Liebe, Lüge, Wahrheit von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 26: Schlechter Traum ---------------------------- Frühling 1780   Gewitter, Regen und viel Schlamm. Das erste Frühjahrsgewitter hinterließ Unmengen von Pfützen und manchenorts brachen sogar die Flüsse aus den Ufern. Der ganze Bauernhof stand im Wasser und es schien kein durchkommen zu geben. Aber er musste zu den Stallungen, um Pferdeäpfel für den Heizofen für die Stube zu sammeln. Sonst würde er kein Essen bekommen. Das sagten die Menschen, bei denen er arbeitete. Eltern hatte er keine und niemand erzählte ihm etwas von ihnen. Er existierte nur, weil die Frau, bei der er wohnte, ihn aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen hatte. Jemand kam in den Stall, band ein Pferd ab und führte es nach draußen, ohne ihn zu beachten. Das war ein Gast, ein Reisender – wie jeder andere, die hier auf ihrer Durchreise für eine Mahlzeit und einen Krug Bier oder um das schlechte Wetter abzuwarten, einkehrten. Wie gerne wäre er jetzt mit diesem Reisenden auf dem Pferd fortgeritten und hätte den Wind der Freiheit gespürt, aber das konnte und durfte er nicht. Er musste mit seiner Aufgabe fertig werden, solange es noch Tag und die Gaststube nicht allzu voll mit Gästen gefüllt war. Der Reisende von vorhin stieg draußen auf sein Pferd auf und ritt davon. Er ließ den Holzeimer mit den Pferdeäpfeln stehen und kam nach draußen, um dem Reiter betrübt nachzusehen. Der Regen hatte aufgehört und das Gewitter verzog sich langsam. Die großen Pfützen blieben aber und spiegelten seinen mageren Körperbau als eine hässliche Figur in zerrissenen, abgetragenen und mehrfach geflickten Hose und Hemd. Missgeburt nannten ihn die Dorfbewohner, weil er seit seiner Geburt nicht sterben wollte. Er senkte seinen Blick und spürte sogleich jemanden hinter sich. Zwei halbwüchsige Dorfkinder hatten ihn eingekreist und bevor er sich versah, wurde er von beiden Seiten grob gepackt und heftig gestoßen. Die Buben lachten, als er in die schlammige Pfütze landete und traten nach ihm. Es machte ihnen Spaß, ihn zu hänseln, aber das war das erste Mal, das sie ihn derart schlugen. Er konnte sich nicht wehren – er gehörte doch zu niemanden, er war ganz allein und einsam. Erst als ein breitschultrige Mann aus dem Gasthof rauskam und heftig schimpfte, ließen die Burschen von ihm ab und rannten davon. Er blieb jedoch reglos liegen und konnte sich kaum bewegen. Blut tropfte ihm aus der Nase, als er auf die Arme gehoben und in das Haus getragen wurde… Und das Blut war so rot wie das Tuch, das der Mann um seinen Hals trug...   François schrie vor Schmerzen wie am Spieß und rief verstört nach seinen Eltern. Das war das erste Mal, dass er so einen bösen Traum hatte und er die Schmerzen von den Schlägen und Fußtritten spürte, als wäre es Wirklichkeit. So ähnlich wie damals, als er acht Monate alt war. Und das alles, weil er bei dem schlechten Wetter schläfrig wurde und seine Zieheltern ihm aus diesem Grund einen kleinen Mittagsschlaf gegönnt hatten. Aber wo waren sie jetzt? Warum kamen sie nicht? Sie konnten nicht in Versailles sein, nicht jetzt, wo er sie doch so sehr brauchte! „Mama! Papa!“   Wie aufs Stichwort wurde die Tür aufgerissen. André kam als erster in sein Zimmer gestürmt und bekam einen Schreck: Da saß sein Sohn auf dem Bett, weinte bitterlich und blutete aus der Nase. „Papa!“, rief François verzweifelt und streckte schon nach ihm seine Arme aus. Kaum dass sein Ziehvater ihn erreichte, klammerte er sich an ihn und schluchzte ununterbrochen in sein Hemd. „Es tut weh!“   So aufgelöst und ängstlich hatte André sein Kind noch nie erlebt. „Wo tut es dir weh? Was hast du?“ André schob François Kopf von sich, um das Blut mit dem Ärmel seines Hemdes wegzuwischen.   „Es tut überall weh, Papa...“ Der Junge ließ die Behandlung zu, aber klammerte sich weiterhin an ihn. In diesem für ihn verstörten Moment, war es ihm gar nicht bewusst, dass er aus der Nase geblutet hatte.   An der breit geöffneten Tür zeigten sich derweilen Sophie, Rosalie und andere Bedienstete, die ebenso fassungslos und erschrocken von dem Bild des weinenden und aufgelösten François waren. Noch erschreckender aber war das Blut, das André gerade bei ihm wegwischte. Der Junge brauchte unbedingt einen Arzt! „Holt Doktor Lasonne, sofort!“, befahl jemand hinter dem Rücken der Herumstehenden und stürmte sogleich ins Zimmer rein. „Was hat er?“   „Ich weiß es nicht.“, erklärte André, ohne denjenigen anzusehen. Schon alleine ihre Gegenwart verursachte in ihm schmerzliche Stiche. Jedoch war jetzt kein richtiger Zeitpunkt, an zerrissene Gefühle, zerstörte Liebe und ein leidendes Herz zu denken. François brauchte sie jetzt mehr als jemals zuvor. „Er sagt, es tut ihm alles weh. Aber bis auf das Nasenbluten habe ich nichts weiter entdeckt - keine Verletzungen, keine Kratzer oder blaue Flecken.“   „Mama!“ François entriss sich von seinem Ziehvater und klammerte sich an seine Ziehmutter, kaum dass sie sich auf das Bett zu ihm hinsetzte. „Ich habe schlecht geträumt.“   „Was hast du geträumt?“ Oscar nahm ihn auf ihren Schoß und legte tröstend ihre Arme um ihn. Dabei versuchte sie die Nähe von André auszublenden. Das schmerzte ihr selbst sehr, aber es war besser so für sie beide. Und zudem noch ging es in dem Moment nicht um sie und jegliche Gefühle zueinander, sondern um François.   „Ich habe von viel Regen und zwei großen Jungen geträumt.“, erzählte François und schluchzte dabei zwischendurch. „Sie haben mich geschlagen und mir weh getan...“   „Das war nur ein Traum, dir wird hier niemand weh tun.“, sagte André und Oscar bekräftigte es. „Ganz genau, bei uns bist du in Sicherheit.“   „Und wenn sie wiederkommen?“, murmelte François in Oscars Hemd und schmiegte sich schutzsuchend an sie.   „Ach, Junge, das war nur ein Traum.“, sprach Sophie, die näher kam und am Bett stehen blieb. „Was hältst du davon, wenn wir dir eine heiße Schokolade machen?“   „Eine gute Idee.“ Rosalie, die im Gegensatz zu der Haushälterin noch an der Tür stand, drehte sich um und machte sich sogleich auf den Weg. „Ich gehe schon mal in die Küche und bereite sofort die heiße Schokolade zu.“   Oscar bemerkte die anderen Bediensteten an der Tür und wies sie sogleich an. „Ihr könnt wieder zu eurer Arbeit zurückkehren, François hat sich beruhigt.“   Die Bediensteten, bis auf Sophie, gehorchten und verließen das Zimmer. Rosalie kam etwas später mit heißer Schokolade und während der Junge trank, erschien auch der Doktor. Er untersuchte ihn, aber konnte nichts finden. „Der Junge ist gesund.“, teilte er den Anwesenden mit.   „Aber er hat aus der Nase geblutet.“, wandte André verständnislos ein.   „Und ihm tut alles weh, hat er gesagt.“, meinte dazu Oscar.   „Das ist fast wie damals, als er ganz klein war und nicht reden konnte.“, erinnerte sich Sophie an die Zeit, als François acht Monate alt war und grundlos den ganzen Abend geweint hatte.   „Es tut mir nichts mehr weh.“, widersprach der Kleine und alle sahen ihn überrascht an.   Doktor Lasonne schmunzelte. „Seht Ihr, ihm fehlt nichts. Ich vermute, das hängt mit dem bösen Traum und dem schlechten Wetter zusammen. Die Schmerzen kamen ihm nur so vor, ohne dass er sie richtig spürte. Kleine Kinder können das nicht so richtig einschätzen und einen Traum von der Realität auseinanderhalten.“   „Was ist aber mit dem Nasenbluten?“, wand André erneut ein und der Arzt erklärte: „Womöglich hatte er sich während des Schlafens unbewusst gestoßen, das kann schon passieren. Ich würde mir da keine so großen Sorgen machen.“ Doktor Lasonne packte seine Medizinsachen ein. „Ich werde mich verabschieden.“   „Danke, dass Ihr so schnell kommen konntet.“, verabschiedete ihn Oscar und André geleitete ihn hinaus. Als er zurückkam, waren Rosalie und seine Großmutter schon fort. Nur Oscar saß noch immer auf der Kante des Bettes und als er reinkam, stand sie auf und bewegte ihre Füße in seine Richtung, aber schaute an ihm vorbei. „François wird heute bei mir bleiben. Rosalie bringt ihn gerade in mein Zimmer und Sophie bereitet ihm noch mehr heiße Schokolade zu. Ich habe nur auf dich gewartet, um es dir zu sagen.“ Sie ging an ihm vorbei und als sie das Zimmer verlassen hatte, beschleunigte sie ihren Schritt.   André schmerzte das Herz. Seit dem Attentat im August letzten Jahres auf sie, schien sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen aufzubauen. Und das alles wegen dem Grafen aus Schweden. Auch Oscar riss sich das Herz entzwei und sie hasste sich dafür, was sie André antat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)