Gegensatz und Vorurteil von Ana1993 (- Ehemals Schubladenmagnet -) ================================================================================ Kapitel 20: ------------ ~ 20 ~   Joshuas POV   Paul ist verdammt still während der Fahrt zu seinem Heim. Er starrt aus dem Fenster, das Kinn in die Hand gestützt und die Augen in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Ich würde ihm gerne helfen, die Last von seinen Schultern nehmen, doch ich wüsste nicht, wie. Er hat mir mehr oder weniger deutlich gemacht, dass er für einen Tag genug geredet hat und sich lieber auf andere Dinge konzentrieren will, doch nun, da wir genau an den Ort fahren, an dem all seine Sorgen begründet zu sein scheinen, kann ich die Gewitterwolken seiner inneren Konflikte förmlich vor mir sammeln und zunehmend türmen sehen. Auch auf meiner Brust macht sich ein Druck breit, ein unsichtbares Gewicht, gegen das sich nur mühsam atmen lässt. Ich verstehe noch immer nicht genau, was vor sich geht, aber eigentlich will ich es auch gar nicht wissen. Um Pauls Willen wäre es wohl besser, ich würde bei einer etwas besseren Gelegenheit fragen, aber um meinetwillen würde ich lieber den Kopf in den Sand stecken und so tun, als würde ich weiter in einer heilen Welt leben, in der mein größtes Problem in meinen nervigen Geschwistern und pseudocoolen Eltern besteht. Mein schlechtes Gewissen prügelt sofort auf mich ein und jagt einen stechenden Schmerz durch meine Brust, dass ich förmlich zusammenzucke. Wie egoistisch bin ich eigentlich? Ich werfe einen reuevollen Blick auf den Blonden neben mir. Strecke meine Hand nach seinem Bein aus, nur um sie im letzten Moment wieder zurückzuziehen. Ich kaschiere die Bewegung, die Paul nicht einmal bemerkt zu haben scheint, indem ich die Gangschaltung betätige, auch wenn ich es an dieser Stelle nicht unbedingt gemusst hätte.   Ich parke den Wagen vor dem kleinen Häuschen. Mit meinem neuen Wissen wirkt es mit dem ungepflegten Garten gleich doppelt trostlos. Wir steigen auf, immer noch schweigend, und ich folge Paul erst zur Tür und dann ins Innere. Unsere Schritte scheinen von den Wänden wiederzuhallen. Ich habe mal gehört, eine Wohnung spiegelt das Innere eines Menschen wieder. Stimmt das wirklich? Und fange ich gerade an, zu viel in alles zu interpretieren und völlig überzubewerten? Ich bemühe mich, die Gedanken zusammen mit meinen Schuhen abzuschütteln. Mein Freund kommt mit einem Seufzen aus der Küche zurück und sieht unsicher in Richtung Treppe. Über sein Gesicht huschen verschiedene Emotionen: Angst, Sorge, Unwille und verdammt viel Verunsicherung. Wortlos greife ich seine Hand und drücke sie ermutigend. Wenn er nach seinem Vater sehen will, was ich nur zu gut verstehe, dann werde ich ihm beistehen, sofern er möchte. Scheiß auf Vogelstraußtaktik, jetzt ist es mal an der Zeit zu beweisen, dass ich es ernst mit ihm meine. Paul schenkt mir ein flüchtiges Lächeln, welches seine Augen kaum erreicht. Die erste Etage habe ich zuvor noch gar nicht zu Gesicht bekommen, Paul selbst wohnt im Erdgeschoss. Viel anders ist es hier oben nicht, die Wände sind in neutralem Beige gestrichen, vereinzelt hängen Landschaftbilder herum, statt der Fotos. Drei Türen gehen vom Flur mit dem grauen Teppich ab. Hinter einem kann ich Fliesen erkennen, die anderen beiden sind geschlossen. „Papa?“, ruft Paul mit brüchiger Stimme, seine Hand in meiner fühlt sich kalt und feucht an. Ich drücke sie erneut. Ein Aufatmen geht spürbar durch unserer beider Körper, als sich eine der Türen öffnet und ein Mann in den Flur kommt, den ich von den Fotos wiedererkenne. Er wirkt älter, als er sein dürfte, Sorgenfalten zieren sein Gesicht und das Haar weicht merklich nach hinten zurück. „Oh, hallo ihr beiden.“ Der ältere Mann lächelt etwas wacklig. Er mustert kurz unsere immer noch verschränkten Finger, sagt jedoch nichts dazu. Ein unsichere Stille legt sich über uns und jeder wartet auf den nächsten Schritt des jeweils anderen. Schließlich ist es Paul, der den Bann bricht. „Ich- es tut mir Leid, dass ich gestern abgehauen bin, aber ich...“, er schluckt, sammelt sich, „ich musste den Kopf frei kriegen. Ich hab dich ganz furchtbar lieb und ich will dir auch helfen, aber gerade ist es mir alles ein bisschen zu viel geworden. Ich würde gerne heute Nacht noch einmal bei Joshua schlafen. Morgen komme ich dann wieder, versprochen! Ich lasse dich nicht im Stich, ich brauche nur... eine kurze Atempause.“ Einmal begonnen, sprudelt es aus ihm heraus. Eine Mischung aus Dingen, die stark nach meiner Mutter klingen und Pauls ureigenen Gedanken und Gefühlen, immer getrieben von seinem schlechten Gewissen, für das er meiner Meinung nach keinen Grund hat. Sein Vater sieht ihn leicht schockiert an, ehe seine Züge weicher werden, obwohl er zeitgleich besorgt die Brauen hochzieht. „Du musst doch nicht... Himmel, Paulchen!“ Er stürmt regelrecht auf seinen Sohn zu und zieht ihn in eine Umarmung, die uns alle überrascht. Paul löst unsere Finger und legt beide Hände vorsichtig um seinen Vater. „Natürlich darfst du das. Du musst doch nicht immer auf deinen alten Herrn aufpassen.“ Seine Stimme klingt erstickt. Mir ist die Situation verdammt unangenehm und ich trete den strategischen Rückzug an. Das folgende Gespräch ist nicht für meine Ohren bestimmt, da bin ich mir sicher. Ich will meinen Freund nicht im Stich lassen, aber auch nicht zu tief in seine Privatsphäre eindringen. Und ich habe die Hoffnung, dass hier eine dringend benötigte Aussprache stattfinden könnte. Leise schleiche ich mich die Treppe herunter und in Pauls Zimmer, wo ich mich auf sein Bett setze. Ich habe über die Jahre von meiner Mutter genug gelernt um zu wissen, dass hier jetzt kein super Happy End stattfindet und in Zukunft alles dufte werden wird. Aber vielleicht ist es ein erster Schritt in die richtige Richtung, wer weiß.   Paul kommt kurz darauf zu mir. Seine Augen sind wieder rot, er hat geweint. Er zögert, wirft sich dann aber doch in meine ausgebreiteten Arme. Halb sitzend, halb liegend ist wirklich unangenehm, also rutsche ich mit ihm ein Stück nach hinten und strecke uns beide lang auf der Matratze aus, er über mir. Man sollte eigentlich meinen, bei seiner Größe und seiner schmalen Statur wäre er ein Fliegengewicht, doch auch die paar Kilo drücken ordentlich auf mich. Ich beschwere mich nicht, natürlich nicht, im Grunde genieße ich es sogar. Stattdessen streiche ich über seinen Rücken und halte ihn, gebe ihm ein paar Minuten um sich wieder zu sammeln. Ein tiefer Atemzug bestätigt wenig später, dass er genau das getan hat. Der Blonde richtet sich auf und lächelt wackelig auf mich hinab. „Danke.“ „Kein Ding“, erwidere ich mit einem Klos im Hals, den ich erfolglos wegzuräuspern versuche. Ich kann nichts dagegen tun, mein Kopf driftet einfach ohne mein Einverständnis in andere Gefilde ab. Der Druck von Pauls Händen auf meiner Brust fühlt sich einfach zu gut an und wie er über mir thront, die blonden Haare etwas derangiert, die noch immer leicht feuchten Augen, die ihn trotz allem noch schön aussehen lassen... Vielleicht ist es der Versuch meines Unterbewusstseins, mich von der düsteren Stimmung abzubringen, dennoch kann ich es jetzt gar nicht gebrauchen, spitz zu werden, wie der hormongeladene Teenager, der ich immer noch bin. Diese Art der Ablenkung hat zwar gestern Abend gut funktioniert, ist hier aber sicher fehl am Platz. Ich räuspere mich erneut und schiebe Paul vorsichtig von mir, um dann etwas zu schnell auf die Füße zu kommen. „Was äh, brauchst du denn alles?“ Selbst in meinen Ohren klingt mein Ablenkungsmanöver hohl und gekünstelt. Mein Freund runzelt die Stirn. „Ich packe. Warte kurz.“ Er sortiert seine Schultasche passend für den kommenden Montag, holt noch eine weitere Tasche von seinem Schrank herunter (wobei sein Shirt hochrutscht und einen aufreizenden Streifen nackter Haut offenbart, der in meinem Hirn einen Kurzschluss verursacht. Hormone und so.) und stopft recht wahllos einige Klamotten hinein. Ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Hände in die Taschen, nee das ist zu ungemütlich, doch wieder Hände raus, mit den Armen schaukeln. Okay, ich fühle mich gerade offiziell überflüssig. Und in Anbetracht der Tatsache, dass mir meine Mitmenschen und ihre Handlungen sonst meistens am Allerwertesten vorbeigehen, ist das eine ungewohnte und ebenso unwillkommene Gefühlsregung. Mein Hirn drängt mich, etwas zu sagen, mein Mund verweigert zu meinem Glück aber den Dienst. Es ist nicht immer das Schlaueste, was ich so von mir gebe. „Ich glaube, wir können“, gibt Paul schließlich den erlösenden Startschuss. Ich bemühe mich wirklich, nicht zu erleichtert auszusehen. Gemeinsam verlassen wir sein Zimmer, er ruft noch eine Verabschiedung die Treppe hinauf, die auch erwidert wird und dann gehen wir zurück zu meinem Auto, was gar nicht mein Auto ist, sondern unsere übergroße Familienkutsche. Ach, auch egal. Was mache ich mir gerade über so einen Quatsch Gedanken? Ich würde stattdessen auch gerne fragen, ob sein Vater sich nach dem erkundigt hat, was ganz offensichtlich zwischen uns ist, aber ich finde keine passende Formulierung und irgendwie scheint jetzt auch nicht der richtige Zeitpunkt dafür zu sein. Vielleicht hat er ja auch gar nichts gemerkt? Wobei, welcher Kerl hält seinen Kumpel schon an der Hand, emotional aufwühlende Situation hin oder her? Ich bekomme auch während der Fahrt meine Klappe nicht auf. Irgendwann, als ich so angestrengt die fast leere Straße vor mit im Blick behalte und innerlich kurz vor dem Platzen stehe, spüre ich eine zaghafte Berührung an meiner rechten Hand. Ich verkneife mir ein Aufatmen und ergreife erleichtert die Chance – und die schmale Hand, die so schüchtern nach Nähe sucht. Lächerlich, wie ich mich anstelle, wo Paul doch so viel größere Probleme hat. Aber ich kann eben auch nicht aus meiner Haut. Wir schweigen uns auch weiterhin an, doch die Stille droht nicht mehr, uns zu ersticken. Zu Hause trage ich seine Tasche in mein Zimmer, wo wir dann etwas ratlos voreinander stehen. Ein Klopfen an der Tür erlöst mich, was mich zugleich noch ein bisschen mehr beschämt. „Hallo ihr zwei”, begrüßt uns meine Mutter, ein freundliches, unaufdringliches Lächeln in den Mundwinkeln. „Alles geklappt?” Offensichtlich. Doch selbst ich sozialer Volltrottel verstehe die implizierte Frage dahinter. „Ja, ich...”, Paul seufzt und setzt noch einmal an, das Lächeln etwas gequält erwidernd, „es scheint ihm einigermaßen gut zu gehen. Ich habe es ihm erklärt, wie wir es besprochen haben und zumindest dass ich eine Pause brauche, scheint er zu verstehen.” Mama nickt ermutigend. „Das ist doch ein guter Anfang. Und mein Angebot steht natürlich auch weiterhin.” Damit wendet sie sich zum Gehen, hält aber noch einmal an, kurz bevor sie die Tür hinter sich schließt. „Es gibt in einer Stunde Essen, wenn ich deinen Vater richtig verstanden habe.” „Alles klar, Mum”, informiere ich sie. Kaum ist sie fort, richtet sich meine Aufmerksamkeit auf Paul. „Was für ein Angebot?”, frage ich neugierig, besinne mich dann. „Also, nur wenn du es sagen willst.” Das Lächeln wird einen Tick echter. „Dass sie mich begleitet und versucht zu vermitteln. Oder, dass sie eine Bekannte mit eigener Psychotherapiepraxis fragt, ob sie einen Termin für meinen Vater und auch für mich freischaufeln kann.” „Und? Weißt du schon, was du willst?” Er zuckt ratlos die Schultern. „Nicht wirklich. Das kommt alles etwas plötzlich und... ich weiß nicht, ob Papa Hilfe annehmen wird. Ich weiß ja selbst nicht einmal, ob ich es kann. Wir haben uns immer schon alleine durchgeschlagen und bis gestern hat es irgendwie geklappt.” „Irgendwie? Sorry, Sweetie, aber du hast mehr verdient als irgendwie.” Ich widerstehe dem Impuls nicht länger und ziehe ihn in meine Arme. „Mama hat das Thema doch schon mit dir durchgekaut. Es ist keine Schande, sich Hilfe zu suchen. Das macht euch auch nicht schwach oder so ein Quatsch. Eigentlich sogar im Gegenteil.” Ja, auch ich bin nicht gewappnet vor der lebenslangen Indoktrination meiner Eltern bei dem Thema. Ich spüre das schwere Seufzen an meiner Brust. „Ich versuch's”, nuschelt er schließlich nach einer Weile. „Mehr erwartet auch niemand von dir. Und wenn ich dir irgendwie helfen kann...” Ich ersticke die fiese kleine Stimme in meinem Inneren, die mich darauf hinweisen will, wie hilfreich ich gerade in Punkto Gespräche bislang war. Und damit auch Paul keine Gelegenheit mehr hat, derartige Zweifel zu entwickeln, konzentriere ich mich auf meine besseren Fähigkeiten: Körperlichkeit. Ich schiebe Paul an den Schultern ein Stück von mir weg, nur um die Distanz direkt wieder zu überbrücken. Seine Unterlippe ist ein wenig rau und zugleich geschwollen vom stundenlangen grüblerischen Herumgenage, aber weil ich ein verknallter Idiot bin, kann ich mir keine schönere Beschaffenheit vorstellen. Nun ja, vielleicht wenn sie von anderen Dingen geschwollen wären...? Paul erwidert meinen Kuss hungrig und lenkt somit auch mich von zu viel Grübeleien ab. Bald reicht es uns nicht mehr, nur harmlos mit unseren Lippen übereinander zu schmusen. Der Blonde ergreift die Initiative und leckt sich einen Weg bis zwischen meine Zähne. Ein fester Griff um meinen Nacken hindert mich am Ausweichen. Unnötig, warum sollte ich? Während ich auf seine Neckereien eingehe und nicht ganz bereit bin, die Führung des Kusses abzugeben, einfach, weil der spielerische Kampf um die Vorherrschaft viel zu viel Spaß macht, dirigiere ich uns Richtung Bett und darauf. Wir lösen uns nur, wenn es gar nicht anders geht, schnappen begierig nach Luft, nur um im nächsten Moment wieder wie zwei Magnete aneinander zu kleben. Auf der Seite liegend vertiefen wir den Kuss wieder, nur unsere abgehackten Atemzüge und gelegentliche Schmatzer erfüllen die Stille. Beinahe wäre ich zusammengezuckt als sich vorwitzige Finger ohne nennenswerte Umwege ihren Pfad unter mein Shirt suchen. Die Berührung ist alles andere als zaghaft, so zielstrebig, wie er küsst, sucht er sich auch seinen Weg über meine Rippen, nur mit kurzem Zwischenstopp an meinen Brustwarzen, ehe er die Erkundung seitlich fortführt. 'Ich habe ein Monster erschaffen', geht mir durch den Kopf. Nicht, dass ich grundsätzlich was dagegen hätte, und sei es nur als Ablenkung, aber... „Langsam”, keuche ich, mich mühsam kurz von ihm lösend. Paul murrt unzufrieden und stürzt sich erneut auf mich. Ich lande auf dem Rücken, der Kleinere halb über mir. Und okay, ja, ich gebe auf. Ich habe es versucht, das muss für mein Gewissen reichen. Ich taste mich ebenfalls zu ihm vor und streiche in großen Bahnen über seinen Rücken und seine Seiten, ein Kontrast zu seiner fast hektischen Art. Er beißt leicht in meine Unterlippe und ich wiederhole mein beschwörendes „Langsam”. Und es scheint zu wirken. Er wird ruhiger, nicht weniger leidenschaftlich, aber ich habe nicht mehr das Gefühl wahlweise zu ersticken oder unter seinen Fingern zu verglühen.   Bis zum Essen haben wir uns einigermaßen beruhigt, unser wildes Rummachen glich zum Schluss eher einer sehr kitschigen Knutscherei mit ein bisschen Schmusen und Streicheln fernab jeglicher gefährlichen Bereiche. Trotzdem kann man uns wohl ansehen, was wir so getrieben haben, den eindeutigen Blicken meiner Geschwister zu urteilen. Doch weder sagen die Zwillinge aus der Hölle, noch meine Eltern etwas dazu. In vertauschten Rollen sitzt meine Mutter schon am Platz, über ihr Smartphone gebeugt, welches sie erst in letzter Sekunde wegsteckt und mein Vater werkelt am Herd. Nathan wird unter Gemurre dazu verdonnert, das Essen aufzutischen, Holly holt das Besteck. „Könnt ihr zwei nachher spülen?”, fragt Paps an uns gewandt. „Ähm... sicher”, bestätige ich nach einem kurzen Blick zu Paul. Ich sehe es mal positiv: Zur Hausarbeit verdonnert werden ist eine Art Ritterschlag. Oder so. Einen reinen Gast-Gast würde er das nie fragen, Paul ist also offiziell zur Familie annektiert.   ~*~   Ich hoffe, die Sprünge zwischen leicht deprimiert und dezent sexuell angehaucht sind euch nicht zu viel? Aus meiner Sicht passt das schon, aber ich bin als Autor*in ja auch betriebsblind ;) Hosted by Animexx e.V. 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