Gegensatz und Vorurteil von Ana1993 (- Ehemals Schubladenmagnet -) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ich wage mal ein kleines Experiment mit wechselnden Perspektiven im Ich-Erzähler-Stil. Die Wechsel werden immer kenntlich gemacht und erfolgen möglichst szene- oder gar kapitelweise, damit es kein unnötiges Kuddelmuddel gibt ;)     ~ 1 ~   Joshuas POV   Genervt trete ich aus dieser verflixten Lehranstalt raus und betrachte – noch genervter – den verheißungsvollen, düsteren Himmel. Wehe, es fängt an zu regnen! Ich ziehe mir meine Kopfhörer über die Ohren und starte meinen Musikplayer. Sofort dröhnen mir herrliche Gitarrenriffs und saftige Drums in die Ohren und pusten mir die neuesten Erinnerungen an unfähige Lehrkörper und nervige Mitschüler aus den Ohren. Kurz rechne ich nach. Wir haben November, sprich, ich muss noch ungefähr anderthalb Jahre in dieser Irrenanstalt durchhalten, dann hab ich mein Abi in der Tasche. Da ich schon über elf Jahre hinter mir habe, sollte das doch machbar sein, oder? Nur, dass ich aktuell gar keine Lust mehr besitze. Der Wind frischt auf, weht mir einige Strähnen meiner schulterlangen, schwarzen Haare ins Gesicht und meinen Mantel um die Beine. Sicherheitshalber schultere ich meinen wertvollen Bass neu, bevor er auch noch neu arrangiert wird und beeile mich etwas, in den Gassen der Stadt zu verschwinden, wo mir das Wetter nicht ganz so stark zusetzen kann. Bis zu unserer Bandprobe ist noch reichlich Zeit, deshalb verzichte ich auf den überfüllten Bus und gehe zu Fuß. Der Weg ist, wenn man die Abkürzungen kennt, auch durchaus machbar und bedeutend entspannter. Gerade passiere ich eine Seitenstraße, als aus eben dieser Geschrei dringt. Ich stoppe, gehe zwei Schritte zurück und betrachte die absurde Szenerie, die sich mir bietet. Ohne weiter nachzudenken, schreite ich ein. „Ey, ihr da! Was soll der Scheiß, sind wir hier in einem schlechten Hollywoodfilm oder was!?”, pöble ich drauflos und habe sofort die Aufmerksamkeit der drei Möchtegernschläger. Da ich einen Spiegel besitze – auch wenn mir manchmal abgestritten wird, in diesen zu sehen, was Blödsinn ist, denn laut meinen Schwestern bin ich eitler als jeder Pfau - weiß ich, dass ich mit meinen fast 1,90m und den breiten Schultern, okay und nicht zuletzt durch die meist in schwarz gehaltene Kleidung, durchaus bedrohlich aussehen kann. Meine tiefe Stimme, die der Stimmbruch vor einigen Jahren hinterlassen hat, tut ihr Übriges. Ich liege auch diesmal richtig. Die drei Idioten überlegen nicht lange, bevor sie den inzwischen geleerten Rucksack ihres Opfers von sich schmeißen und feige die Beine in die Hand nehmen. Kopfschüttelnd sehe ich ihnen nach und widme mich dann der halben Portion auf dem Boden, die immer noch auf dem gleichen Fleck sitzt, mit dem Rücken an einen baufälligen Maschendrahtzaun gelehnt, und bedröppelt dreinschaut. Da ich ja ein netter Mensch bin – was mir ebenfalls gerne abgesprochen wird – ziehe ich meine Kopfhörer in den Nacken und hocke mich neben den blonden Jungen, um ihm zu helfen, seine verstreuten Unterlagen vor dem Wind zu retten. Der erwacht endlich aus seiner Starre, senkt den Kopf, wobei ich nicht sagen kann ob aus Angst oder Scham, und greift nun ebenfalls zu. Ich klaube ein Buch vom Boden auf und halte bei näherer Betrachtung inne. Das Cover kommt mir bekannt vor, etwas zu bekannt. Es ist ein Schulbuch, das ich selbst in meiner Tasche habe. Oder im Spind. Oder zu Hause. Auf jeden Fall, ein Buch zur Unterrichtung der zwölften Klasse eines Gymnasiums. Ich blinzle, doch das Motiv ändert sich nicht. Irritiert blicke ich zu der halben Portion neben mir. Der da soll in meinem Jahrgang sein? Ich hätte ihn einige Jahre jünger geschätzt, um ehrlich zu sein. Von welcher Schule auch immer er kommt. Als hätte er meinen Blick gespürt, hebt der Junge seinen Kopf und ich blicke in die größten, tiefblauesten Augen, die ich je in meinem Leben gesehen hab. Lange Wimpern umrahmen diese Ozeane, wie man es eher bei einem Anime-Girl, aber nicht bei einem Wesen aus Fleisch und Blut erwarten würde. „Vielen Dank”, spricht es, mit einer Stimme wie ein Engel und dann passiert das Unglück. Es – er – lächelt, nein, strahlt mich an. Tausend wirre Gedanken schwirren durch meinen Kopf, doch nur einer bleibt hängen: 'Scheiße, ich habe ein Problem.'   Einige Zeit später komme ich in unserem Probenkeller an. Mein Schädelinhalt hat aufgehört sich zu drehen, doch dafür herrscht in meiner Birne jetzt absolute Stille. Auch nicht besser. Immer wieder sehe ich diesen schmächtigen Jungen mit den blonden, kinnlangen Haaren und diesen verbotenen Augen vor mir. Paul. Was ein altmodischer Name. Und doch, er passt zu dem hübschen Kerl. Wobei, zu ihm würde auch Sigmund Justin Herbert passen. Ein bisschen wie mit Kleidung, die richtige Person kann eben alles tragen. „Ey, Josh, hör auf Löcher in die Wand zu starren und hilf mir mal!”, ruft mir ein Mädchen mit rubinroten Haaren aus einer Ecke zu, während sie mit ihrem Schlagzeug kämpft. Ich gehe ihr bereitwillig zur Hand, bleibe aber weiter geistig abwesend. „Sag mal, Soph, kennst du einen Paul aus unserem Jahrgang?”, frage ich, möglichst beiläufig. Sophie hält in ihrem Tun inne, schaut erst mich durchdringend an und wechselt dann einen undeutbaren Blick mit den Personen in meinem Rücken. „Ja...”, beginnt sie gedehnt. „Du meinst das kleine, blonde Muttersöhnchen, oder? Hast du mit dem nicht Geschichte und Englisch?” Habe ich? Oh shit, bitte lass das nicht wahr sein! Das Engelchen hätte sogar ich bemerkt, oder etwa nicht? Gut, ich strafe meine Mitschüler mit Nichtbeachtung, seit ich nicht mehr das Gefühl habe, irgendwer außerhalb meines Dunstkreises wäre meine Beachtung wert, aber ich würde doch wohl bemerken, wenn ich Unterricht mit so einem Wesen haben würde! „Was ist denn jetzt mit dem?” Sophie klingt, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen will. „Josh, du nutzloser, hormongesteuerter Idiot! Sag nicht, du hast wieder deinen Schwanz denken lassen?!” Diese schrille Stimme, die mich da ausschimpft, gehört eindeutig meiner älteren Schwester Alexis. „Was? Nein!” Doch. Schuldig, in allen Anklagepunkten. Aber ich würde mir lieber eben diesen Schwanz abhacken, als das zuzugeben. Auch, dass es zur Abwechslung nicht nur mein liebstes Körperteil ist, was tiefergehendes Interesse an dem Blondchen anmeldet. „Hattest du nicht letztens erst die Kleine im Devils abgeschleppt?”, mischt sich da sehr sinnfrei Martin, mein Schwager in Spe, ein. „One Night Stand”, kommt es aus drei Mündern gleichzeitig. Mit schmalen Augen sehe ich von einer Frau zur anderen. Es ist zwar die Wahrheit aber trotzdem... „Wenn du ihn nicht aus Versehen flachgelegt hast” - damit spielt Sophie auf eine längst vergangene Geschichte mit dem kleinen Bruder einer Bekannten an - „warum hast du dann plötzlich Interesse an Paul?” „Hab ihn eben vor drei Typen gerettet, die ihn wohl nach Wertsachen filzen wollten”, erkläre ich schulterzuckend. Ist ja schließlich auch die Wahrheit, nur nicht die ganze. „Ach Joshi, du bist zu gut für diese Welt”, verkündet Olli, unser falscher Wikinger, seufzend und klopft mir auf den Rücken. „Immer bereit, die holde Jungfer vor dem bösen Drachen zu retten.” „Ja, um dafür zu sorgen, dass sie demnächst nicht mehr geopfert werden kann, weil sie keine Jungfrau mehr ist”, kommentiert meine liebe Schwester trocken. „Alexis! Bitte!”, flehe ich. „Du tust so, als würde ich alles ins Bett zerren, was nicht bei drei auf dem Baum ist!” „Von Bett war nie die Rede-” „Schwesterherz! Erbarme dich!” „Ja ja...” Nun, ich bin kein Kind von Traurigkeit, aber ein dauergeiles Karnickel, wie meine liebe Schwester mich darstellen will, bin ich nun auch nicht. Und Jungfrauen sind jetzt auch nichts, was ich unbedingt brauche. Viel lieber sind mir Sexpartner, die offen sind und wissen, was sie wollen. Alles andere ist mir zu anstrengend und ich bin in solchen Dingen faul. So faul, dass ich mir nicht einmal die Mühe mache, besonders lange um eine potentielle Eroberung zu kämpfen. Entweder mein Gegenüber hat Interesse oder eben nicht. Nachdem keine weiteren Sticheleien mehr kommen, gehe ich an meinen Platz zurück und befreie meinen geliebten Bass aus seiner schützenden Hülle. Mattschwarz begrüßt mich das Mahagoniholz des Korpus, die dezenten Verzierungen glänzen in poliertem Chrom. Der, ebenfalls in schwarz gehaltene, Hals aus Ahorn wird von 5 fein abgestimmten Saiten überspannt. Andächtig nehme ich mein Baby aus seinem Koffer und puste einige Staubkörner hinfort, die es wagen, sich auf meinem Heiligtum niederzulassen. Ewigkeiten habe ich dafür in meiner Freizeit schuften müssen, bis mein Konto endlich den passenden Betrag anzeigte, doch jede einzelne, qualvolle Minute ist es mir wert gewesen. „Okay, hat jeder die Playlist für heute im Kopf? Ich würde vorschlagen, wir halten uns an die gewohnte Reihenfolge und gucken, wo es hapert?” Alexis hat das Ruder – und das Mikrofon – an sich gerissen und blickt uns nacheinander an. Da es niemand wagt, Einwände zu erheben, machen wir es genau so. Also wie eigentlich immer, seit die Songs im Groben und Ganzen stehen. Neue Stücke gibt es zwar auch, aber die kommen immer erst zum Schluss, wenn die Standardaufstellung einigermaßen geklappt hat und sich alle warm gespielt haben. Und obwohl mich die Musik vollkommen in Anspruch nehmen sollte, bleibt doch eine kleine Lücke, in die sich ein schmächtiger Junge mit ausdrucksstarken Augen drängen kann.   ~*~   Pauls POV   Der Schlüssel dreht sich im Türschloss und erzeugt ein unnatürlich lautes Knacken, als er den Zugang zu der Doppelhaushälfte freigibt, in das ich wohl oder übel eintreten muss. Die taubenblaue Farbe am Holz der Türe blättert bereits besorgniserregend stark vom Untergrund ab und ich bilde mir ein, Farbsplitter herabrieseln zu sehen, als die mit einem dumpfen, endgültigen Knall hinter mir ins Schloss fällt und den winzigen, verwilderten Vorgarten aussperrt. „Bin wieder zu Hause”, rufe ich, nicht sonderlich hoffnungsvoll, in den kahlen Flur, der mich in seiner Düsternis zu ersticken droht. Mir antwortet nur Stille. Was habe ich auch anderes erwartet? Lustlos schlurfe ich in mein Zimmer im Erdgeschoss. Ungewöhnlich, für so ein schmales Haus, doch wozu sollte der große Raum weiter als Wohnzimmer eingerichtet bleiben, wenn er ohnehin nie gebraucht wird? Besuch gibt es schon lange keinen mehr und noch länger auch keine Familienabende, die über eine gemeinsam eingenommene Mahlzeit hinausgehen. Ich stelle meinen Rucksack, der zum Glück heil aus der Angelegenheit herausgekommen ist, auf dem alten Sofa ab, das die Umräumaktion überlebt hat. Dann mache ich mich auf den Weg in die Küche. Hier empfängt mich neben gähnender Leere auch noch das Chaos aus Töpfen, Pfannen und benutzten Tellern der letzten Tage. Ich überlege, doch finde keine Motivation, jetzt noch zu spülen. Auf einen Tag und einige Utensilien mehr kommt es auch nicht mehr an. Der Inhalt der Schränke lässt zu wünschen übrig. Frische Zutaten sind keine mehr zu finden, wenn man eine schrumpelige Zwiebel nicht als frisch betiteln will und bis auf eine Packung Milch ist der Inhalt des Kühlschranks auch nutzlos. Ich werfe einen Blick zu der kleinen Dose, in der wir unsere 'Haushaltskasse' aufgewahren. Also das Geld, was ich verwenden darf, um einzukaufen, wenn mein Vater nicht dazu kommt, was mehr Regelmäßigkeit als Ausnahme darstellt. Ein ausgeblichener Post-It klebt daran. Ich muss ihn eigentlich nicht lesen um zu wissen, was er aussagt, aber ich tue es trotzdem. 'Sry, kam nicht zum einkaufen' Ich schnaube. Offensichtlicher ging es wohl nicht. Kurz überlege ich, mich noch auf mein klappriges Rad zu schwingen und dem Supermarkt einen Besuch abzustatten, aber ein Blick aus dem Fenster lässt mich die Idee verwerfen. Dicke Regentropfen fallen, noch recht träge, aus den tiefhängenden Wolken. Es ist innerhalb weniger Minuten so dunkel geworden, dass ich notgedrungen das Licht anschalte. Mal sehen. Die Zwiebel mag zwar schon etwas älter sein, ist aber noch genießbar. Nudeln habe ich zum Glück immer einen guten Vorrat da und ganz hinten im Schrank finde ich noch passierte Tomaten. Mit ein bisschen Gewürzen und dem angetrockneten Käserest im Kühlschrank lässt sich zumindest eine akzeptable Mahlzeit zaubern. Nur für morgen früh werde ich wohl den Bäcker aufsuchen oder mich in der Schule Ewigkeiten an den Kiosk anstellen müssen, denn von Brot oder Müsli ist keine Spur zu finden. Die Schnippelei hält sich in Grenzen und so sitze ich alsbald tatenlos auf der Anrichte und beobachte die zwei Töpfe beim köcheln. Unbewusst reibe ich mir über eine Schramme am Handballen, die ich mir heute zugezogen habe. Mich überläuft ein Schaudern als ich daran denke, was mir noch alles hätte passieren können. Nicht, dass ich nicht in der Vergangenheit schon mal vermöbelt worden wäre, aber auf eine Wiederholung kann ich gerne verzichten. Meine Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln, als ich an meinen dunklen Retter denke. Joshua geht in meine Stufe, auch wenn er sich ganz offensichtlich nicht an mich erinnern kann. Mein Lächeln verblasst. Warum sollte er auch? Ich bin ein unscheinbares Nichts. Bis auf meine wenigen Freunde, die dazu noch ein Jahr über mir sind, beachtet mich keiner. Eigentlich ist mir das auch ganz lieb so, soziale Interaktionen liegen mir nicht, ich bekomme häufig kein Wort heraus und meine Körpersprache ist meist nur als 'abwehrend' zu bezeichnen, aber dass Joshua nicht einmal wusste, dass wir seit über einem Jahr mehrere Kurse zusammen besuchen, hat doch erstaunlich wehgetan. Ein Zischen von meiner linken Seite lässt mich erschrocken hochfahren. Das Nudelwasser hat meine geistige Abwesenheit genutzt und ist übergekocht, nur um jetzt lautstark am Rand der heißen Herdplatte zu verdampfen. Hektisch greife ich nach einem Lappen, während ich mit der anderen Hand den Topf vom Herd ziehe. Die neuen Wasserflecken sind auf der zerkratzten Glasplatte kaum zu erkennen und werden, ähnlich wie die volle Spüle, auch noch bis morgen warten können. Sicherheitshalber drehe ich die Hitzestufe ein wenig runter, bevor ich die Nudeln zurückstelle. Wo ich einmal da bin, kann ich auch die Soße umrühren und auch hier die Gradzahl reduzieren. Den harten Käse zu reiben ist schon eine kleine Herausforderung für meine nicht vorhandene Armmuskulatur, doch schlussendlich habe ich ein kleines Häufchen auf dem Teller zusammen. Jetzt nur noch die Soße abschmecken und die Nudeln abgießen und fertig sind die 'Penne alla Paul'. Mit meinem Teller verziehe ich mich wieder in mein kleines Reich. Genauer gesagt vor mein Heiligtum: Mein PC. Der einzige Ort, an dem ich mich kompetent fühle und an dem mir so schnell niemand das Wasser reichen kann. Per Knopfdruck erwachen zwei meiner drei Monitore zum Leben und der eigentliche Computer startet seinen Dienst. Noch bevor ich den ersten Bissen meines Abendessens im Mund habe, kann ich mein Passwort eingeben und schon mir steht die digitale Welt offen. Ich lasse meinen Messenger links liegen, auch wenn dort schon einige neue Mitteilungen blinken und suche auf Twitch nach einem meiner Lieblingsstreamer. Ich habe Glück, er ist nicht nur auf Sendung, sondern zockt ein Spiel, welches erst in Kürze in den offiziellen Handel kommt und für mich mehr als interessant ist. Zufrieden lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und lasse mir meine Nudeln schmecken. Mein kabelloses Headset auf den Ohren, kann ich die trostlose Umgebung gekonnt ausblenden und mich ganz in der Welt aus Pixeln, Polygonen und Programmcodes verlieren.     ~*~   So, ein recht kurzes Kapitel zur Einleitung ;) die nächsten werden länger, versprochen! Kapitel 2: ----------- ~ 2 ~   Joshuas POV   Mit einer fahrigen Bewegung streiche ich mir die verschwitzten Strähnen aus der Stirn. Musik machen ist verdammt harte Arbeit und meinen Bandkollegen und mir sieht man es leider auch an. Bei einem Auftritt hat das ja noch einen gewissen Sexappeal, hier im Proberaum ist es einfach nur eklig. Helfen tut in beiden Fällen aber das Gleiche: Kühles Bier. Ein solches wird mir just in diesem Moment von Sophie angereicht, ehe sie sich neben mich auf den Boden setzt und an die Wand lehnt. „Prost.” Klirrend stoßen die Flaschen aneinander, ansonsten genießen wir die ersten Schlucke schweigend. Ich beobachte einen Tropfen Kondenswasser dabei, wie er erst langsam am Flaschenhals hinabläuft, immer mehr Tröpfchen aufnimmt, immer größer und schneller wird, nur um am Ende von meinem Finger gestoppt zu werden. Tragisches Schicksal. So ein Pech aber auch. Träge verwische mit dem Stopperdaumen die Feuchtigkeit auf der Oberfläche der Glasflasche. „Ich fasse es immer noch nicht, dass ich bis heute gar nicht wusste, wer so in meinen Kursen sitzt...”, murmle ich, mehr zu mir selber. Sophie hört mich trotzdem, ihrem Schnauben nach. „Mach dir nichts draus”, meint sie nach einem Moment. „Du bist ein Kerl, ab einem bestimmten Alter denkt ihr nur noch mit dem Schwanz und der hat offenbar beschlossen, das blonde Muttersöhnchen als 'nicht fickbar' und 'keine Konkurrenz' abzustempeln.” Ich rolle genervt mit den Augen, als mir zum zweiten mal an diesem Tag so ein dämliches Klischee um die Ohren gehauen wird. „Und mit was denkt ihr Frauen? Mit euren Brüsten?”, entgegne ich sarkastisch. „Unter anderem.” Gleichmütig zuckt sie mit den Schultern. „Vielleicht denken wir deswegen mehr? Weil wir mehr und größere Bereiche als Kapazitäten haben?” Stöhnend schüttle ich meinen Kopf und erhebe mich. Noch so ein dummer Spruch und ich werde wahnsinnig! In der Hoffnung auf etwas mehr Realitätsnähe und etwas weniger Schwachfug, geselle ich mich zu Olli und Alexis. Der große Kerl wirft sich die braune, gewellte Haarpracht hinter die Schulter und nickt zu den Ausführungen meiner Schwester, die sich um die Abstimmung von Gesang und Gitarrensolo drehen. Für mich zwar nicht ganz so relevant, aber interessanter als diverse geschlechtsspezifische Theorien. Während die zwei über den perfekten Übergang diskutieren, schweifen meine Gedanken zurück zu Paul. Wie er hilflos und seltsam resigniert auf dem Boden gehockt hat, während die drei Vollpfosten seine Tasche und im Anschluss vermutlich auch noch ihn selbst auseinander nehmen wollten. Und im krassen Gegensatz dazu, das strahlende Lächeln, mit dem er mir für mein Eingreifen gedankt hat und das mir einfach nicht mehr aus dem Kopf will. Wir haben nicht mehr viele Worte miteinander gewechselt, ehe sich unser Weg trennte, aber jedes einzelne habe ich von seinen rosigen Lippen gesaugt. Diese helle Stimme alleine könnte mich vermutlich schon zu allen Straftaten der Welt verführen, aber in Kombination mit diesen blauen Seen, die er Augen nennt? Unbewusst entweicht mir ein lautes Seufzen, während ich innerlich den Philosophen spiele. Plötzlich trifft mich eine Schlag auf den Hinterkopf und holt mich in die Realität zurück. „Aua! Was soll denn das?” Mit Schmollmund gucke ich meine große Schwester an und reibe mir theatralisch den Hinterkopf. Die Schnepfe hat aber auch einen Hau drauf! „Nicht sabbern, du Idiot. Sag uns lieber deine Meinung.” „Meinung?” Verwirrt blicke ich von einem zum anderen. „Na, ob du meinst, dass 'One look into heaven' schon bereit für den Gig in zwei Wochen ist, oder nicht”, schreitet Olli erklärend ein. Vermutlich präventiv, bevor es zu einer unserer berühmten Rangeleien kommen kann. Ich bin nämlich mit einer sehr streitsüchtigen Schwester gestraft deren zukünftiger Ehemann sich leider überhaupt nicht dazu eignet, weshalb immer noch ihre Geschwister herhalten müssen. Und aus unerfindlichen Gründen fällt ihre Wahl bevorzugt auf mich. Völlig unverständlich! „Sind doch noch zwei Wochen. Bis dahin bekommen wir die kleinen Macken noch raus und wenn nicht, fällt das live eh keinem auf”, gebe ich meine Meinung schulterzuckend kund. Dank Vitamin B dürfen wir inzwischen schon zum dritten Mal an einem Wochenende in einer kleinen Szenebar auftreten. Da man uns die ersten beiden Male nicht von der Bühne gebuht oder mit faulem Gemüse beworfen hat, können wir wohl annehmen, dass es dem Publikum ebenfalls zusagt. Die Kasse stimmte an den Abenden immerhin, wie uns der Besitzer freudestrahlend mitteilte. Für den dritten Auftritt wollen wir mehr auf eigene Stücke setzen und die Cover mehr als Zugaben und Stimmungsheber einbauen. Mal gucken, wie das wird. Ich freue mich auf jeden Fall schon wie ein kleiner Schneekönig. Also, das Negativbild eines Schneekönigs. Oder so. „Ich will aber das es perfekt wird!”, beharrt meine Schwester ziemlich kindisch. „Ach Schatz, ich weiß es wird perfekt”, mischt sich ihr Zukünftiger ein und ich weiß nicht, ob er sie damit ernsthaft beruhigen oder einfach nur hinterrücks Öl ins Feuer gießen will. So oder so ergreife ich mit unserem Wikinger lieber mal die Flucht.   Am nächsten Morgen bin ich – zur Überraschung aller – mehr als zeitig aus dem Haus gestürmt und stehe mir nun seit über zehn Minuten am Haupteingang der Schule auffällig unauffällig die Beine in den Bauch. Für gewöhnlich treffe ich mich mit meinen Leuten am Nebeneingang, weshalb mir von denen zum Glück keiner den unausgereiften Plan durchkreuzen kann. Nur für den Fall, dass um diese Uhrzeit überhaupt schon jemand von denen da sein sollte. Nervös streiche ich mir meine Haare hinter das Ohr. Dank wohlig duftender Arganöl-Mandelmilch-Spülung sind die Strähnen wunderbar weich und fließen wie Seide durch meine Finger. Ich liebe das Gefühl! Damit ich aber nicht nur nach Haarpflegeprodukten rieche, habe ich noch ein dezentes Parfüm aufgelegt, schließlich muss ich ja nicht nach etwas riechen, nur weil ich es benutze. Als Kombinationsparter für mein schwarzes Hemd habe ich heute Ewigkeiten in meinem Schrank nach der passenden schwarzen Jeans gesucht. Schwarz ist nicht gleich schwarz! Das eine ist schon leicht grau, ein anderes tendiert ins rote oder blaue. Nicht auszudenken, wenn die Töne zu stark unterschiedlich sind! Wie sieht das denn aus!? Habe ich schon mal erwähnt, dass ich dezent eitel bin? Nein? Gut, denn es stimmt nicht. Also, das dezent. Die Eitelkeit muss ich leider unterschreiben. Und zu allem Überfluss muss ich mir morgens mit zwei Schwestern und einem Bruder das Badezimmer teilen, die alle noch viel schlimmer sind, als ich. Und ja, das geht. Zu der Zeit, als ich noch über meine Wangen streiche und mich frage, ob ich mich vielleicht doch hätte rasieren sollen, taucht das Objekt meiner schlaflosen Nacht in meiner unmittelbaren Nähe auf. Verschlafen reibt er sich mit einer Hand die Augen, in der anderen hält er eine Bäckereitüte. Bei dem Anblick knurrt mein Magen und erinnert mich an das ausgefallene Frühstück. Möglichst beiläufig schlender ich auf ihn zu. Ich hab keine Ahnung, was und wie ich hier mache. Und warum. Obwohl, doch, warum weiß ich. „Hi, Paul”, quatsche ich den Blonden einfach mal dumm an. Irgendwo muss ich ja beginnen. Erschrocken blicken mich blaue Augen an, getrübt von einem dunklen Schatten, der jedoch schnell einem freudigen Glitzern weicht, als er mich erkennt. Mit einem schüchternen Lächeln zieht er sich den kleinen, von Haaren verdeckten Kopfhörer aus dem Ohr. „Oh, hallo Joshua”, begrüßt er mich mit seiner hellen Engelsstimme. Zumindest stelle ich mir eine solche auf diese Weise vor.     Pauls POV   Ein bisschen erstaunt blicke ich zu dem Schwarzhaarigen auf, der mich so unvermittelt angesprochen hat. Meine Hand greift die Papiertüte etwas fester, als könnten mir die Fasern Halt geben. Obwohl seine Erscheinung wirklich beeindruckend ist, vor allem aus meiner deutlich kleineren Perspektive, macht er mir keine Angst. Trotzdem ist er immer noch ein Fremder und vor denen scheue ich instinktiv zurück. „Also, ich dachte-... Ich wollte nur fragen, ob alles in Ordnung ist”, setzt Joshua noch einmal neu an. „Wegen gestern. Ich glaube, ich hab gar nicht richtig gefragt, ob die Idioten dich verletzt haben.” Bei der Erwähnung der mehr als peinlichen Geschichte röten sich meine Wangen und ich senke den Kopf, um sie zu verstecken. „Ne, haben sie nicht. Danke nochmal”, sage ich, während meine Hände das umgeschlagene Ende der Papiertüte kneten. Da kommt mir eine Idee. „Magst du vielleicht einen Kaffee? Also, es ist nicht viel und eigentlich als Dankeschön total lächerlich, aber...” Unsicher beende ich meine Stammelei und blicke wieder schüchtern zu ihm auf. Doch statt mich auszulachen oder genervt von mir zu sein, wie es fast alle Menschen nach kurzer Zeit sind, lächelt er mich nur freundlich an und nickt. „Klar, gerne”, stimmt er meinem Vorschlag zu. „Und mit Kaffee kann man mich eigentlich immer bestechen.” Sein verschmitztes Zwinkern zaubert auch mir wieder ein Lächeln ins Gesicht. Froh um ein kurzweiliges Ziel, mache ich mich auf den Weg zum Schulkiosk, die große Gestalt wie einen überdimensionalen Schatten an meinen Fersen. Selbst um diese Uhrzeit stehen schon einige vor der halbhohen Mauer mit den bunt bestückten Glasfronten an und hoffen auf frische Heißgetränke und das ein oder andere süße Gebäckteil oder die belegten Brötchen. Um mich von meinem Schatten und den neugierigen Blicken um mich herum abzulenken, betrachte ich die Auswahl an belegten Stücken. Wie befürchtet, ein einsames Gouda-Brötchen, der Rest mit Frikadellen, Schnitzel und Co. Ich kann es dem Hausmeister wohl kaum verübeln, dass er sich an dem orientiert, was am Häufigsten gefragt wird, trotzdem ärgert es mich ein bisschen. Aber ich mag die kleine Familienbäckerei am Park eh sehr gerne und wenn ich die Wahl hätte, würde ich vermutlich trotzdem zu den selbstgemachten Teiglingen tendieren, anstatt zu vorgefertigter Fabrikware. Meine Grübelei wird unterbrochen, als wir weiter vorrücken und ich anstelle auf Nahrungsmittel in das freundliche, ältere Gesicht unseres Hausmeisters blicke. „Hallo. Einen Milchkaffee und äh...” Schon wieder peinlich berührt, blicke ich zu Joshua auf. Ich Dussel hab doch glatt vergessen zu fragen, was für einen Kaffee er gerne hätte. „Einen normalen Filterkaffee, bitte”, springt er mir bei. Meinen Fauxpas übergeht er geflissentlich, seine Manieren sind eindeutig besser als meine. „Beides in groß. Dankeschön”, vervollständige ich die Bestellung und lege schon mal das Geld bereit. „Hier, bitteschön.” Der nette Herr stellt mir die Pappbecher vor die Nase und ich nehme beide, trage sie zum Beistelltisch, auf dem Zucker und Milch stehen. Doch noch bevor ich dort ankomme, streifen warme Finger die meinen und mir wird der zweite Becher aus der Hand genommen. Erschrocken zucke ich zurück und hätte dadurch beinahe den kostbaren Inhalt über den Boden verteilt. Joshua reagiert schnell genug und kann das Schlimmste verhindern, trotzdem landen einige Spritzer Heißgetränk auf seinen Finger. Zischend saugt der Größere Luft durch die Zähne und ich befreie mich aus meiner kurzen Schockstarre und greife nach dem Stapel Papierservietten. „Sorry, sorry, sorry!”, gebe ich schuldbewusst von mir und tupfe hektisch an seinen Fingern herum, bis er mir die Tücher aus der Hand schnappt. Frustriert balle ich die Hände zu Fäusten und sehe zu Boden. Für nichts bin ich zu gebrauchen! „Nein, nein. Alles gut, war meine Schuld. Hätte ja was sagen können”, wiegelt er ab, doch sein Unterton klingt komisch. Vermutlich will er mein schlechtes Gewissen nur nicht verschlimmern. Na super, erst überschütte ich meinen Retter mit seinem Danke-Kaffee und dann bringe ich ihn auch noch in eine unangenehme Lage. Ein Knuff gegen meine Schulter lässt mich erneut zusammenfahren, diesmal aber ohne weiter Malheurs in die andere Richtung blicken, in das amüsiert grinsende Gesicht meines Kumpels Matthias, der von allen nur Matz genannt wird. „Hier hast du dich versteckt!” Er würdigt meinen Stufenkollegen keines zweiten Blickes, dafür aber sehr wohl den Bechern. „Und mir hast du keinen mitgebracht!?” Gewohnt theatralisch klatscht er sich die Hände an die Wangen und sieht mich mit großen Augen an, die vermutlich einen traurigen Hundewelpen imitieren sollen. Bevor ich mich schon wieder schuldig fühlen kann, jetzt, weil ich nicht daran gedacht habe, dass es schon mehr oder weniger Brauch bei uns ist, allen einen Kaffee zu holen, wenn man als erster in der Schule und am Kiosk ist, schreitet auch schon ein vierter Junge ein. „Matz, lass den Quatsch. Paul kann doch nicht ahnen, dass du auch einen willst.” Dabei mustert der dunkelblonde Charly verstohlen die Gestalt auf meiner anderen Seite durch die Gläser seiner Brille und wendet sich anschließend fragend an mich. Ich setze zu einer Erklärung an, doch Joshua kommt mir zuvor. „Danke für den Kaffee, Paul. Ich... geh dann mal. Wir sehen uns später im Unterricht.” Noch während er spricht, hebt er grüßend die Hand und entfernt sich schließlich von uns. Etwas ratlos blicke ich ihm nach. Habe ich etwas Falsches gesagt? Nein, eigentlich habe ich gar nichts gesagt. Schulterzuckend wende ich mich wieder meinen Freunden zu, die allerdings immer noch dem anderen hinterher blicken. „Wer war das denn?”, fragt auch schon Matz, neugierig wie er ist. „Joshua, einer aus meiner Stufe”, erkläre ich bereitwillig. „Komischer Typ.” „Ach, ich glaube, der ist echt ganz okay”, erwidere ich lächelnd. Den peinlichen Vorfall von gestern verschweige ich lieber. „Matz, hör auf Leute zu beurteilen, die du gar nicht kennst”, belehrt Charly ihn. Manchmal habe ich das Gefühl, er ist seine personifizierte Vernunft. Oder zumindest ein Erdungskabel. „Ay, Chef!” Salutierend schlägt sich der Zurechtgewiesene die Faust vor die Brust. „Und hör auf mit dem Quatsch.” „Jawohl, Chef!” „Und du fragst dich, warum dir niemand Kaffee holt...” „Es ist mir völlig unverständlich”, kommentiere ich den albernen Austausch schmunzelnd. „Mir auch”, schmollt Matz gespielt. „Mir nicht.” Seufzend und kopfschüttelnd macht sich Charly auf den Weg zu unserem kleinen Stammplatz. Im innenliegenden Pausenhof der Oberstufe haben wir uns im Laufe der Zeit eine Bank gesichert, an die sich für gewöhnlich sonst niemand setzt. Zumindest im Sommer, wo sich alle draußen zwischen die lauten Unter- und Mittelstufen quetschen und wir hier drinnen die Ruhe genießen und jetzt zur kalten Jahreszeit ist der Platz einfach schon reserviert. Theoretisch hätten wir sogar die Möglichkeit uns in einen Computerraum zu setzen, aber die Rechner sind vermutlich wortwörtlich aus dem letzten Jahrhundert. Und obwohl ich schon vor Ewigkeiten einen Weg gefunden habe, die Zugangsbeschränkungen zu knacken, bringt uns das nicht viel, wenn das Laden einer Website die halbe Pause dauert. Und alle lauffähigen Programme verlieren schnell ihren Reiz, wenn man privat mit deutlich fortschrittlicher Technologie spielen kann. Und hier kann auch wirklich nicht das Argument 'Retro' geltend gemacht werden! Am Platz wartet schon die Vierte aus unserer kleinen Runde. „Da seid ihr Schnarchnasen ja endlich!”, begrüßt sie uns auf ihre übliche, etwas gemeine Art, die sie wie einen Schutzschild vor sich herträgt. „Mussten noch unser Nesthäkchen einsammeln”, behauptet Matz und klopft mir auf die Schulter. Er spielt darauf an, dass ich im Gegensatz zu den drei angehenden Abiturienten erst in der zwölften Klasse bin. Ja, unsere Schule war eine der ersten, die dankbar zurück auf G9 gewechselt sind. Wenn es nach unserer Schulleiterin gegangen wäre, hätten wir uns nie am Projekt G8 beteiligt. Spielerisch boxe ich ihm meinen Ellbogen in die Seite. „Danke, aber den Weg schaffe ich inzwischen alleine. Bin doch ein großer Junge.” „Für uns wirst du immer unser kleines Bübchen bleiben.” Er schafft es tatsächlich, wie eine besorgte Glucke zu klingen. Ja, es war wohl richtig, ihm nichts von gestern zu sagen. Ich stimme in das Lachen der anderen ein, auch wenn es auf meine Kosten geht. Doch ich weiß ja, wie es gemeint war. „Bübchen? Aus welchem Jahrhundert hast du denn das Wort gekramt?”, will Kathi wissen und streicht sich ihre glatten, braunen Haare zurück. „Das, meine Liebe, wird mein Geheimnis bleiben.” „Also weißt du es auch nicht”, stellt sie nüchtern fest. „Möglicherweise.” „Ich bezweifle, dass es da einen genauen Ursprung für gibt”, werfe ich nachdenklich ein. „Aber ist ja auch egal. Habt ihr gestern Abend den Stream vom kommenden Shooter bei Samurai gesehen? Der Wahnsinn!” Immer noch begeistert, von dem, was mein Lieblingsstreamer gestern Abend der Welt recht exklusiv mit einer Handvoll anderer 'Influencer' schon vorab zeigen durfte, klatsche ich in die Hände und blicke in die Runde. Charly nickt und grinst mich an, ein aufgeregtes Funkeln in den Augen. „Ja man. Wenn das wirklich alles so klappt, wie es da gezeigt wurde und die angekündigten Patches bis zum Release drin sind... also ich bin dabei.” „Da dürfte sich meine neue Grafikkarte schon bezahlt machen. Ich hoffe, die kommt noch diese Woche. Ich will nur ungerne an meinem System basteln, während ihr schon loszockt”, steigt auch Kathi mit ein. „Dafür, dass das ein Vorabmuster war, an dem eigentlich immer noch mal gepatched wird, waren die 120fps schon echt beeindruckend. Da lohnt sich deine GraKa auf alle Fälle”, stimmt Charly zu. „Die Endfassung soll über 144fps schaffen und auch konstant dreistellig bleiben. Und das im Multiplayer mit hundert anderen Spielern”, schwärme ich weiter. „Und das angeblich trotz der krassen Raytracing-Technologie. Bin gespannt, ob das wirklich so klappt”, wirft Matz ein. „Selbst wenn nicht, das sah einfach nur Hammer aus. Und die anderen Spielmodi mit weniger Teilnehmern scheinen auch interessant zu werden.” Nicht ganz unwichtig bei der Flut an Battle Royal-Shootern, die aktuell die Spielelandschaft überfluten. Bis zum ersten Klingeln des Tages dreht sich unser Gespräch um neue Engines, Hardwareanforderungen, Pro und Kontra gezeigter Gameplayelemente und bestimmt noch hundert andere Dinge, denen die meisten Menschen nicht mehr folgen können, in denen wie vier aber voll aufgehen. Manchmal frage ich mich, ob meinen Freunden bewusst ist, wie unpersönlich unsere Gespräche oftmals sind. Nicht im Sinne von distanziert und kalt, aber ich glaube, die einzigen die wirklich viele private Dinge voneinander wissen, sind Charly und Matz, die schon seit Ewigkeiten beste Freunde sind.     Joshuas POV   Langsam folge ich meinen Mitschülern in das Schulgebäude zurück. Obwohl ich eigentlich nicht kälteempfindlich bin, fand ich den kalten Novemberwind heute besonders eklig. Ähnlich eklig, wie den Zigarettenrauch, der mich hier im Raucherbereich stetig umweht, aber ganz alleine im Gebäude warten war mir auch zu doof. Dank des Kaffeebechers sind immerhin meine Finger schön warm. Der Becher, den ich dem armen Paul so ungeschickt aus der Hand gerissen habe, dass das schöne Getränk verschüttet wurde. Ich versuche nicht schon wieder daran zu denken, wie es sich angefühlt hat, als er mit seinen zarten Fingern versucht hat, die Flüssigkeit von meinen Pranken zu tupfen. Es hatte mich immerhin so aus dem Konzept gebracht, dass ich bei Ankunft seiner Freunde schlicht die Flucht ergriffen habe. Oh man, ich bin vielleicht ein Held. Ich hasse verknallt sein. Was finden die Mädels daran nur so toll? Vorher war ich noch neugierig, wie es sich wohl anfühlt, aber hätte ich geahnt, dass ich mich innerhalb von Sekunden zum Deppen machen werde, hätte ich mir eher Raupen in den Arsch gesteckt, um Schmetterlinge im Bauch zu haben. Es ist eindeutig einfacher, einen Menschen schlicht attraktiv zu finden und nur mal kurz miteinander anzubändeln und nach einer Weile wieder getrennter Wege zu gehen. Doch in diesem Fall weigern sich diverse Funktionen von Hirn und Körper, den kleinen Blonden einfach links liegen zu lassen und eine andere Richtung einzuschlagen. Jetzt schon. Dabei kenne ich ihn peinlicherweise erst seit gestern so wirklich. War ja irgendwie klar: wenn es mich erwischt, dann auch bitte direkt mit allen Klischees. Liebe auf den ersten Blick, ich als Held in strahlender Rüstung, der die holde Jungfrau beziehungsweise in diesem Fall den holden Jungmann rettet, um es mal mit Ollis Worten zu sagen. Garantiert war da auch ein Sonnenstrahl, der direkt auf Paul hinabzeigte und Engelschöre sangen Arien während sie auf regenbogenpupsenden Einhörnern über den Himmel schwebten. Hätte ich denn mal den Blick von dem einzigen Engel genommen, der in diesem Augenblick für mich relevant war. Pfui. Mich schüttelt es, allein bei der Vorstellung an so viel rosaroten Glitzerkitsch. Was stimmt nur nicht mit Menschen, die auf so eine Scheiße abfahren!? Und apropos Regenbogen: Es gilt ohnehin zunächst einmal herauszufinden, ob Paul überhaupt geneigt wäre, am männlichen Ufer zu fischen. Kann ja nicht jeder wie ich ziellos auf einem Floß herumtreiben und schauen, an welche Seite es einen diesmal zieht. Mit Pech hat er sich bereits ein festes Steinhaus auf der weiblichen Seite gebaut oder gehört mit richtig viel Pech zu denen, die sich in einer Burg mitten im Landesinneren verschanzt haben und erst gar nicht fischen wollen. Bislang ist alles möglich. In dem Maße, wie meine Gedanken abdriften, sinkt auch meine Laune. Mist ey, wirklich! Wieso habe ich gestern nicht einfach den Bus genommen!? Und damit Paul seinem Schicksal überlassen? Nein, auf keinen Fall! Das war schon richtig so. Nur, wie es jetzt weitergeht, weiß ich auch nicht. Und zumindest Sophie wird mir da auch keine Hilfe sein, wobei es praktisch wäre, da sie das Objekt meiner Sehnsüchte kennt. Aber wozu habe ich noch andere Freundinnen und Freunde? Und zur Not noch eine kleine Schwester, die ohnehin jedes Mal ausflippt – im übertrieben positiven Sinne – wenn ich Interesse an einem anderen männlich anmutenden Geschöpf zeige.   Zusätzlich bemühe ich mich an diesem Tag erstmalig seit... langer Zeit, meinen Mitschülern mal etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Schnell stelle ich fest, dass die meisten sie immer noch nicht verdient haben. Die supercoolen Sportler, die Tussis, deren einzige Sorge eingerissenen Fingernägeln gilt und die sich unter einem halben Meter Schminke verstecken (Zugegeben, in meiner Szene ist das auch nicht unüblich, sogar bei Männern. Aber wir sehen wenigstens noch so aus, als läge unser IQ über Toastbrot.), die stillen, uauffälligen Mitläufer und dann die durch ihre schon zu unauffällige Art auffälligen Außenseiter, die oftmals das Gegenteil zu den Sportlern und Tussen bilden. Obwohl Sophie ihn in diese Kategorie einsortiert hat, würde ich Paul nicht direkt als Außenseiter bezeichnen. Er wirkt durchaus gepflegt, die Klamotten sind zwar nicht der aktuellen Mode entsprungen, aber auch nicht ganz schlimm aus der Art springend. Andererseits sucht er zu niemandem Kontakt, die beiden Jungs vom Morgen kann ich auch nirgendwo sehen. Entweder haben wir keine Kurse zusammen, oder sie sind in einem anderen Jahrgang. Schwer zu sagen. Lustigerweise entdecke ich neben dem hübschen Blonden, der mir zu Anfang der Stunde kurz zugelächelt (und damit meine innere Maschinerie zum Erliegen gebracht hat) noch einen Emo, der mir bislang völlig entgangen ist. Wäre ich jetzt gemein, würde ich sagen '2005 hat angerufen und will seinen Style zurück'. Aber ich bin ja nicht gemein. Nur verwundert, wohin eigentlich diese jugendkulturelle Erscheinung verschwunden ist, die ich nur noch in den Endzügen bewusst mitbekommen habe. Jetzt weiß ich nicht, ob ich mich alt oder sehr jung fühlen soll. Ein Ellbogen bohrt sich unangenehm spitz in meine Rippen. Verärgert blicke ich zur Seite und Sophie ins Gesicht. „Was?”, raune ich leise. Reißt mich einfach aus meinen Überlegungen, das unverschämte Weib. „Du wirst beobachtet”, flüstert sie mir schelmisch grinsend zurück. Hoffnungsvoll blicke ich zu Paul, doch der ist in seine Unterlagen vertieft. Was komisch ist, denn der Lehrer lamentiert gerade über unwichtigen Kram, den man sich weder aufschreiben, noch parallel etwas nachlesen muss. Kurz hebt der Kleine den Blick Richtung Lehrer, dann blättert er sehr geschickt um. Kurz erhasche ich einen Einblick in die Seite. Das sah verdächtig nach Zeichnungen aus. Ein Comic? Der liest ernsthaft im Unterricht Comics? Interessant. Sofort will ich wissen, was für einen. Superhelden? Männlich oder weiblich? Düstere Kriminalgeschichten oder lustige Satire? Ich beuge mich etwas weiter vor, doch natürlich ist das von der anderen Raumseite aus vergeblich. „Doch nicht das Muttersöhnchen, du Idiot!”, zischt meine Sitznachbarin verärgert.”Guck mal weiter nach links. Unauffällig diesmal.” Seufzend gebe ich mich geschlagen und lasse meine Augen wie zufällig nach links schweifen, tue so, als würde ich aus dem Fenster sehen und die städtische Landschaft betrachten. Tatsache, eins von den Mitläufermädels senkt etwas zu hektisch den Kopf, als ich mich in ihre Richtung wende. Hellbraune, schulterlange Haare im Pferdeschwanz, kaum oder sogar gar kein Make-Up, 08/15 Pullover der weder besonders prüde, noch sonderlich offenherzig wirkt. Genauso nichtssagend zucke ich mit den Schultern und beende meine Musterung. „Und? Vielleicht hat sie ja Angst, dass wir sie beim nächsten Vollmond an Satan opfern oder so Bullshit.” „Quatsch! So, wie die guckt, steht die auf dich”, widerspricht Sophie ziemlich überzeugt. „Warum sollte sie? Die sieht nicht aus, als könnte sie mit unserer Szene etwas anfangen”, brumme ich wenig überzeugt. Die Rothaarige zieht eine fast komplett weggezupfte Braue hoch und scheint sich zu fragen, wie schwer von Begriff ich eigentlich bin. Wenn es um so Kram geht? Sehr schwer, die Frage könnte ich ihr ehrlich beantworten. Ansonsten behaupte ich aber mal, ziemlich intelligent zu sein. „Nur weil sie nicht so aussieht, heißt das nicht, dass sie uns zwangsweise blöd findet. Und vielleicht ist es ihr auch egal und sie findet dich trotzdem heiß? Oder gerade deswegen, weil du eben kein normalo Sunnyboy bist?”, versucht sie mir auf die Sprünge zu helfen. „Hm. Pech, ich hab aber kein Interesse an ihr.” Für mich ist das Thema damit erledigt, am genervten Stöhnen von Sophie merke ich jedoch, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt wohl wieder damit anfangen wird. Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, ist die Offensive. „Es tut mir ja wirklich Leid für die Kleine, aber mir ist aktuell eher nach jemand anderem. Also tu mir den Gefallen und hör auf damit.” Sie will mir gerade antworten, als sich ein Schatten über uns legt. Der Schatten gehört zu unserem ziemlich schlecht gelaunt dreinblickenden Lehrer. „Wenn die Herrschaften bitte aufpassen würden? Sonst können Sie ihr Kaffeekränzchen gerne auf dem Flur fortsetzen, mich entsprechendem Vermerk selbstverständlich.” Ich will den eigentlich schon längst in Rente gehörenden, herablassend näselnden Typen gerade darauf hinweisen, dass 'Herrschaften' zu sagen und damit auch eine Frau zu meinen, nicht mehr zeitgemäß ist und alles andere als genderneutral, aber ich werde von einem Tritt gegen mein Bein davon abgehalten. Ich klappe meinen vorlauten Mund wieder zu und setze mein unschuldigstes Gesicht auf, als könnte ich kein Wässerchen trüben und hätte nicht kurz davor gestanden, mit diesem altmodischen männlichen Chauvinisten zu diskutieren. Eigentlich schade, ich mag Diskussionen, in denen ich mich im Recht sehe. Mit seinem eingebildeten Triumph zufrieden stolziert der alte Mann zurück zur fast genau so alten Tafel und setzt seinen ebenfalls nicht mehr zeitgemäßen Frontalunterricht fort. Was bin ich froh, dass unsere Schulleitung sich um viele Nachwuchslehrer bemüht, die mal frischen Wind in die verstaubten Lehrräume bringt. Um mich nicht weiter mit Sophie beschäftigen zu müssen, widme ich mich wieder meinen neugierig dreinblickenden Mitschülern. Ein paar böse Grimassen und die meisten stecken ihre Nasen wieder in ihre eigenen Angelegenheiten. Lediglich das für mich noch namenlose Mädchen wartet für meinen Geschmack einen Moment zu lange. Und Paul, der im Gegensatz dazu sein Comic gerne noch einige Sekunden länger hätte unbeachtet lassen können.     ~*~   Wer bei dem Gespräch der vier Chaoten irgendwann nur noch Bahnhof verstanden hat: Nicht schlimm, es war nichts Wichtiges für die Story xD eigentlich passt sogar das Nicht-Verstehen gut hier rein. Dann aber mehr auf die Seite von Josh und allen anderen Schülern. Kapitel 3: ----------- Mein YouTube-Algorithmus kriegt bald Burnout... für hier die Story höre ich hauptsächlich Metal und Rock, für HidSec Elektro/EDM und Charts, für andere Projekte Film- und Spielmusik. Ach und ich bin ganz fasziniert von Metalcovern klassischer Musikstücke! FunFact: Ich kann keine Musik mit deutschen Texten hören, weil mich das ablenken würde. Ebenso Rap/HipHop.     ~ 3 ~   Pauls POV   Die für mich letzte Schulglocke des Tages erklingt und lässt um mich herum reges Treiben ausbrechen. Unsere Lehrerin hat den Unterricht gerade rechtzeitig abgeschlossen und kommt so um die elendige Diskussion herum, wer angeblich die Stunde beendet. Ich habe es nicht besonders eilig und lasse mir entsprechend etwas mehr Zeit mit dem Packen. Doch auch das ist irgendwann geschafft und es bleibt mir nicht viel mehr übrig, als den letzten Nachzüglern aus dem Raum zu folgen. „... nicht, wegen dem Auftritt morgen”, höre ich eine bekannte, männliche Stimme vor mir. Neugierig hebe ich den Blick und sehe einen breiten, sehr hoch angebrachten Rücken. „Oh, ihr tretet sogar auf? Wie spannend!”, kichert da eine eindeutig weibliche, zweite Stimme. Eine andere fällt noch mit ein. Mein armer Retter von vor einigen Wochen wird von einer kleinen Traube Mädchen umschwärmt, sieht dabei allerdings nicht besonders glücklich aus. „Ähm... ja. Wird euch aber bestimmt nicht gefallen. Metal und so, ihr versteht?” Begleitet werden seine Worte von schon fast als wegscheuchend zu interpretierenden Handbewegungen. Ich würde mich ja wirklich gerne verkrümeln, aber leider steht mir die Gruppe im Weg. Und vielleicht eventuell bin ich ja auch ein kleines bisschen neugierig. Ein paar Mal habe ich Josh mit einem Instrumentenkoffer gesehen, dass er aber tatsächlich in einer Band spielt und sogar auftritt, ist auch mir neu. Das Genre hingegen wundert mich wenig. „Ach, mein Vater hört auch nur so Musik, das passt schon. Ihr seid live bestimmt super! Nicht wahr, Julia?”, wendet sich die eine Mitschülerin an ihre deutlich schüchterner dreinblickende Freundin. Eine zarte Röte macht sich auf ihren Wangen breit. Sie sieht hübsch aus, wie sie durch ihre langen Wimpern hindurch nach oben schaut. „Schon. Leider hab ich morgen keine Zeit...”, nuschelt sie und klingt ernsthaft geknickt. Josh atmet auf und kassiert dafür einen sehr tadelnden Blick von seiner Freundin mit den dunkelroten Haaren. Sophie? Sophia? „Ist hoffentlich nicht unser letzter Gig, da findet sich bestimmt ein anderer Termin”, sagt sie im lockeren Ton zu den anderen Mädchen. Ich würde einerseits gerne noch weiter ein bisschen lauschen, andererseits finde ich mein Verhalten selbst ein wenig unhöflich. Zögerlich räuspere ich mich und setze ein entschuldigendes Lächeln auf. Als sich die allgemeine Aufmerksamkeit in meine Richtung wendet, mache ich eine vage Geste den Flur entlang. „Sorry, ich müsste mal vorbei.” Eigentlich ist es an alle gerichtet, doch mein Blick wird von dem verdutzten Schwarzhaarigen genau vor mir eingefangen. „Paul? Oh sorry, war keine Absicht! Sag doch was.” Schnell macht er einen Schritt zur Seite und wirft dabei fast seine Freundin um. „Hab ich doch”, erwidere ich schmunzelnd. Dass ich mit Absicht gelauscht habe, gebe ich lieber nicht zu. „Ähm... schönes Wochenende zusammen! Viel Erfolg euch.” Mit diesen letzten Worten husche ich den Gang lang und die Treppe zum Fahrradkeller hinab, unsicher, wem ich jetzt für was genau Erfolg gewünscht habe. Ach, soll sich doch jeder angesprochen fühlen. Mein treuer Zweirad wartet brav an seinem Platz und das Schloss lässt sich auch gnädigerweise schnell öffnen. Hat wohl auch keine Lust mehr, länger als nötig im Schulgebäude zu bleiben. Ich schiebe mein Gefährt durch die schwere Kellertür und anschließend bis zur Grenze des hinteren Schultors und steige dort erst auf. Unser Hausmeister kriegt immer Tobsuchtanfälle, wenn Schüler Zeit sparen wollen und sich noch auf der Anlage auf ihr Rad setzen. Komische Vorschriften, garantiert irgendwas mit Versicherungen. Auf der Straße stellt sich diese Problematik zum Glück nicht. Hier muss ich mich nur mit Fußgängern auf meiner Seite des Fuß- und Radweges rumärgern und Autos ausweichen, die sich auf den Fahrradstreifen verirren. Am angenehmsten sind die Nebenstraßen, allerdings habe ich seit dem Vorfall letztens ein dummes Bauchgefühl, sobald ich zu tief in das Geflecht aus Gassen abtauche. Heute kann mein Mitschüler eindeutig nicht rechtzeitig zu meiner Rettung erscheinen. Doch zumindest für den Moment muss er das auch nicht, denn mein Ziel kommt in Sicht. Der Parkplatz des Supermarkts ist brechend voll und ich arbeite mich vorsichtig bis zum Eingang vor, neben dem ich mein Rad erneut parken darf. Falls ich es bis dahin schaffe, denn selbst wenn ich absteige und schiebe, scheinen mich einige gestresste Autofahrer nicht wahrnehmen zu wollen. Würde es wirklich so viel mehr Zeit kosten, erst zu gucken und dann aus der Parklücke zu setzen? Kopfschüttelnd betrete ich – vorerst unfallfrei – den ebenso überfüllten Laden. Das Geld für den Einkauf habe ich mir schon heute morgen aus der Haushaltskasse genommen, mein Limit ist lediglich die Kapazität meiner Taschen und Körbe. Dumm, wenn im Grunde mal wieder alles fehlt. Vielleicht hole ich jetzt nur das Nötigste und probiere meinen Vater zu überreden, morgen mit mir im Auto erneut zu kommen? Ich seufze lautlos. Oder ich nehme morgen den alten Fahrradanhänger mit, in dem ich früher mal zeitweise die Zeitung ausgetragen habe, der ist schön geräumig. Eine Flasche Milch brauche ich fürs Frühstück. Ebenso Brot und Frischkäse. Oder doch Marmelade? Nudeln sind auch leer. Kartoffeln müssen warten, die sind nicht nur zu schwer, sondern würden mir auch den Rucksack versauen. Olivenöl... wo war noch mal das Öl? Ich blicke mich ratlos um, nur quer durch den Laden bis zum Anfang zurück zu laufen. Ach ja, hier steht es ja. Margarine steht komischerweise nicht bei dem Öl. Hm. Egal, komm ich schon noch hin. Auf dem Weg zum Gemüse fallen komischerweise noch eine Tafel Schokolade und Kekse in den Wagen. Schnell verdecke ich sie vor meinem schlechten Gewissen mit Salat, Tomaten und Paprika. Letztere sind im Angebot und ich mache mich sogleich auf die Suche nach Reis und passierten Tomaten, um heute Abend gefüllte Schoten in der fleischlosen Variante machen zu können. Für den Reis muss ich immerhin nur bis zu den Nudeln zurück laufen. Jetzt fehlt mir noch Käse und Feta, beides ist eine Etappe weiter Richtung Kasse. Nach kurzem Überlegen wandert zur Feier des Tages noch eine Flasche Cola in meinen Korb. So viel Platz habe ich noch in meinen Taschen. Den Rest hole ich dann morgen in aller Ruhe, wenn nicht hunderte Verrückte durch die Gänge hetzen, als gäbe es nach dem Wochenende nichts mehr. Entweder das, oder sie wollen schnell nach Hause zu ihren Liebsten. Erneut seufze ich.   Als ich in unsere Einfahrt einbiege, fällt mir sofort unser älteres Auto ins Auge, welches vor der Garage steht. Hoffnung keimt in mir auf, ein äußerst unerwünschtes Gefühl, was sogleich von Skepsis verdrängt wird. Mit ebendieser öffne ich die Haustüre und trete ein. „Hallo? Papa, bist du schon da?”, rufe ich in den dunklen Flur, der nur von der Küche aus beleuchtet wird. Ich trage meine Einkäufe in diese Richtung und tatsächlich, am Tisch sitzt er. Müde blicken mich seine braunen Augen an, die allgegenwärtigen Augenringe lassen ihn älter wirken, als er ist. Seine Mundwinkel heben sich ein wenig, als er mich sieht. „Hallo, mein Junge. Du bist ja auch schon da.” „Ich- Ja”, meine ich nur, schlucke meine ursprüngliche Antwort hinunter. „Magst du mit mir essen? Ich mach gefüllte Paprika.” Doch er schüttelt den Kopf und erhebt sich vom Stuhl. „Mach dir wegen deinem alten Herrn keine Umstände. Du weißt doch, ich esse in der Kantine.” Auf dem Weg in den Flur verharren seine Schritte kurz neben mir und ich spüre, wie er mir durch die Haare wuschelt, als wäre ich sieben und nicht siebzehn. „Du bist ein guter Junge, Paul”, flüstert er, endgültig aus der Küche tretend. Mühsam schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter. Warum trifft es mich jedes Mal aufs Neue? Es ist doch nur ein Abendessen. Andere in meinem Alter wären froh, wenn sie ihre Ruhe hätten. Schnell verteile ich die Einkäufe an ihre Plätze. Ein verstohlener Blick in Richtung Pfandflaschensammlung lässt mich immerhin ein wenig aufatmen. Nur Wasserflaschen und Softdrinks. Die Dosen sind mal mit Energydrinks gefüllt gewesen und stammen von mir. Ich hole mein Headset von der Ladestation und beginne – zum Soundtrack eines japanischen Rollenspielklassikers – mit meiner Kochsession, dankbar, dass meine Gedanken schnell in fiktive Welten abdriften.   ~*~   Am nächsten Morgen stehe ich schon früh auf. Viel zu früh, für viele meiner Klassenkameraden und meine Kumpels, aber gerade richtig für mich. Aus dem oberen Stockwerk höre ich nur Stille und ich fürchte, dass es vorerst auch so bleiben wird. Ich setze heißes Wasser auf für meinen Kaffee und verquirle zeitgleich die zwei letzten Eier, die ich im Kühlschrank finden konnte. Filterbeutel in den Trichter, Trichter auf die Tasse. Pulver in den Filter und das kochende Wasser drüber. Schritte, die ich notfalls im Schlaf beherrsche, was auch gut so ist, denn eine Abweichung würde unnötige Sauerei bedeuten. Die zischende Pfanne hinter mir macht mich darauf aufmerksam, dass das Öl heiß genug ist. Eier in die Pfanne, Toast in den Toaster. Mit dem Pfannenwender um die Eier kümmern, nachwürzen, weil schon wieder vergessen. Das 'Klack' der Brotröstmaschine kommt zeitgleich mit dem sieben Uhr-Glockenschlag der örtlichen Kirche. Noch Milch und Zucker in den Kaffee und fertig ist mein Frühstück. Ich ziehe meine Kopfhörer auf, sperre die erdrückende Stille aus und summe leise die Melodie mit. Eine ruhige, melancholische Melodie. Eine, die ich mir nur am Wochenende erlaube, so früh, dass mich niemand sieht, niemand mitbekommen kann, wie es in mir aussieht. So früh, dass auch mein Vater noch nicht wach sein kann, sollte er sein Zimmer doch einmal überraschend verlassen. Ich will nicht, dass er mich so sieht. Sich womöglich noch Vorwürfe macht. Es ist nicht seine Schuld. Er ist auch nur ein Opfer der Umstände und bemüht sich. Und mehr können wir nicht tun. Uns bemühen. Jeden Tag wieder. Einen Schritt vor den anderen, immer weiter durch den Morast, und hoffen, dass uns am Ende vom Sumpf kein grundloser Ozean sondern endlich wieder fester Grund erwartet. Nachdem ich fertig gegessen habe und die Küche wieder sauber ist, gehe ich langsam in mein Zimmer zurück. Atme einmal tief durch. Streife mir die Schlafkleidung ab und ziehe Alltagskleidung an. Mit dem Wechsel des Stoffes auf meiner Haut kommt auch ein Wechsel meiner Stimmung. Mein melancholischer Teil hatte lange genug Auslauf, jetzt wird es Zeit für die produktive Seite. Es sind keine Masken. Masken tragen Menschen, die sich verstellen. Ich sehe es mehr als die Seiten eines Würfels. Sie sind alle da, je nachdem, wie der Würfel fällt, mal mehr, mal weniger und manchmal eben auch gar nicht sichtbar. Klar getrennt durch Kanten und doch Part ein und desselben Objekts. Der Vorteil an der frühen Uhrzeit ist, dass die meisten Menschen noch schlafen oder zumindest in ihrem Haus bleiben. Obwohl ich mit Anhänger deutlich sperriger bin, fährt mich heute niemand beinahe zu Brei. Auch der Parkplatz des Supermarktes liegt nahezu leer vor mir, obwohl er schon längst geöffnet hat. Mein Budget sieht gut aus, obwohl noch kein neues Geld für die kommende Woche hinzugefügt wurde, also lasse ich es mir ausnahmsweise gut gehen und kaufe, worauf ich Lust habe. Viel Obst und Gemüse, wie Orangen und Kohl, Nüsse. Käse aus der Frischetheke, deren Bedienung sich nett mit mir unterhält. Zutaten für Plätzchen. Summend folge ich meinen eigenen, wirren Pfaden durch den Laden, die jeden Sicherheitsmann in den Wahnsinn treiben würden. Aber was kann ich dafür, dass mein Kopf anders arbeitet, als die Regale angeordnet sind? Apropos, was fehlt noch? Ach ja, die Kartoffeln. Wo waren die noch gleich? Hier beim Honig wohl eher nicht. Ich werfe im Gehen einen Blick auf meine Uhr. Es bleibt noch genug Zeit um ein bisschen im Haushalt zu tun, bevor ich kochen will. Um drei bin ich online verabredet und ab dann sind Unterbrechungen ungünstig. Perfekt. Ab dann bin ich bis Sonntag morgen in virtuellen oder geträumten Hemisphären und das ganz ohne schlechtes Gewissen.     Joshuas POV   Mit einer Mischung aus Seufzen und Stöhnen lasse ich meinen erschöpften Körper auf einen Barhocker fallen. Während ich meinen Bass in den Händen halte, merke ich nie, wie anstrengend Musik machen eigentlich ist, erst recht nicht, wenn man durch das Publikum aufgepeitscht wird. Die Erschöpfung kommt erst, sobald das Adrenalin weg und das Hirn wieder in der Realität angekommen ist. Zufrieden grinsend nehme ich die Bierflasche entgegen, lehne mich zurück an die Theke und nicke brav, als sich einige Gäste mit positivem Feedback an meine Kollegen und mich wenden, doch in Gedanken bin ich längst weit weg. Zum Glück ist niemand aus meiner Schule aufgetaucht, der nicht ins Ambiente passt. Schlimm genug, dass sich Sophie geistig mit der BFF von Fräulein Ich-mach-dir-auffällig-unauffällig-hübsche-Augen verschworen und mich Freitag aufgehalten und gemeinsam mit den Tussis ausgequetscht hat, aber noch schlimmer wäre es gewesen, wenn ich mich jetzt pflichtschuldig um diese verirrten Seelen hätte kümmern müssen. Wenn überhaupt, würde ich mich nur um kleine, blonde Jungs kümmern... Schnell vertreibe ich diesen Gedanken durch einen tiefen Zug aus meiner Flasche. Wie das funktioniert? Ganz einfach, man muss sich nur blöd genug verschlucken. Puff! Alle anderen Dinge im Kopf sind verschwunden. Zauberei. Während ich also versuche, nicht zu ersticken, tritt eine andere Person an mich heran und knallt mir beherzt die Pranke auf den Rücken, sodass ich nicht nur mit der Luft, sondern auch mit meiner Balance auf dem wackeligen Barhocker zu kämpfen habe. „Fuck... Olli... pass doch auf”, huste ich mit Mühe. „Yo, immer wieder gerne”, grinst der Depp mich an. „Du weißt schon, dass die Plörre in die andere Röhre gehört, oder Kindchen?” Ich ziehe eine Grimasse, die man hoffentlich als Zähnefletschen deuten könnte. Hat der ein Glück, dass ich meinem Sprachorgan noch nicht wieder traue. „Ich mein ja nur. Wäre schade drum”, meint er schulterzuckend und genehmigt sich selbst einen Schluck Hopfen-Malz-Gebräu, elegant ohne Verschlucken oder sonstige Unfälle, leider. „Um das Bier. Und um unseren Bassisten. Ihr seid schwer zu finden.” Mein geschnaubtes Lachen tarnt sich gut zwischen zwei letzten Hustern. „Arsch.” Trotzdem stoße ich mit ihm auf den gelungenen Auftritt an und mit einem vernehmlichen 'Klonk' treffen die Glasflaschen aufeinander. „Und, noch Pläne für heute Abend?”, fragt er mich nach einer Weile. „Außer trocken werden?” Vielsagend ziehe ich an meinem verschwitzten Shirt, als der Lockenkopf dreckig zu lachen beginnt. „Solange du das gleiche Ziel nicht bei den Mädels hast...”, grinst er zweideutig. „Zieh es aus, dann bist du gleich zwei Zielen einen Schritt näher.” Ich winke ab. „Kein Bock.” „Nicht? Nur nicht auf Weiber oder...?” „Auf gar niemanden.” Seine fragend hochgezogene Braue ignoriere ich gekonnt. Ich weiß selbst, dass ich gerade heute genug Auswahl hätte, denn kaum hat man ein Instrument in der Hand, kommen sie an, wie die Motten zum Licht, bereit, sich für ein bisschen einmaligen Spaß am Feuer zu verbrennen. Und normalerweise bin ich auch nicht abgeneigt, das auszunutzen. Hey, ich bin jung und hormongeladen. Und solange sich beide Parteien einig sind und man gewisse Vorkehrungen trifft, ist das auch alles cool. Aber heute nervt es mich, diese Erwartungshaltung aller um mich herum. Und es nervt mich, dass ich nicht einmal weiß, warum es mich plötzlich nervt. Geht mir doch sonst am Hinterteil vorbei. Ich kippe den letzten Schluck hinunter und erhebe mich. „Bin mal wohin.” Ohne eine Antwort abzuwarten zwänge ich mich durch die Meute Richtung WC. Wirklich müssen tu ich nicht, die Flüssigkeit hat auf anderem Wege meinen Körper verlassen, aber hier ist es etwas abgeschotteter und ich kann versuchen, meine plötzliche schlechte Laune mit kaltem Wasser aus meinem Gesicht zu wischen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich natürlich, warum mich aktuell niemand beeindrucken kann. Zumindest sofern er nicht männlich, ein bisschen kleiner als ich und blond ist. Und einen Namen mit vier Buchstaben hat. Shit. Dieser ganze Liebeskram ist so eine Grütze. Und je länger ich damit infiziert bin, umso weniger verstehe ich, wie Menschen diesen Zustand toll finden können. Zwei Wochen. Seit zwei Wochen (also eigentlich zwei Komma fünf) versuche ich nun schon, damit klar zu kommen. Toll ist anders. Überall in der Schule sehe ich plötzlich kleine blonde Engelchen, mein Hirn ist zu nichts mehr zu gebrauchen und meinen letzten Traum erzähle ich besser keinem, sonst werde ich noch zwangskastriert. Und das Schlimmste ist ja auch noch, dass kein Ende in Sicht ist, denn meines Wissens nach vergeht dieser Zustand nicht einfach so wieder von heute auf morgen und die Alternative scheint nicht zu existieren- Ein Räuspern hinter mir holt mich sehr unhöflich aus meinen Gedanken. „So schlimm, dass du dich ertränken musst, können deine Probleme nicht sein, Schwagerlein.” „Du hast ja keine Ahnung...”, knurre ich, den Mann hinter mir im Spiegel böse anfunkelnd. Ohne mir die Mühe zu machen, mich umzudrehen. Praktische Sache, so ein Spiegel. „Außerdem 'Schwager in Spe'. Wenn überhaupt.” „Okay, ich nehm's zurück. Ertränk dich bitte und nimm deine miese Laune mit.” Gegen meinen Willen muss ich auflachen. Die Hohlfritte kann also doch kontern, muss mein guter Einfluss sein. „Was willst du, Martin? Oder warte, lass mich raten: Alexis schickt dich.” Große Schwestern sind die Pest. Kleine auch, aber die sind ab und an wenigstens noch ganz putzig. „Auch. Aber mal ehrlich, deine miese Laune merkt doch jeder Blinde quer durch den Raum. Was ist los? Bei den Proben warst du schon komisch, aber das hier toppt doch alles. Der Auftritt ist doch super gelaufen?” „Hat nichts mit euch zu tun”, wiegle ich mürrisch ab. Hat es ja auch nicht. Nicht komplett. „Sophie nervt mich nur mit so einer Ische aus der Schule.” Die halbe Wahrheit, immerhin. „Wie kommt sie denn auf die Idee?”, fragt das Anhängsel besagter großer Schwester ernsthaft verwundert. „Na, wenn ich das wüsste...”, seufze ich resigniert. Wüsste ich echt gerne. Wer die Ursache kennt, kann auch die Symptome dauerhaft abstellen. Sophies Launen sind unergründlich, vielleicht findet sie es einfach nur lustig, mich in die Bredouille zu bringen? „Und sonst ist da nichts?” „Nein.” „Sicher?” „Ja.” „Du weißt, dass das Ding da in deiner Visage nicht nur zum Beleidigen und Rummaulen da ist, sondern auch um so Dinge zu tun wie... mit Leuten zu reden?” „Martin, verpiss dich.” Ein sehr anschauliches Beispiel für meine Fähigkeit, zu kommunizieren. „Genau das meine ich. Da ist doch noch mehr, was du nicht sagst. Aber schön, dann spiel halt weiter den großen, bösen Wolf. Aber pass auf, dass du dein Rotkäppchen nicht aus Versehen frisst.” Mit diesen, nicht wirklich Sinn ergebenden Worten geht er auch endlich. Ist es nicht das Ziel des Wolfs, Rotkäppchen zu fressen? 'Und dann verschling ich dich mit Haut und Haar' oder so ähnlich, sagt er doch zu dem blonden Ding. Blond... hm... ich würde meinen Blondschopf gerne auf andere Art und Weise verschlingen. Wenn ich nur wüsste wie. Meine Schultern sinken mutlos hinab. Mein Spiegelbild schaut ratlos zurück. Shit. Martin hat recht, so ungerne ich es zugebe. Ich muss wirklich mal mit jemandem reden. Nur mit wem? Der Trottel fällt selbstverständlich raus, ebenso Sophie. Alexis auch. Olli? Nein, der hatte bislang noch weniger Beziehungen, als ich. Meine anderen lockeren Freunde und besseren Bekanntschaften im Kopf durchgehend, trete ich endlich zurück in den Barbereich. Ich sollte versuchen, den Abend zu genießen und mir nicht ständig selbst die Laune vermiesen...   ~*~   Inzwischen ist schon wieder eine Woche vergangen, in der ich meinen persönlichen Engel nur von weitem anschmachten konnte und ich mich durch diverse Mittelchen gekämpft habe, um die blöden Raupen in meinem Bauch zu killen. Bislang ohne Erfolg. „Joshiiiiii?”, quiekt es fast von der Tür her und ich nehme, in böser Erwartung, meine Kopfhörer runter und wende mich langsam meinem Zimmereingang zu. Dort steht er. Ein böser Dämon, der sich von meiner Lebensenergie ernährt und gleichzeitig zu liebreizend ist, um ihm böse zu sein. Das blonde Etwas streckt mir eine Packung Haarfärbemittel entgegen, das verdächtig- „PINK!?”, rufe ich entsetzt und weiche so weit wie möglich vor diesem Ungeheuer zurück. „Holly! Bist du verrückt geworden?” Meine kleine Schwester zieht einen süßen Schmollmund, der schon mehr als einmal Grund dafür war, dass ich die große-Bruder-Beschützer-Karte auspacken musste. Denn leider wirkt dieser Satansbraten auf mein Geschlecht sehr anziehend. Bei ihrem übrigens auch, was mich zu der Annahme bringt, Holly wäre in ihrem vorherigen Leben ein Sukkubus gewesen. Aber vor Mädchen muss Fräulein weniger Angst haben. Die wollen nur am liebsten sofort einziehen, Katzen adoptieren und die Hochzeit planen, falsche Spiele spielen die eher selten. Äh, wo war ich? Ach ja, bei sehr zweifelhaften Lebensentscheidungen. „Ja, pink. Das sieht bestimmt voll toll aus! Also nur ein paar Strähnen, vielleicht noch ein paar schwarze? Stell dir nur vor, das mit meinem Lieblingskleid! Bitte bitte bitte! Ich kann das doch nicht alleine und du bist der beste große Bruder auf der Welt!” Zuckersüß klimpert sie mit ihren langen Wimpern und als ich resigniert seufze, grinst sie diabolisch, wissend, dass sie wie immer ihren Willen bekommt. „Na schön. Aber nur ein paar Strähnchen. Hopp, ab ins Bad, Mademoiselle.” Behutsam lege ich meine Kopfhörer auf das Bett und folge dem hoppsenden Wesen in besagtem Bad. Kaum zu glauben, dass sie fast sechzehn sein will. Routiniert zieht sie einen Stuhl heran und setzt sich in die Mitte des Raums, sodass ich die Farbe im Waschbecken anmischen und barrierefreien Zugang zu ihren blonden Locken habe. Warum sie ausgerechnet mich und nicht Alexis als ihren persönlichen Hairstylisten auserkoren hat, kann sich niemand so recht erklären, aber laut unseren Eltern war das schon im Kleinkindalter so. Nur Joshi darf Zöpfchen machen, auch wenn er das gar nicht kann. Und auch heute darf nur Joshi die wertvollen Haare färben, was er inzwischen zum Glück beherrscht. Selbst wenn das bedeutet, freiwillig Pink an den Händen haben zu müssen. Aber zunächst lege ich ihr ein altes Handtuch um die Schultern, die in einem ollen Tshirt stecken, das verdächtig nach einem von meinen aussieht, so locker wie es sitzt. Diebische Elster. Dann versuche ich mir etwas Platz zu schaffen und gleichzeitig den groben Kamm zu finden. Unser Bad ist eindeutig zu klein für den ganzen Scheiß, der sich hier drin stapelt. Wie Roßmann und dm zusammen. Nur nicht so hell und aufgeräumt. Bei vier Personen in unterschiedlichen Stadien des Heranwachsens und der Eitelkeit kein Wunder. Man findet immer irgendwas. In diesem Fall einen anderen Kamm, aber der wird es schon tun. Ich muss ihn nur gut genug abwaschen, nicht, dass mein kleiner Bruder mitkriegt, dass ich sein 'Eigentum' verwende. Eigentum, haha. Guter Witz. Als ob es so etwas in unserem Haushalt geben würde. Während ich die Vorbereitungen abschließe und mit der Färbung der naturblonden Haare beginne, fängt Holly an zu quasseln. Wie ein Wasserfall sprudeln die Worte aus ihr heraus und informieren mich über den neuesten Klatsch und Tratsch aus der Schule (der uns nur interessiert, weil es immer wieder so absurd ist, was für Gerüchte die Menschen verbreiten), das neue Album ihrer Lieblingsband (für meinen Geschmack zu sehr am Mainstream, aber immerhin noch irgendwie Gothic), ihre geplante Klassenfahrt nach Österreich (ob Alexis wohl einen unbenutzten Keuschheitsgürtel besitzt, den sie verleihen könnte?) und zuletzt der Junge, in den sie sich verguckt hat (wo ist mein Baseballschläger?). Uarghs. Wobei... da kommt mir eine Idee. „Mäuschen?” „Hm?”, sofort unterbricht sie ihren Redeschwall und spitzt die Lauscher. „Sag mal... was machst du eigentlich, wenn du einen Jungen nett findest, bislang aber nicht viel mit ihm zu tun hast?”, frage ich, so beiläufig wie möglich. Ich kann förmlich spüren, wie sie stockt und es in dem Kopf unter meinen Händen zu rattern beginnt. „Was meinst du mit 'nicht viel'?”, kommt interessiert zurück. „Naja... äh...” Fuck, wie sag ich das ejtzt möglichst unverfänglich? „Also, du bist schon ab und an in seiner Nähe, weil ihr... zum Beispiel in die gleich Klasse geht, aber ihr kennt euch eigentlich nicht. Weil er... einen anderen Freundeskreis hat.” „Hm...”, macht sie nachdenklich. „Entweder würde ich ihn einfach ansprechen...” „Ähm, ne. Mein Kumpel, für den ich frag, ist ziemlich schüchtern.” Erde an Hirn: Mission abbrechen, ich wiederhole Mission abbrechen. Offensichtlicher geht’s ja wohl kaum! 'Mein Kumpel'? 'MEIN KUMPEL'!? Ja ja, ich frag für 'nen Freund. Billiger geht’s echt nicht mehr! „Dann würde ich an seiner Stelle versuchen, langsam und unauffällig in seine Nähe zu kommen und zu testen, ob man sich mindestens anfreunden könnte”, spricht meine Schwester weiter und macht ziemlich deutlich, dass sie ahnt um wen es geht, aber zu nett ist, um etwas zu sagen. Oder um später ein Druckmittel in der Hand zu haben. Mist. Da war ja so eine Sache mit Geschwistern und Gefallen. „Äh... wie das?” „Na, wenn man sich näherkommen will, muss man genau das tun. Ein Meteorit, der in einen Planeten einschlagen will, muss ja auch erst in dessen Umlaufbahn gelangen. Und entweder schlägt er direkt frontal ein, oder er kreist in immer engeren Zirkeln um ihn herum, bis er ihn schlussendlich streift”, erklärt sie mir mit ausladenden Gesten, denen ich gezwungenermaßen ausweiche. „Ähm... Mäuschen, ich glaube nicht, dass das so funktioniert.” „Papperlapapp.” Die wegwerfende Handbewegung trifft mich diesmal seitlich am Rumpf. Zum Glück hat Mademoiselle keine Kraft hineingelegt, sonst hätte sie jetzt ein pinkes Problem auf der Stirn. „Und selbst wenn. Sei mal ein bisschen fantasievoller!” „Ich habe Fantasie!”, murre ich beleidigt und packe eine weitere Strähne in Alufolie ein. „Ja ja, deswegen musst du auch mich um Rat fragen. Wobei, deine Wahl ist schon gut. Stell dir vor, du hättest Alexis gefragt! Nachher hast du noch so jemanden wie Martin an der Backe!” Wir schaudern gemeinsam. Ja, unser zukünftiger Schwager hat es nicht leicht mit uns. Reicht, dass unsere Eltern ihn toll finden, warum auch immer. „Umlaufbahn, sagst du, ja?” „Jepp!” Sie stoppt ihre Nickbewegung noch gerade rechtzeitig. „Schulprojekte zusammen machen. Bei neuer Sitzordnung zufällig in die Nähe setzen. In der Pause mal mit dabei stehen...”, zählt sie an ihren Fingern oder viel mehr, den elendig langen Fingernägeln, ab. „Du stellst dir das aber verdammt einfach vor.” In Gedanken kapituliere ich bereits jetzt vor dieser unmöglichen Aufgabe. „Ist es ja auch! Wenn man kein sturer Esel ist, wie dein Kumpel”, schnaubt Holly hochnäsig. „Ist er nicht!”, widerspreche ich... wie ein sturer Esel. „Wir sind älter als du, wir können nicht mehr einfach zu jemandem hingehen und fragen 'Willst du mein neuer bester Freund sein?'.” „Das klappt eh nur im Kindergarten oder schlechten Filmen. Ein bisschen mehr Weltoffenheit und schon klappt das, vertrau deiner kleinen Schwester”, sagt sie, zuckersüß lächelnd. Mir wird ganz anders. Dieser Satz und dieser Gesichtsausdruck bedeuten selten etwas Gutes. So rein aus der Erfahrung heraus. Es hat zum Beispiel seinen Grund, warum an meine Haare nur noch mein Friseur darf. „So, fertig. In zwanzig Minuten gucken wir mal, ob das reicht.” „Alles klar.” Hopps und weg ist das Mäuschen. Ich verdrehe wortlos die Augen und mache mich ans Aufräumen. Erst den kostbaren Kamm von sämtlichen Farbspuren beseitigen (so lustig der Anblick meines ebenfalls blonden Bruders mit pinken Akzenten auch wäre, aber ich hänge an meinem Leben und meinen Klamotten), dann die Einweghandschuhe und diversen Verpackungsmüll entsorgen. Und die Farbkleckse abwischen, ehe sie sich in die Fliesen und Möbel fressen können. Was muss das Mädel auch immer so zappelig sein? Ich denke währenddessen über ihre Worte nach. Umlaufbahn, ja? Hm. Die Idee ist gar nicht so blöd. Simpel, aber einleuchtend. Nur wie kommt man in die Umlaufbahn von jemandem, der sich in einem ganz anderen Sonnensystem befindet?   ~*~ Kapitel 4: ----------- Hallo zusammen! Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat, ich hab gerade so unglaublich viel im Kopf und das Kapitel hat sich richtig schwer getan.     ~ 4 ~   Joshuas POV   Mit Hollys Vorschlag im Hinterkopf, beobachte ich das Objekt meiner Begierden in den nächsten Schultagen so aufmerksam wie möglich, ohne zu auffällig zu werden. Studiere seine Gewohnheiten und die üblichen Aufenthaltsorte. Zugegeben, das ist nicht viel. Eigentlich hängt er die meiste Zeit mit seinen Freunden an einer bestimmten Sitzgelegenheit rum, am Rande der als Pausenhalle für die Oberstufe umfunktionierten Freifläche inmitten des Schulgebäudes, völlig egal welches Wetter ist. Ab und an holt er sich mal was am Kiosk oder geht aufs Klo, aber dazu sind Pausen schließlich auch da. Verbieten tun uns die Lehrer zwar nicht mehr im Unterricht körperlichen Rufen zu folgen, aber gerne gesehen wird es nicht, könnte man doch die Zeit für andere Dinge nutzen. In meinen Augen besser, als weiterhin gelangweilt aus dem Fenster zu starren und das Lehrpersonal mehr oder minder zu ignorieren, aber hey, mich fragt ja nie jemand von Bedeutung nach meiner Meinung. Während meiner schon an Stalking grenzenden Recherche habe ich immerhin das Geheimnis gelüftet, warum mir seine Kumpanen unbekannt sind. Nicht etwa, weil ich sie bislang mit Missachtung bedacht habe, wie eigentlich jeden außerhalb meiner Blase, sondern weil sie offensichtlich gar nicht in unserer Stufe sind, sondern eine drüber und damit im Abijahrgang. Verwunderlich, dass er sonst niemanden zu haben scheint. Klebengeblieben ist er definitiv nicht, was die einzig mir bekannte Ursache dafür wäre, alternativ zu meiner Annahme, dass ohnehin alle um mich herum dumme Idioten sind, meiner Aufmerksamkeit nicht würdig. Aber Paul kommt mir viel zu lieb vor, um diese Ansicht zu teilen. Tief in Gedanken versunken lehne ich an einer Säule und starre Löcher in die Luft, als etwas schwarz-blond-pinkes in meinem unteren Sichtbereich auftaucht. „Und? Wer von denen ist es?”, flüstert Holly viel zu laut und sichtbar aufgeregt, meinem Blick folgend, sich halb um mich herumlehnend, was wohl meine ganze bemühte Unauffälligkeit zunichte macht. Um nicht doch noch Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, lege ich einen Arm um ihre Schulter und schleife das protestierende Bündel um die runde Steinkonstruktion herum und weiter in das Gebäude hinein. „Hey, lass mich!”, quiekt das zappelige Wesen. „Nein. Was machst du eigentlich hier, du darfst noch nicht in den Oberstufenhof”, frage ich sie, um Ablenkung bemüht. „Darf ich wohl, wenn ich meinem großen Bruder etwas mitteilen muss”, sagt Holly unschuldig und klimpert mir mit ihren getuschten Wimpern vor großen Augen von unten herauf zu. „Und das wäre?”, seufze ich ergeben. Bei ihr besitze ich einfach keine Widerstandskraft. „Dass du ein Idiot bist, aber ich dir helfen werde – Wah!” Ihre Auführung endet in einem Schrei, da ich sie erneut gepackt habe und nun wieder deutlich entschlossener auf den Kleinkinderbereich zustapfe. „Warte Joshi! Ich will dir wirklich helfen!” „Ich brauche keine Hilfe von kleinen frechen Gnomen, ich schaffe das schon ganz alleine, vielen Dank auch”, grummle ich verstimmt, in Gedanken dabei ihre Haarpracht beim nächsten Mal braun zu machen. Die einzige Farbe die mir spontan einfällt, die sie nicht gut finden würde. „Du bist gemein.” Nun schmollt Holly und ich habe alle Mühe, sie nicht anzusehen, da mein Widerwille beim Anblick ihrer vorgeschobenen Unterlippe und den Hundeaugen sofort wieder klein beigeben würde. „Jap. Erzähl mir was Neues.” Wir sind im 'normalen' Pausenbereich angekommen und ich lasse meine kleine Schwester los. „Zu mir bist du sonst nie gemein”, widerspricht sie, immer noch schmollend. Ich hole tief Luft und betrachte für einen Moment die Decke mit den Oberlichtern. Einatmen. Ausatmen. Manchmal komme ich mir vor, wie in einem sehr schlecht inszenierten Komödienfilm. Oder die Truman Show, nur auf einer billigen Chinaschrott-Seite bestellt. „Doch, diesmal schon. Hör zu Holly, was auch immer los ist, ich muss es alleine schaffen, okay?”, versuche ich es mit einer anderen Taktik. Ihre Schultern sacken herab und sie hört mit dem gekünstelten Schmollen auf. „Na gut, wenn du es unbedingt willst...” Misstrauisch mustere ich sie, traue dem plötzlichen Einlenken kein bisschen, dafür kenne ich sie zu gut. Und dass sie nun das Thema wechselt, macht es nur verdächtiger. „Was ich eigentlich fragen wollte-” Aha! Da haben wir es. „-kannst du mich und zwei Freundinnen am Samstag von einer Party abholen? Bitte bitte?” „Party? Samstag? Diesen Samstag?”, frage ich perplex nach um ganz sicher Missverständnisse zu vermeiden. Eifriges Nicken ist meine Antwort und Holly strahlt, als hätte ich ihr bereits zugesagt. „Aber...” Mir fällt kein 'Aber' ein. Diesen Samstag habe ich weder Auftritt noch Probe, mein Stammclub hat geschlossen wegen Wasserschaden und soweit ich weiß, ist auch sonst nichts los. Alexis ist mit ihrem Macker unterwegs und kann so ohnehin keinen Holdienst schieben und unsere Eltern haben ihr und mir den Führerschein unter der Bedingung bezahlt, dass wir uns zum einen untereinander einig werden, wer den Zweitwagen wann fahren darf und zum anderen, dass wir uns um sämtliche nicht-schulischen Aktivitäten und deren Erreichen beziehungsweise Verlassen selber kümmern, inklusive der beiden Minderjährigen. Da die Vorteile eindeutig überwiegen, haben wir selbstverständlich zugestimmt. Wobei ich mich nicht erinnern kann, Nathan jemals abgeholt zu haben, der würde vermutlich lieber zwei Stunden auf seinem Longboard durch den Wald brausen als sich mit einem seiner Geschwister sehen zu lassen. Wenn wir denn hier einen Wald hätten. „Was für eine Party ist das denn?”, frage ich stattdessen. „Und wo?” „Jahrgangsparty. In der Vereinshalle Süd.” Vor meinem inneren Auge erscheint sofort ein Lageplan der Stadt. Die genannte Location ist tatsächlich etwas ungünstig gelegen, wenn man in unsere Richtung will, vor allem mitten in der Nacht. Oder zumindest soweit in der Nacht, wie man mit fünfzehn sein darf. „Na gut...”, stimme ich resigniert zu. Zum Ablehnen fehlen mir die Argumente und eine Jahrgangsparty zu verpassen – noch dazu die erste, an der es möglich sein sollte, zumindest an Bier zu gelangen, was aber nie jemand laut aussprechen würde – wäre für einen extrovertierten Kampfzwerg wie Holly ein mittelschwerer Weltuntergang, den sie mir die nächsten Monate täglich vorhalten würde. „Juhu! Du bist der Beste!” Besagter Zwerg hüpft an mir hoch, schlingt die Arme um mich und wirbelt anschließend davon, garantiert um ihren Freundinnen von dem Erfolg zu berichten. Meine Wenigkeit hingegen steckt die Hände in die Hosentaschen und macht sich relativ missmutig auf den Weg zum nächsten Unterricht. Selbst die Aussicht, Paul eine weitere Schulstunde lang anstarren zu können heitert mich nicht auf. Nicht nur, dass ich dann wieder diese bescheuerten Flatterviecher im Bauch spüre und mein Hirn sich mit rosa Zuckerwatte vollstopft, nein, ich habe dann auch ständig die Schmach vor Augen, dass ich mich nicht traue ihn einfach mal anzusprechen und seine Stimme hören zu können, was aber vermutlich die ersten Probleme noch mehr verstärken würde, was mir auch nicht passt. „Du... wirkst, als hättest du noch weniger Lust auf Geschichte, als ich.” Genau diese Stimme meine ich. Mein Kopf kann sie schon perfekt nachstellen. Nur das Thema finde ich unpassend... Moment mal?! Das kam nicht aus meinem Kopf! Erschrocken über mich selbst bleibe ich abrupt stehen, wodurch die tatsächliche Ursache der Stimme in mein Blickfeld gerät, noch bevor ich mich zur Seite drehen kann. Fragend legt sich der blonde Kopf schräg und ich versinke für eine Sekunde in den blauen Tiefen, bevor ich mir einen mentalen Arschtritt gebe. Zusammenreißen jetzt! „Äh ja. Also nein. Wirklich Lust hab ich nie.” Paul fängt an, ganz hinreißend zu lächeln und mich damit in die nächste Sinnkrise zu stürzen. Mein Herz bollert los, als wollte es sich demnächst als Schlagzeuger in unserer kleinen Band bewerben, sobald es meinen Brustkorb gesprengt hat. „Ich auch nicht. Und ich hab nichts zu lesen dabei...”, jammert er und ärgert sich sichtlich über sich selbst. Wir setzen unseren Weg fort, nebeneinander. Ich kann mich kaum auf den Flur konzentrieren und bin froh, dass mich ohnehin niemand übersehen kann, denn ich habe definitiv keine Augen für andere Menschen, die nicht rechtzeitig Platz machen. „Oh, hast du deine Comics vergessen?”, frage ich unüberlegt und zucke ertappt zusammen, als ich Pauls erstaunten Gesichtsausdruck bemerke. „Ähm... hab ich letztens zufällig gesehen. Mir war langweilig und da hab ich mal geguckt, wie andere den Frontalunterricht überleben und so.” Oh man, tolle Leistung, Joshua. Wirklich. Was Besseres fällt dir nicht ein, oder wie? Aber ihn scheint das nicht zu stören, denn er gluckst amüsiert und nickt. „Ja, 'überleben' trifft es ganz gut. Aber wenigstens darf man sich heimlich ablenken, solange man nicht stört.” Unwillkürlich muss ich an mein Geplapper mit Sophie denken und die daraus resultierenden Ermahnungen. Im Nicht-Stören bin ich nicht besonders gut, geht mir doch so ziemlich alles am Allerwertesten vorbei. „Äh... ja.” Wir schweigen den restlichen Weg bis zu unserem Raum, doch es ist kein unangenehmes Schweigen. So gerne ich etwas Geistreiches sagen oder vielleicht durch eine sarkastische Bemerkung noch ein Lachen aus Paul hervorholen würde, aber mir fällt partout nichts ein. Mein Hirn ist wie leergefegt. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als seine Gegenwart zu genießen und ihn immer wieder verstohlen aus dem Augenwinkel zu betrachten. Mein heimliches Anhimmeln wird beendet, als Sophie – nach kalter Luft und vor allem Rauch stinkend – zu uns stößt und mich ohne Rücksicht auf meine Begleitung beiseite zerrt, irgendwas über zwei andere aus unserer kleinen eingeschworenen Gruppe meckernd. Ein kurzer Blick zurück bestätigt mir, dass meine Chance vertan ist. Paul hat sich in eine andere Ecke verzogen und würdigt mich keines Blickes mehr. Scheißdreck.   ~*~   Der Samstag kommt, ohne dass ich noch einmal die Gelegenheit habe, mit Paul zu sprechen. Zumindest keine, die mir passend erschien. Nicht einmal vor mir selbst würde ich zugeben, dass ich mich um jede Chance drücke. Was doppelt peinlich wäre, da der Kleine mich bereits von sich aus angequatscht hatte und offensichtlich keine solchen Bedenken hat, wie ich. Aber er ist aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht verknallt. Leider. Ich seufze, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf meinen Schultern lasten und bekomme prompt ein Kleidungsstück an den Kopf geworfen, was sich zu allem Überfluss auch noch erdreistet, dort zu verweilen bis ich es entferne. „Joshi! Du sollst mir helfen und keine Löcher in die Luft starren!”, empört sich meine kleine Schwester und baut sich drohend vor ihrem Bett auf, welches ich als Sitzgelegenheit benutze. So drohend, wie ein kleiner Kampfzwerg eben sein kann. Unwillkürlich stelle ich mir vor, wie Paul wohl aussehen würde, wenn er sich so aufregen würde, Hände in die Seiten gestemmt, Wangen aufgepustet und die großen Welpenaugen zusammengekniffen. Oh Himmel hilf, ich würde es vermutlich nicht überstehen, ohne ihn anschließend in Grund und Boden knutschen zu dürfen und dann- Aaaah anderes Thema, sonst wird es hier gleich peinlich. Schwester. Samstag. Party. Helfen. Klamotten. Ja, das war's, da bin ich gerade. Ich mustere kurz das scheinbar disqualifizierte Oberteil in meiner Hand, dann die über jede verfügbare Oberfläche verteilten Kleidungsstücke überall im Raum, deren vorherrschende Farbe Schwarz ist, nur durchbrochen von hauptsächlich pinken Akzenten. Warum muss Alexis ausgerechnet heute mit ihrem Macker in der Weltgeschichte herumtingeln? Stylingberatung ist eindeutig die Aufgabe einer großen Schwester! Große Brüder sind zum grimmig Verehrer-Verscheuchen da und zum Beschützen und zum Trösten. Und als Kutschierdienst. Aber nicht für so einen Kram. Ein Glück, dass ich nicht noch mit Holly einkaufen gehen musste, irgendwo hat Geschwisterliebe auch ihre Grenzen. „Sorry, war kurz abgelenkt. Kannst weitermachen.” Auffordernd wedel ich mit der Hand in Richtung des halb entleerten Kleiderschranks, ohne einen blassen Schimmer, wie das Ganze hier noch enden soll. Holly schnaubt noch einmal, dann wendet sie sich wieder ihrer schier unlösbaren Aufgabe zu und zerrt ein weiteres Kleid aus dem Schrank, hält es sich vor und wirft es über die Schulter, ohne auf einen Kommentar meinerseits zu warten. Ich rappel mich derweil mal auf und durchsuche die aussortierten Dinge nach einer möglichen Alternative, die nur etwas gutes Zureden bedarf. Erfahrungsgemäß kommt man, je tiefer man sich in einen Schrank gräbt, irgendwann an einen Punkt, an dem es nur noch Sachen gibt, die man nicht grundlos in ebendiese Tiefen verbannt hat. Ein Kleid in die Höhe haltend, drehe ich mich zu meiner Schwester um. „Was ist hiermit?” „Zu lang. Und langweilig”, lautet das Urteil, was nur Sekundenbruchteile dauert. In meinen Augen ist das an ihr etwas mehr als knielange Kleid mit Schnürung am Rücken und unter dem Saum hervorlugenden Spitzenstoff zwar nicht langweilig, aber nun gut. Mit einer achtlosen Bewegung werfe ich es aufs Bett und forsche weiter. „Ha!” Triumphierend zerre ich ein weiteres Kleid unter einem Berg Wäsche hervor und betrachte es. Kürzer – aber nicht zu kurz –, schwarz mit pinken Ziernähten, was gut zu ihren augenkrebserregenden Strähnchen passt, der untere Teil in Falten geworfen, der obere glatt und der Ausschnitt züchtig genug geschnitten, dass ich nicht die ganze Nacht auf der Lauer liegen muss, um kleine Jungs daran zu erinnern, dass sie noch zu jung für alles ist, was über Händchenhalten hinausgeht. Dabei ignoriere ich geflissentlich, was ich in dem Alter bereits getan habe. „Hm...”, brummt Holly unentschlossen und blickt zweifelnd zwischen meinem Vorschlag und dem kläglichen Rest der noch nicht begutachteten Auswahl hin und her. „Vielleicht... mit einer dicken Strumpfhose...?” Nun, da das Ende meiner Tortur in greifbare Nähe rückt, kommt auch wieder mehr Begeisterung in mich. „Doch, das ist toll! Komm, probier es mal an, wie es jetzt mit deinen Haaren aussieht. Husch husch!” Ohne Widerworte abzuwarten, drücke ich ihr das Kleid in die Hand und schiebe sie mitsamt diesem aus dem Zimmer, quer durch den Flur ins Bad und ziehe schnell die Türe hinter ihr zu, bevor sie wieder hinauskommen kann. Sicherheitshalber halte ich die Türklinke zu und lehne mich nach hinten, damit es auch ja kein Entkommen gibt. Hinter mir geht eine Türe und ich bilde mir ein, ein gemurmeltes „Alles Bekloppte hier” zu hören. Ich muss leise lachen. Stimmt. Normal kann ja schließlich jeder.   Da ich ohnehin nichts besseres zu tun habe, fahre ich Holly – die tatsächlich das von mir ausgesuchte Kleid trägt – und ihre auf kleinen Umwegen eingesammelten Freundinnen zur Party hin. Auf der Rückbank zusammengequetscht, schnattern die drei Mädchen aufgeregt durcheinander und ich versuche nicht zu genau hinzuhören, wenn es um Jungs oder sonstige Weiberthemen geht. Ich kann nur den Kopf darüber schütteln, wie es Holly gelingt, trotz ihrer rebellischen Art und der offensichtlichen Weigerung sich dem Mainstream anzupassen dermaßen beliebt zu sein. Während ich mich bewusst am Rande der Gesellschaft aufhalte, steht sie am liebsten im Mittelpunkt. Wo ich mit Desinteresse und ehrlicherweise auch Arroganz aufwarte, punktet sie mit Empathie und Aufgeschlossenheit, ohne dabei jemals ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Verrückte Welt. Halb in Gedanken setze ich den Blinker und lenke unseren alten Van auf den Parkplatz vor der Vereinshalle, wo bereits ein Haufen halbstarker pseudocooler Jungs auf der einen und dutzende Grüppchen tuschelnder Mädchen auf der anderen Seite warten. Rein der Provokation willen, steige ich aus, richte mich zu meiner vollen Größe auf und nehme meine kleine Schwester demonstrativ in den Arm. 'Ja, guckt ihr nur. Wenn ihr an sie ranwollt, müsst ihr erst an mir vorbei!', denke ich mir und verstecke mein höhnisches Grinsen besser vor Holly, bevor die mir einen Rüffel erteilt, der meiner Autorität schaden könnte. Wäre ja noch schöner, wo ich mir extra die Stiefel mit den breiten Metallschnallen und meinen langen Mantel angezogen habe, um auch ja abschreckend zu wirken. „Du rufst an, sobald du weißt wann ich dich holen soll, okay? Spätestens elf!”, erinnere ich sie streng. „Ja ja”, winkt Holly ab und strahlt mich an. „Bis später, großer Bruder.” Damit dreht sie sich um und leitet ihre Begleiterinnen – die mir auch noch kurz einen teils bewundernden, teils eingeschüchterten Blick zuwerfen – zu der größten Traube weiblicher Partygäste. Ich spare mir weiteres, mahnendes Gehabe und steige wieder ein, fahre zurück auf die Straße und hänge ein bisschen meinen Gedanken nach. Als ich an einer Ampel halte, fällt mein Blick auf einen kleinen, recht bunten Laden an der Ecke. Ein Comicladen. Huch, sowas gibt es noch? Sofort überkommt mich der Gedanke an Paul und ich muss die irrsinnige Idee niederkämpfen, abzubiegen, zu parken und mir das Geschäft von innen anzusehen. Als könnte mich so etwas meinem Ziel näherbringen. Dämlich. Das einzige Ergebnis wäre, dass ich mich lächerlich mache. Aber tue ich das nicht ohnehin schon? Ein wütendes Hupen hinter mir macht mich auf die grüne Ampel aufmerksam und rettet mich vor weiteren Selbstzweifeln.   ~*~   Das Wetter an diesem Tag ist ziemlich eklig, mit Wind und Nieselregen, was die Nikotinsüchtigen aus meinem schulischen Bekanntenkreis aber nicht davon abhält, ihrem Drang nachgeben zu wollen. Unschlüssig stehe ich in der Pausenhalle, betrachte die bedrohlich geringe Akkuanzeige meines Handys, die mich davor warnt, jetzt Musik zu hören, sofern ich es nicht vorzeitig in die Ohnmacht schicken will. Mist. Mir ist über Nacht das Kabel aus der Buchse gerutscht und ich habe es zu spät gemerkt, um es noch vor der Schule aufladen zu können. Und jetzt hänge ich hier, mit der Wahl zwischen Langeweile, Schulkram und der Option mich mit meinen Mitschülern zu beschäftigen. Oder alternativ nach draußen zu den Rauchern zu gehen. Pfui bah. Leise murrend schweift mein Blick durch den Raum, bis ich ganz in meiner Nähe eine bestimmte Person entdecke. Wie ein heilsbringender Sonnenstrahl erscheint mir der blonde Haarschopf inmitten des trostlosen Dezembertages. Kurzentschlossen kratze ich alles zusammen, was von meiner üblichen Selbstsicherheit übriggeblieben ist und marschiere zu Paul, der tief in Gedanken versunken aus einem der Fenster starrt, einen Schreibblock fest in den Armen. „Hi”, begrüße ich ihn ein wenig atemlos und zwinge meine Mundwinkel in ein Lächeln. Der Andere fährt erschrocken zusammen, so wie ich es vor kurzem getan habe, und blinzelt dann irritiert zu mir auf, als müsse er sich erst wieder in der Realität zurechtfinden. „Oh. Äh. Hi”, stottert er, leicht überfordert wie mir scheint. „Sorry, wollte dich nicht erschrecken”, versichere ich ihm und hebe besänftigend die Hände. „Ach, schon gut.” Nun legt sich auch auf seine Lippen ein seichtes Lächeln und ich muss schlucken. Weiß er eigentlich, wie küssenswert er gerade aussieht? Auch wenn nach wie vor ein dunkler Schatten über ihm zu hängen scheint. Anders kann ich es nicht beschreiben, aber ich habe das Gefühl, er strahlt nicht so von innen heraus, wie er es sonst tut. Doch ehe ich mich erkundigen kann, ob alles okay ist, redet er schon weiter. „Ich muss ja hier nicht lebende Statue spielen, dann passiert so was auch nicht.” 'Meinetwegen darfst du jederzeit Statue spielen, solange ich dabei bin und dich anstarren und dabei sabbern darf.' Laut sage ich: „Macht doch nichts. Schließlich müsste ich dich ja auch nicht einfach so anquatschen.” Nanu, täusche ich mich, oder wird er ein ganz kleines bisschen rot? Selbst wenn es nur Einbildung war, meine neuen Begleiter nutzen diese Gelegenheit erneut einen Aufruhr in meiner Magengegend zu veranstalten. Bah, ist das nervig! „Ich... freu mich aber. Also, das du mit mir sprichst”, nuschelt Paul seinen Schuhspitzen entgegen, die plötzlich viel interessanter sind, als ich. Noch ein Grund mehr für meinen Körper, in inneren Aufruhr zu geraten. „Magst du... vielleicht mitkommen?” Schüchtern hebt er den Kopf und deutet mit einem Finger zu der Bank, die er für gewöhnlich mit seinen Freunden belegt, von denen aktuell jede Spur fehlt. „Klar, gerne”, spricht mein Mund, ohne vorher den bewussten Teil meines Hirns um Erlaubnis zu fragen. „Meine Truppe ist so bekloppt bei dem Wetter trotzdem noch rauchen zu müssen”, hänge ich als Erklärung hintendran. Nur für den Fall, dass er sich fragt, warum ich ihm plötzlich nachstelle. „Du rauchst aber nicht?”, fragt der Kleinere mit einem merkwürdigen Unterton nach. „Nein, überhaupt nicht!”, wehre ich sofort ab. Zumindest keine Zigaretten. Dass ich mir schon ein paar Mal vielleicht eventuell einen Joint etwas näher angeguckt habe, werde ich ihm besser nicht erzählen, so erleichtert wie er nun auf meine Beteuerung reagiert. „Das ist gut. Sucht jeder Art macht einen Menschen kaputt.” Schon wieder huscht ein Schatten über sein Gesicht, ehe er sich abwendet und zu 'seiner' Sitzgelegenheit geht, den Rucksack nur über eine Schulter gehängt. Ich folge ihm eilig, in Gedanken noch bei dem kurzen Stimmungsumschwung hängend. „Ach, Matz, Kathi und Charly schreiben gerade noch eine Klausur, deshalb bin ich auch alleine”, fügt er als verspätete Erklärung hinzu, warum auch er ohne Anhang hier herumsteht. „Klausur? Die Pause durch? Wie mies.” Meine Nase zieht sich kraus beim Gedanken, an solche Schandtaten. Paul kichert leise. „Ja, oder? Da hat man gar keine Lust in den Abschlussjahrgang zu kommen. Und dann die richtigen Abiprüfungen im Frühjahr!” Stöhnend lässt er sich auf das Holz plumpsen und klopft auffordernd neben sich. Ich tu ihm den Gefallen, allein schon, weil ich nicht will, dass er sich wegen mir einen Nackenkrampf holt. „Die drei sind also schon in der Dreizehnten?”, frage ich neugierig nach, obwohl ich die Antwort ja bereits kenne. Er nickt bestätigend. „Und wie kommt's, dass ihr zusammen abhängt?” Schulterzucken. „Hab ihnen mal gezeigt, wie man das Sicherheitssystem an den Rechnern hier austrickst, nachdem ich das Programm geknackt hatte. Und irgendwie haben wir uns danach gut verstanden.” Das sagt er einfach so, als wäre nichts dabei. Mir bleibt nur, ihn bewundernd anzustarren. „Du bist der Typ, der das fertiggebracht hat?” Schon wieder ziert eine leichte Röte seine Wangen und vor allem den sichtbaren Teil seiner Ohren, diesmal sehe ich es ganz genau. „Vielleicht?” „Aber... fuck, ich dachte immer das wäre so ne Schullegende und irgendein Depp hätte das wer weiß wo runtergeladen oder so.” „Ist doch nichts dabei. Nicht, wenn man sich ein bisschen auskennt. Und die Technik von vorvorgestern ist.” Den letzten Teil grummelt er, ihn scheint dieser Umstand wirklich zu stören. Ich kann immer noch nur perplex auf das Wesen neben mir starren, dass mir immer mehr Rätsel aufgibt. Nun ist er auch noch der mysteriöse Kerl, dank dem man an den meisten Rechnern inzwischen heimlich auf eigentlich gesperrte Webseiten kommt und die schuleigenen Computer auch zu was anderem als sinnlosem Wikipedia-Kopieren nutzen kann. Aber er hat recht, selbst ich weiß, dass die Computer alt sind und kaum für was anderes taugen. Aber dennoch... „Du erzählst es aber nicht weiter, oder?” Nun klingt er plötzlich wieder verunsichert. Energisch bewege ich meinen Kopf verneinend hin und her. „Auf keinen Fall! Wäre doch ganz schön blöd von mir, unseren ganz eigenen Robin Hood ans Messer zu liefern.” „Robin Hood?”, fragt er ungläubig aber hoch amüsiert nach. „Wie kommst du denn auf den Vergleich?” „Na, die Lehrer stehlen uns Zeit und das Recht auf freies Internet und du eroberst uns ein Stück zurück und verteilst es heimlich unter uns armen, gequälten Seelen.” Über meine todernst hervorgebrachte, dezent übertriebene Veranschaulichung müssen wir beide wieder lachen. Warum habe ich mich eigentlich so lange davor gedrückt, mit ihm zu reden? Auf einmal geht es so leicht und Pauls fröhliche Art macht es wirklich einfach, die Anspannung aus meinen Muskeln zu vertreiben. Obwohl wir doch eigentlich kaum etwas gemeinsam haben. Aber zum ersten Mal bin ich wirklich neugierig auf einen Menschen, der fernab meiner eigenen Filterblase existiert. Und naja, ein paar gemeinsame Themen haben wir durchaus, auch wenn sie solch unerfreuliche Dinge wie Schule betreffen. Aber sogar darüber rede ich gerne, sofern es mit einem engelsgleichen Blondschopf ist, wie ich in der restlichen Pausenzeit feststelle.     Pauls POV   Mit einem Winken, was kaum mehr als ein Heben meiner rechten Hand ist, verabschiede ich mich von dem durchaus imposanten jungen Mann, der mich die letzte Viertelstunde unerwartet aber alles andere als unwillkommen beansprucht hat. Das Lächeln ist immer noch wie festgetackert, dabei ist längst niemand mehr in der Nähe, der sich für mich interessieren könnte. 'Aber Joshua tut es', geistert mir eine leise Stimme durch den Kopf. Ja, das tut er wohl, warum auch immer. Es hat tatsächlich Spaß gemacht, sich mit ihm zu unterhalten. Und das nach so einem Tag, oder vielmehr so einer Nacht, angefangen beim letzten Abend... Ich stoße die Erinnerungen von mir, ehe sie sich manifestieren können. Nein, dafür ist hier und jetzt kein Platz! Und ich bin Joshua wirklich dankbar, dass er mich eben aus meiner melancholischen Stimmung gerissen hat. Natürlich weiß er davon nichts, aber dennoch kam er zur rechten Zeit. Schon wieder. Meine Gedankenwelt hellt sich wieder ein wenig auf, als ich mir den stets dunkel gekleideten Schulkameraden vor Augen rufe. Ich glaube, er ist in Wirklichkeit ein sehr netter Kerl. Warum er allen anderen gegenüber wohl immer einen auf brummig und abweisend macht? Ich gebe mir immerhin große Mühe, unsichtbar zu bleiben, aber seine Art schreit geradezu 'Schaut mich an! Und jetzt haut ab!' Ein krasser Gegensatz. Er will förmlich ausgegrenzt werden, aber ganz bewusst, jeder soll wissen, dass er keiner von ihnen ist und sein will. So verrät es mir mein Bauchgefühl und das ist auf Stimmungen und Einstellungen geeicht, seien sie noch so subtil. Und obwohl auch ich möglichst niemanden an mich heranlassen will, erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich über das Rätsel nachdenke, was er mir stellt. Kapitel 5: ----------- Kurze Erklärung zu den eingefügten Triggern: Die Story ist tiefgründiger geworden, als geplant. Und auch wenn die Themen nur indirekt zur Sprache kommen, denke ich, ist es wohl besser, sensible Personen zu warnen. Wer dazu Fragen hat, kann mich gerne anschreiben.     ~ 5 ~   Pauls POV   „Blödes Wetter!”, fluche ich leise und bin froh, endlich im Fahrradkeller anzukommen. Mein treuer Drahtesel ist schnell vertäut und pitschnass wie ich bin, geht es nun hoch in den Aufenthaltsbereich. Wenigstens ist es um zwanzig nach Sieben noch so leer in der Schule, dass ich mir einen der hohen Heizkörper sichern und wenigstens versuchen kann, meine Jacke und Hose in ihrer Nähe zu trocknen, sowie die vordersten Strähnen meiner Haare, welche trotz Kapuze vom Regen erwischt worden sind. Die Jacke oben drüber geworfen, presse ich mich bibbernd mit dem Rücken an die heißen Röhren. Ich bin nicht für den Winter gemacht! Wobei Schnee und Kälte unter dem Gefrierpunkt halb so wild sind, nur dieser Regen in einstelligen Plusgraden... Mich vom aktuellen Wetter ablenkend, blicke ich mich in der Halle um. In der sehr leeren Halle. Auch vom Bereich der Unter- und Mittelstufe höre ich nur sehr vereinzelte Stimmen. Na, wen wundert's? Bis auf einige unglückliche Vorstadtkinder, deren Busse wahlweise viel zu früh oder viel zu spät fahren, hält sich auch niemand freiwillig über eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn hier auf. Ich seufze leise, rutsche an der Heizung nach unten und hocke mich auf den Boden. Dann ziehe ich mir meine Tasche heran und ein schon ordentlich zerlesenes Buch aus ihr hervor. Ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, wie ich mich beschäftigen könnte...   „Was machst du denn da unten?” Ich schrecke auf, die Realität stürzt plötzlich mit all ihrem Lärm und Licht wieder auf mich ein. Als wäre ich nach einer Ewigkeit unter Wasser unvermittelt durch die Oberfläche an die Luft gebrochen. Blinzelnd kläre ich meinen Blick und nehme als erstes ein paar Stiefel wahr, die mir entfernt vertraut vorkommen. Weiter an schwarzer Jeans und schwarzer Jacke vorbei. Ich muss meinen Kopf in den Nacken legen, wodurch mich eine der Lampen unangenehm blendet, doch das fragend schiefgelegte Gesicht erkenne ich auch so. „Äh...” Mein Hirn hängt wohl noch zwischen den Seiten in einer anderen Dimension fest. Joshua schmunzelt, geht vor mir in die Hocke und drückt mit dem Zeigefinger von hinten sachte gegen mein Buch. „Darf ich?” „Öh... klar!” Ich kippe die aufgeschlagenen Seiten gegen meinen Oberkörper, sodass Joshua den Titel lesen kann. „Terry Pratchett?”, liest er den Autoren ab und scheint kurz nachzudenken, dem in sich gekehrten Ausdruck nach zu urteilen, der sich erhellt und wieder auf mich richtet, als er sich erinnert. „Ach, das ist doch der mit den Scheibenwelt-Romanen, oder?” Ich nicke, erwidere sein Lächeln ein wenig zurückhaltend. „Ja. Das ist eins davon.” Erklärend wedel ich mit dem Buch. „Ha! Da lag ich ja richtig. Ein paar haben wir auch zu Hause, ich weiß gar nicht von wem die ursprünglich waren.” Er zuckt mit den Schultern, als würde es ihn auch nicht weiter kümmern. „Aber warum sitzt du dafür auf dem Boden? Ich dachte, ihr habt euch eine Bank gepachtet?” Mit dem Daumen deutet der Schwarzhaarige in die ungefähre Richtung meines Stammplatzes. Meine Wangen werden heiß. „Ja... äh...”, stottere ich erneut los. Dann weise ich zu meiner vermutlich immer noch feuchten Jacke über mir und zuppel anschließend an meinen ebenfalls noch klammen Haaren. „Ich versuche mich ein bisschen zu trocknen.” „Oh.” Der Umstand, dass ich wie ein begossener Pudel aussehe, scheint ihm erst jetzt bewusst zu werden und ich muss mir ein Lachen verkneifen, so wie er mich anguckt. Wenn ich es mir recht überlege, ähnelt er gerade viel mehr dem besagten Hund, als ich es tue. Zumindest, bis auch er zu grinsen anfängt. „Du weißt schon, dass es so eine Erfindung namens Regenschirm gibt?” „War wohl etwas in Eile und hab ihn vergessen.” Nun zucke ich unbekümmert mir den Schultern und verdränge schnell das düstere Gefühl, was mich heute viel zu früh aus dem Haus getrieben hat. Die schokobraunen Augen liegen auf einmal mit einem lauernden Ausdruck auf mir, als hätten sie eine verräterische Regung an mir wahrgenommen. Doch bevor Joshua Fragen stellen kann, die hier an meinem sicheren Rückzugsort namens Schule nichts zu suchen haben, und sei es nur warum ich viel zu früh schon in Eile gewesen sein soll, lächel ich ihn wieder an. „Aber du hast recht. Sollen wir uns setzen gehen?” Inzwischen habe ich meiner Umgebung auch genug Aufmerksamkeit geschenkt um zu wissen, dass es immer noch einigermaßen früh und noch genug Zeit bis zum Unterrichtsbeginn ist. „Können wir machen”, antwortet er mir, als seine Musterung wohl zu meinem Glück ohne Ergebnis bleibt. Geschmeidig erhebt sich mein Gegenüber und hält mir eine Hand hin. Dankbar ergreife ich sie und lasse mich auf die Füße ziehen, meine verkrampften Muskeln protestieren und meine Gelenke beschweren sich schmerzend über die eindeutig zu lang ausgeharrte, unbequeme Position. „Uff!”, entfährt es mir, als meine wackeligen Knie ihre Arbeit verweigern und mich ohne weitere Ankündigung nach vorne fallen lassen. Doch statt des harten Bodens, lande ich mit dem Gesicht voran an Joshuas Oberkörper. Vor Schreck erstarre ich, die Hände haltsuchend in den Stoff an seinen Seiten gekrallt. Wärme schlägt mir entgegen, die und ein unerwartet angenehmer Geruch. 'Sandelholz', schießt es mir durch den Kopf. Und als hätte dieser Gedanke eine Seifenblase zum Platzen gebracht, schrecke ich zurück und löse mich hastig von meinem immer noch erstarrt dastehenden Mitschüler. „So-Sorry”, murmel ich unsicher und schon wieder stotternd. Ich ringe mir erneut ein Heben der Mundwinkel ab, versuche so die Situation zu entschärfen. Oh man, wie peinlich! Josh erwacht blinzelnd aus seiner Trance. „Hoppla, hast wohl schon länger da gehockt?”, fragt er schmunzelnd, als wäre das alles ganz normal. Erleichtert atme ich aus und nicke. „Ja. Wohl etwas zu lange.” Nun etwas vorsichtiger, bücke ich mich nach meinen Sachen und verstaue das vergessene Buch wieder in meiner Tasche. Sicherheitshalber halte ich mich beim Aufrichten mit einer Hand an der heißen Heizung fest. Diese will ich gerade lösen und nach meiner Jacke greifen lassen, doch das Kleidungsstück hängt nicht mehr dort. Irritiert blicke ich zur Seite und finde es sicher aufbewahrt über Joshuas Arm. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll, beschließe jedoch, es einfach als eine nette Geste hinzunehmen. So tollpatschig wie ich mich benehme verwundert es mich eher, dass er nicht schon längst die Flucht ergriffen hat. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an den Kaffee letztens. Wortlos gehen wir nebeneinander her zur angesprochenen Bank. Noch niemand sonst da. Seufzend lasse ich mich auf das Holz plumpsen und strecke meine immer noch schmerzenden Beine. Mit deutlich mehr Anmut setzt sich Joshua neben mich, nachdem er seine eigene Jacke ausgezogen hat. Möglichst unauffällig rutsche ich ein Stück näher an die lebendige Wärmequelle heran. Ohne Heizung ist es doch recht frisch hier drin, aber auf den durchweichten Stoff, der am Ende der Sitzgelegenheit über der Lehne hängt, habe ich noch weniger Lust. Meinem Nebenmann scheint mein vorsichtiges Anschmiegen nicht aufzufallen. Zum Glück. Meine Freunde sind meine spontanen Kuschelattacken gewohnt und lassen es meist unkommentiert, wenn ich mal Körperkontakt suche, aber bei einem fast fremden Mitschüler? Besser nicht. Joshua neben mir gibt plötzlich einen genervten Laut von sich und ich will schon erschrocken von ihm wegrücken, als er nach seinem Rucksack angelt und leise vor sich hinfluchend einen Block, ein Buch und einen Stift nacheinander aus den Tiefen zieht. „Hab völlig vergessen, weshalb ich so früh von einem Irrenhaus ins andere geflohen bin”, erklärt er seine Aktion in meine Richtung und wirft damit mehr Fragen auf, als er mir beantwortet. Irrenhäuser? Doch als er sich wieder gerade hinsetzt (immer noch ganz nah neben mir) und zu blättern beginnt, wird mir zumindest klar, dass er wohl noch Hausaufgaben zu machen hat. „Sorry, ich muss das flott machen, sonst kriegt die Ludwigs noch einen Anfall.” Er rollt übertrieben mit den Augen und beginnt zu schreiben. Ich nicke verstehend, schmunzel vor mich hin und beobachte ihn ansonsten schweigend, will ja nicht stören. Zwischendurch erklärt er mir unaufgefordert, dass es gestern Abend ziemlich turbulent bei ihm zu Hause war, weshalb er nicht alle Aufgaben erledigt konnte und früh morgens sei es wohl meistens noch schlimmer. Klingt ziemlich chaotisch, was er so durchblicken lässt. Mit dem Verlobten der großen Schwester allein schon sieben Familienmitglieder, plus Freundinnen der kleinen Schwester und einem rebellierenden kleinen Teeniebruder mittendrin, wenn ich auf die Schnelle richtig mitgezählt habe. Ich kann mir dieses heillose Durcheinander nur sehr schwer vorstellen, welches zwangsweise herrschen muss, wenn mehr Personen als Räume in einem kleinen Häuschen zusammen kommen. Das genaue Gegenteil von dem, was ich täglich erlebe. Mein Blick gleitet in die Ferne.     Joshuas POV   Der letzte Punkt ist gesetzt, doch mein Stift verharrt auf dem Papier. Zu gefesselt bin ich von dem geistig abwesenden Jungen an meiner Seite, von dem sehnsüchtigen Lächeln, was seine vollen Lippen umspielt. Ich würde einiges dafür geben, zu wissen, was in seinem hübschen Köpfchen vor sich geht. Nicht nur jetzt, sondern fast immer. Will mich vergewissern, ob ich mir die Schatten nicht doch nur einbilde, die manchmal für Sekundenbruchteile seine Miene verdunkeln. Und, was dahinter steckt. Doch heute werde ich wohl nichts mehr erfahren, denn ausgerechnet diesen magischen Moment suchen sich die beiden anderen Kerle aus Pauls Clique, um vor uns aufzutauchen und den Kleinen damit aus seinen Gedanken zu reißen. „Wer von euch hat seinen Teller nicht aufgegessen, hm?”, begrüßt uns der Braunhaarige von beiden vorwurfsvoll und scheint sich gar nicht weiter an meiner Gegenwart zu stören, sondern quetscht sich kurzerhand auf die freie Ecke neben Paul. „Ich war's nicht, dafür hab ich zu gut gekocht”, kontert Paul frech grinsend und macht mich damit ein bisschen sprachlos. Der Kleine, frech? Und was meint er mit 'er hat zu gut gekocht'? „Wahrscheinlich war Matz es selber, so wählerisch wie der Herr aktuell ist.” Der mit der Brille rollt mit den Augen, grinst aber selber. „Gar nicht wahr!” Der andere, allem Anschein nach also Matz, plustert übertrieben die Wangen auf und kneift die Augen zusammen. „Dann kannst es also nur du gewesen sein!” Nicht nur sämtliche Augen, sondern auch ein anklagender Zeigefinger sind nun auf mich gerichtet. Skeptisch ziehe ich eine Braue hoch. „Ich? Machst du Witze? Bei mir zu Hause geht es zu wie in einem Wolfsrudel und gestern gab es die Spaghetti Bolognese meines Vaters, da bleibt niemals auch nur eine einzige Nudel übrig.” „Also warst du es entweder wirklich selber, oder wir akzeptieren die Tatsache, dass das Wetter sich nicht an so dämlichen Aberglauben hält und macht was es will”, schlussfolgert der noch namenlose Brillenträger. Sein entschuldigendes Lächeln, kombiniert mit einem erneuten Augenrollen in Richtung seines Kumpels lassen mich vermuten, dass derlei alberne Diskussionen wohl häufiger vorkommen. „Streng genommen macht das Wetter nicht was es will, sondern es hängt von gefühlt zwei Dutzend Faktoren und ein bisschen Zufall ab, aber das klingt immer noch plausibler als die Grütze, die Matthias mal wieder von sich gibt”, erklingt eine deutlich höhere Stimme und die vierte im Bunde taucht auf. Ich bin mir nicht sicher, was auffälliger ist: Dass es sich um das einzige weibliche Mitglied handelt, oder um das einzig übergewichtige. Nicht, dass eins der beiden Dinge in irgendeiner Form verwerflich wäre! Nur neben den drei schon eher zu dünnen Jungen fällt das kräftige Mädchen schon ziemlich aus dem Raster. Eine ulkige Truppe. Und ich bin mir bewusst, dass es ironisch ist, wenn ausgerechnet ich so etwas denke. Leider nimmt sie meine Anwesenheit nicht so wortlos zur Kenntnis, wie ihre Kumpels, sondern mustert mich kritisch. „Und was macht der hier?” Oh oh, Zickenalarm auf zwei Uhr. Aber nicht mit mir Fräulein, ich lebe mit drei von deiner Sorte unter einem Dach! Wäre doch gelacht, wenn ich mit dir nicht fertig werden würde. Wobei ich es mir mit Pauls Freunden eigentlich nicht verscherzen will, das würde meinem Plan widersprechen. Aber zum unterbuttern lassen bin ich leider zu groß, sorry Schätzchen. Also setze ich mein entwaffnenstes Lächeln auf, lehne mich zurück, als hätte ich jegliches Recht hier zu sein – was streng genommen ja auch stimmt – und blicke sie gelassen an. Habe ich eben noch darüber nachgedacht, erneut die Flucht zu ergreifen, habe ich nun fest vor zu bleiben. „Nun, aktuell sitze ich hier. Übrigens, sehr bequem, danke der Nachfrage. Und davor habe ich Hausaufgaben gemacht und mich sehr nett mit meinem Stufenkameraden hier unterhalten, der mich schließlich auch auf eure hübsche Bank eingeladen hat.” Mit dem Daumen deute ich auf den Blonden neben mir. Das Mädel guckt mich ziemlich perplex an, ob meiner Dreistigkeit, ehe sie ein schnaubendes Geräusch von sich gibt, was sich kurz darauf zu einem Lachen steigert. „Na meinetwegen, du darfst bleiben”, erlaubt sie mir grinsend. „Zu gütig, eure Hoheit”, näsele ich gestelzt und mit einer gehörigen Portion Ironie. Mister Klassenclown fällt vor Giggeln fast von der Bank und auch dem anderen Kerl zaubert es ein schiefes Grinsen auf die Lippen. Doch wirklich interessieren tut mich nur eine einzige Person. Und die guckt ziemlich erleichtert in die Runde. Nanu? Hatte da noch einer Bedenken, wie das hier enden könnte?   ~*~   Man hätte ja meinen können, nachdem meine sporadische Anwesenheit im Kreise der Nerd-Außenseiter von diesen akzeptiert worden war, könnte ich Paul unauffällig aber stetig näher kommen, ihn aushorchen, seine Orientierung herausfinden und vielleicht auch mal ein 'harmloses' privates Treffen arrangieren. Doch nichts ist! Keinen Schritt weiter bin ich! Auf seine sonnenscheinige Art ist Paul undurchdringlich wie... Stahl wäre noch zu weich. Diamant eventuell. Ein sehr trüber, undurchsichtiger Diamant. Die Weihnachtstage stehen vor der Türe und so langsam verliere ich sowohl Geduld, als auch Hoffnung. Und gleichzeitig zieht es mich wie ein verdammter Magnet immer und immer wieder zu Paul zurück. Wenn er mich auf seine unschuldige Art anlächelt, schwebe ich für Stunden auf rosaglitzer Wolken umher. Bei jeder noch so zufälligen kleinen Berührung durchzucken mich Stromstöße, die mein kurzfristig erstarrtes Herz wieder in Gang setzen und zu Höchstleistungen antreiben. Und das kommt gar nicht mal so selten vor, diese kleinen Berührungen. Theoretisch ein gutes Zeichen, praktisch sehr ernüchternd eine Angewohnheit, die er bei all seinen Freunden an den Tag legt. Auf der anderen Seite, zählt er mich immerhin dazu. Heute war es ganz besonders schlimm. Zur Begrüßung bekam jeder von uns eine Umarmung und ich Idiot war so überrumpelt, dass ich sie nicht einmal vernünftig erwidern konnte. Wütend auf mich selbst bin ich kurz darauf zu meiner eigenen Truppe gestoßen, die meine gelegentliche Abwesenheit mit gemischten Gefühlen sieht. Also eigentlich ist es ihnen im Großen und Ganzen egal, da ich ohnehin immer ungerne mit in den Raucherbereich bin, erst recht im Winter, oder sie ziehen mich damit auf, dass ich 'fremdgehe'. Nur Sophie ist... schwierig. Sie konnte mir immer noch nicht genau sagen, was zum Henker sie nun gegen Paul hat, außer, dass er so gar nicht zu mir passen würde. Nach wie vor nennt sie ihn 'Muttersöhnchen'. Und über ihre Verkupplungsversuche mit dem Mädel aus einigen meiner Kurse haben wir uns ziemlich heftig in die Haare bekommen, weshalb wir seit Tagen nicht mehr miteinander reden. Was blöd ist, da wir uns fast alle Fächer teilen und dort nebeneinander sitzen. Jackpot, yeay. Nicht.   „Boah! Endlich Schluss!” Ächzend strecke ich meinen verspannten Rücken und folge der schnatternden Horde Schüler durch die Tür des Klassenzimmers in die temporäre Freiheit der Weihnachtsferien. Mein einziger Wermutstropfen: Ich sehe Paul für ganze zwei Wochen nicht. Und als hätte ich ihn damit heraufbeschworen, taucht sein blonder Haarschopf just in diesem Moment neben mir auf. „Ja, endlich ein paar ruhige Tage”, sagt er, als Antwort auf meine so dahingesagten Worte. Ich lache kurz aber sarkastisch auf. „Ruhig? Vielleicht an Silvester, wenn alle verkatert im Bett liegen. Aber vorher werden wir uns wieder alle gegenseitig den letzten Nerv rauben.” Mit einem Seufzen streiche ich mir die Haar hinters Ohr. Mir graust es jetzt schon davor, nach Hause zu gehen, wenn ich so drüber nachdenke. „Oh.” Paul guckt betreten drein wie ein getretener Hund, der nicht versteht was er falsch gemacht hat. Ich spiele schon mit dem Gedanken, mich einfach auf ihn zu stürzen, ihn zu knuddeln und zu knutschen (Pfui, allein sowas zu denken ist nun wirklich nicht meine Art!) bis er aufhört so geknickt aus der Wäsche zu schauen, weil er bald gar keine Wäsche mehr am Leib tragen wird... Ehe mein Kopfkino vollends eskaliert, erstrahlt das Gesicht des Jüngeren plötzlich wieder in seiner gewohnten Fröhlichkeit, die ich an jedem anderen Menschen zum Kotzen finden würde. Nur eben an ihm nicht. Paul darf das. Darf alles. Ääääh, Erde an Hirn und Unterleib, Abbruch, ich wiederhole, Abbruch! „Tja, da hab ich ausnahmsweise mal einen Vorteil. Bei uns wird es tatsächlich eher ruhig und besinnlich. Wobei so eine große Familie, wie du sie hast, bestimmt auch lustig ist.” „Naja... zumindest wird es nicht langweilig”, stimme ich ihm lachend zu. Wir erreichen die Haupthalle, wo sich unsere Wege zwangsläufig trennen. Etwas unschlüssig stehen wir voreinander, dann gebe ich mir einen Ruck und ziehe den Zwerg in eine feste Umarmung. Immerhin hat er heute Morgen damit angefangen, also darf ich das jetzt auch. Paul zögert nur kurz, ehe er die Umarmung erwidert. Viel zu schnell lösen wir uns wieder voneinander. Von mir aus hätten wir noch ewig so hier stehen können, aber ich will ja nicht, dass es ihm unangenehm wird. „Na dann... frohes Fest”, wünsche ich ihm etwas unbeholfen. „Dir auch”, sagt er leise und wendet den Blick ab, ein Lächeln auf den Lippen, die Wangen leicht rosa. Schnell mache ich mich auf den Weg, bevor ich noch etwas sehr Dummes mache. Doch als ich mich an der Türe noch einmal umdrehe, sehe ich, dass Paul noch immer dort steht und mir nachschaut.   Bei mir zu Hause herrscht ein noch größeres Chaos als es das ohnehin schon immer tut und das will einiges heißen. Der Baum liegt, noch im Netz gefangen, im Flur und sieht nicht allzu weihnachtlich aus. In der Küche diskutieren meine Mutter und meine große Schwester Alexis mit dem mobilen Telefonhörer, aus dessen Lautsprechern krächzend die Stimme meiner Oma und einer der Tanten dringt, Martin als stummer Augen- und Ohrenzeuge in einer Ecke eine Liste am anfertigen, die alles von Einkaufszettel bis hin zu Testament sein kann. Wie es sich anhört, hat mal wieder jeder das Essen ganz anders geplant und sich wie immer nicht miteinander abgesprochen, was wie gewöhnlich in einer riesigen Diskussion endet. Ich schnappe mir nur schnell eine Flasche Wasser und fliehe. Durch die geschlossene – und garantiert verriegelte – Türe meines kleinen Bruders dringt laute Hiphop-Musik, die absolut disharmonisch mit den nicht ganz so grässlichen aber immer noch schlimmen Metalcovern diverser populärer Weihnachtslieder aus dem Wohnzimmer konkurriert. In besagtem Raum hocken meine kleine Schwester, drei ihrer Freundinnen und mein Vater über einem halben Dutzend Kartons voller Deko, der halbe Inhalt fliegt bereits wild durch die Gegend. Alles schwankt zwischen Glitzer-Kitsch und Gothic-Kitsch. Was im Grunde das Gleiche nur in weniger bunt und mit mehr Totenköpfen ist, nicht zwangsweise mit weniger Glitzer oder weniger kitschig. „Ah, Josh! Gut das du da bist!” Mein Vater steht von dem abgenutzten Stoffsofa auf und kommt auf mich zu. Die unwesentlich kleinere, deutlich ältere Version dessen, was ich jeden Tag im Spiegel sehe. Plus Wohlstandsbauch, wie er es nennt. Und mit Vollbart. Mein Blick huscht zu einem der stilisierten, schwarzgekleideten Weihnachtsmänner. Hm... mein alter Herr könnte glatt als Santa Claus auf einer Szeneparty auftreten. „Du musst mir mit dem Baum helfen. Das Ding ist ganz schön störrisch dieses Jahr!” „Aber-” „Nichts aber! Hopp hopp, Junge! Pack mal mit an.” Resigniert lasse ich meinen Rucksack noch an Ort und Stelle zu Boden sinken und dackel gehorsam zum nadelnden Ungetüm. Na, was hab ich gesagt? Und spätestens Heiligabend geht die Bescherung erst richtig los. Bis dahin steht uns noch der alljährliche Kampf um Geschenkpapier und Klebeband bevor, panische Einkäufe in letzter Minute und ein aus allen Nähten platzendes Haus. Ich muss schmunzeln. Ja, langweilig wird es hier wohl nie. Und vielleicht habe ich dann auch mal für ein paar Tage Ruhe vor dem sehnsüchtigen Kribbeln in meinem Bauch. Hoffen darf man ja noch.   ~*~   Pauls POV   Vorsichtig öffne ich die Klappe des Ofens, nachdem ich die Uhrzeit kontrolliert habe. Fast perfekt! Habe ich sonst alles? Wein und Nachtisch stehen kalt, alles was warm sein muss, ist es auch. Noch ein letztes Probieren der Suppe, ob auch ja richtig gewürzt ist und ich bin fertig. Die flüssige Vorspeise ist das Einzige, auf das mein Vater seit jeher an Heiligabend besteht, auch wenn ich sie in eine vegetarische Version umwandeln durfte. Ich husche über den Flur und linse ins Wohn- und Esszimmer. Das Deckenlicht ist aus, die Stehlampe in der Ecke spendet nur gedimmtes Licht, doch Kerzen und die Lichterketten am kleinen Baum erhellen den Raum mehr als genug. Am Tisch ist mein Vater gerade dabei die Gläser zu verteilen, sieht dann auf, als hätte er meine Anwesenheit gespürt. „Ich bin soweit, wie sieht es mit dir aus?”, fragt er mich, ein ehrliches Lächeln im Gesicht. Für einen Augenblick wird mir das Herz schwer, als ich diesen viel zu seltenen Anblick in mich aufnehme. Kein Kummer, keine dunklen Schatten weit und breit. Warum nur kann es nicht immer so sein? Warum schaffe ich es nicht, ihm zu helfen? Mühsam verdränge ich diese Gedanken. Dafür ist später noch Zeit, nicht jetzt. Ich lasse mir die Stimmung nicht vermiesen, auch nicht von meinem eigenen Kopf. „Bei mir auch. Sollen wir anfangen?”, antworte ich deshalb.   Das Essen verläuft so, wie ich es prophezeit hatte. Ruhig und besinnlich. Unwillkürlich muss ich an Joshua denken, bei dem es vermutlich gerade ganz anders zugeht. Aber so sehr er auch über seine chaotische Familie schimpft, im Grunde scheint er sie wirklich gern zu haben, seine Worte sind unterschwellig immer sehr liebevoll. Meine Gabel verharrt auf halbem Weg zu meinem Mund. Komisch. Warum muss ich ausgerechnet jetzt an den Schwarzhaarigen denken? Weshalb nicht an an einen meiner anderen Freunde? Schließlich weiß ich, dass zumindest Matz jetzt auch auf einem Familientreffen ist. Und wieso zieht sich alles in meiner Magengegend zusammen? Muss wohl am Wein liegen, ich trinke ja nur selten Alkohol. Ja genau, das wird es sein.     ~*~   So, mal ein bisschen auf die Tube gedrückt, damit die Herren aus den Puschen kommen ;) bald sind wir dann an dem Punkt, den HidSec-Leser schon kennen und dann geht es auf in unentdeckte Gefilde. Yeay! Kapitel 6: ----------- Hallöchen! Auch hier nochmal ein großes SORRY für die ungewöhnlich lange Pause, aber ich hatte einen kleinen, doch fiesen Unfall mit meiner linken Hand, die daraufhin einige Zeit stillgelegt wurde. Dazu kommen immer mehr statt weniger private Dinge, die meine Zeit und vor allem Energie fordern.   Ich warne jetzt schon vor einem kurzen, düsteren Abschnitt, der aber leider sein muss.   ~ 6 ~   Pauls POV   Meine Ferien vergehen in einem ziemlichen Einerlei aus Comics, Videospielen und ein wenig Schulkram und natürlich dem immer anstehenden Haushalt. Einmal treffe ich mich sogar mit Kathi und Charly – Matz ist für eine Woche im warmen Süden –, ansonsten beschränken sich meine Sozialkontakte auf Einkaufsgänge und meinen Vater. Seine Stimmung ist fast durchgehend gut, was in Anbetracht der dunklen, kalten Jahreszeit und dem typischen Loch zwischen den Feiertagen, welches selbst muntere Frohnaturen düster stimmen kann, gleich doppelt ungewöhnlich ist. Aber statt sinnlos nachzufragen und womöglich schlafende Hunde zu wecken, genieße ich die Zeit und tanke innerlich Kraft für das Tal, was zwangsläufig auf Höhenflüge folgt. Die Hoffnung, dass diese ausbleiben, habe ich schon lange unter Tonnen aus Realismus und Erfahrung begraben. Und so kommt es, dass ich wohl als einziger Schüler auf unserer nicht ganz kleinen Schule froh bin, am ersten Montag wieder durch das Eingangstor treten zu können. Denn Schule bedeutet für mich, eine Pause vom Alltag, eine Zeitspanne, in der ich ein anderes Leben führen kann, eins, in dem ich mir höchstens darum Sorgen machen muss, wie ich am Besten für Klausuren lernen oder verhasste Referate vorbereiten kann. Eins, in welchem ich ohne Gewissensbisse mein eigentlich doch sehr fröhliches Naturell nach außen tragen darf. Es ist kalt, es ist dunkel und stellenweise glatt, weshalb mein Fahrrad zu Hause bleiben musste. Trotzdem bin ich mal wieder viel zu früh. Das große Schulgebäude liegt nur mäßig erhellt vor mir, vereinzelt sehe ich Lehrkräfte hinter den Fenstern umher huschen, von den Schülerscharen, die sich im Laufe der nächsten vierzig Minuten hier einfinden werden, ist noch lange nichts zu erahnen. Lauwarme Luft schlägt mir aus der Eingangstür entgegen, die Heizung scheint gerade erst anzulaufen, nachdem der Hausmeister sie wie immer über die Ferien nur auf Minimum hat arbeiten lassen. Verständlich, bei dem Energieverbrauch, aber blöd für mich, der in dieser halbwarmen Luft mehr fröstelt, als draußen. Dafür gibt es nur eine Lösung: Direkt an den Heizkörper setzen. Gesagt, getan. Auswahl habe ich ja mehr als genug und so erwische ich sogar einen mit Bank davor. Etwas weniger Auswahl bietet der Inhalt meiner Tasche, wenn es darum geht, mir die Zeit zu vertreiben. Lernen muss ich für nichts, Hausaufgaben sind schon lange erledigt und mein neues Buch... habe ich auf meinem Nachttisch liegen lassen. Unerreichbar. Ebenso meine geliebten Comics. Ich seufze. Na toll. Und jetzt? Bleibt fast nur, das Internet via Smartphone. Ist ja nicht so, als ob ich da nicht eh schon viel zu viel drin surfen würde. Dann gucken wir mal, was sich seit gestern Abend so in der Welt getan hat, vielleicht dreht ja ein Politiker am Rad und unterhält mich mit seinem Größenwahn, bis einer meiner Freunde eintrifft. Die Heizstäbe drücken sich trotz Jacke unangenehm in meinen Rücken und fühlen sich viel zu heiß an, ohne mich effektiv zu wärmen. Vereinzeltes Gemurmel hallt viel zu laut durch die noch leeren Hallen und Flure, zeugt von den nächsten Ankömmlingen. Die Nachrichten sind nur voll belanglosem Zeug und auf keiner Social Media Plattform gab es nennenswerte Trends oder Themen, denen man nachgehen könnte. Laaaaangweilig. Ich schließe die Augen und lege meinen Kopf zurück, nur um es Sekunden später zu bereuen. Das Metall ist immer noch heiß, Wunder oh Wunder. Murrend rupfe ich meine Kapuze zwischen meinem Rücken und dem Höllengerät hervor und nutze sie als Barriere, um meinen Hinterkopf vor fiesen Verbrennungen zu schützen. Der Minutenzeiger der Uhr ist kaum nennenswert vorgerückt. Gelangweilt schweift mein Blick über die müden Gestalten, die sich bislang hier eingefunden haben. Ob Joshua wohl schon hier ist? Mit einem merkwürdigen Kribbeln in der Magengegend suche ich meine Mitschüler nun gezielter ab, doch nein, niemand hat auch nur annähernd die gesuchte Statur. Das Kribbeln wandelt sich in eine dumpfe Leere. Enttäuschung? Aber warum? Gedankenverloren spüre ich dem Gefühl in meinem Inneren nach, habe ja eh nichts Besseres zu tun. Einige Minuten später bin ich nicht wirklich schlauer. Ich habe mich schon so an die Anwesenheit des Größeren gewöhnt, dass ich ihn schon irgendwie zu meinen Freunden dazuzähle. Und er ist der Einzige gewesen, zu dem ich seit zwei Wochen keinerlei Kontakt hatte. Ja, das muss es sein. „Uff!” Der Laut und eine unvermittelte Vibration der Holzbank lassen mich aus meinen Grübeleien aufschrecken. Der Platz neben mir ist nicht mehr leer, stattdessen sitzt dort nun eine sehr müde aussehende Kathi, die ihre behandschuhten Finger umständlich hinter sich in die Lücken der Heizung stopft. Die Nase und die Wangen rot, die Haare wild zerzaust, sieht sie aus, als habe sie gerade einen Schneesturm überlebt. Fehlen eigentlich nur noch die Schneeflocken und Eiszapfen an ihrer Kleidung. „Was gibt’s da zu lachen?”, murrt sie mich an. „Sorry”, erwidere ich, unterdrücke mein Lachen jedoch nur halbherzig. „Kalt draußen, hm?” Sie verengt die Augen zu Schlitzen und überlegt eindeutig, wie sie mir 'das Grinsen aus dem Gesicht wischen kann', wie sie es wohl formuliert hätte. „Kannst froh sein, dass ich jetzt an der Heizung festgebacken bin.” Sag ich doch. Aber ich weiß auch, dass sie es nicht wirklich ernst meint, auch ohne das verräterische Zucken um ihre nach unten gezogenen Mundwinkel. Froh, mich nicht mehr mit mir selbst beschäftigen zu müssen, verwickle ich sie in ein Gespräch über eine Serie, von der ich weiß, dass sie sie ebenfalls in den freien Tagen durchgucken wollte. Die Zeit vergeht – endlich – etwas zügiger und der Geräuschpegel um uns herum steigt, was mir jedoch erst bewusst wird, als wir von einem empört-genervten „Boah, hier seid ihr ja!” rüde aus unserer Unterhaltung gerissen werden. Matz, Verursacher der Störung, bleibt mit in die Hüften gestemmten Händen vor uns stehen, eine eindeutig selbstgestrickte Mütze in orange-braun mit gelben Akzenten schief auf dem Kopf, die Strähnen seines braunen Haars unter dem Rand hinaus in alle Richtungen abstehend. In seinem Windschatten folgt Charly, einen dampfenden Becher Kaffee in der Hand und mit einem dermaßen müden Gesichtsausdruck, dass man ihn am liebsten noch einmal für mindestens drei Stunden ins Bett stecken wollen würde. Entsprechend fällt seine Begrüßung nur als unverständliches Genuschel aus, was in der beginnenden Zankerei zwischen Kathi und Matz ohnehin untergeht. Sein folgendes Augenrollen kommentiere ich nur schmunzelnd mit einem Achselzucken. Tja, so sind die zwei halt. Schlimmer als ein altes Ehepaar. Ich ignoriere den Wortwechsel gekonnt, dreht er sich doch eh nur um Nichtigkeiten, wie der Frage, warum wir hier und nicht an unserem Stammplatz sind und taste mit den Augen die uns umgebenden Mitschüler ab. Immer noch kein Joshua. Meine eben noch verspürte gute Laune sinkt. Ob er wohl später kommt? Oder steht er draußen, bei seinen Freunden? Und warum stört mich der Gedanke, dass er vielleicht lieber mit anderen abhängt als mit mir dermaßen? Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf versucht mir etwas zuzuflüstern, doch ich will es nicht hören. Nein. Ich hab den Schwarzhaarigen über die letzten Wochen als Freund liebgewonnen und jetzt vierzehn Tage lang nicht gesehen, dass ist alles. Was sollte es auch sonst schon sein.     Joshuas POV   „Boah, man, ich hab doch gesagt ich fahr mit dem Bus! Voll überflüssig der Mist hier!” „Nate! Jetzt halt die Klappe, dein Gemecker kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen!” So langsam ist auch meine Geduld am Ende. Im Rückspiegel werfe ich einen mahnenden Blick auf meinen kleinen Bruder, doch der gibt nur noch einen sehr genervten Ton von sich, wie ihn Teenager perfektionieren, rollt mit den Augen und zieht sich seine Kappe tiefer in die Stirn und über die strubbeligen, hellblonden Haare. Davon, dass man im Winter Mützen statt Basecaps trägt, will Herr von und zu Ich-bin-ein-Gangster natürlich nichts wissen. Und ich vermute, lediglich seine langen Shirts und Pullis verhindern, dass er sich bei den tiefhängenden Hosen eine Nierenentzündung holt. Ich bin mir nicht sicher, was ich erschreckender finden soll: Dass Zwillinge dermaßen verschieden sein können, auch wenn sie 'nur' zweieiig sind, dass ich mich anhöre wie unsere Eltern oder dass es unsere gesamte Familie geschafft hat, am ersten Schul- und Arbeitstag des Jahres zu verschlafen. Letzteres ist auf alle Fälle das akuteste Problem und Grund dafür, dass ich mit halsbrecherischem Tempo unsere Familienkutsche durch unsere kleine Stadt manövriere und ein ganzes Batallion an Schutzengeln aufbrauche. „Aaah! Pass doch auf!”, kreischt meine Schwester – Zwilling Nummer Zwei – vom Beifahrersitz. „Selbst Schuld, du dumme Kuh, wenn du dich während der Fahrt anmalen musst!”, keift die nur halb auf dem Sitz lümmelnde Gestalt von der Rückbank. Ob der Sicherheitsgurt ihn im Falle eines Unfalls so retten oder eher erst recht umbringen würde? Besser, ich teste es nicht aus. „Blöder Penner, kann ja nicht jeder freiwillig als Verkehrsunfall rumlaufen, so wie du!” Schminken scheint plötzlich nebensächlich, Holly dreht sich schwungvoll nach hinten um und peitscht mir ihre pink-schwarz-blonden Strähnen ins Gesicht. „Hey, benehmt euch, sonst fabriziere ich noch einen Verkehrsunfall!”, ermahne ich die beiden mit erhobener Stimme und bete zu einem Gott, an den ich nicht glaube, dass wir bald an Nathans Schule sind. Was muss der Querulant auch auf eine andere gehen, als wir? Wobei, wenn ich mir den Kindergarten hier so ansehe, dann ist es wohl wirklich besser so. Die armen Lehrer. „Ich? Du musst dich doch immer zukleistern, weil sonst alle schreiend wegrennen würden!” Ich atme tief durch. Seeeehr tief durch. Dann stelle ich die Musikanlage lauter, in der Hoffnung, die verbale Zerfleischung zu übertönen. Sirrende Gitarren, in den Knochen vibrierender Bass, ein Schlagzeuger auf Speed und tiefer, knurrender Männergesang dröhnen aus den Boxen und für einen kurzen Moment herrscht so etwas wie Ruhe. Himmlische, von Metal gesäumte Ruhe. Erleichtert trete ich auf die Bremse und halte an einer roten Ampel, unweit unseres Ziels. „Alter, spinnst du oder was!? Mach die Scheiße aus, da wird man ja taub von!” Oha, Nate schafft es, auch dagegen anzuschreien. Schade aber auch. Hektische Bewegungen auf dem Rücksitz lassen mich den Blick zum Rückspiegel heben, doch ich sehe nur noch wirbelnde Klamotten und schon öffnet sich die Tür, lässt kalte Luft herein, ehe sie mit sehr viel Schwung wieder zuknallt. Ich bilde mir ein, Nathan noch schimpfen zu hören, doch der genaue Wortlaut bleibt mir erspart. 'Wenigstens ist jetzt wirklich Ruhe...', denke ich bei mir und prüfe nur aus den Augenwinkeln, was Holly so treibt. Doch die tut, als hätte sie nicht gerade ihren minimalst jüngeren Bruder aus dem Auto vertrieben, sondern versucht ihr verhunstes Make-Up zu retten. Insgeheim muss ich Nate ja recht geben, sie hat es wirklich nicht nötig, sich zu schminken, vor allem nicht zur Schule, aber ich werde mich hüten und den (un)gerechten Teenagerzorn auf mich ziehen. Das können brav meine Eltern tun, auch wenn die so ziemlich alles sehr entspannt sehen. Fluch und Segen zugleich. Kurz lasse ich meinen Kopf gegen die Polsterung hinter mir sacken, dann setze ich den linken Blinker und vollführe eine unelegante Kehrtwende, kaum wird die Ampel grün, was ein Hupkonzert nach sich zieht. Diesmal hat meine Beifahrerin auch rechtzeitig die Hand aus dem Gesicht genommen, sodass mir von dieser Seite aus eine neue Anfuhr erspart bleibt. Unnötig zu erwähnen, dass ausgerechnet heute alle Idioten der Stadt auf einmal unterwegs sein müssen und die Straßen verstopfen. Oder die vollen Parkplätze, die mich auch mehrere Minuten kosten, während der Wirbelwind neben mir sich schon auf den Weg zu seinen Räumlichkeiten gemacht hat. Endlich finde ich eine freie Parklücke, die so gerade eben breit genug für das Auto ist, setze in viel zu vielen Sätzen rein, nur um mich dann mühsam aus dem schmalen Türspalt zu quetschen und anschließend auf den hässlichen Bau zuzueilen, in welchem ich gleich Unterricht habe. Warum ich mich so beeile, weiß ich selber nicht, wirklich interessieren würde mich ein Anschiss ja nicht. Da die Uhr schon auf zwei Minuten vor Acht steht, liegt die Eingangshalle verlassen vor mir und nur ein hintergründiges, beständiges Raunen zeigt an, dass sich irgendwo massenhaft Menschen befinden müssen, die zum großen Teil nicht ganz freiwillig hier sind um sich das Hirn mit alltagsfernem, sinnlosem Müll zustopfen zu lassen, den man uns per mentalem Trichter einflößt, nur um es bei der nächsten Klausur auskotzen zu können. Das Bild, was sich vor meinem inneren Auge formt, hat ein bisschen was von einer polnischen Gänsefarm, über die meine Mutter erst letztens einen Bericht gesehen und uns allen demonstrativ gezeigt hatte. Mich schaudert es. Vielleicht geht es mir doch ein kleines bisschen besser als dem Geflügel dort. Mein innerer Autopilot lotst mich zielsicher zu meiner ersten Folterkammer des Tages, vorbei an nervigen Kindern und noch nervigeren Teenies, die mir erschrocken japsend aus dem Weg springen. Grinsend genieße ich die unterschwellige, wenn auch völlig unangebrachte Furcht in den großen Augen. Als ob ich eins von den Gören ernsthaft an Satan oder weiß der Geier wen opfern würde. Viel zu viel Sauerei und wozu? Alles Aberglaube. Aber nach dem stressigen Morgen tut es gut, eine Bestätigung dafür zu haben, dass ich doch eine gewisse Autorität ausübe, wenn mich schon die jüngsten Sprösslinge meiner Erzeuger nicht für voll nehmen. „Josh, da bist du ja endlich!”, begrüßt mich Sophie, halb vorwurfsvoll, halb erleichtert. Letzteres kann ich verstehen, hätte sie ohne mich doch den größten Teil des Tages auf sich allein gestellt unter den Idioten hier verbringen müssen. „Dank Holly und Nate grenzt es an ein Wunder, aber ja, ich bin da.” Ich ziehe das Mädel mit den knallrot gefärbten Haaren in eine freundschaftliche Umarmung. „So schlimm?”, erkundigt sie sich kichernd, ahnt vermutlich schon was abgegangen ist, schließlich durfte sie das Doppelpack des Teufels auch schon öfters in Aktion erleben. „Schlimmer!”, stöhne ich. „Ein besseres Verhütungsmittel hätten sich meine Eltern nicht einfallen lassen können.” „Ahh, SO schlimm also.” Sie grinst neckisch zu mir auf und wendet sich dann um, folgt dem Strom Leiber durch den Flaschenhals in Form eines Türrahmens in den Klassenraum, wo sich der bunte Haufen wieder auf die einzelnen Tische verteilt. „Hm. Aber genug von mir, wie war es in Österreich?” Sofort fängt Sophie an von ihrem mehr oder minder erzwungenen Urlaub der vergangenen zwei Wochen in einem riesigen Skigebiet zu berichten. Obwohl sie mir immer wieder beteuert, wie schrecklich alles war, kann ich doch hören, dass sie das Skifahren an sich und nicht zuletzt die deftige Hausmannskost auf den Skihütten sehr genossen hat. Ihr Problem liegt viel mehr da, wo meine zumeist auch liegen: Andere Menschen. Nur mit einem halben Ohr den geflüsterten Erzählungen lauschend, blicke ich mich ohne bestimmten Fokus im Raum um. Die Gesichter sind mir alle vage vertraut, doch im Grunde sind sie mir egal und so gleiten meine Augen weiter. Bis ich unvermittelt in einem endlosen Blau zu versinken drohe, eingesogen werde und wehrlos auf den tiefsten Grund des Meeres treffe. Nur eine endlos erscheinende Sekunde, vielleicht zwei, dann wendet Paul hastig den Kopf nach vorne zum Lehrerpult um, doch es hat ausgereicht um mich innerlich vom Blitz treffen zu lassen. Oder von einem beschissenen Liebespfeil, wie ihn dieser hässliche Puttenengel an Valentinstag auf allen möglichen Kitschbildchen verschießt. Überhaupt sind alle Engel hässlich, verblassen zu nichts im direkten Vergleich zu meinem ganz persönlichen Himmelsboten auf der anderen Seite des Raumes. Ich brauche einen Moment, um mich von dem Schreck zu erholen, den die plötzlich wieder auf mich einprasselnden Gefühle in mir auslösen. Nicht, dass sie über die freien Tage gänzlich verschwunden wären, aber ich hatte schlicht keine Zeit gehabt, mich näher mit ihnen zu befassen und sie gekonnt an den Rand meines Bewusstseins gedrängt. Doch damit ist nun augenscheinlich Schluss. Ich starre Paul weiterhin an, warte auf eine noch so kleine Regung von ihm. Er hat doch zu mir gesehen, oder nicht? Das muss doch was bedeuten? Oder war es nur Zufall, hat er ebenso wie ich der Luft beim existieren zugeschaut? Da! Er schielt aus den Augenwinkeln zu mir, blickt schnell wieder nach vorne, nur um doch wieder wie magisch angezogen in meine Richtung zu sehen. Wie ein armer kleiner Dorftrottel hebe ich die Hand und winke ihm unauffällig zu, grenzdebil wie ich nun einmal bin. Seine Augenbraue zuckt, dann hebt er ebenfalls kurz die Hand und lächelt schüchtern. Nicht nur in meiner Brust, sondern gefühlt im ganzen Klassenzimmer geht die Sonne auf, auch wenn es niemand zu bemerken scheint. Nicht, dass ich es bemerkt hätte, wenn es anders wäre. Sogar Sophie habe ich inzwischen völlig ausgeblendet. Alle Sinne sind auf den blonden Jungen gerichtet und ich fühle, wie sich meine Mundwinkel ganz von selbst heben. Vielleicht wird die Schule doch nicht ganz so blöd werden.     Pauls POV   Mein Herz pocht immer noch erschrocken, nachdem ich beim Starren erwischt wurde. Wie unangenehm! Dabei war ich eigentlich nur seltsam erleichtert, dass er es doch noch pünktlich geschafft zu haben scheint und in unangebrachte Gedanken vertieft, wer oder was für seine Verspätung wohl verantwortlich sein mag. Viel mehr Zeit bleibt mir nicht mehr zum Nachdenken, denn der Unterricht verlangt nach meiner ungeteilten Aufmerksamkeit, ohne Rücksicht darauf, dass wir gerade mal die erste Stunde nach etlichen Tagen Nicht-Aufpassens hinter uns haben. Im Grunde ist es mir sogar ganz recht, denn ich habe ja keinerlei sinnvolle Ablenkung dabei und auf dem Handy zu spielen, das ginge dann doch zu weit. Und so ganz nebenbei sollte ich auch etwas für meine Bildung tun, zumindest bei neuen Themen aufpassen, bis ich sie verstehe und erst abschalten, wenn die ewige Wiederholerei oder sinnlose Diskussionen meiner Mitschüler mit dem Lehrpersonal losgehen.   Endlich ertönt der erlösende Gong und ich packe eilig meine Sachen zusammen. Warum ich mich beeile, wird mir erst klar, als ich mich hinter der Tür nach einem gewissen Schwarzhaarigen umblicke. Doch wieder überrollt mich eine Lawine der Enttäuschung. Nicht nur ist Sophie bei ihm, was ja noch verständlich ist, sondern er wird auch noch von zwei weiteren Mädchen belagert, welche ich glaube, schon öfters in seiner Nähe gesehen zu haben. Ich zögere, will ihm eigentlich schon gerne 'Hallo' sagen, aber andererseits möchte ich mich natürlich auch nicht einmischen. Was wäre schließlich, wenn eine davon an Josh interessiert ist? Oder noch schlimmer, er an ihr und ich ihm durch unhöfliches Einmischen die Tour vermassle? Das würde er mir bestimmt nicht so schnell verzeihen. Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen und ich ergreife die Flucht, sehe nur noch aus dem Augenwinkel, wie er in meine Richtung blickt, doch ich haste weiter zu meinem nächsten Unterrichtsraum.   ~*~   Die Zeit verrinnt schneller, als mir lieb ist. In unserer kleinen Außenseiter-Clique pendelt sich gewohnte Normalität ohne Unterbrechung wieder ein und auch Joshuas gelegentliche Anwesenheit ist nach außen hin so normal wie immer. Niemand merkt den inneren Aufruhr, der mich phasenweise überfällt, hoffe ich zumindest. Und ich schiebe ihn auch immer sofort in den hintersten Winkel meines Bewusstseins, verschließe die Tür und werfe den Schlüssel weg. Schlicht, weil es mich überfordert. Weil ich nicht weiß, was mit mir los ist. Ein leises Stimmchen will mir die Antwort zuflüstern, doch auch dieses wird ignoriert. In der Schule fällt es mir leicht. Und zu Hause leider auch, die zu erwartende Talfahrt tritt schneller ein, als ich befürchtet hatte und raubt mir sämtliche noch vorhandenen Energie, laugt mich aus. Ich stehe im Badezimmer und sehe zu, wie das Wasser im Abfluss der Badewanne verschwindet. Eine hübsche Metapher für meinen Alltag, wie ich finde. Jeden Morgen wird die Wanne gefüllt, an guten Tagen bis zum Rand, an schlechten nur dreiviertel voll. Und über den Tag verteilt, fließt immer mehr Wasser ab, mal nur langsam, mal rasend schnell, bis nichts mehr übrig ist. Aber um mich mit meinem Innenleben beschäftigen zu können, bräuchte ich am Ende noch Wasser, meine sinnbildliche Energie. Und selbst wenn ich es täte, was würde es mir nützen? Ich kann keine Komplikationen gebrauchen, mein Alltag braucht zwingend die bisherige Struktur und ich ahne, dass Josh sie zerstören würde. Und dann würde er hinter meine Mauern blicken können, sehen, dass ich nicht nur der bin, den er in der Schule kennt, dass mein Leben eine Schattenseite hat, die selbst Kathi und Matz und Charly nicht kennen, nicht kennen dürfen. Einzig die Tatsache, dass sie mich so nehmen, wie ich mich ihnen zeige, mich weder in Mitleid erdrücken noch mir wohlmeinende, aber grundverkehrte Ratschläge geben, nur das hält mich aufrecht und hilft mir, den Tag zu überstehen. Oder noch schlimmer, sie könnten sich von mir abwenden. Joshua könnte sich abwenden. Das würde ich nicht verkraften, nicht noch einmal. Das wäre der Todesstoß, der mich in den Sumpf schubsen würde, aus den sich mein Vater seit Jahren nicht zu befreien schafft, nur mit meiner Hilfe noch soweit an der Oberfläche hält, dass er atmen kann. Wenn das passiert, würden wir beide untergehen...   ~*~   Meinem inneren Entschluss zum Trotz, nehme ich natürlich keinen Abstand zu meinem düsteren Mitschüler, das hätte eh mehr Probleme gemacht als gelöst, selbst wenn ich gewollt hätte. Das wäre außerdem für mein Seelenheil kontraproduktiv, denn immerhin heitert mich seine sarkastische Art der Welt den metaphorischen Mittelfinger zu zeigen ungemein auf. Ich verdränge nur weiterhin jegliche Gefühlsregungen und Gedanken, die über das Maß an freundschaftlichen Empfindungen hinausgeht, welches ich auch für die anderen empfinde. Und erst recht jegliche unsicheren Bedenken, dass ich sie ausgerechnet auf einen anderen Jungen kanalisiere. Einmal habe ich den Fehler gemacht – rein hypothetisch natürlich – zu überlegen, was das denn bedeuten könnte, wenn ich vergleichbare Situationen zum Beispiel in einem meiner Bücher vorfinden würde. Natürlich weiß ich, was das rein theoretisch heißen könnte, aber ich habe so schnell meine inzwischen übliche Vogelstraußtaktik angewandt, dass mir immer noch der imaginäre Sand zwischen den Zähnen knirscht. Das wäre ja auch noch irgendwie erträglich, wenn Joshua nicht angefangen hätte, nicht nur weiterhin immer mal wieder bei uns abzuhängen, sondern auch explizit meine Nähe zu suchen. Ob bewusst oder unbewusst kann ich nicht sagen, er bleibt dahingehend undurchschaubar für mich. Der große Kerl benimmt sich wie immer, behandelt jeden von uns gleich und tut nichts wirklich greifbar auffälliges, weshalb es mir nicht allzu schwer fällt, nach außen hin so unwissend zu tun, wie ich mich fühle, wenn auch aus anderen Gründen. Allerdings bleibt es wohl nicht völlig verborgen, was auch immer vor sich geht. Immer mal wieder spüre ich, wie Josh und ich gemustert werden und gelegentlich erhasche ich einen teils amüsierten, teils wissenden Blick. Doch egal was sonst passiert, Charly sagt nichts, weder zu mir noch zu jemand anderem. Kann er wirklich ahnen, was los ist oder bilde ich mir das nur ein? Noch so eine Frage, für die ich weder Zeit noch Energie habe.     Joshuas POV   „Es ist zum Verzweifeln!”, maule ich frustriert in mein Bierglas. Olli lehnt sich auf der Holzbank neben mir zurück und verschränkt die muskulösen Arme, was die Bänder um seine bloßen Oberarme noch mehr betont und ihn, zusammen mit den schulterlangen gewellten Haaren und dem Vollbart, wirklich ein bisschen wie einen Bilderbuch-Wikinger aussehen lässt, wenn man das schwarze Tshirt gedanklich gegen ein grobes, braunes Wams austauscht. Ein Trinkhorn hat er, das weiß ich, nur wie es um diese lustigen Helme bestellt ist, kann ich aus dem Stand nicht sagen. Mit einem nachdenklichen Laut schindet er sich noch etwas mehr Zeit heraus, um sich meine vorangegangenen Jammertirade noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Der arme Kerl war nach vielen Überlegungen mein auserkorenes Opfer, mit dem ich endlich mal über mein kleines Paul-Problem reden wollte. Meine Schwestern schieden aus diversen Gründen sehr schnell aus, Sophie macht nach wie vor keinen Hehl aus ihrer unbegründeten Abneigung gegen mein blondes Engelchen und den Rest sehe ich eher als sehr gute Bekannte, denn als Freunde an, denen ich wie ein heulendes Mädchen mein Herz ausschütten könnte. Also blieb nur Olli. „Willst du meine ganz ehrliche Meinung hören?”, setzt dieser nun zögerlich an, den Blick nach vorne in die mäßig gefüllte Bar gerichtet, ohne sich gezielt an etwas oder jemanden zu heften. „Oder willst du Tipps haben, wie du das erreichen könntest, was du dir in den Kopf gesetzt hast?” „Das sind für dich also zwei ganz unterschiedliche Dinge?”, frage ich mit schwindender Hoffnung nach. Wieso versteht mich denn niemand? Mein Kumpel nickt bedauernd. Ich seufze. „Na schön. Jetzt hab ich mich eh schon blamiert. Was ist deine ehrlich Meinung?” Wieder schweigt er eine Weile, trinkt von seinem Bier, dreht das Glas in der Hand. Dann heben sich seine Schultern und sacken ergeben herab. „Ich an deiner Stelle würde es lassen. Klar, verliebt sein ist Mist, aber es geht vorbei. Hör mal, ich würde es dir ja wirklich gönnen, aber der Kleine hört sich nicht so an, als würde er überhaupt verstehen, das du mehr als nur ein bisschen Smalltalk von ihm willst. Du müsstest schon offensiver werden, was ihn wiederum verschrecken könnte, selbst wenn er auf Kerle steht. Und dann ist da noch die Sache mit eurem Lebensstil.” „Hä? Was soll damit sein?” Irritiert blicke ich von meinem deprimierend leeren Glas zu ihm auf. „Na...” Er schwenkt seine Hand bedeutungsvoll in den Raum vor uns. „Du bist im Grunde doch sehr extrovertiert, gehst viel aus, hast deine Band und schläfst bisweilen häufiger in fremden Betten, als in deinen eigenen. Nein, das ist kein Vorwurf, einfach eine Tatsache. Und von dem was du mir erzählt hast, ist dein kleines Blondchen eher so... das Gegenteil?” Er sieht mich entschuldigend an, zieht aber dennoch zweifelnd eine Braue hoch. „Wie stellst du dir das vor? Gehst du am Wochenende dann alleine weg? Oder verschanzt dich bei ihm in der Bude? Weißt du, was er in seiner Freizeit macht? Es ist ja oft sogar gut, wenn man nicht ständig aufeinander hängt, aber so ein bisschen gemeinsame Interessen sollten schon da sein. Sowohl außerhalb, als auch innerhalb des Schlafzimmers.” Den letzten Satz betont er ganz merkwürdig und mir wird heiß und kalt zugleich. An die Möglichkeit, dass Pauls unschuldige, naive Art nicht nur an Unerfahrenheit sondern schlicht an Desinteresse liegen könnte, hatte ich noch gar nicht gedacht. Schlimm genug war schon die Frage, auf wen oder was er stehen könnte, aber wenn er dem gänzlich abgeneigt wäre, sei es im romantischen und oder sexuellem Sinne... „Nein!”, sage ich entschieden, mit einem Hauch Verzweiflung. „Josh, ich sag ja nicht, dass es so ist, aber bis du nicht Näheres weißt, kannst du die Möglichkeit nicht völlig außer Acht lassen. Denk nur an Karsten oder Roman...” Olli klingt, als würde er ein kleines Kind zeitgleich beschwichtigen und belehren wollen, das sich in einem irrationalen Wutanfall an der Kasse auf den Boden geworfen hat. Karsten, ein Freund von Olli, wäre wohl am besten als Badboy zu beschreiben, mit dem Unterschied, dass er nach eigener Aussage bisher wirklich keinerlei romantische Gefühle entwickelt hat und auch der festen Überzeugung ist, das niemals zu tun und sich so fröhlich durch die Weltgeschichte vögelt. Immerhin ist er inzwischen gnadenlos ehrlich, was aber dennoch massenhaft gebrochene Herzen hinterlässt, weil er sich eben doch nicht hollywoodreif umstimmen lässt. Und Roman ist da noch eine Spur krasser, der lebt so enthaltsam wie ein Mönch und ist vollauf glücklich mit seinen Büchern und einigen lockeren Bekannten, die er treffen kann, wenn ihn mal das Bedürfnis nach menschlicher Interaktion überkommt. Er war mir schon immer sehr suspekt, auch wenn er mich inzwischen schonungslos darüber aufgeklärt hat, dass es tatsächlich Menschen gibt, die weder die Notwendigkeit für Liebe noch für Sex verspüren, also das genaue Gegenteil von mir sind. Na ja, jeder wie er meint. „Ach Fuck, ich hätte dich besser nicht fragen sollen!” Frustriert stehe ich auf und stapfe mit meinem leeren Glas in der Hand Richtung Theke um mir Nachschub zu besorgen. Olli wird schon wissen, dass sich mein Ärger nicht wirklich gegen ihn richtet, sondern gegen die beschissene Situation im Allgemeinen und er ist klug genug, mich erstmal innerlich kochen zu lassen. Und was ich vor allem jetzt brauche, ist Ablenkung. Mir wird ein neues Bierglas hingeschoben, doch ich bestelle mir noch Hochprozentiges hinterher. Ich sehne mich nach dem wattigen Gefühl in meinem Kopf, das Alkohol so zuverlässig verursachen kann.   Genau diese fluffige Watte dämpft eine gute Stunde später meine Wahrnehmung mehr als ordentlich. So ordentlich, dass ich aus einer Vierteldrehung fast eine sehr unelegante Piruette gemacht hätte, als mich jemand am Arm berührt und meinen Namen sagt. Nach außen hin milde interessiert (so hoffe ich zumindest), innerlich jedoch verwirrt bemüht, das vage bekannte Gesicht einem Namen zuzuordnen, mustere ich das weibliche Wesen vor mir. Hellbraune, glatte Haare die knapp bis zu den Schultern reichen, blassbraune Augen. Auffällig ist bestenfalls ihre schlichte, schwarze Bluse und ihre schwarze Jeans, die aussehen, als hätte sie sie ausgewählt um möglichst wenig als Szenefremde aufzufallen und nicht, weil sie diese Art der Kleidung zwangsläufig gerne trägt. Zumindest sagt mir das mein Gefühl, wenn es nicht gerade meinem Gleichgewichtssinn hilft mich aufrecht zu halten. Den letzten Whiskey hätte ich mir vielleicht sparen sollen... „Ähm... also... ich bin dir jetzt nicht nachgestalkt, nicht dass du das denkst! Nur Sophie hatte uns ja von eurer Lieblingsbar erzählt und der Freund von Marie und dessen Kumpels wollten mal in so eine Bar und da sind wir halt hier und ...” Ich kneife kurz die Augen zu und schüttel kaum merklich den Kopf um meine Sinne zu klären, während ich weniger als die Hälfte von dem verstehe, was das Wesen da vor mich eigentlich von mir möchte. Viel helfen tut das Schütteln nicht, außer mir endlich einen Namen und eine grobe Zuordnung zu der Person unterhalb meiner Kinnhöhe zu geben: Julia. Mitschülerin aus der gleichen Stufe. Die, die Sophie mir ständig statt Paul schmackhaft machen will. Paul. In mir zieht sich alles zusammen. Vielleicht haben alle anderen doch recht? Sogar Olli hat mir von ihm abgeraten. Warum laufe ich ihm eigentlich seit Wochen, bald schon Monaten, hinterher? Ist doch sonst gar nicht meine Art. Wieder mustere ich das Mädel vor mir. Wirklich schlecht sieht sie ja nicht aus. Und sie ist auf jeden Fall willig, war sie schon bevor sie sich eindeutig Mut angetrunken hat, denn ihre Aussprache ist nicht mehr die deutlichste, was nicht nur an meinem Wattehirn liegt. „Schon okay”, unterbreche ich ihren Redeschwall mit sanfter Stimme. „Und, wie findest du es bis jetzt?” Sie lächelt zu mir auf und errötet.   Kalt schlägt mir die Luft entgegen, als ich hektisch die Tür nach draußen öffne. Für einen kurzen Moment kann ich wieder klar denken, ehe der Alkohol in meinem Blut mit Schwung ausholt und mich fast von den Füßen reißt. Mit einer Hand stütze ich mich an die Backsteinmauer neben mir, den Kopf gesenkt, den restlichen Körper in Schieflage. Mit der freien Hand wische ich mir fast panisch über den Mund, versuche den Geschmack nach süßem Likör und Lippenstift von ihnen zu vertreiben. Obwohl sich alles um mich herum dreht, steht im Auge des Sturms eine Gewissheit: Ich hätte um ein Haar einen riesigen Fehler gemacht. Weniger, weil Julia eine eine Mitschülerin ist, das wäre mir egal. Wäre ja nicht die Erste. Sondern wegen einem ganz bestimmten Mitschüler, dessen Gesicht absolut unpassend vor meinem inneren Auge auftauchte, als sich die fremden Lippen auf meine legten. Ein ganzer Schwall an Schuldgefühlen überrollte mich, begrub mich unter seiner Last aus schlechtem Gewissen, Scham und der Empfindung, gerade meinen geliebten Engel zu betrügen. Wenn schon ein harmloser Kuss all dies in mir auslöst, will ich auf keinen Fall weitergehen! Nein, ich werde jetzt herausfinden, ob ich überhaupt bei ihm landen könnte und wenn nicht, dann werde ich eben ein Mönch. Ein agnostischer Mönch. Oder so. Egal. Dann werde ich halt wie Roman.   ~*~   Sooo, geschafft! Die Szene in dem letzten kurzen Zeitsprung wollte ich ursprünglich ausschreiben, aber ich dachte mir, das erspare ich uns allen ;) Kapitel 7: ----------- WUHUUU!!! Es geht weiter! So langsam erobere ich mir meine Freizeit und damit auch Schreibzeit zurück. Und direkt als Einstieg einige Szenen, die manche schon aus HidSec kennen könnten. Wenn nicht, ist auch egal ;) ich hoffe, ich konnte es so umschreiben, dass es jeder versteht. Wenn nicht, gerne Feedback an mich.   PS: Ich habe die vorherigen Kapitel überarbeitet und den Prolog gestrichen. Sind keine großen Änderungen, aber bei der langen Pause schadet es wohl nicht, alles nochmal kurz zu überfliegen.     ~ 7 ~   Joshuas POV   Hatte ich mir vorgenommen, mich aktiver an Paul ranzumachen und zumindest seine Orientierung auszuloten? Sehr lustig. Immerhin kann ich nicht behaupten, normalerweise konsequenter mit meinen guten Vorsätzen zu sein. Aber heute bin ich guter Dinge, ich habe nämlich einen wunderbaren Vorwand gefunden, mich an Paulchen dranzuhaften: Hausaufgaben! Dummerweise brauche ich heute länger um ihn vor dem Unterricht zu finden, denn an seinem üblichen Platz ist er nicht. Schlussendlich entdecke ich ihn auf dem Schulhof. Nichts wie hin! Etwas irritiert stoppe ich vor dem kleinen Grüppchen. Die Stimmung ist merkwürdig, konzentriert sich auf Charly, den bebrillten unter Pauls Freunden, der sich sichtlich unwohl zu fühlen scheint. Irgendwas ist anders... mit gerunzelter Stirn mustere ich erst ihn, dann die anderen drei, bis mir auffällt, was sich geändert hat. Ich verkneife mir ein Grinsen. „Neues Styling?”, spreche ich meinen ersten Verdacht aus. Ich könnte schwören, er würde sonst kartoffelsackförmige Klamotten tragen und seine Haare sind für gewöhnlich auch nichtssagender. „Schaut gut aus.” Ich lächel ihm noch aufmunternd zu und wende mich dann an Paul. Im Grunde ist es mir völlig egal, wie Charly sich kleidet, auch wenn mein innerer Gaydar sich nun ziemlich sicher in seiner Ausschlagfrequenz ist. Leider stellt sich das blöde Ding in Bezug auf mein kleines Engelchen immer noch ziemlich dumm. „Hast du die Hausaufgaben für Geschichte?” „Äh... ja, hab ich.” Paul blickt mich mit großen, fragenden Augen an. „Könnte ich den dritten Teil vielleicht von dir abschreiben? Ich hab's total verdusselt! Bitte bitte, hast dann auch was bei mir gut”, flehe ich ihn förmlich an, was ihn nur noch mehr zu verwirren scheint. War das zu viel? Hm. Nicht mehr zu ändern. „Öhm... klar, kannst du gerne haben.” Er lässt seinen Rucksack nach vorne gleiten und kramt kurz darin herum, ehe er mir eine Ansammlung an beschriebenen Blättern überreicht. „Danke.” Das meine ich ehrlich, auch wenn es mir im Grunde egal gewesen wäre, wenn ich die Hausaufgaben nicht vollständig gehabt hätte. „Kein Problem.” Sein Lächeln bringt auch meine eigenen Mundwinkel dazu, sich zu heben.     Pauls POV   Mit gemischten Gefühlen lese ich den Zettel an der Tür zu meinem nächsten Unterrichtsraum erneut, doch am Inhalt ändert sich nichts. Lehrer krank, Schüler sind aufgefordert, selbstständig zu lernen. Keine weiteren Arbeitsanweisungen, nichts. Mist. Und jetzt? Ich schaue mich um, doch ausgerechnet in diesem Kurs ist niemand, mit dem ich die ungewollte Freizeit verbringen könnte. Na, dann werde ich mich eben auf den Weg zum Computerraum, irgendwas wird mir schon einfallen. Aber es kommt besser, mir fällt nicht nur etwas ein, sondern jemand auf. Ich beschleunige meine Schritte, hake mich bei ihm unter und ziehe Charly gerade noch zur Seite, ehe er vor lauter Unaufmerksamkeit in eine Gruppe Mitschüler laufen kann. Vor Schreck lässt er fast sein Handy fallen, das ihn offensichtlich abgelenkt hatte. „Huch!” Mit großen Augen sieht er zu mir. Seine Reaktion ist so... putzig. „Aufpassen, Charly!”, belehre ich ihn vergnügt kichernd. Sein Blick wechselt von erschrocken zu zweifelnd, was nicht gerade hilft, meine Laune zu senken. „Nun guck nicht so, eigentlich müsste ich derjenige sein der fragt, was mit dir los ist. Aber keine Sorge, ich hab keine Lust dich auszuquetschen, das machen die anderen Zwei schon genug. Lass uns ein bisschen zocken.” Juhu, ich habe eine Beschäftigung gefunden. Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, ziehe ich ihn mit mir an mein Ziel. Viel Leistung haben die alten Rechner nicht, aber für einfaches Schiffeversenken im Browser reicht es noch, seit ich die Sperre umgehen kann, wohlgemerkt. Was machst du eigentlich hier? Hast du keinen Unterricht?”, beginnt mein Kumpel das Gespräch, kaum dass wir sitzen. „Ja, aber der Mayer ist krank. Haben jetzt 'selbstständiges Lernen'”, kläre ich ihn auf. „Hm. Sind ganz schön viele krank im Moment, kann das sein?” „Joa, ist doch immer um die Jahreszeit. Yes, Treffer!” Ich grinse erfreut über die kleine Explosion. Charly schnaubt unbeeindruckt. „Ja, aber nicht versenkt. Lass mich raten... hier? Ha! Selber Treffer!” „Pah, reines Glück”, wiegle ich ab. Mein nächster Versuch geht ins Leere. Ich bin mir unsicher ob ich die nächsten Worte aussprechen soll, aber so schnell werde ich wohl nicht mehr ungestört mit ihm reden können. „Kathi ist ganz schön komisch drauf seit letzter Woche, oder?” „Findest du?”, fragt er überrascht. Hat er wirklich nichts von ihrer Veränderung mitbekommen? „Hmm ja. Ich weiß auch nicht. Sie ist so unglaublich gereizt. Geht ständig wegen allem an die Decke”, druckse ich herum und versenke nebenbei eins seiner Schiffe. „Naja, ne kurze Lunte hatte sie ja schon immer. Aber stimmt, mich hat sie auch deutlich fieser angemacht als sonst, jetzt wo du es sagst.” Nachdenklich reibt er sich das Kinn. „Hast du eine Idee?” Ich schüttel verneinend den Kopf. „Keine Ahnung. Das war aber schon kurz bevor du anfingst 'komisch' zu werden. Und nein, ich werde dich immer noch nicht löchern. Du sagst schon Bescheid wenn du soweit bist, will ich hoffen?” 'Komisch' wäre nicht meine Wortwahl gewesen, sie ist von den anderen für Charlys Veränderung etabliert worden. „Sicher. Wenn es was zu berichten gibt, erfahrt ihr es schon.” Charly lächelt mich dankbar an seinem Monitor vorbei an. Dann wird sein Blick intensiver. „Das gilt aber auch für dich, ist das klar?” Nun grinst er regelrecht. Mir schießt prompt das Blut in die Wangen und ich blicke verlegen zur Seite. „Ich weiß nicht wovon du redest. Bei mir ist nichts, was ich erzählen könnte.” Oh weh, im Lügen war ich schon immer schlecht. „Mh-hm...”, brummt er da schon sarkastisch. „Bist du dir sicher?” Er lehnt sich etwas zur Seite, das Kinn auf eine Hand gestützt und blickt am Bildschirm vorbei. Nur zu deutlich spüre ich, wie mir das Blut zunächst in den Magen absackt, ehe es wieder in mein Gesicht zurückschießt. Ich will eine Antwort geben, doch mehr als Stottern bringe ich nicht zustande. Shit, was hat er gemerkt? Und wenn er es gemerkt hat, wer dann noch? Mit großen Augen schaue ich ihn an, unfähig mich zu artikulieren. Doch statt weiter zu bohren, lacht Charly nur amüsiert auf. „Keine Sorge, was immer ich glaube, ich behalte es für mich. Und nichts gegen Matz und Kathi, aber auf dem Auge sind die mehr als blind.” Aufmunternd zwinkert er mir zu. „Ha! Versenkt! Nimm das!” Erschrocken zucke ich zusammen. Was zum-? Ach verdammt, das dumme Spiel! Schweigend spielen wir eine Weile weiter. Irgendwie würde ich schon gerne wissen, was Charly denkt, doch ich traue mich nicht, das Thema nochmal auf seine Anspielung zu lenken. Vielleicht ahnt er auch gar nichts und das war nur eine hypothetische Frage? Um mich zu ärgern? Aber was ist, wenn nicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er Joshua davon erzählen würde. Andererseits, wovon soll er auch erzählen wollen? Dass ich ihn gerne in meiner Nähe habe, ist ja per se erstmal nichts Verfängliches. „Sag mal, was hast du eigentlich für deinen Achtzehnten geplant?”, fragt er mich irgendwann unvermittelt. Ich blinzel verwirrt und brauche ein paar Sekunden, um meine Gedanken weg von Joshua und zurück zu Charly zu lenken. „Ähm... weiß nicht. Spieleabend vielleicht? Wir vier?” Ich ignoriere den kleinen Stich in meinem Inneren, weil ich bewusst eine Person ausschließe. Aber das wäre dann doch zu viel des Guten und zu auffällig, oder? Und ganz bestimmt fände Josh das stinklangweilig, ich glaube, er ist mehr der Typ für Partys. Unsicher geworden, nestle ich am Kabel der altmodischen Maus herum. Mein Gegenüber lehnt sich seufzend zurück und sieht mich nachdenklich mit gekräuselter Stirn an. „Hast ja noch was Zeit, vielleicht fällt dir ja noch was ein.” Ratlos zuckt er mit den Schultern. „Hm, ja. Vielleicht.” Nun ist es an mir, zu seufzen. Für eine winzige Sekunde hatte ich die Hoffnung, dass er mir eine Lösung für meinen inneren Konflikt mitteilen könnte. „Hat nicht bei dir um die Ecke dieser Irish Pub eröffnet? Da kann man bestimmt gemütlich einen heben und quatschen. Und wenn es uns zu doof wird, gehen wir halt zu dir in die Bude”, meint Charly auf einmal. Ich stutze, dann hebt sich meine Stimmung ganz unvermittelt. „Ja, da kann ich mal drüber nachdenken...” Das ist genial! Immer noch gemütlich genug für uns vier. Und vielleicht eventuell überwinde ich mich sogar und lade Josh auch noch ein. Mit neuem Elan stürze ich mich wieder auf unser Spiel und mache ihn schlussendlich ordentlich fertig.   ~*~   „Das ist ja mal voll schwul!” Immer wieder und wieder kreist Kathis Spruch durch meinen Kopf. Sie hat ihn nicht zu mir gesagt, sondern als abwertende Äußerung gegenüber Matz' üblicher Theatralik, aber trotzdem hat es mich überraschend tief getroffen. Schwul. Ein Wort, was meine gedanklichen Mauern mit einem Mal zum Einsturz gebracht hat. Scheiße. Meine Finger krallen sich in meine Haare, mein Blick ist stur auf den Boden gerichtet. Den Weg zu meinem nächsten Unterrichtsraum nehme ich mehr instinktiv, mein bewusstes Denken ist mit etwas ganz anderem beschäftigt. Ich habe es so lange geschafft mit voller Absicht den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen und dann bringt mich so eine blöde Bemerkung dermaßen ins Straucheln, dass ich es mir mit einem Mal eingestehen muss. Einfach so. Mitten auf dem Schulhof. Mühsam unterdrücke ich ein hysterisches Lachen. Ist ja nicht so, als hätte ich es nicht längst geahnt. Wirklich überraschen tut es mich auch nicht, wenn ich ohnehin schon einmal ehrlich zu mir selbst bin. Ja, ich bin schwul. Was mich viel mehr schockiert: Ich glaube, ich bin in Joshua verknallt, alle Zeichen sprechen dafür, nun da ich es ungefiltert betrachte. Jetzt bleibe ich doch stehen, das Gesicht in meine Hände vergraben. Kann mein Leben eigentlich noch komplizierter werden? In meinen tollen Büchern wäre das wohl die Stelle, an der meine bisherige Weltanschauung in sich zusammenbricht. Aber weder stelle ich irgendwas in Frage, noch habe ich das Gefühl, eine ewig lange Selbstfindung hinter mir zu haben. Ja, ich habe es verdrängt, ja, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Aber... Jetzt lache ich wirklich leicht irre auf. Nichtmal den großen, dramatischen Knall gönnt mir das Universum! Stattdessen stehe ich hier, ganz alleine im Schulflur und weiß es einfach. Aus, Ende. Schöne Scheiße. Alles was bleibt, ist die gleiche Frage wie vorher: Wie soll ich mich gegenüber Joshua verhalten und wie weiter mit ihm umgehen? Vielleicht wäre es sinnvoller, jetzt wirklich auf Abstand zu gehen? Aber das hat ja bislang auch schon nicht funktioniert. Und schließlich sucht er auch meine Nähe, oder nicht? Oder bilde ich mir das alles ein? Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren wollen. Oh man, so kann ich ihn doch erst recht unmöglich zu meinem Geburtstag einladen! Nicht, dass ich bislang den Mut dazu gefunden hätte, aber jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich das anstellen soll, ohne mich zu verraten und im schlimmsten Fall lächerlich zu machen. Und doch will ich ihn unbedingt dabei haben. Bin wohl völlig übergeschnappt. Hilfe!     Joshuas POV   Irgendwas hat mein kleiner Engel. Er weicht meinem Blick aus und seine übliche Unbeschwertheit wirkt aufgesetzt. Meinen Fragen weicht er geschickt aus. Dann eben nicht, ich finde schon noch raus, was er hat. Aber nicht jetzt, es kann nicht mehr lange dauern, ehe unsere Zweisamkeit gestört wird. „Soll ich dir einen Kaffee mitbringen?”, frage ich Paul und bringe ihn damit ein wenig aus dem Konzept, wie mir scheint. „Äh...” Kurz sieht er leicht verwirrt zu mir auf, nickt dann aber. „Gerne. Milchkaffee?” „Ist das eine Frage?” Schmunzelnd beobachte ich, wie er rot wird und leise vor sich hingrummelt. Da sehe ich dann auch schon – wie erwartet – die drei Kumpels und Kumpelinen auf uns zustapfen. „Hey Josh, alles klar?”, fragt mich Charly und wirkt dabei ähnlich bemüht, wie Paul. Auch die anderen beiden sind angespannt. Hm, dicke Luft? „Ja, soweit. Ich wollte gerade Kaffee holen. Soll ich einem von euch was mitbringen?”, frage ich die Neuankömmlinge. Für mich 'nen Cappu. Für dich auch, Kathi?”, meldet sich sofort Matz. „Hm.” War das jetzt eine Zustimmung? Vermutlich. „Alles klar. Und du Charly?” „Hm... weißt du was, ich komm flott mit. Das wird sonst zu viel für einen alleine”, schlägt der vor. Ich zucke mit den Schultern. „Wenn du willst. Dann komm.” Damit wende ich mich ab und gehe los. Kurz darauf höre ich den Kleinen mit der Brille hinter mir herhechten. „Alter, mach mal langsam, meine Beine sind 'ne Ecke kürzer!”, schnauft er da auch schon. „Dann schalt halt den Turbo an.” Ich Gedanken bin ich schon wieder bei der merkwürdigen Stimmung eben. „Geht nicht, Koffeintank ist leer.” Okay, damit bringt er mich doch zum Lachen. Kopfschüttelnd blicke ich auf ihn hinab. „Warst du schon immer so frech?” „Nur zu Freunden. Und du hast das Pech, dass ich beschlossen habe, dich dazu zu zählen.” „Ist das jetzt ein Kompliment oder eine Drohung?”, erkundige ich mich zweifelnd. „Ansichtssache.” Wir reihen uns in die Schlange vor dem Kiosk ein. „Weißt du...”, setze ich nach einem Moment der Stille an. „Eigentlich seid ihr ganz okay. Ein bisschen schräg, aber wenn man euch besser kennt, dann doch echt in Ordnung.” Charly mustert mich mit hochgezogener Augenbraue demonstrativ von oben bis unten, doch ich sehe schon das Grinsen an seinen Mundwinkeln zupfen. „Aha. Sagt mir ein Typ, der durchschnittlicher nicht sein könnte”, kommentiert er sarkastisch. „Touché”, lache ich. „Wer im Glashaus sitzt und so.” Er schnaubt amüsiert durch die Nase, doch ehe wir unser erstaunlich lockeres Wortgefecht fortsetzen können, stehen wir auch schon am Fenster und können unsere Bestellung aufgeben. Die Becher teilen wir anschließend unter uns auf und tragen sie zurück, was zu zweit wirklich einfacher geht. Kurz bevor wir bei den anderen ankommen, ergreift Charly noch einmal das Wort. „Sag mal... magst du eigentlich Cider?” „Cider? Das Apfelbier? Ja ist ganz okay. Warum fragst du?”, erwidere ich etwas überrascht und eine Spur misstrauisch. Was wird das denn jetzt? Will mich der Knirps etwa auf ein Date einladen, jetzt wo er seine regenbogenfarbige Seite an sich entdeckt hat? So ein Tempo hätte ich ihm gar nicht zugetraut. „Ach, nur so. Halt dir den Samstag in zwei Wochen frei. Und von mir weißt du nichts.” Er zwinkert mir verschwörerisch zu und eilt dann die letzten paar Meter zu seinen Freunden zurück. Perplex starre ich auf seinen Rücken. Okay, nach einem Date klang das jetzt nicht. Ich werde einfach nicht schlau aus dieser ganzen Bande...   ~*~   „Hihi, da kommen zwei kleine Schnuffelchen auf uns zu. Wären die nicht was für dich?” Noch bevor ich die Worte einer meiner Freundinnen richtig verarbeiten kann, höre ich auch schon meinen Namen von hinten. Fragend drehe ich mich um und blicke auf Charly hinab. Unwillkürlich ziehen sich meine Brauen zusammen und ich kann mir im letzten Moment ein neandertalisches Knurren verkneifen, als mein Blick auf seine Hand fällt, die das zarte Handgelenk meines – äh, von Paul umklammert hält. Stattdessen gehe ich einige subtil bedrohliche Schritte auf die beiden zu. Das scheint ihm wohl nicht zu entgehen, denn grinsend lässt er den Jüngeren los, nur ihm ihn an den Schultern bis kurz vor mich zu schieben. „Paul wollte dich etwas fragen”, erklärt mir Charly geheimnisvoll. „Ach? Was denn?” Neugierig mustere ich den Besagten, der seine Schuhe gerade sehr spannend findet. Irgendwas klingelt in meinem Hinterkopf, aber ich bin viel zu abgelenkt durch die Tatsache, dass der Blonde plötzlich vor mir steht, wo er mir doch die letzten Tage immer mehr ausgewichen ist. „Also... ich...”, stammelt Paul so knuffig vor sich hin, wodurch mir der nachfolgende Redeschwall fast entgangen wäre. „Ich feier am Samstag meinen Achtzehnten und wir wollte da in einen Irish Pub gehen, der bei mir um die Ecke eröffnet hat und da dachte ich ob du vielleicht auch Lust hast zu kommen, also nur wenn du magst und Zeit hast, aber ich würde mich freuen und du brauchst auch kein Geschenk oder so mitbringen und ja...” Moment, Samstag? Ich sehe kurz zu Charly, der zur Bestätigung nickt, seinem Kumpel scheinbar aufmunternd auf die Schulter klopft und sich dann vom Acker macht. Werde mich wohl bei ihm bedanken müssen, beschließe ich, doch für den Augenblick hat Paul die höchste Priorität. Der steht mit gesenktem Kopf vor mir, die leuchtend roten Ohren ein kleiner Indikator dafür, wie es wohl um sein Gesicht bestellt ist. Zum Glück, denn so kann er mein breites Grinsen nicht sehen. „Ja”, fange ich an, räuspere mich kurz. „Ja, ich würde sehr gerne zu deinem Geburtstag kommen. Und natürlich bekommst du ein Geschenk von mir, was anderes kommt gar nicht infrage!” Zugegeben, ich hasse mich schon in dem Moment für meine Worte, in denen ich sie ausgesprochen habe, aber um nichts in der Welt würde ich sie zurücknehmen. Dann hab ich eben nur noch ein paar Tage Zeit, mich um ein Geschenk zu kümmern, na und? Nun sehen mich zwei tiefblaue Augen von unten herauf an, wie ein Welpe der Schimpf und Schande erwartet und dann kaum glauben kann, dass er stattdessen gelobt wurde. Wieder muss ich an mich halten und meinen inneren Neandertaler zügeln, diesmal aus anderen Gründen. „Aber...” „Nichts aber!”, unterbreche ich ihn energisch, bremse mich dann aber wieder. „Ich finde, wenn man eingeladen wird, bringt man dem Geburtstagskind auch was mit.” „Das... ist lieb von dir.” Nun lächelt er mich vorsichtig an, immer noch ziert eine zum niederknien süße Röte seine Wangen und den Nasenrücken. „Oh! Ich hoffe, du magst irische Pubs?” „Klar, ich liebe Irish Pubs!”, vertreibe ich seine Sorgen augenblicklich. Das ist zwar die Wahrheit, doch wenn es um ihn geht, würde ich sogar behaupten, den Ballermann oder Aprés-Ski-Feiern zu lieben, und solange er dabei neben mir wäre, würde es keine Rolle spielen. Wenn ich so weitermache, schreibe ich noch kitschige Liebesgedichte und male Herzchen auf alle meine Schreibunterlagen... „Super. Ich, ähm, darf ich deine Handynummer haben? Dann kann ich dir die Adresse schicken”, fragt Paul mich fast schon euphorisch. „Klar, gib her, dann speicher ich sie dir ein.” Mit kaum wahrnehmbar zittrigen Fingern nehme ich sein Smartphone entgegen und tippe meine Nummer ein. Paul schickt mir nur Sekunden später eine Nachricht via gängigem Messangerdienst und ich kann nicht widerstehen, seinem Namen in meinen Kontakten ein Herzemoji zu verpassen. Dann bin ich eben ein verknallter Volltrottel, was soll's.   ~*~   Das war der Auftakt, im nächsten Kapitel geht es schon in den Pub und danach... in unbekannte Gewässer für wirklich alle Leser (inklusive mir :D ) Kapitel 8: ----------- ~ 8 ~   Joshuas POV   Nervöser als ich sollte, sitze ich im Bus und kontrolliere zum hundertsten Mal, ob mein Geschenk auch wirklich noch in meiner kleinen, schwarzen Umhängetasche im Armeestil ist. Und hoffe gleichzeitig, dass Charlys Tipp kein totaler Griff ins Klo wird. Denn nur weil ich Paul unbedingt etwas schenken wollte, heißt das nicht, dass ich auch wüsste was genau das jetzt sein soll. Meine Verzweiflung war zum Schluss so groß, dass ich sogar meine Schwestern gefragt hätte, wenn mir keiner der nerdigen Knallköpfe hätte weiterhelfen können. Zur Ablenkung dröhnt Musik aus meinen Kopfhörern direkt vom Tonausgang über meinen Gehörgang bis in mein Hirn und wenn man den finsteren Blicken der alten Frau schräg gegenüber glauben kann, vielleicht etwas zu laut. Aber egal, ich brauch das jetzt, also erwidere ich den Blick mindestens genauso finster, lege noch eine gute Portion Arroganz mit rein, bis sie aufgibt. Ha, Duell gewonnen! Zur Einstimmung des Tages habe ich mir sogar eine Playlist aus irischen beziehungsweise keltischen Metalbands zusammengestellt, von denen ich einige noch gar nicht kenne und so eigentlich genug damit beschäftigt sein müsste, den unbekannten Texten zu lauschen. Eigentlich. Uneigentlich kreisen meine Gedanken unaufhörlich um den kommenden Abend. Wird Paul mein Geschenk gefallen? Bin ich passend genug angezogen? Okay, nein, das ist es nicht, was ich mich frage, es müsste eher lauten: Gefällt ihm, wie ich aussehe? Aber das wäre ein wirklich weibischer Gedanke. Werde ich ihm vielleicht ein klitzekleines bisschen näher kommen können? Die Hoffnung darauf, dass wirklich was passiert, hab ich mir schon konsequent selbst verboten und sogar ganz bewusst mein Notfallpäckchen Gummis und Gleitgel zu Hause gelassen, das mich sonst ganz selbstverständlich begleitet. Der Bus fährt mit ekelhaft quietschenden Bremsen in die Parkbucht meiner Haltestation ein, ehe er mich und eine Reihe anderer Fahrgäste lieblos auf den Asphalt spuckt und in einer stinkenden Abgaswolke davonrauscht. Na schönen Dank auch. Ich sehe nach links, ich sehe nach rechts. Hm. Typisch Rand der Innenstadt. Alte Häuser, Dreck und Tauben. Ich will gerade nach meinem Handy greifen, um mich via Navy ans Ziel lotsen zu lassen, da entdecke ich im lichter werdenden Gedränge eine Gestalt, die wohl das Gleiche vorhat. „Hi Charly.” Grinsend stelle ich mich neben den zusammengezuckten Jungen, der von seinem Handy zu mir aufschaut. „Hallo Joshua”, erwidert er erschrocken. „Kennst du den Weg?” „Hm, ich denke. Theoretisch müssen wir hier lang.” Ich folge seinem ausgestreckten Arm mit den Augen und zu mit den Schultern. „Na dann, auf geht’s.” „Nicht so schnell, ich hab doch kürzere Beine!”, empört sich der Kleinere und hechtet mir ein wenig staksig nach. „Nur das, oder doch noch was anderes?” Hoppla, das wollte ich jetzt nicht so plump sagen. Nicht zu einem von Pauls Freunden. Ich zögere, doch als von ihm immer noch keine Reaktion kommt, spreche ich doch weiter. „Ich... wollte dich eh schon länger etwas Persönliches fragen.” „Äh... okay?” Sonderlich begeistert sieht er nicht aus, eher skeptisch. „Liegt es an mir und meiner Anwesenheit, oder erzählst du auch deinen Freunden nichts von deinem Freund?”, haue ich die Frage so neutral klingend wie möglich raus, welche mir schon länger auf der Zunge liegt. Charly bleibt abrupt stehen und schaut mich an wie ein Reh im Scheinwerferlicht. „Was... Woher?” Er wird, wenn machbar, noch blasser und wird merklich von Panik erfasst. Ups. „Hey, ich hab gesagt, es ist was Persönliches”, verteidige ich mich und hebe die Hände in einer zusätzlich beruhigenden Geste. „Keine Angst, ich denke, niemand außer mir wird etwas gemerkt haben. Du versteckst es schon gut, aber ich weiß, wie ein Kerl geht, der sich nachts mit einem anderen wild in den Laken gewälzt hat.” Dabei deute ich auf seine untere Körperhälfte, die auch jetzt nicht ganz fit zu sein scheint. „Ich glaub, ich muss mich mal setzen...”, nuschelt er und sackt auf den Rand eines Blumenkübels. Na, ihn so aus der Fassung bringen wollte ich nun auch nicht. Irgendwie ist mir der Knirps ja sogar ganz sympathisch, immerhin setzt er sich bei Paul für mich ein. Da hilft wohl nur Schadensbegrenzung. Nicht gerade mein Fachgebiet. „Sorry, Charly. Ich hätte es vielleicht etwas besser verpacken sollen. Aber ich bin wirklich neugierig. Warum versteckst du dich und ihn, wer auch immer er ist? Ist es nur die übliche Angst vor einem Coming Out oder hast du bei den dreien im Besonderen Sorge?” Auf die Idee bin ich noch nicht wirklich gekommen, doch jetzt breitet sich Nervosität in mir aus. Wenn die Truppe nicht ganz so offen und tolerant ist, wie ich bislang einfach angenommen habe, dann könnte das für mich wirklich zum Problem werden. „Matz weiß es”, antwortet er nach einem tiefen Seufzer leise. „Paul könnte etwas ahnen, ich glaube ich habe es mal angedeutet. Kathi denkt, ich wäre in ein Mädchen verknallt.” Ein kurzes ironisches Schnauben. „Und, was hindert dich daran, es richtig zu stellen?”, frage ich nach einer kurzen Pause. Charly zuckt mit den Schultern. „Die übliche Angst? Denke ich.” Nun ist es an mir, zu seufzen. Das also wieder. „Ist doch alles Mist. Also nicht jetzt du im Speziellen!”, beeile ich mich zu sagen. „Sondern diese ganze Versteckscheiße. Man sollte keine Angst haben müssen, zu sagen, wen man mag. Manchmal bin ich echt froh, dass es bei mir im Umfeld kein wirkliches Thema ist.” Und das meine ich auch so. Ich hätte sowas von keinen Bock, mich verstellen zu müssen, sei es im Freundeskreis oder der Familie, die haben mich so zu nehmen wie ich bin. Letztere ist vielleicht sogar ein bisschen übertolerant, wenn ich mir das Gebaren meines jüngsten Bruders so anschaue, aber sei's drum. Nur mit Mühe kann ich mich zurücknehmen, um nicht in Rage zu verfallen. Charly betrachtet die Pflastersteine des Gehwegs vor sich und ich warte geduldig ab, bis er seine Stimme erneut erhebt. „Aber in der Schule zeigst du es auch nicht.” Abwartend sieht er nun doch wieder zu mir auf. „Nicht ganz richtig, ich zeige es nicht bewusst, aber ich verstecke es auch nicht. Die Idioten um uns herum sind mir egal, die sollen doch denken, was sie wollen. Bin ich schließlich gewohnt.” Wieder herrscht kurz Stille. „Du... erzählst es doch keinem, oder?”, fleht er leise. „Was? Quatsch, würde ich nie machen, was denkst du von mir?” Jetzt bin ich ernsthaft empört. Seh ich aus wie ein Tratschweib oder was? Ich senke meine Stimme wieder. „Aber ich steh hinter dir, wenn du dich outen willst, egal vor wem. Okay?” Charly nickt, wenn auch nicht sehr überzeugt. „Ich glaube, wir sollten langsam mal weiter. Ich brauche jetzt ganz ganz dringend ein Bier.” Dem kann ich nur zustimmen. Schmunzelnd beobachte ich, wie er sich ächzend erhebt und mitten in der Bewegung stoppt, das Gesicht verziehend. Nett, wie ich seit Neuestem manchmal bin, gehe ich freiwillig in seinem Schneckentempo. „Ich würde dir ja raten, deinem unbekannten Freund zu sagen, er soll mal langsamer machen, wenn ich nicht wüsste, dass der Spaß es allemale wert ist”, kann ich mir dann doch nicht verkneifen. Der Kleinere versucht mich mit Blicken zu erdolchen, doch dank meiner Geschwister bin ich über so profane Mordmethoden längst gewappnet. „Oder ihr tauscht einfach mal den Part.” Hinter seiner Stirn rattert es, die Emotionen sind deutlich daran abzulesen. Scham, Unglaube, Skepsis, leichter Schock, Verdrängung. Sehr amüsant. „Woher weißt du eigentlich, dass ich einen Freund habe und mich nicht einfach nur so vergnüge?”, fragt er schließlich frei heraus. Demonstrativ mustere ich ihn. „Du? Nein, dafür bist du definitiv nicht der Typ. Nie und nimmer hüpfst du von einem Bett ins nächste.” Nun läuft er tomatenrot an. Leider kommen wir in diesem Moment um eine Ecke gebogen und stehen unvermittelt vor dem Eingang des Pubs. Schade, gerade wurde es lustig. Aber ein Gutes hatte die überraschende Begegnung: Bis gerade hatte ich meine eigene Nervosität perfekt verdrängt. Doch kaum sehe ich in Pauls blaue Augen, ist alles wieder da.     Pauls POV   „Die kommen schon. Ist doch gerade mal eine Minute nach”, versucht mich Matz zu beruhigen, doch ich wippe ungerührt weiter auf den Fußballen auf und ab. Ich habe den Abend so gut ich eben kann vorbereitet. Sicherheitshalber schon vor einer Woche einen Tisch reserviert, tausendmal das Geld gezählt, das Papa mir mit einem sanften Lächeln extra für meine Feier gegeben hat, vor Aufregung kaum das Mittagessen runter bekommen und mir das erste Hemd mit Zahnpasta ruiniert. Zum Glück war ein zweites Notfallhemd schon rausgehängt, ich kenne mich ja. Und nun fehlt die Hälfte meiner Gäste! „Da sind sie doch!”, stöhnt Kathi und zeigt an mir vorbei zur Straßenecke. Und tatsächlich, just in diesem Moment kommen zwei bekannte Gestalten zielstrebig in unsere Richtung. Erleichterung durchflutet mein ohnehin überspanntes Nervenkostüm und ich stürme auf die Neuankömmlinge zu. „Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr!”, verkünde ich vorwurfsvoll, während ich mich an Charlys Hals werfe. Der erwidert die Umarmung lachend. „Als ob wir es uns entgehen lassen würden, auf deine Kosten zu trinken. Herzlichen Glückwunsch zur Volljährigkeit!” Er klopft mir auf den Rücken und schiebt mich anschließend zu meinem letzten Gast. Mein Herzschlag, welcher sich durch den wohltuenden Körperkontakt zu Charly etwas beruhigt hatte, schießt schlagartig wieder in die Höhe. In meinem Bauch beginnt es angenehm zu kribbeln, während ich den Größeren anschaue. Wie immer ist er in dunkle Kleidung gehüllt, der schwarze Mantel umspielt seine Beine bis auf Höhe der Waden, wo sie bereits in Stiefeln stecken, für deren Schnürung mir wahrscheinlich sowohl Geschick als auch Geduld fehlen würden. Bevor ich es mir noch anders überlegen kann, überwinde ich die kurze Distanz zwischen uns und schließe auch ihn in meine Arme. Anders als bei Charly, komme ich bei Josh nicht so einfach an seinen Hals, nehme stattdessen seinen breiten Brustkorb. Joshua versteift sich für eine Sekunde, unterbindet mein Zurückweichen dann aber doch, indem er mich wieder an sich zieht. Herb umweht mich sein Parfüm, schafft es jedoch nicht vollständig, seinen Eigenduft zu überdecken. Ich genehmige mir heimlich einen tiefen Atemzug. Das Kribbeln in mir wird stärker, statt schwächer. „Herzlichen Glückwunsch, Paul”, raunt der Schwarzhaarige leise. „Danke.” Meine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch. Wir lösen uns voneinander und ich bilde mir ein, dass nicht nur ich den Kontakt am liebsten aufrechterhalten hätte. Schnell wende ich mich meinen restlichen Gästen zu, die in ihr eigenes Gespräch vertieft zu sein scheinen. „Sollen wir rein?” Schlagartig kehrt meine innere Nervosität zurück. „Logo. Wir haben nur auf dich gewartet”, sagt Matz und dreht sich zum Eingang herum. Wir folgen ihm im Gänsemarsch durch die Holztür mit Milchglasfenstern und ich mustere den Schankraum, den ich bei meinem kurzen Besuch nur bei Tageslicht und ohne nennenswerten Besucheransturm erlebt habe. Das ist nun deutlich anders, die Luft summt vor Stimmengewirr und der Raum wirkt zeitgleich kleiner und viel größer, als seine tatsächlichen Maße. Die zur Hälfte holzvertäfelten Wände sind im gleichen dunklen Holz gefertigt, wie die glänzende Theke und sämtliches anderes Mobiliar. Die Tapeten und Stoffe der Sitzbezüge sind hingegen in dunklen Grünschattierungen gehalten und runde Lampen verströmen ein warmes, leicht schummriges Licht. Die Luft wirkt trotz der vielen Menschen noch frisch und der fehlende Unterbau von jahrzehntealtem Zigarettenqualm macht deutlich, dass diese Location lange nach dem staatlichen Rauchverbot in Betrieb genommen wurde, selbst wenn der Innenarchitekt sich redlich Mühe gegeben hat, hier die Atmosphäre von durchzechten Dekaden aufzubauen. Ich kann einen jungen Mann in Kellnerkluft ausmachen und steuere auf ihn zu. Er nickt lächelnd auf meine Frage und weist uns an einen Ecktisch. Leider reicht die Bank nicht wie so oft um die Ecke, sondern bietet lediglich Platz für zwei, vielleicht auch drei Personen auf Kuschelkurs, auf der langen Seite gegenüber und am Kopfende laden gepolsterte Stühle zum Sitzen ein, deren Arm- und Rückenlehnen fast einen Kreis bilden, so rund sind sie geformt. Es beginnt eine kurze Kabbelei um die begehrten Bankplätze zwischen Matz, Kathi und irgendwie auch mir, die ziemlich rabiat von einem leicht genervten Charly unterbrochen wird. Hört auf mit dem Quatsch, sonst entscheide ich, wer wo sitzen muss”, droht er uns an. „Ach ja? Und wie willst du das gerecht entscheiden?”, kann sich Kathi nicht verkneifen zu fragen. „Ganz einfach. Paul und Joshua kommen auf die Bank. Paul, weil er Geburtstag hat und Josh, weil er sich vernünftig benommen hat. Ihr zwei kommt auf die Stühle. Wer sich nicht einigt, hat halt Pech”, teilt er uns ziemlich pragmatisch mit, selbst bereits gemütlich auch einem der Stühle sitzend. Wir blicken uns gegenseitig an, doch nach kurzem Murren fügt sich schließlich jeder. Josh und mir gegenüber sitzen Matz und Charly, Kathi hat sich ans Kopfende zurückgezogen. „Hallo zusammen!”, begrüßt uns die Kellnerin erschreckend fröhlich. Sie passt mit ihren roten Haaren und den Sommersprossen auf der bleichen Haut perfekt in das irische Ambiente. „Was kann ich euch bringen? Nachher ist es wahrscheinlich einfacher, wenn einer von euch nach vorne an die Bar kommt, aber aktuell kann ich euch auch noch direkt am Tisch bedienen.” Matz ordert einfach mal eine Runde Cider für alle, zum warm werden, wie er meint. Als niemand schnell genug protestiert, flitzt die kleine Rothaarige wieder davon. Mir soll's recht sein, viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, den warmen Körper neben mir zu ignorieren. Joshua hat seinen Mantel abgelegt und so konnte ich eben einen Blick auf seine gut sitzende, dunkle Jeans erhaschen, in welche er das hemdartige, schwarze Oberteil mit den Schnüren im V-Ausschnitt gesteckt hat. „Wie kann die auf den Schuhen so schnell laufen?”, fragt Kathi verwundert und blickt immer noch Richtung Bar. „Gute Frage.” Matz ist ihrem Blick gefolgt. „Reine Übungssache”, meint der Schwarzhaarige neben mir achselzuckend. „Was? Ich hab zwei Schwestern, ich hab zwangsläufig mitbekommen wie die das gelernt haben”, erklärt er, auf unsere verdutzten Blicke hin. „Und ja okay, ich hab's auch mal probiert, so zum Spaß.” Mir gegenüber brechen die Jungs in Gelächter aus und auch ich gluckse leise in mich hinein. Josh in Pumps ist nun wirklich kein ansprechendes Bild für mich. „Ey, hört auf zu lachen und probiert es gefälligst erst mal selber”, mault dieser, muss jedoch ebenfalls schmunzeln. „Oh man, ich hätte mir garantiert den Hals gebrochen”, vermutet Matz, nachdem er sich wieder gefangen hat. „Ach, so schlimm ist das nicht. Nur geht das verdammt in Po und Oberschenkel, das mag man gar nicht meinen”, werden wir aufgeklärt. „Noch ein Grund, um bei Turnschuhen zu bleiben”, meint Kathi seufzend. Würde auch so gar nicht zu ihr passen, weniger wegen ihrer Figur, sondern mehr aufgrund ihres Auftretens. „Oder ein gutes Paar Stiefel. Ohne hohen Absatz”, pflichtet Josh bei und schaut kurz auf seine Beinbekleidung. Ich folge seinem Blick zu den monströsen Schnürstiefeln. Bevor noch mehr über Schuhe geredet werden kann, kommt die fleißige Kellnerin angewuselt. Neben den Getränken stellt sie auch Salzstangen und Erdnüsse auf unseren Tisch. „Hm... was ist eigentlich die irische Version von 'Prost'?”, grübelt Matz, kaum dass die Dame wieder verschwunden ist und betrachtet seinen riesigen Pint. „Slàinte”, teile ich ihm mit uns freue mich, ihm in dieser Hinsicht voraus zu sein. „Slarn-was?” Er guckt fragend. „Gesundheit”, kommentiert Kathi das merkwürdige Wort. „Was tatsächlich in etwa die korrekte Übersetzung ist”, nicke ich grinsend ab. „Probier es noch mal: Slarn-tsche”, mache ich noch einmal langsam und betont vor. Nach drei Versuchen gebe ich es auf, aus reinem Selbstschutz. „Auf das Geburtstagskind!” Da können die vier immerhin nicht viel falsch machen. Wir prosten uns zu und jeder nimmt einen ersten Schluck. „Schmeckt gar nicht so übel, das Apfelzeugs”, sagt Kathi und betrachtet wohlwollend den Inhalt ihres Glases. „Mh-hm. Für die nächste Runde will ich trotzdem Guinness. Wenn das für dich okay ist, natürlich.” Fragend sieht Josh zu mir hinab. „Nein, nein, bestell ruhig.” Ich lächle ihn an, sehe aber schnell weg, als mir die Hitze in die Wangen kriecht. „Gibt es irgendein Limit? Wollen dich ja nicht arm machen”, wirft Matz ein. „Eben. Zur Not schmeißen wir am Ende noch zusammen”, schlägt Kathi vor und Charly nickt zustimmend. Ich gucke sie verdutzt der Reihe nach an, ehe ich vehement den Kopf schüttle. „Lasst nur, mein Vater zahlt. Ich feier ja sonst nicht, da ist das schon okay heute.” Dass es auch seine Art sein könnte, sich dafür zu entschuldigen, dass eine Feier bei uns zu Hause nur schwer möglich wäre, in seiner aktuellen Stimmung, sage ich nicht. „Ach so, na dann...”, grinsend dreht sich Matz schon wieder Richtung Kellnerin um, doch Charly neben ihm knufft ihm beherzt den Ellbogen in die Rippen, um ihn zu stoppen. „Erst trinken, dann winken.” Demonstrativ hebt er sein eigenes, noch gut gefülltes Glas. Kathi wendet sich an mich. „Wie wär's? Bist du bereit für unsere Geschenke?” „Ähm...” Meine ehrliche Antwort wäre wohl 'Nicht wirklich' gewesen. Nervös ringen meine Finger miteinander. Auf verquere Art und Weise finde ich die Aufmerksamkeit, die Geschenke nun einmal mit sich bringen, aufregend und zeitgleich zutiefst unangenehm. Ich bemühe mich, mein Lächeln aufrecht zu erhalten. Bloß keinen falschen Eindruck erwecken. Nach und nach füllt sich die Tischplatte vor mir mit liebevoll – und leicht schief – eingepackten Präsenten. „Ich würde ja vorschlagen, Paul darf nur ein Geschenk pro Runde aufmachen, aber ich weiß nicht, ob ich euch das zumuten möchte...”, überlegt Josh laut. Ich sehe leicht entsetzt zu ihm, die eine Hand schon halb auf dem Weg zum ersten Geschenk. Matz springt natürlich sofort darauf an. „Ha! Hast wohl Angst, selbst zu versagen?” „Gegen euch? Nö, ich behaupte mal, mein Körper ist dahingehend trainierter als eure.” „Ähm, Jungs? Mal angesehen davon, dass das immer noch Pauls Feier ist, meint ihr ernsthaft es ist cool damit zu prahlen, wie heftig man sich selbst vergiften kann!?”, mischt sich Kathi ein. „Nun regt euch ab und trinkt, was ihr wollt. Hauptsache, ihr zwingt uns nicht dazu, mitzumachen.” Charly ist ebenfalls nicht sonderlich begeistert. Er wendet sich wieder an mich und nickt aufmunternd zu dem bunten Haufen auf dem Tisch. „Nun mach schon.” Ich greife nach einem sehr eindeutig aussehenden Päckchen und kann schon durch das rot gemusterte Papier hindurch ertasten, um was es sich wohl handelt. Und richtig, mir springt schon bald das Cover eines Sci-Fi Buches entgegen. Lächelnd bedanke ich mich bei Kathi. Das nächste dürfte von Matz sein. Ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Gamepad und einem witzigen Spruch. Niemand sonst, würde auf so eine Idee kommen. Nun fällt meine Wahl auf ein blau kariertes Papier. Josh neben mir rutscht mit einem Mal nervös umher, wodurch mir seine Nähe wieder deutlich bewusst wird. Mein Puls schnellt in die Höhe und anstatt halbwegs gesittet, reiße ich die Verpackung nahezu grob von ihrem Inhalt herunter. In meinen Händen halte ich ein Kochbuch für vegane Alltagsgerichte, das ich schon länger haben wollte und zudem noch einen Gutschein für einen rein pflanzlich orientierten Feinkostladen. Ich kann spüren, wie sich mein Lächeln immer mehr verbreitert. „Danke!”, freue ich mich aufrichtig, sehe wieder zu ihm hoch. Was ist der Kerl eigentlich so riesig, selbst im Sitzen? „Ähm... gern geschehen? Aber, es ist doch nichts Besonderes?”, meint er ausweichend und schaut sich nach der Kellnerin um. „Aber genau richtig!” Kaum habe ich zu Ende gesprochen, blicke ich erschrocken in die Runde. „Also eure Geschenke sind natürlich auch toll und richtig... und so... also nicht falsch verstehen...” „Keine Sorge, wir wissen, wie das gemeint ist”, unterbricht mich Charly. „Eben. Und du hast auch noch gar nicht alles ausgepackt”, ergänzt Kathi und zeigt auf das letzte verbliebene Päckchen. Matz neben mir lässt ein gekünsteltes Schniefen hören. „Nein, das ist ganz dolle schlimm! Und ich dachte, wir wären deine besten Freunde. Aber nein, du lässt uns für so einen dahergelaufenen Satansanbeter sitzen.” Mit verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe dreht er sich weg. Zu seinem Pech bemerkt er so den fliegenden Pappkarton aus Kathis Richtung erst, als er ihn am Kopf trifft. „Tse, Satansanbeter!? Ich bin Agnostiker, du Theologiemuffel”, schnaubt der Beleidigte kopfschüttelnd neben mir. Matz brummelt nur als Antwort und reibt sich den lädierten Kopf. Ich mache mich daran, die Hülle vom letzten Geschenk zu entfernen. Kaum kann ich erkennen, um was es sich dabei handelt, entfährt mir ein erschrockener, gar entsetzter Laut. Auch ohne Spiegel merke ich, wie meine Wangen beginnen tiefrot zu glühen. So sehr er sich auch bemüht, ich kann spüren wie Josh neben mir bebt vor unterdrücktem Lachen. Matz macht sich gar nicht erst die Mühe und brüllt direkt vor Lachen los. „Charly, sind die etwa von dir?”, bringt er irgendwie heraus. „Ausgerechnet von dir hätte ich das als Letztes erwartet!” Am Rande meines Sehfeldes sehe ich den Angesprochenen mit den Schultern zucken. Naja, als ein guter Freund ist es doch meine Pflicht, ihn auf alle Gefahren des Volljährigseins vorzubereiten.” Nun richte ich meine Augen doch auf ihn, weg von der Packung in meiner Hand. Einer verdammten Packung Kondome! Und was macht er? Stimmt in das Lachen mit ein, obwohl er kurz zuvor noch fast reuevoll dreinblickte. Mit vorgeschobener Unterlippe knülle ich das Geschenkpapier zusammen und werfe es nun ihm an den Kopf, nicht zuletzt, um mich selbst von meiner eigenen peinlichen Berührtheit abzulenken. „Boah, ihr Jungs seid ja so unmöglich!”, schimpft Kathi, bewirkt damit aber nur das Gegenteil. Auch Josh gibt alle Bemühungen auf. Sein tiefes Lachen bringt meine Knochen förmlich zum vibrieren und verwandelt sie in Pudding. Im Versuch mich abzulenken, mustere ich die Packung, Keine gute Idee. Mein Hirn hat plötzlich eine sehr genaue Vorstellung davon, wofür man extra feuchte Kondome wohl brauchen könnte. Ganz falsche Gedanken für einen ganz falschen Zeitpunkt! Vor allem wenn ich einen der Hauptakteure dieser Fantasien direkt neben mir spüren kann. „Mach die Packung auf. Keine Sorge, das war nicht mein richtiges Geschenk.” Charly fängt sich als Erster wieder. Noch etwas skeptisch fummel ich die obere Lasche auf, traue mich kaum hineinzuschauen. Neben bunt bedruckten Plastikquadraten finde ich einen ebenfalls bunten Umschlag. Das Logo darauf kommt überraschend aber vertraut daher. Kurz darauf halte ich einen Gutschein für meinen liebsten Comicladen in der Hand. Der ist mir definitiv lieber. „Und warum meinst du, dass Paul eine bessere Verwendung für Verhütungsmittel hat, als du?”, fragt Kathi, schnappt sich die unauffällig von mir weggeschobene Kondompackung. „Ach, ich glaube, Charly kann damit nicht so viel anfangen”, flötet Matz, nur um schmerzhaft aufzujaulen. „Au! Wofür war das denn?” Sein Ärger gilt Charly. „Schmoll nicht, wenn du so Quatsch redest, selbst Schuld”, gibt der ungerührt zurück. Zwischen den Zeilen schwingt bei Beiden viel Ungesagtes mit, welches für mich ohne Sinn bleibt. „Und außerdem, wer sagt, dass man nicht selber welche zu Hause haben und trotzdem noch weitere verschenken kann?” Josh lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Etwas zu Offensichtlich, für meinen Geschmack. Misstrauisch huscht mein Blick von einem zum anderen. Wirklich vertiefen will das Thema niemand mehr und so schweifen wir wieder in unverfängliche Gefilde ab.   Einige Zeit und viele Biere später, ist die Stimmung wieder sehr gelöst und ich fühle mich rundum wohl. Die Geschenke – inklusive der prekären Packung – habe ich in einer Tasche vestaut. „Wisst ihr, der Abend ist lustiger und normaler, als ich befürchtet hatte”, meint Joshua auf einmal, von uns allen wohl am wenigsten vom Alkohol beeinflusst. Er hätte das Wettsaufen ohne Probleme gewonnen, soviel steht fest. „Wie meinst du das?” Stirnrunzelnd blicke ich zu ihm auf. Warum muss ich eigentlich so weit hochgucken? Saß ich eben auch schon so nah an ihm dran? Seine Körperwärme strahlt angenehm zu mir herüber, nur mein Nacken prickelt leicht nervös, seit er seinen Arm hinter mir auf der Lehne platziert hat. „Na, ich wusste ja nicht was mich erwartet. Bei euch Geeks weiß man ja nie, was ihr plötzlich auspackt”, klärt er uns auf. „Oh nein, wir sin' aufgeflog'n. Dann können wir die Scharade ja aufgeb'n. Los, holt die Würfel raus, wir spiel'n Pen'n'Paper”, lallt Matz und beugt sich demonstrativ zu den Taschen runter, als würde er ernsthaft jetzt nach Würfeln, Zetteln und Regelbüchern greifen wollen. „Hätten wir ja eigentlich machen können”, überlege ich laut. Auch an mir ist der Alkohol nicht spurlos vorbei gegangen. „Wir haben doch noch gar nicht Vampire: The Masquerade beendet. Das würde dir bestimmt auch gefallen, Joshua!” Ich grinse ihn aufgeregt an. Einen neuen Spieler können wir immer gebrauchen. „Meinst du?” Irgendwie klingt er nicht so begeistert, wie ich gehofft hatte. „Ach, bestimmt. Man braucht nur viiieeeeel Zeit”, nuschelt Charly von der anderen Tischseite aus, während er sich an sein Glas Cider klammert. „Dann müssen wir aber von vorne anfangen”, wirft Spielleiterin Kathi ein. „Ich wüsste nicht, wie ich ihn so ohne weiteres noch einbauen soll.” „Nicht nötig, ich glaube, ich verzichte lieber”, winkt Joshua ab. „Doooooch, bitte!”, jammere ich und schiebe die Unterlippe vor. „Dann muss Kathi halt mal kreativ werden.” „Äh...” Josh sieht mir endlich wieder in die Augen und ich habe den Eindruck, sein Widerstand beginnt zu schmilzen. „Oder wir spiel'n was anderes, was... Leichtes für den Anfang”, schlägt Matz nun vor. „Zu fünf' ist das eh viel cooler!” „Dann ist aber einer von euch Spielleiter, ich mag auch nochmal eine Rolle haben.” Charly seufzt ergeben. „Na gut, ich mach's.” „Yippie! Guck, allsch geklärt!” Begeistert klatsche ich in die Hände. „Na gut”, seufzt der Schwarzhaarige neben mir. „Ich kann ja mal mitspielen.” „Das wird toll!”, freue ich mich. Rutsche noch ein Stückchen näher an ihn ran und lehne mich hoffentlich unauffällig nach hinten und ein bisschen in seine Richtung. Alles in mir sehnt sich nach Körperkontakt und ich bin nicht mehr stark genug, um mich ihm gegenüber zurückzuhalten. „Wir schauen mal”, brummt Josh, sagt zu meiner Aktion jedoch nichts. Im Gegenteil, es dauert nicht mehr wirklich lange, da spüre ich, wie sich seine Hand auf meine Schulter senkt und mich vorsichtig ein wenig näher zieht. Ich lächle selig, lausche mit halb geöffneten Augen der Unterhaltung und lasse zu, dass Josh alle meine Sinne berauscht. Nur heute, nur für den Augenblick, mit genug Alkohol für falschen Mut, traue ich mich, meinen Träumen ein kleines bisschen Platz zu lassen.     Joshuas POV   Mein dummes Herz rast immer noch völlig außer Takt geraten. Hätte ich gewusst, dass der Kleine bei den paar Bier schon so kuschelbedürftig wird... Ich glaube, ich bin im siebten Himmel angekommen und das nur, dank dem bisschen Kontakt. Wenn mich das schon so aus der Bahn wirft, was wäre dann erst, wenn wir keine Klamotten mehr zwischen uns hätten? Ahhh, stopp, böses Kopfkino! Nicht hier, nicht jetzt, ganz schlechte Idee. „Ich glaube, wir sollten uns langsam mal auf den Heimweg machen”, gähnt Kathi just in diesem Moment. „Müsst ihr noch nicht, können noch bleiben”, nuschelt Paul und rückt sogar noch näher an mich heran. Oh ja, bitte, nur noch ein paar Minuten! „Bin ich auch für”, sagt Matz. Ich brauche kurz um zu kapieren, dass er mitnichten meine unausgesprochene Bitte nach mehr Zeit meint. „Paul pennt uns sonst noch ein.” Grinsend sieht er auf mein kleines Blondchen hinab. Und so ist es wohl beschlossene Sache... schade aber auch. Ich winke die Kneipenfee herbei, während sich der Rest langsam erhebt, Taschen und Jacken sortiert und angezogen werden. Paulchen richtet sich murrend auf, streckt sich mit erhobenen Armen, dass mir glatt die Luft wegbleibt, als ich einen schmalen Streifen Haut am Bauch hervorblitzen sehe. Die Dame hat direkt verstanden, was wir wollten und kommt mit der Rechnung angerauscht. Unser Gastgeber bezahlt, die anderen gehen schon vor. Ich bleibe bei ihm, was auch sonst. Draußen schlägt uns die kalte Winterluft entgegen. Paul neben mir schwankt kurz und beginnt beinahe sofort zu zittern. „Willst du meinen Mantel haben?”, biete ich an und ziehe den Reißverschluss schon mal vorsorglich auf. „Ne, lass ma'”, lallt er jedoch. Oh weh, die frische Luft verträgt sich nicht gut mit seinem Alkoholpegel. „Mir's nich' kalt...” „Blödsinn.” Ich ziehe besagten Mantel aus und will ihn ihm um die Schultern legen, doch er duckt sich weg. Nur ein beherzter Griff an seinen Oberarm verhindert schlimmeres. „Will nich'”, murrt der Sturkopf und befreit sich aus meinem Griff. Seine Abweisung versetzt mir einen kleinen Stich, doch dummerweise bin ich sturkopferprobt und fühle mcih davon nur erst recht angestachelt. „Dir ist kalt, das seh' ich doch.” „Ga-gar nich' wahr...”, bibbert er. Sehr überzeugend. Nicht. Ehe wir weiter diskutieren können, holen wir die drei anderen ein. Auch hier wird diskutiert, allerdings über die Strecke bis zur nächsten Bushaltestelle. „Ihr könn' auch bei mir schlaf'n, wirklisch. Isch hab g'nug Platz”, bietet Paul selbstlos an. So wie er lallt, bin ich froh, wenn er den Weg in sein eigenes Bett noch selbstständig findet. „Nein, nicht nötig, wir schaffen es schon nach Hause. Du hast uns lang genug ertragen”, winkt Kathi ab. „Aber...” Den Rest, den der Blonde als Widerworte anführt, kriege ich nicht mit. Aus Charlys Gesicht ist jegliche Farbe gewichen und er sieht in Schockstarre zu Matz, der sich ein Stück entfernt hat, um zu telefonieren. Ich höre nur Wortfetzen, kann mir aber daraus schnell zusammenreimen, was der Knallkopf jetzt schon wieder anstellt. Wortlos hänge ich Paul meinen Mantel um die schmalen Schultern, dass er förmlich darin versinkt und bin mit einem Sprung bei Matz. Kurzerhand entreiße ich ihm das Handy – Charlys Handy – und drücke es seinem Besitzer in die zittrige Hand. „Sag mal, tickst du noch sauber!?”, zische ich Matz an. „Was'n? Der hätt' uns doch abholen könn'n!”, schmollt er, sich keiner Schuld bewusst. „Bist du ernsthaft so besoffen, dass du dir nicht mehr denken kannst, dass das keine gute Idee ist, du Vollidiot!?” Wenn ich es richtig gehört habe, hat er ernsthaft versucht, Charlys geheimen Freund anzurufen, damit der die Schnapsdrosseln mit dem Auto abholen kommt. Bin ich denn der einzig normale hier!? „Ist doch nich' so schlimm...” „Doch, ist es! Und jetzt entschuldige dich.” Streng zeige ich zu Charly, der das Gespräch mit seinem Lover beendet hat. Ich verstehe nicht, warum er so ein Gewese um die Geheimhaltung macht, aber es ist sein gutes Recht und geht mich nichts an. „Sorry Charly”, nuschelt Matz zerknirscht. „Wollte dir kein' Stress mach'n. Dacht' nur, er könnt' uns doch abhol'n. Viel einfacher als auf'n Bus zu wart'n.” „Von wem redet ihr eigentlich? Was war denn los?”, fragt Kathi misstrauisch und sieht von einem zum anderen. „Niemand!”, schießt es etwas zu schnell aus Charly heraus. „Für einen 'Niemand' macht ihr aber ein ganz schönes Theater...”, stellt die Brünette folgerichtig fest. „Ein... guter Bekannter von mir, okay?”, haspelt der Kleine mit der Brille weiter. Rettung bekommt er ausgerechnet von Paul. „Können wir das nich' morgen klären? Es is' kalt und die blöden Tüten werden verdammt schwer.” Besagte Tüten schwenkt er bedeutungsvoll hin und her, mit der zweiten Hand hält er meinen Mantel an Ort und Stelle. „Ich versteh euer komisches Drama zwar immer noch nicht, aber meinetwegen. Dank eurer Trödelei sollte der nächste Bus auch demnächst da sein.” Mit diesen Worten stapft Kathi an uns vorbei und den Weg weiter, Richtung Bushaltestellen. Schweigend folgen wir ihr. Die Stimmung ist merkwürdig. Zum Glück kommt der Bus tatsächlich, kaum dass wir die Haltestelle erreichen. Die drei steigen ein, doch ich ändere meinen Plan kurzentschlossen. „Ich bring dich noch nach Hause”, teile ich Paul mit. Er blickt mich aus glasigen Augen verwundert an. „Aber ich habe es doch gar nich' weit?” „Trotzdem. Ich nehme einfach einen anderen Bus, passt schon.” „Aber-” „Nein.” Zischend schließen sich die Türen hinter unseren winkenden Begleitern. Damit wäre auch diese Frage geklärt. Wenn auch nicht unbedingt diplomatisch. Paulchen schmollt. Den Kopf gesenkt, die Unterlippe garantiert wieder so süß vorgeschoben und die Arme unter meinem Mantel verschränkt. Wenn er wüsste, wie sehr mich das gerade anmacht, würde er wahrscheinlich schreiend weglaufen. Wer schon auf eine harmlose Packung Gummis so reagiert... Ich muss dringend meine Libido in den Griff kriegen. Mich fröstelt es so langsam aber sicher, doch nichts in der Welt würde mich jetzt dazu bringen, meinen Mantel wieder an mich bringen zu wollen. Stattdessen nutze ich die Kälte und stelle mir eine Dusche vor. Eine eiskalte. Die sämtliche unangebrachten Gelüste schrumpfen lässt, im wahrsten Sinne des Wortes. Verdammt, wie bin ich nur wieder in so eine Situation geraten? Wir verlassen die stadttypische Atmosphäre und biegen in ein Viertel ein, in dem die großen Reihenhäuser mit dutzenden Klingelschildern süßen Doppelhaushälften und sogar freistehenden Einfamilienhäusern weichen. Die Vorgärten sind klein, aber immerhin vorhanden. Vor einem der freien Häuserhalten wir schließlich an. Ich mustere verstohlen den verwilderten Garten, die verwelkten Pflanzen und zusammengesunkenen Gräser, die im Herbst eigentlich hätten abgemäht werden sollen. Das ältere Auto in der Einfahrt hat wohl auch schon bessere Tage gesehen. Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brustgegend schaue ich auf Paul hinunter, doch der versteckt sich Paul hinter seinen überlangen Haarsträhnen. Sein Atem kondensiert in der kalten Nachtluft zu weißen Dampfwolken und ich habe den Eindruck, dass sie schneller ausgestoßen werden als es im Ruhezustand normal wäre. Nach einer Weile des Schweigens hebt er schließlich doch noch den Blick. Seine großen, blauen Augen haben nach wie vor den glasigen Schleier übermäßigen Alkoholkonsums, doch daneben spiegelt sich Unsicherheit, eine unausgesprochene Frage und ein merkwürdiges Funkeln in den tiefblauen Seen, die im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung fast schwarz wirken. „Tja...”, beginne ich, breche aber sofort wieder ab. Nervös zuppel ich am Hemdärmel meines linken Arms herum. „Tja”, echot Paul leise. Immer noch bohrt sich sein Blick in den meinen, doch der wird ein Stück weiter südlich magisch angezogen. Von einer rosa Zungenspitze, die sich zwischen den verheißungsvollen Lippen hervorstiehlt und diese befeuchtet. Ich schlucke. Meine Beherrschung wird auf eine harte Probe gestellt. Alles in mir schreit danach, mich auf das kleine Unschuldslamm zu stürzen. Paul bewegt sich wie in Zeitlupe auf mich zu. Ich bleibe stocksteif stehen. Er hebt die Arme, zögert, legt sie dann um mich. Ich kann meinen eigenen Herzschlag in meinen Ohren dröhnen hören. Vorsichtig erwidere ich die Umarmung, beuge mich einem inneren Instinkt folgend ein Stück zu ihm hinab. „Schlaf gut, du kleine Schnapsdrossel”, hauche ich in sein Ohr. Der Blonde erzittert in meinen Armen. Unvermittelt dreht er den Kopf, meine Lippen streifen unbeabsichtigt seine Wange. Ich will mich zurückziehen, wirklich. Doch ehe ich nur einen weiteren Atemzug nehmen kann, spüre ich seinen Mund hauchzart auf meinem. Paul küsst mich! Scheiße, ich bin auch kein Heiliger, auch ich habe Grenzen. Meine Augenlider machen es den seinen gleich und fallen zu. Probeweise erhöhe ich den Druck unserer Lippen. Die Welt steht kurz still. Dann seufzt er leise. Ermutigt bewege ich meine Lippen schmusend über seine. Meine Arme legen sich fester. Der Mantel rutscht ihm endgültig von den Schultern. Was soll's. Stört eh nur. Ich lasse das schwere Stück Stoff zu Boden gleiten, nur um meine Hände fest an seinen Rücken zu legen, eine nur knapp über seinem verführerischen Po. Unbeholfen imitiert Paul meine Kussbewegungen. Die Gewissheit, sein Erster zu sein, lässt meine Synapsen beinahe vollends durchschmoren. Probeweise öffne ich meine Lippen ein Stück und taste mit meiner Zunge über seine Unterlippe. Er schmeckt schon jetzt mindestens so süß, wie er aussieht. Aufmunternd sauge ich an seiner Oberlippe, knabbere sachte an der weichen Haut. Langsam, fast unmerklich, öffnet er sich mir einen Spalt. Mit einem tiefen Brummen nehme ich die Einladung an und gleite langsam in seine Mundhöhle. Unerwartet neugierig empfängt mich seine Zunge und stupst mich spielerisch an. Ich lächle in den Kuss hinein. Mein Versuch, ihm wieder etwas mehr Raum zu geben, wird beinahe schmerzhaft unterbrochen. Die Finger fest in meinen Nacken und mein Haar gekrallt, hält Paul mich fest. Schier endlos dauert unser Kuss an. So sehnsuchtsvoll und trotz allem für meinen Geschmack noch viel zu unschuldig. Apropos Geschmack, das unverkennbare Aroma von Alkohol holt mich wieder in denkende Sphären zurück. Nur widerwillig nehme ich meine Hände von ihm und befreie meine Strähnen aus seinen Fingern. Zum Schluss küsse ich ihn nochmal beinahe keusch auf die halb geöffneten Lippen. Und nochmal. Ein letztes Mal. „Du solltest ins Bett gehen”, sage ich mit kratziger Stimme, als ich mich endlich von ihm lösen kann. Sein enttäuschter Blick geht mir durch Mark und Bein. „Kommst du... noch mit rein?” Die Frage kostet ihn sichtlich Kraft und Mut. Ich mache das einzig Sinnvolle und schüttel den Kopf. „Nein, ich glaube, das ist keine gute Idee.” „Na gut...” Beschämt senkt er den Kopf und seine Hände, die ich immer noch in meinen halte, krampfen sich zusammen. „Hey”, säusel ich beruhigend, tippe mit einem Finger sein Kinn an, bis er mich wieder ansieht. Die Wangen rot, die Lippen vom Küssen leicht geschwollen. Nur der feuchte Glanz in den Augen, der gefällt mir gar nicht. 'Josh, du Trottel!', schelte ich mich selbst. „Ich würde wirklich gerne mit dir reinkommen. Wirklich. Nur ich weiß nicht, ob ich mich zurückhalten kann, dir nicht zu zeigen, wofür Charlys Geschenk so alles gut sein kann. Aber das ist etwas, da will ich, dass du nüchtern und voll Herr deiner Sinne bist, okay?” Ich sehe trotz der schlechten Lichtverhältnisse, wie sich seine Augen weiten und die Röte nicht nur seine Wangen, sondern weite Teile seines Gesichts und Halses färbt. Sein leises Keuchen macht mir immerhin Mut, ihn nicht vollends verschreckt zu haben. „Wenn du ausgeschlafen hast, dich noch an alles erinnerst und es nicht bereust, dann ruf mich an oder schreib mir, okay?” Paul kaut auf seiner Unterlippe, nickt jedoch verstehend. Ich kann nicht widerstehen und stehle mir noch einen letzten, süßen Kuss. „Schlaf gut, kleines Engelchen.” Und noch während ich zusehe, wie die Person, die es geschafft hat in so kurzer Zeit so wichtig für mich zu werden, in diesem Haus verschwindet, das so gar nicht zu ihm passen will und deren Geschmack noch immer an meinem Mund anheftet, weiß ich, dass zumindest ich in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden werde.   ~*~   Ich HASSE Geschenke. Ich bin soooooo unkreativ! Vor der Szene, in der ich mir die Geschenke überlegen muss habe ich schon Schiss, seit ich sie August 2020 in Hidden Secrets aus Charlys Sicht geschildert habe *heul * (Für alle Leser, die nur diese Story kennen: Ursprünglich ging es – offensichtlich – aus Charlys Sicht durch einige der Szenen. Und das Umschreiben von ihm zu Paul bzw. Joshua ist viel anstrengender, als ich dachte... bin froh, dass es jetzt keine relevanten Überschneidungen mehr geben wird und ich wieder „frei” schreiben kann.) Kapitel 9: ----------- *reinschleich* Psssst! Ich freue mich immer sehr über jede Art der Rückmeldung! Auch durchaus gerne mal kritische Meinungen ;)   Ich probiere hier mal etwas anderes aus: Kürzere Kapitel, die dafür aber (hoffentlich) in kürzeren Abständen erscheinen und nach Möglichkeit immer nur aus der Perspektive einer Person geschrieben wurden.   ~ 9 ~   Pauls POV   Als ich erwache, besteht meine Welt im ersten Augenblick nur aus Schmerzen, Übelkeit und dem Gefühl, schwerelos und tonnenschwer zugleich zu sein. Meine Augenlider lassen sich erst mit sehr viel Mühe heben, mein Arm steht vor der unlösbaren Aufgabe, die Decke von mir zu schieben. Der Rest meines Bewusstseins schwirrt in einem wirren Strudel umher. Wo bin ich? Bett. Meins, glaube ich. Kommt mir vertraut vor. Viel sehen kann ich, trotz inzwischen geöffnetem linken Auge, nicht. Die Rollos sind also unten, immerhin. Mein Schädel pocht und weigert sich, noch mehr Informationen preiszugeben. Auch gut. Mühsam öffne ich auch das rechte Auge. „Oh shit...”, murmel ich vor mich hin. Die Welt dreht sich mit einem Mal noch ein bisschen rasanter, meine Gliedmaßen beginnen unheilverkündend zu kribbeln. Um einiges wacher hieve ich mich hoch und husche ins Badezimmer, nur damit sich mein Magen beim rettenden Anblick der Kloschüssel doch wieder beruhigt. Ich warte noch einige Minuten, aber bis auf den latenten Schwindel und die skalierenden Kopfschmerzen passiert nichts weiter. Seufzend krame ich nach einer Packung Schmerzmittel, schlucke die Tablette trocken, spüle mit Wasser nach und putze mir dann den pelzigen Geschmack von der Zunge, wenn ich eh schon einmal am Waschbecken stehe. Zurück im Flur zögere ich, horche in mich hinein. Trinken? Essen? Uärghs. Ne, bestimmt mein Magen. Kein Essen. Fein, dann gehe ich halt wieder ins Bett. Vorher öffne ich aber noch die Fenster, der Geruch hier drin ist nicht wirklich förderlich. Die Erinnerungen an den vergangenen Abend klopfen in meinem Hinterkopf an, doch ich dränge sie zurück. Dafür hab ich auch noch Zeit, wenn mein Kopf sich nicht mehr anfühlt, als würde er explodieren wollen. Später. Ja, später...   Wie viel Zeit wirklich vergangen ist, kann ich nicht sagen, schließlich war die Uhrzeit bei meinem letzten Erwachen keine meiner Prioritäten gewesen. Vorsichtig strecke ich mich. Meine Muskeln sind immer noch merkwürdig schlapp, aber ansonsten geht es mir besser. Auf dem Weg zur Dusche begegne ich meinem Vater. Nachsichtig lächelnd betrachtet er meine verkaterte Erscheinung. „Chinesisch?”, fragt er und hält schon Telefon und Speisekarte in der Hand. Ich nicke und brummel was von „Das Übliche”. Dann stutze ich und drehe mich mit gefurchter Stirn nochmal zu ihm um. „Wie spät ist es denn?” Wenn er jetzt schon Essen bestellen will...? „Halb vier durch.” „Oh.” 'Schon Essen bestellen' passt da wohl nicht mehr. „Lange Nacht, hm?” Erneut nicke ich und verschwinde im Bad, während mein Vater bereits die Nummer des Lieferdienstes wählt. Ich schäle mich aus den Klamotten und lasse mir vom warmen Wasser den Dreck und Geruch der letzten Nacht abwaschen. Und dann ist es, als würde es zeitgleich den Schleier vor meinen Erinnerungen hinfortspülen, der bislang gnädig auf mir gelegen hat. „Oh nein!” Beschämt schlage ich die Hände vors Gesicht, während die Bilder auf mich einprasseln. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich habe Joshua geküsst! Ich habe ihn geküsst, einfach so und er... hat es erwidert, oder? Durch einen Spalt meiner Finger starre ich in den Abfluss, den kleinen Strudel Wasser, der im Gitter verschwindet. In meiner Brust rumpelt es aufgeregt. Unbewusst lecke ich mir über die Lippen, doch außer einem Rest Zahnpasta kann ich dort natürlich nichts mehr schmecken. Ist das wirklich passiert oder bilde ich mir das bloß ein? Haben wir uns wirklich... vor dem Haus? Das Wasser verschluckt mein gequältes Stöhnen. Ich versuche mich erneut an der bewährten Verdrängungstaktik, die bereits früher am Tag funktioniert hat, doch natürlich lässt sich die Büchse der Pandora nicht mehr schließen, sobald sie einmal geöffnet wurde. Ich soll ihn anrufen – oder anschreiben – sobald ich ausgenüchtert bin, hat er gesagt. Das ist doch gut, nicht wahr? Irgendwie habe ich das Gefühl, mir fehlen noch ein paar wichtige Puzzleteile, aber mein Verstand weigert sich beharrlich, seine Arbeit wieder richtig aufzunehmen. Je mehr ich nachdenke, umso schlimmer wird es. Seufzend gebe ich auf und konzentriere mich auf das gleichmäßige Prasseln des Wassers auf meinen Schultern. Später. Dieses eine Wort wird wohl mein neues Lebensmotto. Den Rest der Duschroutine erledige ich auf Autopilot und stehe anschließend mit noch feuchten Haaren in der Küche. Es klingelt an der Tür, kaum dass ich mir ein Glas Wasser eingeschenkt habe. Mein Vater kommt mit dem gelieferten Essen zurück. Gemeinsam decken wir den Tisch und verteilen die unterschiedlichen Schüsseln und Boxen. „Und, wie war der Abend?”, fragt mein Vater nach dem ersten Löffel Peking-Gulasch-Suppe. Prompt werde ich rot. „Ähm... gut.” Ich verstecke mein Gesicht über meinem Teller mit Frühlingsrollen. „Der Pub war wirklich toll.” „Also so, wie du es dir vorgestellt hast?” Ich nicke. „Wart ihr denn lange dort? Ich habe dich gar nicht nach Hause kommen gehört.” Schulterzucken meinerseits. „Ich weiß gar nicht, wann wir los sind. War aber ziemlich spät.” Kein Wunder, dass ich so lange geschlafen habe. Aber es beruhigt mich, dass Papa einen seiner guten Tage zu haben scheint. „Freut mich auf jeden Fall, dass du mit deinen Freunden einen schönen Abend hattest.” Wir schweigen eine Weile und genießen unser Essen. Ich habe mir gerade meine gebratenen Nudeln mit Gemüse und eingelegtem Tofu aufgetan, da wirft mich seine nächste Frage schon wieder fast aus der Bahn. „Was gab es denn Schönes an Geschenken?” Ich stocke, versuche dann möglichst unbeteiligt zu wirken, auch wenn ich mich räuspern muss, um überhaupt antworten zu können. „Ach, so das Übliche.” Ich kämpfe gegen die aufsteigende Röte in meinen Wangen an. „Ein Shirt, Bücher, ein Gutschein für den Comicladen... oh, und noch ein Gutschein für den Feinkostladen drüben, zu dem ich unbedingt mal wollte.” Ich muss unwillkürlich lächeln, als ich daran denke, wer ihn mir geschenkt hat. Die blöden Gummis hingegen erwähne ich nicht. Es gibt einfach Dinge, die muss mein Vater nicht wissen. „Ach wie schön. Fahrt ihr dann zusammen rüber? Oder soll ich dich demnächst mal mitnehmen?” „Ähm... keine Ahnung. Ich hab gar nicht gefragt...” Mit nachdenklich gerunzelter Stirn schiebe ich einen Pilz mit meinen Stäbchen hin und her. Ich glaube, Josh hätte sogar theoretisch einen Führerschein und zumindest ein Familienauto. Aber ich kann ihn doch nicht wirklich fragen? Oder doch? Warum eigentlich nicht? Aber was, wenn er das doof findet und gar nichts weiter mit dem Geschenk zu tun haben will? So nach dem Motto, aus den Augen, aus dem Sinn? Und kann es sein, dass ich mir mal wieder viel zu viele Gedanken mache? Ich seufze lautlos und trete auf die Bremse meines Gedankenkarussells. Mein Gegenüber scheint von meinem inneren Konflikt nichts zu bemerken. „Dann mach das doch mal. Ihr könnt dann doch auch direkt zusammen kochen, das machst du doch so gerne.” Er zögert. „Ich... muss nächstes Wochenende wahrscheinlich nach Frankfurt, zu einer Messe. Es wäre doch schön, wenn du dann nicht ganz so alleine wärst.” Erschrocken blicke ich auf, direkt in seine schuldbewussten Augen. Warum tut er eigentlich immer so, als ob ich hier das Sorgenkind wäre? Aber ich kann ihm auch nicht böse sein. Er meint es ja nur gut. „Ich komm schon klar, Papa.” Ich zwinge mich zu einem beruhigenden Lächeln. „Bin doch jetzt erwachsen.” Er schnaubt leise, erwidert mein Lächeln. „Das warst du auch vorher schon. Die blöde Zahl im Papier ist doch nur für die Bürokratie.” „Stimmt.” Mir blieb auch nichts anderes übrig. Doch das würde ich ihm nie vorwerfen. Es ist für uns beide nicht leicht, aber wir schaffen das schon. Ich wende mich wieder meinem Essen zu. Ob Joshua sich wohl von mir bekochen lassen würde?   ~*~   Es ist bereits fortgeschrittener Abend, die Wintersonne hat sich schon vor Stunden auf die andere Seite der Erdkugel verdrückt. Ich starre auf den Fernseher, ohne wirklich etwas zu sehen und drehe immerfort das Smartphone in meinen Händen. Dass ich Joshua schreiben will, habe ich ja immerhin schon mit mir selbst ausdiskutiert. Nur über den Inhalt bin ich mir noch uneins. Was schreibt man jemandem, mit dem man betrunken rumgeknutscht hat? Ich war doch noch nie in so einer Situation! Nur weil ich es nicht bereue, heißt das ja noch nicht, dass es Josh auch so geht. Immerhin hatte er auch reichlich getrunken. Andererseits sprechen seine Worte vor meiner Tür dagegen. „Argh!” Frustriert raufe ich mir die Haare. Das darf doch alles nicht wahr sein! Mein Smartphone fällt dabei neben mich aufs Bett und starrt mit schwarzem Bildschirm zurück. Es wäre so viel einfacher gewesen, wenn Joshua zuerst geschrieben hätte, aber mich beschleicht das Gefühl, er würde bewusst auf eine Reaktion von mir warten. Leider hilft mir mein Bauchgefühl auch nicht weiter, von dem latenten schlechten Gewissen mal abgesehen, ich würde ihn unnötig warten lassen. Ja ja, bloß kein Druck. Ich schnaube. Schnappe mir das blöde Handy. Tippe und schicke die Nachricht ab, ohne noch einmal zu überlegen.   [Paul] hi sry, lag bis eben flach, doofer kater ps: ich bereue nichts   Na, ein Erguss geistiger Finesse war das nicht, aber besser als gar nichts. Jetzt heißt es warte- Mein Handy vibriert. Vor Schreck schmeiße ich es glatt vom Bett. Mein heldenhafter Hechtsprung hinterher kann es zwar nicht mehr retten, aber ich schaffe es kurz vor knapp noch den Anruf anzunehmen. „Hi”, melde ich mich atemlos, hieve mich nebenbei umständlich aufs Bett zurück. „Hi”, antwortet Josh ebenso gehaucht. Augenblicklich fängt es in meinem Magen an zu rumoren und eine angenehme Wärme breitet sich in mir aus, nur von seiner Stimme. „Ich habe auf deine Nachricht gewartet.” Es klingt kein Vorwurf in seiner Stimme mit, auch wenn er dazu jedes Recht hätte. Stattdessen spricht einfach nur Erleichterung und Freude aus seinem dunklen Timbre. Ich fange an, dümmlich zu grinsen. „Tut mir Leid. Ich glaube das Guinness hat mich umgehauen.” Ich kuschel mich tiefer in meine Kissen. „Glaub ich dir.” Josh lacht leise. „Also kein Alkohol mehr für dich?” „Ne, in nächster Zeit besser nicht”, erwidere ich schmunzelnd. „Geht es dir denn jetzt besser?” „Ja. Bin noch ein bisschen matschig, aber sonst ist alles gut.” „Das ist schön.” Und dann schweigen wir. Es ist nicht unbedingt unangenehm, aber trotzdem schwebt da dieser riesige rosa Elefant im Raum, den keiner ansprechen will. Die Finger meiner rechten Hand nesteln unruhig am Rand der Bettdecke herum. „Ich wollte-” „Das gestern-” Wir brechen ab und lachen auf. „Erst du”, bestimme ich , erleichtert, nicht den Anfang machen zu müssen. „Du... erinnerst dich doch an alles, oder?”, fragt der Metaller mit einem Hauch Unsicherheit. „Ich... ja.” Ich schlucke. „Und du meintest das auch ernst, in deiner Nachricht?”, hakt er vorsichtig nach. Für einen Moment muss ich wirklich überlegen, was er meint. „Natürlich!” „Das ist schön”, antwortet er ungewöhnlich sanft. Das Lächeln kann ich förmlich hören. „Und du?”, frage ich zaghaft nach. „Was? Ob ich es bereue?” Josh schnaubt, lacht erstickt. „Teufel, nein! Niemals.” Er seufzt und irgendwie vermitteln die Geräusche von seiner Seite, dass er sich über das Gesicht streicht. Ich weiß auch nicht, wie ich darauf komme. „Ach Paulchen, hätte ich geahnt... Sagen wir mal, ich hätte die ein oder andere Runde verhindert.” Zum Glück kann er nicht sehen, wie rot ich gerade bin. „Ich glaube, dann hätte ich das aber auch nicht getraut.” Und das Gespräch hier ist auch nur möglich, weil es übers Telefon stattfindet, wenn ich ehrlich bin. „Das wäre wirklich schade gewesen.” Wieder klingt er so sanft. Ich atme tief durch und nehme all meinen Mut zusammen. „Hättest du nächstes Wochenende Zeit und Lust deinen Gutschein mit mir einlösen zu fahren? Ich koch anschließend auch was für uns.” „Dieses Wochenende? Äh, natürlich!” Es folgt eine kurze Pause, dann flucht er unterdrückt. „Ich hab Samstag Abend noch Bandprobe. Wir treten in zwei Wochen wieder auf. Die killen mich, wenn ich nicht komme.” „Oh.” Ich hoffe, er kann meine Enttäuschung nicht allzu sehr hören. Dann kommt mir eine Idee. „Kannst du nicht von hier aus dahin fahren? Wenn das erst abends ist, haben wir ja vorher noch Zeit.” „Naja... eigentlich schon. Stimmt. Wenn es dich nicht stört, dass ich meinen Bass mitschleppe?” „Nein, gar nicht.” Erleichtert atme ich auf. „Ich hab Platz genug.” „Und deine Eltern? Die stört das auch nicht?” „Ich bin allein, mein Vater ist auf Geschäftsreise.” Innerlich verfluche ich mich, doch mein Biss auf die Zunge kommt zu spät. Wie klingt denn das!? Wie eine eindeutige Einladung zum... „Ah, okay.” Er schweigt kurz perplex, denkt sich wahrscheinlich seinen Teil. Zu meinem Glück geht er weder auf die Zweideutigkeit meiner Einladung, noch auf die fehlende Erwähnung meiner Mutter ein. „Soll ich schauen, ob ich mir ein Auto leihen kann? Ist vielleicht einfacher als mit dem Zug.” Dankbar für die Ablenkung atme ich auf. „Gerne, mach das.” Wieder schweigen wir. Ich lausche dem Atmen von der anderen Seite des Hörers. „Dann... sehen wir uns morgen?” „Klar.” Ich räuspere mich leise, will das Gespräch noch nicht beenden. „Okay.” Ebenso unwillig. „Ach, Paul?” „Hm?” „Wenn du willst, dann behalten wir das erstmal für uns okay?” „Was? Ach, ähm, ja. Vielleicht.” „Mir ist es egal”, stellt er schnell klar. „Ich denk nur, vielleicht ist es dir lieber so, für den Anfang? Bis wir... mehr wissen?” „Klingt vernünftig.” Mit einem Mal habe ich einen Kloß im Hals, der sich nicht so einfach weghusten lassen wird. Das, was andere denken könnten, habe ich bis hierhin sehr erfolgreich verdrängt. Verdammt, ich sollte wirklich aufhören, alles von mir zu schieben. Das wird mich noch in ernste Schwierigkeiten bringen. Hatte ich nicht in allzu ferner Vergangenheit noch vorgehabt, mich komplett von Josh fernzuhalten? Oder zumindest meine Gefühle für ihn zu verdrängen? Sieht man ja, wie gut das geklappt hat. Nämlich gar nicht. „Dann... bis morgen?” „Ich hoffe doch”, schmunzelt Josh leise. „Ich freu mich.” „Ich mich auch”, hauche ich leise. Aber immerhin, das kann ich zugeben. „Bis morgen.” „Hmm.” Ich grinse. Keiner von uns scheint gewillt, das Gespräch zu beenden. Als wir es dennoch irgendwann tun bleibe ich noch lange so sitzen, tippe nur ab und zu das Display an, damit es nicht wieder vollkommen dunkel wird. Verliebtsein fühlt sich doch gar nicht so schlimm an. Und für einen Moment glaube ich sogar fast, dass wir eine Lösung für alle anderen Schwierigkeiten in meinem Leben finden könnten.   Kapitel 10: ------------ Wir lesen einfach mal das Vorwort vom letzten Kapitel und lachen alle mal gemeinsam sehr laut über meinen Optimismus. Hahaha. Naja, das Leben passiert, während ich gerade dabei bin andere Pläne zu machen. Shit happens.   Wie immer würde ich mich über Feedback freuen, auch gerne Anmerkungen über komisches Verhalten oder zu sprunghafte Entwicklungen der Charaktere. Als Autörchen verliert man gerade bei Geschichten die sich zwischen den Kapiteln etwas ziehen schnell mal das Gefühl.   ~ 10 ~       Joshuas POV   „Wenn du keine Ohren hättest, würdest du im Kreis grinsen”, bemerkt meine Mutter, als ich Montag Morgen beschwingt in die Küche spaziere. „Was ist denn Schönes passiert? Gestern hattest du noch Weltuntergangsstimmung.” „Ich habe ein Date!”, platze ich, unvorsichtig wie ich in meinem Freudentaumel bin, heraus. „Ein Date!?” Meine kleine Schwester Holly guckt mich mit großen Augen an. „Mit wem? Etwa dem-” „Shhh!”, zische ich streng, die Arme vorgestreckt, die Zeigefinger erhoben. „Oh, wie schön!” Den Einwurf übergehend, stellt Mum eine Tasse Kaffee vor mir hin. „Wann trefft ihr euch denn?” „Danke. Am Samstag schon.” „Kommt ihr dann auch nach hier?”, fragt sie ein bisschen zu beiläufig. „Ähm... ne. Wir fahren einkaufen und später zu ihm. Wir wollen zusammen kochen.” Oder so ähnlich. „Laaaangweilig!”, motzt Holly. „Na, bei euch wissbegierigen Grazien würde ich auch niemanden mitbringen, bevor es nicht in absolut trockenen Tüchern ist”, kommt es brummelig von meinem Vater, während er sich mit der Tageszeitung in der Hand auf seinem Platz niederlässt. Darauf sagt keiner mehr was. Zeit für einen kleinen Themenwechsel. Der kommt auch schon von links quer durch den Flur und an der Türöffnung vorbeigerauscht. „Nathan!”, ruft Mum ihm nach. „Pack dir zumindest etwas zu essen ein, wenn du dich schon weigerst zu frühstücken.” „Kein' Bock!”, schallt es aus Richtung der Haustüre. „Junger Mann! Du wirst nicht schon wieder dein Taschengeld für ungesunden Kram ausgeben!” Die Stimme klingt unnachgiebig, das Gesicht meiner Mutter jedoch ist gezeichnet von einer Art genervter Resignation. Man muss ihr zugute halten, dass sie es immerhin noch versucht und noch nicht völlig verzweifelt ist oder gleich aufgegeben hat. „Ich mach mit meinem Geld was ich will!” Das lebende Verhütungsmittel unterstreicht seinen Abgang mit einem lauten Knall. Mum seufzt, Dad gluckst amüsiert, räuspert sich aber schnell, als ihn ein Todesblick trifft. „Dieser Junge...” „Ach, lass ihn doch, Schatz. Besser er schmeißt sein Geld für Essen raus, als für Zigaretten und harte Drogen. Wird er schon noch merken, wie dumm das ist. Die zwei Großen haben es doch auch irgendwann kapiert.” „Wer? Ich?” Baff sehe ich meinen Vater an. „Ich war nie so!” „Nein, du warst schlimmer.” „Holger!”, schimpft Mum nun mit ihm, schmunzelt jedoch selbst, aus Mangel an Argumenten mit dem Küchentuch nach ihm schlagend. „Ich war gar nicht schlimm...”, grummel ich missmutig vor mich hin. Meine Schwestern an meiner Stelle würden wohl schmollen. Bei so einer Familie brauche ich wirklich keine Feinde mehr. Tragischerweise liebe ich sie dennoch irgendwie, auf ihre bekloppte Art. Sogar Nate, auch wenn ich es niemals offen zugeben würde, allein schon, um seiner Rache zu entgehen.   Als ich später in der Schule ankomme, bin ich schrecklich nervös. So normal wie möglich begrüße ich die kleine Gruppe rund um Paul, verabschiede mich allerdings ziemlich schnell zu meinen eigenen Leuten, Pauls Blick ausweichend. Wie konnte ich nur so dumm sein und vorschlagen, zu tun als sei nichts gewesen!? Für meine schauspielerische Leistung müsste ich eigentlich den Oscar verliehen bekommen! Hätte ich den Blonden auch nur zu lange angeschaut, hätte ich wohl für nichts mehr garantieren können. „Alles klar bei dir?”, fragt mich Sophie verwundert. „Öhm, ja, sicher”, antworte ich eine Spur zu schnell. „War am Wochenende was? Du warst doch mit den-” Auf meinen warnenden Blick hin stockt sie, überlegt sich ihre Formulierung nochmal. „den vier anderen weg, oder?” „Ja, war ich.” Und muss mir hart auf die Lippe beißen, um nicht verräterisch zu grinsen. „Und?”, hakt sie neugierig weiter nach. Ich zucke mit den Schultern. „Nichts?” „Josh, verarsch mich nicht!” Sie stemmt die Hände in die Hüften, doch das Zucken um ihre Mundwinkel verrät sie. „Naja... vielleicht mag mich einer von ihnen ja doch mehr, als nur als Freund.” Mein Lächeln dürfte ähnlich debil wirken, wie meine Worte. „Ach Josh.” Zu meiner Verwunderung umarmt mich Sophie kurz. „Hast du es dir auch gut überlegt?” „Nö.” Ich lache ob ihrer Gesichtsentgleisung. „Aber wirklich was dran ändern kann ich ja nicht.” Zweifelnd betrachtet sie mich eine Weile, schüttelt dann aber nur seufzend den Kopf. Mir doch egal. Ihren Segen brauche ich schließlich nicht.   Auf den Unterricht kann ich mich nur mäßig konzentrieren. Ständig schweifen meine Gedanken ab, zu Samstag, oder vielmehr Sonntag Morgen. Ein Kuss! Ein bescheuerter, simpler, harmloser Kuss! Und doch löst er in mir soviel mehr aus, als das komplette Programm mit beliebigen Sexpartner*innen, mit denen ich mich sonst so vergnüge. Schon verrückt. Ich kritzle sinnlose Muster auf das Blatt vor mir. Immerhin keine Herzchen, soviel Restwürde ist mir gerade noch geblieben. Vom Unterricht bekomme ich nicht viel mit, aber das ist eh egal, so oft wie wir das Thema schon wiederholt haben. Mein Handy vibriert.   Paul hi alles klar?   Ob alles klar ist? Mein Herz meint plötzlich in den Sprintmodus gehen zu müssen, davon abgesehen?   Josh alles super! :) rettest mich gerade vor tödlicher langeweile und selbst?   Paul auch   Und mit einiger Verzögerung, in der ich immer wieder die Mitteilung erhalte, er würde tippen:   Paul hab ich irgendwas falsch gemacht? :(   Eben noch Sprintmodus, jetzt kompletter Herzstillstand. Falsch gemacht? Wie kommt er denn auf sowas!? Ich gehe alle unsere letzten Begegnungen durch, doch mir fällt bei weitem nichts ein, was er falsch gemacht haben könnte, beziehungsweise bin ich mir keiner Trampelei bewusst, die ihn das hätte glauben machen können.   Josh nein, natürlich nicht! o.O wie kommst du darauf?   Und wieder scheint er zu tippen, zu löschen, zu tippen. Ich starre voller Ungeduld auf mein Display und der einzige Grund, warum ich nicht vor Spannung durchdrehe und das Handy an die Wand werfe ist, dass ich dann erst recht nie eine Antwort erhalten werde.   Paul ach, nur so   Ist das sein Ernst!? Jetzt stehe ich wirklich kurz vor der Explosion. In meinem Kopf spielen sich hunderte Horrorszenarien ab.   Josh nun sag schon! was hab ich falsch gemacht?   Paul hast du nicht!   Oha, das kam jetzt flott.   Josh offensichtlich doch warum denkst du, dass du was falsch gemacht haben könntest? oder soll ich sagen: was hab ich verbockt?   Nun kommt wieder lange nichts, nichtmal tippen tut er. Ich stehe kurz davor, einfach aufzustehen und seinen Unterrichtsraum zu stürmen, da ploppt dann doch endlich eine Nachricht auf.   Paul ich hab das gefühl, du ignorierst mich plötzlich   aber ist bestimmt nur einbildung! ganz sicher!   Verblüfft lese ich die Buchstaben wieder und wieder. Ich, ihn ignorieren? Dann dämmert es mir langsam. Meine Handfläche landet zielsicher auf meiner Stirn. „Oh, Joshua, ich sehe bei Ihnen ist der Groschen gefallen?” Verwirrt schaue ich auf zu meinem Lehrer, den ich bis gerade völlig vergessen hatte. „Ähm, ja sicher”, brabbel ich beschwichtigend, obwohl ich natürlich keinen blassen Schimmer hab um was es hier geht. Ich sehe ihm an, dass er nachhaken will, im schlimmsten Fall sogar fragt, ob ich meine Erkenntnis – die es nicht gibt – mit dem Rest der nutzlosen Deppen teile, doch da wird seine Aufmerksamkeit von einer anderen Wortmeldung von mir abgelenkt.   Josh ich ignorier dich nicht also, irgendwie schon, aber das ist nicht deine schuld! ich trau mir gerade selbst nicht in deiner nähe   Paul okay...?   Oh weh, jetzt hab ich ihn endgültig verschreckt. Dabei wollte ich seine Ehrlichkeit doch nur erwidern.   Josh das darfst du als kompliment verstehen ;) ich würde gerne bei dir sein, aber dann könnte ich mich wohl nicht zügeln gib mir ein bisschen zeit, meine hormone in den griff zu kriegen   Paul okay :) also alles gut?   Josh mehr als gut ;) freu mich auf samstag   Paul ich mich auch :)   Puh, Katastrophe abgewendet. Aber irgendwie auch niedlich. Und ein bisschen unerwartet, dass er es anspricht. Gut, mit viel Rumgedruckse und einigem guten Zureden, aber die Intention war ja schon vorher da. Bin schon gespannt, was ich sonst noch alles hinter seiner süßen Fassade verbirgt.   An diesem Tag schaffe ich es noch nicht, aber am darauffolgenden. Es fällt mir nicht leicht, aber ich bemühe mich, halbwegs normal mit Paul umzugehen. Charly wirft uns ab und an neugierige Blicke zu, doch ich glaube, wirklich merken tut er nichts. Was mir bald mehr Sorgen macht, ist, wie einfach es Paul zu fallen scheint. Hat ihm der Kuss denn gar nichts bedeutet? So kam es mir eigentlich nicht vor, eher im Gegenteil. Aber entweder das, oder er ist ein besserer Schauspieler, als ich dachte. Oder beides.   ~*~   „Hm... und warum soll ich dir nochmal mein Auto leihen?” Mein guter Freund Olli sieht mich mit erhobener Augenbraue skeptisch an, die Arme vor der Brust verschränkt, sodass seine Muskulösen Oberarme in dem schwarzen Tanktop noch mehr zur Geltung kommen, als nötig. „Bitte!” Ja, ich flehe schon fast. Ist schließlich schon mein dritter Versuch, so langsam gehen mir die Leute mit eigener Karre aus. „Ich mach's auch nicht kaputt, versprochen. Ich bin ganz vorsichtig.” „Hmm”, brummt er nur wieder in seinen Bart, doch das amüsierte Funkeln in seinen Augen verrät ihn. Der Arsch lässt mich mit voller Absicht zappeln und genießt es. Gleichzeitig gibt er mir damit aber auch die Gewissheit, diesmal mit einem Schlüssel nach Hause gehen zu können. Nur bleibt die Frage, wie und wann. „Arghs, na schön”, kapituliere ich, die Hände in die Luft streckend. „Ich hab am Samstag ein Date, okay? Und ich hab ihm vorgeschlagen, mit ihm rüber zu fahren, weil er da in einen bestimmten Laden will. Nur brauchen meine Alten ihr Auto selber und die Bahnverbindungen sind eine einzige Katastrophe.” „Ach, ein Date? Mit dem Kleinen, über den wir letzten gequatscht haben?” Neugierde löst die gespielte Skepsis ab. „Ja genau.” Ich schaffe es wohl nicht ganz, mein dümmliches Grinsen zu verbergen, so wie er nun seinerseits grinst. „Okay, du darfst das Auto haben. Kann doch eurer jungen Liebe nicht im Weg stehen. Der Kleine muss es dir echt angetan haben.” Ich beherrsche mich und hau ihm nichts um die Ohren. Im schlimmsten Fall wäre die Funkfernbedienung für seinen Wagen sonst wieder in weite Ferne gerückt. „Kann man so sagen.” Lässig zucke ich mit den Schultern, völlig abstreiten wäre ja doch zwecklos. „Da bin ich ja mal gespannt. Bringst du ihn mal zu einem Auftritt mit?” „Möglich”, antworte ich vage. Keine Ahnung, ob Paul sich unsere Musik anhören würde. Andererseits... wenn er am Rand stehen und zu mir aufsehen würde. Doch, das hätte was. Hoffentlich verspiele ich mich nicht, das wäre echt peinlich. „Man kann dir deine Gedanken förmlich an der Nasenspitze ablesen”, lacht Olli mich aus. „Ach ja?” „Jap. Zweifel, Schmacht, Geilheit, Entsetzen. Aber keine Sorge, wird schon halb so wild werden. Wenn er nur halb so sehr auf dich steht, wie du auf ihn, könntest du durchgehend 'Alle meine Entchen' klimpern und er würd's nicht merken.” „Ey! Nun stell mich nicht als sabbernden Trottel dar, das machen meine Schwestern schon zur Genüge!” Nein, ich schmolle nicht. Ganz sicher. „Ach Josh.” Freundschaftlich legt er mir einen Arm um die Schultern, der Zeigefinger der anderen Hand bohrt sich in meine linke Brusthälfte. „Du bist ein weichherziger Softie. Aber das ist okay. Ohne Typen wie dich wäre die Welt wirklich ein so beschissener Ort, wie es ständig besungen wird.” „Willst du mich beleidigen?”, empöre ich mich. „Nein. Ich meine das ernst. Du bist nur halb so hart wie du gerne tust. Ein bisschen arrogant, ein bisschen ignorant, aber gar nicht so tief drin, bist du ein echt netter Kerl. Und darum gebe ich dir auch den verdammten Schlüssel. Führ dein Herzblatt schön aus, wickel ihn um den Finger und wirf meinetwegen Rosen auf seinen Weg, aber sorg' dafür, dass du es nicht vermasselst.” Mit roten Wangen bleibe ich auf seinem Sofa sitzen, unsicher, ob vor Wut oder Scham oder beidem. Olli löst derweil sein Versprechen ein und holt den Autoschlüssel. Ich bin doch kein Softie! Pah!   ~*~   Doch Josh, bist du ;) Sorry, aber irgendwie hast du dich ziemlich schnell in einen verwandelt. Aber mal im Ernst, wirklich krasse, harte Typen kenn ich im Metal- und Gothic-Bereich kaum. Sind im Grunde alles nette, liebe Kerle mit einer provokant rauen Schale. Vielleicht gerade deswegen? Kapitel 11: ------------ Oh wie schön sind Schreibblockaden... (Nicht!) Ich habe es nur grob korrekturgelesen, sonst wäre ich in einer Woche noch dran. Prokrastinieren at its best. Aber hey, immerhin hab ich jetzt Skill in Elden Ring xD   Und ich hab keine Ahnung, wie ein veganer Feinkostladen aussehen soll... hätte ich mir mal vorher überlegen sollen. *hust *   ~ 11 ~   Pauls POV   Mit einem erneuten, nervösen Blick zur Uhr fege ich einige übersehene Krümel vom Tisch in meine hohle Hand und werfe sie zu den anderen in den Mülleimer. Es sieht alles sauber aus, aufgeräumt, die Räume sind frisch gelüftet, die Rollläden oben. Wie in einem ganz normalen Haushalt eben. Mein Magen verkrampft sich. Wir sind kein normaler Haushalt. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Ein Date! Ich! Ein Date impliziert eine mögliche Beziehung, oder nicht? Und die wiederum würde bedeuten, dass Josh früher oder später mit Aspekten meines Lebens kollidieren würde, die niemand von außen zu sehen bekommen darf. Aber wenn ich versuchen würde sie vor ihm zu verstecken, würde er erst recht fragen stellen. Auf der anderen Seite ist es für einen subtilen Rückzug nun ein bisschen sehr viel zu spät. Verzweifelt raufe ich mir die Haare und zerstöre das, was von meiner Frisur noch übrig war vollends. Ich denke an Josh, an unser Telefonat. An unseren Kuss. Der Knoten in meinem Magen löst sich ein kleines bisschen. Dafür regt sich Trotz in mir. Wer sagt eigentlich, dass ich das hier nicht darf? Niemand, genau. Ich darf auch mal meinen Spaß haben, oder nicht? Mein Vater ist nicht da und selbst wenn er es wäre, würde er sich mir bestimmt nicht in den Weg stellen. Dieses miese Gefühl von Verrat ist völlig irrational. Entschlossen schiebe ich die finstere Wolke in meinem Inneren fort. Ich will und werde heute Spaß haben, basta! Damit schade ich niemandem und nehme auch keinem etwas weg. Und was danach passiert, da kümmere ich mich später drum. Mit kribbeligen Gliedmaßen husche ich noch einmal ins Bad und kämme meine Haare wieder in Form, während ich meine Erscheinung im Spiegel mustere. Gegen die blasse Haut kann ich nicht viel unternehmen, aber das blaukarierte Hemd betont es zum Glück nicht noch schlimmer. Den obersten Knopf, oder eher die obersten beiden, habe ich schließlich offen gelassen. Die Jeans ist ganz normal und langweilig, aber hoffentlich weder over- noch underdressed. Ich hab doch keine Ahnung, was man zu einem Date anzieht. Hilfe! Ehe ich mich doch wieder umentscheide, flüchte ich vor meinem eigenen Spiegelbild zurück in die Küche. Bloß nicht in mein Zimmer, da steht der Kleiderschrank. Ich war mir bis vor einigen Stunden gar nicht bewusst, wieviele Klamotten ich eigentlich besitze. Das Klingeln an der Haustüre stoppt meine Suche nach weiteren Krümeln. Erleichtert und kurz vor panisch zugleich, eile ich in den Flur und reiße die Tür förmlich auf. Bei Joshuas Anblick beruhigt sich für einen Moment das Chaos in meinem Inneren. Ebenso unsicher wie ich steht er da, die Hände in die hinteren Taschen seiner schwarzen Hose vergraben. Er hat sich auch für ein Hemd entschieden, natürlich in einer anderen Farbe als meins, die Haare sind ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Doch was mir wirklich den Atem stocken lässt, ist sein Lächeln. „Hey”, sagt er irgendwann. „Hey”, erwidere ich leise. Irgendwie komme ich mir plötzlich dumm vor und laufe spürbar rot an. „Ähm, ich bin sofort fertig.” Beinahe hätte ich die Türe wieder ins Schloss geworfen, besinne mich aber und greife mir nur schnell meine Jacke und schlüpfe in die Schuhe. Oh, Schlüssel nicht vergessen, wichtig! Josh versperrt mir den Weg, die Arme leicht seitlich ausgestreckt. „Darf ich dich noch richtig begrüßen?” „Ähm... klar.” Schon werde ich an seinen Körper gezogen. Dankbar verstecke ich mein Gesicht an seiner Brust, atme seinen ganz eigenen Geruch ein, den auch das Parfüm nicht verbergen kann. Obwohl mein Herz rast, erfüllt mich eine angenehme Ruhe. Angenehme Hitze entsteht überall dort, wo seine Arme um meinen Rücken geschlungen liegen, wo ich meine eigenen Hände an seine Seiten lege. Ich hebe den Kopf, begegne seinem forschenden Blick, halte die Luft an. Doch wieder lächelt Joshua bloß und löst sich schließlich räuspernd von mir. Überrascht stelle ich fest, wie sehr es mich enttäuscht, dass er nicht versucht hat, mich zu küssen. Warum nicht? Der Größere bekommt nichts von meinen Gedanken mit, dreht sich stattdessen halb zur Seite und deutet mit einer ausladenden Geste Richtung Straße. „Wenn ich bitten darf...” Ich folge ihm zu einem dunkelroten Kleinwagen, gleichzeitig wollen wir nach dem Griff der Beifahrertür greifen, stoßen uns so aber nur gegenseitig weg. „Ups!” „Sorry!” Wir blicken uns an und lachen zeitgleich los, lösen endlich die merkwürdige Spannung zwischen uns. Joshua reagiert diesmal schneller und öffnet die Tür für mich. „Danke.” Lächelnd steige ich ein und schnalle mich an. Der Schwarzhaarige umrundet derweil den Wagen und lässt sich hinter dem Steuer nieder. „Dein Auto?”, frage ich neugierig „Ähm, ne.” Eine Hand zuckt Richtung Haare, doch die sind alle brav im Zopfgummi gefangen. Er lässt sie wieder sinken, weicht meinem Blick aus und beschäftigt sich damit, sich in den spärlichen Verkehr einzufäädeln. „Von meinem Kumpel. Ich hab noch keine eigene Karre und das Auto meiner Eltern war schon belegt.” Ich zucke mit den Schultern. „Ich hab noch gar keinen Führerschein, also mach dir nichts draus.” „Du bist ja auch noch klein.” Joshs Grinsen wird breiter, als ich schnaube. „Na, viel wachsen werd' ich nicht mehr. Kann ja nicht jeder so ein Riese sein.” Eine kurze Berührung an meinem Arm, die mich wohl wieder milde stimmen soll. „Hast du denn vor, deinen Führerschein zu machen?” „Klar. Hab mich auch schon angemeldet. Kurz vor den Sommerferien geht's los mit der Theorie, Praxis dann hoffentlich kurz danach. Dann hab ich das nicht mitten in irgendwelchen Klausurphasen.” „Schaffst du doch bestimmt mit links, so helle wie du bist.” Er wirft mir einen bewundernden Seitenblick zu. „Na, das hilft mir aber nur bedingt, wenn ich eine Maschine bewegen soll, die mehr als zwanzig mal soviel wiegt, wie ich”, antworte ich lachend. „Ach, Blödsinn. So schwer ist das nicht. Ich würde dir ja vorschlagen, wir üben heimlich im Feld, aber ich glaube meine Alten killen mich, wenn die das rauskriegen”, lacht auch er. „So schlimm?” „Nicht weil's kriminell wäre”, grinst er. „Aber wir haben nur die eine Karre und die ist heilig. Bald schrottreif, aber heilig.” Belustigt schüttelt er den Kopf. „Die Einstellung klingt ja... interessant.” Ich mustere ihn genauer und versuche mir seine Familie vorzustellen. „Du hattest Schwestern, oder?” „Ja und nein. Eine ältere Schwester, die wohnt aber schon bei ihrem Verlobten. Dann eine jüngere, Holly. Sie geht auch bei uns auf die Schule. Klein, blond und aktuell pinke Strähnchen?” Fragend blickt er wieder zu mir, ob ich mich erinnere. Ich denke kurz nach, dann sehe ich ein Bild vor meinem Inneren Auge. „Ja, ich glaub die hab ich schon bei dir gesehen.” „Und dann noch Nate. Also eigentlich Nathan. Er ist ihr Zwilling, geht allerdings auf die Gesamtschule.” „Wie kommt das denn? Wollte er nicht zu euch?” Ich runzle die Stirn. Josh lacht auf. „Himmel, nein! Nate doch nicht!” Mein Stirnrunzeln vertieft sich. Schnell fährt er fort. „Er ist... etwas anders als der Rest von uns.” Jetzt bin ich endgültig verwirrt. „Hä?” „Stell dir einfach das Gegenteil von mir vor.” Er seufzt laut. „Keine Ahnung, wie das passieren konnte.” Ich lasse das besser einfach mal so stehen. „Und deine Eltern?” „Na, die sind normal.” „So wie du?” „Natürlich, wie denn sonst?” Er zwinkert mir zu und ich lache schon wieder. Klar, voll normal!   Die restliche Fahrt verläuft ähnlich unterhaltsam. Wir albern herum, von der beidseitigen Nervosität ist zumindest im Augenblick nichts zu spüren. Im Gegenteil, ich fühle mich einfach nur wohl und genieße die gelöste Stimmung und das kindische Geplänkel. Nur auf der Suche nach einem Parkplatz wird Joshua still und konzentriert. So souverän er fährt, merkt man jetzt doch, dass er längst nicht so geübt ist, was enges Manövrieren angeht. Ich werde da aber bestimmt kein wertendes Urteil drüber fällen, ich weiß ja nicht einmal, wie man die Kupplung betätigt. Irgendwann stehen wir dann schließlich und steigen aus. Bis zum Geschäft ist es nicht weit, die automatische Tür öffnet sich und uns schlägt ein würziger Geruch entgegen. Begeistert gehe ich auf das erste Regal zu. „Und das ist alles ohne Fleisch hier?” Interessiert mustert Joshua eine Reihe Dosensuppen. „Nicht nur vegetarisch, komplett vegan”, kläre ich ihn auf. „Keine Milchprodukte, keine Eier, kein Honig... und keine Gelatine.” Ich halte ihm eine Tüte sauerer Gummibären unter die Nase. Er nimmt sie und packt sie in einen Einkaufskorb, den er herbeigezaubert hat. „Bist du eigentlich Vegetarier oder Veganer?” „Vegetarier, aber ich versuche häufiger auf Milch und Ei zu verzichten.” Plötzlich halte ich in der Bewegung inne, als mir ein anderer Gedanke kommt. „Ist das schlimm für dich?” Darüber habe ich nun wirklich noch nicht nachgedacht. Doch der Größere lächelt beruhigend und schüttelt den Kopf. „Solang ich ab und an mal ein Steak essen darf, ohne mir Vorträge anhören zu dürfen...”, meint er zwinkernd. Ich atme erleichtert auf. „Nein, das mach ich nicht. Also missionieren wollen. War bei mir ja auch eine persönliche Entscheidung.” Damit wende ich mich wieder der Auswahl an getrocknetem Sojahack, Seitan und anderen Alternativen zu. „Erzählst du mir, warum?” „Hm. Ja, ist nichts Besonderes. Ich... kann einfach niemanden leiden sehen oder wissen, dass es passiert.” 'Weil ich weiß, wie es sein kann.' Aber das sage ich nicht laut, es würde nur unangenehme Nachfragen geben. „Oh, du bist viel zu gut für diese Welt!” Erschrocken quieke ich auf, als ich zwei starke Arme von hinten um mich legen. Nach dem ersten Schreck lehne ich mich nach hinten und genieße für einen Moment die Wärme, die von allen Seiten auf mich einstrahlt. Mein Herz will sich gar nicht beruhigen, aus anderen Gründen. „Ist das okay für dich?”, fragt er leise, nah meinem Ohr. Der warme Lufthauch verursacht mir eine kribbelnde Gänsehaut. „Ja, alles gut.” Ich lehne meinen Rücken noch etwas deutlicher gegen seine starke Brust und schließe die Augen. Ignoriere die panische Stimme in meinem Kopf die mich warnt, ihn nicht noch näher an mich heranzulassen. Josh drückt mich noch einmal, löst sich dann wieder von mir. Just in diesem Augenblick knurrt sein Magen. Laut. Ich lache. „Oh weh, lass uns lieber weiter. Bevor du vor lauter Hunger noch mich anknabberst.” „Na, keine Bange. Dich vernasch ich auch ohne Magenknurren.” Frech zwinkert er mir zu und geht dann seelenruhig auf die Theke mit Feinkost zu. Und ich? Bin garantiert rot wie ein Feuermelder. Das Kribbeln aus meinem Nacken ist mit einem Mal in tiefere Regionen gekrabbelt und hat zusammen mit seinen so harmlos dahergesagten Worten Bilder in meinem Kopf heraufbeschworen, die ich besser ganz schnell wieder verdränge. Oh Gott! Der kann doch nicht einfach so, sowas zu mir sagen!   Vollbeladen schleppe ich meine Tüten in die Küche, Joshua folgt mir mit seiner eigenen Last. Zusätzlich zu den ganzen Sachen aus dem Spezialgeschäft, hat er sich noch angeboten den ohnehin anstehenden Wocheneinkauf mit mir zu erledigen. 'Bin ja eh mit dem Auto hier, dann musst du nicht schleppen.' Ein bisschen schuldig fühle ich mich ja schon, ihn so auszunutzen, während sein Magen sich noch mehrfach beklagt hat, aber Josh wollte davon nichts hören. Stattdessen hat er sich als sehr geduldiger und unterhaltsamer Begleiter entpuppt, der mich mehr als einmal zum Schmunzeln brachte, ohne auf Dauer nervig zu werden, wie manch anderer. Kurzum, ich hatte lange nicht mehr so einen entspannten und spaßigen Einkauf, und das auch noch an einem Samstag. „Stell auf den Tisch, ich räum es gleich ein.” „Kann ich dir helfen?”, fragt Joshua, sieht sich zeitgleich aber neugierig um. Ein Teil meiner Anspannung kehrt schlagartig zurück, auch wenn ich weiß, dass er so oder so nichts sehen wird, was er nicht sehen soll. Was sollte das auch schon sein? „Ähm, ne.” Die Tüten sind schon grob vorsortiert, sodass ich nicht viel suchen und umherlaufen muss. „Okay...” Er sieht nicht zufrieden damit aus, setzt sich aber zögernd auf einen der Stühle und sieht mir zu. „Oh!” Da fällt mir etwas ein. Peinlich! „Willst du was trinken?” Ohne auf seine Antwort zu warten, hole ich zwei Gläser und öffne zeitgleich den Kühlschrank, wo ich nach diversen Flaschen angel. „Huch!” „Hoppla!” Beim Umdrehen wäre ich fast gegen ein menschliches Hindernis gelaufen, das da plötzlich steht. Vor Schreck ist mir eine der Flaschen entglitten. Josh hat sie irgendwie aufgefangen, ob aus guten Reflexen oder Glück, vermag ich nicht zu sagen. Viel zu sehr bin ich damit beschäftigt, auf die blanke Haut vor mir zu starren, die das Hemd dank geöffneter, oberer Knöpfe inzwischen freigibt. Sofort kommen mir wieder seine Worte in den Sinn, zusammen mit Bildern. Hilfe! Ich hab doch vorher nie ernsthaft über dergleichen nachgedacht, warum plötzlich jetzt? Beschämt wende ich den Blick zur Seite. „Danke, ich nehm' das hier.” Mir werden die Gläser und restlichen Flaschen aus der Hand genommen, der Ältere hat es seltsam eilig zum Tisch zurückzukehren. Ich lehne mich für eine Sekunde an die Anrichte hinter mir und atme tief durch, das Gesicht in den Händen vergraben. Seine Nähe bringt mich ganz durcheinander, offensichtlich, sonst hätte ich nicht plötzlich diese Gedanken und Gefühle. „Ähm... Paul?”, höre ich Joshua zögernd fragen. Ich blicke auf. „Ja?” „Willst du auch was?” Er deutet auf die entwendeten Getränke und das zweite Glas, zuckt mit den Schultern und grinst. „Gerne.” Auch ich muss wieder schmunzeln. Wir benehmen uns beide ein bisschen merkwürdig, glaube ich. „Wasser reicht, danke.” Ich nutze die Zeit und räume Einkäufe weg. „Kann ich dir wirklich nicht helfen?” Joshua klingt beinahe flehend. „Ich bin doch schon fast fertig.” Eine Reihe Konserven landet im entsprechenden Schrank. „Magst du Chili?” Ich betrachte die Dose Kidneybohnen in meiner Hand. Bis jetzt konnte ich mich noch nicht wirklich für ein Gericht entscheiden. Das große Loch in meinem schönen Vorbereitungsplan.* „Wenn ich dir dabei helfen kann, dann ja.” „Du kannst die Paprika in Streifen schneiden.” Seufzend hole ich das benannte Gemüse, Messer und Brettchen und platziere alles vor ihm. „Aye aye, Chef!” Zufrieden macht sich der Ältere ans Werk, nicht halb so ungeschickt, wie ich befürchtet habe. Nachdem ich alle benötigten Dinge aus dem Schrank geholt habe, mache ich mich daran die Zwiebeln zu schneiden. Blödes, wehrhaftes Gemüse. Ich schniefe leise und wische mir möglichst unauffällig mit dem Handrücken unter Augen und Nase entlang. „Warum lässt du mich nicht die fiesen Sachen machen?” Ich zucke zusammen, als ich seine Stimme unmittelbar hinter mir vernehme. Erst jetzt bemerke ich die Hitze in meinem Rücken, die von dem kräftigen Körper ausgeht. Vorsichtshalber lege ich das Messer weiter weg, drehe mich erst dann halb zu ihm um. „Du bist der Gast, du solltest eigentlich gar nicht helfen müssen.” Meine Stimme zittert leicht. Die ganze Situation ist mir unangenehm, doch mein Puls beschleunigt sich noch aus anderen Gründen. Wieder diese Nähe. Die Hitze. „Ich will, dir aber helfen”, sagt Joshua bestimmt. Er kommt mir noch näher, die linke Hand stützt sich neben meiner Hüfte an der Arbeitsplatte ab. Ich drehe mich vollends rum, den Blick gesenkt. Ich könnte nichts erwidern, selbst wenn ich wollte. Mein Kopf ist leer, mein Körper gehorcht mir nur noch sporadisch. „Hey.” So sanft, wie er klingt, stupst er auch mein Kinn an. Zögernd hebe ich den Kopf. Schlucke, als die braunen Augen meines Gegenübers über mein Gesicht wandern und an meinen Lippen hängenbleiben. Mir war die Geste, meine Lippen mit der Zunge zu befeuchten, nicht bewusst, bis sich Joshuas Pupillen bei diesem Anblick weiten. Er flucht unterdrückt, doch ich höre nicht hin. Bin selbst viel zu gefangen von seinem Mund, wie er die Worte formt. Näher kommt. Mein ganzer Körper erzittert und ich schließe die Augen, noch bevor sich unsere Münder treffen. Eine hauchzarte Berührung, kaum mehr als ein Luftzug. Ich seufze leise, lehne mich ihm entgegen, mehr fordernd. Er tut mir den Gefallen umgehend. Diesmal küssen wir uns richtig. Schmusen mit unseren Lippen gegeneinander. Seine Hand wandert weiter in meinen Nacken, krault meinen Haaransatz. Es ist so viel intensiver, jetzt, wo meine Wahrnehmung nicht vom Alkohol gedämpft ist. Neugierig lasse ich meine Zungenspitze über seine Unterlippe gleiten, necke seine Mundwinkel. Josh hält inne. Das gefällt mir nicht, wie ich ihm durch leises Murren kundtue. Meine Lippen bewegen sich fordernder gegen seine, mit der Zunge frage ich deutlicher nach Einlass. Es ist, als hätte sich ein Schalter bei mir umgelegt. Oder viel mehr, als sei ein Damm gebrochen. Endlich löst er sich aus seiner Starre, zieht mich mit einem tiefen Seufzer fester an sich, öffnet mir den Weg in seine Mundhöhle, wo er meine Zunge spielerisch empfängt. Ich koste seinen Geschmack und lasse mich auf das träge und doch neckische Spiel ein, während ich ihn zeitgleich erkunde, ertaste. Meine Hände krallen sich unbewusst in sein Hemd. Irgendwann müssen wir uns wegen Luftmangel zumindest kurz voneinander lösen. Wie hypnotisiert starre ich erneut auf die nun feuchtglänzenden, roten Lippen direkt vor mir. In meinem Kopf schrillen die Alarmglocken, doch ich will sie nicht hören. Nicht jetzt, nicht hier. Ich packe den Stoff weiter oben, am Kragen, ziehe ihn erneut den kurzen Abstand zu mir herunter. Sorgen kann ich mir auch später noch machen, beschließe ich. Heute will ich endlich mal genießen.     ~*~   * Ja, nicht nur dir lieber Paul... eigentlich sollte es mal Lasagne geben, aber (Gemüse)lasagne habe ich schon zu oft gelesen und will es nicht nachahmen. Also bin ich meine letzten 2 Wochen im Kopf durchgegangen und hab mich für Chili entschieden, das ich gleich in zwei leicht unterschiedlichen Veggie-Varianten hatte ;) Kapitel 12: ------------ Wieder ohne Korrekturlesen, sorry dafür, aber ich hab gerade einen Flow, den will ich nutzen ehe er wieder weg ist ;) lieber 2 Kapitel ohne große Korrekturen und inhaltliche Ausschmückungen, als gar keine Kapitel, denke ich mir.   ~ 12 ~   Joshuas POV   'Holla!', denke ich noch, bevor mein Kopf sich der Achterbahnfahrt zusammen mit dem Rest meines Körpers anschließt. Ich lege meine Hände auf Pauls Seiten, unsicher, ob ich ihn jetzt näher an mich ziehen oder in seinem überraschenden Eifer bremsen soll. Ach, was denke ich da, natürlich schieb ich ihn nicht weg, so sehr mich seine Initiative auch überrumpelt hat. Aber die weichen Lippen an meinen, die gar nicht mehr so schüchterne Zungenspitze, die nach ihrem Gegenpart sucht, sind mehr als nur gute Argumente gegen den gesunden Verstand. Zumindest, bis schräg neben uns ein kurzes, aber vernehmliches Piepsen ertönt. Erschrocken zucken wir auseinander und starren – zu meinem Handy auf dem Tisch. Mit großen Augen sieht Paul zum Handy, zu mir, läuft rot an und ist plötzlich sehr beschäftigt mit den restlichen Zwiebeln. Ich gucke noch für einen Moment auf seinen Rücken und klaube meine mental überfahrenen Überreste zusammen. Eigentlich sollte es an mir sein, einfach weiterzumachen, als sei nichts gewesen und Paul müsste doof Löcher in die Luft starren und sein rasendes Herz wieder unter Kontrolle bringen wollen. Zweifelnd blicke ich zu meinem eigenen Schneidebrettchen mit der halb zerstückelten Paprika. Na hilft ja nichts. Ich seufze, ehe ich mich doch wieder an die Arbeit mache. Gar nicht so einfach, wenn mein Blick immer wieder zu dem Blonden wandert. Unbewusst schabe ich mit den Zähnen über meine Unterlippe und habe sofort wieder seinen süßen Geschmack auf der Zunge. Er macht mich wahnsinnig. Vor allem wahnsinnig unsicher und das ist ein Zustand, der mir eigentlich völlig unbekannt ist. Selbst vor unseren Auftritten mit der Band bin ich vielleicht etwas nervös, aber nie verunsichert. Diese Gefühlsregung ist bei meiner Entstehung vergessen worden! Dachte ich zumindest bislang. Von meinen Gedanken unbehelligt kommt Paul an den Tisch. „Kann ich die schon haben?”, fragt er und deutet auf den Haufen Gemüse. „Ja. Ähm... ich geh mal kurz ins Bad.” Draußen im Flur atme ich einmal tief durch. Die eine Hälfte von mir will sich einfach auf den anderen Jungen schmeißen und dem eigenen Verlangen nachgeben und die andere Hälfte möchte gerne schreiend davonrennen. Warum auch immer. Vielleicht, weil es genau die Reaktion wäre, die ich von Paul erwartet habe, die mich dazu brachte, immer nur vorsichtig um ihn herumzutänzeln, aus Sorge, er würde beim ersten forscheren Schritt Reißaus nehmen. Im kleinen Gästebad angekommen, lasse ich mir kaltes Wasser über die Hände laufen, ehe ich mir eine Ladung direkt ins Gesicht klatsche. Vielleicht bringt das meine verbliebenen grauen Zellen wieder dazu, normal zu arbeiten. Der Typ im Spiegel guckt mich genauso skeptisch an, wie ich mich fühle. Zurück im Flur gucke ich mich neugierig um. Wenn ich schon Zeit schinden will, kann ich auch direkt versuchen, noch etwas über Paul herauszufinden. Die recht kargen, grauen und weißen Wände überraschen mich, hätte ich doch vermutet, dass der kleine Sonnenschein in einem ähnlich bunten und chaotischen Haus wohnt, wie ich selbst. Abwechslung schafft nur eine kleine Anzahl unauffälliger Möbel und wenige Bilderrahmen. Diese betrachte ich näher. Ein Kindergarten-Paulchen grinst mir breit entgegen, die blonden Löckchen in alle Richtungen abstehend, während er vor einem See posiert, sofern Kleinkinder ihre Hampelei als solche betiteln können. Ich muss schmunzeln, wende mich dem nächsten Bild zu. Die bunte, vermutlich nicht selbstgemachte Schultüte ist fast größer als das Kind, was sie trägt. Auch hier strahlt er die Person hinter der Kamera an. Noch ein paar Jahre älter steht er Seite an Seite mit einem Mann mittleren Alters vor einer Bergkulisse. Sein Vater? Möglich, Ähnlichkeit ist da. Ich stutze und gehe mit gerunzelter Stirn die restlichen, wenigen, Fotos durch. Der Mann taucht erneut auf, stärker gealtert, als man es vermuten würde, wenn man Paul als Vergleich nimmt, das Lächeln erreicht die Augen nicht ganz. Weiß der Geier, warum ich es so empfinde. Was ich aber ganz sicher weiß ist, dass auf keinem der Fotos eine Mutter zu sehen ist. Mir wird das Herz schwer. Was wohl passiert sein mag? Nachdenklich lausche ich auf die Geräusche aus der Küche. Das ganze Haus strahlt eine Atmosphäre aus, die ich nicht recht zu greifen weiß. Die kargen Wände wirken trist, die Tapete alt und trostlos. Es ist nicht dreckig oder verwahrlost, mitnichten, aber wirklich heimelig auch nicht. Ob Pauls Familie arm ist? Er kam mir bislang nicht so vor, aber der Eindruck kann ja täuschen. Ich möchte nicht länger herumspionieren und schlage den Weg zurück in die Küche ein. Paulchen steht vor dem Herd, einen großen Löffel in den Händen und betrachtet den vor sich hinblubbernden Topf. War ich etwa so lange weg? Als er mich hört, blickt er jedoch auf und eine bezaubernde Röte legt sich über seine feinen Wangenknochen. So ganz in die Augen schauen mag er mir nicht, aber das Lächeln haut mich beinahe wieder um. Wie einem inneren Zwang folgend stelle ich mich zu ihm, lege meine Arme um seine Taille und ziehe ihn an mich. „Na, Herr Meisterkoch, alles geklappt?”, murmel ich grinsend in seine Haare, unweit des Ohrs. Deutlich kann ich spüren, wie sein ganzer Körper erschauert. Uuh, gefährlich! Mithilfe der ausgezogenen Handschuhe verpasst er mir einen Klaps gegen den Arm. „Als ob das eine Meisterleistung wäre...” Er schnaubt total putzig und windet sich ein wenig. „Hm, stimmt, dafür hätte es mindestens ein Drei-Gänge-Menü sein müssen.” Und ich weiß schon, was ich gerne als Dessert hätte... nein, aus, böser Josh! Paul guckt mich erschrocken aus großen blauen Kugelaugen an, bis er wohl den Witz versteht. Seine Züge verziehen sich schmollend und erneut treffen mich die Handschuhe. „Ich hab bestimmt noch Dosensuppe und Fertigpudding da, wenn der Herr unbedingt drei Gänge möchte.” Entgegen seiner Intention fange ich an zu lachen und knuddel ihn nur noch ein bisschen mehr. Was grummelt er auch so niedlich, selbst Schuld. „Nein, schon okay.” Ich vernasch' einfach dich... irgendwann. Wenn ich meine verfluchte Unsicherheit überwunden habe. Mit einiger Willensanstrengung lasse ich ihn wieder los, nicht ohne mir vorher einen Kuss zu klauen. „Soll ich den Tisch decken?” Schlussendlich decken wir den Tisch gemeinsam und spülen die bisher benutzten Sachen direkt ab.   „Vorsicht, heiß!” Paul stellt den großen Topf zügig in die Mitte des Tisches. „Hmm, sieht gut aus.” Gierig sauge ich den Duft in mich auf. „Hoffentlich schmeckt es auch”, meint er und verteilt die ersten Portionen auf unsere Teller, inklusive einer ordentlichen Menge Reibekäse, ehe er sich auf seinen Platz setzt. „Guten Appetit.” „Dir auch. Ich bin sicher es schmeckt köstlich.” Ich zwinker ihm zu, er hingegen stutzt kurz. Schweigend essen wir die ersten Bissen. „Sag ich doch”, brumme ich genüsslich und stopfe mir die nächste Gabel in den Mund. Die Soße ist wirklich ordentlich gewürzt, wodurch auch das elendige Gemüse wirklich gut ist. Paul sieht mich an und schmunzelt. „Gut, dann kann ich dir ja jetzt guten Gewissens sagen, dass das gar kein Käse ist.” Dabei deutet er auf die perfekte, braune Kruste in der Auflaufform. „Nicht?” Mit hochgezogenen Brauen folge ich seinem Fingerzeig. „Ne, das ist 'ne vegane Alternative.” Sichtlich zufrieden mit sich, nimmt er den nächsten Bissen. „Ach, guck mal an...” Verblüfft darüber, wirklich keinen Unterschied gemerkt zu haben, mustere ich meinen Teller, bevor ich mit den Schultern zucke und weiter esse. Wir verputzen beinahe das komplette Chili. Pappsatt streiche ich mir über den Bauch und frage mich gleichzeitig, wo der Zwerg seine Ration hingesteckt hat, wenn ich mich schon fühle, als würde ich jeden Moment platzen. Auf die gute Art. „Vielleicht ganz gut, wenn es keinen Nachtisch gibt, sonst müsstest du mich nachher vor die Tür rollen. Wenn ich dann noch durchpasse.” Sein Lachen ist Musik in meinen Ohren und erinnert mich wieder an das absurde Bild eines pausbäckigen Engels. „Keine Chance, ich würde dich einfach hier sitzen lassen.” „Ey, du wirst ganz schön frech.” Ich grinse. „Und rot.” Paul schnaubt nur als Antwort. So sitzen wir, in angenehmen Schweigen, eine Weile beieinander. Irgendwann erhebt der Blonde sich und ich helfe ihm die Küche in Ordnung zu bringen. „Sollen wir in mein Zimmer gehen?”, fragt er anschließend. „Da ist es gemütlicher. Glaube ich.” „Klar.” Neugierig folge ich ihm den Flur weiter entlang, an einer Treppe vorbei. Ich hätte irgendwie erwartet, dass sein Zimmer oben liegt, doch scheinbar habe ich mich getäuscht. Unser Ziel ist eine Tür, die ich eigentlich dem Wohnzimmer zugeordnet hätte, rein von der Aufteilung des Hauses her. Im Türrahmen bleibe ich kurz stehen. Die Frage, ob Pauls Familie wenig Geld hat, hat sich hiermit wohl erledigt. Also, entweder das, oder alles Geld sammelt sich in diesem einen Raum. Ich habe nicht viel Ahnung von Technik, aber es reicht um zu erkennen, dass hier ein kleines Vermögen herumsteht. Von dem uralten Sofa mal abgesehen, dessen Stoff schon durchgesessen ist, wirkt alles neu. Gleich mehrere Bildschirme stehen auf dem Schreibtisch, davor ein teuer aussehender Drehstuhl, an der Wand gegenüber dem Sofa thront ein großer Flachbildfernseher und eine der Spielkonsolen kenne ich von meinem kleinen Bruder. In einer Ecke steht ein breites Jugendbett mit dunkelblauen Bezügen. Die Wände sind ebenfalls in blau und grün gehalten, dort, wo sie nicht von Postern oder Schränken verdeckt sind. Auf einem Regalbrett, das sich über Kopfhöhe an fast der gesamten Wandlänge entlangzieht, stehen lauter Figuren, teils noch in der Verpackung, und nach Sammlerstücken aussehende „Äh... setz dich”, sagt Paul und deutet unbeholfen auf das gepolsterte Sitzmöbelstück. Er selbst verschwindet kurz und kommt mit unseren Gläsern und einer Flasche Wasser wieder, die er auf einem kleinen Tisch abstellt. „Wow. Dein Zimmer ist... anders.” Ich merke erst, dass ich laut gesprochen habe, als er mich erschrocken ansieht. „Ähm, also nicht schlecht nur-” Ich unterbreche mich lieber selbst. Der Jüngere weicht meinem Blick aus, füllt stattdessen die Gläser neu. „An Paps und mir ist leider kein Innenarchitekt verloren gegangen”, sagt er entschuldigend. Na super, das Fettnäpfchen habe ich per Arschbombe mitgenommen. Typisch. Ich greife nach dem Saum seines Shirts und ziehe ihn sanft zu mir, bis er mir wieder in die Augen sieht. „Sorry, so war das nicht gemeint. Kann ja nicht jedes Haus so chaotisch sein wie unseres”, versuche ich schief grinsend die Situation noch zu retten. „Chaotisch, ja?”, geht er auf meinen Ablenkungsversuch ein. „Und wie! Villa Kunterbunt trifft auf Wacken Open Air. Ein bisschen Hippie ist auch mit dabei.” „Klingt spannend.” Nun lächelt er auch wieder, das Funkeln kehrt in seine Augen zurück. „Nur, wenn man es nicht gewohnt ist. Du darfst es dir gerne mal angucken.” Am besten an einem Tag, wo der Rest der Familie nicht anwesend ist. Erneut zupfe ich an seinem Shirt, bis er sich neben mich sinken lässt. Im letzten Moment packe ich ihn jedoch an den Hüften und ziehe ihn seitlich auf meinen Schoß, ohne die Hände anschließend wieder wegzunehmen. „Huch!” Erschrocken greift Paul nach meinen Schultern. Unsere Gesichter sind sich mit einem Mal ganz nahe, ich spüre seinen Atem auf meiner Haut. Keiner rührt sich. Soll ich? Ach, Scheiß drauf. Ich überbrücke die letzten Zentimeter, sehe noch, wie sich seine Lider schließen. Der Kuss beginnt zahm, beinahe schüchtern schmusen unsere Lippen gegeneinander. Pauls Hände verirren sich in meinen Nacken, der leichte Druck meines Haargummis weicht und die langen Strähnen fallen mir frei um die Schultern. Eigentlich hasse ich es, wenn mir jemand an die Frisur geht, doch als sich die schmalen Finger durch meine Haare wühlen, seufze ich nur genüsslich. Die Chance bleibt nicht ungenutzt, eine vorwitzige Zungenspitze schiebt sich zwischen meine Lippen und ein leidenschaftlicher Kampf entspinnt sich. Meine eigenen Hände machen sich selbstständig und streichen über seine Seiten, ertasten den schlanken Torso und sehnen sich nach der Berührung nackter Haut. Ich bin von unserem Kuss abgelenkt, doch irgendwann gelingt es mir, unter sein Shirt zu schlüpfen. Der Hautkontakt lässt und beide leise keuchen. Auch hier ist er warm und weich, auf seine Art. Ich erkunde seinen unteren Rücken, seine Flanken. Vorsichtig taste ich mich weiter nach oben, doch als ich an seinem Brustkorb ankomme, verspannt Paul sich und greift mit einer Hand nach meinem Handgelenk. Er weicht ein Stück zurück und blickt mich unsicher an. „Ich- Ich weiß nicht-” „Shh... Alles gut.” Langsam ziehe ich meine Hände zurück und lege sie gesittet zurück auf den Stoff, in ungefährliche Bereiche. Ich beuge mich vor und als er nicht ausweicht, küsse ich ihn kurz auf den geschlossenen Mund. „Du bestimmst das Tempo. Mehr als kuscheln wollte ich eh nicht.” Leicht zweifelnd verzieht er das Gesicht. „Wirklich!”, versichere ich, auch wenn mir bewusst ist, dass er wohl spüren kann, wie mein verräterischer Körper dazu steht. Kurzentschlossen ziehe ich ihn vollständig an mich, auch wenn ich mich kurz zurechtrücken muss. Die Arme um ihn gelegt, sodass ich ganz harmlos seinen Rücken kraulen kann, den blonden Schopf in meiner Halsbeuge abgelegt findet er sich wieder. „Oder ist dir das zuviel?” Bei dem Gedanken löse ich meinen Griff wieder, doch Paul schüttelt den Kopf, was ein bisschen kitzelt, und schmiegt sich vertrauensselig an mich. „Nein, kuscheln ist toll.” Die mühsam versteckte Sehnsucht in seiner Stimme bricht mir beinahe das Herz. Zum Glück stimmt meine Aussage tatsächlich. Mit Paulchen reicht mir züchtiges Schmusen völlig. Ihn im Arm zu halten und zärtlich den schlanken Rücken entlangzustreichen ist schon mehr, als ich mir vor kurzem noch zu hoffen gewagt hätte. „Bin ich dir nicht zu schwer?”, kommt es nach einiger Zeit leise und eine Spur widerwillig von ihm. „Nein, alles gut”, versichere ich, ebenso leise. „Hm... soll ich den Fernseher anmachen?” „Nur, wenn du willst.” „Hm... ne.” Ich grinse blöd vor mich hin, froh, dass er sich genauso wenig bewegen will, wie ich. Irgendwann fangen wir doch an, uns leise zu unterhalten und auch das TV-Gerät blubbert leise im Hintergrund. Doch mehr als ein bisschen Knutschen und Schmusen passiert nicht mehr, bis ich mich spät Abends auf den Heimweg mache. Aber traurig bin ich darüber nicht, im Gegenteil, ich fühle mich so aufgedreht und gleichzeitig so zufrieden und in mir ruhend, wie lange nicht mehr. Tja, das dumme, verliebte Grinsen ist jetzt wohl in meinem Gesicht festgemeißelt. Pech für meine Mitmenschen, ich schwebe glücklich auf Wolke Sieben.   ~*~   Das nächste Kapitel ist ebenfalls fast fertig und es sieht aus, als habe ich meine Schreibblockade zumindest vorerst überwunden. Ich liebe die beiden Jungs, umso schlimmer ist es für mich, wenn ich vor den geöffneten Texten sitze und einfach gar nichts zustande bringe :/ Kapitel 13: ------------ Vorsicht, heute morgen gab es schon Kapitel 12! Eventuell also nochmal dahin zurück, wenn noch nicht gelesen. So, zur Abwechslung mal wieder ein durchweg positives Kapitel, nach der leichten Depristimmung vom letzten Mal ;)   PS: Sollten euch Fehler/Unstimmigkeiten in der Personen- oder Ortsbeschreibung auffallen, bitte sagen! Ich bemühe mich zwar, alle Eigenschaften in die Steckbriefe einzutragen, aber wenn ich das vergesse, ist es manchmal wirklich schwer, noch die passenden Infos in über 40k Wörtern und fast 2 Jahren ständig unterbrochener Schreibarbeit zu finden :/ und jemand, der die Geschichte am Stück liest, behält doch gerne mal eher im Hinterkopf, wer jetzt welche Haar- oder Augenfarbe hat     ~ 13 ~   Pauls POV   Ich sehe dem Schwarzhaarigen noch lange nach. Längst sind die Rücklichter seines Autos hinter der Abzweigung verschwunden, doch ich kann mich nicht von der Haustür lösen. Meine Schwankungen zwischen Mut und Unsicherheit nerven mich ja schon selber. Hätte uns der Timer beim Kochen nicht unterbrochen, weiß ich nicht, wie weit ich mich hätte mitreißen lassen. Und später in meinem Zimmer mache ich völlig grundlos einen Rückzieher, nur weil er meine nackte Haut berührt hat. Ich erschaudere angenehm bei der Erinnerung an das Gefühl seiner rauen Fingerkuppen auf mir. Einerseits hätte ich es wirklich gerne noch länger ausgekostet, andererseits geht mir mein eigenes Tempo schon zu schnell. Oder bin ich eigentlich zu langsam? Ich weiß es doch nicht! Joshua ist eindeutig erfahrener als ich und trotz seiner Worte und Taten werde ich das Gefühl nicht los, ihn unnötig früh unterbrochen zu haben. Er hätte mehr gewollt. Nicht nur er, auch mein eigener Körper. Es war mein Kopf, der blockiert hat. Mit einem leisen Knurren reiße ich mich aus der Abwärtsspirale meiner Gedanken und mache nicht nur mental symbolisch die Tür zu. „Ich bestimme das Tempo”, wiederhole ich laut Joshuas Worte in den stillen Flur hinein. Das dumpfe Echo gibt mir recht. Der Abend war schön, der ganze Tag war toll. Das lasse ich mir nicht von mir selbst vermiesen, Basta.   Später im Bett fühle ich den Erinnerungen nach, welche die großen Hände auf mir hinterlassen haben. Die Hände eines anderen Mannes. Gänsehaut bildet sich dort, wo meine eigenen Fingerkuppen den unsichtbaren Spuren folgen, Pfade zeichnen, die weitergehen. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, was gewesen sein könnte, nein, was werden wird. Irgendwann. Finger, die sanft aber bestimmt den störenden Stoff beiseite schieben, das Blut zum Pulsieren bringen und mich an Stellen berühren, wo mich noch nie jemand zuvor angefasst hat. Braune Augen, in deren sanften Tiefen ich ertrinke, bis mich die Welle hinfortreißt, schnell und heftig. Schwer atmend öffne ich meine Augen und starre an die Decke. Shit, wenn mich meine eigene Fantasie schon sowas mit mir anstellt... Ich beende den Gedanken nicht, greife nur träge das der Packung Taschentücher auf dem Nachttisch. Vielleicht sollte ich jetzt doch noch duschen gehen.   ~*~   Am Montag kann ich Josh kaum in die Augen sehen, so sehr schäme ich mich für das, was ich am Wochenende in seiner Abwesenheit getan habe. Aber ich will ihm auch nicht das Gefühl geben, er habe etwas Falsches gemacht. Ein Dilemma. In der Pause, als wir noch alleine sind, frage ich ihn das Erstbeste, was mir einfällt. „War dein Angebot ernst gemeint, dass ich mal mit zu dir kommen kann?” Verwundert blick Josh von seinem Handy auf, lächelt dann jedoch. „Klar. Wann hast du denn Zeit und Lust?” Ich zucke mit den Schultern, von mir selbst überfordert. „Am Freitag?” Er überlegt kurz, nickt dann aber. „Klar, warum nicht. Da ist wohl die ganze Truppe anwesend.” Leicht zweifelnd zieht er die Augenbrauen zusammen. „Ist das schlimm?”, frage ich verunsichert nach. Will mich ja nicht aufdrängen. Da lacht er kurz. „Nicht wirklich. Könnte nur noch chaotischer werden, als ohnehin schon.” „Dann besser nicht?” „Doch doch”, winkt er ab. „Du musst nur sagen, wenn es dir zuviel wird.” „Okay...” Nun ist es an mir, zweifelnd zu gucken. „Keine Angst, die beißen nicht. Also nicht mehr, seit wir keine Kinder mehr sind.” Er zwinkert und berührt mich kurz am Arm. „Die sind nur schrecklich neugierig auf dich.” „Du hast ihnen von mir erzählt?” Meine Stimme klingt hoffentlich nur in meinen Ohren leicht schrill. „Sicher.” Der große Kerl neben mir zuckt unbeeindruckt mit den Schultern. „Du bist toll, da will ich doch mit dir angeben.” Aus seinem Grinsen wird schnell ein Lachen und ich spüre, wie neben meiner Stimmlage auch die Wärme in meinem Kopf rapide ansteigt. Das kann er doch nicht einfach so sagen! „Was ist so lustig?” Neugierig blickt Matz zwischen uns hin und her. „Ach, ich hab mich nur über die Antwort lustig gemacht, die Paul eben der alten Schrapnelle gegeben hat.” Über den Köpfen der anderen zwinkert er mir zu. Wenigstens sind wir uns einig, das, was auch immer zwischen uns ist, noch nicht mit den anderen zu teilen. Dafür bin ich einfach noch nicht bereit. Erleichtert atme ich auf und lasse mich auf die Sticheleien der anderen ein.   ~*~   Der Freitag lässt wieder auf sich warten, die letzte Unterrichtsstunde zieht sich ewig und darüber hinaus, weil unser Lehrer uns auch noch nach dem Klingeln dabehält, um Organisatorisches für die nächsten Wochen zu besprechen. Als er uns endlich freigibt, bin ich mit der Erste, der aus dem Klassenraum stürmt. Hektisch durchquere ich das Schulgebäude, doch den großen Schwarzhaarigen kann ich nirgendwo finden. Hoffentlich denkt er nicht, ich hätte ihn versetzt. Der Schulhof rauscht an mir vorbei und endlich entdecke ich Joshua, wie er neben dem Eingangstor lehnt und Ausschau nach mir hält. Kaum komme ich bei ihm an, schleicht sich ein Lächeln auf unsere Gesichter. „Hi”, begrüße ich ihn leicht atemlos. „Hey. Hat euch der alte Grawinski länger dabehalten?” Dankbar, dass er nicht böse zu sein scheint, nicke ich. „Na dann komm. Lass uns zu Fuß gehen, ist nicht weit. Der nächste Bus kommt eh erst in zehn Minuten und wird garantiert voll sein.” Josh streckt eine Hand nach mir aus, vielleicht in der Absicht, den Arm um mich zu legen, lässt ihn im letzten Moment aber wieder sinken. Dass die feige Geste auf meinem Mist gewachsen ist, treibt mir einen Stich durchs Herz, doch ich schaffe es nicht, ihn zu bitten, die anderen Schüler zu ignorieren. Was ich aber schaffe ist, mich zumindest im Gehen sehr nah an seine Seite zu begeben, näher als unter Freunden eigentlich üblich. „Sorry”, sage ich leise. „Kein Ding”, wiegelt Joshua ab, mit einem Lächeln in der Stimme. „Geht die Idioten hier eh nichts an.” Und damit scheint das Thema für ihn erledigt zu sein. Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her und hängen einvernehmlich unseren Gedanken nach. Plötzlich werde ich am Arm gepackt und hinter eine Hausecke gezogen. Ehe ich reagieren kann, spüre ich die Wand in meinem Rücken und warme Lippen auf den meinen. Mein Herzschlag setzt rasend schnell wieder ein. Meine Arme schlinge ich um den Nacken des Größeren und verhindere, dass er direkt wieder zurückweicht. Kurz darauf stehen wir nach Luft ringend voreinander, atemlos grinsend. Mein Hirn ist noch leicht duselig und ich will mich gar nicht damit beschäftigen, warum wir wo sind und was wir eigentlich vorhatten. Ich weiß nur, was mir die ganze letzte Woche gefehlt hat. „Sorry”, sagt Josh, klingt aber alles andere als entschuldigend. „Das musste sein, ich wäre sonst noch verrückt geworden.” „Mh-hm...”, stimme ich brummend zu, während ich seine leicht glänzenden Lippen fixiere. Ich will nochmal. Josh lacht leise auf. Habe ich das laut gesagt? Egal. Hauptsache, er kommt meinem Wunsch nach.   Bevor wir uns Joshuas Haus nähern, bringen wir gegenseitig unsere derangierten Frisuren wieder in Ordnung. Mit mir und der Welt im Reinen, gehe ich neben ihm her, werde aber schlagartig nervös, als sein Haus in Sicht kommt. Welches das ist, muss er gar nicht sagen. Inmitten der spießigen Einfamilienhäuser sticht eins ganz besonders hervor. Statt perfektem englischen Rasen beherrscht eine bunte Wildblumenwiese den Vorgarten. Vor der Garage stehen die unterschiedlichsten Fahrräder und blockieren diese, sodass der Familienvan mit den ganzen Aufklebern am Heck in der Einfahrt parken muss. Die einstmals weiße Fassade ist auf Höhe des Erdgeschosses von bunten Bildern übermalt, die von einfachen Graffiti bis hin zu wahren Kunstwerken alles beinhalten, wobei einzelne Motive schwer auszumachen sind. Die bunte Eingangstür öffnet sich, noch bevor wir sie erreicht haben. Heraus stürmt ein Mädchen, etwas jünger als wir. In einem Wirbel aus blond, schwarz und rosa hält sie auf uns zu und wirft sich quietschend Josh an den Hals, ehe sie sich von ihrem überrumpelten Bruder direkt an mich wendet. Ich habe das Gefühl, das war reine Taktik. „Du musst Paul sein!” Sie grinst, wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern zieht auch mich in eine stürmische Umarmung. „Ich bin Holly! Schön dass du da bist.” „Holly, lass ihn leben!” Leicht besorgt löst Joshua seine kleine Schwester von mir. „Alles gut”, versichere ich, noch leicht perplex von dem Überfall. Die beiden Geschwister liefern sich derweil ein nonverbales Blickduell, dann dreht sich die Jüngere schmollend um und flitzt zurück ins Haus. Ihr Bruder seufzt und rollt die Augen gen Himmel. „Auf in den Kampf”, ermutigt er uns beide schief grinsend. Eine Hand auf meinem unteren Rücken, schiebt er mich ins Haus, über die Fußmatte mit einem Spruch hinweg, den ich kaum lesen kann. „Immer rein in die gute Stube.” Ich weiß sofort, was Joshua letztes Wochenende meinte, als er unsere Häuser miteinander verglich. Die ursprüngliche Farbe der Wände lässt sich kaum mehr erahnen, so zugekleistert sind sie. Das Garderobenbrett quillt über vor – hauptsächlich schwarzen - Jacken, die Seite gegenüber wird von einem großen Spiegel mit schwarzem, gotisch anmutendem Rahmen eingenommen, daneben eine ausgeblichene Regenbogenflagge mit Peace-Zeichen, die aussieht, als wäre sie schon einige Male an der frischen Luft und unter Leuten gewesen. Zumindest erklärt das zum Teil, warum Joshua keinen Hehl aus seiner sexuellen Orientierung zu machen scheint. Nach dem unmittelbaren Eingangsbereich finden sich Fotos über Fotos an den Wänden wieder, nur leider habe ich jetzt gerade keine Zeit, sie zu betrachten. „Stell die Schuhe einfach irgendwohin, wo Platz ist”, weist mich Josh an und nimmt mir zeitgleich die Jacke ab, um sie auf den Haufen über den Haken zu werfen. Danach geht er in Richtung einer Tür zur Linken, aus der bereits geschäftiges Gewusel und Stimmengewirr erklingt. Die Küche, wie ich direkt merke. Ein großer Raum, an dessen linker Seite sich eine riesige Einbauküche in weiß und hellbraun erstreckt. Der Herd ist gigantisch, ganze acht Platten! Sowieso ist alles hier in vielfacher Ausführung vorhanden. Mittig rechts steht ein riesiger, länglicher Tisch aus dunklem Holz mit abgerundeten Ecken und kunterbunt gemischten Platzdeckchen. Was mich noch mehr erschreckt, als die reine Anzahl der Stühle ist, wie viele davon tatsächlich besetzt sind. Als Josh und ich bemerkt werden, verstummen die zuvor sehr angeregten Gespräche und ich werde neugierig beäugt. Mir wird unwohl und ich widerstehe nur schwer dem Drang, mich hinter meinem Freund zu verstecken. „Ah, du musst Paul sein!” Eine große, schlanke Frau unbestimmten Mittleren Alters kommt auf mich zu. Lange, seidig schwarz Haare fallen ihr bis auf den Rücken, der Körper steckt in einem knielangen, dunkelroten Wollkleid. Sie lächelt mich aufrichtig erfreut an, während sie die Hand nach mir ausstreckt. Höflich, wie ich bin, ergreife ich sie. „Ich bin Erika. Joshis Mutter.” Joshua neben mir räuspert sich leicht genervt und ich werfe ihm einen kurzen Blick zu. „Das ist mein Mann Holger-” Ein ebenso großer, stämmiger Kerl mit ergrautem Vollbart nickt mir zu. Unter den buschigen Augenbrauen blicken mir die gleichen braunen entgegen, die auch der junge Mann neben mir hat. Er trägt eine schwarz-rote Handwerkerlatzhose und ein ausgeblichenes Bandshirt. „-meine jüngste Tochter Holly, aber die kennst du ja schon-” Das Mädchen mit den bunten Haaren winkt mir übertrieben grinsend mit beiden Händen zu. „-meine Älteste Alexis und ihr Verlobter Martin-” Eine jüngere Kopie von Erika, nur mit blauen Strähnen im schwarzen Haar und ein junger, eher unauffälliger Mann, mit kurzen dunklen Haaren, nicken uns lächelnd zu. „-und hinter euch versucht sich gerade unser Jüngster vorbeizuschleichen.” Ihre Stimme schwenkt von freudig zu leicht vorwurfsvoll. Ein genervtes Raunen in meinem Rücken bestätigt die Anwesenheit einer weiteren Person. Ich blicke über meine Schulter und stutze. Joshua hatte mich ja schon vorgewarnt, dass sein kleiner Bruder anders sei. Doch der hellblonde Teenager, mit dem viel zu großen Shirt, der groben Stahlkette um den Hals, der halb in den Knien hängenden Baggypants und dem schief sitzenden Cap mit breiten, flachen Schirm auf dem Kopf ist doch schon sehr... anders. Witzigerweise fällt mir mit als erstes auf, dass er kein einziges schwarzes Kleidungsstück trägt, alles ist hell. Ein krasser Kontrast zu dem Rest der Familie. Selbst seine Augen sind heller. Er mustert mich ebenso, dann zuckt sein Blick zu Josh und er grinst schief. „Nate!” Auf die Ermahnung seiner Mutter hin hebt er kurz die Hand, mit der er nicht das Longboard hält und brummt ein „Hi.”. Dann dreht er wortlos um und verschwindet. „Mach dir nichts draus, Nate ist doof”, meint Holly, die Jüngste, unbekümnmert. „Holly...” Erika seufzt resigniert. Mir scheint, das alles ist im Grunde nichts Neues, wenn man mal von meiner Anwesenheit absieht. Lächelnd wendet sie sich wieder an mich. „Willst du gleich mitessen?” „Ähm... gerne aber...” Ich weiß nicht so recht, wie ich es ansprechen soll und es ist mir fürchterlich unangenehm. „Mum, Paul ist Vegetarier”, mischt sich Joshua ein. „Ach, kein Problem, sag das doch gleich. Nur vegetarisch oder ganz vegan?” Verwundert blicke ich Erika an, so unkompliziert ist es wirklich selten. „Äh, vegetarisch reicht. Ich will keine Umstände machen.” Resolut winkt sie ab. „Machst du nicht. Setzt euch doch einfach.” Leicht widerwillig folge ich meinem Freund zum Tisch und setze mich. Holger liest in einer Motorradzeitschrift, Holly hat eindeutig Schulaufgaben um sich herum verteilt und Alexis und ihr Verlobter brüten über Notenheften. „Du bist also der Kleine, der unserem Joshi den Kopf verdreht hat?” „Alexis!”, zischt Joshua neben mir, doch seine Schwester ignoriert ihn. „Wir hatten ja anfangs gedacht, dich würde es gar nicht geben, bis Holly ein bisschen in der Schule spioniert hat.” „Hab ich gar nicht”, empört die sich. „Das war viel zu offensichtlich, da brauchte ich nicht spionieren.” „Ähh...”, mache ich eloquent. „Lasst den Blödsinn, ihr verschreckt den armen Kerl noch”, brummt der Vater, ohne aufzusehen. „Dann sollen die Mädels keinen Stuss reden”, empört sich jetzt auch noch Josh. Es entspinnt sich eine mehr oder weniger hitzige Diskussion, der ich bereits nach zwei Sätzen nicht mehr folgen kann und deren Sinn und Inhalt mir verborgen bleibt. Ein Tippen auf meine Schulter lässt mich zusammenzucken. Erneut steht der jüngste Spross der Familie hinter mir. Ist das so eine freakige Angewohnheit von dem!? „Ey, du hast doch Ahnung von Computern, oder?” „Öh, ja schon, irgendwie. Warum?”, frage ich misstrauisch. „Meiner zickt rum und ich hab kein' Plan wieso. Kannste mal draufschaun?” Er deutet mit dem Daumen über seine Schulter Richtung Flur. Ich schau unsicher zu Joshua, doch der zankt sich mit seinen Schwestern. Ich bin hin und hergerissen, doch letztendlich siegt der Wunsch, mal zwei Minuten durchatmen zu können um diesen Überfall zu verarbeiten. „Okay”, stimme ich daher zu. Nathan zieht seinen linken Mundwinkel hoch, was mich unheimlich an seinen Bruder erinnert und dreht sich wortlos um. Ich folge nach kurzem Zögern. Er führt mich in sein Zimmer. Der Raum ist klein, aber hell. Dunkle Farben scheinen nicht sein Fall zu sein, sofern sie nicht gerade auf Postern zu finden sind. Und davon hat er so einige. Die Namen sagen mir zumeist nichts, aber die ganze Attitüde der abgebildeten Künstler schreit HipHop und Rap. In einer Ecke hat er sogar ein spezielles Regal mit halbrunden Ständern für Basecaps. Die von eben liegt dort, die prominenteste Stelle in der Mitte ist jedoch frei. Während der Teenager an seinem Schreibtisch fuhrwerkt, sehe ich mich weiter um. Das Bett ist schmal, dafür hat er eine Couch und einen kleinen Fernseher. Die Wände sind ebenso bedeckt mit Fotos, wie der Flur, nur dass hier nur wenige Familienfotos in Rahmen und dafür umso mehr blanke Bilder von ihm und seinen Freunden hängen. Am See, in der Stadt, auf einer Skaterampe. Nathan scheint das genaue Gegenteil von mir zu sein, unheimlich gesellig und gerne draußen auf Achse. Neugierig trete ich an ein kleines Tischchen heran, auf dem ein Stapel Bilder liegt, die halb aus einer Tasche vom Fotolabor herausragen. Wieder der blonde Junge, wieder sein Freundeskreis, den man nur als Divers beschreiben kann. Und ein etwa gleichaltriges Mädchen, um das Nate einen Arm gelegt hat, mit schokoladenbrauner Haut, einem schelmischen Grinsen, dass ihre weißen Zähne nur so blitzen lässt und einem giftgrünen Cap. Mein Blick huscht wie von selbst zu der auffällig leeren Stelle im Regal zurück. Ich bin wirklich neugierig, welche Geschichte sich hier verbirgt, doch zu schüchtern, um zu fragen. Mit einem Mal taucht ein abgegriffener Xbox-Controller in meinem Sichtfeld auf. „Hier, du kannst doch garantiert ein bisschen Rennspiele zocken, oder?” Irritiert schaue ich zu Nate und dann zu seinem Computer. „Aber ich dachte-” Er winkt ab und drückt den Controller gegen meine Brust. „Ausrede. Irgendwie musste ich dich doch da rausholen. Ich weiß, wie anstrengend meine Familie sein kann und du sahst aus, als ob du mal ein paar Minuten da weg müsstest.” Er zwinkert und geht dann zum Sofa. Auf dem Fernseher flimmert das Logo eines älteren Forza Titels [AdR: Autorennspiel]. „Aber Josh wird-”, setze ich erneut vergeblich an. „Keine Sorge. Dein Ritter in strahlend schwarzer Rüstung wird dich in spätestens zehn Minuten retten kommen. Also trödel nich' rum und komm her, sonst war die ganze Mühe umsonst.” Seufzend setze ich mich auf das Polster, auf das er fordernd klopft. Ohne viel Tamtam startet er das Spiel im lokalen Multiplayer mit Splitscreen. „Danke”, sage ich leise, als sich unsere virtuellen Wagen bereits auf der Straße befinden und Motorengeheul aus den Lautsprechern dringt. „Hmpf.” Mehr sagt der Jüngere nicht mehr. Erst, als Joshua kurze Zeit später die Tür aufreißt, lässt er ein paar Sprüche vom Stapel, die ein bisschen zu provozierend klingen, um beruhigend und erklärend zu sein. Statt zurück in die Küche, schleppt Josh mich mit in sein Zimmer. „Entschuldige.” Seufzend fährt er sich über die Haare und schaut mich schuldbewusst an, wie ein Welpe, der gerade wider besseren Wissens die Hausschuhe zerkaut hat. „Schon okay. Es war... ein bisschen viel, glaube ich”, sage ich dann ehrlich, aber mit einem beruhigenden Lächeln. Das lässt ihn nur noch zerknirschter dreinblicken und so umarme ich ihn kurzerhand. „Ich hätte einen Tag suchen müssen, an dem hier nicht so viel los ist”, brummt er resigniert. „Gibt es den denn?”, frage ich, aus einer Vermutung heraus. Sein Brustkorb vibriert unter seinem Lachen und bestätigt mich. „Eher selten. Meistens ist sogar noch mehr los.” „Noch mehr!?” Entsetzt halte ich eine Armlänge Abstand und blicke ihn mindestens so entgeistert an, wie ich klinge. „Naja... ich glaube, wir sind... recht gesellig”, druckst Josh herum. Nun lache ich, wenn auch leicht hysterisch, in den Stoff seines Oberteils. Das alles ist so fern von meiner Lebensrealität, das ist einfach nur absurd. „Alles okay?”, fragt der Ältere besorgt und streicht mir über den Rücken. „Mh-hm...”, brumme ich bestätigend, die Berührung genießend.     ~*~   Machen wir hier einen kleinen Cut, dann gibt es die zweite Hälfte des Besuchs im nächsten Kapitel. Bin mir noch nicht sicher, aus welcher Sicht, das muss ich noch schauen.   Ich hoffe die Szene mit Nate war nicht zu ausufernd und einnehmend? Es ist eine kleine Idee, gewissermaßen ein „Vor-Shadowing” (wie schreibt man das? Ich kenne das bislang nur aus Podcasts) auf eine kurze Geschichte, die ich nebenbei schreibe, aber erst veröffentliche, wenn sie wirklich 110% fertig ist. Außerdem mag ich Nate irgenwie einfach ;)         Kapitel 14: ------------ Aaaaah, die Cloud hat die 1800 Wörter meines ersten Versuchs gefressen und ich hatte natürlich noch keine lokale Sicherungskopie. Verflixte Technik!   Letztes Mal gab es an einem Tag zwei Kapitel, eins morgens, eins abends. Falls euch der Einstieg also komisch vorkommt, habt ihr eventuell das zweite verpasst.   Und Kapitel 12 hat eine kleine Korrektur bekommen. In meinem Skript stand noch Lasagne und mir ist jetzt erst aufgefallen, dass es ja Chili gab! So ein Bockmist. Und niemand hat mich drauf hingewiesen. Vielleicht bekommt Kapitel 13 auch noch ein paar kleine Änderungen, da nerven mich im Nachhinein doch ein paar Dinge.   ~ 14 ~   Pauls POV   „Was wollte der Knirps eigentlich von dir?”, fragt Josh in die Stille hinein. „Hm? Ach so.” In Erinnerung an die absurde Situation muss ich schmunzeln. „Nur kurz einen Fehler am PC beheben.” Ich entschließe mich für die Ausrede, die auch Nate benutzt hat. Kommt bestimmt bei seinem großen Bruder nicht gut an, wenn ich sage, er hätte mir ein paar Minuten Pause vor der geballten Ladung Familie Lehmann verschaffen wollen. Warum er das getan hat, kann ich nämlich auch nicht sagen. „Und da seid ihr auf dem Sofa gelandet?” Okay, er hat Recht skeptisch zu klingen. „War dann doch nichts gravierendes.” Ich zucke mit den Schultern und löse mich ein Stückchen von ihm. Neugierig schaue ich mich um und muss schon wieder schmunzeln. Das Zimmer ist wirklich so, wie ich es mir bei Joshua vorgestellt habe. Die vorherrschende Farbe ist – Wunder oh Wunder – Schwarz. Sogar eine der vier Wände ist nicht verschont geblieben. Auch hier hängen wieder Poster, allerdings weniger von Bands, sondern eher Gemälde mit düsteren Fantasy-Motiven wie Drachen und dunklen Rittern. Gegenüber der Tür hängen eine Akkustikgitarre und der elektronische Bass, die ich bereits aus Erzählungen kenne, letzteres auch gut verpackt in seiner Transporttasche in der Schule Donnerstags. Im dunklen Regal reihen sich CDs aneinander, eine recht große, ältere aber gepflegte Musikanlage streitet sich mit dem Schreibtisch, auf dem ein ebenfalls älterer PC steht, um den letzten verbleibenden Platz, der neben dem großen Bett und dem Kleiderschrank noch vorhanden ist. Man erkennt, wo Joshuas Prioritäten liegen. Bei den lieblos gestapelten Schulsachen schon einmal nicht. „Komm. Ich hab leider nur das Bett zum Sitzen.” „Macht doch nichts.” Schulterzuckend lasse ich mich neben ihn nieder, rutsche zurück, bis ich die Wand im Rücken habe. Der Schwarzhaarige tut es mir gleich und rückt nahe an mich heran. „Das ist also deine Familie”, stelle ich nach einigen Momenten des Schweigens fest. Er lacht kurz auf. „Kann man so sagen, ja. Zum Glück sind heute weder Granny noch eine meiner Tanten da.” „Und ich hab mich schon über euren großen Tisch gewundert...” „Rennst du schreiend davon, wenn ich dir sage, dass der Tisch nicht selten komplett besetzt ist?”, fragt er vorsichtig nach. Ich schnaube ungläubig. „Ernsthaft?” „Jup. Meine Familie ist sehr... gesellig. Eigentlich hat ständig jemand von uns seine Freunde hier. Okay, außer Nate, der geht lieber weg. Ist vielleicht auch besser so.” Kurz grinst er. „Ist das sehr schlimm?” Mit einem Mal klingt er gar nicht mehr so sicher. Kopfschüttelnd lehne ich mich an ihn und sehe zu, wie er meine Hand ergreift und unsere Finger miteinander verflechtet. „Nur ungewohnt”, gebe ich ehrlich zu. „Ihr habt bei euch nicht oft Besuch, oder?”, fragt er leise nach. Unwillkürlich versteife ich mich. „Nein”, antworte ich knapp. Josh brummt nachdenklich. Ich habe das ungute Gefühl, dass er weiter nachbohren will, doch er bleibt stumm, streichelt nur geistesabwesend meinen Handrücken mit dem Daumen. Es ist nicht so, als würde ich ihm nicht vertrauen. Im Gegenteil, ich fühle mich sicher bei ihm und ein ganz leises Stimmchen in meinem Kopf möchte ihm alles erzählen. Aber mein Verstand hindert mich daran. Es ist nicht sein Problem, es geht ihn nichts an. Und ich komm schon damit klar. Meinem Vater kann ich so nicht helfen, wenn ich einfach andere Leute mit einbeziehe. Es käme mir wie ein Verrat vor, er hat doch nur noch mich. Die beste Hilfe, die er mir geben kann, ist, meine Zeit bei ihm so schön zu machen, wie möglich. Ich seufze lautlos und schüttel die unangenehmen Gedanken von mir ab. Mein Blick bleibt an der Gitarre hängen und ich deute darauf. „Spielst du häufig?” Ich spüre wie ich von der Seite gemustert werde, Joshua ist bewusst, dass ich das Thema wechsel. Trotzdem geht er darauf ein. Er zuckt mit der Schulter unter meiner Schläfe. „Manchmal. Früher häufiger, aber im Moment muss ich zu oft mit dem Bass üben, da bleibt nicht mehr so viel Energie und Zeit übrig, auch noch auf der Gitarre zu klimpern.” „Klimpern?”, hake ich belustigt nach. „Na, als musizieren würde ich das jetzt nicht bezeichnen”, brummelt er. Ich schiele zu ihm hoch, doch er hat den Kopf leicht abgewendet. Unsicher kaue ich auf meiner Unterlippe. Ich würde ihn schon gerne spielen hören, will mich aber nicht aufdrängen, wenn er bei dem Thema leicht abweisend ist. Mit einem Mal stößt Joshua ein tiefes, leicht theatralisches Seufzen neben mir aus. „Ist ja schon gut, ich spiel dir was vor.” Damit steht er auf und geht zu dem Musikinstrument an der Wand. „Aber ich hab doch gar nichts gesagt...”, sage ich perplex. Kann man schuldbewusst klingen, obwohl man sich eben keiner Schuld bewusst ist? „Nein, aber dein niedlicher Hundeblick reicht aus.” Der Schwarzhaarige grinst mich an, sich auf das Bett setzend. Ich spüre die Hitze in meine Wangen kriechen. Er kann mich doch nicht einfach so als niedlich bezeichnen! Doch ein Blick in sein Gesicht und ich weiß, er meint das ernst. Da es wohl keinen Sinn macht, auf ein Loch im Boden zu warten, konzentriere ich mich lieber auf seine Finger, die an den Saiten zupfen oder an den kleinen Schrauben am Ende drehen. „Ein bisschen verstimmt, fürchte ich, aber so müsste es gehen”, erklärt er mir nach kurzer Zeit. Konzentriert mustert er den Boden vor dem Bett, die Stirn leicht gerunzelt. Die ersten Akkorde erklingen, noch etwas zögerlich, doch je länger er spielt, umso sicherer werden seine Griffe. Ich lehne mich zurück, lausche den Klängen mit geschlossenen Augen und versuche die vertraut klingen Lieder bekannten Titeln zuzuordnen, lasse mich treiben. Als Joshua dann auch noch anfängt, die Liedtexte leise mitzusingen, rinnt eine prickelnde Gänsehaut über meinen gesamten Körper, verziehen meine Lippen sich zu einem verträumten Lächeln. Er hat recht, sein Spiel ist nicht perfekt, seine Stimme trifft nicht immer die richtigen Töne und doch, oder vielleicht gerade deswegen, geht mir dieses unverfälschte durch und durch, stärker, als es die hochwertig produzierten Radiosongs je könnten. Es fühlt sich unglaublich intim an, persönlich. Erschafft eine kleine Blase, in der kein Platz für etwas anderes ist, als uns. Ein gebrülltes „Essen ist fertig!” reißt uns jäh aus unserer Versunkenheit. Vor Schreck verhaut Josh den letzten Akkord und der unstimmige Ton lässt ihn das Gesicht verziehen. Ich lache leise. So, wie er gerade die Nase kraus zieht, wäre es nun eigentlich an mir, ihn als niedlich zu betiteln. Grummelt legt er die Gitarre vorsichtig auf das Bett und erhebt sich. „Komm, die Meute wartet”, seufzt er. Ich ergreife die angebotene Hand und lasse mich hochziehen. Ein kleines bisschen mulmig ist mir schon, als wir zurück in die Küche gehen, aber längst nicht mehr so schlimm. „Danke”, flüstere ich ihm zu. Kurz stutzt der Größere überrascht, erwidert mein Lächeln dann mit einem knappen Nicken. Vielleicht versteht er ja doch. Wir sind die letzten, die eintreffen. Plätze gibt es dennoch genug zur Wahl. Ich finde mich mit Josua zu meiner Rechten, einem freien Platz zu meiner Linken und gegenüber von den beiden Schwestern und dem Verlobten der älteren wieder. Rechts neben Joshua sitzt seine Mutter, der Vater an einem Kopfende, Nate am anderen. Zwischen uns allen stehen mehrere dampfende Töpfe, aus denen es lecker riecht. „Bedient euch”, fordert uns Erika auf. Unsicher beobachte ich zunächst die unbekannten Abläufe um mich nicht zu blamieren. Mit einem Mal verschwindet der Teller vor meiner Nase und als ich ihm erschrocken nachblicke, findet er sich in der Hand von Josh wieder. „Kartoffeln, Gemüse und Soße?”, fragt er mich und beginnt schon die erstgenannten auf den Teller zu füllen. Ich nicke trotzdem und bedanke mich anschließend artig bei ihm. Peinlich. Zu meiner Erleichterung werde ich aus den Unterhaltungen größtenteils rausgelassen. Es geht um den bevorstehenden Auftritt der Band, ein Geschichtsreferat von Holly und um Kollegen von Holger und Erika, die mir natürlich nichts sagen. Bislang weiß ich nicht mal, was für einen Beruf sie überhaupt ausüben, aber fragen traue ich mich noch nicht. „Kommst du das nächste Mal auch, wenn wir spielen?” Es dauert ein paar Sekunden, bis mir klar wird, dass Alexis mich angesprochen hat. Ich höre auf, die Kartoffel zu zerteilen und blicke unsicher von Josh zu seiner Schwester und zurück. „Ähm...” Den Ausdruck auf dem Gesicht des Älteren kann ich nicht deuten, ihrer hingegen ist offen interessiert. Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht. Wenn ich darf?” Spätestens seit der kleinen Vorführung eben bin ich neugierig auf das, was Joshua und seine Bandkollegen machen. Nur hat der mich bislang noch nie gefragt und Aufdrängen ist sonst nicht so meine Art. „Na klar darfst du”, erwidert Alexis überzeugt und zu meiner Erleichterung nickt nicht nur ihr Verlobter, sondern auch Joshua neben mir. Ich nehme mir vor, ihn trotzdem später in Ruhe noch einmal zu fragen, ob es wirklich okay ist. „Hast du auch mal gelernt, ein Instrument zu spielen?”, fragt mich die Hausherrin – Erika, wie ich mir ins Gedächtnis rufe. „Leider nein.” Ich nehme das Zerteilen meiner Kartoffel wieder auf, um den Reaktionen zu entgehen. In dieser Familie scheinen alle auf ihre Weise künstlerisch begabt zu sein, soviel habe ich schon mitbekommen. Dagegen komme ich nicht an, mehr als Strichmännchen zeichnen kann ich nicht und ich würde es sogar schaffen, eine Triangel falsch zu spielen. „Joshi wollte früher unbedingt Trompete lernen”, plappert Erika weiter, ohne sich an meiner Unmusikalität zu stören. Sie lacht bei der Erinnerung, ihr Ehemann gibt ein wenig begeistertes Grunzen von sich. „Was war ich froh, als er festgestellt hat, dass er damit wohl eher kein berühmtes Mitglied einer Metalband werden kann”, ergänzt er die Anekdote. „He, so schlimm war es gar nicht!”, empört sich Joshua und wird rot. „Doch”, kommt es gleich mehrstimmig. „Also ich fand das irgendwie cool”, hält Holly dagegen. „Ja, weil du an seinem Rockzipfel hingst und alles cool fandest, was er gemacht hat.” Ihr Zwilling verdreht die Augen, bekommt dafür eine herausgestreckte Zunge. „Den Hang zur Musik haben meine Kinder alle von Holger, ich bringe keinen geraden Ton zustande”, beruhigt Erika mich ohne es zu wissen. „Dafür kannst du voll schön malen.” Bei Hollys Worten ertönt in meinem Kopf das Geräusch umgenieteter Kegel. Strike, alle Neune. Ein Ellbogen stupst in meine Seite und als ich den Kopf hebe, blickt mich Joshua lächelnd an. Zaghaft erwidere ich es. „Und was machst du, wenn du nicht in der Schule bist?”, fragt mich die Jüngste neugierig. „Ich... äh, lese gern.” Tief durchatmen, alles ist gut. „Und ich bin gerne am Computer. Also ich spiele nicht nur”, ergänze ich schnell „das mach ich schon auch, klar, aber ich programmiere oder bringe es mir zumindest bei.” Ich klappe meinen Mund eilig wieder zu, bevor ich noch mehr Blödsinn rede, den keiner versteht und eventuell auch gar nicht interessiert. „Na endlich!” Ich zucke bei Alexis' Ausruf erschrocken zusammen. „Jemand mit technischem Verständnis hat uns echt gefehlt.” Sie zwinkert mir gut gelaunt zu. „Vielleicht kannst du mir helfen die alten Herrschaften hier mal zu ein paar modernen Anschaffungen überreden.” „Mit meinem Computer ist alles in bester Ordnung”, grummelt Holger. „Ja. Im Jahre 1996”, schnaubt Nate. „Er macht alles, was ich für die Buchhaltung brauche”, protestiert sein Vater weiter, allerdings habe ich den Eindruck, als würde er sich doch ein klitzekleines bisschen schämen. „Paps, sieh es ein, das Ding ist uralt und so langsam, dass du mit der Hand fast schneller wärst. Ein neuer PC würde dir die Arbeit wirklich erleichtern”, mischt sich nun auch noch Joshua ein. „Sogar Mum hat einen moderneren Computer und die arbeitet im Amt”, ergänzt Alexis. „Na na, ihr tut so, als würde euer Vater technisch gesehen hinter dem Mond leben. So schlimm ist es nun auch wieder nicht, wir wissen immerhin beide mit unseren Handys umzugehen und können sogar problemlos Whatsapp und Facebook nutzen.” Erika klingt ziemlich überzeugt und übersieht geflissentlich, dass nicht nur eine der jüngeren Personen hier am Tisch sich das Lachen verkneifen muss. Ich selbst verstecke mein Grinsen hinter einer Gabel Gemüse. „Ich kann ja mal gucken, was so ein einfaches Modell kosten soll”, gibt Holger sich murrend geschlagen. „Ich glaube, als ich das letzte Mal mit in der Schreinerei war, hatte er noch einen Röhrenmonitor”, flüstert mir Joshua unvermittelt ins Ohr. Ich verschlucke mich hustend – ob vor Schreck oder Lachen überlasse ich mal seiner Spekulation – und angle nach meinem Glas. Der Hausherr gießt mir netterweise kommentarlos Wasser ein, wofür ich mich nickend und hustend bedanke, ehe er sich wieder dem Tischgespräch zuwendet. Mein Freund klopft mir beherzt auf den Rücken, was mich fast vom Stuhl holt. „Atmen nicht vergessen.” „Sagt sich-... so leicht”, huste ich. Noch ein paar angestrengte Atemzüge, dann beruhigen sich meine Lungen wieder etwas. „Gut, ich merke mir, nichts zuflüstern, wenn du am Essen bist.” Er besitzt tatsächlich noch die Dreistigkeit, mich anzugrinsen. „Oder gar nicht Flüstern”, wirft Holly ein. „Kind, du musst nicht alles wissen, was dein Bruder zu sagen hat”, weist sie ihr Vater milde zurecht. „Und manche wollen es vielleicht auch gar nicht.” Nate, wer sonst. So langsam erkenne ich ein Muster. Und trotz der Sticheleien schwingt in jedem Wort, jedem Satz und jeder Geste eine tiefe, natürliche Verbundenheit untereinander mit, die ich so nicht kenne. Klar, mit meinen Freunden bin ich auch dicke und wir ärgern uns. Aber das hier ist ein ganz neues Level.   Nachdem wir noch beim Abräumen geholfen haben, gehen wir wieder in Joshuas Zimmer zurück. Wie zuvor setzen wir uns nebeneinander auf das Bett, an die Wand gelehnt und nah beieinander. Räuspernd setze ich zu der Frage an, die mir seit geraumer Zeit auf der Zunge brennt. „Ist es wirklich okay für dich, wenn ich zu einem eurer Auftritte komme?” Verwundert schaut Joshua mich aus seinen warmen braunen Augen an. „Ähm, sicher. Warum denn nicht?” „Naja...” Unsicher spiele ich mit einem Zipfel der Decke. „Du hast mich bislang noch nicht gefragt und da dachte ich...” Ich breche ab. „Oh”, macht er verstehend, klatscht sich gegen die Stirn. „Irgendwie hab ich da gar nicht dran gedacht. Sorry, natürlich. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du kommst.” „Wirklich?” Die Hoffnung in meiner Stimme ist deutlich hörbar. „Wirklich”, bestätigt er ohne jeden Zweifel. Lächelnd beugt er sich zu mir, hebt mein Kinn mit einem Finger an und drückt mir einen Kuss auf. „Wir spielen nächste Woche Samstag wieder. Wenn du Lust hast, hol ich dich vorher ab?” „Klingt gut.” Jetzt heben sich auch meine Mundwinkel wieder an. Es ist an mir, unsere Lippen erneut zu vereinen, länger und intensiver diesmal. „Ich freu' mich.” „Ich mich auch.” Gemeinsam rutschen wir in die Horizontale, liegen uns gegenüber, nicht lange und es passt kaum noch ein Blatt zwischen uns. Immer wieder finden sich unsere Münder. Meine Zunge neckt die seine, die Finger in das lange schwarze Haar vergraben, dass er mir nicht entkommen kann. Eine große Hand in meinem Nacken verfolgt wohl das gleiche Ziel, während die andere streichelnd meinen Rücken entlangfährt.   ~*~   Mini-Cliffhanger ;) es geht an dieser Stelle bald aus Joshuas Sicht weite Kapitel 15: ------------ Das echte Leben ist manchmal echt sch... Ich werde mich nicht schon wieder entschuldigen, es ist leider einfach manchmal so. Pauls Sicht und damit das nächste Kapitel ist bereits in der Mache, ich wollte nur nicht wieder den Fehler begehen und 2 Kapitel auf einmal hochladen, lieber spare ich mir das zweite auf ;)   ~ 15 ~   Joshuas POV   Irgendwie fühlt es sich unwirklich an, Paul hier in meinem Bett zu haben, ihn küssen und anfassen zu können. Ich hätte es von mir selbst nie gedacht, aber für den Augenblick ist es für mich mehr als ausreichend. Seine Brust ist der meinen so nahe, dass wir uns bei unseren hektischen Atemzügen immer wieder berühren. Die Wärme seines Körpers strahlt durch die Kleiderschichten hindurch, veranlassen meine Hände dazu, immer wieder fahrig über seinen Rücken zu streichen, aus Angst, mich zu verbrennen, sollten sie jemals stillstehen. Unsere Lippen sind bald wundgeküsst und doch kann ich nicht von seinem weichen Mund ablassen, kann nicht aufhören, seine Zunge mit der meinen zu locken und in spielerischen Duellen wieder zurückzudrängen. Ich bin süchtig und verspüre nicht das geringste Interesse an einem Entzug. Paul keucht leise und gierig sauge ich diesen Laut auf, der mir direkt in die Lenden schießt. Wenig hilfreich, dass der blonde Junge in meinen Armen ausgerechnet jetzt unruhig wird und droht, ein Bein zwischen meine zu schieben. In letzter Sekunde fange ich es mit meinen Knien ab, ehe es in gefährliche Gebiete vordringt. Shit, es ist helllichter Tag und meine Familie läuft nur wenige Meter entfernt herum! Doch der vernünftige Teil meines Hirns hat es schwer, zu meinem Bewusstsein vorzudringen. Nicht dass von dieser Region in meinem Schädel heute schon viel Sinnvolles gekommen wäre. Mit einem leisen Schmatzen lösen wir uns voneinander, ringen beide nach dem dringend benötigten Sauerstoff. Fasziniert betrachte ich Paul. Seine blauen Augen sind einige Schattierungen dunkler geworden und es liegt ein glasiger Schleier über ihnen. Die Wangen sind deutlich gerötet, ebenso seine Lippen, die voll und feucht schimmern. Wie von selbst hebe ich eine Hand zu seinem Gesicht und zeichne mit dem Daumen seine Unterlippe nach. Unter meiner Berührung verzieht sie sich zu einem Lächeln, leicht verschämt und so zuckersüß, dass es fast eine Diabeteswarnung bräuchte. Wie Paul selbst. Ich werde wieder kitschig und sentimental, aber solange es keiner mitbekommt, soll es mir egal sein. Ganz normal ticke ich derzeit eh nicht mehr. Ich klaue mir noch einen Kuss, keusch mit geschlossenen Lippen. Na ja, zumindest vorübergehend.   ~*~   „Hör auf rumzuhibbeln, Josh, du machst noch alle verrückt.” Ich strafe meine Kindheitsfreundin mit Nichtachtung, lasse mich dann aber doch unter ihrem mahnenden Blick auf das abgewetzte Sofa plumpsen. Das genervte Raunen verkneife ich mir gerade noch, es dürfte mir aber deutlich anzusehen sein. „Dein Kleiner kommt schon noch”, beruhigt mich Olli, locker wie immer, von der anderen Seite des Raumes aus, was aufgrund der geringen Größe der als 'Backstage' titulierten Rumpelkammer hier nur wenige Meter sind. „Eben, also stell dich nicht so an”, hängt Sophie noch ran. Da platzt mir die Hutschnur. Seit Tagen bin ich schon aufgeregt, schlimmer noch als vor unserem ersten Auftritt, und ich fühle mich ohnehin wie ein bis zum bersten gefülltes Pulverfass, welches förmlich danach schreit, vom jemandem angezündet zu werden. „ICH soll mich nicht so anstellen!?”, brause ich auf, springe wieder auf die Füße um mich vor ihr aufzubauen. „Ey, Josh, reg dich-” „Nein, ich werde mich nicht abregen!”, unterbreche ich Olli rigoros, ohne mich von der Rothaarigen abzuwenden. „Wir klären das jetzt endlich, ich hab die Nase voll! Was zum Geier ist dein Problem mit Paul?” Sophie sieht mich erschrocken aus großen Augen an, ihr Mund klappt mehrfach auf und zu, ohne jedoch einen Ton auszuspucken. Was nicht gerade wutmindernd auf mich wirkt. „Von Anfang an versuchst du ihn mir auszureden. Warum verdammt noch mal? Jeder freut sich für mich, nur du zickst rum!” Die Frage habe ich mir tatsächlich in letzter Zeit öfters gestellt. Ich mag blind für die meisten meiner Mitmenschen sein, aber ihr komisches Verhalten ist sogar mir aufgefallen. Eine geschwisterliche Krisensitzung hat mich auch nicht weiter gebracht. Holly spekuliert, dass Sophie heimlich in mich verknallt wäre, was aber keinen Sinn ergibt, da sie mich ja anderweitig verkuppeln wollte. Homophob ist sie auch nie gewesen, oder? „Ist es, weil er ein Kerl ist?”, frage ich daher doch laut, unsicher, ob ich mich so in ihr getäuscht habe. Diesmal schüttelt sie immerhin sehr energisch den Kopf, ehe sie ein: „Nein, natürlich nicht!” herauszwängt. Na immerhin. „Aber was dann!?” Ich werfe die Arme in der Luft. Als sie nach ihrem Abwärtsflug wieder gegen meine Hüfte prallen, klirren die Ketten an meiner Hose. Anklagend, ratlos. Ebenso wie ich. Sophie weicht meinem Blick aus und presst die Lippen aufeinander. Unpraktisch, denn so wird sie mir die verlangte Antwort eher schwer geben können, Thelepathie kann ich nicht. Zum Glück, ich habe kein Interesse an den kranken Gedanken anderer Menschen, die sie nicht aussprechen. Bei dem, was auch so schon die Hirn-Mund-Barriere überwindet, seit einigen Jahren auch die Hirn-Finger-Internet-Barriere. Ich stehe kurz davor, die Antwort aus ihr herauszuschütteln. Nur mit Mühe balle ich meine Hände zu Fäusten, lockere sie wieder; atme im gleichen Rhythmus tief ein und aus. Schritte hinter mir verraten, dass Olli sich nähert. Auf wessen Seite er steht, muss sich noch zeigen. „Aaarghs!” Ihr lauter, wütender Ausruf lässt mich vor Schreck einen halben Schritt zurücktaumeln. Mit den fliegenden, roten Haaren erinnert sie kurz an eine wütende Harpie; die passenden Fingernägel dazu hat sie immerhin schon. „Okay! Du willst wissen was mein Problem ist?” Ohne meine Antwort abzuwarten, tobt sie weiter. War das nicht mein Part an dieser Stelle? „Es passiert genau das, was ich befürchtet habe! Du lässt dich von diesem kleinen Nerd total verändern! Es ist immer das gleiche mit diesen stillen kleinen Muttersöhnchen. Die finden es toll, jemanden zu haben, der so ganz anders ist, vielleicht sogar ihren Beschützer spielt, aber am Ende erwarten sie, dass man brav zu Hause sitzen bleibt und sich bloß von seinen Freunden fernhält, Party machen geht erst recht nicht mehr.” Mir bleibt der Mund offen stehen. Was zum Geier redet die da? „Übertreibst du es nicht ein bisschen?”, fragt Olli vorsichtig. „Übertreiben?” Die Furie wendet sich nun an ihn. „Du kriegst das doch gar nicht mit! In der Schule hängt er nur noch mit den Freaks rum, an uns hat er doch kein Interesse mehr. Und mit auf die Piste geht er auch nicht mehr, ein Wunder dass er überhaupt noch zu den Proben und heute zum Auftritt kommt.” Ungläubig schüttle ich den Kopf. „Sophie, was zum Henker verzapfst du da für einen Bullshit?” Ich streiche mir die Haare zurück und schließe für einen Moment die Augen, die Finger in meine Strähnen gekrallt. „Natürlich gehe ich in der Pause zu Paul. Scheiße, ich bin verknallt bis über beide Ohren, klar will ich da bei ihm sein. Und warum ich ihn nicht mit zu euch nehme ist doch auch logisch: ihr würdet ihn zum einen nur verschrecken, zum anderen geht mir eure ständige Qualmerei eh gehörig auf den Senkel. Hört auf, euch jede Pause die Lunge zu teeren und ich bin auch wieder öfter da. Vielleicht. Und warum sollte ich aktuell groß mit auf die Piste gehen? Ich bin doch sonst auch nur mit, um mir was zum Vögeln zu suchen. DAS habt ihr mir übrigens auch oft genug vorgeworfen!” Anklagend deute ich mit dem Finger auf sie, reiße mich aber wieder zusammen, als sich eine schwere Hand mahnend auf meine Schulter legt. Verbissen sehen wir beiden Kontrahenten uns in die Augen, erschrocken registriere ich das feuchte Glitzern in den ihren. „Ist es das wirklich wert? Kannst du dich nicht einfach für mich freuen?”, frage ich deutlich versöhnlicher, immer noch ratlos. „Ich hab ihn doch heute schon eingeladen, damit ich ihn auch mehr in meinem Leben integrieren kann. Bislang war es einfach noch zu frisch. Ist das nicht normal?” „Ich will dich einfach nicht verlieren”, haucht sie, fast unhörbar leise. „Aber warum kommst du überhaupt auf die Idee? Nur, weil ich jetzt auch hin und wieder Zeit mit jemand anderem verbringen will?” Mit meinem Kampfwillen ist auch sämtliche andere Kraft aus mir gewichen und ich lasse mich neben sie auf das Sofa fallen. Eine Sprungfeder bohrt sich unangenehm in meinen Hintern und ich bin froh um die Lederhose. „Du kennst Paul doch gar nicht. Ich glaube nicht, dass er mich verändern oder gar von euch fernhalten will, er hat sowas nie auch nur angedeutet.” „Es läuft doch immer gleich...” Sophie schnieft, doch schafft es nicht komplett ihre Verbitterung aus der Stimme zu verbannen. Sie kramt nach einem Taschentuch. Plötzlich schrillen bei mir die Alarmglocken, ein Verdacht regt sich in mir. „Wie heißt der Arsch?”, knurre ich. Nicht nur Sophie sieht mich an, auch Ollis Augen kann ich überrascht auf mir ruhen spüren. „Ich hab doch recht, oder?” „Wie- wie kommst du da drauf?” Zu beiläufig. Zu nervös die Finger, die ihr Taschentuch knautschen. Statt sie erneut anzuschnauzen, diesmal aus etwas anderen Gründen, strenge ich meine grauen Zellen an, krame in meinen Erinnerungen. Mit was für Kerlen hatte sie was? „Sophie”, sagt Olli eindringlich und hockt sich vor die Rothaarige. „Wenn dich einer scheiße behandelt, kannst du damit jederzeit zu uns kommen, okay?” Sie weicht seinem Blick aus, nickt jedoch zaghaft. Ich weiß nicht, was mich mehr schockiert: Sie plötzlich so verletzlich zu sehen oder die Tatsache, dass ich scheinbar noch blinder durch die Weltgeschichte laufe, als ich bislang dachte, wenn ich etwas zu gravierendes nicht mitbekommen habe. „Es- es ist schon länger her, kein Grund jetzt hier ein Drama zu machen”, mault sie leise. Ihr Unterton passt nicht ganz zu den Worten. Olli seufzt. „Okay, das kaufe ich dir zwar nicht ab, aber was soll's. Trotzdem ist das kein Grund, Joshuas Freund von vorneherein abzulehnen. Dass er sich im Moment wie ein verliebter Trottel aufführt, ist ganz normal-” „Hey!” „Klappe”, würgt er meinen Einwand rigoros ab. „aber er kriegt sich schon wieder ein. Gib dem Ganzen doch einfach eine Chance, ehe du hier ein Fass aufmachst, ja?” Als zunächst nichts kommt, hebt er mahnend eine Braue. Schließlich nickt Sophie, schaut aber weiterhin ähnlich zerknirscht wie ihr misshandeltes Taschentuch drein. Die Tür öffnet sich und meine Schwester samt Anhängsel schneien herein. Sie stoppt so abrupt, dass Martin fast in sie hineinläuft. „Alles klar bei euch?” Wir drei tauschen einvernehmliche Blicke. „Ja, alles okay”, antworte ich, sehe dabei aber Sophie fragend an. Die zuckt die Schultern und lächelt schief. „Mh-hm. Mussten nur was klären”, bestätigt sie und tupft sich vorsichtig an den Augen herum. „Wie ist die Stimmung draußen?”, fragt Olli die Neuankömmlinge und richtet sich wieder auf. Ich bewundere das Spiel seiner Muskeln unter dem engen Tanktop und frage mich insgeheim, warum ich ihn eigentlich nie über das ästhetische Maß hinaus anziehend fand. „Super. Ich habe langsam das Gefühl, es kommen wirklich Leute wegen uns und nicht nur wegen dem Bier.” Martin grinst zufrieden, sich die Hände reibend. Mit einem Mal ist meine Aufregung zurück. Bis gerade eben hatte ich sie völlig vergessen, doch nun überrollt sie mich erneut wie eine Dampfwalze. Ich springe auf und laufe im Zimmer auf und ab. Kollektives Seufzen und Augenrollen. „Ja, er ist da”, berichtet meine Schwester na mich gewandt. Schnell packt sie mich am Ellbogen, ehe ich an ihr vorbei nach draußen stürmen kann. Wieso nochmal, habe ich ihn nicht vorher abgeholt? Warum bin ich eigentlich hier drinnen? Keine Ahnung! Da war was, aber- „Hiergeblieben Mister. Wir haben ihn mit Getränken versorgt und an einem kleinen Tisch geparkt, okay? Du hast jetzt eh keine Zeit mehr.” Ein Blick auf die Uhr bestätigt sie leider. Wenn ich jetzt rausrenne, schaffe ich es wohl eher nicht mehr zeitig auf die Bühne. Aber Shit! Paul ist da und ich habe ihn nicht einmal begrüßt. „Ich sag doch, wir hätten es ihm nicht sagen sollen”, meint Martin. „Ja ja”, brummt Alexis, mich weiter festhaltend. Es klopft an der Tür, herein kommt der Kopf und eine halbe Schulter des Barbesitzers. „Seid ihr bereit?” „Yo Chef.” Olli klatscht grinsend in die Hände. „Auf geht’s! Rocken wir die Bude.” Wie in Trance folge ich der Meute, durch eine weitere Tür und ganz unzeremoniell direkt auf die kleine Erhebung, die sich Bühne schimpft. Nervös scanne ich den Raum, ignoriere die tatsächlich erstaunlich große Masse an Menschen, nur auf der Suche nach einem ganz bestimmten blonden Haarschopf. Ich finde ihn, gerade als ich an meinem Bass ankomme. Beinahe hätte ich mein geliebtes, bereitgestelltes Instrument umgeworfen. Wie verloren Paul dort sitzt. Mein Herz zieht sich zusammen, nur um bei seinem schüchternen Lächeln auf doppelte Größe anzuschwellen. Ich hebe zaghaft die Hand, winke und grinse dabei hoffentlich nur halb so grenzdebil, wie ich mich fühle. Mein Körper agiert zum Glück via Autopilot, sonst hätte ich gnadenlos meinen Einsatz verpasst. Von der kleinen Ansprache des Barbesitzers und Alexis habe ich sage und schreibe Null Komma Null mitbekommen. Auch egal, die wissen schon, was sie tun. Die Musik flutet meinen Körper und meine Sinne, meine Finger finden zuverlässig die richtigen Griffe auf den rauen Saiten. Ich nicke mit Kopf und Oberkörper im Takt, den Sophie am Schlagzeug vorgibt. Unser Gespräch schwelt in den hintersten Winkeln meines Verstandes, doch ich verbanne es noch tiefer. Später. Vielleicht. Ein weiterer Blick zu Paul hilft mir. Seine Augen sind durchgehend auf mich gerichtet, als würde er niemanden sonst wahrnehmen können, dabei hat sich der kleine Dämon namens Holly zu ihm gesellt, die heute auf die Verantwortung von Alexis hin hier sein darf. Nur die um das Bierglas gekrampften Finger verraten seine eigene Nervosität. Fühlt er sich unwohl? Nein, dafür ist sein Lächeln zu echt. Meine schwarzen Haare nehmen mir kurz die Sicht, mit einer geübten Kopfbewegung werfe ich sie zurück über meine Schulter. Meine Lippen formen stumm die Worte, die Alexis, stellenweise begleitet von Olli, ins Mikrofon singt. Wobei ich auch laut singen könnte, es würde wohl niemand hören. Kein Vergleich zu unseren ersten Auftritten. Stolz lässt mich die Schultern straffen und die Brust rausdrücken. Das hier ist meine Welt. Und egal was Sophie behauptet, ich glaube nicht, dass Paul sie mir je wegnehmen wollen würde. In wieweit er jedoch hineinpasst – nun, das gilt es ab jetzt herauszufinden.   ~*~ Kapitel 16: ------------ ~ 16 ~   Pauls POV   ~ Kurz zuvor ~   Mein erster Eindruck: Es ist dunkel, voll und völlig überfordernd. Kaum bin ich durch die Tür der genannten Adresse – gut, das Gebäude war auch recht eindeutig als Bar zu erkennen -, da verschluckt mich förmlich die vorwiegend dunkel gekleidete Masse. Oder es kommt mir zumindest so vor; Menschenmassen und ich sind eher selten zusammen anzutreffen. Nervös friemle ich am Saum des geliehenen Tshirts herum, das unter meiner geöffneten Jacke hervorlugt, dankbar es mir von Josh geliehen zu haben und hier zumindest nicht ganz so schlimm aufzufallen. Hoffentlich fragt mich niemand nach irgendwas zu der aufgedruckten Band. Ich wollte eigentlich mal YouTube befragt haben, aber... dann kam mir anderes dazwischen. Zum Beispiel die Tatsache, dass das Shirt neben dem dezenten Waschmittel auch ganz stark nach Josh selber riecht. Auch jetzt steigt mir sein Geruch in die Nase, als ich selbige mitsamt meinem Kopf tiefer zwischen die Schultern ziehe. Für mich als Außenseiter sehen einige der Gestalten hier schon mächtig eindrucksvoll aus. Nicht unbedingt aggressiv, eher imposant. An einigen Klischees ist also doch etwas dran. „Paul!” Verwundert drehe ich mich zu der vage vertraut klingenden Stimme um. Eine große Frau mit langen schwarzen, von blauen Strähnen durchzogenen Haaren kommt auf mich zu, die schlanke Gestalt in körperbetonende, - wie könnte es anders sein – schwarze Kleidung gehüllt. Ich erkenne in ihr Joshuas Schwester, Alexis, wenn mich nicht alles täuscht. Den Namen ihres Freundes, der ihr dichtauf folgt, habe ich hingegen vergessen. „Hi”, begrüße ich die beiden, unsicher lächelnd, eine Hand zum halbherzigen Winken erhoben. „Gut, dass wir dich noch finden. Komm mit, wir haben dir einen Platz reserviert.” Ohne weiter zu zögern, legt sie mir eine Hand zwischen die Schulterblätter und schiebt mich durch die Menge, welche sich vor ihrem Freund teilt, bis an den Rand des Raumes und auf einen kleinen Tisch zu. Das kleine 'Reserviert'-Schild auf der Oberfläche erklärt dann wohl auch, warum er trotz guter Lage noch frei ist. „Keine Sorge, der Tisch gehört uns”, liest der junge Mann mit den kurzen, dunklen Haaren scheinbar meine besorgten Gedanken. „Bestell dir, was du willst, geht auf unsere Rechnung.” Er zwinkert mir lächelnd zu und schon verschwinden die einzigen beiden, mir bekannten Personen wieder in der Menge. Zögernd setze ich mich. Obwohl bislang alle um mich herum nett zu sein scheinen, fühle ich mich unwohl. Zu viele Menschen, zu laut, zu voll, zu unbekannt. Meine Haut beginnt zu kribbeln, ebenso mein Magen. Adrenalin, soviel weiß ich noch aus dem Biologiekurs. Ich versuche mich bewusst zu entspannen und nehme einen tiefen Atemzug, dabei steigt mir erneut Joshuas Geruch in die Nase und lässt mich unbewusst lächeln. Und erinnert mich daran, warum ich überhaupt hier bin. „Hey, kann ich dir was zu trinken bringen?” Die fröhliche Stimme bringt mich fast dazu, vor Schreck vom Stuhl zu hüpfen. Adrenalin habe ich ja schon genug im Kreislauf. Netterweise kommentiert es die Kellnerin nicht, sondern lächelt nur weiter abwartend zu mir runter. „Äh...” Mein Kopf ist leergefegt. Trinken? Was gibt es da für Möglichkeiten? „Ein Bier, bitte”, sage ich das Erste, was mir einfällt. Kaum ist die Dame weg, könnte ich meinen Kopf auf die Tischplatte hauen. Ob Alkohol jetzt wirklich die beste Idee ist? Ich weiß ja nicht. Aber ein Bier wird mich schon nicht so betrunken machen, hoffe ich zumindest. Wirklich viel gegessen habe ich vor Aufregung heute noch nicht. Ein tiefes Seufzen verlässt meine Kehle. Während ich auf mein Bier warte, blicke ich mich um, jetzt, wo ich einigermaßen sicher sitze und niemanden mehr suchen muss. Eigentlich wirkt die Bar ganz gemütlich, mit dem ganzen dunklen Holz, den gepolsterten Stühlen und Bänken und dem warmen, indirekten Licht, das Wände, Dekoration und die bunten Flaschen hinter der Theke beleuchtet. Wäre die Farbgebung mehr ins Grüne und das Klientel bunter, hätte es auch fast der Irish Pub von meiner Geburtstagsfeier sein können. Die Bühne vor mir ist im Grunde eine kleine Plattform, zu der durchgehend drei flache Stufen hinaufführen. Gut möglich, dass sie an normalen Tagen ebenfalls voller Tische steht oder aber als Tanzfläche dient. Hat man überhaupt Tanzflächen in Bars? Ich habe keine Ahnung. Links von mir, unmittelbar vor der Bühne, ist ein größerer Bereich freigeräumt, aber das hängt vermutlich nur mit dem Auftritt der Band zusammen. Mein Getränk kommt und ich bedanke mich. Die Kellnerin nickt und geht weiter. Ich nippe an meinem Bier und verziehe beim ersten Schluck das Gesicht. Warum trinke ich das Gesöff eigentlich ständig, obwohl es mir zu Anfang gar nicht schmeckt? Es wird besser, je mehr ich trinke, aber paradox ist es dennoch. Auf dem kalten Glas vor mir bildet sich Kondenswasser, einzelne Tropfen formen sich heraus und beginnen ihren Weg nach unten zu suchen, verbinden sich mit weiteren kleinen Tropfen, werden schneller, je größer sie werden. Zeitgleich herrscht im bernsteinfarbenen Inneren die gegenteilige Dynamik: In steten Strömen steigen kleine Bläschen an die Oberfläche, unbeeindruckt von ihren Mitreisenden, bis sie oben im Schaum ankommen. Das Glas selbst zeigt die Gebrauchsspuren seiner Dienstjahre; feine Kratzer zerstören die einstmals glatte Oberfläche und die goldene Schrift des Markennamens wirkt trüb und abgenutzt. Ich werde aus meiner leicht philosophischen Betrachtung des Bierglases gerissen, als die Menge um mich herum unruhig wird und sich, wie das Licht, auf die Bühne zu fokussieren beginnt. Nach und nach kommen die einzelnen Bandmitglieder von der anderen Seite aus einer unscheinbaren Tür hinaus und hoch auf das kleine Podest, auf dem die Instrumente bereits warten. Kaum erblicke ich Joshua, beginnt mein Herz zu rasen und ich fühle, wie sich meine Mundwinkel selbstständig heben. Er hat es wohl etwas schwerer, mich zu finden, doch kurz bevor er bei seinem Bass ankommt, entdeckt auch er mich und erwidert mein Lächeln. Nur kurz streife ich die anderen vier Bandmitglieder. Lediglich den großen Kerl mit der Lockenmähne und dem Vollbart kenne ich bislang nur aus Joshuas Erzählungen, das muss dann wohl Olli sein. Das Mädchen am Schlagzeug mit den rubinroten Haaren kenne ich aus unserer Stufe und Alexis und ihren Freund sowieso. Joshuas Schwester richtet ein paar Worte an ihr Publikum, dann zählt Sophie am Schlagzeug den Takt an und die Truppe legt los. Ich habe nicht wirklich viel Ahnung von Musik, von Metall – oder auch nur Hardrock – noch viel weniger, doch zum Glück klingt es zumindest jetzt am Anfang nicht so hart wie erwartet. Der Stuhl neben mir wird zurückgezogen und kaum drehe ich den Kopf, grinst mir die kleine Schwester meines Freundes breit entgegen. „Hi Paul!”, ruft sie mir über die beachtliche Lautstärke hinweg zu. „Hey Holly”, erwidere ich etwas überrascht. Hieß es nicht, sie könne nicht mitkommen? Na egal, ist nicht mein Problem. Ich festige den Griff um mein Glas und sehe wieder zu den Musikern hinauf. „Die spielen toll, oder?” Holly lässt sich nicht beirren. Ich zucke mit den Schultern. „Ja... denke schon.” Auf jeden Fall finde ich es nicht scheiße. Alexis' hat eine tolle Stimme, den Takt scheinen auch alle zu halten. Ahnung mag ich zwar keine haben, aber mir gefällt es. Und selbst wenn nicht... Josh sieht verdammt heiß aus. Meine Wangen werden rot, bei dem Gedanken, doch ich kann die Augen nicht von ihm nehmen. Das Shirt spannt um seinen Körper, die langen Haare fliegen nur so um ihn herum. Er strahlt ein Selbstvertrauen aus, wie er zielsicher sein Instrument führt und dabei seinen ganzen Körper zur Musik bewegt. Ein kurzer Blick zur Seite zeigt, dass er damit nicht alleine ist, doch schnell finden meine Augen wieder zu ihm zurück. Je nachdem, wie er sich bewegt, blitzt ein Streifen heller Haut zwischen seinem Shirt und dem Bund der tiefsitzenden Hose hervor. Meine Finger beginnen zu kribbeln, aus ganz anderen Gründen, als noch wenige Minuten zuvor. Dass Musik aufputschend wirken kann, wusste ich, aber so ist mir das bislang noch nicht passiert. Immer häufiger habe ich mich in den letzten Tagen dabei erwischt, wie ich über zunehmend weniger keusche Dinge nachdenke. Und ohne Frage spielt Joshua darin eine sehr prominente Rolle. Meine Pubertät kommt scheinbar etwas zu spät, anders kann ich mir nicht erklären, warum ich mich mit achtzehn aufführe, wie andere Jungs mit dreizehn bis fünfzehn. Damals hab ich nur den Kopf geschüttelt über hormongesteuerte Teenies mit zu viel schmutziger Fantasie. Ich rutsche auf meinem Stuhl herum. Mit einem Mal ist er sehr unbequem.   Mein Bier ist warm und immer noch zur Hälfte gefüllt, als die Mädels und Jungs ihre letzte Zugabe beendet haben. Ich konnte zwar nicht so mitgehen, wie der Rest der Zuschauer, aber klatschen zum Abschluss schaffe selbst ich. Das gedimmt Licht erhellt sich wieder und noch während auf der Bühne alles wieder in Ordnung gebracht wird, ertönt leise Hintergrundmusik aus der Dose. Grinsend und verschwitzt hüpft Joshua zu uns runter, kaum, dass er seinen Bass in einem Koffer verstaut hat. Er ignoriert die Menschen, die sich zu ihm wenden, auf seine Schulter klopfen oder auf eher lautstarke Weise ihre Begeisterung mitteilen. Doch all das scheint ihm egal zu sein, sein Blick ist stur auf mich gerichtet. „Hi”, krächzt er atemlos, sobald er bei mir ankommt. „Hey”, krächzte ich ebenfalls, jedoch weniger vor Anstrengung. Ich überbrücke die letzte kurze Distanz zwischen uns und schon liegen seine starken Arme um meinen Rücken und ziehen mich an ihn. „Oh!” Erschrocken schiebt er mich wieder von sich. Mein Herz, das bis gerade noch bis oben hin gepoltert hat, rutscht mir in die Kniekehlen. Was-? „Sorry, ich bin ganz verschwitzt!” Entschuldigend blickt Joshua an sich hinab und dann wieder zu mir auf. Ich atme erleichtert aus und grinse. „Egal.” Ich packe die Seiten seine tatsächlich feuchten Shirts und ziehe ihn wieder zu mir. Kurz kommt mir der Gedanke, ob es ihm nicht viel eher unangenehm sein könnte, in aller Öffentlichkeit mit einem anderen Jungen mehr als ein freundschaftliches Schulterklopfen zu tauschen, doch da beugt er sich schon grinsend zu mir hinab und drückt seine Lippen auf meine. Wäre es nicht eher an mir, das unangenehm zu finden? Vielleicht, aber das sanfte Saugen an meiner Unterlippe fühlt sich viel zu gut an. Und als meine Finger, immer noch in den Stoff gekrallt, Kontakt mit seiner erhitzten Haut kriegen, ist mein Kopf wie leergefegt. „Ich sollte mir wirklich was Frisches anziehen”, raunt Joshua, sein Atem streift über meine Wange. „Hmpf. Wenn's sein muss...” Ja, ich schmolle. Ein klitzekleines bisschen vielleicht. „Komm doch mit”, zwinkert er mir zu. „Darf ich das denn?” Skeptisch schiele ich zu der Tür in die hinteren Räume. Mein Freund schnaubt. „Das ist doch keine Arena und wir auch keine Boygroup. Klar, darfst du mit.” Und ohne weitere Proteste oder Bedenken abzuwarten – die nicht mehr erfolgt wären – packt er meine Hand und zieht mich bis zur erwähnten Tür und hindurch. Auf dem winzigen, kahlen Flur kommen uns die anderen Bandmitglieder entgegen, inklusive Holly. „Wir setzen uns noch ein wenig”, teilt uns die Älteste der Geschwister mit. „Ein bisschen trinken, als Abkühlung”, hängt der große Kerl mit den wilden Locken unnötigerweise dran. „Du meinst wohl, Groupies aufreißen”, kommentiert Joshua frech und weicht einem lockeren Schwinger aus. „Na na, nicht so vorlaut. Du scheinst ja selbst schneller gewesen zu sein. Macht bloß keine Unordnung da hinten.” Der Typ grinst und zwinkert uns zu. Mein Gesicht wird heiß. Wo ist das Loch, wenn man es braucht? „Ach, sei doch still.” Grummelnd schiebt Joshua sich an ihm vorbei und führt mich in den leeren Raum hinein. Was mir als erstes auffällt, ist die nicht vorhandene Fläche, dicht gefolgt von dem Sofa, was aussieht, als hätte man es vom Sperrmüll geholt. „Nicht gerade ein Nobelschuppen”, kommentiert der Schwarzhaarige und kratzt sich verlegen am Kopf. „Aber immerhin haben wir irgendwas, um vorher und hinterher kurz durchzuatmen.” Das tut er auch, mit einem leisen Seufzen. „Ach, und nimm Olli nicht zu ernst, der labert gerne Müll.” Ich nicke brav, obwohl meine Wangen wohl immer noch jeder Tomate Konkurrenz machen könnten. Mehr als nur Knutschen wollen ist eben doch etwas anderes, als wenn andere Leute denken, wir würden wirklich mehr als das tun. Joshua bekommt von meinen Gedanken nichts mit und dass er die ganze Situation auch offensichtlich lockerer nimmt, zeigt mir seine nächste Aktion recht deutlich. Ohne groß zu zögern, packt er den Saum seines Shirts und zieht es sich über den Kopf. Nur zwei Schritte von mir entfernt. Mein Mund wird furchtbar trocken und ich wünsche mir mein warmes Bier zurück. Auch als Haltestange für meine Finger, die unwillkürlich zucken. Ich beiße mir auf die Unterlippe, doch egal wie sehr ich mich bemühe, ich kann den Blick nicht von ihm abwenden. Wie er da steht, seitlich zu mir, leicht vorüber gebeugt und in seiner Tasche kramend, die auf dem schrottreifen Sofa steht. Die Haut von einem glänzenden Schweißfilm überzogen. Ich kann nicht anders. Mein Verstand schwenkt eh schon die weiße Flagge und so übernehmen meine Triebe, die ohnehin erst wirklich erwacht sind, seit Josh in mein Leben getreten ist. Nur am Rande bekomme ich mit, wie er zischend Luft holt. Viel zu sehr bin ich gefesselt von der Hitze, die seine Haut ausstrahlt. Die weiche und doch feste Textur, die kleinen Hubbel seiner Gänsehaut unter meinen Fingerkuppen. Seine Flanke zuckt unter meiner Berührung. Langsam dreht er sich zur mir um. Ertappt will ich meine Hand zurückziehen, aber er packt sie und führt sie zurück zu dem unteren Schwung seines Rippenbogens. „Anfassen erlaubt”, sagt er, mit leicht belegter Stimme. Ich folge seiner Einladung, ehe ich es mir noch anders überlege. Deutlich hebt sich seine Brust unter den Atemzügen, scheint sich mir noch entgegenstrecken zu wollen, obwohl der Rest des Körpers fast statuenhaft stillhält.. Kleine Schauer perlen als feine Gänsehaut sichtbar über sie hinweg. Fasziniert folge ich den unsichtbaren Spuren, quer über die Rippen, oberhalb des Nabels über die flache Bauchdecke und wieder aufwärts. Je weiter ich komme, desto deutlicher spüre ich den schnellen Herzschlag. Seine Haut ist glatt, abgesehen von der schmalen Spur schwarzer Haare, die sich vom Bauchnabel aus südwärts unter den Hosenbund schlängelt und über die ich aktuell lieber noch nicht zu viel nachdenken will. Lieber schaue ich vor mich, auf das was ich sehen kann. Die Haut seiner Vorhöfe ist einige Schattierungen dunkler als der ohnehin leicht gebräunte Rest von ihm. Kurz zögere ich, kann dann aber doch nicht widerstehen und berühre ihn auch dort. Joshua keucht, mit einem Mal kommt Bewegung in ihn. Ehe ich mich versehe, hat er mich gepackt und in einen hungrigen Kuss gezogen. Vor Überraschung öffne ich den Mund, was nicht ungenutzt bleibt. Heiß tanzt seine Zunge um die meine, jede Berührung unserer Zungenspitzen sendet kribbelnde Schauer über meinen Leib. In meiner Mitte zieht es drängend. Begierig nach noch mehr Nähe, drücke ich nicht nur meine Hände auf seinen nackten Oberkörper, sondern drücke mich mit meinem ganzen Körper gegen ihn. Wir stöhnen beide gedämpft auf. Joshua hat die Hände auf meine Taille gelegt, das Shirt war kein Hindernis für ihn. Brennend liegen seine Finger auf meiner bloßen Haut und mir entweicht ein frustrierter Laut, weil er nichts weiter macht. Außer mich um den Verstand zu knutschen, um den es vorher schon nicht gut bestellt war. Ein zaghafter Biss in meine Unterlippe, dann lässt er von mir ab, hält mich aber weiterhin fest. Der Blick seiner verschleierten Augen, die Iris dunkler als gewöhnlich, bohrt sich förmlich in den meinen. „Langsam”, haucht er leicht außer Atem. „Sonst komm ich noch auf die Idee, dass ich mein Tshirt zurückhaben will.” Bedeutungsvoll zupft er an dem Stoff und beginnt, ihn langsam anzuheben. „Hm...” Gespielt nachdenklich lege ich den Kopf schief, im Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. „Und was soll ich dann anziehen?” Er grinst schief. „Nichts?” „Nichts?”, hake ich nach, eine Braue erhoben. „Hm-hm”, brummt er abgelenkt. Seine Augen flackern nach unten, wieder hoch, bis sie schließlich südlich gerichtet bleiben. Erst jetzt wird mir der kalte Luftzug bewusst, der im krassen Kontrast zu der von ihm ausgehenden Körperwärme steht. Die Finger an die Seiten meines Brustkorbs gelegt, lässt er die Daumen zeitgleich um meine Nippel kreisen. „Ah!”, keuche ich erschrocken, zucke leicht zusammen. Empfindlichkeiten an dieser Zone sind mir neu und so trifft es mich doppelt unvorbereitet. Seine Reaktion ist ein tiefes Raunen, betont langsam blickt er wieder zu mir auf. Seine Zungenspitze teilt die Lippen und huscht befeuchtend an ihnen entlang. Ich starre darauf. Hungrig. Anders kann ich meine Gefühle gerade nicht beschreiben. Hungrig, gierig, ruhelos. Nicht weit entfernt von uns knallt eine Tür. Die Seifenblase unserer Zweisamkeit zerplatzt jäh. Wir fahren auseinander, sehen uns schon beinahe erschrocken an. Ich schlucke und richte mein Oberteil, mustere beschämt den Boden. Was war nur in mich gefahren? So bin ich doch sonst nicht! Joshua hat es auf einmal sehr eilig, sich ebenfalls zu bekleiden. Der Inhalt seines Rucksacks verteilt sich im halben Zimmer, aber immerhin findet er jetzt sein Ersatzshirt. Schade, eigentlich.   ~*~   Ja, ich bin gemein ; Kapitel 17: ------------ Wichtige Frage: Besteht Bedarf an zusätzlichen, zensierten Kapiteln? Wenn ja, bitte in die Kommentare oder anonym per ENS an mich. Andernfalls werden in Zukunft nur Kapitel mit 18+-Freigabe erscheinen, die natürlich auch relevante Handlung enthalten. (Sprich, bei zusätzlichen, zensierten gibt es 2 Versionen, eine so weit zensiert, dass es kein Adult braucht. Machen andere Autor:innen ja schon vor.) Ich habe leider keinen Überblick über das Alter meiner Leser:innen ;)     ~ 17 ~   Joshuas POV   Da sitzen wir nun, im lauten Schankraum, einen Teil meiner lauten, teils deutlich angeschickerten Sippschaft um uns herum. Ich bleibe nüchtern, das Los, via dem kürzesten Hölzchen, ist heute in meinen Fingern gelandet und hat mich damit zum Fahrer auserkoren. Alexis untersucht seit geraumer Zeit die Mandeln ihres Zukünftigen mit der Zunge (Igitt!), Sophie flirtet mit dem Kellner und Olli erzählt gerade mehr oder weniger schmeichelhafte Anekdoten aus unserer Bandzeit seiner aufmerksam lauschenden Zuhörerschaft, die in erster Linie aus Holly und Paul besteht. Paulchen umklammert schon wieder ein Bierglas, ich dafür ihn. So ein Pech, dass nur noch ein Stuhl frei war, schlimm schlimm. So kann jeder direkt erkennen, dass der kleine Blonde ganz alleine mir gehört, sehr praktisch, nicht ständig Leute verjagen zu müssen. Ich grinse und küsse seinen Nacken, puste sanft in die weichen, wirren Härchen. Den Schauer, der ihn daraufhin durchfährt, kann ich durch seinen gesamten Körper rinnen spüren. Er zieht kaum merklich die Schultern hoch und drängt sich etwas enger an mich, seine zweite Hand drückt die meine. Unsere Finger ruhen verflochten auf seinem Bauch, nur mein Daumen ist frei und streichelt unablässig über den Stoff. Ich kann immer noch nicht recht glauben, wie er eben rangegangen ist, beinahe forsch. Mein kleines, blondes Engelchen mit den großen Unschuldsaugen hat mehr Feuer, als ich ihm zugetraut hätte. Und vermutlich auch mehr, als er selbst von sich dachte, so erschrocken, wie er guckte. Wie weit wir wohl gehen würden, wären wir jetzt nicht hier, sondern ungestört? Meine Libido spielt verrückt und würde es nur zu gerne sofort herausfinden, doch ein anderer, erst seit kurzem entdeckter Teil ist auch vollauf damit zufrieden, Paul einfach hier in meinen Armen halten zu dürfen, Geilheit hin oder her. Auch wenn der seinen kleinen, prallen Hintern immer wieder aufreizend in meinem Schoß herumrutschen lässt und meiner Erregung so nicht wirklich beim Abkühlen hilft. Kleines Teufelchen im Engelsgewand. Dass er sich dessen vermutlich nicht bewusst ist, macht es nur noch schlimmer. „Fliegen bei euch eigentlich auch schon BHs auf die Bühne?”, fragt Holly neugierig und nuckelt unschuldig lasziv an ihrem Strohhalm, dessen anderes Ende in einem fancy Modedrink steckt, dessen Ausschenkung hier schon fast einem Wunder gleichkommt und den sie offiziell garantiert noch nicht selber bestellen dürfte. Mir entgeht jedoch nicht, dass auch Paul immer wieder begehrliche Blicke auf die fröhlich herumschwimmenden Tiefkühlfrüchte in dem Drink wirft und sein eigenes Bier nur pflichtschuldig nippt. Vielleicht sollte ich ihm auch so einen Mix ordern... nur wie hieß der noch gleich? „Bislang noch nicht”, lacht Olli auf die Frage hin. „Ich hätte auch keine Ahnung, was wir damit anfangen sollten.” „Ich finde das eh komisch. Warum macht man das?”, fragt Paul. Ich zucke mit den Schultern. „Durchdrehende Hormone?”, mutmaße ich. „Was wäre eigentlich das Äquivalent bei Männern?”, überlegt meine jüngste Schwester, sich ans Kinn tippend. „Unterhosen?” Olli überlegt mit. „Lecker, am besten mit Bremsspur drin.” Mich schüttelt's und zwar nicht von der guten Sorte. „Oder benutzte Kondome.” „Ihr seid Ferkel!”, beschwert sich Holly. „Ne, aber so manche anderen Männer.” „Was würdet ihr denn werfen?”, fragt sie frech zurück. Wir überlegen. „Nichts?”, schlage ich vor. „Mir fällt auch nichts ungefährliches ein”, stimmt Olli zu. Paul auf meinem Schoß versteift sich ein wenig, den Kopf leicht seitlich gedreht, dass ich erkenne, dass er mit einer zarten Röte im Gesicht an seiner Unterlippe nagt. „Ein Penny für deine Gedanken”, raune ich ihm zu, während meine Schwester und mein Kumpel das Für und Wider von Bier und ähnlichem als Dankesgeschenk diskutieren. Blaue Augen begegnen meinem Blick, verschwinden halb unter gesenkten Lidern. Seine Unterlippe wird noch mehr malträtiert, sie ist schon ganz geschwollen und mein Lustzentrum produziert ungefragt Bilder von diesen heißen Lippen um ganz andere Körperstellen von mir. Die hervorblitzende rosa Zungenspitze entlockt mir beinahe ein Stöhnen. Gott sei Dank verbirgt Paul meinen Unterkörper, das könnte sonst peinlich werden. Er schüttelt den Kopf, wird noch roter. „Besser nicht.” „Schade”, schmunzel ich, bohre aber nicht weiter, so neugierig ich auch bin. Ob er ähnlich versaute Gedanken hat, wie ich? Die Unterhaltung plätschert weiter so dahin und ich lasse mich berieseln, froh, dass Paul auch hier ganz selbstverständlich mit aufgenommen wurde. Okay, Sophie beteiligt sich eher wenig und verschwindet irgendwann dann auch mit ihrem Flirt, aber Olli und einige Stammgäste und Gästinnen, die sich zu uns gesellen, verlieren keinen blöden Kommentar. Zum Glück, sonst hätten die mich kennengelernt! Nicht wegen mir, sondern wegen meinem süßen Freund, der einerseits so herrlich schüchtern, auf der anderen Seite jedoch nicht bereit ist, den sehr offensichtlichen Platz auf meinem Schoß zu räumen. Im Gegenteil. „Hey, Josh”, begrüßt mich eine leicht rauchige Frauenstimme von schräg hinten. Ich blicke über meine Schulter und erkenne eine alte... Bekannte. Die gebürtige Spanierin lächelt mich mit den dunkel geschminkten Lippen an, sich das dunkelviolette Haar über die Schulter werfend, wodurch der Blick interessierter Menschen fast zwangsläufig auf ihr mit Rüschen verziertes Korsett in ebenfalls violett und schwarz fällt. Sie bleibt ihrem Namen nach wie vor treu. „Hi, Violeta”, grüße ich höflich zurück, nicke ihr zu, widerstehe aber erstaunlich leicht dem natürlichen Trieb, ihre Gestalt eingehender zu mustern. Meine Gedanken sind immer noch voll von dem kurzen Eindruck nackter Paul-Haut, in ihrer vollkommenen Blässe und unschuldiger Reinheit. Mein Schwanz zuckt zustimmend in meiner Hose. Paul auf mir versteift sich und mustert die Dame nun seinerseits. Auch Violeta bemerkt ihn erst jetzt richtig. Sie legt den Kopf schief, hebt eine maximal gezupfte Braue, schnaubt leise und lächelt dann doch wieder lasziv. „Ich wusste gar nicht, dass du auch am anderen Ufer fischst”, bemerkt sie, wie beiläufig. Sie tritt dichter an uns heran, wohl der allgemeinen Lautstärke wegen, doch ihre Hand auf meiner Schulter erklärt dieser Umstand wohl nicht. Ich hebe besagte Schulter gleichgültig. „Ich habe nie behauptet, mich festzulegen. Im Gegenteil, ich mag Menschen, keine Geschlechter.” „Ein bisschen bi schadet nie”, zwinkert sie mir zu. Ich schnaube empört. „Pansexuell, bitte schön!” „Okay, okay, beruhig dich”, kapituliert sie lachend. Gut so, da kenne ich keinen Spaß! Für mich ist das ein großer Unterschied! „Und dein Schnuckelchen hier?”, fragt sie unverblümt weiter. Ich folge ihrem Blick zu Paul, dessen Ausdruck von empört, zu verblüfft, zu leicht unsicher wechselt. Er schüttelt den Kopf. „Ne, ich... ich nicht”, stammelt er sich zusammen. Violeta legt den Kopf schief. „Nur Männer? Schade.” Sie zieht einen perfekten Schmollmund, der ihrer guten Laune aber keinen Abbruch tut. „Dann werde ich mich wohl weiter umgucken müssen, so was trauriges aber auch”, seufzt sie theatralisch, winkt und zieht weiter. Paul sieht ihr fassungslos nach, ehe er sich wieder halb zu mir wendet. „Was war das denn für eine?” „Das?” Ich verziehe leicht das Gesicht. Wie soll ich ihm das jetzt schonend beibringen? Ich bin mir mit einem Mal gar nicht sicher, ob er überhaupt um mein lotterhaftes Vorleben weiß. „Das... war Violeta. Eine alte Bekannte, sozusagen.” „Alte Bekannte, ja?”, fragt Paul mit einem merkwürdigen Unterton zurück. Ich kann nur schon wieder die Schultern heben. „Ja?” Er scheint zu überlegen, klappt ein paar Mal den Mund auf, nur um dann doch stumm zu bleiben. Er schnaubt, seufzt und entspannt sich schlussendlich doch wieder. Was immer in seinem hübschen Köpfchen vor sich geht, er lässt mich nicht daran teilhaben, macht es nur für sich aus. Hoffentlich zu meinen Gunsten, sonst darf ich zu Kreuze kriechen. Würde ich auch, ohne Frage, aber nur, wenn ich weiß, warum. Eigentlich klischeemäßig etwas, das man Frauen vorwirft, aber ich weiß es besser. Auch Männer können nachtragend sein und sind vortreffliche Meister im 'Nichts ist, Schatz, was soll schon sein'-Schmollen. „Ich wusste gar nicht, dass du pan bist...”, wechselt er nuschelnd das Thema und interessiert sich plötzlich wieder brennend für sein Bierglas. Nun ist es an mir, laut zu seufzen. Ich hab's geahnt. „Bin ich. Eigentlich. Aber jetzt, jetzt will ich nur dich, ganz egal was vorher war. Ganz egal, ob Männlein, Weiblein oder Divers.” „Wirklich?” Mit großen Augen guckt er mich von unten her an. „Aber eben, da...” Er errötet schon wieder und schafft es nicht, den Blickkontakt zu halten. Ich lächel aufmunternd und festige den Griff um ihn, ziehe den schmalen Leib, der so perfekt an meinen passt, an mich, bis ich mit den Lippen sein Ohr streife. „Ich habe eben daran gedacht, wie egal mir ihr Outfit ist und wie sehr ich unsere Zweisamkeit eben im Backstage genossen habe”, raune ich ihm direkt in den Gehörgang. Sein ganzer Körper erzittert, ob meiner Worte, meiner Stimmlage, meinem Atem an dieser empfindlichen Stelle oder gar allem drei. „Sa-Sag das doch nicht einfach so!”, quiekt er, nur halb aus Entsetzen. Seine Finger krallen sich förmlich um meine, er windet sich, wodurch sein Po wieder in gefährdete Bezirke rutscht. „Warum denn nicht? Stimmt doch.” Ich grinse in mich hinein. Paulchen ärgern macht irgendwie Spaß. „Darum!”, erwidert er prompt, wenn auch inhaltlich wenig schlagfertig. „Aber wenn es doch stimmt”, lasse ich noch nicht locker. „Aber keine Sorge, ich hab wirklich nur Augen und alles andere für dich. Niemanden sonst. Und komm bloß nicht auf so quatschige Ideen, wie, dass ich irgendwas vermissen könnte oder so, das ist Schwachsinn.” „Aber... ich bin doch nur so... und überhaupt... ”, stammelt er weiter. Ich küsse seinen Nacken und bringe ihn damit effektiv zum Schweigen. Ich glaube zu ahnen, was ihn plagt, sonderlich viel Gedankenlesen muss man dafür vermutlich nicht können. „Nichts da. Du bist toll, so wie du bist und mir mehr als genug. Ganz sicher. Und der Rest ergibt sich schon irgendwann. Entspann dich.” Diesmal braucht es ein bisschen länger, ehe die Spannung aus ihm weicht. „Okay”, erklärt er schlussendlich. „Ich will nicht, dass dich jemand anderes anfasst”, murmelt er fast unhörbar und doch mit entschlossenem Unterton. Ich lache, befreit und irgendwie glücklich. Ist da etwa jemand eifersüchtig? „Keine Sorge.” Ich knuddel ihn ein wenig durch, einfach, weil ich es kann und erfreue mich an seinem entrüsteten Quieken. So süß! „Und dich darf auch niemand anfassen!”, stelle ich sicherheitshalber klar. Er lächelt – nein, er strahlt – mich über seine Schulter hinweg an. „Nur du”, verspricht er. Ich nicke ernst. „Nur ich.” Dann grinse auch ich wieder. Und mache das direkt. Also, das Anfassen, ganz züchtig natürlich, sind ja nicht alleine. Paul lehnt sich wieder entspannt gegen mich und steigt nach kurzem Orientieren wieder in die laufende Unterhaltung ein. Unglück abgewendet, würde ich mal sagen.   Einige Zeit später muss ich dann doch dem Ruf der Natur folgen. Mein Freund klebt an mir, wie Pattex, entscheidet sich im letzten Moment jedoch, zumindest nicht mit ins ohnehin kleine, enge Klo zu kommen. Das wäre selbst mir zu viel des Guten gewesen. Die allgemeine Geräuschkulisse hat sich auch schon wieder etwas gelegt, man muss nicht mehr schreien. Hat aber auch den Nachteil, dass persönliche Gespräche eher mitgehört werden können, sofern die Lauscher nicht von davor noch taub sind. Ich wasche mir die Hände und komme wieder aus der Toilette raus. Wie erwartet, steht Paul noch davor an die Wand gelehnt. Ich trete auf ihn zu, lege meine Hände an seine Wangen. Erwartungsvoll reckt er sich mir entgegen und wer wäre ich, dem zu widerstehen? Wie selbstverständlich finden sich unsere Lippen, schmusen träge gegeneinander, bis sich auch unsere Zungenspitzen finden. Es schickt jedes Mal Blitze durch meinen Körper, ein konstanter, anhaltender Elektroschock, während unsere Zungen sich umkreisen und miteinander ringen. Einen Kampf, bei dem es nur Gewinner geben kann, bei dem Nachgeben ebenso belohnt wird, wie mutiges Voranstoßen. Als wir uns voneinander lösen können, sind wir beide etwas außer Atem, aber glücklich. Sein Strahlen bringt meine ohnehin schon wackeligen Knie beinahe zum Einknicken. Er ist eben zum Niederknien. „Was?”, fragt er atemlos. „Ach nichts. Ich finde dich nur einfach so toll”, gestehe ich und stehle mir noch einen kurzen Kuss. „Du bist doof”, motzt er leise, peinlich berührt, aber immer noch strahlend. „Ein bisschen”, stimme ich ihm zu, leugnen zwecklos. „Komm.” Ich lege einen Arm um seine Hüfte und schiebe ihn sanft Richtung Theke. Dort angekommen, ordere ich diesen komischen Drink, ertrage den komischen Blick der Barkeeperin mit Fassung und drücke ihn anschließend Paul in die Hand, dass die Eiswürfel und gefrorenen Beeren nur so klimpern. „Äh... danke?” Verwundert blickt er von mir zum Drink und zurück. „Bitte. Den wolltest du doch eigentlich, oder?” „Ähm... vielleicht”, gibt er beschämt zu. Ich hebe sein Kinn wieder an. „Wenn du etwas willst, dann sag es bitte. Du brauchst dich nicht schämen, egal was es ist. Ich kann nicht immer Gedankenlesen, aber ich bin immer für dich da, okay?” Er lächelt, einen wehmütigen Zug um die Mundwinkel. „Danke, Josh. Wirklich.” Okay, jetzt wird die Gefühlsduselei auch mir wieder zuviel. Ich mache einen auf möchtegerncool, nicke Richtung unserem Tisch. „Sollen wir wieder?” Paul zögert, kommt mir aber plötzlich sehr nahe und küsst mich auf die Wange. „Danke”, wiederholt er.   ~*~   Ich sehe ihm nach, wie er die kurze Einfahrt zu seinem Haus zurücklegt. Es dauert ein bisschen, dann hat er die Haustür entriegelt, dreht sich ein letztes Mal um und winkt. Ich winke zurück, debil grinsend. Holly tut es mir nach, aber ich beachte sie nicht weiter. Die Jüngsten im Bunde waren zum Schluss ordentlich angetüdelt und zunehmend anhänglich. Man hätte die beiden locker für Geschwister halten können, fast noch mehr als sie und ihren echten Zwilling, aber bei allen angeblichen Gottheiten dieser Welt, hat Paul einen Stammbaum weit entfernt von meinem. Ich schüttel den Kopf über meine wirren, abstrusen Gedanken. Es ist spät, auch für mich, selbst ganz ohne Alkohol. Olli haben wir schon abgesetzt, also muss ich nur noch Alexis und Martin kutschieren und kann dann mit Holly im Schlepptau gen heimischem Bett fahren. Das Bett begrüßt mich auch mit weichen, frisch gewaschenen Laken, in die ich tief einsinke. Schlafen. Schönes Schlafen. Und hoffentlich träumen; von unschuldig versauten Paulchen mit alabasterfarbener Haut und Haaren und Augen wie Engel, in einem Land voller Kitsch und rosa Wattewölkchen...       ~*~   Ich fand Wildberry Lillet schon toll, bevor es cool war. Ätsch ;P bzw. gefrorene Beeren in Sekt oder anderen Mischen Kapitel 18: ------------ Dieses Kapitel entstand in meinem Kopf schon recht früh und ich hatte immer einen gewissen Respekt davor, es irgendwann schreiben zu müssen, obwohl ich die Situation aus persönlicher Erfahrung gut nachvollziehen kann. Ich habe mich dazu entschieden, sie aus Joshuas Perspektive zu schreiben, um eine gewisse Distanz für mich und euch Leser:innen zu wahren. Es ist etwas länger geworden, aber ein Cut wäre zu grausam gewesen.   Dennoch: Triggerwarnung Depression von Familienangehörigen, Nervenzusammenbruch Für alle, die das aktuell nur schwer lesen können, habe ich eine Markierung eingefügt, ab der ihr Abstand nehmen und erst an der nächsten Markierung weiterlesen könnt, inklusive kurzer Zusammenfassung.   ~ 18 ~   Joshuas POV   Unser Haus liegt still da, als ich die leise hicksende Holly in den Hausflur bugsiere. Sie schwankt bedrohlich und ich bin wirklich froh, dass uns keiner begegnet. Meine Eltern sind zwar grundsätzlich entspannt, trotzdem will ich nicht austesten wie sie reagieren, wenn ich meine minderjährige kleine Schwester dermaßen knülle wiederbringe, wo sie doch unter meiner Obhut stand. Wobei... eigentlich stand sie unter Alexis' Obhut, also wäre die es Schuld. Andererseits hat die sich mit ihrem Macker verkrümelt, stünde also nicht in der Schussbahn. Holly kichert leise, als sie ungeschickt versucht, ihre Stiefel aufzuknoten. Problem dabei: Sie will sich nicht hinhocken, beugt sich stattdessen soweit nach vorne, dass sie droht, vornüber zu kippen. Ich seufze, lasse mich auf die Knie nieder und beginne an ihrer statt den Kampf mit den Schnürsenkeln. Verfluchte Docs. Hätte sie nicht eine billige Kopie mit Reißverschluss nehmen können? Aber nein, es mussten ja die originalen 20-Loch sein. „Hör auf zu giggeln”, raunze ich sie leise an. Natürlich kichert sie nur noch frenetischer und muss sich an meinen Schultern festhalten, um nicht doch noch Bekanntschaft mit dem Flurboden zu machen. „Giggeln!”, giggelt sie begeistert. Wie ging noch der lateinische Spruch? Quod erad demonstrandum? Ich verdrehe die Augen. „Sei still, oder ich nehme dich nicht mehr mit!”, drohe ich mit einem besorgten Blick den Gang entlang. Der erste Schuh ist weit genug auf. „Du bist gemein!” Schmollend schiebt sie die Unterlippe vor und macht ein Gesicht, was mich eher an eine Botoxbarbie, denn an einen Hundewelpen erinnert, hält aber endlich die Klappe. Bis auf ihr regelmäßiges Hicksen ist sie ruhig. Einige endlose Minuten später ist auch der zweite Stiefel entknotet und ich kann ihr umständlich heraushelfen. Im Nachhinein wäre es wohl klüger gewesen, dafür direkt in ihr Zimmer zu gehen, damit sie sich setzen kann. Wir schaffen es auch so, mit nur einem kleinen Beinahe-Unfall. Besoffene sind ätzend, wenn man selbst nüchtern ist. Außer angeschickerte Paulchen, die sind super. Ich grinse dämlich, das verrät mir ein unfreiwilliger Blick in den Spiegel. Demonstrativ ziehe ich die Mundwinkel runter, was noch bescheuerter aussieht. Dann lieber belämmert grinsen. Sieht ja keiner, außer theoretisch Holly, die beide Augen braucht um ihre Füße zu koordinieren. Wie viel hat das Mädel bitte gesoffen? Ich werde ein ernstes Wort mit allen Beteiligten reden müssen. Morgen. Oder heute, streng genommen. Egal, nach dem Ausschlafen halt. Madame verlangt zum Glück nicht noch nach Hilfe bei der Abendroutine. Während sie sich die Beißerchen schrubbt und sich anderweitig bettfein macht, organisiere ich noch eine Flasche Wasser und eine Schmerztablette für das bittere Erwachen in einigen Stunden. Sicherheitshalber stelle ich noch einen leeren Eimer in Reichweite zum Bett, auch wenn sie bisher keinerlei Anzeichen für Übelkeit gezeigt hat. Man weiß ja nie. Zufrieden meine brüderliche Pflicht erfüllt zu haben, begebe ich mich in mein Zimmer. Dort ziehe ich mich aus, schlüpfe in meine Schlafshorts und krieche unter die kühlen Laken. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich wieder Paul vor mir, hinten im Backstage. Sein verschleierter Blick, seine nackte Haut... oh, ich glaube, ich werde heute schöne Träume haben...   ~*~   Ein merkwürdiges Geräusch weckt mich aus meinem Schlaf. Benommen taste ich umher, bis meine Hände die vermutete Quelle der unerwarteten Störung ertasten. Ich brauche drei Anläufe, um überhaupt zu erkennen, dass es sich um mein Handy handelt. Die Ursache für den Krach verstummt. Ich blinzel in die wieder einkehrende Dunkelheit. Dann wieder Licht. Die Uhrzeit auf meinem Display. Darunter der Hinweis, ein verpasster Anruf von... Paul! Mit einem Mal bin ich hellwach und tippe hektisch auf der Panzerglasoberfläche herum, bis sich das vermaledeite Ding endlich entsperren lässt. Ich suche gar nicht erst nach meiner Kontaktliste, sondern nutze die Funktion im Hinweis zum sofortigen Rückruf. Es tutet. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, übertönt fast das Rufzeichen. Panik wallt in mir auf, mein Bauchgefühl sagt mir, dass mein Freund mich garantiert nicht fünfzig Minuten nach unserer Verabschiedung anruft, weil sein angeheiterter Verstand eine Gute Nacht-Geschichte hören will, dafür ist zu viel Zeit vergangen. Endlich höre ich das erlösende Klicken, am anderen Ende jedoch nur leise Geräusche, die ich über das Dröhnen in meinen eigenen Ohren hinweg nicht richtig zuordnen kann. „Paul?”, frage ich vorsichtig. „Josh...”, kommt es leise, das nächste Schluchzen höre ich deutlich. „Was ist passiert?”, will ich alarmiert wissen. Ich schalte das Licht an und kneife sofort wieder die Augen zu. „Ich-Ich...”, setzt er an, kommt aber nicht weit. „Ganz ruhig, was ist los?” Nahezu blind komme ich auf die Beine und taste nach irgendwelchen Klamotten. Egal was ist, ich bleibe bestimmt nicht im Bett liegen. „... kann nicht mehr... weiß nicht wohin”, sind einige der wenigen Fetzen, die ich verstehen kann, so scheinen ihn seine Schluchzer zu schütteln. „Wo bist du?” Mit einer Hand halte ich das Handy, mit der anderen zwänge ich mich umständlich in eine Jogginghose. Für Hosen mit Knöpfen bleibt weder Zeit noch Geduld. „... weiß nicht...”, haucht er leise und so herzzerreißend verzweifelt, dass etwas in mir droht zu zerbrechen. „Bist du draußen?” Wo sind meine Pullover, wenn man sie braucht? „Ja”, krächzt Paul. „Siehst du ein Straßenschild? Oder irgendetwas anderes?” Dann halt ohne Oberteil, ich will das Handy eh nicht vom Ohr nehmen. Unter Schluchzern und Hicksern, die so gar nichts Süßes an sich haben, versucht er mir einige Anhaltspunkte durchzugeben, bis er etwas findet, das mir bekannt vorkommt. Ich würde ja auf eine Onlinekarte zugreifen, allerdings geht das selbstredend aktuell nicht, denn das zugehörige Gerät hängt schräg neben meinem Gesicht. „Okay”, beginne ich bemüht ruhig. „Schau mal nach, ob da an der Ecke ein Dönerladen mit orangenen Bannern an den Fenstern ist. … Ja? Gut. Auf der anderen Straßenseite ist eine Bank. Setz dich dahin und bleib da, ich komme dich holen. … Nein, keine Widerworte! … Oh, Sweetie, nicht weinen, ich bin gleich da...”   ---- ab hier TW ----   Während ich noch weiter vor mich hinbrabbel, sinnlose Worte und Floskeln durch die Verbindung zu ihm schicke, habe ich mir Schuhe und Jacke irgendwie übergestreift, die Schlüssel geschnappt und bin zum Wagen gelaufen. Der Motor springt an, viel zu laut in der stillen Nacht, aber es ist mir egal. Ich lege mir das Handy auf den Schoß, mit aktiviertem Lautsprecher und verfluche innerlich die fehlende Freisprecheinrichtung. Blöde alte Karre. Wie auf Autopilot rase ich durch die Nacht und hoffe, dass nirgendwo die Wächter in Blau lauern. Das ist ein absoluter Notfall! Tunnelblick bekommt eine ganz neue Bedeutung, ich bin mir nicht sicher, ob ich hier und da mal ein Straßenschild übersehe. Es knallt nicht bedrohlich, also habe ich immerhin keinen nächtlichen Fußgänger als neue Kühlergrillfigur entführt und niemand im Gegenverkehr hupt panisch, meine Spur halte ich also auch. Ich rede weiter, versuche Paul zu beruhigen, der immer noch zu keinen zusammenhängenden Sätzen in der Lage ist, nur schluchzt und weint und die Nase hochzieht. Ich packe geistengegenwärtig eine Packung Taschentücher aus der Ablage ein, als ich gezwungen bin, an einer roten Ampel zu halten. Schalte schon um, du Drecksding! Endlich kommt die Stelle in Sicht, an der ich Paul vermute. Ich hau den Leerlauf rein, klatsche die Hand auf die Warnblinkanlage und springe aus dem mitten auf der Straße parkenden Auto. Wird tief in der Nacht schon keinen stören und wenn doch, leck mich. Kaum am Bürgersteig angekommen, wirft sich mir ein aufgelöstes Bündel Mensch in die Arme. Er weint wieder heftiger, sein ganzer Körper erzittert und meine offene Jacke erstickt sein Wehklagen nur mäßig. Völlig überfordert drücke ich ihn an mich und streichel beruhigend über seinen Rücken, bemüht, nicht gleich auch noch mitzuheulen. „Hey, schhh, alles gut, ich bin ja da, ich bin ja da”, murmel ich hilflos in seine blonden Strähnen. Was ist nur passiert? Vor etwas über einer Stunde war doch noch alles gut! Wie kommt er mitten in der Nacht in ein ganz anderes Stadtviertel? „Josh...”, wimmert er leise und presst sich noch enger an mich. „Alles gut, ich gehe nicht weg. Niemals”, verspreche ich leise, küsse ihn auf die Stirn. Nebenbei überlege ich, wie weit ich ihn beruhigen muss, um ihn ins Auto und dann zu mir nach Hause zu bugsieren. Und dass ich ihn mitnehme, steht ganz außer Frage. „I-Ich kann ei-einfach... hicks... nicht mehr”, stottert er fast unverständlich. „Du musst ja auch nicht”, antworte ich planlos und könnte mich im selben Moment schlagen. Was war das denn bitteschön!? „Aber... aber Papa...” Wieder wird er von einem kleinen Krampf unterbrochen. „Dein Vater?” Fieberhaft überlege ich, ob er mal etwas erzählt hat, aber nein. Dann wird mir eiskalt. „Hat er dir... etwas getan?” Oh, bitte, alles nur das nicht! „Was? Nein!”, heult Paul so laut auf, dass wir beide erschrocken zusammenzucken. „Niemals!” „Okay, gut. Ganz ruhig.” Ich atme erleichtert aus und sehe dem imaginären Felsbrocken beim Hinabpurzeln zu. „Du kannst es mir später erzählen, ja? Also, nur wenn du willst. Aber jetzt sollten wir nach Hause fahren.” Paul klammert sich noch heftiger an mich. „Zu mir nach Hause. Komm schon, Sweetie, ich fahre uns zu mir, da können wir dann ganz ungestört reden oder auch nicht reden, wenn du nicht willst. Oder einfach nur im Bett liegen und dann schlafen, hm? Was hältst du davon?” Es dauert ein bisschen, doch schließlich spüre ich ein zaghaftes Nicken an meiner Brust. Lautlos entweicht mir ein erlösendes Seufzen. Schritt eins ist geschafft, bleiben nur noch vierunddrölfzig weitere. So gefühlt. Zögerlich löst sich Paul schlussendlich von mir. Ich zaubere ein Taschentuch aus meiner Jacke und reiche es ihm. Er hält sich gar nicht groß mit den immer noch vereinzelt nachlaufenden Tränen auf, sondern schnäuzt vernehmlich. Sei's drum, er ist auch nur ein Mensch. Ein eigentlich so fröhlicher, gutgelaunter Mensch, dass es mich gleich nochmal innerlich in Stücke reißt. Behutsam, ihn wie ein rohes Ei behandelnd, schaffe ich ihn auf den Beifahrersitz. Seine Hände zittern so stark, dass ich das Angurten gleich mit übernehme. Ich ziehe eine Decke aus dem Kofferraum und wickel mein kleines, armes Engelchen darin ein. Selbst in meine Knochen kriecht so langsam die Kälte und ich bin nicht seit einiger Zeit mehrere Blocks von meinem Heim entfernt zu Fuß unterwegs. Paul rührt sich kaum, lässt mich einfach machen, nimmt lediglich die Packung Tempos entgegen, die ich ihm reiche und die er sogleich beginnt aufzubrauchen. Motor anlassen brauche ich nicht, der Wagen läuft eh noch. Nur die Lüftung justiere ich neu, ehe ich mich, deutlich langsamer diesmal, auf den Heimweg mache. Meine Hand, die wie von selbst auf seinem Bein landet, lässt er die ganze Rückfahrt über nicht los.   Zum zweiten Mal in dieser Nacht öffne ich die Haustür in den stillen Flur hinein. Paul steht reichlich neben sich und braucht ebenso Hilfe, wie Holly zuvor. Ich dachte, wir wären leise gewesen, leiser als mit meiner Schwester zumindest, doch vielleicht ist es einfach ein natürlicher Instinkt, der sie geweckt hat. Was auch immer es war, ich höre eine Tür aufgehen und Sekunden später steht meine Mutter vor uns. Paul sieht in ihr besorgtes Gesicht – und beginnt sofort wieder zu weinen. „Paulchen!”, flehe ich schon fast, mache das Einzige, was mir in meiner Hilflosigkeit einfällt und ziehe ihn wieder in meine Arme. „Schatz, was ist los?”, fragt meine Mutter vorsichtig, aber ruhig, ganz der Profi. Verzweifelt zucke ich mit den Schultern. Wenn ich das nur wüsste! „Keine Ahnung, Mama. Er hat mich angerufen und ich hab ihn geholt, da war er schon so.” Mehr will ich ohne sein Einverständnis nicht sagen. Sie nickt und lächelt aufmunternd, streicht meinem Freund beruhigend über die Schultern. „Alles gut. Kommt mit, ich mach euch erstmal einen heißen Kakao nach Omas Art, das hilft immer.” Damit dreht sie sich um und gönnt mir eine Minute mit ihm alleine. „Na komm, lass uns in die Küche gehen”, rede ich ihm gut zu. „Will nicht... hicks... reden”, krächzt er. Seine Stimme klingt übel. „Musst du ja nicht, hab ich doch versprochen. Nur Kakao trinken und dann gehen wir ins Bett.” Er blickt mich aus großen, verquollenen Augen an. Auf seine Art finde ich ihn noch immer wunderschön, auch wenn das warme Gefühl in meiner Brust mich bei seinem Anblick lediglich dazu bringen will, ihn in Watte zu packen und anschließend auf der Brust trommelnd loszuziehen und alle Übel der Welt für ihn zu vernichten. Letzteres wird schwierig werden, ersteres ist jedoch im Bereich des Möglichen. Ich lege meine Hände an seine Wangen und verwische sinnloserweise die Spuren. Sie kommen ja doch wieder. Vorsichtig küsse ich seine Stirn, seine Wange und schließlich seine rissigen Lippen. „Ni-nicht, das ist do-doch... eklig”, protestiert er halbherzig. Entschieden schüttel ich den Kopf. „Nein, nicht für mich. Niemals.” Beschämt senkt er den Blick, den Hauch eines Lächelns zuckt um seine Mundwinkel. Na also, ein kleiner Lichtblick. Kingkong-Neandertaler-Joshua trommelt sich begeistert und stolz auf seine felligen Brust. In der Küche rührt meine Mutter in einem kleinen Topf herum. Ich setze mich mit meinem persönlichen Klammeräffchen auf dem Schoß an den Tisch, die Hände unablässig in Bewegung. Es scheint ihn wieder ein wenig zu beruhigen. „Hier, ihr zwei.” Sie stellt zwei dampfende Becher vor uns hin. „Der hilft immer.” „Danke, Mama”, sage ich, so von Herzen, wie ewig nicht mehr. Diesmal gilt ihr beruhigendes Handauflegen nicht nur Paul, sondern auch mir. Anders als erwartet, beruhigt dieser sich aber ganz und gar nicht, fängt stattdessen erneut das Zittern und Schluchzen an. „Ich kann einfach nicht mehr!”, platzt es – erstaunlich flüssig – aus ihm heraus. Er verbirgt das Gesicht in den Händen, entgeht so dem ratlosen Blick zwischen uns übrigen beiden. „Was kannst du nicht mehr?”, fragt Mama ruhig und sachlich nach, sich blind einen zweiten Stuhl heranziehend. „Mit Papa...”, jammert er. „Aber ich kann doch nicht... ich muss doch...” „Schh”, unterbricht sie ihn. „Ganz ruhig. Hol bitte einmal tief Luft. Super, und gleich nochmal.” Erst jetzt wird mir der heftige Schluckauf bewusst, der sich noch mit in die ganze Misere gemogelt hat. Paul hat die ersten Züge ernsthaft Probleme ordentlich zu atmen, mir wird eiskalt und ich krame in meinem Gedächtnis bereits nach diversen Erste Hilfe Maßnahmen. Unbegründet, mit Hilfe meiner Mutter fällt es ihm bald wieder etwas leichter. Ich zwinge mich, ihn nicht zu fest zu umklammern, wäre wohl ungut. „Was kannst du nicht mehr, Paul?”, fragt sie ruhig weiter, als wäre nichts gewesen. „Ich bin ein schlechter Sohn”, jault dieser ganz erbärmlich auf. „Bist du nicht”, sagt Mama resolut und greift eine seiner Hände. „Wärst du das, würdest du nicht hier sitzen, sondern es wäre dir egal. Magst du mir aber sagen, warum du das denkst?” „I-ich muss ihm doch helfen. Er kann doch nicht ohne mich.” Die Pausen zwischen seinen Worten werden kürzer, wenn auch vom Sinn her nicht unbedingt verständlicher, für mich zumindest. „Wobei hilfst du ihm?” Immer noch bleibt Mama ruhig und verständig, als wäre das ein halbwegs normales Gespräch und ihr Gesprächspartner nicht frisch aus einem Meltdown gezogen. „Bei allem”, erklärt Paul, ebenso verständnislos, wie ich mich fühle. „Er hat doch nur noch mich.” „Dein Vater hat Probleme?”, hakt sie vorsichtig nach. Er nickt. „Körperlich?” Kopfschütteln und leises Schluchzen. „Alkohol oder andere Drogen?” Kurzes Zögern, dann wieder kopfschütteln. „Wirklich nicht? Paul, hier wird niemand verurteilt, weder du noch dein Papa. Wir wollen euch helfen.” „Keine Drogen, nur... nur manchmal Alkohol, wenn es ganz schlimm ist. Aber nicht so oft!”, verteidigt Paul seinen Vater erneut. „Okay, kein Alkoholproblem. Das ist doch gut.” Sie wechselt kurz einen Blick mit mir, doch ich weiß ja auch nichts. All das war mir gänzlich unbekannt! Woher denn auch? Das Bild der verwahrlosten Einfahrt schiebt sich vor mein inneres Auge, gleichzeitig aber Pauls Aussage bei seinem Geburtstag, sein alter Herr würde ihm den Abend spendieren. Egal ist sein Sohn ihm nicht. „Hat er vielleicht Depressionen?”, hakt Mama sachlich weiter nach. Paul nickt und zuckt zeitgleich mit den Schultern. „Möglich, es geht ihm oft nicht gut. Aber ich muss ihm doch helfen, er kann da nichts für! Er hat niemanden außer mir! Und dann hau ich einfach ab!” Wieder verschwindet sein Gesicht hinter den Händen, wieder bringt Mama ihn sanft dazu, sie anzusehen. „Paul, hör mir jetzt genau zu, okay?” Sie wartet sein Nicken ab. „Wenn dein Papa wirklich Depressionen oder etwas anderes hat, dann kann er da natürlich nichts für. Und du auch nicht. Das ist eine schlimme psychische Krankheit, die jeder und jede bekommen kann. Hat er denn noch andere Hilfe, einen Arzt oder einen Therapeuten?” Mein armes Engelchen mit dem viel zu großen Herzen schüttelt den Kopf. „Wir schaffen das schon so, haben wir immer.” „Nein, schafft ihr nicht.” Erschrocken blicken wir beide meine Mutter an, bei diesen harten Worten, die ihr Lächeln nur marginal abmildern kann. „Das siehst du doch gerade. Es hilft deinem Papa auch nicht, wenn du dich deswegen kaputt machst. Am Ende bekommst du auch noch psychische Probleme oder körperliche Beschwerden, das geht schnell Hand in Hand. Du kannst nicht immer für gleich zwei Personen stark sein, du musst auch mal schwach sein dürfen, ohne dass es euch gleich beide in den Abgrund reißt. Du hattest eben ziemlich sicher einen ordentlichen Nervenzusammenbruch, das brauchst du gar nicht abstreiten, das erkenne ich, glaub's mir.” Tiefes Durchatmen. „Aber das ist nicht schlimm, sondern ganz normal. Diese Last ist auf Dauer zu viel für einen alleine. Sich Hilfe zu suchen ist keine Schande, da guckt euch auch niemand schief an. Wenn der Arm gebrochen ist, geht man zum Arzt, oder nicht? Oder wenn man eine dicke Lungenentzündung hat. Und wenn da oben etwas durcheinander purzelt, oder es einem einfach zu viel wird, dann geht man auch zum Arzt.” Sie tippt ihm bei den letzten Worten gegen die Stirn. „Das ist nur ein anderer Spezialist, als für Knochen oder Lunge.” Mir bleibt nicht mehr, als stumm zuzuhören und ihm durch meine Berührungen Sicherheit und Liebe zu übermitteln, und davon empfinde ich mit jeder Minute mehr denn je, für diesen Kämpfer, über den ich so gut wie nichts weiß, wie mir scheint. Wie konnte mir das alles entgehen? Hätte ich doch nachfragen sollen, als ich bei ihm war und mir das trostlose Haus auffiel? Wie kann ein gerade frisch Achtzehnjähriger die Verantwortung für sich und einen deutlich älteren Erwachsenen tragen müssen? Alleine diese Aufgabe erscheint mir unmöglich, ich schaffe es ja nicht einmal mich komplett um mich selbst zu kümmern, wenn ich ehrlich bin. „Aber...”, versucht er es erneut, halbherzig. „Nichts da. Ich habe das schon oft genug gesehen, Paul. Es war gut, dass du zu Joshua bist. Und es ist auch alles in Ordnung, niemand will euch was. Nichts, außer helfen.” Sie holt Luft und ich spüre, dass sie noch einen großen Klopper auf Lager hat. „Und jetzt sei ehrlich: Hast du die Befürchtung, dass dein Papa sich etwas antun könnte?” Paul versteift sich, ich kann sein Entsetzen förmlich riechen. Dann das erlösende Kopfschütteln. „Nein. Nein, ich glaube nicht.” „Sicher?” „Ja.” „Gut. Ich habe noch ein paar Fragen, aber das kann alles bis morgen warten. Ihr trinkt jetzt euren Kakao, der dürfte inzwischen gut abgekühlt sein und dann legt ihr euch schlafen.” Damit steht sie einfach auf, wuschelt uns durch die Haare und verschwindet so lautlos, wie sie gekommen ist. Kurz herrscht absolute Stille. „Oh Gott, warum habe ich das alles gesagt?” Paul klingt regelrecht fassungslos. Ich muss leise lachen, teils aus Erleichterung, teils ob der absurden Situation. „Meine Mutter ist Psychologin und Sozialpädagogin beim Sozialamt, die kriegt alles aus dir raus. Und einen achten Sinn für dergleichen hat die eh”, meine ich entschuldigend. „Ist das nicht der siebte Sinn?” Er steht eindeutig leicht neben sich. „Ne, der ist schon von ihren Mutterinstinkten eingenommen. Na los, trink den Zauberkakao. Keine Sorge, der ist mit Hafermilch, so wie der riecht.” Widerstandslos nimmt Paul mir die Tasse ab und trinkt einfach. Vielleicht ganz gut, dass er so lange stand, sonst käme noch mindestens eine verbrühte Zunge dazu.   --- ab hier wieder ohne TW ---- (Kurzzusammenfassung: Paul hat einen Nervenzusammenbruch, warum akut wird noch nicht gesagt, es hängt jedoch mit seinem Vater zusammen, der schon längere Zeit mentale Probleme hat und sämtliche Last und Verantwortung von Paul tragen lässt. Der ruft in seiner Verzweiflung Joshua, welcher ihn abholt. Joshs Mutter quetscht mehr oder weniger vorsichtig die Eckdaten aus Paul heraus und macht klar, dass es so nicht weitergehen kann.)   Nicht lange nach der Aussprache stehen wir in meinem Zimmer. Wie, weiß ich selbst nicht so genau. Ist auch egal. Paul ist von allem so erschöpft, der schläft bald im Stehen ein. Ich überlege noch, ob ich ihm ein Shirt leihen und ausnahmsweise selbst in einem schlafen soll, da hat er sich schon bis auf die Unterhose ausgezogen und in meine Decke eingekuschelt. Okay, dann nicht. Shirt trage ich immer noch keins, nur die Jogginghose, die Sekunden später zu Boden geht. Ich kämpfe mich durch die herumfliegenden Klamotten bis zum Bett vor, lösche das Licht und krieche mit unter mein Laken. Jetzt ist es gar nicht mehr kühl, aber ein warmer Paul hat auch ganz viele Vorteile. Man kann ihn zum Beispiel wunderbar knuddeln und mit ihm kuscheln, wenn er direkt wieder meine Nähe sucht. Ich hatte mir unsere erste Nacht im selben Bett zwar ganz anders vorgestellt, aber naja. Sei's drum. Das Gefühl, wie sich der andere Körper vertrauensvoll an mich schmiegt, zu spüren, wie er ein letztes Mal tief durchatmet, ehe er in den Schlaf gleitet, das ist viel mehr wert, als es einfacher Sex je könnte.     ~*~   Schon wieder werde ich aus meinem dringend benötigten Schlaf gerissen. Diesmal nicht durch einen Anruf, sondern durch einen sich im Bett herumwälzenden Paul. Grummelnd schnappe ich ihn mir, ziehe ihn wieder an mich und will weiterschlafen. „Josh?”, haucht er ganz leise, meine schönen Pläne durchkreuzend. „Hmm?” Verschlafenes Grummeln. „Ich kann nicht mehr schlafen.” Seufzen. Ich ringe innerlich mit mir, ein Kampf zwischen meiner schier unendlichen Müdigkeit und dem Bedürfnis, meinem Freund jeden Wunsch von der süßen Nasenspitze abzulesen. Er macht mir die Entscheidung umgehend leichter, rutscht ein wenig herum, treibt mir seine einzigartige Duftnote in die Nase, was meinen inneren Oger grunzend applaudieren lässt, schließlich bedeutet das, mein kleines Engelchen befindet sich endlich in meiner Höhle. Ich bin wirklich primitiv, im halbschlafenen Zustand. Paul in Höhle – grunz. Paul in Bett – Grunz! Fast nackter Paul, der sich halb auf mich legt und sich mit seinen weichen Lippen über mein Gesicht küsst – Ugaa-ugaaaah! Grunzgrunz! Okay, zumindest bin ich jetzt wach. Mir bleibt auch keine Gelegenheit, zu fragen, was er plant, denn dafür müsste ich erst meinen Mund zurückholen. Mir und meinem primitiven Selbst gefällt es aber viel zu gut, zunehmend drängend geküsst zu werden und nur zu gerne mache ich seiner fordernden Zunge den Weg frei. Ich ergebe mich und lasse ihn nehmen, was immer ihm beliebt. Seine Zunge streicht flatternd über meine und bei allen nichtexistenten Göttern, ich habe keine Chance dagegen. Stöhnend packe ich ihn an den Hüften, rolle uns herum, bis ich flach auf dem Rücken liege. Paul hockt sich breitbeinig über mich und nutzt die Chance, jetzt ungestört seine Hände auf Wanderschaft zu schicken. Meine Brustwarzen scheinen es ihm angetan zu haben. Viel mutiger als noch Stunden – Tage, Wochen? - zuvor, spielt er an ihnen herum. Bei einem etwas beherzteren Griff bäume ich mich erschrocken auf, presse mein Becken gegen seins, das noch immer fest in meinen Händen ist. Wir stöhnen beide in unseren nicht enden wollenden Kuss, als wir die Härte des jeweils anderen spüren. Ich sehe bunte Lichter hinter meinen vor Genuss geschlossenen Augenlidern. In dieser verrückten, verkehrten Welt bin ich die passive Jungfrau und Paul der erfahrene Verführer und zur Hölle, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Sicher sind seine Gesten rational betrachtet noch ungelenk, er probiert sich aus, aber ich bin sein williges Versuchsobjekt und habe ohnehin zu wenig Blut im Hirn, um weiter als bis zu meiner Schwanzspitze denken zu können. Schwer atmend löst Paul den Kuss und wandert an meiner Kinnlinie entlang, ergeben lege ich den Kopf in den Nacken, biete mich ihm dar. Ich will ihn auch berühren, zum Stöhnen bringen, aber meine Hände weigern sich, lange an seinem Rücken zu verweilen, sind magisch angezogen von den perfekten Halbkugeln seines Hinterns. Der Jüngere stöhnt zustimmend, windet sich unter meinen zupackenden Händen und reibt sich weiter an meinem Schritt. Eben noch hat er hingebungsvoll an meinem linken Nippel gelutscht, doch lässt er ihn hart in dem plötzlichen, kühlen Luftzug zurück. Wie eine Erscheinung hockt er auf mir, die blasse Haut in schimmerndes Mondlicht gehüllt, die Bettdecke rutscht ihm langsam von den Schultern und wellt sich um seine Hüften wie der abgestreifte Mantel einer Märchengestalt. Die fleckigen Wangen sind mitnichten ein Makel sondern nur Zeugen seiner inneren Stärke. Ich kann nur daliegen und ihn anstarren. „Schlaf mit mir”, flüstert Paul, meine persönliche Sirene. „Was?”, frage ich erschrocken, nach einem vernehmlichen Räuspern. Er beugt sich vor. „Lass mich vergessen, bitte.” Er küsst mich, drängend, flehend. „Mach dass es aufhört.” „Paul...”, setze ich an, breche ab, hin und hergerissen. 'Es ist falsch!', schreit mein Gewissen. 'Nicht auf diese Art!' Aber wenn er sich sich doch wünscht? Oder ist es doch nur Mittel zum Zweck und er bereut es, sobald der Grund für seinen Kummer behoben ist? „Nein”, antworte ich schließlich, meine Hand an seiner Wange ebenso sanft wie meine Worte. „Nicht heute. Nicht so.” Sein verletzter Blick geht mir tief unter die Haut, aber erweichen wird er mich nicht. Wäre er erfahrener, sähe die ganze Sache anders aus, das erste Mal sollte anders ablaufen. „Komm her.” Ich rutsche auf dem Bett entlang, bis ich in die Kissen gelehnt das Kopfstück erreiche. Durch meine leicht aufgestellten Beine, rutscht Paul automatisch mit, verhindert meinen Kussversuch jedoch durch eine Kopfdrehung. „Aber du hast doch gerade gesagt...”, fängt er an und klingt dabei sowohl verwirrt als auch angefressen. „Ja, habe ich. Kein richtiger Sex”, bestätige ich. Dann hebe ich mein Becken, lasse ihn meine immer noch harte Erektion deutlich spüren und erkläre schmunzelnd: „Aber das heißt nicht, das wir ganz aufhören müssen. So kann zumindest ich ohnehin nicht schlafen.” Ganz überzeugt ist er noch nicht. Sollte er tatsächlich stoppen wollen, würde ich dem sofort nachkommen. Da er den Kuss verweigert hat, finde ich eine andere Beschäftigung für meinen Mund. Durch unsere neue Position habe ich seine hübschen rosa Brustwarzen direkt vor der Nase und zögere nicht, mich für die Aufmerksamkeit zu revanchieren. Ich liebe es, wie sie sich zu harten Knötchen zusammenziehen, sobald ich sie mit der Zunge anfeuchte. Und weil ich auch ein bisschen gemein bin, puste ich die glänzenden Knospen noch einmal extra an. Paul erschauert sichtbar, ein leichtes Beben geht durch seinen gesamten Leib und endet mit einer Vorstoßen seiner Hüften. Statt mich aufzuhalten, krallt er sich förmlich in meinen Schultern fest, sein Japsen ist mir Anfeuerung genug. Auch meine Hände bleiben nicht untätig, erkunden in aller Ruhe den schlanken und doch so außerordentlich männlichen Körper. Nach wie vor hat es mir sein Po besonders angetan und testweise fahre ich mit den Fingern erst am Rand seiner Shorts entlang und schließlich darunter. Selbst hier hat er Gänsehaut. Paul verkrampft sich und sofort halte ich inne, sehe zu ihm hoch. Er kaut unsicher auf seiner herrlich wundgeküssten Unterlippe. „Darf ich?”, frage ich leise und zupfe am Gummibund. Mein Freund zögert noch kurz, scheint zu erröten, ehe er mir mit einem Nicken die Erlaubnis gibt. Ich löse seine Zähne mit meinen Lippen ab, küsse ihn neckend. Erst als er sich wieder entspannt, lasse ich meine Hände tiefer in seine Unterhose gleiten und knete seine Backen. Als Antwort nimmt er seine Hüftbewegungen gegen meinen eigenen Schritt wieder auf. Nicht lange, dann nehme ich eine Hand heraus, wandere mit ihr nach vorne und lege sie vorsichtig auf sein Glied. Selbst durch den Stoff hindurch kann ich es pulsieren spüren. Meine beidseitige Massage scheint ihm zu gefallen, zumindest muss seine Lippen von mir lösen um zwischen seinen Seufzern nach Luft schnappen zu können. Egal, dann widme ich mich eben wieder seiner Brust. Zum Glück sind die Wände hier dick. Ich schlüpfe mit den Fingern nun auch vorne unter den Bund und ertaste die samtig weiche Haut, kein Haar ist zu fühlen, nur Hitze und Glätte. Und Feuchtigkeit an der Spitze. Grinsend verreibe ich sie mit dem Daumen auf der Eichel, bis Paul die Finger seinerseits in meine Haare gräbt. Mit kommt eine Idee. Ich rutsche wieder tiefer, blicke ihm in die verschleierten Augen, während ich eine Spur über seine Brust und seinen Bauch ziehe. Ein verstehendes Funkeln blitzt in den blauen Tiefen auf, der Griff in meine Strähnen wird fester. Er zieht mich daran nicht weg, im Gegenteil. Ermutigt schiebe ich seine Shorts ein Stück tiefer, seine befreite Erektion streckt sich mir entgegen. Wie könnte ich da widerstehen? Ein letzter versichernder Augenaufschlag nach oben. Eine Hand stabilisiert seinen Schaft an der Wurzel, dann strecke ich meine Zunge aus und koste zum ersten Mal seinen herben Geschmack. Wir stöhnen synchron. Grinsend lasse ich meine Zungenspitze über seine Eichel flattern, imitiere seine verhängnisvolle Geste, die ins die ganze Misere hier erst eingebrockt hat. Paul ruckt mir entgegen und ich muss seine erhobene Hüfte fester greifen, um ihn ruhig zu halten. So sehr mir seine stürmische Art auch imponiert, hier kann sie unangenehm werden. Ich nehme ihn ganz in den Mund, verwöhne ihn mit Zunge und Lippen, auf dass ihm hoffentlich Hören und Sehen vergeht. Viel zu schnell unterbricht Paul mich, obwohl sein Becken protestierend zuckt. „Warte!”, japst er und sieht bereits jetzt herrlich zerzaust aus. „Du kannst ruhig”, biete ich ihm an. Eigentlich lebe ich nach dem Motto 'Better safe than sorry', allerdings ist die Gefahr, mir beim Oralverkehr mit seinem jungfräulichen Penis etwas zu fangen, doch verschwindend gering. Aber Paul schüttelt entschieden den Kopf. Schnaufend lässt er sich auf mich sinken, bis wir wieder auf ungefähr gleicher Höhe sind. Ich warte einfach ab, welchen Grund er wohl haben mag, sich den eigenen Höhepunkt zu versagen. Lange muss ich nicht ausharren. Er erhebt sich wieder ein Stück, beginnt nun seinerseits mich zu streicheln, erst noch harmlos, doch schnell wandert er in intimere Gefilde. Die Härchen, die ich als feinen Streifen vom Bauchnabel an habe stehenlassen, üben eine besondere Faszination auf ihn aus. Immer wieder krault er hindurch und bringt meine Bauchmuskeln zum kontrahieren. Nun bin ich es, der keucht und ihn durch subtile Hüftbewegungen zu Lenken versucht. Wie er es immer wieder schafft, mich von unten herauf so verführerisch anzusehen, obwohl er streng genommen viel weiter oben ist? Ich schlucke hart und hebe auf seine stumme Aufforderung hin den Po und meine Schlafshorts verschwindet. Ich werde beizeiten um sie trauern. Aktuell spiele ich lieber weiter meine beste Interpretation einer unerfahrenen aber willigen Jungfer. Paul ist nicht viel besser, wobei er jedes Recht dazu hat. So gierig seine Augen auch auf mir ruhen, seine Hand ist fast unerträglich schüchtern und sanft, wie sie an mir entlangfährt. Ich nehme mich wirklich zusammen, lasse ihn machen. Zumindest bemühe ich mich. „Fester”, keuche ich, den zaghaften Griff um mein bestes Stück nicht mehr aushaltend. Und gleich darauf: „Ja!” Der Rest meiner Motivationsausrufe geht in Gebrabbel und Stöhnen unter. Statt zurückzuschrecken, wie ich es befürchtet habe, erweist sich Paul als gelehriger Schüler und setzt alle meine Tipps sofort in die Tat um. Nur beim geforderten Kuss (auf den Mund!) zögert er, kann mein Grinsen dann aber nicht auf sich beruhen lassen. Irgendwie schaffen wir es, auch seine Unterhose auszuziehen. Nackt pressen wir uns aneinander, unsere Erektionen gemeinsam umschlossen und treiben uns zusammen auf den Höhepunkt zu. Paul erliegt ihm zuerst und ich koste seinen Anblick voll aus, massiere ihn gezielt über die Wellen hinweg, bis er erschöpft gegen mich sinkt. Umständlich verschaffe ich meiner Hand wieder ein wenig Platz und bringe mich selbst bis zum Orgasmus, den warmen Körper meines Freundes umschlungen. „Sorry”, nuschelt Paul, als ich nach einem Taschentuch angel. „Quatsch”, wiegle ich lächelnd ab. „Alles gut.” „Aber-” „Nichts 'Aber'. Es war toll für mich. Für dich etwa nicht?” Er blickt mich so schockiert an, wie ich gehofft hatte. Ablenkung gelungen. „Do-doch! Natürlich!” „Na also.” Ich grinse zufrieden und reiche ihm die Taschentücher, damit wir zusammen die Reste unserer Intermezzos entfernen können. Diesmal schläft Paul aus ganz anderen Gründen völlig erledigt ein. Mein innerer Oger und ich sind begeistert von uns. Primitivität kann also doch manchmal zu etwas gut sein. Mit diesen komischen Gedanken gleite auch ich schnell ins Land der Träume, diesmal ungestört, bis ich von selbst erwache.   ~*~   Zugegeben, ich hätte die ganze Depressionsnummer noch etwas dezenter beschreiben, oder auch die Aussagen von Joshuas Mutter weniger ausformulieren können. Hatte ich auch erst, also alles etwas subtiler. Am Ende fand ich es aber für euch Leser:innen wichtiger, in der Hinsicht wirklich klar und deutlich zu bleiben, auch wenn es technisch gesehen nicht der eleganteste Weg war.   Kapitel 19: ------------   ~ 19 ~   Pauls POV   Ich erwache viel zu früh, als sich meine Schlafunterlage entfernt und die Matratze wackelt. Plötzlich wird es kalt. „Schlaf weiter”, flüstert jemand über mir. Die Decke wird zurück auf meine Schultern gezogen. Ich weiß, der Stimme kann ich vertrauen, also gleite ich zurück in einen traumlosen Schlaf.   Das nächste Mal wecken mich mehrere Stimmen auf der anderen Seite der Wand. Mein Kopf dröhnt, alles an meinem Körper scheint wehzutun. Ich mummel mich tiefer in das Bettzeug und vergrabe die Nase im Kissen, lasse mich von dem wohlig-heimeligen Duft umhüllen, bis mein Bewusstsein ebenso wie die Lautstärke der Stimmen langsam nachlässt.   Das dritte Mal weckt mich ein Luftzug und das Wissen, nicht mehr alleine im Raum zu sein. Leise murrend öffne ich das linke Auge und schiele durch das dämmrige Licht zur Tür. „Na, Schlafmütze?”, spricht mich Joshua leise an. Ich erkenne seine große Statur schemenhaft, die Rollläden lassen für weitere Details nicht genug Sonne herein. Mir fehlt jegliches Zeitgefühl, es könnte früher Vormittag oder bereits später Nachmittag sein, was mich innerlich seltsam unruhig werden lässt. Ich genieße noch die schläfrige Ungewissheit, was genau mich in meine derzeitige Lage gebracht hat, mein Unterbewusstsein schreckt noch vor den Erinnerungen zurück, wie ein gebranntes Kind vor dem Feuer. Es sollte mir Sorgen machen, denn das kann nichts Gutes heißen, aber ich beschließe, lieber meinen Freund zu betrachten. Der stellt gerade mit einem leisen Klonken ein Glas auf den Nachttisch, etwas Kleines landet daneben. „Hab ich dich geweckt?”, fragt er leise, eine Hand nach mir ausstreckend. „Hm...”, brumme ich unartikuliert und seufze zufrieden. Mir hat schon ewig niemand mehr durch die Haare gekrault, leider, denn es fühlt sich wunderbar an und ich lehne mich der Berührung fordernd entgegen. Die Matratze senkt sich unter Joshuas Gewicht, trägt vibrierend sein unterdrücktes Lachen zu mir herüber. „Hast du Kopfschmerzen?” Ich stöhne gequält. „Erinnere mich nicht daran!” Denn jetzt waren sie prompt wieder da. „Entschuldige. Willst du eine Tablette?” Er hat den Anstand immerhin wirklich reuevoll zu klingen, auch wenn er immer noch einen etwas zu belustigten Unterton hat. „Hmm ja”, brumme ich bestätigend. Die kraulende Hand verschwindet und schon bereue ich meine Zustimmung. Kraulen war toll und hat das Kopfaua besser gemacht. Kraulen macht ohnehin alles besser. „Dann musst du dich kurz hinsetzen, im Liegen wird das nichts mit Pille schlucken.” Joshua ist eindeutig viel zu gut drauf für einen Morgen, der mir ein grummeliges Gefühl im Bauch beschert. Grummeln tu ich auch aus dem Mund, als ich mich aufsetze und die Decke von meinen Schultern rutscht. Prompt wird es kalt. Ich schaue an mir hinab, verwundert über die Kälte, und erblicke meinen nackten Oberkörper. Warum bin ich-? „Iiek!” Begleitet von diesem sehr schrillen Quieken kommen die Erinnerungen zurück und ich rutsche zurück in eine liegende Position, die Decke über den Kopf gezogen, als könnte ich so alles aussperren, was sich die letzten 24 Stunden ereignet hat. „Paul, alles okay?”, ertönt es dumpf von der anderen Seite aus Stoff und ganz viel Wattefüllung. „Oh mein Gott!”, rufe ich entsetzt, peinlich berührt und irgendwie... erregt aus. Ich hab mich ihm wie ein Stricher an den Hals geschmissen! Und er wollte mich nicht. Also nicht so, aber anders und das war so geil in dem Moment aber aus jetziger Perspektive? Immer noch geil, aber auch unglaublich peinlich! Ich will es nie wieder und gleichzeitig jetzt sofort erneut tun! „Hey, was ist denn los?”, erkundigt er sich leicht alarmiert, was ich ihm nach der vergangenen Nacht nicht verdenken kann. Und weil ich ihm nicht unnötig Sorgen machen will – und die Luft unter der Decke echt nicht gut ist – komme ich zögernd wieder hervor. Ich weiß ja, dass ich mich albern benehme, aber uwah! Wir hatten Sex, also so halb, und er hat mich... mit dem Mund... Es kostet mich wirklich viel innere Kraft, nicht sofort wieder unter die Bettdecke zu schlüpfen, sondern mich der Peinlichkeit mit halb erhobenem, knallrotem Kopf zu stellen. „Wie spät ist es?”, frage ich ablenken, eine Hand schützend den Stoff über meinem Oberkörper festhaltend. „Äh...” Der Ältere schien tatsächlich kurz abgelenkt, wenn auch durch etwas anderes. Er reißt den Blick von mir los und zieht sein Handy aus der Hosentasche. Im Gegensatz zu mir ist er zwar locker, aber immerhin voll bekleidet. „Gleich halb Zwölf.” Ich nicke nachdenklich während ich die Tablette schlucke und mit ordentlich Wasser nachspüle. Meines lückenhaften Gedächtnisses nach habe ich meinem Vater gesagt, dass ich zu Freunden gehe. Oder habe ich einen Zettel geschrieben? Stirnrunzelnd strenge ich mich an, fördere aber nur noch mehr unschöne Details zutage. Ich will nicht darüber nachdenken, was passiert ist und wie es weitergehen soll. Ich muss, aber jetzt noch nicht, beschließe ich. Vielleicht hat Erika ja Recht und ich muss mich auch erst um mich selbst kümmern. So etwas Ähnliches hat sie glaube ich gesagt gehabt. Oder? Stöhnend reibe ich mir die Schläfen. Grübeln macht in meinem Zustand ganz schöne Kopfschmerzen! Joshua setzt sich neben mich und zieht mich etwas ungelenk seitlich an seine Brust. Ich genieße die tröstende Wärme eine Weile, lasse mich am (immer noch nackten!) Rücken kraulen und hebe mein Kinn seinem Kuss entgegen. Der Zahnpastegeschmack erinnert mich daran, dass meine eigene Mundhygiene zu lange her ist. Sanft aber bestimmt drücke ich ihn von mir. „Zähne putzen”, bringe ich nach kurzem Räuspern hervor. Kurz schaut mich der Größere verdutzt an, lächelt dann aber. „Klar. Auch wenn es mich nicht stört.” Er tippt mir schmunzelnd auf die krausgezogene Nase. „Ich hab dir schon eine frische ins Bad gelegt, nimm dir einfach die Zahnpasta, die du willst.” „Danke.” Ich lächle zurück, im Aufstehen begriffen, bis mir meine eigene Nacktheit wieder einfällt. „Äh... hast du zufällig noch was zum Anziehen für mich?”   Frisch geduscht, mit Minzgeschmack im Mund, und viel zu großen, dafür aber nach Josh duftenden Klamotten folge ich ihm in die Küche. Zu meiner Überraschung sind wir nicht die Einzigen, die sich ein spätes Frühstück gönnen wollen. Holly sitzt, den Kopf in den Armen vergraben, da und sieht so elend aus, wie ich mich fühle, ihr Zwillingsbruder dagegen schmiert sich ein Marmeladenbrot. Ihr Vater sitzt am einen Kopfende und zeichnet mit einem Pseudostift auf einem Tablet und ihre Mutter ist hinter einer großen Zeitung kaum zu erkennen. „Hallo Jungs, es sind noch Brötchen da.” Ohne Aufzusehen schiebt Holger einen Korb duftender Brötchen in unsere Richtung. Mein Magen zieht sich protestierend zusammen. „Kaffee oder Tee?”, fragt Joshua, mich zu einem Stuhl schiebend. „Weiß nicht...”, antworte ich wahrheitsgemäß. Klingt beides durchwachsen. „Dann mach ich dir Kräutertee.” „Danke.” Nervös ringe ich meine Finger unter dem Tisch und versuche überall, nur nicht zu den anderen Menschen zu sehen. Holly gibt ein leidvolles Stöhnen von sich. „Stell dich nicht so an, wer trinken kann, kann auch am nächsten Mittag aufstehen.” Ihre Mutter verpasst ihr schmunzelnd mit der Zeitung einen spielerischen Klaps auf den Hinterkopf. „Auaaa!”, jault die Jüngere auf. „Viel wichtiger: Wer mehr trinken kann, als ihm oder ihr eigentlich erlaubt war, sollte sich ein bisschen mehr anstrengen, sich und ihre Aufpasser nicht zu verraten. Sonst gibt es das nächste Mal ein komplettes Alkoholverbot.” Holger klingt ähnlich amüsiert wie seine Frau, auch wenn der Tadel mit dem Holzhammer daherkommt. Joshua hüstelt. Reuevoll? „Das ist unfair, Papa! Das Bier war schlecht, ganz bestimmt.” Verstohlen sehe ich auf. Der leidende Hundeblick ist wirklich süß, prallt am Empfänger jedoch ab wie ein Rosenkohl an einer Burgmauer. „Ja ja, welches Bier hattest du denn? Das ganz Exotische, was nur alle drei Jahre bestellt wird und auch nur auf der Karte steht, damit man sich als besonders weltoffen präsentieren kann? Mäuschen, du warst in einer Kneipe, da wird kein Bier schlecht. Schlecht ist einzig und allein die Masse.” Vor mir taucht eine herrlich duftende Tasse auf, dankbar lächel ich meinen Freund an, der sich mit einem Kaffee neben mich setzt. Seine linke Hand streift wie ganz selbstverständlich meinen Oberschenkel, die rechte angelt ein Brötchen aus dem Korb. „Auch eins?” Kopfschüttelnd lehne ich ab. Josh zuckt mit den Schultern, tätschelt abschließend mein Knie und widmet sich dem Frühstück. Die Unterhaltung plätschert locker dahin und ich bin froh, dass niemand meine Anwesenheit kommentiert. Vermutlich haben Joshua und Erika den Rest aufgeklärt, als ich noch geschlummert habe. Mit Gästen scheint hier eh niemand ein Problem zu haben, soviel weiß ich inzwischen. Der Tee beruhigt meinen Magen immerhin soweit, dass ich dankend eins von Joshuas geschmierten Brötchenhälften entgegennehme. Die Marmelade ist an zwei Stellen über den Rand gelaufen, und ein Fan von Margarine drunter bin ich auch nicht, aber es ist mit so viel Herzblut geschmiert worden, da macht das alles überhaupt nichts. Der Geschmack von süßen Himbeeren breitet sich auf meiner Zunge aus. Die Brötchen haben eine gute Substanz, nicht so luftig und nichtssagend, wie es inzwischen leider viele Fertigteiglinge sind, die Bäckereiketten einkaufen. Kauend greife ich nach dem Glas rotem Fruchtaufstrich und muss leicht enttäuscht feststellen, dass sie selbstgemacht ist. Schade, also nichts, was ich kaufen könnte. Sonst gibt es leider nicht viel, auf das ich meine Aufmerksamkeit richten könnte. Nathan räumt gerade sein Besteck in die Spülmaschine, Holly scheint trotz des Lärms um sie herum eingeschlummert zu sein. Erika liest weiter Zeitung und Holger zeichnet nach wie vor irgendwas. Joshua neben mir stützt sich mit einem Ellbogen am Tisch ab, die zugehörige Hand baumelt locker vor ihm über die Tischkante. Sein schwarzes Tshirt sitzt eng und überlässt nur wenig der Fantasie. Nicht, dass mein Kopfkino groß Futter bräuchte. Wobei mich die nur noch locker im Zopf hängende Strähne schon fast mehr reizt. Würde ich sie zurück hinter sein Ohr streichen oder lieber den Rest seiner Haarpracht aus dem Gummi befreien? Der Größere blickt mich fragend an und mir wird bewusst, dass ich gestarrt habe. Schnell wende ich mich wieder meinem Frühstück zu, von dem bloß nichts mehr übrig ist. Ich seufze lautlos. Ablenkung ist gut, aber vielleicht sollte ich eine weniger riskante Form suchen. Könnte sonst sehr unangenehm werden.   Nach dem Essen folge ich Joshua durch den kunterbunten Flur zurück in sein im Vergleich doch recht düsteres Zimmer. Obwohl die Rollläden inzwischen hochgezogen sind, überwiegt der Eindruck der dunklen Farben. Und ja, okay, ich versuche mich mit aller Gewalt gedanklich von allem fernzuhalten, was auch nur im Entferntesten mit meinem Vater zu tun hat. Ich bin emotional einfach noch nicht bereit, sagt mir der dicke Klumpen in meinem Magen, der mit jeder verstreichenden Minute mehr gewachsen ist, in der mich niemand auf das Offensichtliche ansprach. „Alles okay?”, fragt Josh zum wiederholten Male, immer noch ehrlich besorgt klingend. „Lenk mich ab.” Mein Mund ist schneller als mein Gehirn, doch zurücknehmen will ich die Worte dennoch nicht. „Bitte.” Flehend sehe ich zu ihm auf. Etwas überrumpelt schaut er mich an. „Ähm...” Sein Blick schweift durch das Zimmer, ehe er wieder an mir hängen bleibt, unschlüssig, zwiegespalten. Ich kann regelrecht seine Gedanken lesen. Kurzentschlossen trete ich zu ihm, lege eine Hand in seinen Nacken und ziehe ihn zu mir hinab. Mehr Aufforderung braucht er nicht, sein Mund findet den meinen sofort. Mit einem leisen Seufzen gebe ich nach, lasse ihn an meiner Unterlippe saugen und nutze kurz darauf die Chance, mit meiner Zunge zwischen seine Lippen zu fahren. Nun ist er es, dem ein wohliger Laut entweicht, während er mich umschmeichelt und verspielt neckt. Meine Hände gehen auf Wanderschaft, ertasten, was ich zuvor schon deutlich erahnen konnte. Er ist warm, selbst durch den Stoff hindurch, wie immer. Ich drücke mich an ihn und mein Kopfkino hat bereits eine sehr genaue Vorstellung davon, wie er mich ablenken könnte. Im Hintergrund schreit mein Verstand, mit tausend guten Argumenten, warum das jetzt keine Idee ist, aber ich ignoriere ihn. Feste legen sich seine Hände auf meinen Rücken, rutschen tiefer, bis sie auf meinem Po zum Liegen kommen. Die Geste verunsichert mich ebenso, wie sie mich anturnt. Meine eigenen Hände gleiten höher, vergraben sich in seinen Haaren und zerstören vollends das, was von seiner Frisur noch übrig war. Es klopft an der Tür. Wie zwei Teenager, die heimlich etwas Verbotenes tun, fahren wir auseinander und starren das hölzernen Ding an. Es klopft erneut. „Jungs? Darf ich reinkommen?” Erika. Mir sackt das Herz in die Hose, in der auf jeden Fall wieder reichlich Platz ist. Joshua wirft mir einen unsicheren Blick zu. Ich zucke die Schultern. „Ja? Was gibt es denn?”, fragt er, um ein schiefes Lächeln bemüht, hektisch die Haare richtend. Sein neuer Zopf ist nur unwesentlich ordentlicher, als der vorherige. Erika kommt ins Zimmer, ich sehe das kurze Grinsen, ehe sie es verbergen kann. Sie tut so, als ob sie nicht ahnen würde, bei was sie uns unterbrochen hat, ich tu so, als würde ich nicht mit heißen Wangen darauf reagieren. „Paul, ich ahne, wie du dich fühlst und es tut mir auch Leid, dich erneut aufzuwühlen, aber hättest du die Kraft, noch einmal in Ruhe mit mir zu reden?”, bringt sie ihr Anliegen sehr einfühlsam vor. „Es wäre auch in deinem Sinne wichtig.” „Ich...” weiß nicht. Joshua ergreift meine Hände und mit Verwunderung merke ich, dass sie zittern. „Kann Josh mitkommen?” „Aber sicher, wenn du das willst”, willigt sie ein. Ich schaue fragend, hoffend zu meinem Freund hoch. „Wenn du mich dabeihaben willst...” Er lächelt tapfer, auch ihm scheint das bisschen, was er unfreiwillig mitbekommen hat, an die Nieren zu gehen. Kurz regt sich mein schlechtes Gewissen, aber im Grunde bin ich viel zu dankbar, ihn zu haben.   ~*~   Joshuas POV   Erschöpft lehne ich mich an die Wand neben Mamas kleinem Arbeitszimmer und lasse mich daran hinab zu Boden gleiten. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, nur um in der nächsten Sekunde hilflos zur Decke zu starren. Ich war nur am Anfang beim Gespräch dabei, doch das hat mir bereits gereicht. Ich will Paul unbedingt beistehen, ihn halten, trösten und vor der bösen Welt beschützen, doch gleichzeitig bin ich froh, ihn in den kompetenten Händen meiner Mutter zu wissen. „Was eine Scheiße...”, fluche ich leise vor mich hin.   Als Paul später – gefühlte Ewigkeiten später – aus dem Zimmer kommt, die Augen rot und verquollen, ein zerknautschtes Taschentuch in der Hand, hält mich nichts mehr am Boden. Ich springe auf und ziehe ihn in einer fließenden Bewegung in meine Arme, dort, wo er sich so richtig anfühlt. Kurz versteift er sich, ehe er sich anschmiegt, jeglicher Kraft beraubt, die ihn aufrecht gehalten hatte. Meine Mutter folgt ihm, legt eine Hand auf seine Schulter und lächelt mich wortlos ermutigend an. Dann geht sie. Für heute hat sie genug gesagt. So stehen wir einen Moment, nur für uns. Ich kraule seinen Rücken, seinen Nacken, alle Stellen, auf die er so herrlich reagiert. Irgendwann geht ein Ruck durch den schmalen Körper und er löst sich von mir, gerade soweit, dass sich unsere Blicke begegnen können. Er lächelt tapfer. Ich hebe die Hand und wische ihm eine Träne aus dem Augenwinkel. „Kann ich heute noch einmal hier schlafen?”, fragt er heiser. „Aber natürlich”, willige ich sofort ein. „Ich brauche wohl ein paar Sachen von zu Hause...” „Kein Problem. Jetzt oder morgen früh.” Er überlegt. „Lieber heute noch.” „In Ordnung.” Ich küsse ihn flüchtig. „Sag Bescheid, wann du soweit bist.” „Danke.”   ~*~     Keine Sorge, was genau bei Paul los ist, löse ich schon noch auf ;) Kapitel 20: ------------ ~ 20 ~   Joshuas POV   Paul ist verdammt still während der Fahrt zu seinem Heim. Er starrt aus dem Fenster, das Kinn in die Hand gestützt und die Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Ich würde ihm gerne helfen, die Last von seinen Schultern nehmen, doch ich wüsste nicht, wie. Er hat mir mehr oder weniger deutlich gemacht, dass er für einen Tag genug geredet hat und sich lieber auf andere Dinge konzentrieren will, doch nun, da wir genau an den Ort fahren, an dem all seine Sorgen begründet zu sein scheinen, kann ich die Gewitterwolken seiner inneren Konflikte förmlich vor mir sammeln und zunehmend türmen sehen. Auch auf meiner Brust macht sich ein Druck breit, ein unsichtbares Gewicht, gegen das sich nur mühsam atmen lässt. Ich verstehe noch immer nicht genau, was vor sich geht, aber eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Um Pauls Willen wäre es wohl besser, ich würde bei einer etwas besseren Gelegenheit fragen, aber um meinetwillen würde ich lieber den Kopf in den Sand stecken und so tun, als würde ich weiter in einer heilen Welt leben, in der mein größtes Problem in meinen nervigen Geschwistern und pseudocoolen Eltern besteht. Mein schlechtes Gewissen prügelt sofort auf mich ein und jagt einen stechenden Schmerz durch meine Brust, dass ich förmlich zusammenzucke. Wie egoistisch bin ich eigentlich? Ich werfe einen reuevollen Blick auf den Blonden neben mir. Strecke meine Hand nach seinem Bein aus, nur um sie im letzten Moment wieder zurückzuziehen. Ich kaschiere die Bewegung, die Paul nicht einmal bemerkt zu haben scheint, indem ich die Gangschaltung betätige, auch wenn ich es an dieser Stelle nicht unbedingt gemusst hätte.   Ich parke den Wagen vor dem kleinen Häuschen. Mit meinem neuen Wissen wirkt es mit dem ungepflegten Garten gleich doppelt trostlos. Wir steigen auf, immer noch schweigend, und ich folge Paul erst zur Tür und dann ins Innere. Unsere Schritte scheinen von den Wänden wiederzuhallen. Ich habe mal gehört, eine Wohnung spiegelt das Innere eines Menschen wieder. Stimmt das wirklich? Und fange ich gerade an, zu viel in alles zu interpretieren und völlig überzubewerten? Ich bemühe mich, die Gedanken zusammen mit meinen Schuhen abzuschütteln. Mein Freund kommt mit einem Seufzen aus der Küche zurück und sieht unsicher in Richtung Treppe. Über sein Gesicht huschen verschiedene Emotionen: Angst, Sorge, Unwille und verdammt viel Verunsicherung. Wortlos greife ich seine Hand und drücke sie ermutigend. Wenn er nach seinem Vater sehen will, was ich nur zu gut verstehe, dann werde ich ihm beistehen, sofern er möchte. Scheiß auf Vogelstraußtaktik, jetzt ist es mal an der Zeit zu beweisen, dass ich es ernst mit ihm meine. Paul schenkt mir ein flüchtiges Lächeln, welches seine Augen kaum erreicht. Die erste Etage habe ich zuvor noch gar nicht zu Gesicht bekommen, Paul selbst wohnt im Erdgeschoss. Viel anders ist es hier oben nicht, die Wände sind in neutralem Beige gestrichen, vereinzelt hängen Landschaftbilder herum, statt der Fotos. Drei Türen gehen vom Flur mit dem grauen Teppich ab. Hinter einem kann ich Fliesen erkennen, die anderen beiden sind geschlossen. „Papa?“, ruft Paul mit brüchiger Stimme, seine Hand in meiner fühlt sich kalt und feucht an. Ich drücke sie erneut. Ein Aufatmen geht spürbar durch unserer beider Körper, als sich eine der Türen öffnet und ein Mann in den Flur kommt, den ich von den Fotos wiedererkenne. Er wirkt älter, als er sein dürfte, Sorgenfalten zieren sein Gesicht und das Haar weicht merklich nach hinten zurück. „Oh, hallo ihr beiden.“ Der ältere Mann lächelt etwas wacklig. Er mustert kurz unsere immer noch verschränkten Finger, sagt jedoch nichts dazu. Ein unsichere Stille legt sich über uns und jeder wartet auf den nächsten Schritt des jeweils anderen. Schließlich ist es Paul, der den Bann bricht. „Ich- es tut mir Leid, dass ich gestern abgehauen bin, aber ich...“, er schluckt, sammelt sich, „ich musste den Kopf frei kriegen. Ich hab dich ganz furchtbar lieb und ich will dir auch helfen, aber gerade ist es mir alles ein bisschen zu viel geworden. Ich würde gerne heute Nacht noch einmal bei Joshua schlafen. Morgen komme ich dann wieder, versprochen! Ich lasse dich nicht im Stich, ich brauche nur... eine kurze Atempause.“ Einmal begonnen, sprudelt es aus ihm heraus. Eine Mischung aus Dingen, die stark nach meiner Mutter klingen und Pauls ureigenen Gedanken und Gefühlen, immer getrieben von seinem schlechten Gewissen, für das er meiner Meinung nach keinen Grund hat. Sein Vater sieht ihn leicht schockiert an, ehe seine Züge weicher werden, obwohl er zeitgleich besorgt die Brauen hochzieht. „Du musst doch nicht... Himmel, Paulchen!“ Er stürmt regelrecht auf seinen Sohn zu und zieht ihn in eine Umarmung, die uns alle überrascht. Paul löst unsere Finger und legt beide Hände vorsichtig um seinen Vater. „Natürlich darfst du das. Du musst doch nicht immer auf deinen alten Herrn aufpassen.“ Seine Stimme klingt erstickt. Mir ist die Situation verdammt unangenehm und ich trete den strategischen Rückzug an. Das folgende Gespräch ist nicht für meine Ohren bestimmt, da bin ich mir sicher. Ich will meinen Freund nicht im Stich lassen, aber auch nicht zu tief in seine Privatsphäre eindringen. Und ich habe die Hoffnung, dass hier eine dringend benötigte Aussprache stattfinden könnte. Leise schleiche ich mich die Treppe herunter und in Pauls Zimmer, wo ich mich auf sein Bett setze. Ich habe über die Jahre von meiner Mutter genug gelernt um zu wissen, dass hier jetzt kein super Happy End stattfindet und in Zukunft alles dufte werden wird. Aber vielleicht ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung, wer weiß.   Paul kommt kurz darauf zu mir. Seine Augen sind wieder rot, er hat geweint. Er zögert, wirft sich dann aber doch in meine ausgebreiteten Arme. Halb sitzend, halb liegend ist wirklich unangenehm, also rutsche ich mit ihm ein Stück nach hinten und strecke uns beide lang auf der Matratze aus, er über mir. Man sollte eigentlich meinen, bei seiner Größe und seiner schmalen Statur wäre er ein Fliegengewicht, doch auch die paar Kilo drücken ordentlich auf mich. Ich beschwere mich nicht, natürlich nicht, im Grunde genieße ich es sogar. Stattdessen streiche ich über seinen Rücken und halte ihn, gebe ihm ein paar Minuten um sich wieder zu sammeln. Ein tiefer Atemzug bestätigt wenig später, dass er genau das getan hat. Der Blonde richtet sich auf und lächelt wackelig auf mich hinab. „Danke.“ „Kein Ding“, erwidere ich mit einem Klos im Hals, den ich erfolglos wegzuräuspern versuche. Ich kann nichts dagegen tun, mein Kopf driftet einfach ohne mein Einverständnis in andere Gefilde ab. Der Druck von Pauls Händen auf meiner Brust fühlt sich einfach zu gut an und wie er über mir thront, die blonden Haare etwas derangiert, die noch immer leicht feuchten Augen, die ihn trotz allem noch schön aussehen lassen... Vielleicht ist es der Versuch meines Unterbewusstseins, mich von der düsteren Stimmung abzubringen, dennoch kann ich es jetzt gar nicht gebrauchen, spitz zu werden, wie der hormongeladene Teenager, der ich immer noch bin. Diese Art der Ablenkung hat zwar gestern Abend gut funktioniert, ist hier aber sicher fehl am Platz. Ich räuspere mich erneut und schiebe Paul vorsichtig von mir, um dann etwas zu schnell auf die Füße zu kommen. „Was äh, brauchst du denn alles?“ Selbst in meinen Ohren klingt mein Ablenkungsmanöver hohl und gekünstelt. Mein Freund runzelt die Stirn. „Ich packe. Warte kurz.“ Er sortiert seine Schultasche passend für den kommenden Montag, holt noch eine weitere Tasche von seinem Schrank herunter (wobei sein Shirt hochrutscht und einen aufreizenden Streifen nackter Haut offenbart, der in meinem Hirn einen Kurzschluss verursacht. Hormone und so.) und stopft recht wahllos einige Klamotten hinein. Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Hände in die Taschen, nee das ist zu ungemütlich, doch wieder Hände raus, mit den Armen schaukeln. Okay, ich fühle mich gerade offiziell überflüssig. Und in Anbetracht der Tatsache, dass mir meine Mitmenschen und ihre Handlungen sonst meistens am Allerwertesten vorbeigehen, ist das eine ungewohnte und ebenso unwillkommene Gefühlsregung. Mein Hirn drängt mich, etwas zu sagen, mein Mund verweigert zu meinem Glück aber den Dienst. Es ist nicht immer das Schlaueste, was ich so von mir gebe. „Ich glaube, wir können“, gibt Paul schließlich den erlösenden Startschuss. Ich bemühe mich wirklich, nicht zu erleichtert auszusehen. Gemeinsam verlassen wir sein Zimmer, er ruft noch eine Verabschiedung die Treppe hinauf, die auch erwidert wird und dann gehen wir zurück zu meinem Auto, was gar nicht mein Auto ist, sondern unsere übergroße Familienkutsche. Ach, auch egal. Was mache ich mir gerade über so einen Quatsch Gedanken? Ich würde stattdessen auch gerne fragen, ob sein Vater sich nach dem erkundigt hat, was ganz offensichtlich zwischen uns ist, aber ich finde keine passende Formulierung und irgendwie scheint jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein. Vielleicht hat er ja auch gar nichts gemerkt? Wobei, welcher Kerl hält seinen Kumpel schon an der Hand, emotional aufwühlende Situation hin oder her? Ich bekomme auch während der Fahrt meine Klappe nicht auf. Irgendwann, als ich so angestrengt die fast leere Straße vor mit im Blick behalte und innerlich kurz vor dem Platzen stehe, spüre ich eine zaghafte Berührung an meiner rechten Hand. Ich verkneife mir ein Aufatmen und ergreife erleichtert die Chance – und die schmale Hand, die so schüchtern nach Nähe sucht. Lächerlich, wie ich mich anstelle, wo Paul doch so viel größere Probleme hat. Aber ich kann eben auch nicht aus meiner Haut. Wir schweigen uns auch weiterhin an, doch die Stille droht nicht mehr, uns zu ersticken. Zu Hause trage ich seine Tasche in mein Zimmer, wo wir dann etwas ratlos voreinander stehen. Ein Klopfen an der Tür erlöst mich, was mich zugleich noch ein bisschen mehr beschämt. „Hallo ihr zwei”, begrüßt uns meine Mutter, ein freundliches, unaufdringliches Lächeln in den Mundwinkeln. „Alles geklappt?” Offensichtlich. Doch selbst ich sozialer Volltrottel verstehe die implizierte Frage dahinter. „Ja, ich...”, Paul seufzt und setzt noch einmal an, das Lächeln etwas gequält erwidernd, „es scheint ihm einigermaßen gut zu gehen. Ich habe es ihm erklärt, wie wir es besprochen haben und zumindest dass ich eine Pause brauche, scheint er zu verstehen.” Mama nickt ermutigend. „Das ist doch ein guter Anfang. Und mein Angebot steht natürlich auch weiterhin.” Damit wendet sie sich zum Gehen, hält aber noch einmal an, kurz bevor sie die Tür hinter sich schließt. „Es gibt in einer Stunde Essen, wenn ich deinen Vater richtig verstanden habe.” „Alles klar, Mum”, informiere ich sie. Kaum ist sie fort, richtet sich meine Aufmerksamkeit auf Paul. „Was für ein Angebot?”, frage ich neugierig, besinne mich dann. „Also, nur wenn du es sagen willst.” Das Lächeln wird einen Tick echter. „Dass sie mich begleitet und versucht zu vermitteln. Oder, dass sie eine Bekannte mit eigener Psychotherapiepraxis fragt, ob sie einen Termin für meinen Vater und auch für mich freischaufeln kann.” „Und? Weißt du schon, was du willst?” Er zuckt ratlos die Schultern. „Nicht wirklich. Das kommt alles etwas plötzlich und... ich weiß nicht, ob Papa Hilfe annehmen wird. Ich weiß ja selbst nicht einmal, ob ich es kann. Wir haben uns immer schon alleine durchgeschlagen und bis gestern hat es irgendwie geklappt.” „Irgendwie? Sorry, Sweetie, aber du hast mehr verdient als irgendwie.” Ich widerstehe dem Impuls nicht länger und ziehe ihn in meine Arme. „Mama hat das Thema doch schon mit dir durchgekaut. Es ist keine Schande, sich Hilfe zu suchen. Das macht euch auch nicht schwach oder so ein Quatsch. Eigentlich sogar im Gegenteil.” Ja, auch ich bin nicht gewappnet vor der lebenslangen Indoktrination meiner Eltern bei dem Thema. Ich spüre das schwere Seufzen an meiner Brust. „Ich versuch's”, nuschelt er schließlich nach einer Weile. „Mehr erwartet auch niemand von dir. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann...” Ich ersticke die fiese kleine Stimme in meinem Inneren, die mich darauf hinweisen will, wie hilfreich ich gerade in Punkto Gespräche bislang war. Und damit auch Paul keine Gelegenheit mehr hat, derartige Zweifel zu entwickeln, konzentriere ich mich auf meine besseren Fähigkeiten: Körperlichkeit. Ich schiebe Paul an den Schultern ein Stück von mir weg, nur um die Distanz direkt wieder zu überbrücken. Seine Unterlippe ist ein wenig rau und zugleich geschwollen vom stundenlangen grüblerischen Herumgenage, aber weil ich ein verknallter Idiot bin, kann ich mir keine schönere Beschaffenheit vorstellen. Nun ja, vielleicht wenn sie von anderen Dingen geschwollen wären...? Paul erwidert meinen Kuss hungrig und lenkt somit auch mich von zu viel Grübeleien ab. Bald reicht es uns nicht mehr, nur harmlos mit unseren Lippen übereinander zu schmusen. Der Blonde ergreift die Initiative und leckt sich einen Weg bis zwischen meine Zähne. Ein fester Griff um meinen Nacken hindert mich am Ausweichen. Unnötig, warum sollte ich? Während ich auf seine Neckereien eingehe und nicht ganz bereit bin, die Führung des Kusses abzugeben, einfach, weil der spielerische Kampf um die Vorherrschaft viel zu viel Spaß macht, dirigiere ich uns Richtung Bett und darauf. Wir lösen uns nur, wenn es gar nicht anders geht, schnappen begierig nach Luft, nur um im nächsten Moment wieder wie zwei Magnete aneinander zu kleben. Auf der Seite liegend vertiefen wir den Kuss wieder, nur unsere abgehackten Atemzüge und gelegentliche Schmatzer erfüllen die Stille. Beinahe wäre ich zusammengezuckt als sich vorwitzige Finger ohne nennenswerte Umwege ihren Pfad unter mein Shirt suchen. Die Berührung ist alles andere als zaghaft, so zielstrebig, wie er küsst, sucht er sich auch seinen Weg über meine Rippen, nur mit kurzem Zwischenstopp an meinen Brustwarzen, ehe er die Erkundung seitlich fortführt. 'Ich habe ein Monster erschaffen', geht mir durch den Kopf. Nicht, dass ich grundsätzlich was dagegen hätte, und sei es nur als Ablenkung, aber... „Langsam”, keuche ich, mich mühsam kurz von ihm lösend. Paul murrt unzufrieden und stürzt sich erneut auf mich. Ich lande auf dem Rücken, der Kleinere halb über mir. Und okay, ja, ich gebe auf. Ich habe es versucht, das muss für mein Gewissen reichen. Ich taste mich ebenfalls zu ihm vor und streiche in großen Bahnen über seinen Rücken und seine Seiten, ein Kontrast zu seiner fast hektischen Art. Er beißt leicht in meine Unterlippe und ich wiederhole mein beschwörendes „Langsam”. Und es scheint zu wirken. Er wird ruhiger, nicht weniger leidenschaftlich, aber ich habe nicht mehr das Gefühl wahlweise zu ersticken oder unter seinen Fingern zu verglühen.   Bis zum Essen haben wir uns einigermaßen beruhigt, unser wildes Rummachen glich zum Schluss eher einer sehr kitschigen Knutscherei mit ein bisschen Schmusen und Streicheln fernab jeglicher gefährlichen Bereiche. Trotzdem kann man uns wohl ansehen, was wir so getrieben haben, den eindeutigen Blicken meiner Geschwister zu urteilen. Doch weder sagen die Zwillinge aus der Hölle, noch meine Eltern etwas dazu. In vertauschten Rollen sitzt meine Mutter schon am Platz, über ihr Smartphone gebeugt, welches sie erst in letzter Sekunde wegsteckt und mein Vater werkelt am Herd. Nathan wird unter Gemurre dazu verdonnert, das Essen aufzutischen, Holly holt das Besteck. „Könnt ihr zwei nachher spülen?”, fragt Paps an uns gewandt. „Ähm... sicher”, bestätige ich nach einem kurzen Blick zu Paul. Ich sehe es mal positiv: Zur Hausarbeit verdonnert werden ist eine Art Ritterschlag. Oder so. Einen reinen Gast-Gast würde er das nie fragen, Paul ist also offiziell zur Familie annektiert.   ~*~   Ich hoffe, die Sprünge zwischen leicht deprimiert und dezent sexuell angehaucht sind euch nicht zu viel? Aus meiner Sicht passt das schon, aber ich bin als Autor*in ja auch betriebsblind ;) Kapitel 21: ------------ Ja, mich gibt es noch. Anstrengende Zeiten...   ~ 21 ~   Pauls POV   Die Herzlichkeit, mit der mich Joshuas Familie aufnimmt, ist mir beinahe zu viel. Völlig selbstverständlich bekomme ich einen Platz am Tisch zugewiesen und ebenso selbstverständlich gibt es neben dem großen Topf Bolognese auch einen nicht eben kleinen mit einer fleischlosen Alternative für mich. Kein Murren, kein extra drauf Hinweisen, kein gar nichts. Einfach so. Und nicht nur ich bediene mich schlussendlich daran, alleine würde ich an dieser Portion wohl auch eine gute Woche essen. Ich beteilige mich nur wenig an den Tischgesprächen, zu anstrengend war das Wochenende und der wenige, schlechte Schlaf macht sich mit voller Wucht bemerkbar. Dennoch fühle ich mich nicht ausgeschlossen, immer wieder werde ich kurz in die Unterhaltung mit eingebunden und Josh würde wohl seine linke Hand am liebsten dauerhaft irgendwo an oder auf mir belassen, wenn er sie nicht bräuchte, um der widerspenstigen Spaghetti Herr zu werden.   Wie angekündigt müssen wir zwei nach dem Essen spülen, oder zumindest auf- und die Spülmaschine einräumen. Der Rest der quirligen Familie hat sich im ganzen Haus verteilt und ich genieße die Stille, welche nur von dem gelegentlichen Klirren der Gläser und Besteckteile durchbrochen wird. „Alles okay?” Blinzelnd blicke ich zu Josh. „Äh, ja. Nur in Gedanken.” Ich ziehe meine Mundwinkel hoch, widme mich dann wieder den Tellern. Ich sehe nur im Augenwinkel eine Bewegung. Die nasse Berührung an meiner Nase kommt unerwartet. „Hey!”, protestiere ich und wische mir den Schaum von der Nasenspitze. Joshua grinst. „Upsi.” Mit verengten Augen taxiere ich die Lage. So schnell, wie ich meine Hand in den Schaum getunkt habe, kann er nicht reagieren und das Hochreißen seiner Arme kommt zu spät. Das fluffige Weiß haftet wunderbar an den inzwischen deutlich sichtbaren Bartstoppeln und bildet einen hübschen Kontrast zu den schwarzen Haaren und den braunen Augen, die mich perplex mustern. „Hoppla”, imitiere ich ihn. Das herausfordernde Blitzen lässt meine Magengegend aufgeregt kribbeln. Wir schnellen beide zum Spülbecken, das eigentlich für die Töpfe vorgesehen war und versuchen den jeweils anderen zu treffen, ohne uns selbst in Gefahr zu bringen. Ein kurzes Gerangel entsteht, ich fühle schaumiges Nass an meinem Kinn und unter dem rechten Ohr, Joshua treffe ich an Hals, Stirn und mitten auf das schwarze Tshirt, was sich an dieser Stelle noch eine ganze Ecke dunkler verfärbt. Lachend ergebe ich mich, als er es aus purer körperlicher Überlegenheit schafft, mich zwischen sich und der Anrichte einzuklemmen. Ein letztes Mal greift er in die Spüle und ich ziehe fluchend Schultern und Nacken zusammen, als es meine Wirbelsäule hinab bis zwischen die Schulterblätter hinabrinnt. „Iihh!”, beschwere ich mich japsend und immer noch lachend. „Selbst Schuld”, brummt mein Freund unernst und überrascht mich ein weiteres Mal, jetzt mit einem stürmischen Kuss. Wir atmen beide noch hektisch, was keine langanhaltenden, technisch ausgefeilten Spiele zulässt (die ich ohnehin nicht beherrschen würde) und doch... hat es seinen ganz eigenen Reiz. Nur Joshuas kalte, nasse Hände auf meinem unteren Rücken jagen mir eine Gänsehaut über den Körper, die zu der unschönen Sorte gehört. „Viel besser”, schnurrt der Schwarzhaarige förmlich, als ich ihn schließlich auf Abstand drücke und streicht mir zärtlich eine Strähne aus der Stirn. „Was besser?”, frage ich verwundert. „Das da.” Er tippt an meine Wange, unweit meines Mundwinkels. „Was hab ich da? Noch mehr Schaum?” „Nein, viel besser”, meint er kryptisch und wendet sich den wartenden Töpfen zu, als wäre nichts gewesen. Ich betaste meine Wangen, kann aber nichts fühlen. Mir geht es aber viel zu gut, um mich noch weiter damit zu befassen und so räume ich gut gelaunt die Spülmaschine fertig ein. „Sorry, das kann ich mir nicht verkneifen”, entschuldigt sich Joshua wenig reuevoll, nur um keine Sekunde später einen Klaps auf meinen in die Höhe gereckten Po sausen zu lassen. „He!” Ich funkel ihn an, während sich die Hitze in meinem Gesicht sammelt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich mal wieder erröte, weshalb ich mich schnell wieder abwende. Es tat nicht weh, aber dennoch kann ich die Berührung an meinem Hintern immer noch fühlen. Nervöser als angebracht, spüre ich ihr nach. Mein Kopfkino springt sofort wieder an und verarbeitet die frischen Empfindungen kreativ in neue Szenerien. Kein S/M-Kram, das kann ich mir nun wirklich nicht für mich vorstellen, aber es gibt ja auch harmlosere, oder besser gesagt sanftere Situationen, in denen- 'Stopp!', rufe ich mich selbst zur Räson. Das ist nun wirklich kein guter Zeitpunkt um meiner seit kurzem erwachten Libido neues Futter zu geben. Ich komme mir ohnehin vor, wie das männliche Äquivalent zu einer läufigen Hündin. Warum gab es derartige Vergleiche eigentlich nicht mit hormongeladenen Rüden oder Katern? Waren die nicht genauso oder noch schlimmer? Mir kommt nur 'geiler Bock' und irgendwas mit 'Hengst' in den Sinn, aber die Begriffe haben irgendwie eine andere Bedeutung... Ich bin mir nicht sicher, ob über derlei sprachliche Spitzfindigkeiten zu grübeln wirklich besser ist. Seufzend schnappe ich mir ein Handtuch und trockne ab, was mein Freund schon sauber geschrubbt hat.   ~*~   Der Morgen beginnt für mich gut ausgeruht. Der Abend war kurz, nach einer dezent chaotischen Runde 'Siedler von Catan' mit Holly, Holger und natürlich Joshua, gab es für mich nur noch eine Dusche, ein kurzes Abendessen und dann ging es schon ab ins Bett. Keine Ahnung, ob mein Freund gemerkt hat, dass ich mit den Gedanken ganz woanders war, er hat mich einfach mit dem Rücken an seine Brust gezogen und gehalten, während ich angespannt dalag und nicht wusste, ob ich meinem Drang nach intimerer Nähe nachgeben soll oder nicht. In der Theorie hätte ich gerne, doch in der Praxis überkamen mich dann doch die Zweifel. Wollte er es überhaupt? Machte nicht den Eindruck, sonst würde er doch auch den ersten Schritt machen, oder? War ich zu forsch? Oder im Gegenteil, zu verklemmt? Was erwartete er von mir? Was für Erwartungen hatte ich an mich selbst und an ihn? Zum Glück bin ich über derlei Gedanken sehr bald eingeschlafen und hatte keinerlei Gelegenheit mehr, sie erneut durchzukauen. Denn der Morgen im Hause Lehmann ist alles andere als ruhig. Trotz zwei Badezimmern kamen wir uns immer in die Quere, Holly brauchte ewig und Nathan nölte lautstark rum. Dass ich dazu kam, schien alles an morgendlicher Routine vollends durcheinander zu bringen und ich war schon froh, bereits Abends in Ruhe geduscht zu haben und jetzt nur für eine Katzenwäsche und Zähneputzen ins Bad zu müssen. Ein bisschen wehmütig war ich schon, als ich das große Tshirt, was ich mir zum Schlafen von Josh gemopst hatte, wieder gegen meine eigene Kleidung tauschen musste. Joshua war nur halb wach und spulte sein Programm im Zombiemodus ab. Erotische Stimmung wäre so unmöglich aufzubringen gewesen und das war bei dem andauernden Gepolter im Flur wohl auch besser so. Kaum zu glauben, dass hier nur fünf und nicht fünfzig Menschen wohnen. Erika war so nett, mir eine Brotbox zu leihen und mir die Obstschale zur freien Auswahl zu überlassen. Während Störenfried Nummer eins ohne Frühstück das Haus verließ, schaufelte ich mir Cornflakes mit Hafermilch rein und hörte mit halbem Ohr Hollys Gezeter zu. Josh erwachte nur langsam zu seiner normalen Form.   Nach einer Busfahrt, während der uns Holly fröhlich plappernd ein Ohr abkaut, bis endlich eine ihrer Freundinnen zusteigt und uns erlöst, betreten wir gemeinsam das Schulgebäude. Meine eigenen Freund:innen gucken leicht irritiert, als ich gemeinsam mit meinem großen, schwarzen Schatten bei ihnen ankomme. „Du bist spät dran”, begrüßt mich Kathi, lächelt aber, als sie mich in eine kurze Umarmung zieht. „War ein stressiger Morgen”, rücke ich mit der halben Wahrheit heraus, die anderen beiden ähnlich begrüßend. „Du kannst dich immerhin gleich entspannen.” Matz stöhnt, einen Arm noch immer über meine Schulter gelegt. „Echt mal, freut euch schon auf eure Prüfungsvorbereitungen. Nicht.” „Aber dafür habt ihr es bald hinter euch”, kommentiert Josh in meinem Rücken. „Wenn wir es denn schaffen.” „Ach, so schlecht bist du nun auch wieder nicht”, foppt Kathi Matz. Das Geplänkel geht weiter, doch gedanklich klinke ich mich aus. Der Gedanke, dass meine Clique bald auf mich und Joshua zusammenschrumpfen wird, sobald die Abiturprüfungen gelaufen sind, ist in meiner aktuellen Gemütslage ein weiterer Schlag in die Magengrube. Ich will nicht, dass sie gehen! Ich schaue auf und begegne Joshuas Blick. Beinahe automatisch muss ich lächeln. Wenigstens werde ich nicht alleine sein.   ~*~   Nicht nur meinen Mitschüler:innen eine Stufe drüber stehen die Prüfungen bevor, auch uns foltern die Lehrer zunehmend mit Klausuren und deren Vorbereitung. Mein Terminplaner füllt sich zunehmend mit Klausurterminen, für die ich bei Zeiten schon noch lernen sollte und die Hausaufgaben werden auch nicht weniger. Diesem Umstand habe ich es jetzt auch irgendwie zu verdanken, dass Josh bei mir auf dem Bett sitzt und sich missmutig durch seine Unterlagen wühlt, während ich in etwa das Gleiche am Schreibtisch mache. Ein entscheidender Nachteil seiner Familie scheint zu sein, dass man dort niemals Ruhe hat. Meine Einladung, Mittwoch Nachmittag zusammen zu lernen, hat er dankend angenommen und bis auf ein bisschen knutschen beim Kochen, haben wir uns auch tatsächlich zusammengerissen. Ich beobachte ihn über den Rand meines Ordners hinweg. Die schwarzen Strähnen haben sich aus dem nachlässigen Zopf gelöst und verdecken teilweise die gerunzelte Stirn. Lautlos formuliert sein Mund das Gelesene, die Augen zucken zwischen Buch und Block hin und her, gelegentlich notiert er sich etwas. Dass ich wohl hingerissen geseufzt habe, registriere ich erst, als sich das warme Braun seiner Augen fragend auf mich richtet. „Alles klar?“ „Äh... ja. Ich, ähm, hab nur Durst. Willst du auch was haben?“ Ohne groß seine Antwort abzuwarten, stürme ich in den Flur und flüchte mich regelrecht in die Küche. Schwer atmend lehne ich meine Stirn an den Kühlschrank und fluche lautlos. Ich dreh noch durch! Seit zweieinhalb Wochen waren Joshua und ich nicht mehr wirklich alleine, wir finden kaum Zeit und wenn, dann verbringen wir sie wie jetzt mit lernen oder ich bin mit den Gedanken ganz woanders. Warum ist es heute anders? Okay, wir sind tatsächlich wirklich alleine. Aber eigentlich sollte ich dennoch nervös sein, schließlich ist Papa just in diesem Moment auf dem Weg zu seinem Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten. Es hat noch lange Gespräche zwischen uns gebraucht und er hat auf mein Bitten sogar mit Joshuas Mutter geredet, aber letztendlich hat er sich bereit gefühlt, Hilfe anzunehmen. Es ist nur ein Erstgespräch, nur ein Anschnuppern und schauen, ob eine Therapie auf lange Sicht sinnvoll ist. Die Wartelisten für ebendiese sind leider ewig lang, aber es wäre ein erster Schritt. Mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern gehe ich zurück zu Joshua, der unverändert zwischen Blättern und Büchern auf meinem Bett sitzt. Es ist still bis auf das Kratzen seines Kugelschreibers auf der rauen Oberfläche des Papiers und gelegentlichem Murmeln. Mein aufgeregter Puls beruhigt sich bei dem Anblick ein wenig, auch wenn das Kribbeln in meine Fingerspitzen zurückkehrt. Ich kann nicht leugnen, dass ich mir von diesem Nachmittag insgeheim noch etwas mehr versprochen habe, zeitgleich ist die alte Beklemmung wieder da und hindert mich daran, den ersten Schritt zu tun. Und Joshua scheint es nicht viel anders zu gehen. Ich bemerke die Blicke, wenn er glaubt, ich wäre abgelenkt. „Hey, du siehst aus, als würdest du einen neuen Angriff meiner Schwestern fürchten”, sagt mein Freund amüsiert in die Stille. „Ah, erinnere mich nicht dran!” Ich stöhne gequält, die Hände vor das schamesrote Gesicht geschlagen. Die Erinnerung hilft nicht, meine Libido zu beruhigen. Wenigstens kann ich meine roten Ohren auf das peinliche Erlebnis des letzten Wochenendes schieben, als mit einem Mal die Tür zu Joshs Zimmer aufging, die zwei johlenden Schwestern hineingestürmt kamen und uns lachend unter einem Konfettiregen aus bunten Kondombriefchen und Gleitgeltütchen begruben. Ein weiterer Beweis meiner Unbedarftheit, dass ich nicht wusste, in welchen Mengen man den Kram online für kleines Geld bekommt. Während Joshua seine Geschwister laut fluchend und schimpfend zum Teufel jagte, habe ich nach dem ersten Schock heimlich ein paar Päckchen eingesteckt. Und mich hinterher fürchterlich geschämt. Mit einem Mal kam mir der Gedanke an Geschwister gar nicht mehr so reizvoll vor. Der Schwarzhaarige lacht leise. „Keine Sorge, ich denke die sind zu geizig, um so eine Aktion nochmal zu bringen.” Er zwinkert mir zu, verkneift sich aber, was ihm noch auf der Zunge lag. Seine Mimik wird abwesend, seine glasigen Augen sehen etwas, das mir verborgen bleibt und die zarte Röte auf seinen Wangenknochen bestätigt mir die Richtung, in die er gedanklich abdriftet. Etwas zu hektisch um noch unauffällig zu wirken, wendet er sich wieder seinen Lernmaterialien zu. Ich schelte mich selbst einen verklemmten Feigling und folge seinem Beispiel.   Eine Stunde später werfe ich genervt und mit rauchendem Kopf meinen Stift auf den Tisch und sinke im Stuhl zusammen. „Wenn ich noch ein einziges Wort lesen muss, explodiert mein Kopf”, bin ich fest überzeugt. Von Josh kommt ein zustimmendes Brummen. „Das Wetter sieht gut aus...”, beginne ich einen Gedanken und sehe ihn fragend an. Er schaut aus dem Fenster, als würde er den strahlenden Sonnenschein erst jetzt bemerken. „Willst du raus gehen?”, fragt er meine Frage. Erleichtert lächelnd nicke ich den Vorschlag ab. Wir ziehen uns gerade die Schuhe an, als mein Vater zur Tür hereinkommt. Vorsichtig mustere ich ihn. Er sieht erschöpft aus. „Hallo ihr zwei.” Er versucht sich an einem müden Lächeln. Dann tritt er zu mir und nimmt mich fest in den Arm. Überrumpelt lege ich meine Arme an seine Seiten. „Ich hab dich lieb”, murmelt er in mein Haar. „Ich dich auch”, erwidere ich fest, ohne zu Zögern. Ein wenig der Anspannung fällt von seinen herabsackenden Schultern. „Ich will euch nicht aufhalten.” Er lässt mich los, nickt Joshua noch einmal zu und steigt die Treppe hinauf. Mein Blick ruht noch lange auf der Stelle, an welcher er verschwunden ist. Ich kann seine Stimmung nicht einschätzen, abgesehen von Erschöpfung, aber mein Bauchgefühl schlägt auch nicht Alarm. Eine Berührung am unteren Rücken holt mich zurück ins Hier und Jetzt. „Lass uns gehen”, antworte ich auf seine unausgesprochene Frage.   Die Frühlingssonne ist warm, lockt uns aus unseren Pullovern, nur um uns der bitteren Kälte zu überlassen, sobald wir ihren Schein verlassen. Vögel über unseren Köpfen singen und balzen um die Wette mit dutzenden sich überschneidenden Melodien. Die Blumen in den städtisch angelegten Beeten strecken ihre Köpfchen dem strahlend blauen Himmel entgegen. Wir wandern am befestigten Ufer des Flusses entlang, lauschen dem knirschenden Kies und unseren eigenen Gedanken. Wir gehen so eng beisammen, dass sich unsere Hände und Arme immer wieder streifen und als Joshua schließlich meine Hand ergreift, verschlinge ich unsere Finger miteinander. Er zieht mich ein bisschen näher zu sich, um den Weg für einige Radfahrer:innen freizugeben, mit denen wir uns den breiten Kiesstreifen teilen. „Darf ich dir eine persönliche Frage stellen?”, erkundigt sich Joshua zögerlich, lenkt mich so von einer Gruppe spielender Kinder ab. „Du musst natürlich nicht antworten, wenn du nicht möchtest.” Mein Herz rutscht mir bei dieser Formulierung in die Hose, nur um direkt danach bis zu meinem Hals zu schlagen. Ich schlucke, doch mein Mund ist wie ausgetrocknet. Nur das beruhigende Streicheln an meinem Handrücken steht im starken Kontrast zu meiner inneren Aufregung. Ich zögere, gebe mir dann jedoch einen Ruck. „Okay.” Atemlos. Nervös. Ich verfluche mich selbst und benetze meine trockenen Lippen. Joshua lässt seinen Blick über das trübe, grünliche Wasser des Flusses schweifen. Es dauert, ehe er seine eigentliche Frage formuliert. Im Nachhinein wundert es mich, warum er nicht schon längst gefragt hat, in diesem Moment aber wünschte ich mir, er hätte sich noch Zeit damit gelassen. Einige Monate oder Jahre vielleicht. Ich mag das Thema nicht, aus gutem Grund. „Was ist eigentlich mit deiner Mutter?” Obwohl ich es erwartet habe, zieht es mir für eine Sekunde den Boden unter den Füßen weg. Ich habe das Gefühl zu fallen, meine Beine verwandeln sich in Pudding und doch gehe ich weiter, als wäre nichts gewesen. Ich kann nicht verhindern, dass sich ein verbitterter Zug um meine angespannte Mundpartie zieht. Der alte Schmerz will sich Bahn brechen, doch ich dränge ihn zurück. „Sie hat uns verlassen.” So einfach und doch so kompliziert, so viel mehr, was sich hinter diesem kurzen Satz verbirgt. „Oh, das-”, beginnt Josh, doch ich unterbreche ihn, will es nicht hören. „Da war ich gerade einige Monate alt. Ich habe sie nie wirklich kennengelernt, kann sie also kaum vermissen. Nur was sie meinem Pa damit angetan hat, das kann ich nicht verzeihen.” Ich kicke einen Stein vor mir her, treffe ihn mit zu viel Wucht und befördere ihn ins nächste Gebüsch. „Aber... warum tut man sowas? Man lässt doch kein Baby alleine zurück!” Mein Freund ist sichtlich schockiert, bleibt stehen und zwingt mich durch unsere verschränkten Hände, es ihm einen Schritt weiter gleichzutun. Ich lächle bitter zu ihm auf. „Soll öfter vorkommen, als man meint. Und ich war ja nicht allein.” Mein Schulterzucken überzeugt nicht einmal mich selbst. „Ich war ein Unfall, sie wollte mich nie. Vielleicht hätte sie abgetrieben, wenn es Papa nicht gegeben hätte, wer weiß. Nach meiner Geburt bekam sie zusätzlich Wochenbettdepressionen, wollte keine Hilfe für eine Situation, in die sie freiwillig nie geraten wäre und ließ mich bei Papa zurück. Sie lebt ihr Leben, wir das unsere. Bis auf die Gene und ein bisschen Unterhalt habe ich von ihr nie etwas bekommen. Ende der Geschichte.” Entschieden drehe ich mich um und will weitergehen. Ich hätte wissen müssen, dass Joshua da andere Pläne hat. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit finde ich mich überraschend in einer Umarmung wieder. „Fuck. Paul, das ist... abgefuckt. Scheiße.” Ich muss beinahe lachen über seine wirre Aneinanderreihung von Flüchen. „Ich kenne es nur so”, meine ich beruhigend. „Nur Papa hat es nie ganz verkraftet. Ich glaube, er gibt sich die Schuld an allem. Aber das ist Blödsinn. Die Entscheidungen meiner Erzeugerin haben nichts mit ihm zu tun. Nicht so, wie er denkt. Das glaube ich einfach nicht.” „Oh man... Trotzdem, wie kann sie nur? Ein Baby, verdammt! Das ist so...” Der Ältere sucht immer noch vergebens nach Worten, die ich ja doch nicht hören will. Ich sehe zu ihm auf und entdecke genau das, was ich nicht wollte: Mitleid. „Bitte, Joshua. Es war ihr gutes Recht, so scheiße es auch war. Ich hatte es immer gut bei meinem Vater, mir fehlt es an nichts. Mach kein größeres Drama draus, als es ist.” Seine ganze Erscheinung drückt starke Zweifel aus. Er glaubt mir nicht. Ich fühle Wut in mir aufsteigen, doch schlucke auch diese Emotion wieder runter. Mein Freund ist nicht ihr eigentliches Ziel. „Bitte, lass es gut sein”, flehe ich ihn an. Sein Adamsapfel hüpft, als er schluckt. Unsere Brustkörbe stoßen bei einem tiefen Atemzug gegeneinander und ich spüre den Seufzer als Luftzug an meinen Wimpern zupfen. „Na schön”, stimmt er widerwillig zu. Er hat sicher noch tausend andere Fragen, doch gerade will ich keine mehr davon hören. „Danke.” Ich lächel ihn an, ehrlich. Aufrichtig. „Lass uns weiter, mir wird langsam kalt.” Entschlossen ergreife ich seine Hand und setze unseren Spaziergang fort. Verstohlen blicke ich von der Seite zu ihm auf. Ob er wohl noch länger bleibt? Nicht nur ich kann nach dieser Offenbarung wohl ein bisschen Ablenkung gebrauchen...   ~*~   So, da isses nu raus. In der Ursprungsfassung ganz zu Beginn war die Mutter noch klischeemäßig verstorben, aber warum sollen immer nur die Männer ihre Familien verlassen dürfen? Nur weil sie das Kind austragen, müssen Frauen sich nicht zwangsläufig mit der Situation arrangieren müssen, wenn sie es nicht wollen, sich aber gegen eine Abtreibung entschieden haben (die auch legitim wäre, davon ab).     Ob Paul wohl seine Ablenkung bekommen wird? ;) Kapitel 22: ------------ ~ 22 ~   Joshuas POV   „Ich weiß nicht, was mit mir los ist”, jammere ich. Ein bisschen fühlt es sich nach einem Déjà-vu an, wie ich hier sitze, das Bierglas in der Hand und Olli die Ohren vollheule. Nur, dass wir diesmal nicht in der Kneipe, sondern im Probenraum sitzen. Die anderen sind schon weg, nur wir zwei sind geblieben. „Du bist verknallt”, analysiert der Wuschelkopf ganz richtig und liegt doch ziemlich daneben. „Ja, ich weiß.” Ich werfe die Arme in die Höhe und haue dabei fast mein Getränk um, kann das Glas in letzter Sekunde aber noch retten. „Das ist ja auch nicht das Problem. Im Gegenteil. Ich sollte doch eigentlich scharf auf Paul sein und das bin ich ja auch, aber immer wenn ich das Gefühl habe, er will mehr, dann macht mein Kopf dicht-” „Moment mal, willst du jetzt mit mir über Sex reden?”, fragt Olli in einer undefinierbaren Mischung aus perplex und abwehrend. „Ja Mann!”, rufe ich verzweifelt aus. „Mit wem denn sonst!? Sophie kann Paul nicht leiden, die fällt raus. Mit meiner Schwester?” Ich lache hysterisch auf. „Die blöden Ziegen haben letztens ohne Vorwarnung Kondome und Gleitgeltütchen auf uns geschmissen. Und unsere Mutter stand dahinter im Flur und hat nur gelacht. Gelacht! Ich hatte schon Angst, Paul würde nie mehr bei uns zu Besuch kommen wollen, so peinlich war ihm das.” Und mir auch. Und okay, dass ich ein paar der Tütchen zufällig bei ihm im Nachtschrank gefunden habe, auf der Suche nach Taschentüchern, erwähne ich lieber mal nicht. Olli prustet los und verschwendet dabei nun seinerseits den wertvollen Gerstensaft. „Haben sie nicht gebracht!”, presst er lachend hervor. „Dooooch!”, jaule ich selbst in meinen Ohren jämmerlich und sinke tiefer in meinen Sessel. „Wie kommt man nur auf so Ideen?” Unnötige Frage, meine Familie hat durch die Bank weg einen an der Klatsche. Aktuell kann ich Nathan gut verstehen, der sich in trotziger Teenagerart versucht so weit wie möglich von uns zu distanzieren. „Wie geil”, lacht Olli weiter. Er pattet mir besänftigend die Schulter, als ich schmolle. Ja, ich schmolle, aber ich bin verzweifelt, verdammt noch mal, und der Arsch macht sich über mich lustig! „Okay, okay. Ich höre ja schon auf.” Skeptisch hebe ich eine Braue, als er dennoch weiterhin leise giggelt. Es dauert etwas, bis er in den Ernst der Lage zurückfindet. „Dann reden wir halt über Sex. Aber vorher brauche ich noch ein Bier.” Er ext den Rest seiner Flasche, steht auf und holt zwei weitere Biere aus dem kleinen Kühlschrank. Eins davon reicht er mir, doch ich stelle es vorübergehend zur Seite, während mein Kumpel einen tiefen Schluck nimmt. „Schieß los.” „Es ist nicht so, dass gar nichts gelaufen wäre bisher”, seufze ich frustriert. „Ein bisschen fummeln hier und da und auch mal einen Handjob gab es schon. Aber alles darüber hinaus?” Ich streiche mir eine Strähne zurück. „Er ist noch ziemlich unerfahren oder? Da ist ein langsames Tempo doch gar nicht verkehrt?” Olli versteht mein Problem offensichtlich noch nicht. „ER will. Nur ICH kriege es nicht auf die Kette!”, platze ich ziemlich deutlich heraus. „Schlimm genug, dass wir quasi nie wirklich alleine sind. Bei mir zu Hause ist leider irgendwie immer jemand und wenn wir bei ihm sind...” Ich seufze, diesmal resigniert. „Da ist die Stimmung irgendwie immer komisch. Und ich habe immer das Gefühl, er will nur mit mir rummachen um sich selbst abzulenken, aber das ist doch keine gute Voraussetzung für das erste Mal. Oder?” Verunsichert sehe ich den Älteren an und warte, während dieser grübelnd ins Leere starrt. Meine Finger nesteln am durchweichten Papier der Glasflasche herum, die Fusseln kleben bereits überall an meinen Oberschenkeln. „Hmm...”, brummt der nur nach einiger Zeit, dann ist wieder Stille. Der Kühlschrank brummt. Draußen hupt ein Auto. Wirklich still ist es hier ehrlich gesagt nie. Fällt nur sonst nicht auf, wir machen üblicherweise genug eigenen Lärm. „Kann es einfach sein, dass du dir zuviel Druck machst?” Das ist seine Erkenntnis? „Danke, auf die Idee bin ich selbst noch gar nicht gekommen”, ätze ich sarkastisch, verdrehe die Augen und verstecke mein Gesicht anschließend hinter meinen Handflächen. „Motz nicht, ich versuche nur dir zu helfen.” Ein kumpelhafter Schlag trifft meine Schulter und lässt mich fast aus dem Sessel kippen. „Ey!” „Nix 'ey'. Mach dich mal locker.” Jetzt klingt er fast wie Nathan. Ich linse durch meine Finger hindurch zu ihm. „Denk lieber darüber nach, was dich blockiert. Hast du Angst ihm das erste Mal zu versauen oder davor, es nicht zu bringen? Letzteres glaube ich nicht, dafür gibt es zu viele, die ich offensichtlich sofort wieder ranlassen würden. Und ganz ehrlich? Das erste Mal ist immer komisch und oft auch scheiße. Ich hab keine Ahnung von schwulem Sex, aber da wird das kaum anders sein, als zwischen Männlein und Weiblein.” „Natürlich will ich, dass es schön wird”, brummel ich vor mich hin. Die Erinnerung an meine sonstige Umtriebigkeit ist nicht wirklich ermutigend. „Schön ist aber relativ. Klar, deine Schwestern sollten sich nicht die Ohren an deiner Tür plattdrücken können. Aber ist es bei ihm zu Hause wirklich so schlimm, oder erfindest du nur Ausreden? Er will ja scheinbar, wenn ich dich richtig verstanden habe.” Jetzt bin ich an der Reihe mit Grübeln. „Ich will aber nicht nur mit ihm schlafen, weil er sich ablenken will. Nicht, wenn er noch unerfahren ist zumindest.” „Und wenn du eine Situation schaffst, wo er keinen Grund hat sich ablenken zu wollen? Dann brauchst du kein schlechtes Gewissen haben, kannst dich entspannen und drauf einlassen.” „Wie denn? Ein Hotel kann ich mir nicht leisten.” Nicht, dass ich den Gedanken nicht schon gehabt hätte. „Muss ja auch nicht. Aber überlege dir doch was anderes. Zum Beispiel...”   ~*~   Ich drücke mit zitterndem Finger auf den Klingelknopf. Das Schellen hallt im Haus wieder und dröhnt in meinen Ohren. Ich streiche meine feuchten Hände an meinem kurzärmligen Hemd ab und verfluche mich im gleichen Moment. Während ich den Schaden versuche zu richten, geht die Tür auf und Paul steht vor mir. Seine wunderschönen blauen Augen mustern mich, Hitze steigt mir in die Wangen und nur mühsam unterdrücke ich das nervöse Nesteln an den Hemdknöpfen. Das Gefühl, overdressed zu sein, verschwindet schlagartig als der Blonde mich anlächelt und leise „Wow” haucht. Erleichtert erwidere ich das Lächeln und beuge mich vor. Unsere Lippen treffen sich und das Kribbeln in meinem Inneren, welches mich seit Stunden begleitet, bekommt die positive Note freudiger Aufregung. So nah an ihm werde ich von einer angenehmen Duftnote umwabert. Ich nehme einen tiefen Atemzug voll Paul und einem Parfum, welches er noch nie zuvor aufgetragen hat. Die Mischung ist mein persönliches, neues Ambrosia, so viel ist sicher. „Hi”, hauche ich. „Hey”, erwidert er ebenso leise. Wir stehen da, wie die zwei verknallten Trottel die wir sind. Ich traue mich nicht zur Seite zu schauen, aus Angst, um uns herum könnten rosa Herzchen aufsteigen. Irgendwann ersticke ich noch an meinem inneren Kitsch, aber nicht heute. Heute habe das nicht eingeplant und wehe etwas torpediert meine Pläne. Einzig über den Ausgang des Tages lasse ich mit mir verhandeln, da will ich uns keinen Druck machen. „Bereit?”, frage ich. „Bereit!” Bestätigend hebt sich Paul den kleinen Rucksack auf die Schulter und tritt vollends zu mir nach draußen. Er trägt wie ich Cargohosen, wenn auch in beige, die ich noch nie an ihm gesehen habe. Das dunkle Poloshirt steht ihm fantastisch und ist so anschmiegsam, dass ich meine Augen gewaltsam von seinem Oberkörper hin zu seinem Gesicht lenken muss, mich daran erinnernd, was ich geplant habe.   Wir nehmen den Bus bis wir fast aus der Stadt hinaus sind. Der ruhige Vorort geht nahtlos in ein Waldgebiet über, ab hier werden wir zu Fuß unterwegs sein. „Verrätst du mir jetzt, was wir vorhaben?”, fragt Paul neugierig, interessiert die Umgebung beobachtend. Ich hatte ihn vorab nur darüber informiert, dass wir etwas ähnliches wie Wandern machen würden. „Ja. Geocaching.” So ausgesprochen, kommt mir die Idee doch wieder doof vor und ich warte angespannt auf seine Reaktion. Der Blonde schaut überrascht aus, lächelt dann aber erfreut. „Klingt cool! Habe ich noch nie gemacht.” „Ich auch nicht”, gebe ich kleinlaut zu und stimme in sein Lachen ein. „Okay, was machen wir jetzt?” „Wir machen eine Art kleine Schnitzeljagd. Ich habe die Koordinaten für unsere erste Etappe bekommen.” Ich halte mein Handy so hoch, dass er die Karte und den von mir darauf bereits markierten Zielpunkt sehen kann. „Ich denke, wir folgen erstmal dem Hauptweg hier, der führt uns in die ungefähre Richtung. Oder was meinst du?” Paul besieht sich nur kurz die Karte, ehe er nickt. „Dann lass uns los.” Beschwingt geht er los, ich folge schnellen Schrittes, bis ich auf gleicher Höhe bin. Der Kies unter unseren festen Schuhen knirscht leise und überdeckt doch beinahe schon den verstummenden Lärm der Stadt hinter uns. Wie allgegenwärtig das nie abschwellende Rauschen eigentlich ist, fällt mir immer erst in den seltenen Augenblicken auf, wo ich ihm einmal entkommen kann. Mein Freund atmet tief durch und schließt für einen Moment zufrieden die Augen, er muss nichts sagen damit ich weiß, dass es ihm ähnlich ergeht. Je länger wir gehen, desto mehr fällt die unangenehme Last des Schweigens von mir ab und ich beginne die Stille zu genießen. Ich mag die Stadt, so ist das nicht, aber das Rauschen der Blätter und das Zwitschern der Vögel hat etwas seltsam entspannendes an sich. Ich erwische mich sogar dabei, genervt zu gucken, als eine Gruppe laut schnatternder Wanderer an uns vorbeikommt, vergesse meinen Ärger jedoch schnell wieder, als sich Paul beim Versuch Platz zu machen gegen mich lehnt. Meine Hand zuckt unwillkürlich in Richtung seines unteren Rückens, doch ich halte mich zurück. Der Weg windet sich gemächlich durch den dichter werdenden Wald. Ab und an kontrolliere ich unsere Route auf meinem Handy, bis wir zu einer unauffälligen Kreuzung kommen. Ich halte Paul das Gerät erneut entgegen. „Meinst du, wir sollten hier lang?” Ich frage nicht nur, weil ich uns nicht alleine in die Irre führen möchte. Er besieht sich die Karte, scrollt ein bisschen und zoomt mal hier hin, mal da hin, was man auf modernen Smartphones halt so macht. Ich starre währenddessen verzückt auf seine Unterlippe, wie sie in nachdenklicher Manier zwischen die Zähne gezogen und nur langsam wieder entlassen wird. „... okay?” Ich zucke ertappt zusammen und nicke bejahend, hoffend, jetzt nichts Falsches gemacht zu haben. Zumindest wenden wir uns dem Weg zu, den ich in der Vorbereitung bereits ausgesucht hatte. Hier ist es deutlich schmäler und wir sind gezwungen, enger beieinander zu gehen. Nicht, dass es uns stören würde. Immer mal wieder berühren sich unsere Arme im Gehen. Ich überlege hin und her, zögere, bis sich auf einmal eine warme Hand in meine schiebt. Noch während er unsere Finger miteinander verschränkt, lächelt Paul mich offen an. Über mich selbst schmunzelnd drücke ich seine Hand, streiche mit dem Daumen kurz über seinen Handrücken. Olli hat Recht, vielleicht sollte ich mich einfach mal entspannen und alles auf mich zukommen lassen.   Ich kann es kaum glauben, aber die erste Etappe legen wir, bis auf kurze Abstimmungen über die Richtung, tatsächlich schweigend zurück. Wir kommen an einem großen Felsen auf einer Lichtung aus. „Na typisch, die Christen waren vor uns hier”, brumme ich und deute auf das große Holzkreuz und die vielen Grabkerzen drumherum unter einem überstehenden Felsstück. Zuerst guckt Paul verwirrt, lacht dann aber zum Glück doch über meinen unterirdischen Witz. „Schlimm, nicht wahr? Überall wo man hinkommt haben die ihre Markierungen.” Er zwinkert mir verspielt zu und sieht sich dann neugierig um. „Hier soll also irgendwo eine Kiste versteckt sein?” „Ja, soweit ich verstanden habe. Wahrscheinlich eher eine Art Brotbox oder so.” Ich checke noch einmal die Hinweise des Erstellers, finde aber nichts Konkreteres. „Dann lass uns mal suchen.” Motiviert klatscht er in die Hände. „Ich glaube hier vorne wäre zu auffällig, das würde doch jeder Spaziergänger sofort sehen”, überlege ich laut. Zustimmend brummt der Kleinere und geht langsam um das Felsgebilde herum. Ich folge ihm mit ein wenig Abstand und suche die oberen Lücken ab, während er weiter unten und auf Brusthöhe schaut. „Ich glaube, da ist was.” Ich deute auf eine Vertiefung im Gestein über uns. „Hmm...” Kurz scheint er noch zu überlegen, dann klettert Paul flinker als ich es erwartet hätte hinauf, wo er sich auf dem Vorsprung niederkniet und in die Lücke greift. „Bingo!”, ruft er von oben. Ich folge ihm schnell die wenigen Meter hinauf, allerdings nicht gerade, sondern über eine Art natürlichen Weg am Fels entlang. „Schau mal!” Er hält mir eine einlaminierte Karte entgegen. „Das scheinen neue Koordinaten zu sein.” Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und tippe die Zahlen in die vorgesehen Felder ein. „Und ein Hinweis.” Paul setzt sich neben mich auf die angewärmte Oberfläche und sieht mir über die Schulter. Wieder umweht mich sein Duft, und ich vertippe mich ungeschickt. Sein Kichern vibriert durch unsere aneinandergeschmiegten Leiber bis in meine Knochen. Sein Arm streift mich, als er mit einem Finger auf den Hinweis deutet. „Was könnte das heißen?” „'Unter dem Dritten wirst du es finden.'”, lese ich vor. Schulterzuckend verleihe ich meiner Ratlosigkeit Ausdruck. „Keine Ahnung. Vermutlich kapieren wir es erst, wenn wir da sind.” „Hmpf.” Jetzt klingt sein Brummen frustriert. Er nimmt mir die Karte ab und dreht sie in den Händen. „Sonst nichts”, stellt er unzufrieden fest. „Wie weit ist es ungefähr bis da?” Erneut lehnt er sich halb auf mich um einen genaueren Blick auf das Display in meiner Hand zu erhaschen. „Geht ja”, befindet er und springt auf. Schnell verstaut er Karte und Box wieder an ihrem Platz. Noch bevor ich wirklich davon träumen kann, ihn unten heldenhaft in Empfang zu nehmen, die Hände an seinen Hüften und so, und mit einem hinreißenden Kuss belohnt zu werden, ist er schon zusammen mit meiner Träumerei auf dem Boden der Tatsachen angekommen. „Los, komm.” Grinsend sieht er zu mir hoch. „Ja ja, ich komm ja schon.” Seufzend erhebe auch ich mich und klettere zu ihm nach unten. Dort wende ich mich in die neue Marschrichtung, die mein kleiner Feldwebel auserkoren hat. „Hey, du hast was vergessen!”, tönt es hinter mir. „Was denn?” Verwundert wende ich mich um, da legen sich zwei Arme um meinen Nacken und das Gewicht daran zieht mich hinab. Überraschend und absolut willkommen legen sich seine Lippen auf meine, während sich unsere Körper perfekt aneinanderschmiegen. „Das”, haucht Paul atemlos, als wir uns aus Luftmangel wieder voneinander trennen. „Stimmt, wie konnte ich das vergessen”, raune ich heiser. Hand in Hand setzen wir unseren Weg fort. Kapitel 23: ------------ ~ 23 ~     Pauls POV Die Sonne scheint durch die Baumwipfel und malt flackernde Lichter in die sich bewegenden Schatten der umliegenden Bäume. Der Frühling geht langsam in den Sommer über und das merkt man auch an den Temperaturen, wobei ich mich deutlich mehr auf die hitzige Jahreszeit freue als Josh. Mein Freund scheint mehr der Herbsttyp zu sein und jammert schon jetzt scherzhaft darüber, wie warm ihm immer in den schwarzen Klamotten ist. „Dann zieh halt keine an.” „Ne, ich trag nur schwarz, kommt gar nicht in die Tüte”, empört er sich schmunzelnd. „Das meinte ich damit auch nicht”, erwidere ich frech und zwinkere ihm zu. Es braucht einen Moment, das sehe ich daran, wie sein Ausdruck von fragend zu schockiert wechselt. Ich kann nicht anders als zu lachen, so wie er mich ansieht. „Du...”, knurrt er, zieht mich an unseren verbundenen Händen zu sich ran, bis sich unsere Oberkörper berühren. „Was ich? Ich will doch nur hilfreiche Tipps geben.” Ich beiße mir auf die Unterlippe und blicke von unten zu ihm hinauf. Meine Hand, die seine hält, hat er hinter meinen Rücken geführt und hält mich so an sich gedrückt, die andere lasse ich an seiner Knopfleiste entlangwandern. Ich weiß mittlerweile ziemlich genau wie er auf mich reagiert und dieses Wissen berauscht mich. „Von wegen hilfreiche Tipps.” Die Augenbrauen gefährlich zusammengezogen, beugt er sich zu mir herab. Ich strecke mich, komme die letzten Zentimeter ungeduldig entgegen. Ich spüre seine freie Hand auf meinem Po und seufze zufrieden auf. Wir lösen uns erst wieder, als sich eine Gruppe nähert. Ausnahmsweise bin ich froh um das laute Geschnatter, das sie schon von weitem ankündigt. Joshua will sich von mir lösen und beinahe trotzig halte ich seine Hand fest, was mir einen fragenden Blick einbringt. Ich zucke die Schultern und recke das Kinn ein wenig in die Höhe. Ein schiefes Lächeln umspielt die Mundwinkel des Schwarzhaarigen, er drückt verstehend meine immer noch mit seinen verschränkten Finger und so gehen wir den Weg weiter, auch, als wir die fremden Menschen passieren. Wir beachten sie gar nicht groß und ebenso ergeht es uns. Ein bisschen nervös war ich schon, auch wenn ich Josh das nicht zeigen wollte und umso größer ist die Erleichterung und der Stolz, einfach mal ich selbst gewesen zu sein.   Unser zweiter Zwischenstopp ist deutlich weiter abseits der Wege, die letzten Meter müssen wir uns querfeldein schlagen. Dafür ist der Ort verdammt beeindruckend. Wieder eine Lichtung, diesmal gesäumt von fünf uralten Bäumen, die in etwas Abstand zueinander stehen und ihre weit ausladenden Äste schützend über den Wald ausbreiten. „Wenn ich das richtig verstanden habe, soll unser nächster Hinweis unter dem dritten Baum sein.” Joshua sieht skeptisch zu der alten Eiche. „Ein Glück dass es fünf sind, dann ist es aus jeder Richtung der mittlere.” Ich habe längst keine Hemmungen mehr und gehe schnurstracks auf besagten Baum zu. Die Wurzeln ragen hier und da aus der Erde und bilden kleine Höhlen. Diesmal bin ich es, der die blaue Brotbox mit Clipverschlüssen zuerst entdeckt. „Ha!” Triumphierend halte ich unsere Beute hoch. „Das ging ja schnell”, freut sich Joshua und kommt zu mir. „Wieder nur Koordinaten.” Ich halte ihm den Zettel hin. „Aber die letzten, die hier sollten zum Ziel führen.” Er tippt sie in sein Handy ein. „Hm, wie wäre es, wenn wir diesen Pfad nehmen und dort dann auf den Richtung Westen wechseln?” Ich deute entsprechend auf die Karte. „Oder hier lang und dann da?” Wir diskutieren noch ein wenig, trinken aus unseren mitgebrachten Flaschen und einigen uns schließlich. Als ich mich zum gehen wende, hält Joshua mich auf. „Du hast vergessen.” „Hä?” „Das hier!” Seine Lippen schmecken nach Zitronenlimonade und mir ist, als würde ich das Prickeln der Kohlensäure auf meiner Zunge spüren können.   „Und hier sind wir richtig?” Skeptisch blicke ich mich um. „Laut GPS ja.” Auch Josh sieht sich kritisch um. Der Ort ist wenig bemerkenswert, im Vergleich zu den beiden vorherigen. Keine Felsen, keine große Lichtung, einfach nur ein Stück Wald wie alles drumherum auch. Wir suchen die Umgebung akribisch ab, aber nichts sieht verdächtig aus. Frustriert lasse ich mich auf einen Baumstamm plumpsen, mein Freund setzt sich kurz darauf neben mich. „Schon komisch. Ob jemand die Box mitgenommen hat?” „Keine Ahnung. Aber irgendwie gemein, da machen wir die ganze Route und dann-” Ich stutze. Sehe nach unten. Schwinge meine Beine erneut, wie zuvor vor und zurück, bis meine linke Ferse gegen ein herumliegendes Aststück kommt. Keine Einbildung, das entstandene Geräusch klingt alles andere als natürlich. „Oh man, ich glaube du hast es gefunden!” Begeistert springt Joshua wieder auf, kniet sich vor mich und zieht das vermeintliche Holz hervor. „Das ist aus Plastik.” Bei genauerer Betrachtung fällt es auch mir auf. „Mach auf, mach auf”, feuere ich ihn an. Es dauert kurz, dann hat er den Mechanismus gefunden und nimmt den Deckel ab. Darin befinden sich ein Stift, eine handvoll Sticker und ein kleines Büchlein, extra verpackt in eine wasserfeste Tüte. „Das muss das Logbuch sein.” Der Schwarzhaarige setzt sich mit unserer Beute wieder neben mich und reicht mir das falsche Holzstück. Ich nehme einen der Sticker an mich. „'Jeder Ort kann mehr sein, als man auf den ersten Blick denkt.' Hm. Ein bisschen philosophisch, oder?” „Könnte schlimmer sein. Stell dir vor, da stünde 'Der Weg ist das Ziel.' oder 'Schönheit liegt im Auge des Betrachters.'”, kommentiert er. „Stimmt”, schmunzle ich und nehme einen der Sticker für uns als Belohnung an mich. „Soll ich uns eintragen?”, fragt Joshua, das aufgeschlagene Logbuch auf den Knien. „Ja, mach ruhig. Ich hab's gefunden, dafür darfst du uns verewigen.” Er kritzelt etwas in das kleine Kästchen, das uns zusteht und schlägt das Buch zu, ehe ich noch einen Blick darauf werfen kann. „Gut, dann packen wir wieder alles zusammen und machen uns auf den Heimweg. Oder willst du noch hierbleiben?” Fragend sieht er mich an. Ich schüttel den Kopf. „Nein, wir können gerne weiter. Ist ja auch noch ein gutes Stückchen.” „Joa, geht. Wir können den Bus am Landgasthof nehmen, das ist deutlich kürzer als den ganzen Weg zurück.” Mein Freund hat vorausgeplant. „Machen wir. Die Schnitzeljagd war toll, aber so langsam merke ich meine Füße. Bin halt nichts gewohnt, so als Stubenhocker.” Ich grinse, obwohl ich das durchaus ernst meine. „Armes Paulchen”, lacht Joshua. „Wenn du nicht mehr kannst, kann ich ja versuchen dich zu tragen.” Jetzt ist es an mir, zu lachen. „Oh, ich glaube dafür bin ich dann doch zu schwer.” Ich schultere meinen Rucksack, derweil Joshua den falschen Ast zurücklegt. „Ach, ein kurzes Stück schaffe ich das schon”, ist er sich sicher. „Hoffen wir einfach, dass wir das heute nicht ausprobieren müssen.”   Der Weg bis zum Landgasthof zieht sich weiter, als gedacht. Tragen muss Joshua mich aber nicht, dafür laufen wir wieder ganz offen Hand in Hand. Es ist ein schönes Gefühl und zum ersten Mal kommt in mir das Bedürfnis hoch, meine Gefühle für ihn in die Welt hinaus zu schreien oder sie zumindest nicht mehr zu verheimlichen. Was wohl unsere Freunde dazu sagen werden? Wegen Charly mache ich mir immerhin keine Sorgen, ich glaube der ahnt es ohnehin. Matz und Kathi kann ich schlecht einschätzen, sie haben aber zumindest nie negativ über LGBTQ+ gesprochen. Über Joshuas Seite muss ich mir zum Glück keine Gedanken machen, die wissen eh alle, wie er tickt und dass ich mehr als nur ein Kumpel bin. Mir steigt prompt die Röte ins Gesicht, als ich an den 'Kondomvorfall' seiner Schwestern denke. Wie unangenehm! Wie kommt man nur auf so Ideen? „Alles okay?” Die Frage reißt mich aus den peinlichen Erinnerungen. „Äh, ja?”, kiekse ich, räuspere mich und versuche es erneut. „Alles okay.” „Wirklich?” So ganz glaubt er mir nicht. Täte ich auch nicht. „Ja, ich war nur... in Gedanken”, gebe ich zu. „Aha?” Zunächst wirkt es, als wolle er noch mehr sagen, verkneift es sich aber dankbarerweise. „Wollen wir unterwegs essen oder bei dir was bestellen? Oder kochen natürlich, falls du das lieber magst.” Ich überlege nur kurz. „Lass uns was bestellen.”   Die Bestellung schicken wir ganz neumodisch langweilig via App während der Busfahrt raus. Wir hatten Glück und mussten nur wenige Minuten warten, bis das nächste Beförderungsmittel für uns kam. Als ich die Haustür aufschließe und uns ins leere Innere lasse, wandert eine Welle kribbelnder Aufregung meine Wirbelsäule hinauf und lässt mich erschauern. Wir haben es zuvor nie explizit angesprochen und doch ist zumindest von meiner Seite aus klar gewesen, dass Joshua über Nacht bleiben wird, jetzt, wo ich sturmfrei habe. „Machen wir es uns in meinem Zimmer gemütlich, bis das Essen kommt”, schlage ich vor und gehe voran, nachdem wir unsere Schuhe abgestellt haben. Ich mache noch einen kurzen Schlenker in die Küche und hole Getränke und Gläser. Joshua kommt aus dem Bad, als ich gerade durch meine Zimmertür trete, den Rucksack in der Hand. Die Strähnen an seiner Stirn glänzen feucht. „Ich bin immer wieder neidisch auf deinen Fernseher”, gibt er neidlos zu und pflanzt sich auf mein Sofa, wo er sein Gepäck auf Seite stellt und mir dann einen Teil meiner Last abnimmt. „Wir geben ja sonst für fast nichts Geld aus”, meine ich lapidar und fühle mich sofort schlecht. Mein Vater verdient gutes Geld und auch meine Mutter überweist jeden eine großzügige Summe als lächerliche Entschädigung für ihre Abwesenheit. Joshua mit seinen drei Geschwistern hat da vermutlich andere gewohnte Standards. „Hat alles seine Vor- und Nachteile”, beschwichtigt mein Freund sogleich meine unausgesprochenen Gedanken. „Ich hätte wahrscheinlich nie mehr meine Ruhe in meinem Zimmer.” „Ich kann mir das gar nicht vorstellen mit so vielen Geschwistern. Tür zumachen reicht vermutlich nicht?” Blöde Frage, ich habe die Hartnäckigkeit der Lehmann'schen Bande schon erlebt und dabei bin ich mir sicher, dass das bisher nur die abgeschwächte Version war. Joshua lacht auf. „Als ob. Die würden sich reinschleichen, sobald ich pinkeln muss. Nee, lass mal. Dann doch lieber bei dir in Ruhe.” Wir machen es uns auf dem Sofa bequem und ich starte einen der üblichen Streamingdienste. „Such du aus.” Ich reiche ihm die Fernbedienung. „Unfair, jetzt bin ich Schuld, wenn es Scheiße ist.” „Genau”, bestätige ich grinsend. Josh schmollt gespielt. Zufrieden mit meiner Taktik lehne ich mich an ihn. Nicht lange, dann schlingt sich sein Arm um meine Hüfte. Ich ruckle ein wenig herum um eine bequemere Position für uns beide zu finden, da schnappt sich der Ältere einfach meine Beine und legt sie über seinen Schoß, die zweite Hand auf mein Knie gelegt. „Besser?”, fragt er. „Hmm”, bestätige ich zufrieden brummend. Auf der Mattscheibe startet derweil eine Serie, die ich noch nicht kenne und die mich aktuell auch nicht weniger interessieren könnte. Meine Aufmerksamkeit liegt vielmehr auf den fremden Händen, die mich gemächlich streicheln und deren Hitze durch meine Kleidung nur minimal gelindert wird. Oder auch gar nicht, denn just schiebt sich eine vorwitzig unter mein Oberteil und ich kann mir nur knapp ein überraschtes Keuchen verkneifen. Joshua sagt nichts und ein kurzer Kontrollblick verrät mir, dass er sich ganz auf die Handlung auf dem Bildschirm zu konzentrieren scheint. Meine eigene Konzentration könnte dem nicht ferner sein. Ich habe keine Ahnung, was er sich ausgesucht hat, dafür bin ich mit der Finger an meiner Seite nur allzu bewusst. Ich wünsche mir, dass sie weiterwandern und noch viel sensiblere Stellen suchen und zeitgleich würde ich sie gerne stoppen. Keine Ahnung warum, sehne ich mich doch seit Tagen, ach was, Wochen, nach erneuter Intimität. Und jetzt, wo es sich andeutet, bin ich plötzlich überfordert. Die Türklingel lässt mich erschrocken zusammenfahren und ich springe schon vor lauter Schreck auf. „Ich äh, das muss unser Essen sein!”, haspele ich und stürme regelrecht zur Haustür. Ein gelangweilter Bote hält mir unsere Bestellung entgegen und schafft es immerhin kurz die Mundwinkel zu heben, als ich ihm sein Trinkgeld in bar reiche, damit es auch wirklich bei ihm ankommt. Erst danach fällt mir auf, dass ich meine Kleidung hätte kontrollieren sollen, aber zum Glück verdreckt die Cargohose sehr gut, dass mein Unterleib nicht mehr vollständig im Ruhemodus ist. „Reiß dich zusammen, Paul”, raune ich mir selbst zu. In der Küche hole ich noch Besteck, dann gehe ich zu Joshua zurück. Der hat die Serie pausiert und ich erwähne nicht, dass das sinnlos war, weil ich den Anfang eh nicht mitbekommen habe. Ich packe die Styroporbehälter aus und verteile sie auf dem Tisch. „Das hier sieht nach deinen Sachen aus.” Ich schiebe den gebratenen Reis und die Ente zu Josh rüber und nehme mir selbst die Nudeln und das Gemüse mit Tofu, als ich wieder sitze. „Guten Appetit.” „Danke gleichfalls.” „Hm, lecker. Ich hatte ewig kein Chinesisch mehr”, freue ich mich über unsere gelungene Auswahl. „Ich auch nicht”, gibt Josh zu. „Noch so ein Nachteil bei uns. Wir bestellen fast nie. Zu teuer und zu wenig nachhaltig. Oder irgendwie so ein Quatsch, meine Familie ist da ja was komisch.” „Ach, selbst kochen ist eigentlich viel besser und auch meistens gesünder. Könnt ihr nicht was nach chinesischer Art machen?”, schlage ich vor. „Hmpf. Schwierig. Muss ja dann allen gefallen und das ist so schon schwierig genug.” Er seufzt. Wieder brumme ich nur verstehend. Das Problem habe ich nun wirklich nicht, häufig genug bin ich der Einzige, der überhaupt hier zu Hause isst, mein Vater holt sich meistens Mittags in der Mensa auf der Arbeit etwas. Und selbst wenn nicht, ich kann kochen oder bestellen, was ich möchte. Diese Freiheit ist bisweilen belastender, als einfach jeden Tag etwas vorgesetzt zu bekommen. Kapitel 24: ------------ Achtung! Ab hier wird es gleich explizit. Wer das nicht lesen mag, kann notfalls ab dem Zeitpunkt wo es beginnt überspringen, es kommen keine gravierend storyrelevanten Details vor.     ~ 24 ~   Pauls POV „Das war richtig lecker”, findet Joshua und ich stimme ihm vollumfänglich zu. Wir stehen in der Küche und entsorgen die Behälter und räumen das Besteck in die Spülmaschine ein. „Was dagegen, wenn ich kurz duschen gehe?”, fragt er vorsichtig und mit einem Mal ist meine Aufregung zurück. Heiß-kalt, prickelnd, nervenzehrend. „Nein, mach ruhig.” Ich folge ihm nervösen Schrittes zurück in mein Zimmer, wo er seinen Rucksack vom Boden nimmt. Da fällt mir etwas auf. „Hast du deinen Kram den ganzen Tag mit dir rumgetragen?”, frage ich verblüfft. „Äh...” Josh wird tatsächlich rot und kratzt sich verlegen am Kopf. „Ja?” Er linst zu mir und lacht unsicher. „Hab's total verbaselt die Sachen hier zu lassen. Irgendwie war ich angelenkt.” Jetzt lachen wir beide. „Oh weh, du armer Kerl. Wie gut, dass du mich nicht doch noch extra tragen musstest.” Ich beobachte, wie er auf mich zukommt und vor mir stehenbleibt. Unbewusst blockiere ich seinen Weg, die Finger links und rechts in den Türrahmen gekrallt. „Ich, äh...” Jetzt bin ich es, der stottert. Mir auf die Unterlippe beißend, betrachte ich seine hochgewachsene Gestalt, vor allem den Bereich direkt vor meinen Augen. Wie ferngesteuert löse ich meinen Griff, trete einen halben Schritt auf ihn zu. „Das wollte ich schon den ganzen Tag lang machen”, gebe ich zu und greife zielstrebig nach seiner Knopfleiste. Wahllos öffne ich einen Knopf über seiner Brust und schiebe die Finger meiner rechten Hand durch die vergrößerte Öffnung. „Den ganzen Tag, ja?”, fragt Joshua mit belegter Stimme. Ich kann seinen beschleunigten Herzschlag unter meinen Fingerkuppen spüren, ein Echo meines eigenen pochenden Herzens. „Was wolltest du denn noch machen?”, will er atemlos wissen. Dass ihn so harmlose Berührungen aus der Fassung bringen, schürt meinen eigenen Mut. „Das hier.” Ich öffne weitere Knöpfe, langsam, bedacht, provokant. Das ist bekanntes Territorium für mich. Ich lege immer mehr blanke Haut frei und befeuchte unbewusst meine Lippen. Ich höre sein Schlucken, als ich den letzten Knopf aus seinem Loch befreie. Begehrlich streiche ich über die angespannten Bauchmuskeln, die sich schemenhaft unter der nahezu glatten Haut abzeichnen. Nur ein schmaler Pfad dunkler Haare unterhalb des Bauchnabels steht, ein Wegweiser in weniger bekannte und doch umso interessantere Gefilde. „Warte”, krächzt der Ältere, meine Hand packend. „Lass- lass mich erst duschen, okay?” Ich ziehe eine Schnute, die mir sogleich vom Mund geküsst wird, ehe Josh sich beinahe fluchtartig an mir vorbeidrückt. Unsicher bleibe ich stehen. Bin ich zu weit gegangen? Ich hoffe nicht, ich denke es auch nicht. Aber wissen, nein, das tue ich auch nicht. Frustriert setze ich mich auf meinen Schreibtischstuhl und drehe mich ziellos im Kreis. Das Warten macht mich schier wahnsinnig, dabei ist noch keine Minute vergangen. „Ich halte das nicht aus!” Gehetzt springe ich auf und schnappe mir frische Kleidung. Damit bewaffnet, steige ich die Treppe empor und mache mich schnurstracks auf den Weg ins Bad meines Vaters. Wozu haben wir zwei Duschen, wenn ich sie nicht ausnutze? Das Teufelchen auf meiner Schulter will mich davon überzeugen, doch einfach Joshua Gesellschaft zu leisten, aber mein Engelchen und meine Vernunft halten das für keine gute Idee. Die Libido ist verständlicherweise auf der dunklen Seite der Gelüste. Was ich nicht bedacht habe, ist, dass ich hier oben natürlich keine Zahnbürste und auch nicht mein liebstes Shampoo habe. Immerhin eine Ersatzzahnbürste finde ich, für alles andere werde ich widerwillig die Sachen meines Vaters nutzen müssen. Das Wasser prasselt auf mich nieder, vertreibt eine zeitlang alle Gedanken aus meinem aufgewühlten Bewusstsein. Ich seife mich ein, widme mich besonders gründlich meinem Intimbereich. Was auch heute noch passieren mag, eine Fauxpas wegen mangelnder Körperpflege will ich mir auf keinen Fall leisten. Gedankenlos lasse ich meine Finger weiter nach hinten wandern und zucke unter der Empfindung zusammen. Dort hat mich noch wirklich niemand berührt. Ob sich das heute ändern wird? Ich streiche erneut über die verdeckte Stelle, unsicher, wie ich das finde. Meine von Neugierde getriebenen Recherchen haben mir auch einiges über gewisse Reinigungstechniken verraten, doch auch jetzt könnte ich mich nicht dazu durchringen, selbst wenn ich die passenden Utensilien hätte. So begnüge ich mich mit noch etwas Duschgel, mir jeden weiteren Gedanken verbietend. Nur grob abgetrocknet betrete ich wenig später in Boxershort und Schlabbershirt mein Schlafzimmer. Joshua ist auch da, in ähnlichem Aufzug. Ist sein Auftreten ebenso gespielt, wie meins? „Das ist unfair”, schmolle ich, ein Grinsen versteckend und komme vor ihm zum Stehen. „Was?”, fragt er ahnungslos. Ich zupfe am Bund seines Shirts. „Das. Jetzt ist meine ganze Mühe von eben dahin.” „Ooh, das tut mir aber Leid. Da musst du wohl nochmal ran.” Provokativ schmunzelnd tritt Joshua zurück, bis er an meine Bettkante stößt, eine Hand mittig in mein Shirt gekrallt. Ich folge willig, bleibe zwischen seinen leicht gespreizten Beinen stehen, als er sich auf die Matratze sinken lässt. Es beruhigt mich, dass er meine Intention aktiv unterstützt. Seine Zurückhaltung der letzten Wochen hat mich zunehmen verunsichert. Ich werde nicht fragen, was sich geändert hat, aus Angst, es zunichte zu machen. Meine Hirnleistung lässt ohnehin stetig nach. Vor allem jetzt, wo er mit dunklen Augen zu mir aufblickt, den Mund fast auf perfekter Höhe für... Mich selbst unterbrechend beuge ich mich ein wenig vor und zupfe am schwarzen Oberteil herum, bis er mir hilft und die Arme hebt. Achtlos werfe ich das Tshirt hinter mich. „Besser”, finde ich. „Ach ja? Hm. Ich glaube, noch besser fände ich Gleichstand”, sprach's und hebt nun mein eigenes Schlafoberteil an. Durch seine Position schafft er es nicht bis über meinen Kopf und so übernehme ich ab halber Höhe. Kaum, dass mir der Stoff die Sicht verdeckt, spüre ich warme Hände auf meiner Hüfte und feuchte, heiße Lippen an meinem Bauch. Ich keuche erschrocken auf und verheddere mich für einen Moment. Joshua kichert dunkel und verteilt weiter Küsse auf meinem Bauch, die sich immer weiter gefährlich nah an meinen Hosenbund annähern. Zeitgleich wandern seine Hände auf meine Oberschenkel und stippen frech immer wieder in meine Hosenbeine. Mit groben Bewegungen befreie ich mich aus meinem Stoffgefängnis und blicke atemlos fasziniert an mir herab. Es geht alles so schnell, fast zu schnell und doch ist es genau das, was ich jetzt will. Mit schiefgelegtem Kopf und verhangenem Blick schaut der Schwarzhaarige zu mir auf, als sich seine feuchte Zunge unter den Gummibund wagt. Ich stöhne auf, ermutigend, verlangend, die Hände nutzlos zu Fäusten geballt. Er zupft an meiner Shorts, zieht sie etwas tiefer, bis sie beginnt über meinen langsam erhärtenden Penis zu spannen. Wissend schmunzelnd widmet sich Joshua ihm, leckt und küsst über die verborgene Spitze, bis der Stoff nass wird und knabbert vorsichtig mit den Zähnen an mir. „Joshua”, stöhne ich atemlos. Als hätte er nur auf mein Signal gewartet, zieht er mir in einer einzigen fließenden Bewegung die Boxershorts von den Hüften, wo sie zu Boden fällt. Der direkte Kontakt seines Mundes auf meinem heißen Fleisch ist so viel intensiver, stöhnend kralle ich meine Finger in sein Haar, unsicher, ob ich ihn wegziehen oder tiefer auf mein Glied drücken soll. Er spielt mit mir, saugt, leckt, knabbert und lässt mich durch tiefes Brummen Vibrationen spüren. Willenlos lasse ich es geschehen, feuere ihn keuchend und stöhnend an. Das eine Mal ist viel zu lange her und die Realität ist meinen blassen Erinnerungen um Lichtjahre voraus. „Oh shit... warte...”, japse ich, ziehe ihn beiderseitig widerwillig von meiner Mitte weg. „Pause.” Sein irritierter Ausdruck verwandelt sich in einen wissenden. Er drückt mir einen letzten Kuss auf meine feuchtglänzende Spitze, lässt sich dann zurück auf das Bett fallen und sieht mich wieder so herrlich provokativ an. Ich klettere ihm nach, verfolge ihn, als er sich weiter bis zu den Kissen zieht. „Komm her”, fordert er, die Hand nach mir austreckend. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Halb auf ihm drauf liegend gebe ich mich seinem Kuss hin, schmecke mich selbst, als sich unsere Zungen zu einem erotischen Duell treffen. Meine Hüften zucken, mein hartes Geschlecht reibt über seinen Unterleib, lassen uns beide stöhnend ausatmen und nur noch gieriger gegenseitig verschlingen. Doch ich will mehr. Unwillig strample ich die nervige Shorts endgültig von meinen Füßen, um mehr Bewegungsspielraum zu haben. Meine Finger ertasten die feste Brust, spielen mit den harten Brustwarzen, die schier nach Aufmerksamkeit betteln. Ich will sie ihnen zukommen lassen. Joshua stöhnt frustriert, lässt sich aber sogleich besänftigen, als sich meine Lippen um seinen rechten Nippel schließen. Schmatzend löse ich mich von ihm, nicht ohne ein letztes Mal sanft meine Zähne zum Einsatz kommen zu lassen, ehe ich mich der anderen Seite mit ebenso viel Hingabe widme. Sein Unterleib hebt sich mir zuckend entgegen, auf der Suche nach neuer Reibung. Mit quälender Ruhe arbeite ich mich hinab, widme mich ausgiebig seinem Bauchnabel und werfe einen kurzen Blick nach oben, als sich meine Zungenspitze in die Vertiefung drängt. Joshuas Blick ist feurig. Flehend und fordernd und ich kann all die unausgesprochene Leidenschaft in ihm lesen, die auch ich empfinde. Alle Bedenken sind vergessen und ich will nur noch eins: Fühlen. Oder noch besser, Schmecken. „Ich bin dran”, warne ich ihn vor. Ich rutsche das letzte Stück hinab, zwischen seine Beine. Ungeduldig ziehe ich an seiner Shorts und mit seiner Hilfe schaffe ich es, sie aus dem Weg zu bekommen. Für Zweifel gebe ich mir selbst keine Zeit, beuge mich hinab und lasse meine Zungenspitze testweise über seinen Schaft gleiten. Ich schmecke vor allem die Rückstände des Duschgels, sein eigener herber Geschmack trifft mich erst, als ich seine Spitze erreiche. „Oh fuck...”, stöhnt Joshua unter mir, doch ich nehme ihn kaum wahr. Die samtige Hitze überrascht mich, obwohl sie es nicht sollte. Ich öffne die Lippen weiter und nehme ihn in den Mund. Es ist merkwürdig und doch will ich mehr, will ihm die Gefühle bescheren, die er kurz zuvor noch mir geschenkt hat. Mein Herz und mein Hirn sind sich einig, nur mein Körper scheint dagegen zu sein. Statt ihn tiefer gleiten zu lassen und die Fülle zu genießen, reagiert der Verräter mit einem Würgereiz und ich mich hustend ablassen. Scham färbt meine Wangen rot. „Langsam”, japst Josh ebenso atemlos wie ich. „Übertreib es nicht am Anfang.” „Sorry”, bringe ich jämmerlich heraus und möchte mich hinter meinen Händen verstecken, doch mein Freund zieht sie weg. „Alles gut. Schau mich an.” Nur widerwillig gehorche ich. „Mach langsam und nur so viel wie du willst. Ich verlange das nicht von dir. Scheiße, das ist eh schon mehr als ich mir erträumt hätte für heute, okay? Alles gut, probier es nochmal wenn du willst oder nimm deine Hand, ich finde alles gut, solange es mit dir ist, okay?” Ich nicke, immer noch beschämt. Und zeitgleich hat er mit seiner wirklichen lieben Ansprache meinen Ehrgeiz wieder geweckt. Langsam, fast zögerlich lässt er meine Handgelenke los und lehnt sich wieder zurück. Unter seinem wachsamen Blick wende ich mich wieder seiner Körpermitte zu und beherzige seinen Rat. Mit mehr Geduld und Ruhe klappt es direkt besser. Ein bisschen, wie ein großer, heißer Lutscher. Ich grinse innerlich über diesen Gedanken. Die ersten salzen Lusttropfen passen allerdings weniger zu der Vorstellung einer menschlichen Süßigkeit. „Pause”, keucht der Ältere da und zieht mich sanft aber bestimmt von seinem Unterleib weg. Ich klettere ein bisschen höher um ihn anständig küssen zu können, die Knie noch immer zwischen seinen Schenkeln. Mein nach wie vor harter Penis berührt den seinen und beide keuchen wir in den feuchten Zungenkuss. „Willst du mich nehmen?”, fragt Joshua gegen meine Lippen. Überrascht zucke ich zurück und mustere ihn, wie er auf die Ellbogen gestützt unter mir liegt und meinen Blick aus lustverhangenen Augen unbeirrt erwidert. „Wie- Wirklich?”, frage ich nach, unsicher ob ich ihn richtig verstanden habe. „Ja, wirklich.” „Aber... ich dachte...” Ich weiß ehrlich gesagt gerade gar nicht, was ich denke, mein Hirn ist leer und sämtliches Blut scheint sich in meiner zuckenden Mitte zu sammeln. „Dass du unten liegen musst?” Verschmitzt grinst Josh und zieht mich mit einer Hand in meinen Haaren wieder zu einem Kuss heran. Ungewöhnlich keusch, wenn man bedenkt, was ich kurz zuvor noch getan habe, was wir getan haben. „Quatsch. Ich würde dich gerne spüren und für ein erstes Mal finde ich es so rum besser. Außer, du willst nicht?” „Doch!” Mein Mund ist schneller als mein Verstand, zurücknehmen will ich es aber auf keinen Fall. „Aber ich weiß nicht wie.” Also nur theoretisch. „Mach dir darum keine Gedanken.” Beruhigend liegt seine Hand an meiner Wange. „Du brauchst auch keine Angst haben, mir wehzutun.” „Und wenn ich...” Ja, wie soll ich die Sorge jetzt artikulieren, ohne völlig vor Scham zu vergehen? „Fünf Sekunden”, schmunzelt Joshua. Ich ziehe fragend die Brauen hoch. „Hä?” „Wenn du fünf Sekunden durchhältst, bist du ausdauernder als ich beim ersten Mal aktiv.” Auf meinen ungläubigen Blick lacht er nur. „Die Übung macht's. Keine Sorge, du blamierst dich nicht, vergiss die rosaroten Wunschbilder der Medien.” „Na gut”, antworte ich nach einiger Bedenkzeit. Joshua lächelt liebevoll und küsst mich ebenso zärtlich. Als wir uns lösen, hat er von irgendwoher eine Tube Gleitgel gezaubert. „Besser haben als brauchen”, grinst er verschmitzt. Die Tube klackt vernehmlich beim Öffnen. Unsicher lasse ich mich auf die Fersen zurücksinken, unschlüssig, was ich tun soll und kann. Durch das – zugegebenermaßen dringend nötige Gespräch – ist die schlimmste Erregung wieder sichtlich von uns beiden abgefallen. Was meiner Ausdauer vermutlich nützen wird, ist für meinen Verstand gar nicht gut, der bei der gesteigerten Blutzufuhr sofort wieder zu arbeiten anfängt. „Fass mich an, bitte.” Der Bitte komme ich nur zu gerne nach. Ich umfasse sein Glied und beobachte den verzückten Ausdruck, der über sein Gesicht und die geschlossenen zuckt. Dann winkelt er das linke Bein an und führt seine gelbenetzten Finger zwischen seine Beine. Meine eigene Hand stockt in ihrem Tun, als er die durchsichtige Substanz um seinen Muskelring verteilt. Mein eigener zuckt in Erinmnerung daran, wie es sich eben unter der Dusche angefühlt hat. Selbst wenn ich wollte, ich könnte meine Augen nicht abwenden. Wir stöhnen beide auf, als er den ersten Finger langsam in sich einführt. Fuck, das dürfte eins der erotischsten Dinge sein, die ich je gesehen habe. Meine eigene Erregung steht wieder, ohne dass ich mich auch nur berührt hätte. „Darf... ich auch?” Dass ich gesprochen habe, fällt mir erst auf, als Joshua stockt, kurz nachdem er einen zweiten Finger dazugenommen hat. Erschrocken blicke ich zu ihm auf, fürchte zu weit gegangen zu sein in meiner Gedankenlosigkeit, aber was mir begegnet ist pure animalische Lust. Er räuspert sich, macht den Mund auf, wieder zu und hält mir nur mit leicht zittrigen Fingern die geöffnete Tube hin. Ich schlucke, halte ihm meine Hand hin und zucke überrascht unter dem kühlen Gel zusammen. Neugierig verteile ich die Masse zwischen meinen Fingern. Ich hätte es klebriger erwartet, doch eigentlich ist es mehr wie halbfestes Wasser, ganz komisch zu beschreiben. Als ich mich seinem Hintern nähere, zieht Joshua die eigene Hand zurück und legt sie stattdessen um sein Glied, wo er beginnt sich selbst gemächlich zu massieren, von der Wurzel bis zur glänzenden Spitze. Kurz bannt mich auch dieser überaus erotische Anblick, ehe er mich mit einem beinahe bettelnden Keuchen an meine Aufgabe erinnert. Ich ahme seine Bewegungen nach und streiche zunächst über den zuckenden Muskelring. Ermutigt durch sein Stöhnen, drücke ich vorsichtig den Mittelfinger hindurch, dringe in die hitzige Enge ein. Vorsichtig bewege ich meinen Finger, immer ein bisschen tiefer rein, die Kuppe tastend an der vorderen Darmwand entlang, wie ich es gelesen habe. Wenn ich Joshuas Gebaren glauben schenken kann, dann muss das Gefühl wahnsinnig gut sein, er drückt sich mir entgegen und stellt auch das zweite Bein auf. Schnell verlangt er nach einem zweiten Finger, den ich nur allzu bereitwillig gebe. Gleichzeitig frage ich mich, wie ich diese Enge gleich um mein Glied ertragen soll, ohne seine vier Sekunden noch zu unterbieten. Schon jetzt traue ich mich nicht, nach mir selbst zu greifen und mich so zu verwöhnen wie mein Freund es schamlos tut. „Noch einen”, verlangt er und ich gebe ihm, was er will. Anfangs spannt es schon deutlich, selbst nach einem weiteren Klecks Gleitmittel, doch als ich zögere, aus Angst ihm nun doch wehzutun, bewegt er seine Hüfte, bis ich selber weitermache. Das Knistern beim Öffnen eines Kondomtütchens lenkt mich kurzzeitig ab. Joshua richtet den Oberkörper wieder etwas mehr auf und fordert einen weiteren verschlingenden Kuss ein. Mit geübten Griffen rollt er mir das Kondom über. „Vorsicht, kalt”, warnt er mich. Ich merke die Kälte kaum, zu viele andere Sinneseindrücke prasseln auf mich ein. Das Reiben seiner Zunge an meiner, das feste Gummi und die geübte Hand an meinem Penis und meine eigenen Finger, die von seinem Körper umschlossen werden. „Du kannst, wenn du magst”, raunt er nahe meines Ohrs. „So?”, frage ich sicherheitshalber. „Ja. Oder willst du mich anders?” Sofort kommen mir dutzende Bilder aus Erwachsenenfilmchen in den Kopf, doch ich schüttel selbigen nach kurzem Überlegen. „Ich will dich küssen können.” „Ein verdammt gutes Argument”, stimmt er zu und tut es direkt. Nur kurz lasse ich mich auf ein neuerliches Zungenduell ein. Ein letztes Mal kreisen meine Finger und dann ist es soweit. Ich positioniere meine Spitze in dem ungewohnten Latexüberzug und dringe langsam in ihn ein, jeder Millimeter ist Himmel und Hölle zugleich. Als meine Eichel verschwunden ist, atme ich zittrig durch und pausiere, die Hände links und rechts vom Oberkörper des Schwarzhaarigen. Joshua fasst sich in die rechte Kniekehle und zieht das Bein näher zur Brust, was mir nicht nur einen besseren Blick, sondern auch mehr Bewegungsfreiraum verschafft. Das Gesicht in angestrengter Verzückung verzogen, die Augen hoffentlich genießend geschlossen. Die Enge um mich herum lockert sich ein wenig und ich traue mich weiter vor, so tief wie ich mich traue. „Wow”, stöhne ich, etwas überfordert. „Alles okay?”, erkundigt sich Josh. Wenn ich gerade könnte, würde ich lachen, das wäre eigentlich mein Satz. So nicke ich nur. „Bei dir?”, bringe ich dann doch noch raus. „Jahaaa.” Zufrieden höre ich, wie seine Antwort in ein lautes Stöhnen übergeht, als ich mich zurückziehe und erneut eindringe, etwas schneller diesmal. Sein „Fuuuck” nehme ich einfach als Kompliment. Es wird einfacher, instinktiver. Obwohl mich sein Innerstes immer noch in festem Griff hält, ist die akute Angst sofort zu kommen weg. Ich stoße etwas fester zu und komme tiefer. Joshua lässt sich vollends in die Kissen zurückfallen und beginnt erneut sich selbst zu befriedigen. Kurz fühle ich mich schlecht, mich darum nicht zu kümmern, aber es wäre einfach zu viel. Worum ich mich aber kümmern kann, ist der Grund für unsere Position. Nicht ganz einfach, aber durch eine leichte Änderung meiner Stellung und ein bisschen Mithilfe von Josh in Form eines angehobenen Pos schaffe ich es, seinen Mund mit meinem zu erreichen. Ein richtiger Kuss wird es nicht, dafür schnappen wir beide zu sehr nach Luft, aber der Wille zählt. Unvermittelt wird es kurz eng um mich herum. „Ja, da, nochmal”, keucht er unter mir und ich tue ihm den Gefallen, stoße erneut so in ihn. Ich spüre das aufziehende Kribbeln in meinem Unterleib, versuche es zu ignorieren. Doch die ständige Massage um mein Glied wird langsam zu viel, selbst als ich das Tempo reduziere, was wiederum Joshua nicht zu gefallen scheint. Meine Haare kleben schwitzig an meiner Stirn vor Anstrengung. „Lass los”, raunt mein Freund gegen meine Lippen. Entschieden schüttel ich den Kopf. „Ich bin... auch fast... da”, japst er abgehakt. Ganz glaube ich ihm nicht, aber es ist ohnehin zu spät. Der Orgasmus fegt über mich hinweg wie eine Flutwelle und reißt alles mit sich. Hören, sehen, fühlen, alles vermengt sich zu einer Sinfonie der Sinne. Ich ergieße mich schier endlos in das Kondom und doch weiß ich, dass es nicht lange gewesen sein kann. Ich stoße solange zu, bis mich die Überreizung zum Ausharren zwingt. Jetzt öffne ich meine Augen wieder, sehe als erstes die sich ruckartig bewegende Hand und greife instinktiv mit zu. Joshua stöhnt überrascht und nur Sekunden später bäumt er sich unter mir auf und ergießt sich über unsere Finger. Ein letztes Mal verengt er sich um mich, zwingt mich zum Rückzug, obwohl ich das Gefühl gerne ausgekostet und ihn währenddessen am liebsten weiter genommen hätte. Ob er sich das für ein weiteres Mal wohl auch wünscht? Und wie kann ich jetzt, im Postkoitus-Delirium schon an ein nächstes Mal denken? Joshua denkt eindeutig klarer als ich und hält mir einige Taschentücher aus der bereitliegenden Box hin. Ich ziehe mir das Gummi ab und verknote es irgendwie, reinige mich danach notdürftig. „Komm her.” Der Ältere nimmt mir die gesammelten Sachen ab und wirft sie neben das Bett. Ich gucke ihnen leicht bedeppert nach, doch ein sanfter Kuss lenkt mich ab. „Alles okay bei dir?” Sanft streicht mir mein Freund eine Strähne aus der Stirn. „Ja.” Ich lächle beruhigend und sehr zufrieden. „Ich glaube ich bin noch etwas überfordert”, gebe ich zu. „Ich hoffe, nur im guten Sinne?” Ich nicke. „Schön. Hat es dir denn gefallen?” Ich beiße mir auf die Unterlippe, plötzlich wieder von Scham erfüllt. Bescheuert, wo wir beide nackt voreinander sitzen, nachdem wir es getan haben. „Sehr. Und... war es okay für dich?” „Mehr als das.” Bei seinem Lächeln fällt mir ein Stein vom Herzen, dessen Existenz mir nicht klar war. Ich erwidere sein Lächeln befreit. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)