Das Leben danach von KenIchijoji ================================================================================ Kapitel 86: Erste Schritte -------------------------- Masao saß nun also am Samstagmorgen mit Kari hier und würde die Therapie nun beginnen, nachdem Kari ihre Panikattacke besiegt und Masao T.K. nach Hause geschickt hatte. Jedoch musste er zuerst wissen, an was sie sich noch erinnern konnte, denn aktuell konnte er das noch nicht genau einschätzen. „Also kannst du dich nicht mehr daran erinnern, dass wir mit deinem Bruder gesprochen haben? Und was wir besprochen haben? Ich kann dir versichern, dass er dich weder abstoßend findet oder sonst was, er ist stolz darauf, dass du dir Hilfe suchst, um das in den Griff zu bekommen und dass er hofft, dass du und T.K. am Ende glücklich werdet.“ Er atmet tief durch. „Das, was du gerade erlebt hast und auch gestern Abend, Kari, das waren Panikattacken und auch T.K. hatte bei euch Zuhause eine Panikattacke…, wenn du sowas merkst, dann rufst du mich sofort und dann schließt du die Augen, atmest tief durch und glaubst daran, dass du stärker bist als diese Panik, denn was dich nicht beeinflusst, kann dich auch nicht kontrollieren. Ich habe heute Morgen auch Rücksprache mit Mimi gehalten, sie hatte ja mit T.K. gesprochen und da habe ich etwas erfahren, was ein Faktor des ganzen Dramas ist... Ihr habt miteinander geschlafen und danach hast du ihm gesagt, dass du sexuelles Interesse an deinem Bruder hast oder hattest. Es ist zwar löblich, dass du so ehrlich sein willst..., aber der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. Versuch dich mal in deinen Verlobten hineinzuversetzen und überlege mal wie es wäre, wenn er mit so einer Offenbarung um die Ecke käme, nachdem du mit ihm das erste Mal seit langer Zeit wieder intim geworden bist, wie würdest du dich da fühlen, Kari?“   Auf seine erste Frage schüttelte Kari den Kopf. „Doch, daran kann ich mich noch ein wenig erinnern, irgendwann ging es dann um T.K. und danach ist alles irgendwie verworren und ich bekomme Kopfschmerzen, wenn ich versuche, mich daran zu erinnern“, gab sie ehrlich zu und seufzte ein wenig. Als Masao noch mal auf die Panikattacke zu sprechen kam, atmete Kari einmal tief durch. „Musste er sich deswegen auch übergeben? Ich bin froh, dass mir nie schlecht wird, aber es schnürt mir die Luft ab und weil ich nicht atmen kann, bekomme ich noch mehr Panik, wie soll ich mich aufs Atmen konzentrieren, wenn ich keine Luft bekomme?“, fragte sie und man sah ihr an, dass ihr das wirklich zu schaffen machte. Als er ihr eröffnete, dass er mit Mimi gesprochen hatte, nickte Kari, machte allerdings große Augen bei dem, was Masao ihr da offenbarte und ihr fiel alles aus dem Gesicht. „Das… oh Gott, ich bin so blöd!“, platzte es aus ihr heraus und sie vergrub ihr Gesicht in den Handflächen, weil sie sich vorkam wie der größte Trottel. „Kein Wunder, dass er nicht wollte, dass ich ihn noch mal anfasse… ich habe in dem Moment nur an das Gespräch mit T.K. vorher gedacht, dass wir zusammen zum Gynäkologen gehen, ich mir bei dir mehr Termine geben lasse und wir keine Geheimnisse mehr voreinander haben wollen. Und ich dachte mir so: Aiko ist übers Wochenende weg, also kann ich das jetzt in Ruhe ansprechen… ich habe nicht daran gedacht, dass unser Sex vorher einen Einfluss darauf hat…“, zerknirscht begann sie auf ihre Unterlippe zu beißen und unbewusst wieder mit den Nägeln über ihre Haut zu ziehen und Striemen zu erzeugen.   Masao sah zumindest einen Lichtblick am Ende des Tunnels, denn Kari begriff Stück für Stück immer mehr und das war gut. „Eine Panikattacke ist bei jedem Menschen immer unterschiedlich, T.K. hat das Problem, dass er ab einem gewissen Punkt Dinge nicht mehr verarbeiten kann im Kopf und das äußert sich dann in körperlichen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen oder Kopfschmerzen und auf Dauer kann so etwas gefährlich für den Organismus werden. Dir schnürt es die Luft ab, weil du es zulässt…, du bist fähig zu atmen, aber du redest dir ein du könntest es nicht. Wenn du dich aber auf das Atmen konzentrierst, dann entspannst du dich und wirst merken, dass du überhaupt keine Atemprobleme hast, deswegen musst du dich ablenken von diesem Gedanken, dass du keine Luft bekommst...Was ist deine glücklichste Erinnerung in deinem Leben? Der Moment, in dem du glücklicher nicht hättest sein können?“, fragte er und seufzte dann. „Du denkst immer nur in Momenten, aber du bedenkst nie den Kontext, die Sachen davor, die da aber reinspielen, und daran werden wir arbeiten, dass deine Denkweise etwas umsichtiger wird, richtige Worte zu finden in passenden Situationen. Du hättest es ihm auch heute Morgen sagen können, ein neuer Tag, eine neue Situation, auch sowas beugt Konflikten vor, jetzt können wir das aber nicht mehr ändern, doch für die Zukunft bitte ich dich auch mal selbst einschätzen vorher, ob das Timing jetzt wirklich passt oder eher nicht, ich bin mir sicher, dass du das hinbekommst.“ Als sie allerdings anfing erneut. Striemen zu ziehen, nahm er vorsichtig ihre Hand von ihrem Arm „Du merkst es nicht, aber jetzt gerade versuchst du Stress mit körperlichem Schmerz zu kompensieren und danach erfolgt meistens die Panikattacke bei dir, aber dem will ich entgegen wirken, es ist alles in Ordnung, wir schaffen das und je mehr du mitarbeitest, desto eher ist schon der erste Besuchstag, du siehst deinen Verlobten wieder und deine kleine Tochter. Doch bis wir das unter Kontrolle haben, halten wir deine Fingernägel besser kurz, sicher ist sicher.“   Ob der Lichtblick sie auch aus dem Tunnel hinausführen würde, das zeigte wohl letztendlich nur die Zeit, aber Kari hatte etwas, für das sie kämpfen wollte und sich anstrengen würde. Als Masao meinte, dass die Panikattacken von T.K. gefährlich werden könnten, schluckte sie leicht. „Was genau kann denn da passieren?“, fragte sie vorsichtig, ehe Masao ihr erklärte, warum sie immer das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Sie hörte ihm zu und überlegte dann einen Moment. Auch wenn es momentan schwierig war, wusste sie, dass sie dennoch viele schöne Momente in ihrem Leben gehabt hatte. Sie sah Masao an und tatsächlich schlich sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. „Schlimm, wenn ich mich zwischen dreien nicht entscheiden kann? So sehr ich auch überlege, alle drei Momente waren für mich mit so viel Glück erfüllt. Wenn ich es chronologisch ordne war da einmal der Tag, an dem ich Gatomon begegnet bin, dann natürlich der Tag, an dem T.K. mir den Antrag gemacht hat und der dritte Moment war der, als Aiko nach der Geburt zum ersten Mal in meinen Armen lag. Ich weiß, dass ich während der Schwangerschaft und auch danach oft gesagt habe, dass ich Aiko nicht liebe und auch niemals lieben könnte, aber tief in mir wusste ich eigentlich die ganze Zeit, dass sie mir alles bedeutet. Sie ist das Resultat unserer Liebe, meiner und Kerus.“ Was Masao ihr dann sagte, machte sie erneut sehr nachdenklich und sie seufzte. „Ich werde versuchen, in Zukunft erst nachzudenken und dann zu handeln… das Problem ist einfach, wenn so eine fixe Idee in meinem Kopf entsteht, dann werde ich ruhelos, bis ich es erledigt habe und ich denke gar nicht an all die Faktoren, die damit zusammenhängen. Und ich weiß nicht, wie ich es abstellen kann, aber ich werde versuchen es zu ändern nach und nach…“ Das Gespräch zerrte sehr an ihren Kräften und stresste sie unheimlich, doch Masao reagierte sofort und als er vorsichtig ihre Hand von ihrem Arm zog, schaute sie vollkommen perplex drein. „Was…? Ich habe es wirklich nicht gemerkt, entschuldige… ich glaube, mir ist das grad einfach alles zu viel…“ Als Masao meinte, sie würden ihre Nägel kurzhalten müssen, nickte sie nur leicht, sie wirkte gedanklich irgendwie nicht mehr ganz anwesend und starrte irgendwo ins Leere. „Können wir später weiterreden?“, fragte sie schließlich und versuchte Masao wenigstens halbwegs anzusehen. „Ich bin einfach KO, glaube ich…“   Masao sah sie an. „Panikattacken oder auch diese psychosomatischen Symptome können auf Dauer zum Tode führen, irgendwann kann der Körper das alles nicht verarbeiten und wenn weder Psyche noch Körper etwas verarbeiten können, dann stellt der Körper irgendwann seine lebenserhaltenden Maßnahmen ein. Welches der drei Erinnerungen du wählst spielt keine Rolle, die Hauptsache, dass sie stärker ist als diese Panik, diese Angst…, aber ich bin froh, dass dies Erinnerungen sind, die dich glücklich machen, dass zeigt mir, dass wir im Vergleich zum Anfang der ersten Therapie schon Fortschritte gemacht haben. Wir werden daran arbeiten, dass du, wenn du eine Idee hast, diese in Ruhe angehst und nicht jedes Mal ‚I came in like a wrecking ball‘ spielst, okay? Ich will mit dir erreichen, dass du dir der Konsequenzen deines Handelns bewusst bist, wenn du alles immer auf Biegen und Brechen sofort aussprechen willst. Du weißt, ich bin absolut für Ehrlichkeit, aber manchmal ist es besser, noch einen Moment abzuwarten, anstatt alles direkt rauszuhauen, aber das kommt alles nach und nach, wir kriegen das schon hin, wir überstürzen aber nichts dabei jetzt.“ Dass sie langsam wieder müde wurde, wunderte ihn nicht, schließlich war das alles auch viel auf einmal. „Wir machen für heute Feierabend und du ruhst dich aus, in Ordnung? Pass auf, der rote Knopf hier an deinem Bett, mit dem kannst du mich rufen, wenn etwas sein sollte. Wenn du merkst es geht ins Negative, dann drück den Knopf und ich komme sofort zu dir, ich bin, solange die Therapie läuft, nur für dich eingeteilt, für nichts und niemand anderes mehr, ich bin also voll da. Und ich werde dir jetzt intravenös ein wenig Baldrianmischung geben, das beruhigt dich und du kannst entspannter schlafen ohne ständig aufzuwachen.“ Gesagt getan zog er die mitgebrachte Spritze mit dem Mittel auf und gab ihr die Lösung über ihren Zugang. Sanft lächelte er. „Jetzt schlaf etwas, ich bringe dir nachher etwas zu essen und überlege in der Zwischenzeit, was wir machen können um dich abzulenken und auszugleichen“, damit erhob er sich und verließ das Zimmer. Wieder in seinem Büro angekommen schrieb er Matt eine WhatsApp, dass sie sich auf unbestimmte Zeit nicht sehen würden, da die Arbeit ihn einspannte und er nicht wusste, wie lange das dauern würde. Danach aß erst einmal etwas, bevor er die Akten durchging.   Man sah an ihren Gesichtszügen, dass Kari darüber wirklich schockiert war, sie hatte nicht gewusst, dass Panikattacken solch gravierende Folgen haben konnten. Sie war wie betäubt danach, versuchte aber sich auf Masao zu fokussieren und ihm weiter aufmerksam zuzuhören. Es freute sie zwar, dass er der Meinung war, sie hätte Fortschritte gemacht, aber im Moment fühlte Kari sich nicht so, als würde sie vorankommen, eher war es so, dass sie den Eindruck hatte, für jeden Schritt nach vorne drei zurück zu machen. Vielleicht war es einfach nur der Flut an Informationen geschuldet, dass sie so negativ dachte, zumindest redete Kari sich das selbst ein. Masaos Plan, ihr dabei zu helfen, nicht mehr mit allem sofort herauszuplatzen, sondern etwas bedachter zu werden, klang ganz gut und sie nickte, auch wenn dabei ein leichtes Seufzen über ihre Lippen kam und sie schließlich ja wieder anfing, sich die Arme aufzukratzen, doch dieses Mal hielt Masao sie davon ab und zu ihrer Erleichterung wollte er es damit heute auf sich beruhen lassen. Irgendwie erleichterte es sie aber auch, dass er die ganze Zeit für sie da sein würde und sie sich daher keine Sorgen machen musste. Zuerst wollte sie die Spritze ablehnen, aber Masao konnte sie davon dann doch überzeugen und sie nickte nur noch, als er meinte, er würde später noch mal wiederkommen, bevor sie auch bereits die Augen schloss. Bevor sie einschlief, kam noch eine Schwester und kürzte ihr die Nägel so weit, dass sie sich damit nicht mehr selbst würde verletzen können, ehe Kari dann auch schon einschlief. Unterdessen hatte Matt die WhatsApp von Masao bekommen, er wusste, dass das immer mal wieder passieren konnte und war damit auch vollkommen okay, bevor sie beschlossen hatten, was Ernstes aus den gelegentlichen Treffen zu machen, hatten sie über solche Dinge gesprochen. Er wünschte Masao viel Erfolg für seine Arbeit und würde die Zeit dann auch nutzen, um wieder Texte zu schreiben. Kari schlief viele Stunden und auch wenn sie nicht aufwachte, hatte sie immer wieder Albträume und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Als sie gegen frühen Abend schließlich wieder wach wurde, war sie nass geschwitzt und fühlte sich einfach nur elend. Sie vermisste T.K. und Aiko und merkte jetzt erst, wie gut sie es doch die ganze Zeit eigentlich gehabt hatte. Für einen Moment dachte sie, dass es besser gewesen wäre, einfach zu schweigen, aber sie wusste, dass das alles irgendwann nur noch schlimmer gemacht hätte. Eine Schwester hatte ihr, während sie geschlafen hatte, das Abendessen hereingebracht, aber Kari verspürte überhaupt keinen Appetit, also ließ sie es stehen und schob es beiseite. Sie wünschte sich irgendeine Beschäftigung, ein Buch, einen Musikplayer, einfach irgendetwas, sonst würde sie hier noch die Wände hochgehen. Sie merkte, dass sie wieder anfing, keine Luft zu bekommen, also versuchte sie an Gatomon zu denken und sich zu beruhigen, was ihr schließlich auch einigermaßen gelang.   Masao saß also nun wieder in seinem Büro und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, die Dinge lagen zum Teil schlechter, als er ursprünglich angenommen hatte, dabei sah er ihre Neigungen ihrem Bruder gegenüber tatsächlich noch als das geringste Übel an. Viel schwerwiegender war ihr Hang zur Selbstverletzung, sobald sie in Stresssituationen kam und keinen Ausweg mehr sah und vor allem dabei auch noch, dass sie nicht einmal mitbekam, dass sie sich verletzte. Aus Sicherheitsgründen lag Kari in einem mit Videokameras ausgestatteten Überwachungszimmer, sodass Masao sie Tag und Nacht im Auge behalten konnte und mit den Erkenntnissen, die er daraus gewann, auch in der Therapie weiterarbeiten konnte. Davon wusste sie selbst natürlich nichts, aber das hatte auch seinen Grund, denn wenn sie wüsste, dass sie beobachtet wurde, dann würde sie wieder ihre Maskerade aufführen und etwas vorspielen und das würde sehr gegen die Therapie arbeiten. Die Kamera war auch so angebracht, dass sie nicht mitbekam, dass überhaupt eine da war und sie saß im perfekten Winkel, sodass er sie so drehen konnte, dass er das ganze Zimmer sehen konnte, auch jede Ecke, er musste auf Nummer sicher gehen, um jede Eventualität ausschließen zu können. Solange sie schlief, musste er nicht alle zwei Minuten auf den Bildschirm schauen, sondern konnte sich daran machen, nochmal die früheren Therapieprotokolle durchzugehen, die konnte er gut als Vergleich nehmen um abzuschätzen, welche Punkte sich gebessert oder auch verschlechtert hatten und welche vielleicht auch neu dazu kamen, die nicht unbedingt auf den ersten Blick ersichtlich gewesen waren. Ihre Panikattacken und ihr selbstverletzendes Verhalten führte er auf ihre Verlustängste zurück und da musste er dringend ansetzen, das hatte für ihn erst einmal oberste Priorität. Er musste herausfinden, woher sie kamen, was die Auslöser und Triggerpunkte waren und diese bekämpfen, das würden vermutlich harte und auch lange Gespräche werden, aber da musste sie nun einmal durch, denn wenn sie nicht mit ihm redete und offen und ehrlich war, dann konnte er ihr nicht helfen. Er setzte pflanzliche Beruhigungsmittel ein, um ihr etwas Entspannung zu verschaffen, allerdings waren das nur Begleitmittel, denn von einer rein medikamentösen Behandlung hielt er wie Mimi absolut gar nichts. Ihm fiel natürlich auf, dass sie unruhig schlief, aber das war jetzt erst mal nichts Auffälliges, es war in kurzer Zeit sehr viel passiert und ihr Gehirn musste erst einmal hinterherkommen, das alles irgendwie zu verarbeiten, doch sie brauchte auch etwas, womit sie sich ablenken konnte, aber wovon keine Verletzungsgefahr ausging und er überlegte eine ganze Weile, welche Möglichkeiten es da gab. Er telefonierte also auf der Station herum, was da generell auf die Schnelle verfügbar war und bekam 20 Minuten später eine Art Tagebuch mit Sicherheitsstiften für Kleinkinder gebracht. Diese Stifte waren so aufgebaut, dass man sich damit nicht verletzen konnte, Kari aber dadurch die Möglichkeit hatte, ihre Gedanken und alles, was sie beschäftigte, in dieses Buch aufzuschreiben. Als er sah, dass sie wieder wach war, nahm der die Sachen und brachte sie ihr aufs Zimmer. „Alles in Ordnung, Kari?“, fragte Masao und setzte sich zu ihr ans Bett, ehe er ihr das Buch mit dem Stift reichte. „Darin kannst du alles aufschreiben was du möchtest, wie dein Tag war, was du fühlst, was nicht gut war oder was du dir wünschst, ruhig auch Dinge, die du vielleicht anderen Leuten, die dir wichtig sind, gerne sagen würdest, aber nicht genau weißt wie. Vielleicht hilft es dir, wenn du die Dinge niederschreiben kannst, damit dein Kopf etwas freier wird. Und ich bitte dich wenigstens eine Kleinigkeit zu essen, Kari... dein Körper braucht die Nährstoffe um vernünftig zu funktionieren.“   Im Grunde konnte Masao wohl froh sein, dass Kari ihn mit ihrem unbedachten Gesprächszeitpunkt überhaupt erst auf den Punkt gerufen hatte, denn sonst wäre ihr selbstverletzendes Verhalten wohl noch eine ganze Weile unentdeckt geblieben und hätte vielleicht ein Ausmaß angenommen, das ihre ganze Familie ins Verderben gestürzt hätte. Die Gefahr war ja auch immer noch nicht gebannt, das war auch Masao klar. Von der Kamera hatte sie tatsächlich absolut gar nichts bemerkt, als sie am Morgen zum ersten Mal im Krankenzimmer aufgewacht war und Masao hatte dadurch eine gewisse Sicherheit, falls Kari wieder mal am Rad drehte. Zumindest war er auf dem richtigen Dampfer, was Karis Verlustängste anging, sie konnte ihre Angst einfach nicht kompensieren, aber da würde auch noch einiges ans Licht kommen, was viel tiefer ging, als man das meinen würde. Vorerst versuchte Kari im Schlaf irgendwie zur Ruhe zu kommen, aber sie träumte immer wieder davon, wie jeder sie verließ, den sie gerne hatte und als sie aufwachte, fühlte sie sich noch geräderter als vorher. Gerade, als sie ihre aufkommende Panikattacke einigermaßen weggeatmet hatte, kam Masao herein und fragte sie, ob alles in Ordnung war. Sie beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben und schüttelte den Kopf. „Ich hatte gerade schon wieder das Gefühl, als würde ich keine Luft bekommen, aber ich glaube, ich konnte es gerade so noch verhindern.“ Als er ihr das Buch reichte, nahm sie es neugierig entgegen und hörte sich an, was ihr Therapeut dazu zu sagen hatte. Sie schaute auf das Buch und seufzte leicht, nickte dann aber. „Okay… ich kann es ja mal ausprobieren… ist das wie ein Tagebuch oder muss ich dir das alles zeigen?“, fragte sie unsicher, denn sie wäre durchaus weniger gehemmt, ehrlich zu sein, wenn sie selbst entscheiden konnte, ob und wann sie Masao das Geschriebene zeigte. Als er sie auf das Essen ansprach, schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht, mir ist so schlecht, ich würde mich wahrscheinlich sofort übergeben müssen und davor ekle ich mich, das war schon während der Schwangerschaft kaum zu ertragen. Ich esse, wenn mein Magen sich beruhigt hat, okay?“, versuchte sie zu verhandeln und hoffte, dass Masao sie für heute einfach in Ruhe lassen würde, sie wollte gerade nicht mehr reden, nicht mehr nachdenken müssen, sie war einfach erledigt und wollte nur ihre Ruhe haben, nicht ahnend, dass Masao alles sehen würde, was sie tat, wenn sie alleine war.   Masao hatte Kari also die Sachen gebracht und ihre Sorge konnte er verstehen, doch er lächelte und schüttelte den Kopf. „Du musst mir die Sachen nicht zeigen, die du aufschreibst, ich hatte es auch eher für dich gedacht, damit du Sachen verarbeiten kannst und auch hier etwas Beschäftigung hast. Auch wenn die Möglichkeiten eingeschränkt sind, vielleicht hilft es dir ja auch Frust abzulassen oder so, du kannst da alles reinschreiben, ob und was du mir davon zeigt, das bleibt dir überlassen, du musst mir nichts davon zeigen oder so, da hast du die freie Entscheidung.“ Die Panikattacke überraschte ihn leider wenig, aber er lächelte ermutigend. „Siehst du? Wenn du willst kannst du es und das meine ich, ich bin stolz auf dich, du hast es aus eigener Kraft geschafft diese Attacke abzuwehren und das ist wirklich super, darauf können wir alles Weitere aufbauen.“ Er atmete tief durch, er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass sie nichts essen wollte, aber nickte es ab. „Okay, dann isst du später, wenn es deinem Magen etwas besser geht, ich werde dann erstmal veranlassen, dass du leicht verdauliche Kost bekommst, die dir nicht so auf den Magen schlägt.“ Er stand auf lächelte. „Für heute ist dann auch Schluss wir sehen uns morgen früh wieder und denk dran, wenn etwas sein sollte, dann drück den Knopf und dann bin ich da, jederzeit“, er tätschelte ihr kurz den Kopf und ging dann aus dem Zimmer, wieder  zurück in sein Büro, wo er sich aufs Sofa haute und auch mal kurz etwas entspannte, denn sie jetzt noch zu einem Gespräch zu zwingen würde sowieso nichts bringen.   Man konnte Kari die Erleichterung ansehen, als Masao ihr versicherte, dass das Buch für sie allein gedacht war und sie darin aufschreiben konnte, was immer ihr durch den Kopf ging. „Danke…, vielleicht hilft mir das wirklich und wenn es nur dazu dient, meine Gedanken ein bisschen zu ordnen. Gerade… ist alles so viel für mich und bricht über mich herein, wie eine Welle.“ Masao konnte wohl froh sein, dass Kari ihr Digivice nicht hier haben durfte, sonst hätte er sie spätestens am nächsten Morgen am Meer der Dunkelheit einsammeln dürfen, denn ihre Gedanken waren mehr als nur ein bisschen düster. Dass er sie wegen der Panikattacke lobte, ließ sie ein wenig verlegen dreinschauen, aber es machte sie irgendwie auch froh, dass sie wenigstens einmal etwas richtig gemacht hatte. Dankbar war sie aber auf jeden Fall, dass er sie nicht zum Essen zwang, sie wollte einfach nicht, allein der Gedanke an Essen gab ihr das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Als er die Schonkost ansprach, nickte sie. „Danke, vielleicht ist der ganze Stress einfach zu viel für meinen Magen, ich weiß es nicht.“ Umso größer die Erleichterung, dass Masao es für heute dabei beließ und sie ihren Frieden haben würde. Sie nickte nur kurz wegen des Knopfes, sagte aber nichts mehr und atmete erleichtert aus, als Masao weg war. Kurz darauf kam noch kurz eine Schwester herein und brachte ihr etwas Obst, entfernte die Infusion von der Kanüle und nahm das andere Essen mit. Ihre neu gewonnene Freiheit nutzte Kari, um ins Bad zu gehen und sich das Gesicht zu waschen, sie fühlte sich immer noch total verschwitzt und das kühle Wasser tat gut. Als sie den Blick hob und zum ersten Mal seit dem Vortag ihr Gesicht im Spiegel sah, erschrak sie. Sie war blass, hatte tiefe Augenringe und wirkte eher wie ein Gespenst, mehr tot als lebendig… sie sah genauso beschissen aus, wie sie sich fühlte und es dauerte einen Moment, ehe sie sich von ihrem Anblick losreißen konnte und ins Zimmer zurückkehrte. Sie ließ sich aufs Bett fallen, das Deckenlicht war grell und unangenehm, aber eine Lampe am Bett gab es nicht, sicher weil die Gefahr zu groß war, dass sie sich damit verletzte. Ihr Blick fiel auf ihre Arme und sanft strich sie über die Narben, die sich darauf befanden, sowie die neu dazugekommenen Striemen vom Vorabend. Eine Weile starrte sie ins Leere, dann griff sie jedoch nach dem Buch und begann ein wenig hinein zu kritzeln, während ihr dabei, für Masao gut sichtbar, die Tränen über die Wangen liefen. Gut eine halbe Stunde weinte sie durch, dann schob sie das Buch samt Stift in die Schublade ihres Nachtschrankes und schlief schließlich ein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)