davon zu stellen, fragte Carsten: „Und Mars hatte dich mit Hilfe von Lukas schließlich rausgeholt, nicht wahr?“

Er nickte.

„Und dann bist du also zurück zu deinen Eltern, um deine Rache zu bekommen.“, stellte Anne fest.

Jack lachte auf. Traurig. Verbittert. „Rache?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin heim, um meine Mutter nach über acht Jahren endlich wiederzusehen.“

„Ja, aber wie… Wieso…“, stammelte Laura fragend, verwirrt.

Tja… wieso? Eine Antwort darauf hatte er nie finden können.

Den Blick auf die Bettdecke gerichtet erinnerte sich Jack daran. An das beklemmende Gefühl das Treppenhaus hochzugehen, in den neunten Stock. Die Aufgeregtheit, die mit jeder Etage zunahm. Wie ging es ihr? Wohnte sie eigentlich noch dort? Würde sie ihn überhaupt wiedererkennen?

Er hatte gewusst, dass sein Vater zu dieser Zeit für gewöhnlich unterwegs gewesen ist. Er hatte gehofft, dass sich das nach all der Zeit nicht verändert hatte. Sein Herz klopfte unsagbar laut, unendlich schmerzhaft, als er die Klingel betätigte. Als er die Schritte hörte, die sich der Tür näherten.

Der Riegel, der zurückgezogen wurde. Die Tür, die aufgerissen wurde. Und bevor Jack es überhaupt realisierte lag er auch schon in den Armen seiner Mutter. Nach mehr als acht Jahren. Jahre geprägt von Angst, Folter, Qualen und Misshandlung. Nichts von all dem hatte mehr eine Rolle gespielt. Gar nichts. Nur noch eines. Das hier und jetzt. Endlich wieder bei ihr sein zu können.

Jack lächelte traurig. „Sie hatte immer noch dieses Versteck gehabt. Ich glaube, es war immer gefüllt falls ich… Sollte ich jemals wieder…“

Er hörte, wie Laura leise schluchzte und auch Carstens Lippen waren zu einer dünnen Linie gepresst, als versuchte er seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.

„Aber was ist denn dann passiert?!“, fragte Ariane, drängend, verzweifelt und doch hoffend.

Jack biss die Zähne zusammen und presste die Antwort nur mühsam hervor. „Er kam heim.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. Obwohl er sich versuchte zu beherrschen, obwohl er dachte, seine Gefühle eigentlich unter Kontrolle zu haben, ließ ein schwaches Erdbeben den Raum vibrieren. „Er war sturzbesoffen und ist ausgerastet als er mich gesehen hat. Ihr kennt doch sicher diese Messerblöcke, die in vielen Küchen rumstehen… So einen hatten wir auch. Ich fand diese riesigen Küchenmesser schon immer gruselig, aber als er dann eines herausgezogen hatte… Als er damit auf mich zustürmte, da…“ Etwas schnürte seinen Hals zu. Ihm war als würde er an einem Strick baumeln. Als würde sein Körper verzweifelt um Luft ringen, um das letzte bisschen an Sauerstoff zu bekommen. „Ich… ich hatte mich nicht bewegen können. Ich sah nur dieses Messer, diese scharfe Klinge und wie spitz es war. Aber bevor er… Bevor ich… Da hatte sie…“ Jack verlor den Kampf gegen seine Gefühle. Leise schluchzte er auf. „… Sie hatte sich dazwischen gestellt… Nur weil ich… wegen mir…“

Schweigen breitete sich aus. Ob es wirklich still war oder er einfach nichts wahrnahm… Wer weiß. Er hörte nur noch ihre Schreie. Schreie vor Schmerz. Sah nichts weiter als Blut. Die spitze Klinge, die sich rot färbte. Immer roter und roter, je häufiger er zustach.

‚Lass sie in Ruhe!‘

Die Bilder wollten nicht aus seinem Kopf verschwinden. Er konnte ihnen nicht mehr Stand halten. Er hatte keine Kraft mehr.

Jack merkte etwas Nasses, was über seine Wangen lief und eine Spur der Verbrennung hinterließ. Es tat weh. Es tat alles so weh.

Er spürte, wie jemand die Arme um ihn legte. Ein sanfter und doch starker Griff. Die langen Haare, die leicht gelockt waren, erinnerten ihn an sie. Und selbst wenn Jack wusste, dass ihre Haare eigentlich kupferrot und nicht schwarz sein müssten… Selbst wenn er wusste, dass sie nicht mehr da war…

Einen kurzen Moment, einen kurzen verzweifelten Moment stellte er sich die Frau vor, deren Gegenwart er sich eigentlich wünschte. Die nach all der Zeit endlich wieder bei ihm sein sollte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Regina_Regenbogen
2021-03-21T18:27:07+00:00 21.03.2021 19:27
Das Kapitel war wieder sehr eindrücklich. Toll geschrieben! Sehr mitreißend.
Ach mein Jack! (Er und Carsten sind meine Lieblinge! ♡ Was wohl auch mit daran liegt, dass Benni eben gerade nicht vorkommen kann)
Ach! Ich konnte so mitfühlen und dachte nur so: Alter! Seid ihr dumm! Da steht eure Lehrerin ohne Anlass im Krankenzimmer und Jack hat sie eingesperrt, schwer verletzt wie er ist, und ihr dummen Weiber denkt ernsthaft, er ist der Böse in der Szene?! Raaah!
Jacks Ohnmacht gegenüber den Anschuldigungen tat so weh. :'(
Gott sei Dank gibt es Lissi! Lissi, du hältst die Ehre von uns Frauen hoch! Ich liebe es, dass sie einfach direkt durchschaut, was gelaufen ist. Scheinbar noch mehr als Carsten, obwohl er Jack ja kennt. Wobei das nicht so ganz klar ist, da Carsten ja einfach nicht so viel über Jack mit den anderen teilt. Auf jeden Fall ein Hoch auf Lissi! Auch dass sie Jack am Ende umarmt! Und so schön, dass Jack Carsten vertraut.
Und ich war so froh, dass Carsten auch für Jack eingestanden ist und Ariane auch so clever war, dass sie nach der Spritze geschaut hat. So ist es richtig!
Und Jacks "Ich will Kekse!" XD Ich liebe den Jungen. Auch wenn seine Hintergrundgeschichte dieser Liebe für Kekse etwas sehr Tragisches gibt. :'(
Und Gott sei Dank hat Carsten mit Benni trainiert.

Antwort von:  RukaHimenoshi
21.03.2021 20:19
Das freut mich, dass dir das Kapitel gefallen hat! Bei so Enthüllungskapiteln hofft man das natürlich auch besonders. (ಥ _ ಥ)

Ja stimmt, die Mädels - in Ausnahme von Lissi - haben da wirklich etwas zu langsam reagiert. ^^" Andererseits ergibt es schon Sinn, dass sie noch in ihren Vorurteilen feststecken, schließlich war Jack die ganze Zeit schon der "Böse" und Frau Reklöv die "Gute". Auch, wenn diese Begründung wohl oder übel ihre Macken hat. ^^"
Und ja, Ariane war auch clever und man merkt, dass sie schon die Sachen hinterfragt. (Eigentlich... Ist man so clever, wenn man sich versehentlich in Lebensgefahr begibt? X'D) Zur Ehrenrettung der Frauen würde ich aber auch noch Laura heranziehen. Zumindest, wenn ich's richtig im Kopf habe, hat sie in dem Moment weder etwas für noch gegen Frau Reklöv gesagt. Und so wie man Laura bisher gesehen hat, weiß man ja schon, dass sie in diesem Moment eher auf Jacks Seite steht.
Anne kann man es auch nicht wirklich übel nehmen, aus Prinzip erstmal auf der Seite der Frau zu stehen. X'D

Und jaaa, du hast endlich die ersten Lissi x Jack Friendship Szenen gelesen!!! *-*
Antwort von:  Regina_Regenbogen
21.03.2021 20:46
Das Enthüllungskaitel ist dir auf jeden Fall gelungen!

XD Ja, konnte Ariane ja nicht wissen, dass sie da gleich so ungeschickt reinlangen würde. XD XD XD Und ja, bei Anne erwartet man echt nichts anderes.
Stimmt, Laura hat sich rausgehalten. Und sie hat sich tatsächlich direkt dann auch auf Jacks Seite geschlagen. Wie auch anders wenn Benni Jack vertraut hat und Carsten auch, also die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben, dann muss sie ja auch an ihn glauben. ;D

Jaaaa! Lissi und Jack sind so goldig zusammen! <3 Ich liebe es!!!!


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