Demonheart von CaroZ ================================================================================ Kapitel 40: Akt X - Blut des Teufels: 14-1 ------------------------------------------ 14-1: YURI Yuri war direkt über die Treppen gekommen. Seit er wusste, dass Roger noch hier lebte, war ihm klar, dass das alberne Gottesschlächter-Denkmal einen Eingang zur obersten Schicht der Ruinen markierte. Diese durchzogen den Untergrund so weitläufig, dass er nicht einmal erahnen konnte, wohin ihre Ausläufer reichten. »Roger?«, rief er vorsichtig ins Dunkel. Er hatte kein Licht, doch das machte nichts. Die steinernen Wände sandten hier an manchen besonders dünnen Stellen ein schwaches, kaltes Glosen ab, das ihn führte. »Roger, ich bin’s, ich muss mit dir reden.« Hoffentlich reichte der Tunnel nicht hinunter in die Ruinen. Dort wollte er nie wieder hin. »Roger!« »Hör auf zu schreien! Lauf weiter, immer der Nase nach. Ich hab schon Kaffee aufgesetzt!« Na bestens, explosives Gebräu fehlte jetzt noch. Yuri lief weiter den Tunnel hinunter und verfiel unwillkürlich in Laufschritt. Wieder pochte sein Herz wie am Abend zuvor; es gab so vieles, das er mit Roger besprechen musste, so viel Vertrauliches und auch Heikles. Er hoffte, dass Jin die Nachricht richtig deutete und ihm Zeit gab. An Dante wäre solche Mühe wohl verschwendet gewesen. An einer Kante mit drei niedrigen Stufen stolperte er und fiel beinahe der Länge nach auf die Nase. Zu seinem Erstaunen stand er genau vor einem viereckigen Loch, in das von der Decke ein Seil herabführte. Darunter befand sich der schon bekannte Raum mit der weinroten Couch, auf der sie gestern gesessen hatten. Yuri fand Roger im Zimmer daneben, dem Eingangsraum. Dort saß er an dem hohen Tisch, vor sich zwei dampfende Tassen, und bastelte an etwas herum, das Yuri über seine Schulter hinweg als eine Art Verbindungsstück für verschiedene Kabel erkannte. »Ach, es hat keinen Sinn«, murmelte Roger. »Selbst wenn ich wieder alle Zuleitungen frei bekomme, fehlt mir immer noch die Energiequelle.« Yuri setzte sich ihm gegenüber. »Roger, wir müssen reden.« »Allerdings. Bist du allein?« »Ja.« Er war etwas nervös. »Ich … vermute, es ist egal, ob ich hier bin oder woanders, wenn es um den Fluch der Mistel geht, nicht wahr? Du siehst, ich stecke wieder in meinem alten Körper von 1913, bevor ich verflucht wurde. Als Schonfrist. Aber das wird mich nicht retten, oder?« Wieder einmal hob er automatisch die Hand, um unter dem Mantel seine Brust zu betasten, wo er keine verheilende Wunde vom Einstich des Silberdorns fand. Dummer Reflex. Roger betrachtete ihn nachdenklich, die Hände gefaltet auf dem Tisch. »Sagen wir mal … Ich vermute, es wird dich nicht retten, wenn du an einem Ort weiterlebst, an den du nicht gehörst.« Sein runzeliges Gesicht lag in Sorgenfalten. »Du weißt, wie du hierher gekommen bist?« »Kato hat mit dem Émigré-Manuskript die Zeittore geöffnet. Um von der Steinplattform zu entkommen, mussten wir … es uns wünschen. Und ich …« »Ja?« »… ich musste mich entscheiden. Zwischen Frieden … und Glück.« Innerlich zögerte er. Aber ja, das war der Deal gewesen … oder? »Erinnerst du dich wirklich?«, hakte Roger nach. »Ja, klar tu ich das!« »Hör mir jetzt gut zu, Junge.« An seiner Miene erkannte Yuri, dass er ihm gleich etwas ziemlich schwer Verdauliches mitteilen würde. War jemand gestorben, einer seiner alten Freunde? Schließlich wusste er nicht, was aus ihnen geworden war, nachdem sie alle verschwunden waren … Roger atmete tief ein. »Yuri, in meiner Realität – der, die ich erlebt habe – bist du nach diesem letzten Kampf gegen Kato hierher zurückgekommen, nach Wales. Ich fand dich an der Klippe stehend, im Herbst von 1918, dem Jahr, in dem der Krieg endete. Du hattest keine Erinnerungen … und keine Seele.« Yuri wurde kalt. Seine Fingerspitzen waren plötzlich gefühllos, sein Hals trocken. »Wie – ich … Der Fluch hat …« »Ja.« »Es war … nichts von mir übrig?« »Nur dein Körper. Du hast gelebt, du hast dich bewegt, du hast gesprochen … aber du warst nicht mehr du selbst.« »Was … aber … Ich meine, ich wusste, dass das passieren würde, ich hatte keine Wahl, ich konnte nicht länger dagegen kämpfen … Aber das, das ist … mein Alptraum«, schloss er kläglich. Kummer und Entsetzen schnürten ihm die Kehle zu. Es war also wirklich passiert, das Schrecklichste, was passieren konnte, das Ende – er war zu einer leeren Hülle geworden, vor dem, was er so sehr fürchtete… »Der Fluch der Mistel hatte deine Seele verschlungen, und mit ihr alles, was dich ausmacht!«, brach Roger plötzlich aus. »Du wusstest es, wie konntest du das nur zulassen, wie konntest du? Ich musste dich hier isolieren, Yuri, bis an dein Lebensende! Ich ließ dich in dem Glauben, du wärst mein Sohn …« »Sohn … Und das hab ich dir abgekauft …« Es wurde immer trauriger. »Was blieb dir anderes übrig? Ich habe es dein Leben lang bedauert … Dafür hast du nicht die Welt gerettet, nicht für das Schicksal eines seelenlosen Geschöpfes ohne eigenes Leben! Und Alice –« Yuri fuhr zusammen. »Alice? Sie hatte ich auch vergessen?« »Natürlich.« Roger schüttelt betrübt den Kopf. »Mit deiner Entscheidung hast du alles aufgegeben, was du hattest. Das Wertvollste. Dich selbst.« Yuri fühlte sich wie erschlagen. Seine Entscheidung auf der Steinplattform war vollkommen falsch gewesen … Frieden hatte er gewollt, nichts als Ruhe, wenn er schon aufgeben musste … Und Frieden hatte er bekommen, endlosen Frieden, zu einem unsäglichen Preis. Oft hatte er sich ausgemalt, wie es sein mochte, seelenlos durch das Nichts zu driften, in einer belanglosen Umwelt, die ihm nichts geben konnte … Doch es gab nichts mehr, das driften konnte. Und nichts mehr, das Alice’ Andenken bewahrte. »Yuri.« Roger griff über den Tisch nach seiner zitternden Hand und legte seine kleinen braunen Finger darum. »Du bist jetzt hier, weil dies deine Chance ist.« »Meine Chance …?« »Darauf, deine Entscheidung zu korrigieren. Du siehst, deine Wünsche können den Lauf der Zeit beeinflussen.« »Aber – ich weiß gar nicht, warum ich hierhergekommen bin …« In Yuris Hirn ratterten die Räder, dass es fast schmerzte. »Was soll ich machen? Wie kann ich verhindern, dass der Fluch der Mistel mich ausradiert? Es trifft mich doch so oder so! Was tue ich dagegen?« »Es gibt eine ganz einfache Antwort darauf«, sagte Roger ruhig und zog seine Hand weg. »Nur so viel: Jetzt bist du hier, weil du Zeit gewonnen hast. Nimm die Taschenuhr … Na los!« Yuri fuhr in seine Hosentasche und zog die Uhr hervor. »Sie funktioniert, hast du gesagt.« »Äh, sie … sie ist auf Zwölf gesprungen, aber seitdem bewegen sich die Zeiger nur ganz langsam. Sie läuft, aber sie zeigt nie die richtige Zeit an.« Roger nickte eifrig. »Gut. Dann zieh zu, dass du in deine eigene Zeit zurückkehrst, bevor der Zeiger wieder bei Zwölf ankommt. Sonst, fürchte ich, wird der Fluch schneller sein als du.« Schneller sein … »Verstanden«, brachte Yuri hervor. Roger nickte, und die Furchen in seinem Gesicht glätteten sich ein wenig. »Nun, als nächstes möchtest du wahrscheinlich wissen, wie deine Rückreise zu bewerkstelligen ist.« »Ja … Ja, darüber habe ich schon nachgedacht. Ich habe gesehen, dass du ihn noch hast … also, den Teleporter.« Yuri war nicht entgangen, wie Jin dieses Ding angestarrt hatte, das da im Nebenraum an der Wand aufgetürmt lag, das Laufband mit den drei gespenstischen Strahlungsemittern. Funktionstüchtig sah es allerdings nicht aus, ganz so, als wäre es ewig nicht verwendet worden. Etwas hilflos hielt Roger das Kabelverbindungsstück hoch, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Es ist einiges nicht ganz in Ordnung damit, und die Energiequelle ist auch ein Problem, aber grundsätzlich habe ich den Teleporter noch, ja. Ich denke, wir könnten die Probleme irgendwie lösen, zumal wir zu viert sind … Also ja, natürlich kann ich dich zurückschicken. Aber sollte ich dich schon zurückschicken? Auf der Uhr ist noch etwas Zeit. Und mir scheint, du sollst hier noch etwas lernen.« »Lernen? Du glaubst also, dass ich … nicht umsonst hier bin?« »Natürlich! Du hast dich dem Fluch ergeben, Yuri – ist das wirklich das, was du willst? Denk darüber nach!« Yuri senkte den Blick auf die vor sich hin tickende Taschenuhr. Roger hatte Recht, er musste handeln. Musste den Arsch hochkriegen und etwas unternehmen. Noch immer war er erschüttert über das Ergebnis seiner Entscheidung. Frieden bedeutete Kapitulation. »Wenn die Sache hier erledigt ist – werde ich dann wissen, was ich zu tun habe?« »Herrje, was weiß ich.« Roger hob die Achseln. »Ich bin nicht du. Ich kann dir nur einen Stups in die eine oder andere Richtung geben. Lösen musst du das Problem selbst.« »Kato hat gesagt, wir müssten beten.« Yuri starrte weiter auf die Uhr, doch sie verschwamm vor seinen Augen. »Wir müssten uns wünschen, einen neuen Platz auf der Welt zu bekommen.« »Und du siehst, es hat funktioniert. Auf die eine oder andere Weise.« »Aber ich habe mir nicht gewünscht, in einem fremden Land und in einer fremden Zeit zu landen, wo nichts so ist, wie ich es kenne! … außer dir.« »Natürlich nicht«, entgegnete Roger mit scharfem Blick. »Aber augenscheinlich hast du dir insgeheim gewünscht, dass dir jemand sagt, was du tun musst.« »Aber niemand sagt mir, was ich tun muss! Nicht Dante, nicht Jin – nicht mal du!« »Yuri!«, fuhr Roger auf und sprang auf die Sitzfläche seines Stuhls, um sich weiter über den Tisch beugen zu können. »Du kannst doch nicht ernsthaft erwarten, dass sich jemand vor dir hinstellt und dich instruiert, wie du dem Fluch entrinnst und Alice zurückbekommst!« Als diese Zurechtweisung einsank, wurde Yuri plötzlich ganz ruhig. Endlich schien sich sein Inneres nicht länger hin und her zu winden, sondern begann sich zu fokussieren. »Also geht es wirklich darum. Es geht um Alice.« »Worum sollte es in deinem Kopf denn sonst gehen?«, erwiderte Roger ärgerlich. »Man sollte meinen, du kennst dich allmählich!« Der Zug, dachte Yuri und erinnerte sich. Im Zug nach Aberystwyth war er wieder einmal zu Alice gelangt, wie damals kurz vor dem alles entscheidenden Kampf gegen Kato. Bis heute wusste er nicht, ob diese Begegnungen auf einer gewissen Ebene real gewesen waren oder nur Wunschträume; er hatte beschlossen, dass das nicht wichtig war. Er hatte etwas gelernt aus diesen Klarträumen, nur das war entscheidend. Er hatte etwas Wesentliches über sich selbst erfahren. Und was er in diesem zweiten Traum – in dieser Zeit, unterwegs mit Jin und Dante – über sich selbst erfahren hatte, war, dass er Alice hätte retten können. »Ich muss zurück«, murmelte er. »Roger, ich muss … irgendwie zurück. Nicht nach 1915, sondern … 13.« Er blickte an sich herab. »Ich habe doch mein jüngeres Aussehen. Ich stecke in meinem Körper von damals und sehe aus wie Psychopath – und als ich so aussah, hat Alice noch gelebt.« Ohne dass er es wollte, füllten sich seine Augen mit Tränen. »Ich muss irgendwie zurück. Kannst du mich dahin zurückschicken – zu dem Zeitpunkt, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin?« »Nein«, war Rogers klare Antwort. Yuri kniff die Augen zusammen und ließ zu, dass ein paar Rinnsale ihren Weg nach unten fanden. »Aber du hast erkannt, was du willst.« Wieder tätschelte Roger Yuris schlaff auf dem Tisch liegende Hand. »Also reiß dich zusammen und denk nach! Lass dir einmal in deinem Leben vom Schicksal etwas beibringen!« Mehr als ein schwaches Nicken brachte Yuri nicht zustände, während seine Wangen immer nasser wurden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)