Demon Girls & Boys von RukaHimenoshi ================================================================================ Kapitel 84: Zwischen Gegenwart und Vergangenheit ------------------------------------------------ Zwischen Gegenwart und Vergangenheit       Ariane blickte die hölzerne Fassade des Krankenhauses hinauf und zupfte an dem T-Shirt, was Saya ihr zum Wechseln aus Carstens Kleiderschrank geholt hatte. Bis auf Öznur hatte natürlich niemand von ihnen etwas Anderes als die Schuluniform hier in Indigo, und es hatte sich auch niemand getraut zurück zur Coeur-Academy zu teleportieren, um Wechselsachen zu holen. Selbst wenn Carstens Zauber die Zerstörung zum Großteil verhindert hatte… Niemand wagte es in Erfahrung bringen zu müssen, wie der Schulcampus nun wohl aussah. Dafür waren die Erinnerungen an gestern Abend noch zu frisch. Saya selbst war eine sehr zierliche Person, weshalb nur Laura und Janine ihre Kleidung gepasst hatten. Diejenigen unter ihnen, die auch nur ein bisschen kurviger oder muskulöser waren, hatten folglich auf Oberteile von Carsten zurückgreifen müssen, die hier aufbewahrt wurden. Der Rock beziehungsweise die Hose war aber trotzdem noch von der Schuluniform. Zum Glück musste sowas nicht allzu häufig gewechselt werden wie ein Oberteil, was Ariane alleine nach ihrem gestrigen Sprint durch den Westwald schon vollgeschwitzt hatte. Lissi kicherte. „Cärstchen wird in Ohnmacht fallen, wenn er dich in seinem T-Shirt und seiner Jeansjacke sieht.“ Seufzend schaute Ariane zu Laura rüber. So hätten zumindest einige etwas zu Lachen… Laura, Ariane und Johanna hatten vergangene Nacht in Carstens ohnehin leerstehendem Zimmer übernachtet und es hatte ihr das Herz gebrochen, wie sich Laura so leise sie konnte in den Schlaf geweint hatte. Dabei hatte Ariane seit Lauras Geburtstag doch eigentlich gehofft, dass diese Zeiten endlich vorbei wären. Doch das Wissen, was anscheinend Benni widerfahren war… Die Gewissheit wie es um Carsten stand… Öznur schien etwas Ähnliches gedacht zu haben. Als sie das Krankenhaus betraten meinte sie zumindest: „Eagle würde das garantiert auch gut tun zu sehen… So normale Reaktionen von seinem kleinen Bruder…“ „Das hatte ihn gestern richtig schwer getroffen, oder?“, erkundigte sich Susanne mitfühlend, während sie den Eingangsbereich durchquerten, der mit den Pflanzen und der hellen Inneneinrichtung eigentlich ziemlich gemütlich wirkte. Öznur nickte betrübt. „Ich hab ihn noch nie so fertig gesehen. Selbst bei seinem Vater neulich…“ „Und dabei hat er noch nicht einmal alles mitbekommen.“, murmelte Ariane eher zu sich selbst. „Was ist?“, fragte Öznur irritiert, doch sie schüttelte den Kopf. „Nichts…“ Öznur ging nicht weiter darauf ein und presste nur verbittert hervor: „Und das mitten in seinen Abschlussprüfungen. Wie soll er denn so Mathe schreiben?!“ „Heute Mittag werden wir es wohl oder übel erfahren.“, meinte Laura und drückte die Türklinke des Zimmers herunter, vor dem sie schließlich angekommen waren. Als sie die Person erblickten nach der sie suchten, mussten die Mädchen leise kichern. „Ich glaube, Carsten war in seinem früheren Leben mal eine Katze.“, stellte Laura belustigt aber trotzdem flüsternd fest. Ariane unterdrückte das Lachen und nickte. Seine Schlafposition sah nicht sonderlich gemütlich aus, sodass sich automatisch jeder fragen musste, wie man so überhaupt einschlafen konnte. Er saß auf einem Stuhl, den Kopf ohne jegliche Stütze zur Seite geneigt. Ein Bein war angewinkelt und ein Arm darauf gelehnt, während der andere auf dem angrenzenden Tischchen lag. Eine nette Sitzposition war das, keine Frage. Aber damit meinte Ariane auch wirklich eine Position zum Sitzen. Und nicht zum Schlafen. Carsten murmelte etwas Unverständliches auf Indigonisch, woraufhin es den Mädchen umso schwerer fiel das Lachen zu unterdrücken. Lissi quietschte lautlos. „Cärstchen ist ein Schlafredner, wie süüüüß.“ Er verzog etwas das Gesicht und Ariane fragte sich, ob er schon wieder einen Albtraum hatte. Plötzlich schob Lissi Ariane auf ihn zu. „Na los, du solltest ihn wecken, BaNane.“ „Was- warum…“ Seufzend schüttelte Ariane den Kopf. Lissi mal wieder. Dennoch ging sie zu Carsten und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Guten Morgen, Carsten.“ Dieser kniff die Augen zusammen und murmelte Schlaftrunken: „Ich will nicht in die Schule…“ Wäre das Gespräch von gestern Abend nicht gewesen, hätten sie vermutlich nun allesamt loslachen müssen. Doch Saya hatte ihnen von damals erzählt. Und diese Erzählung war in allen Köpfen noch schmerzhaft präsent. Viel zu schmerzhaft. Ariane zwang sich zu einem Lächeln. „Komm Carsten, wach auf.“ Endlich öffnete er blinzelnd die Augenlider und… zuckte so erschrocken zurück, dass er fast mit dem Stuhl umgekippt wäre. Das brachte die Mädchen nun trotz gestern Abend zum Lachen. „Guten Morgen, Cärstchen.“, grüßte Lissi ihn, absolut zufrieden mit ihrer Tat. Ariane hatte immer noch die Hand auf seiner Schulter liegen -unter anderem aus dem Grund, weil sie ihn so instinktiv vorm Umkippen gerettet hatte- und fragte belustigt: „Alles okay?“ Carsten lehnte den Kopf zurück gegen die Wand und schien das Aufwachen jetzt schon zu bereuen. „Was macht ihr denn hier?“ „Was für eine Begrüßung.“ Lachend schüttelte Öznur den Kopf. Susanne kicherte. „Aber zumindest bist du nun wach, oder?“ Grummelnd wich Carsten Arianes Blick aus und richtete sich auf. Während er sich durch die kinnlangen Haare wuschelte warf er einen Blick auf die Person, die das eigentliche Bett dieses Zimmers in Anspruch genommen hatte. „Geht es ihm inzwischen besser?“, fragte Laura und gesellte sich neben ihren besten Freund, um Jack genauso wie Ariane und Carsten betrachten zu können. Obwohl Ariane nur mit viel Mühe Sympathie und Mitgefühl für diesen Typen empfinden konnte, stellte sie doch betroffen fest, dass er deutlich übler zugerichtet aussah als sie es gestern bei ihrer düsteren Umgebung hatte erkennen können. Und das lag noch nicht einmal an den Bandagen und seinem geschienten rechten Arm. Er wirkte richtig blass, fast schon blutleer, und hatte so tiefe Augenringe das man vermuten könnte, er hätte mehrere Nächte hintereinander durchgefeiert. Um die Augen herum konnte man immer noch die Entzündungen sehen, die jeder Dämonenverbundene bekam, nachdem er zu viel Energie eingesetzt hatte. Jacks Gesichtszüge ließen nicht vermuten, dass er entspannt schlafen würde und sein Atem ging flach und unregelmäßig. Seufzend betrachtete Carsten den Ständer neben dem Bett, an dem mehrere Beutel hingen, die über Schläuche mit Jacks linkem Arm verbunden waren. Einer davon war fast leer, doch man konnte immer noch rote Überreste erkennen. „Er hat ziemlich viel Blut verloren.“ Bedrückt atmete er aus. „Geht ruhig schon mal ins Café, ich komme gleich nach.“ Die Mädchen nickten, Ariane hielt ihm aber noch einen Rucksack entgegen. „Hier, Saya hat Wechselsachen für dich zusammengepackt. Sie hatte vermutet, dass du die nächsten Tage ohnehin im Krankenhaus übernachten möchtest.“ „Oh, danke.“ Carsten wollte den Rucksack nehmen, hielt in der Bewegung aber abrupt inne. Nun war es den Mädchen unmöglich, leise zu bleiben. Besonders Lissi und Öznur lachten lauthals los. Offensichtlich hatte Carsten haargenau den Blick, den sie sich vorgestellt hatten. Lächelnd und ein bisschen verlegen zupfte Ariane an ihrer, genauer Carstens Jeansjacke. „Sorry, wir haben nichts Anderes da…“ Carsten nahm den Rucksack entgegen und stammelte nur verlegen: „S-soll ich euch nachher zur Academy teleportieren?“ Laura klopfte ihm auf die Schulter. „Nicht nötig, aber danke.“ Es brauchte nur ein kleines bisschen Fantasie, um sich Dampfwolken über Carstens dunkelrotem Gesicht vorstellen zu können. Doch irgendwie war Ariane erleichtert bei seiner Reaktion. Öznur hatte recht, es tat gut den ‚normalen Carsten‘ zu sehen. Das Café wirkte genauso gemütlich wie der Eingangsbereich des Krankenhauses. Auch hier war viel in hellen Holztönen gehalten und mit grünen, saftigen Pflanzen verziert. Einige Ärzte saßen zur Kaffeepause an vereinzelten Tischen und unterhielten sich. Die Gruppe beschlagnahmte einen der größeren Tische und während Öznur gemeinsam mit Lissi immer noch schwärmte wie süß Carsten doch sei, begleitete Ariane Laura zur Kaffeemaschine. Sie ließ ihren schwarzen Tee ziehen und beobachtete, wie Laura etwas Milch in ihren gezuckerten Kaffee schüttete. „Carsten trinkt seinen immer schwarz, oder?“ Laura überlegte. „Öhm, glaube schon…“ Als Ariane eine Tasse unter die Maschine stellte und den Knopf drückte, kicherte Laura plötzlich. Ariane seufzte. „Fang du nicht auch noch damit an, bitte.“ Entschuldigend lächelte Laura. „Ich frage mich nur, wann jemand von euch endlich mal den ersten Schritt macht. Es ist doch offensichtlich.“ Erfolglos versuchte sie einen Schluck ihres Kaffees zu probieren. Er war noch viel zu heiß für sie. Ariane schnaubte. „Mensch, ich sage euch doch schon die ganze Zeit wie schüchtern ich bin.“ „Aber das ist nichts im Vergleich zu Carsten.“ „Trotzdem…“ Ariane schüttelte den Kopf und trug ihre beiden Tassen zurück Richtung Tisch, während Laura mit halb herausgestreckter Zunge versuchte ihren Kaffee zu balancieren, ohne dass er überschwappte. „Außerdem ist jetzt nicht die Zeit für sowas.“, meinte Ariane schließlich noch. „Nicht die Zeit für was, BaNane?“, fragte Lissi neugierig. „Für romantische Gefühle.“, antwortete sie ehrlich und für sensiblere Herzen wie Laura wohl etwas zu direkt. Wobei Laura in der ganzen Situation ohnehin eine Ausnahme darstellte… „Aber… wie kommst du denn darauf?“, fragte Susanne und wirkte auch überraschend betroffen. Ariane winkte ab. „Tut mir leid, so habe ich das nicht gemeint. Bei dir und Miguel ist das ohnehin noch was Anderes. Und na ja… bei Laura und…“ Sie warf einen prüfenden Blick auf die Eingangstür, bevor sie schließlich seufzend hinzufügte: „Aber sind wir mal ehrlich: Wie soll man in so einer Zeit versuchen sich näher zu kommen? Ich halte von Romantik eigentlich nichts, aber ein Schlachtfeld finde ich trotzdem keinen schönen Ort für ein Rendezvous.“ „Aber gerade in so schweren Zeiten ist es doch wichtig, dass man näher rückt!“, widersprach Öznur energisch. „Klar, aber das sollte für alle gelten, und nicht nur bezogen auf die Person, an der man eventuell interessiert sein könnte.“ „Das klingt bei dir noch alles sehr hypothetisch.“, stellte Susanne fest. Laura zwirbelte eine Haarsträhne. „Sag mal, Nane… Bist du überhaupt an Carsten interessiert?“ „Stimmt, du hattest nur mal erwähnt, dass du einfach schauen möchtest wie sich das entwickelt.“, erinnerte sich Susanne. Ariane betrachtete den Kaffee, der neben ihrem schwarzen Tee stand. Der Gedanke, der sich in ihrem Kopf ausbreitete, deprimierte sie noch mehr als erwartet. „Ich will Carsten so kennenlernen wie er wirklich ist und nicht… so. Die ganze Situation gerade, die schwarze Magie, …“ Ariane ballte die Hand zur Faust. „Wenn er diese Probleme wirklich all die Zeit mit sich herumgetragen hat und Hilfe braucht, dann… dann ist das okay für mich. Wenn sie zu ihm gehören und nicht zu etwas, was aus den fürsorglichsten Pazifisten aggressive Monster machen kann.“ Tatsächlich merkte Ariane, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Während sie all das in Worte fasste wurde ihr überhaupt erst richtig bewusst, was sie wollte. Was sie empfand. „Ich… ich will den Carsten von damals zurück. Den, der mir einen anzüglichen Text aufgrund seiner Schüchternheit vollkommen falsch übersetzt. Der Berge in Bewegung versetzen würde, wenn es darum geht jemandem zu helfen. Der so heiter und sorglos lachen kann, wenn jemand wie Laura mal wieder was ganz Blödes angestellt hat…“ Schweigen breitete sich aus, nur Laura meinte noch leise: „… Das will ich auch…“ „Was ist denn euch über die Leber gelaufen?“, fragte Anne, die wenig später gemeinsam Carsten das Café betrat. „Guten Morgen, Prinzessin!“, grüßte Öznur sie. „Gut geschlafen?“ Anne betrachtete Öznur kritisch, während sie sich neben sie setzte. „Ehrliche Antwort?“ Sie schüttelte traurig lächelnd den Kopf und nahm Anne trotz deren Protest in den Arm. „Wie geht es deiner Mutter?“, erkundigte sich Janine direkt, worauf Anne nur ein Schulterzucken erwiderte. Es war so mit das erste, was Ariane an diesem Tag von Janine gehört hatte. Sie senkte den Kopf. Noch jemand, bei dem sie sich in die Vergangenheit zurücksehnte. „Alles in Ordnung?“, fragte Carsten und setzte sich gegenüber von ihr und Laura an den Tisch. Bei seinem fürsorglichen Ton und dem für ihn typischen lieben Lächeln schüttelte Ariane lachend den Kopf. Er war immer noch Carsten, das sollte sie nicht vergessen. „Ich würde mal sagen, den Umständen entsprechend.“, antwortete sie und schob ihm die Tasse mit dem schwarzen Kaffee rüber. Zwar wie immer leicht verschüchtert, aber trotzdem mit einem herzlichen Dank, nahm Carsten sie entgegen. Er hatte sich inzwischen wohl auch umgezogen, denn… „Sag mal, ist das T-Shirt neu?“ „Was?“ Carsten schreckte auf. „Also… Nein, ich hatte es schon ein einige Male getragen.“ Ariane runzelte die Stirn. „Echt? Ist mir nie aufgefallen und dabei ist rot meine Lieblingsfarbe.“ „Die Farbe steht Cärstchen richtig gut, oder?“, mischte sich Lissi ins Gespräch ein. Ariane nickte. „Ja, finde ich echt. Deshalb habe ich mich gefragt, warum mir das bisher nie aufgefallen ist.“ Während diese Aussage Carsten natürlich total verlegen machte, schüttelte Janine missbilligend den Kopf. „Schön wie gut es euch geht, dass ihr euch genug Gedanken um rote T-Shirts und Mörder machen könnt.“ Ihr Kommentar löste kollektives Entsetzen aus. Und das nicht zum ersten Mal, seit sie Janine endlich wieder bei sich hatten. „Ninie?!“ Es brach Ariane das Herz. Bei Carsten konnte sie es zumindest auf die Schwarzmagie schieben, aber bei Janine… Diese betrachtete die Gruppe verurteilend. „Dafür, dass ihr euch für so empathisch haltet, zeigt ihr beängstigend wenig Mitgefühl für die Leute, die es gerade am meisten brächten. Ohne euer Wissen hat Anne Wochen damit verbracht sich zu fragen, ob ihr dasselbe Schicksal droht wie Eagle. Und jetzt wisst ihr endlich bescheid! Ihr wisst endlich, wie kritisch es immer noch um ihre Mutter steht! Und statt euch um sie zu kümmern redet ihr lieber über neue rote T-Shirts?! Und was ist mit Laura?! Solltet ihr euch nicht lieber Gedanken machen über Wege, die Benni retten können ohne ihn so nah an den sicheren Tod bringen zu müssen?! Und Carsten, der-“ Öznur schlug auf den Tisch, was Janine verstummen ließ. „Verdammt, Ninie, was ist los mit dir?! Natürlich machen wir uns Sorgen um Annes Mama! Und natürlich wollen wir Benni retten! Aber- aber ist es denn so schlimm, mal nicht verzweifelt zu sein?! Einfach mal über was Anderes zu reden?! Wir haben doch schon genug, was uns fertig macht!“, schrie sie unter Tränen. „Öznur!“, wies Susanne sie zurecht und legte einen Arm um Janine, die sich allerdings nur widerwillig auf diese tröstende Geste einließ. Vermutlich merkte Laura gar nicht, dass sie ihre Gedanken aussprach, als sie sagte: „Und trotzdem würde es Carsten viel besser gehen, wenn er sich nicht die ganze Nacht um jemanden hätte kümmern müssen, der von dir auch noch vergiftet wurde.“ Ariane verpasste ihrer besten Freundin einen warnenden Rippenstoß, während Carsten meinte: „Laura, beruhige dich bitte. Jacks Zustand ist auch ohne die Vergiftung kritisch, das hätte nichts an der Situation geändert.“ „Er hat es verdient.“ Janines Augen wurden beängstigend schmal und es sprach so viel Hass heraus, dass Ariane befürchtete sie würde gleich aufstehen und Jack den Gnadenstoß verpassen wollen. „Janine…“ Schließlich nahm Susanne sie ganz in die Arme. Alsbald verschwand ihre Ausstrahlung puren Hasses. Stattdessen kam die Verzweiflung und Trauer durch, die auch Janine nun seit über einer Woche mit sich hatte herumtragen müssen. Susanne hatte ihnen in einer ruhigen Minute vorhin die ganze Situation geschildert und Ariane konnte ihren Groll gegen Jack mehr verstehen als ihr lieb war. Aber… Sie warf einen Seitenblick auf Carsten. Er hatte gestern Abend schon recht gehabt. Es gab nicht umsonst die Abwandlung dieses Sprichwortes. Auge um Auge… und die ganze Welt wird blind. Und trotzdem… Bedrückt legte Ariane auf der anderen Seite ihre Hand auf Janines Rücken. „Tut mir leid, Nine. Ich wollte einfach nur ein bisschen quatschen, aber…“ Zitternd atmete sie aus. „Es tut mir leid.“ „Mir auch…“ Laura senkte den Blick und auch Öznur nickte betreten. Nun verlor Janine wohl endgültig den Kampf gegen ihre Gefühle. Weinend und schluchzend kniff sie die Augen zusammen.   Nachdem der Großteil die Zeit bis zum Mittagessen nur mit irgendwie existieren verbracht hatte, stießen sie auf dem Weg zur Kantine auf Eagle. Öznur rannte ihm direkt entgegen und fragte ihn mit ihrem herzlichsten Ton: „Liebling, wie war’s?“ Geräuschvoll atmete Eagle aus und machte sich noch nicht einmal die Mühe, ihre Umarmung zu erwidern. „Scheiße, wie sonst?“ „Denkst du, du hast bestanden?“, erkundigte sich Susanne, doch Eagle zuckte nur mit den Schultern. Auch Saya ging zu ihrem Stiefsohn und wuschelte ihm durch das kurze schwarze Haar. „Bestanden hast du sicher.“ „Wird mir den Schnitt aber ziemlich runterziehen.“ „Eagle, niemand schaut später noch auf den Schnitt, den du bei deinem Schulabschluss gemacht hast.“ Freudlos lachte er auf. „Sagt diejenige mit ner glatten 1,0.“ Saya seufzte. „Ich hatte das ja auch für mein Studium benötigt. Und außerdem hatten wir das doch neulich ausgerechnet. Selbst, wenn du überall ‚nur‘ bestehst, hast du eine 2,5.“ „Das ist doch richtig gut!“, bemerkte Öznur erfreut. Zerknirscht schüttelte Eagle den Kopf. „Die zerreißen sich doch allesamt das Maul, wenn da vorne keine eins steht.“ Öznur zuckte mit den Schultern. „Bei denen kann dir das doch egal sein.“ „Wie viele Prüfungen fehlen dir denn noch?“, fragte Susanne, um das Thema halbwegs wechseln zu können. „Die beiden mündlichen nach den Ferien. Mit schriftlich bin ich durch.“ Die Mädchen staunten nicht schlecht. „Wann hattest du die denn?“ „Letzte Woche Damisch und Geschichte, heute Mathe.“ Eagle betrachtete sie verwirrt. „Wusstet ihr nichts davon?“ Die meisten schüttelten den Kopf. „Und… und wann hast du dafür gelernt?“, fragte Ariane ungläubig. Ihr war das Lernen für die Zwischenprüfungen ja schon extrem vorgekommen, besonders, da sie nebenbei auch noch ihr verschärftes Training mit Benni gehabt hatten. Aber Eagle war ja an sich schon die ganzen letzten Wochen überlastet gewesen. Und das waren die Schulabschlussprüfungen! „Vorm Schlafengehen immer ein bisschen.“ Laura schluckte schwer. „Ich wäre gestorben…“ Saya klopfte ihm auf die Schulter. „Geschafft ist geschafft. Du bist jetzt erst einmal fertig und Indigonisch und Politik nach den Ferien wird ganz entspannt laufen, du wirst schon sehen.“ Alles andere als begeistert stöhnte Eagle auf. „Wie konnte ich nur so blöd sein, ausgerechnet Politik zu wählen.“ Ariane runzelte die Stirn. „Da musst du die Prüfung doch eigentlich nicht mal antreten, um eine gute Note zu bekommen.“ Eagle erwiderte ihren Blick spöttisch. „Die werden es mir doch gerade deshalb besonders schwer machen wollen.“ „Was besonders schwer machen?“ Inzwischen war auch Carsten angekommen, der wohl noch einmal nach Jack geschaut hatte. Ariane fiel sofort auf, wie Eagle es vermied seinem kleinen Bruder in die Augen zu schauen. Au weia, das gestern hatte ihn wirklich schwer getroffen… Öznur begann ihren Freund in Richtung Kantine zu schieben. „Oh glaub mir, wenn ich nicht gleich etwas zu Essen bekomme, werde ich dir das Leben bald besonders schwer machen.“ Etwas erleichterter lachte Ariane auf. „Da bin ich dabei.“ Und auch der Rest stimmte dem zu. Während sie also ihren Weg zur Kantine fortsetzten, wandte sich Eagle an Saya und fragte zerknirscht: „War er schon wieder bei ihm?“ „Hm?“ „Du weißt, wen ich mein.“ Seufzend schüttelte Saya den Kopf. „Eagle, sein Zustand ist nach wie vor kritisch. Carsten muss regelmäßig nach ihm schauen.“ „Wie kannst du das überhaupt zulassen?!“, fragte Eagle, etwas lauter, verärgerter. „Was ist das denn für eine Frage? Er ist schwer verletzt.“ „Er ist ein Mörder!“, schrie Eagle aufgebracht, mit einem Schlag auf 180. „Wieso zum Henker findet sich jeder in diesem Krankenhaus damit ab, dass der Mörder ihres Häuptlings hier behandelt wird?!?“ „Weil das hier ein Krankenhaus ist.“, erinnerte Saya ihn und ermahnte ihn gleichzeitig zur Ruhe. „Hier gibt es keine Mörder, nur Verletzte und Kranke.“ Janine schüttelte auf diesen Kommentar hin nur verächtlich den Kopf, während Eagle die Hände zu Fäusten ballte. „Bin ich hier etwa der einzige, dem es nicht egal ist, dass Vater gestorben ist?!?“ Ariane merkte, wie Carsten bei den Worten seines großen Bruders betroffen zusammenzuckte. Gebrochen versuchte er sich zu rechtfertigen. „Eagle, es ist- Jack, er… Er braucht Hilfe. Ich muss- wir-“ „Carsten?“, ertönte hinter ihnen plötzlich eine Frauenstimme. Irritiert drehte sich Ariane um. Eine Indigonierin im mittleren Alter kam auf sie zu. Genauso wie die anderen Indigoner hatte sie einen dunklen Hautton, war hochgewachsen und hatte schwarze Haare. Ihre schmalen Augen waren ebenso dunkel und die Hochsteckfrisur hielt ihr jegliche Strähnchen aus dem Gesicht fern. Der Schlüsselkarte an der Jeans nach zu urteilen arbeitete sie hier aber was genau sie war, konnte Ariane nicht sagen. Nur, dass der erst noch streng erscheinende Blick sich zu einem warmen, liebevollen Lächeln wandelte, als sich Carsten zu ihr umdrehte. „Du bist es wirklich! Das ist ja eine Ewigkeit her, schön dich endlich wiederzusehen!“ „Lakota!“ Ariane konnte ihren Augen kaum trauen als Carsten auf die Indigonerin zuging und ihren rechten Unterarm packte. Eine indigonische Begrüßungsgeste unter guten Freunden, wie sie mal von Laura gehört hatte. Wer ist das?, fragte sie sich verwirrt. La-Dings-da startete direkt eine Unterhaltung, als seien die beiden richtig gute Freunde, die sich seit Jahrzehnten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten. „Das ist ja eine nette Überraschung, dich hier zu treffen! Seit wann bist du denn wieder da?“ „Ähm… Lange Geschichte.“ Die Indigonerin schaute kurz auf ihre Uhr. „Hoffentlich nicht zu lang für die Mittagspause? Los komm, Sakima und Yma werden Augen machen, wenn sie sehen wie groß du geworden bist!“ Auch Laura war verwirrt. „Wer… was… wie?“ Inzwischen hatte Carstens Bekannte wohl auch den Rest von ihnen zur Kenntnis genommen. „Hallo zusammen, ich bin Lakota.“ Ungläubig schaute sie Carsten an. „Sind das alles Freunde von dir?“ Carsten nickte. „Von der Coeur-Academy.“ „Oh, wie schön! Ich wusste doch, so eine Schule passt viel besser zu dir!“ Sie wandte sich an Saya. „Hey Chefin, ich würde mal deinen Sohn entführen. Passt das?“ Saya lachte auf. „Das musst du nicht mich fragen.“ Während Lakota und Carsten quatschend an ihnen vorbei gingen und die Kantine betraten, folgte der Rest ihnen. Fast niemand hatte eine Ahnung was zum Henker vor sich ging. Die Kantine war ähnlich eingerichtet wie das Café, nur, dass rote Säulen hin und wieder den Raum zierten und auch die Sitze eine rote statt weißer Polsterung hatten. Lakota schrie direkt über alle Anwesenden hinweg: „Sakima, Yma, schaut mal, wen ich mitgebracht habe!“ Ariane war noch verwirrter. Carsten stand im Zentrum der Aufmerksamkeit und war nicht kurz davor im Boden zu versinken? Plötzlich standen ein Indigoner mit hübschen blauen Augen und eine Indigonerin, die etwas kleiner und kräftiger als der Rest war auf und kamen auf sie zu. Wieder begrüßte Carsten sie mit dieser freundschaftlichen Geste und wieder wirkte er ihnen gegenüber alles andere als distanziert. Immer verwirrter setzten sie sich gemeinsam an den Tisch neben diese drei eigenartigen Indigoner und den noch eigenartigeren Carsten. Schließlich war es Anne, die die treffendsten Worte fand: „Was ist das und was hat es mit Carsten gemacht?“ Saya lachte auf. „Hat das euer Weltbild zerstört?“ „… Und wie.“, gab Laura ihr recht, vollkommen aus der Bahn geworfen. Saya warf einen liebevollen Blick in Richtung ihres Stiefsohnes, welcher sich so ausgelassen mit den dreien unterhielt als sei seine fast schon krankhafte Schüchternheit nur ein Mythos. „Ich hatte euch doch erzählt, dass Carsten wie ein anderer Mensch gewirkt hatte, als ich ihn mit ins Krankenhaus genommen hatte.“ „Sind das die Kollegen von damals?“, vergewisserte sich Susanne, woraufhin Saya nickte. „Die drei sind Studienkollegen, haben hier aber unterschiedliche Wege eingeschlagen. Lakota, die ihr am Anfang kennengelernt habt, ist medizinische Fachangestellte in der Unfallchirurgie. Sakima ist in der Gerichtsmedizin und Yma als Biochemikerin in der Forschung tätig.“ „Wo ist eigentlich Hotah?“, fragte Carsten plötzlich und schaute sich um. Yma berührte sanft seinen Unterarm. „Hotah… Er ist ein Jahr nachdem du weg gegangen bist in Pension gegangen und vor zwei Jahren dann…“ „A-ach so…“ Beklommen senkte Carsten den Blick. Sakima seufzte. „Tut uns leid… Wir hatten schon befürchtet, dass dich das ganz schön treffen würde.“ Bedrückt atmete Carsten aus. „Na ja… Sein Herz hat ihm ja schon damals immer Schwierigkeiten bereitet…“ „Das stimmt.“, gab Yma ihm traurig recht. „Aber wir vermuten, dass es der Ruhestand war, der ihm einfach nicht bekommen ist.“ Lakota nickte. „Er war einfach immer am glücklichsten, wenn er Leuten helfen konnte. Jede erfolgreiche OP war wie Weihnachten und Silvester zusammen, oder wie auch immer die Menschen das sagen. Diese Tatenlosigkeit… Ich kann mir nicht vorstellen, wie er sich damit anfreunden könnte.“ Auf die fragenden Blicke hin erklärte Saya: „Hotah war ein sehr begnadeter Unfallchirurg gewesen und hat Carsten häufiger in Operationen mitgenommen. Die beiden hatten sich blendend verstanden. Er hat Carsten sogar manchmal ein bisschen assistieren lassen.“ Lakota lachte auf. „Ein bisschen ist gut.“ „Inwiefern?“, fragte Laura neugierig. Belustigt erzählte sie: „Ich war damals eigentlich überflüssig.“ „Hatte Hotah nicht mal mitten in der OP einen Herzinfarkt gehabt, wo Carsten sie dann zu Ende geführt hatte?“, vergewisserte sich Sakima. „Was?!“ Überrascht schaute die Gruppe zu dem anderen Tisch rüber. Ihnen gegenüber hatte Carsten trotz allem seine typische Schüchternheit, es könnte aber auch Bescheidenheit sein, als er verlegen meinte: „Na ja, also… Es war jetzt nicht so, dass ich wirklich die OP…“ Lakota winkte ab. „Glaubt dem kein Wort. Bei den Assistenten brach damals absolute Panik aus. Hotah aber meinte nur ‚lasst den Jungen das machen‘ und ist danach raus, um sich behandeln zu lassen. Und das war der Wahnsinn gewesen! Stellt euch mal einen neunjährigen Zwerg mit Tretleiter an einem Operationstisch vor, der mit Magie jegliche Kniffe ausgleicht, zu denen er feinmotorisch nicht in der Lage war und was auch immer er sonst noch damit gemacht hat! Und die Operation war ein voller Erfolg! Der Patient hat keine negativen Folgen davongetragen und war kurz darauf schon wieder putzmunter!“ „Wie bitte?!“, fragte Saya schockiert. Yma kicherte. „Wir fanden es wirklich schade, dass Hotah all die Dankesbekundungen bekommen hatte. Er hat sich von allen am schlechtesten deswegen gefühlt. Aber wir hielten es doch für das Beste, wenn es ein Geheimnis blieb, dass ein Neunjähriger die OP durchgeführt hatte.“ Lakota zuckte mit den Schultern. „Ein großes Geheimnis, von dem das gesamte Krankenhaus weiß.“ „Ihr habt meinen Sohn eine Operation durchführen lassen?!“, donnerte die Leiterin dieses Krankenhauses. „Also alle, außer die Chefin.“, ergänzte Sakima belustigt. Geräuschvoll atmete Saya aus und stützte den Kopf auf einer Hand ab. „Oh Gott, was würde die Versicherung da sagen? Und erst die rechtliche Lage…“ Der Indigoner lachte auf. „Hey, ist doch alles gut gelaufen.“ Saya funkelte ihn vorwurfsvoll an. „Ich will nicht wissen, was für Fälle du ihm erst in der Gerichtsmedizin vorgelegt hast.“ Sakima grinste schelmisch, antwortete aber nicht darauf. Eagles und Carstens Stiefmutter fuhr sich durch die nussbraunen Haare, als wäre es ihr unmöglich auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können. Während also nun Sayas Weltbild zerstört wurde, stellte sich das der Mädchen allmählich wieder her. Erleichtert atmete Laura auf. „Es ist doch noch unser Carsten.“ Dieser betrachtete sie verwirrt. „Wieso sollte ich das nicht sein?“ Dass er wohl noch nicht einmal bemerkte wie anders er sich in Gegenwart dieser Leute verhielt, machte die ganze Sache noch amüsanter. Ariane streckte sich. „Das heißt so viel wie: Du kannst gerne etwas von der Lockerheit von diesem Carsten an deine schüchterne Seite abgeben.“ Lissi kicherte. „Definitiv, dann könnte sich zwischen dir und BaNane auch endlich mal was entwickeln.“ Yma klatschte begeistert in die Hände. „Oh, eine Freundin?!“ Lakota machte eine Art Gewinner-Pose. „Ich wusste doch, dass so eine Schule viel besser zu ihm passt!“ Carsten seufzte, erwiderte aber nichts. Ariane lachte in sich hinein. Anscheinend war diese Schüchternheit doch schwerer zu überwinden als gehofft. Schließlich merkte Susanne bewundernd an: „Es ist aber schon beeindruckend, wie du mit neun Jahren bereits Medizin mit Magie verbinden konntest. Und dann auch noch in einer so schwierigen Situation.“ Kichernd meinte Yma: „Aber es passt zu ihm. Schließlich begleitet diese Kombination ihn schon seit seiner… nein, sogar vor seiner Geburt.“ „Hä?“, machte Laura. Saya schien den Schock allmählich verdaut zu haben. Zumindest seufzte sie, schüttelte aber belustigt den Kopf. „Ich hatte euch doch erzählt, dass ich Carsten damals ans Sisikas Stelle ausgetragen hatte.“ Susanne verstand, worauf sie hinauswollte. „Diese Art ‚Übergang‘ habt ihr über Magie gemacht?“ Saya nickte. „Es war ein ziemlich riskantes Unterfangen gewesen, aber wir hatten eine sehr gute Heilmagierin und am Ende ist alles gut gelaufen.“ „Es ist schon erstaunlich, wozu Magie alles in der Lage ist.“, gab Lakota ihr entschieden recht. „Und wie! Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Möglichkeiten es gibt, Magie in der Medizin anzuwenden? Nicht nur, dass man bei Operationen viel besser an kritische Stellen kommt, auch was die Narkose betrifft gibt es sicherere Wege. Und erst in der Forschung, da könnte man… “ Das Funkeln in Carstens lila Augen sprach Bände darüber, wie viel dieses Thema ihm bedeutete und mit wieviel Herzblut er bei der Sache war, während er unzählige Möglichkeiten auflistete, wo Magie sonst noch alles Anwendung in der Medizin finden könnte. Während die Ärzte ihn daran erinnerten, dass er nicht alles auf einmal machen könne -und dabei auch noch irgendwie versuchten ihn für ihren jeweiligen Fachbereich zu gewinnen- konnte sich Ariane ein Grinsen nicht verkneifen. Das war er, der Carsten den sie näher kennenlernen wollte. Staunend lehnte sich Öznur in ihrem Stuhl zurück. „Krass… Das ist einfach der Wahnsinn…“ Eagle nickte nur. „Ja, das ist es wohl.“ Mitleidig stellte Ariane fest, dass es ihm alles andere als gut bekam, diese lockere und aufgeschlossene Seite von Carsten kennenzulernen. Vermutlich aus dem Grund, da er sich so langsam aber sicher schmerzhaft bewusst wurde, was er Carsten durch ihre gemeinsame Vergangenheit geprägt von Hass und Nicht-Akzeptanz alles zerstört hatte… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)