Das Leben danach von KenIchijoji ================================================================================ Kapitel 59: Schwachpunkte finden -------------------------------- Der restliche Abend verlief in einer merkwürdigen Stimmung, aber sie rauften sich irgendwie zusammen und fuhren am nächsten Tag in die Praxis um den Termin auszumachen, der tatsächlich schon am nächsten Tag sein sollte. Der Psychiater hatte darum gebeten, dass Mimi daheimbleiben sollte, denn es könnte ihn womöglich ablenken, wenn sie dabei war. Also wartete Tai am Mittwochmorgen alleine in dem Behandlungszimmer auf den Psychiater, durchaus mit gemischten Gefühlen, denn er fühlte sich nicht wirklich wohl hier, aber er wusste auch, dass er dem Ganzen eine Chance geben musste, vor allem weil es Mimi so wichtig war. Als die Tür aufging und der Therapeut hereinkam, begrüßte er ihn und setzte sich dann wieder und damit begann dann die erste Sitzung auch schon.    Als Dr. Junpei Shihito gehört hatte, dass er die Behandlung von Taichi Yagami übernehmen sollte, musste er sich wirklich zusammenreißen, seiner bezaubernden Kollegin nicht um den Hals zu fallen. Seit Sora gestorben war, war dieser Mann ein rotes Tuch für ihn und er freute sich schon darauf, ihn dafür bezahlen zu lassen, was er ihr angetan hatte. Er setzte seine übliche, professionelle Miene auf, als er ins Wartezimmer trat und den Kerl erblickte, dessen Leben bald hoffentlich beendet sein oder zumindest in einem Trümmerhaufen liegen würde. Junpei war ein schlanker Mann, die vierzig sah man ihm nicht direkt an und seine Mimik war eine Mischung aus sehr weichen, aber auch sehr harten Zügen. „Herr Yagami? Ich bin Dr. Junpei Shihito, Ihr Therapeut“, sagte er und stellte sich vor, während er ihm die Hand reichte und nach der Bestätigung ein gekonntes Lächeln aufsetzte. „Dann kommen Sie mal mit mir mit.“ Er führte Tai in sein Behandlungszimmer, die übliche Therapeuten-Liegecouch, aber auch eine Sitzecke mit gemütlichen Sesseln. Diesen Bereich steuerte er an, bot Tai etwas zu trinken an, ehe er sich ihm gegenübersetzte. „Bevor wir mit der Behandlung anfangen können, brauche ich von Ihnen noch eine Unterschrift auf dieser Verschwiegenheitserklärung. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, da ich bereits Behandlungsspionage in meiner Praxis hatte und gern ein rechtliches Druckmittel in den Händen halten möchte. In Ihrem Fall kommt noch hinzu, dass Ihre Ehefrau eine Kollegin ist und damit die Gefahr besteht, dass sie den Therapieerfolg gefährdet, weil sie vielleicht einige Ansichten nicht mit mir teilt.“ Das war nicht mal gelogen, Mimi würde spätestens nach der zweiten Sitzung den Braten riechen und alles abblasen, sie war äußerst klug, das wusste er, Junpei hatte mal einen Kongress besucht, auf dem sie einen Vortrag gehalten hatte. Er ließ sich von Tai den Wisch unterschreiben, was dieser zwar zögerlich tat, aber er tat es. Danach heftete er das Dokument ab und setzte sich wieder zu ihm, ein Klemmbrett in der Hand. „Lassen Sie sich von mir nicht irritieren, ich würde mir gern Notizen machen, um später alles ordnen zu können. Wenn Sie das Schreiben ablenkt, können wir aber gerne auch ein Diktiergerät laufen lassen.“ Ihm die Wahl überlassend, begann die erste Therapiestunde dann also. Junpei nahm eben entweder den Stift in die Hand oder schaltete das Gerät ein, ehe er die erste Frage stellte. „Herr Yagami, um den Therapieverlauf bestimmen zu können, wäre es schön, ein wenig über Sie zu erfahren. Erzählen Sie mir von Ihrem bisherigen Leben. Gab es besondere Ereignisse, die Sie geprägt haben, positiv wie negativ. Wie war die Beziehung zu Eltern, möglichen Geschwistern?“ Er fing mal mit unverfänglichen Fragen an, darauf konnte er im Nachhinein dann aufbauen, weiter nachbohren und so seine Schwachpunkte bestimmen.   Tai fühlte sich immer noch nicht wohl hier, aber da Mimi wollte, dass er alles tat, was der Therapeut sagte, unterschrieb er diesen Wisch wenn auch mit Zögern, wie sollte er das anstellen? Mimi würde definitiv nachhaken und er wollte sie nicht anlügen, irgendeine Lösung für das ganze musste her, er wusste nur noch nicht welche. Er zwang sich dem Therapeuten zuzuhören. „Ich denke nichts liegt ihr ferner, als diese Therapie zu beeinflussen im negativen Sinne, ich kenne die Kompetenzen meiner Frau, da könnten sich viele was von abschauen, ich vertraue auf die Meinung meiner Frau mehr als auf die von vielen anderen Menschen“, das war eine Warnung an Shihito, würde er Mimi ins Negative ziehen, dann wäre die ganze Sache hier sofort vorbei und zur Not würde Tai auch ganz andere Seiten aufziehen, denn egal was war, auf seine Frau und seine Kinder ließ er absolut nichts kommen. „Ich bin eher für das Diktiergerät, von Notizen halte ich nicht so viel“, nachdem der Typ also das Diktiergerät gestartet hatte und ihm die Fragen stellte, antwortete er danach darauf. „Prägende Ereignisse gab es einige. Angefangen beim Fußball, den ich nachher aufgeben musste aufgrund meiner Knieverletzung. Wie sich jetzt rausstellte, war es wohl ein Ärztepfusch, aber daran kann man heute nichts mehr ändern... die Beziehung zu Sora... die im Nachhinein gesehen der größte Fehler meines Lebens war... ich muss sagen, ich wünsche niemandem den Tod auch ihr nicht..., aber das Leben ist wesentlich schöner, seit sie nicht mehr da ist. Ich glaube aber das prägendste Ereignis war der Tod meines Sohnes Taki Zwei Wochen nach seiner Geburt..., ich musste entscheiden, ob ich ihn leben lasse, aber dann hätte er für immer starke Schmerzen gehabt und das ist kein Leben, für niemanden, also habe ich entschieden, ihn sterben zu lassen…, damit sein Leid ein Ende hat... das war eine der härtesten Entscheidungen, die ich jemals treffen musste.  Kurz bevor Taki starb..., starb dann auch meine Großmutter, sie war die einzige Person, die von Taki überhaupt wusste und noch bevor ich ihren Tod verarbeiten konnte..., musste ich den meines Sohnes verarbeiten..., aber ich glaube, den Tod von Taki konnte ich noch nicht ganz verarbeiten, bis heute nicht..., wenn ich meinen Sohn Makoto ansehe, passiert es mir in seltenen Augenblicken mal, dass ich kurzzeitig Taki in ihm sehe, aber das passiert dann doch eher selten.“ Er atmete tief durch. „Und der Tod von Jess, ein Mädchen, das ich betreut habe, als ich Sozialarbeiter war…, sie war stark suizidgefährdet und auch in Therapie…, es sah alles gut aus, sie war auf dem Weg der Besserung..., bis eines Tages plötzlich alles umschwang und es immer weiter den Bach runterging. Ich wollte sie retten, aber ich konnte es nicht..., ich war der Ansicht sie packt das..., aber ich habe ihr wohl mehr zugemutet, als sie ertragen konnte und am Ende hat sie sich das Leben genommen…, ich hätte es verhindern können, wenn ich besser aufgepasst hätte.“ Er seufzte. „Danach war ich in Therapie, aber die hat alles nur schlimmer gemacht, es war eine Zeit, in der viele Medikamente durcheinander verabreicht wurden... und irgendwann glaubt man, dass man das Zeug auch wirklich braucht..., meine Frau hält nichts von einer Medikamententherapie und ich kann sie da verstehen, ich will glücklich sein aus eigenem Antrieb... nicht weil ich mir eine Pille einwerfe. Irgendwann war ich halt an einem Punkt, wo ich nur noch funktioniert habe..., ein sicherer Job, der nicht zu mir passte und Einsamkeit, bis meine Frau in mein Leben getreten ist..., das hat alles geändert, sie hat mir gezeigt, dass es wert ist zu leben. Sie hat viele Dinge mit mir bekämpft und auch erfolgreich viele Sachen verbannen können..., ich konnte nachts wieder durchschlafen und habe angefangen ihr zu vertrauen. Sora hatte immer was gegen die Beziehung, aber uns war das egal, sie war nichts weiter als eine rachsüchtige Bitch, eine Lügnerin und kriminell noch zugleich..., Mimi und ich haben geheiratet und sind Eltern geworden von unseren Zwillingen..., es war wie ein Wunder, keiner von uns glaubte daran, noch Eltern zu werden., vor allem nicht, weil sie Jahre davor eine Fehlgeburt erlitten hatte und das wir vor ein paar Monaten noch ein drittes Kind begrüßen durften, das hat unsere Familie perfekt gemacht und vollständig ergänzt. Bei der Geburt von unseren Zwillingen mussten wir um unsere Tochter Kazumi bangen, die mit einem Herzfehler zur Welt kam..., wir haben stundenlang um ihr Leben gebannt und Mimi ist sogar ins Koma gefallen auf der Intensivstation, aber am Ende ging alles gut und Kazumi ist heute Lebensfreude pur, es ist immer schön die Kinder bei sich zu haben. Wenn ich meine Kinder bei mir habe, dann ist alles in Ordnung, meine Frau meint ich hätte Verlustängste, weil ich nervös und unruhig bin, wenn ich die Kinder nicht bei mir und unter Kontrolle habe, aber jeder sorgt sich doch um seine Kinder, wenn sie nicht da sind, oder nicht? Sie glaubt, ich kenne meine Grenzen nicht und gehe zu oft über diese hinaus, um mich nicht mit meinen Gefühlen auseinandersetzen zu müssen..., aber ich will ihr ja bloß Arbeit im Haushalt abnehmen und ich tue es ja auch gerne, also verstehe ich da das Problem nicht, aber gut da meine Frau wünscht ich solle dieser Therapie machen, bin ich halt nun hier.“ Er zuckte die Schultern „Das waren so die prägendsten Ereignisse in meinem Leben.“   Junpei würde sich hüten, Tais Familie offensichtlich schlecht zu machen, er wollte ja sein Vertrauen erschleichen und das ging am besten, indem er ihm Honig ums Maul schmierte. „Ihre Frau ist eine sehr kompetente Kollegin, ich habe schon Vorträge von ihr gehört, sie wird es noch weit bringen auf ihrem Fachgebiet. Aber durch die emotionale Verbindung zwischen Ihnen ist sie für eine Traumatherapie nicht die geeignete Ansprechpartnerin für Sie, Herr Yagami. Ein Zahnarzt kann ja auch nicht plötzlich eine Herz-OP durchführen, um es mal als Vergleich zu nehmen. Chirurg und Zahnarzt sind in ihren Gebieten absolut ebenbürtig, aber würden dem jeweils anderen in seinem Spezialgebiet nur ins Handwerk pfuschen. Aber allein, dass ihre Frau Ihnen geraten hat, einen Spezialisten aufzusuchen, zeigt doch noch einmal, wie kompetent und selbstreflexiv sie ist.“ Er lächelte sein Tausend-Watt-Sonnenscheinlächeln, dass er so lange vor dem Spiegel geübt hatte, dass es absolut aufrichtig und ehrlich wirkte und komplett auch mit Mimik und Gestik übereinstimmte. „Aber wir sind ja hier, um über Sie zu sprechen, nicht wahr? Also gut, dann nehmen wir das Diktiergerät.“ Er bereitete alles vor, um dann die Frage zu stellen, die ihn an Tais angreifbarste Punkte brachte. Er ließ ihn erst einmal zu Ende erzählen, damit er im Redefluss blieb und sortierte in Gedanken die Aussagen. Alles Negative über Sora nahm er kommentarlos hin, Tai würde schon noch die Strafe dafür bekommen, bei Jess musste er sich wirklich zusammenreißen, sein Pokerface zu bewahren, immerhin hatten Sora und er die Kleine in den Tod getrieben, damit Tai sich endgültig umbrachte. Alles, was er erzählte, war ihm bekannt, er hatte ja sogar die exakte Medikamentenmischung schon bereitstehen, die er ihm sicherlich spätestens in der übernächsten Sitzung verabreichen würde. Er tat so, als würde er nachdenken, ehe er begann, das Gehörte zu analysieren. „Ich denke, die Beziehung und den Fußball können wir wohl außer Acht lassen, so wie Sie sich darüber äußern, haben Sie damit innerlich abgeschlossen und Ihren Worten entnehme ich, dass diese Person nicht mehr am Leben ist? Die Geburt Ihrer Kinder war sicherlich sehr positiv für die Bewältigung der Vergangenheit, aber was mir große Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass Sie ihren verstorbenen Sohn in ihrem Lebenden sehen. Selbst wenn es nur selten vorkommt, aber das deutet auf ein extrem schweres, psychisches Trauma hin und ist auf jeden Fall behandlungsbedürftig, Ihre Frau hat also sehr richtig gehandelt, Sie zu einer Therapie zu bewegen.“ Er trank einen Schluck Wasser aus seinem Glas und sprach dann weiter. „Sie haben zwei Mal selten gesagt, das bedeutet, dass Sie sich diese Sache selbst schönreden wollen, Herr Yagami. Psychosen sind aber keine Lappalie, im schlimmsten Fall vermischen sich Realität und Einbildung so miteinander, dass man glaubt, dass die Einbildung echt wäre und das könnte schon recht bald gegenüber Ihrem Sohn passieren. Ich sehe, dass Ihnen ihre Familie wichtig ist und genau deswegen müssen wir dort so bald wie möglich ansetzen. Es könnte durch das Trauma dazu kommen, dass Sie emotionale Distanz zu Ihren Kindern aufbauen und diese dadurch schweren, psychischen Schaden nehmen, der sie bis ins Erwachsenenalter beeinflussen wird. Das Problem ist, dass Sie bereits damit begonnen haben, die Kinder psychisch negativ zu beeinflussen. Ich muss Ihrer kompetenten Frau recht geben, Sie haben schwere Verlustängste und engen dadurch die Kinder in der Autonomieentwicklung ein. Dadurch wird die Entwicklung des Sozialverhaltens extrem gestört, was dazu führt, dass die Kinder entweder aggressiv werden und es nach außen hin kompensieren oder sie richten es gegen sich selbst und bekommen Angststörungen, Panikattacken oder entwickeln selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Essstörungen und Suizid. Davon sind insbesondere Mädchen betroffen, also ist Ihre kleine Kazumi durchaus gefährdet. Sollte Ihr drittes Kind ebenfalls ein Mädchen sein, so gilt dies ebenfalls für sie.“ Noch einmal atmete er tief durch und sah Tai mit dem mitfühlendsten Blick an, den er draufhatte. „Sie haben doch so viele Schuldgefühle, weil Sie Jess nicht retten konnten, aber nun haben Sie wenigstens die Möglichkeit, Ihre Tochter oder Töchter von diesem Weg fernzuhalten. Dazu müssen wir aber noch tiefer in die Vergangenheit schauen, aber das machen wir in der nächsten Sitzung, bis dahin sollten Sie in sich gehen und überlegen, welches Ereignis bei Ihnen zum ersten Mal ein Gefühl von Schuld ausgelöst hat. Ihre Frau hat Recht, Sie laufen vor Ihren Problemen davon, indem Sie sich mit Arbeit, Haushalt, Kindern und allem anderen ablenken, denn seien Sie ehrlich, sobald Sie eine ruhige Minute haben, kommen die Gedanken wieder, Sie fangen an, alles vor Ihrem geistigen Auge zu sehen: Ihren toten Sohn, Ihre Großmutter, die Exfreundin… und das alles bringt Sie in einen Wahnzustand, der sich aktuell darin zeigt, dass Sie Taki in Ihrem Sohn Makoto sehen. Aber diese Psychosen werden schlimmer, irgendwann beginnen Sie in ihrer Frau Ihre tote Exfreundin zu sehen, in Ihrer Tochter die tote Jess… ich könnte immer so weiter aufzählen. Das wird Sie in den Wahnsinn treiben und entweder in einen Selbstmord oder Mord führen, denn so wie Sie Ihre Exfreundin beschrieben haben, herrschte dort viel Hass. Ihre Familie ist in Gefahr, wenn wir nicht schnell die Ursache finden, womit alles begann.“ Junpei wusste, dass er das alles mehr als nur überdramatisierte, aber da ihm Tai schön Mimis Argumente auf dem Silbertablett serviert hatte, konnte er diese nun richtig schön gegen Tai verwenden, da er ihm ja vorher noch die Frau als die kompetenteste Psychologin der Welt hochgelobt hatte sozusagen. Verlustängste hatte er wirklich, aber die würden zwei oder drei Sitzungen Gesprächstherapie mehr als nur Aufarbeiten. Aber dazu würde es gar nicht kommen, mit dem Ereignis aus der Vergangenheit, dass er sich überlegen sollte, würde er Tai zerstören und zu den Medikamenten zurückbringen. Danach war es schon fast ein Selbstläufer. Ihn weiter von seiner Familie isolieren, ihm mehr und mehr das Gefühl geben, eine Last und wertlos zu sein und schwupps würde sich Taichi Yagami selbst von der Erdoberfläche ausradieren. Immer noch ganz der mitfühlende Psychologe, legte er eine Hand auf die von Tai. „Ich weiß, das alles zu erfahren, ist erst einmal sehr heftig, aber Sie sind stark, das sehe ich und gemeinsam arbeiten wir daran. Nehmen Sie sich bis zum nächsten Termin mal eine Auszeit von allem, übergeben Sie Ihrer Ehefrau zu Hause das Zepter, ziehen Sie sich etwas für sich zurück und denken Sie über die Vergangenheit nach, wecken Sie die verschütteten Erinnerungen. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass es nicht wehtun wird, aber der Schmerz gehört zur Heilung dazu. Und denken Sie immer daran: Sie tun es auch für Ihre Frau und Ihre drei Kinder, als Vater und Ehemann tragen Sie für Ihre Familie die Verantwortung.“   Tai verdrehte die Augen. „Dass ein Zahnarzt keine Herz-OP durchführen kann ist mir durchaus bewusst, natürlich wird sie es weit bringen, sie ist klug, gebildet und weiß wovon sie redet im Gegensatz zu so vielen anderen Spinnern, aber naja ich weiß, dass sie zu befangen ist um die Therapie durchzuführen, sonst würde ich nicht gezwungenermaßen in diesem Saftladen hier sitzen.“ Vermutlich müsste man überlegen, ob man Tai nicht eine Sonnenbrille mitgab für die nächste Sitzung, wenn Junpei sein Tausend-Watt-Lächeln aufsetzte. Je mehr er erzählte, desto mehr hatte er keine Lust mehr, alles schonmal Durchgekaute wieder erzählen zu müssen, aber er riss sich ja zusammen für Mimi, denn er hatte ihr versprochen das hier zu versuchen und daran würde er sich auch halten, auch wenn er Shihito an sich ziemlich merkwürdig fand, aber das behielt er wohlweislich für sich. „Die Beziehung und die Sache mit dem Fußball belasten mich schon lange nicht mehr, Sora hat mich nachher einfach nur noch genervt, weil sie keine Ruhe gegeben hat und immer wieder versucht hat, uns Steine in den Weg zu legen, aber das hat sich ja Gott sei Dank mit ihrem Ableben dann auch erledigt. Ich vermisse diese Frau in keiner Sekunde meines Lebens, ich bereue es eher, ihr überhaupt einen Platz in meinem Leben gegeben zu haben, aber ja, das sind beides Dinge, die mich heute nicht mehr stören.“ Was der Arzt da sagte, gefiel ihm absolut nicht, war er wirklich so ein schlimmer Mensch? Er hörte dem Therapeuten erst weiter zu, bevor er sich dazu äußerte. „Ich möchte auf keinen Fall meine Kinder oder meine Familie gefährden, dass es so schlimm ist war mir nicht bewusst, ich empfand es nicht als schlimm, sondern dachte, dass es ja irgendwie normal ist, wenn man sich um das Wohlergehen seiner Kinder sorgt, wir haben zwei Töchter und einen Sohn, aber das ich Jess irgendwann in Kazumi oder Misaki sehe, das will ich auf keinen Fall und davon ging ich auch ehrlich gesagt niemals aus. Aber Sora, diese Bitch, in meiner Frau sehen? No way, es gibt keine Psychose, die das auslösen könnte. Meine Frau liebe ich, Sora habe ich niemals ansatzweise auch nur so geliebt, wie ich es bei meiner Frau tue, also da habe ich keine Bedenken, dass so ein Mist passieren könnte. Jess hatte einen anderen, emotionalen Wert für mich als Sora, das zu vergleichen halte ich für schwachsinnig, ich meine der Auslöser für diesen ganzen Beschützerinstinkt liegt in meiner Kindheit. Ich hätte damals beinahe um ein Haar meine Schwester verloren, weil ich nicht gut genug auf sie aufgepasst habe..., sie war krank, hatte Fieber, aber als ich von der Schule kam, wirkte es so, als ginge es ihr schon viel besser und ich hatte sie zum Spielen mit in den Park genommen, weil ich dachte die frische Luft täte ihr vielleicht gut.., am Ende ist sie zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus und ein paar Tage auf die Intensivstation und keiner wusste, ob sie durchkommt, da habe ich mir geschworen, dass mir so etwas nie wieder passiert... dass ich die Menschen, die ich liebe, um jeden Preis beschütze, koste es was es wolle. Und ich will weder mich umbringen, noch meine Kinder in den Suizid treiben, auf gar keinen Fall, meine Kinder sind mir heilig! Genauso wie meine Frau, aber ich kann ihr doch nicht alle Haushaltsaufgaben und die Kindererziehung aufhalsen, etwas unterstützen muss ich sie trotzdem und sei es auch nur mit Kleinigkeiten, aber gut ich werde mich etwas zurücknehmen und versuchen mir eine Verschnaufpause zu gönnen bis zum nächsten Mal, dann sehen wir ja, ob es was bringt oder nicht.“ Dass Shihito seine Hand so berührte, war Tai unangenehm, deswegen entzog er diese auch sofort. „Diese Geste können Sie sich für Ihre Frau aufheben..., unter Männern macht man sowas nicht“, ja es gab auch bei ihm Grenzen, die ein Psychologe nicht überschreiten durfte. „Dann sehen wir uns beim nächsten Termin, schätze ich“, nach der Verabschiedung und mit einem neuen Termin im Gepäck begab er sich auf den Heimweg und war total durch den Wind, aufgewühlt durch das Ganze, alle Erinnerungen waren wieder präsent, ob gut oder schlecht, sie waren da, weswegen er, als er daheim ankam, auch gar nicht in die Küche zu seiner Frau und seinen Kindern ging, sondern sich oben ins Arbeitszimmer zurückzog um alleine zu sein.   Auf das Thema „Saftladen“ reagierte er gar nicht, falls Tai versuchen wollte, ihn zu provozieren, würde er sich daran die Zähne ausbeißen. Dass er seine Geschichte nicht zum ersten Mal erzählte, war Junpei klar, aber eben, dass er davon sicher genervt war, darauf zielte er ja ab, er wollte Tai dazu bringen etwas preiszugeben, mit dem sich arbeiten ließ. Verständnisvoll nickte er also, während Tai über Sora sprach, ließ er sich allerdings nicht anmerken, wie wütend ihn das machte, aber das, was er selbst über dessen Frau und Kinder sagte, schien wohl erste Früchte zu tragen, er glaubte ihm und das war für ihn schon ein kleiner Sieg. „Herr Yagami, machen Sie sich deswegen bitte keine Vorwürfe, die Tücke an psychischen Erkrankungen ist ja gerade, dass sie für die Betroffenen nicht ersichtlich sind. Aber genau deswegen hat Ihre Frau Sie ja hierhergeschickt, da sie es bemerkt hat, aber nicht in der Lage ist, Ihnen durch die emotionale Nähe zu helfen.“ Dass er zwei Töchter hatte, wusste Junpei natürlich, aber dass Tai ihm das bestätigte, spielte ihm in die Karten. Er ließ ihn erst mal weiterreden, lachte sich innerlich ins Fäustchen, dass auch noch die kleine Schwester benannt wurde, ehe er nachdenklich die Hand ans Kinn legte. „Nun gut, dass mit Ihrer Frau und Sora ist wirklich sehr unwahrscheinlich, da dort das Verhältnis nicht zu stimmen scheint, aber Jess und Ihre Kinder halte ich durchaus für ziemlich wahrscheinlich, wenn ich mir das so anhöre. Und Ihre Schwester ist möglicherweise auch in Gefahr, wenn die Ursache Ihres Beschützerinstinktes damit zusammenhängt, aber darüber sprechen wir in der nächsten Sitzung. Dort möchte ich gern alles über Ihre Beziehung zu Jess, aber auch zu Ihrer Schwester wissen. Aus den alten Akten geht hervor, dass Ihr Verhältnis zueinander eine Weile ziemlich angespannt war und Ihre Schwester sich auch in Therapie befindet. Aber darüber reden wir dann beim nächsten Mal, Herr Yagami, für heute wars das. Gönnen Sie sich einfach Ruhe und geben sie Ihrer Familie Freiraum.“ Auf den Kommentar mit dem Handberühren ging er nicht mehr ein, nickte nur und respektierte es. Er gab Tai einen neuen Termin für die kommende Woche und schickte ihn dann nach Hause, ehe er sich zurückzog und begann, den Bericht über Tai zu schreiben.   Tai seufzte, er würde vermutlich nicht drumherum kommen... „Ja, ja okay…, nächste Sitzung widmen wir uns dem Thema meine Schwester und Jess, wird werden ja sehen was dabei herum kommt..., ich kooperiere mit Ihnen so gut ich kann Dr., wenn ich manchmal grob oder abweisend bin nehmen Sie mir das nicht böse..., das ist alles nicht so leicht wieder darüber zu reden.“ Junpei nickte nur mitfühlend und verständnisvoll, während er sich im Inneren über Tai kaputtlachte, wie selten dämlich dieser Typ doch war. Wie konnte man sich von der eigenen Frau so abhängig machen, aber das würde er ihm auch noch aufzeigen. Für heute beließen sie es aber dabei und Tai wurde mit einem neuen Termin für die kommende Woche heimgeschickt.   Währenddessen war Mimi zu Hause damit beschäftigt das Abendessen vorzubereiten. Misaki schlief und die Zwillinge saßen an ihrem Kindertisch und spielten mit Knete. Makoto hatte irgendein nichterkennbares Tierchen zustande gebracht, das immerhin vier Beine hatte, während Kazumi einfach nur einen Haufen aus Knete vor sich liegen hatte, was Mimi innerlich schmunzeln ließ. Sie hörte die Haustüre nicht und sah Tai auch nicht kommen, ebenso wenig wie Kazumi, die gerade über ihrer Knete hing, nur Mako bemerkte seinen Papa, sagte aber nichts weiter. Gut zwanzig Minuten vergingen, als Mimi den Tisch gedeckt hatte und ihre Kinder zum Händewaschen schickte. „Jetzt müssen wir nur noch auf den Papa warten und dann können wir essen.“ Makoto sah seine Mama nachdenklich an. „Papa doch da, Papa nach oben“, meinte er und deutete zur Treppe. Mimi runzelte die Stirn und sah ihren Sohn an, dann schickte sie die Kinder ins Bad und ging nachschauen. Sie fand ihren Mann im Arbeitszimmer, in seinem Chefsessel, und irgendwie wirkte er erschöpft und gedanklich weit weg. „Hallo Schatz, warum sagst du denn nicht Bescheid, dass du zurück bist? Hätte Makoto dich nicht bemerkt, würde ich jetzt immer noch unten sitzen und warten. Wie war es denn heute? Wie ist dein Eindruck von Dr. Shihito?“, fragte sie und wunderte sich, warum ihr Mann so distanziert wirkte.     Nach dem neuen Termin ging Tai also heim und hatte gedacht, dass keiner ihn bemerkt hatte, jedoch hatte er damit vermutlich die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht, aber verübeln konnte er es ihm auch nicht. Als dann plötzlich Mimi vor ihm stand, runzelte er die Stirn „Ich wollte einfach Ruhe haben..., ich bin um jede Sekunde froh, die ich nicht in diesem Saftladen hocken muss“, er war vermutlich ihr gegenüber gerade nicht so ganz fair, aber Mimi hatte vermutlich erkannt, dass ihn das Ganze emotional aufwühlte und war ihm deswegen hoffentlich nicht böse. Er hätte ihr gerne so vieles gesagt, aber er durfte es nicht und daher musste er Wege finden, die ganzen Sachen zu umgehen. „Wie soll es schon gewesen sein? Wieder ein Quacksalber, der mich über meine Vergangenheit ausquetscht und alles „aufarbeiten“ will und meint, mir Tipps geben zu müssen“, so hatte er sich an die Vereinbarung gehalten, er verriet ihr keine expliziten Inhalte der Sitzung. „Nichts, was ich nicht schon kenne, ich wette, dass es sowieso absolute Zeitverschwendung ist, ich darf nicht drüber reden was wir besprechen, damit die Therapie nicht negativ beeinflusst wird..., also frag gar nicht erst, ich darf sowieso nichts sagen, mal schauen wie die nächsten Sitzungen so werden.“ Er stand auf und sah sie an „Naja, die Kinder werden sicherlich Hunger haben, wir sollten nach unten gehen, bevor das Essen kalt wird“, er gab ihr einen kurzen Kuss, der allerdings ziemlich distanziert wirkte und ohne es zu beabsichtigen, zog er sich emotional vor ihr schon etwas zurück, denn sonst würde er Gefahr laufen, ihr alles zu erzählen und das wollte er nicht, weil er diese Therapie für Mimi erfolgreich durchziehen wollte. Also aßen sie unten mit den Kindern gemeinsam zu Abend und den Kindern gegenüber konnte er das Bild zumindest so aufrechterhalten, dass sie nichts bemerkten und es so war wie immer. Er brachte dieses Mal die Zwillinge ins Bett, während Mimi Misaki schlafen legte und dieser Nacht war es auch das erste Mal, das er sich im Bett zum Schlafen etwas von ihr wegdrehte und es nur zuließ, das sie sich in seinen Arm legte, aber sich nicht ganz an ihn kuscheln konnte.   Zu Hause angekommen wurde Tai also nur von Makoto bemerkt, wodurch schließlich Mimi auf den Plan gerufen wurde und sich über die schroffe Art ihres Mannes etwas erschrak, aber eigentlich nicht verwundert war, Traumatherapien waren hochemotional belastend und dass es nicht spurlos an Tai vorbeiging, war ja irgendwie gut, das hieß, er setzte sich endlich damit auseinander, statt weiter zu verdrängen, wie er es die ganzen letzten Monate getan hatte. Sie seufzte leicht, trat einen Schritt näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ach Liebling, ich weiß, dass du nicht viel Vertrauen in Ärzte und Psychologen hast, aber allein dich jetzt so zu sehen, so aufgewühlt, zeigt mir, dass ihr auf dem richtigen Weg seid, du dich endlich mit dem Geschehenen konfrontierst. Glaub mir, der Anfang ist schwer, wirkt so, als würde es nichts bringen, aber die Anamnese ist leider immer recht ähnlich. Er hat zwar auch deine Akten bekommen, aber ein guter Psychologe zeichnet sich auch dadurch aus, dass er sich sein eigenes Bild verschafft. Nervig für die Patienten im ersten Moment, aber es wird deinen Fortschritt nur positiv beeinflussen. Also bleib am Ball, okay?“ Sie küsste ihn sanft auf die Stirn, ehe er sich erhob und nickte dann. „Ist schon gut, ich werde nicht mehr fragen.“ Irgendwie fand sie das komisch, aber statt auf ihr Bauchgefühl zu hören, trickste sie sich selbst aus, indem sie sich einredete, dass er das nur machte, weil Mimi eben auch Therapeutin war und die Gefahr zu groß, dass sie ihrem Mann auch noch irgendwelche gut gemeinten Ratschläge erteilte. Tai gab ihr schließlich einen richtigen Kuss, aber irgendwie wirkte er nicht wie sonst, es war, als hätte sich zwischen ihnen plötzlich eine Mauer gebildet, die sie nicht überwinden konnten, aber sie schluckte die komischen Gefühle herunter, um die Kinder eben nicht zu besorgen. Das Abendessen und auch die gesamte Woche verliefen recht ereignislos. Mimi wunderte sich nach wie vor über die Distanz, schob es aber darauf, dass er sich gedanklich auf die zweite Sitzung vorbereitete und so machte es Mimi auch nichts aus, sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern, denn da Tai zwischendurch wieder ganz der Alte war, entschied Mimi für sich, dass sie wohl einfach schon Gespenster sah und ihrem Mann und dem Therapeuten mehr vertrauen musste. Sie hatte Tai ungern aus der Hand gegeben, aber Masao hatte Recht, die Grundlage jeder professionellen Therapie oder Beratung war die emotionale Unbefangenheit aller Beteiligten und das war bei ihnen eigentlich seit dem Erstgespräch nicht mehr der Fall gewesen. Mit einem Lächeln verabschiedete sie ihn zum zweiten Termin, einfach um ihm ein positives Gefühl mit auf den Weg zu geben.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)