Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 63: Ravens vs. Trojans ------------------------------ Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Jeremy mit Ehrfurcht auf die schwarz-grauen Steintürme von Evermore geschaut, deren eckige Zinnen und kleine Fenster wie eine Festung wirkten. Wie ein Bollwerk, das unerwünschte Personen fernhalten sollte. Der Graben vor dem Haupteingang und die schwarze, schwere Holztür zum Innenhof des Colleges machten es auch nicht besser. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren die Ravens in seinen Augen eine erstklassige und hochgradig disziplinierte Mannschaft gewesen, die er sich als Vorbild genommen hatte, um sein eigenes Können weiter zu entwickeln. Schon als Kevin ihn kontaktiert und ihn gefragt hatte, ob er sich vorstellen könne, Jean aufzunehmen, hatte das Bild einen Knacks bekommen. Als er mehr und mehr mitbekommen hatte, was Jean in Evermore angetan worden war, war das Bild der perfekten Einheit, der alles überragenden Mannschaft komplett verschwunden und hatte einem Eindruck Platz gemacht, der negativer nicht sein konnte. Und so war er auch nicht beeindruckt, als sie vor diesen Türmen, diesen Mauern standen, sondern verfluchte sie mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Hier waren Jean unbeschreibliche Dinge angetan worden und niemand, absolut niemand, hatte eingegriffen. Niemand hatte hingeschaut und niemand hatte etwas getan. Sein Blick glitt zu Jean, der sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf gezogen hatte und angespannt neben ihm stand, das Gesicht kreidebleich. Er zitterte am ganzen Körper und Jeremy schob seine Hand in Jeans. Natürlich zuckte dieser zurück und Jeremy wartete ruhig ab, ob Jean sich ihm entzog. Das geschah nicht und er sah nur zu deutlich den Hilferuf in den grauen Augen, die Angst und die fürchterlichen Erinnerungen, die dahinterlagen. Hilf mir, schrien sie und Jeremy fragte sich, wie oft sie das ungehört geschrien hatten. Zu oft, lautete die ernüchternde und fürchterliche Antwort und er rückte näher an Jean heran. „Hey“, wisperte er liebevoll und so leise, dass er ihn hoffentlich nicht noch weiter verschreckte. „Du bist Backliner der USC Trojans und wir sind hier, um gegen die Ravens zu spielen. Wir werden dieses Gebäude nach unserem Spiel wieder verlassen und du wirst nicht zurückbleiben. Das lassen die Trojans und ich nicht zu“, murmelte er, nicht zum ersten Mal an diesem Tag und wie die Male zuvor auch kam das einer Panikattacke zuvor. Jeans hektische Atmung beruhigte sich nach und nach und der panische Ausdruck in seinen grauen Augen dämpfte sich etwas. Wirklich?, fragten seine Augen und Jeremy nickte. „Wir beide werden da wieder rauskommen.“ Jeans Finger verschränkten sich eisern und durchaus schmerzhaft mit seinen, doch das in diesem Moment war es okay für Jeremy. ~~**~~ Nein. Nein nein nein. Kein anderer Gedanke gellte so laut und so durchdringend in Jeans Gedanken, als sie durch den Eingang des Colleges zum dahinterliegenden Sporttrakt gingen. Er wollte nicht hierhin, er konnte nicht. Dennoch tat er Schritt um Schritt in sein Verderben hinein in die Mauern, die ihn so oft umschlossen und eingesperrt hatten. Er kannte den Geruch nach altem, feuchten Stein, die Geräusche, die seine Schritte auf dem Betonboden machten, in- und auswendig. Er schmeckte die Bitterkeit seines eigenen Blutes, obwohl er unverletzt war. Er fühlte die Kälte, die schon jetzt in seine Knochen kroch, eine unerbittliche Erinnerung an jahrelanges Frieren. Er hörte Stimmen vor dem Eingang und senkte seinen Blick, den Ravens-Fans nicht in die Augen blicken wollen, die ihn verspotten und anfeinden würden. Vielleicht würde er sie auf dem Spielfeld ignorieren können, doch nicht jetzt, wo er sich so roh fühlte, so aufgerieben und wund. „Alter…was ist das denn?“, grunzte Val und Jean zuckte alleine schon ob der Lautstärke zusammen. Instinktiv und ängstlich sah er hoch und konnte im ersten Moment nur Rot identifizieren. Der ganze Innenhof, der sonst so kahl war, war rot und doch war da – so erkannte Jean nach ein paar langen Sekunden – kein Schwarz. Kein Rot-Schwarz, sondern Rot-Gold. Was…? Gleichermaßen betäubt und erstaunt starrte er auf die Menschen, die ihnen gegenüberstanden und deren Aufmerksamkeit sie plötzlich auf sich zogen. Der Junge, der nun auf sie zugerollt kam, kam Jean bekannt vor und durch das Pochen in seinem Schädel hindurch begriff er, wo er ihn das letzte Mal gesehen hatte und wer er war. Favio, der Chef des Trojan-Fanclubs. Er war hier und mit ihm so viele ihrer Fans, dass es Jean schier schwindelig wurde. Sie füllten den ganzen Innenhof aus, sie lärmten und jubelten, sie klatschten, als ihre Mannschaft nun den Hof betrat. „Hi Jer“, grinste Favio und sein Kapitän beugte sich hinunter, umarmte den anderen Jungen gleichermaßen überrascht wie stürmisch. „Was macht ihr denn hier?“, fragte er und Favio lachte. „Vielleicht hat deine Vize mich heimgesucht und mir erklärt, wie wichtig es ist, dass wir heute alle hier sind um für euch bei diesem Spiel zu jubeln und das gruselige Stadion in rot-gold zu tränken und es diesen komischen Schwarz-Roten zu zeigen“, zwinkerte er und Jean starrte zuerst ihn, dann Jeremy an. Aber das war doch viel zu weit. Sie waren viel zu weit von Los Angeles entfernt, als dass sich das lohnen würde. Das hatten sie doch sonst auch nie getan und nun… Jean begriff. Es war nur für ihn. Sie waren wegen ihm hierher gekommen. Sprachlos sah er zu Alvarez, die ihn wild angrinste. „Was braucht man, um einen Krieg zu gewinnen, Moreau? Soldaten. Soldaten sage ich dir“, erklärte sie die Unmöglichkeit der Dinge und er war sich nicht sicher, ob er nicht doch vielleicht träumte oder sich verhört hatte. „Du bist nicht alleine, Monsieur Exy. Niemals mehr.“ Jean konnte nichts sagen, selbst, wenn er es gewollt hätte. Im Angesicht all der freundlichen Gesichter, der bunten Farben, der Menschen, die nicht gegen ihn waren, konnte er es nicht. ~~**~~ Der Schlund der Hölle hatte ihn gefangen und sich hinter ihm geschlossen. Zitternd saß Jean auf der Umkleidebank, seine schmerzenden Hände in den roten Stoff seines Trikots gekrallt. Es gab keine Fenster hier, kein Tageslicht, nur kaltes Neonröhrenlicht und eine laute, kalte Lüftung, die mit ihrem Klacken seinen Herzschlag konterkarierte. Nichts, weder sein Team noch ihr Fanclub, der extra wegen ihm angereist war, konnte die Erinnerungen, die diese Gemäuer mit sich brachten, Einhalt gebieten. Die Umkleiden hatten nie etwas Gutes für ihn bedeutet. Gänsehaut kroch über seinen ganzen Körper und er verkrampfte sich. Knox war die ganze Zeit neben ihm und nur seine Präsenz, körperlich wie geistig in Jeans Gedanken, hielt ihn davon ab, in Panik zu geraten. Sein Kapitän zog sich mit ruhigen, bedachten Bewegungen um und Jean sah aus dem Augenwinkel nackte Haut, die ihn die Augen schließen ließ, weil sie ihn an das erinnerte, was schon einmal in einer dieser Umkleiden geschehen war. War es diese gewesen? Mit Schrecken erkannte Jean, dass er es nicht mehr wusste, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wo sich einer der nun Toten ihm aufgezwungen hatte. Er hörte eine Bewegung neben sich und Jeans Augen flogen auf, gerade rechtzeitig, um Knox zu sehen, der sich vor ihm auf die Knie begab und zu ihm aufsah. „Jean.“ Sein Name, leise, aber verbindlich ausgesprochen. Eine beinahe non-verbale Versicherung, dass Riko nicht mehr hier war. Hauchzart legte Knox seine Hand auf seinen Unterarm und drückte versichernd zu. „Wir werden uns gleich aufwärmen müssen“, sagte er sanft und es war vieles, nur kein Befehl. Letzteres wäre Jean allerdings lieber gewesen, um ein Vielfaches. Etwas, dem er sich nicht verweigern konnte, weil die Konsequenzen so fürchterlich wären, dass er seine Angst alleine deswegen schon überwinden müsste. Doch das war hier nicht der Fall und so war es Folter auf ihre ganz eigene Art und Weise. Nicht, dass Jean das jemals irgendwann mit einer Silbe Knox gegenüber erwähnen würde. „Ich brauche noch einen Moment“, krächzte Jean beinahe unhörbar über den Trubel seines Teams hinweg und sein Kapitän nickte verständnisvoll. Das hatte Riko auch getan und dann zugeschlagen. Aber so war Knox nicht. Jean hob seine Hand und berührte sacht die blonden Haare des Jungen. Sie waren nicht dunkel, sondern wie alles an Knox die lebende Antithese zu seinem verstorbenen Kapitän. „Es wird alles gut werden“, sagte Knox mit einer Zuversicht, die Jean nicht teilte, deren subtiles Drängen aber beinahe genauso gut funktionierte wie ein Befehl. „Irgendwann“, murmelte er und atmete tief durch. Einmal, zweimal, ein drittes Mal, bevor er seine Hand zurückzog und sich erhob. Knox bewegte sich ein Stück zurück und erhob sich ebenfalls, trat noch einen Schritt zurück und drehte sich zur Seite, um ihm Raum zu geben, sich umzuziehen. Mit steifen Gliedern schälte Jean sich aus seinem Trainingsanzug und zog sich die Hose und das Trikot über. Er ließ sich erneut auf die Bank nieder, um sich die knielangen Socken anzuziehen, darüber seine Schuhe. Die Handschuhe, der Helm und die Arm- und Beinpolsterung würden später folgen, nach dem Aufwärmen. Schaudernd zog er sich seine Trikotjacke erneut über und verfluchte sich dafür, dass er nicht daran gedacht hatte, sich bereits im Hotelzimmer umzuziehen. „Ich bin fertig“, sagte er noch zittrig und Fahima kam an seine Seite. „Gut, dann gehen wir da jetzt raus und zeigen es ihnen.“ Schweigend, mit klopfendem Herzen und klammen Händen verließ Jean die Umkleide, umschlossen von den Mitgliedern seines Teams. Er hielt den Blick gesenkt, immer auf seine Schuhe, die ihn in all ihrer roten Aufdringlichkeit eine Erinnerung daran waren, dass er kein Raven mehr war. Erst, als sie die Plexiglastüren passierten, hob er wie ferngesteuert seinen Kopf. Weil Riko es ihm so eingeprügelt hatte. Die Augen gen Feind und jeder war ein Feind, solange er die falschen Farben trug. Wie falsch diese Erziehung war, sah er, als er für einen Moment irritiert war. Warum stand er hier, wenn die Ravens dort in der anderen Ecke des Stadions waren? Er musste zu ihnen, er durfte ihnen nicht fernbleiben, er… „Hey, Mit-Backliner, du siehst so aus, als würdest du zu den Schmuddelkindern laufen wollen. Lass das“, grimmte es an seiner Seite und überrascht sah Jean nach links. Alvarez stand neben ihm, ihre übliche Kriegsbemalung im Gesicht, in den Augen eine grimmige Genugtuung und brutale Herausforderung. „Trojan, nicht Raven, du erinnerst dich?“ Ja, das tat er. Was auch der Grund war, warum er von den anwesenden Ravens mit Verachtung und Abscheu gemustert wurde. Mehr als sonst. Wie beim Bankett, nur, dass sie nun nicht zu ihm kamen und ihn bedrängten oder ihn forderten. Nein, sie ergossen ihren Hass stumm über ihn, gepaart mit einem Versprechen auf Gewalt und Demütigung auf dem Spielfeld, das ihnen keiner nachweisen könnte. Williams musterte ihn von oben bis unten und grinste höhnisch. Seine Strafe für das Verhalten auf dem Bankett hatte er schon längst abgesessen und nun war seine Zeit der Rache gekommen, das sah Jean ganz deutlich. Wie er Williams kannte, würde er sich nicht nur an ihm rächen, sondern auch an Knox und am Rest der Trojans. Sie alle würden wegen ihm verletzt werden. „Soll er kommen, wir werden mit ihm fertig werden“, sagte Laila und kam neben ihn. Sie zog ihren langen Zopf nach vorne und stupste ihn sacht mit ihrer Schulter an. „Sollen sie alle kommen, dieses Mal gewinnen wir.“ Jeans Augen zuckten kurz zu ihr, sein altes Team aus den Augen lassend. Er fand nicht die Kraft zu lächeln. Nicht hier, wo Riko begonnen hatte, ihn zu Tode zu prügeln. Er fror ein in der Erinnerung an die schmerzhaften, schrecklichen Minuten, die der Schläger seines verstorbenen Kapitäns immer und immer wieder auf ihn hinuntergeprasselt war. Als er dessen überdrüssig geworden war, hatte er ihn an seinen Haaren vom Spielfeld gezogen und die Geräusche, die Rikos Schläger und seine Wut in seine Erinnerungen gebrannt hatten, ließen Jean auch jetzt nicht los. Wie viele Stunden hatte er hier auf dem Spielfeld verbracht? Wieder und wieder und wieder, weil er dazu gezwungen worden war. Er war hier groß geworden, hatte sich bis zur Bewusstlosigkeit verausgabt. Wieder und wieder hatten Riko und der Herr ihn hier gequält. Auch jetzt noch klangen ihre Stimmen in seinen Ohren. Verächtlich, hochmütig, wütend, hasserfüllt. Nutzlos hatten sie ihn genannt. Eine Schande. Einen Nichtsnutz. Dumm. Ekelhaft. Schwach. Eine Hure. „Trojans!“ Die donnernde Stimme seines Trainers riss Jean abrupt aus seinen Gedanken und er fuhr ruckartig herum. Er sah sich Auge in Auge mit Coach Rhemann, der seinen Blick eisern hielt. „Mannschaft, zu mir!“ Mit abgehackten Bewegungen folgte Jean dem Befehl und blieb in Blickrichtung zu den Ravens stehen. Niemals sollte er ihnen den Rücken zudrehen. Niemals. „Also. Wir alle wissen, dass das heute kein Spaziergang wird. Die Ravens sind ein ernstzunehmender Gegner und sie werden es keinem von euch leicht machen. Insbesondere dir nicht, Moreau, und ich will, dass du mir jedes Wort und jede Geste in deine Richtung meldest. Ohne Ausnahme. Sie sind auf Bewährung und das Komitee sieht sehr genau hin, was sie tun. Wenn es noch einmal zu einem Übergriff wie auf dem Bankett kommen sollte, dann haben sie ernsthaften Ärger an den Backen. Und zwar ohne weitere Warnung. Darüber hinaus werde ich aber auch nicht zulassen, dass sie euch bedrohen, ist das klar?“ „Sehr klar, Coach“, antwortete Knox, wo Jean nicht die Kraft dazu hatte und zittrig atmete er ein. „Gut soweit. Dann wärmt euch jetzt auf und bleibt auf Distanz. Keine Provokationen, keine Schlägereien.“ Neben ihm schnaufte Alvarez und Rhemann hob bedeutungsschwanger die Augenbraue. „Denk nicht mal dran, Sara Alvarez.“ „Würde ich das jemals tun?“ „Würdest du es nicht tun?“ Jean sah zögerlich hoch und ihr Gesicht hatte die Art von Ertapptheit auf den gebräunten Zügen, die ihn schlucken ließ. Er würde es ihr zutrauen, dass sie sich mit den Ravens schlug. Seinetwegen. Das durfte nicht passieren. „So, ab mit euch zum Aufwärmen. Und lasst euch nicht provozieren.“ Mit angstvoll klopfendem Herzen folgte Jean seinem Kapitän und hielt sich bei ihm. Er vermied mit allem, was er aufbringen konnte, den Blick auf die Ravens, deren Gemurmel ihn jedes Mal erreichte, wenn er sie während des Laufens passierte. Ihm war kalt und er war unruhig, trotz den Runden, die er lief. Dass Ajeet die ganze Zeit beim Aufwärmen unsinnige Dinge erzählte und versuchte, das Team von den Ravens und von den mittlerweile hereinströmenden Fans abzulenken, machte die Sache nur marginal besser. In Jeans Fall gar nicht. Er war erleichtert, als sie in ihre Hälfte zurückkehrten und sich dehnten, in ausreichender Entfernung zu den Ravens. Er war erleichtert, als sie mit den Drills begannen und er durch Konzentration und Präzision ausblenden konnte, in wessen Nähe er sich befand, auch wenn das unterirdische Stadion ohne Fenster ihm von Minute zu Minute mehr zusetzte. Als er aus nervöser Ungeschicktheit einen Ball fallen ließ, erstarrte er, den Boden der Halle fixierend. Was hatte er getan? Was erlaubte er sich? Das würde eine Strafe nach sich ziehen, das wusste er doch. Wieso war er so dumm und… „Ey, Gewitterwolke.“ Ängstlich fuhr Jean zusammen und blickte in Vals Gesicht. Ihre pinken Haare waren zu einem geflochtenen Zopf zurückgezogen und ihre braunen Augen musterten ihn streng. „Ist nicht schlimm, okay?“ Jean starrte ihr betäubt ins Gesicht und brauchte einen Moment um zu begreifen, dass er nicht mehr Teil der Ravens war. Dass er nicht mehr bestraft werden würde, wenn er Fehler machte, auch wenn sie fatal waren. Er nickte schwach und nahm den Ball, der ihm aus seinem Netz geglitten war, zitternd wieder auf, als er hinter sich einen entsetzten Ausruf hörte. Knox, erkannte er, ohne dass er hinsehen musste und fuhr herum, in der Annahme, dass dem anderen Jungen etwas passiert sei. Doch dieser lag nicht am Boden und krümmte sich, wie Jean es zunächst angenommen hatte, sondern starrte mit großen, erschrockenen Augen zu einem der viel zu überdimensionierten Bildschirme, die über dem Spielfeld hingen und die bisher Werbung und die üblichen Vorspielvideos gezeigt hatten. Jean hatte noch nie wirklich viel Notiz von ihnen genommen, nun aber konnte er nicht wegsehen. Auch wenn sich sein Hirn im ersten Moment weigerte zu begreifen, was er dort sah. Im ersten Moment fragte er sich, warum dort halbnackte Männer gezeigt wurden, die gleiche Dinge taten, wie die Männer in dem Video, das Renee ihm geschickt hatte. Dieser Eindruck hielt nicht lange, denn nach und nach wurde sich Jean bewusst, was genau er dort sah. Wen er dort sah. Sich selbst, in Jeremys Trojans Trikot, auf seinen Knien. Hinter ihm kniete jemand Anderes und Jeans Hirn flüsterte panisch den Namen desjenigen, der ihm in dieser Nacht fürchterliche Schmerzen zugefügt hatte. Den Kopf des verstorbenen Spielers erkannte man jedoch nicht, da anscheinend ein Foto von Jeremys lachendem Gesicht über das des verstorbenen Ravens geshoppt worden war. Grinsend wackelte es hin und her, während der Körper immer und immer wieder in Jean stieß. Ohne Regung sah Jean sich selbst ins Gesicht, wie er auf die Vergewaltigung reagierte, seine Lippen geöffnet in einem, wie er auch ohne Ton wusste, schmerzerfüllten Schrei. Er begriff, dass er seine eigene Vergewaltigung dort sah, besagtes Video, von dem die Firmenanwältin gesprochen hatte. Er begriff, dass es mit voller Absicht dort gezeigt wurde und er begriff, wie widerlich und ätzend diese Art der Kriegsführung war. Demütigung flammte in ihm auf, heiß und vernichtend und mechanisch wandte er den Blick von der Leinwand ab. Alle in diesem Stadion sahen ihn, wie er vergewaltigt wurde und der kurze Ausschnitt so aussah, als würde er Lust empfinden, obwohl es das Gegenteil war. Ruckartig hob Jean seinen Blick in die Zuschauerränge, die fast voll waren, mehr rot-gold als rot-schwarz. Er hörte das kollektive, entsetzte Aufstöhnen, das durch die Menge ging, aber auch die Pfiffe und das Gegröle, Gejohle und Geklatsche der Ravenfans. Weil er sich nicht traute, in die Gesichter seines Teams zu sehen, suchte er Williams, dessen Lächeln Jean das mitteilte, was er wissen musste. Natürlich hatte er das Video gesehen, natürlich war er daran beteiligt und natürlich nutzte er das, um ihn zu demütigen, um ihn zu demoralisieren und ihn in sein Trauma zurück zu stoßen. Natürlich hatte er Freude daran, Jean jetzt ins Gesicht zu sehen und Zeuge des Entsetzens zu werden, das ohne Zweifel in Jean tobte. Abrupt wandte Jean seinen Blick ab und suchte Renee auf den Zuschauerrängen. Sie und der Rest der Foxes befanden sich jedoch nicht mehr dort, sondern waren mittlerweile auf den Bereich seiner Mannschaft direkt hinter der Plexiglasscheibe gezogen. Day saß neben ihr und war kreidebleich im Gesicht. Selbst auf die Entfernung sah Jean, dass Tränen in seinen Augen schimmerten und dass ihm so übel war, dass er kurz davor war, sich übergeben zu müssen. Das hatte er auch getan, als anscheinend dieses Video aufgenommen worden war. Neil war aufgesprungen und starrte hasserfüllt in Richtung Ravens, nur zurückgehalten durch Andrews eiserne Hand um seinen Unterarm. Renee fixierte einzig und alleine ihn, ruhig und versichernd, in ihren Augen jedoch etwas, das Jean so noch nie gesehen hatte. Er würde es bodenlosen Zorn nennen, war sich dessen aber nicht sicher. Es mochte auch Mordlust sein. Eine Bewegung neben sich ließ ihn zurückweichen und er sah auf Knox hinunter. Jeremy. Die geweiteten blauen Augen seines Kapitäns waren feucht vor Tränen. Sie waren entsetzt, panisch, erschüttert. Sie waren wissend, denn Jean hatte in einem Anflug an selbstzerstörerischer Ehrlichkeit Details der Vergewaltigungen preisgegeben. Jeremy wusste, dass das Video echt war, er wusste, um was es sich dabei handelte. Es zu wissen und zu sehen, stand auf zwei unterschiedlichen Seiten und das erkannte Jean nun. „Jean…“ Er grollte. Unfähig, ein Wort zu äußern, grollte er, ein animalischer Laut irgendwo zwischen Wut und Entsetzen. „Sieh nicht hin“, presste er hervor, hilflos im Angesicht der verstrichenen Gelegenheit. Es war zu spät. „Was ist das für eine gottverdammte Scheiße?“, donnerte Rhemanns Stimme in die betäubte Stille und Jean zuckte zusammen. Er wusste, dass er sich entschuldigen sollte, weil es wegen ihm erneut eine Verzögerung war, doch mit einem Blick auf ihren Trainer erkannte er, dass er überhaupt nicht Ziel des Zorns war. „Jetzt reicht es. Knox, mitkommen, sofort“, grimmte er und im ersten Moment reagierte Jeremy gar nicht. Erst, als Rhemann pfiff, riss er sich anscheinend zusammen und sah zu ihrem Berg von einem Coach auf. Er bewegte sich aber immer noch nicht und anstelle dessen trat Jean einen Schritt nach vorne. „Was wollen Sie tun?“, presste er hervor und Rhemanns brennender Blick durchdrang ihn bis in sein Innerstes. „Ich habe dir gesagt, dass ich nicht zulasse, dass sie dir etwas tun, Moreau. Sieht das da so aus, als würden sie dich in Ruhe lassen? Nein. Ich lasse nicht zu, dass sie irgendein Sexvideo mit euren Köpfen zeigen. Das hat mit Sport nichts mehr zu tun. Mir reicht’s, ich sorge dafür, dass sie disqualifiziert werden. Jetzt.“ Ungeduldig wandte Rhemann sich ab und ging mit herrischen Schritten in Richtung Schiedsrichterbank. Erst verspätet begriff Jean, was ihr Coach wirklich gesagt hatte und fuhr erschrocken zusammen. Wenn dieses Spiel nicht stattfand…dann war alles umsonst gewesen. Dann war das Leid und all das, was er in den letzten Wochen und Monaten durchgemacht hatte, für nichts gewesen. „Nein!“ Panisch ließ er Knox stehen und eilte ihrem Coach nach, erreichte ihn, als er bei diNunzio ankam, der herrisch den Trainer der Ravens zu sich heranwinkte. Jean schluckte. DiNunzio, einer der erfahrensten und gnadenlosesten Schiedsrichter, den ihre Liga aufzubieten hatte, schnaufte missgelaunt. Er wartete, was bis der Trainer der Ravens ebenfalls da war und deutete dann auf die Leinwand. „Abstellen, sofort“, bellte er und Miura nickte bleich und unerfreut. Rhemann grollte. „Nein, das reicht mir nicht. Ich will die Disqualifikation“, donnerte sein Coach und Jean sah ihm entsetzt ins Gesicht. „Ich will, dass die, die dafür verantwortlich sind, die volle Strafe tragen. Das geht auf das Konto Ihrer Mannschaft und Ihrer Fans und das reicht jetzt.“ Bedrohlich überragte Rhemann Miura und Jean schluckte ängstlich. „Man sollte meinen, dass nach dem Bankett durch das Komitee klar und deutlich gemacht worden ist, dass sich Rivalitäten auf das Spielfeld beschränken und dass jeglicher Angriff unerwünscht ist und bestraft wird. Das hier ist mehr als ein Angriff und Sie sind dafür verantwortlich. Ihr Team, das Sie nicht im Griff haben und das Sexvideos über Ihre Bildschirme laufen lässt, die meine Spieler zeigen.“ Rhemann brüllte fast und Jean zog instinktiv seinen Kopf zwischen die Schultern. „Ich werde dafür sorgen, dass dieses Video abgestellt wird“, erwiderte Miura mit schwerem, japanischen Akzent und deutete ein respektvolles Nicken an. Ein verächtliches Schnauben verließ Jeans Lippen, ohne dass er es aufhalten konnte und wollte. Wie es schien, übertrug sich die Wut seines Coaches auch auf ihn, sickerte langsam in die Angst und die Bestürzung ein. „Sind Sie dabei so langsam wie bei Ihrem Eingreifen auf dem Bankett?“, fragte er in verächtlichem, beißenden Japanisch und die schwarzen Augen zuckten zu ihm. Miura passte sein Ton nicht, das sah er Jean sehr deutlich, doch er fürchtete sich nicht vor dem anderen Mann. Im Gegenteil. Seine eigene Wut blieb und setzte sich in seinem Magen fest. In einem eiskalten Griff hielt sie ihn fest und erfüllte ihn mit einer Kälte, die Jean in Los Angeles selten gespürt hatte, wohl jedoch in Evermore. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde er ruhiger und innere Totenstille kehrte ein. „Moreau, spar dir das. Das Spiel wird nicht stattfinden. Das hat nichts mehr mit Sport zu tun. Rein gar nichts.“ Jean schluckte angesichts des eindeutigen Befehls seines Coaches, bei dem allen in ihm schrie, dass er gehorchen solle. Es war so in ihn hineinerzogen worden, brutal, jahrelang. Er fürchtete Gewalt, doch er konnte auch nicht zulassen, dass alles, was sie durchgemacht hatten, zunichte gemacht wurde. Er musste spielen, er musste gegen seine alte Mannschaft gewinnen. Er musste diesen Teufelskreis durchbrechen. „Nein, Coach!“, sagte er und tat das Undenkbare. Er berührte Rhemann an seinem Unterarm, zaghaft und immer darauf eingestellt, geschlagen zu werden. „Bitte.“ Rhemann musterte ihn sekundenlang stumm und nickte dann knapp zu einem Punkt abseits der Gruppe und hin zu Jeremy, der unweit von ihnen stand und dessen Verzweiflung deutlich sichtbar war. Noch ein Grund mehr, warum Jean an seiner Wut festhalten konnte. Er wollte Jeremy nicht so sehen, er wollte nicht, dass der andere Junge noch mehr traumatisiert wurde durch das, was Jean zugestoßen war in seinem Namen. „Jean…?“, flüsterte er und hinter ihm sah Jean die Trojans ratlos und mutlos stehen. Das durfte nicht sein. Sie durften sich durch dieses schreckliche Video nicht herunterziehen lassen, nicht, nachdem sie so viel trainiert hatten. „Moreau, das kann ich ihnen nicht durchgehen lassen. Dieses Spiel darf nicht stattfinden. Die Ravens gehören disqualifiziert. Diese Mannschaft ist für die Anlage verantwortlich. Und sieh dir ihren Trainer an, er hat es nicht eilig, dieses…Video zu beenden. Und da reden wir noch nicht einmal von der Frage, woher es stammt, ob es echt ist und ob du deine Zustimmung zur Verbreitung gegeben hast.“ Vehement schüttelte Jean den Kopf. „Nein… nein, das habe ich nicht. Ich wusste nicht, dass sie es machen. Ich…“ Er verstummte und suchte Jeremys Blick. „Ich bin das in dem Video, aber es ist nicht Knox.“ Dass es ein Video einer Vergewaltigung war, verschwieg er, denn selbst er wusste, dass ihr Coach sie dann erst recht nicht spielen lassen würde. „Darum kümmern wir uns auch später, denn ich werde nicht zulassen, dass jemand Videos verbreitet, die er von dir oder einem anderen Trojan ohne Zustimmung gemacht hat.“ „Coach, ich muss gegen sie spielen sonst kann ich nie damit abschließen, was passiert ist. Die letzten Wochen waren fürchterlich. Bitte!“ Er knurrte wild und zuckte innerlich zusammen ob des Tons, den er gegenüber seinem Coach und seinem Kapitän anschlug. „Bist du dir sicher?“, fragte Jeremy unsicher und Jean grollte. Er nickte knapp und bohrte seine Augen in die seines Coaches. „Ich stehe das nicht noch einmal durch“, sagte er mit fester Stimme. „Das musst du auch nicht, denn wenn sie disqualifiziert werden, dann sind sie sowieso raus.“ „Das ist nicht das Gleiche!“ Rhemann verstummte und musterte ihn nachdenklich. Endlos lange Sekunden hielt er Jean im Unsicheren, bevor er schlussendlich nickte und sich an diNunzio wandte, der ihn kritisch maß, dann aber ebenfalls seine stumme Zustimmung erteilte. „Meinetwegen“, brummte er, mit warnendem Blick auf den Coach der Ravens. „Das Spiel findet statt. Sehe ich sowas“, er deutete auf den Bildschirm, „oder so etwas Ähnliches noch ein einziges Mal, dann breche ich das Spiel ab und sorge für eine Disqualifizierung. Ist das klar? Das hier ist ein sauberes Spielfeld. Krieg können Sie außerhalb führen und die rechtlichen Konsequenzen dafür tragen, klar?“ Rhemann und Miura nickten und auch Jean stimmte dem innerlich zu. Das war nicht ideal, aber damit konnte er leben. Jeremys Hand, die sich in seine stahl, war Versicherung und Frage zugleich und Jean wandte sich seinem Kapitän zu, der sichtlich erschüttert war. „Ich bin mir nicht sicher, ob das gut ist“, sagte er leise und Jean sah auf ihn herunter. Ruhig, zornig, mit eisigem Hass für die Ravens. Sein Blick huschte zu der Leinwand, die mittlerweile schwarz war und über die Zuschauerränge, die kollektiv verstummt waren. Im Hintergrund lief eine Lautsprecherdurchsage, die erklärte, dass jeder weitere Akt der Unsportlichkeit seitens der Mannschaft und seitens der Fans mit sofortiger Entfernung aus dem Stadion geahndet werden würde und dass dazu in den kommenden Minuten die Sicherheitskräfte verdreifacht werden würden. Die Stimme des Stadionsprechers bat eindringlich um Fairness und Akzeptanz der gegnerischen Mannschaft. Jean war zum Kotzen zumute. Als wenn Fairness jemals in Evermore ein Thema gewesen war. „Ich schon“, grimmte Jean und umschloss seinen Schläger mit eisernem Griff. „Aber das Video…“, begann Jeremy, verstummte dann jedoch. Jean bleckte die Zähne. „Ja, sie haben mich und sich dabei gefilmt“, gestand er ein und seine Stimme war vor Zorn beinahe unhörbar. „Es ist fürchterlich mit anzusehen und es tut mir leid, dass du es sehen musstest. Aber was wollen sie denn noch mehr machen als das, was dort geschehen ist? Wollen sie es in die Welt hinausposaunen und damit zeigen, dass sie es geduldet haben? Alleine das, was sie jetzt schon getan haben, wird der Familie ausreichen, um jeden, der damit zu tun hatte, aus der Mannschaft zu entfernen, wenn nicht sogar anderes.“ Das Lächeln, was seine Lippen nach oben zog, war dunkel, als das wilde Tier, was Evermore in ihm herangezüchtet hatte, wieder zum Vorschein kam. „Ich will sie im Spiel dafür fertig machen, Jeremy. Mit den Trojans. Ich will ihnen ihre Methoden um die Ohren schlagen und mit ihnen den Boden wischen. Wieder und wieder und wieder. Ich will ihnen zeigen, wie stümperhaft und unwürdig sie sind.“ Jeremy blinzelte und langsam verschwand die Bestürzung auf seinem Gesicht sowie das Zittern in seinem Körper. Er begriff, was Jean brauchte und er konnte sich damit arrangieren, konnte sich auf das einlassen, was kommen würde. Jean sah zu ihrem Team. Er bedeutete Jeremy stumm, ihm zu folgen und ging entschlossen zu den Trojans. ~~**~~ Jeremy fixierte Williams mit eiserner Ruhe, als er zum Münzwurf ging, der ihr Spiel einläuten würde. Mit hochmütiger Arroganz erwiderte der Raven sein Blick und hielt es nicht für nötig, ihn zu grüßen. Dass Jeremy damit gut leben konnte, war unumstritten, denn viel zu sehr waberten Jeans Worte in seinen Erinnerungen, dass der jetzige Ravenskapitän sich Jean ebenfalls aufgezwungen hätte, wenn Riko die Erlaubnis dazu erteilt hätte. Was für ein widerliches Arschloch. Doch nicht nur das. Was heute passiert war, hatte sein Team nachhaltig schockiert und Jeremy verspürte noch immer Übelkeit in sich, wann immer er an das Video von Jeans Vergewaltigung dachte. Er ekelte sich, vor den Ravenfans, vor den Ravens selbst und vor dem Trainer. Er ekelte sich vor dieser Familie, unter deren Augen all das überhaupt erst hatte geschehen können. DiNunzio stand zwischen ihnen, das Gesicht unerfreut und die Mimik eiskalt. „Ich will ein faires Spiel meine Herren“, sagte er warnend und Jeremy erwiderte seinen Blick. „An uns soll es nicht liegen, Sir“, erwiderte er, während der leitende Schiedsrichter die Münze warf. „Wir Trojans wissen, was Sportsgeist ist.“ Williams schnaubte verächtlich, sagte jedoch nichts und der Münzwurf ging zugunsten der Ravens aus. Sollten sie, die Trojans waren vorbereitet. Jeremy streckte seine Hand aus, das Lächeln auf seinen Lippen ein Ding der Unmöglichkeit. „Auf ein faires Spiel“, sagte er mit Zorn in seiner Stimme und Williams schlug ein, zerdrückte seine Hand dabei so sehr, als wollte er sie ihm schon vor dem Spiel brechen. Jeremy verzog keine Miene und löste sich schließlich von dem gegnerischen Kapitän. „Wir werden euch alle machen“, zischte Williams, als Jeremy sich zu seiner Mannschaft umdrehte und diNunzio gab ein missbilligendes Schnalzen von sich. Jeremy hob die Augenbraue. „Nein, werdet ihr nicht, weil ihr ohne Kevin und Jean nichts seid und deswegen zu solchen Mitteln wie dem Video greifen müsst“, erwiderte Jeremy und wartete die Antwort des anderen Jungen nicht ab. Er ging zurück zu ihrer Bank um auf den Aufstellungsaufruf zu warten. Jean hatte sie alle davon überzeugt, dass sie spielen mussten, ganz gleich, was die Ravens versuchten und mit welchen schmutzigen Tricks sie spielten. Er hatte eindringlich gefordert, dass all die Mühen der letzten Wochen und Monate nicht einem kurzfristig abgesagten Spiel, das vielleicht nachgeholt werden würde, zum Opfer fallen sollten. Er hatte heruntergespielt um was für ein Video es sich dabei handelte. Jeremy hatte dem stumm und mit Magenschmerzen beigewohnt. Er wusste, dass es echt war. Er wusste, was es zeigte und warum das passierte. Dort, wo er panisch und bestürzt war gewesen, war Jean gefasst und erfüllt mit eiskaltem Zorn und hatte ihm somit zumindest einen Grundstock an Ruhe gegeben. Jeremy nahm von Alvarez seinen Helm und seinen Mundschutz an. Den Rest trug er schon, nach dem Aufwärmen hatte er sich entsprechend gerüstet. Er sah in die Runde der angespannten Gesichter und nickte. „Bereit?“ Laila, Alvarez, Fahima, Logan und Jean nickten und Jeremy zog seinen Helm auf. Er winkte den Trojans, die auf der Bank saßen und salutierte Kevin, in dessen grüne Augen nur langsam Leben zurückkehrte. Neil grinste ihn dunkel an und zum ersten Mal in seiner bisherigen Exykarriere spürte Jeremy so etwas wie Blutlust. Er wollte, dass sie mit den Ravens den Boden aufwischten, er wollte ihnen zeigen, dass Fairness und Sportsgeist der Weg waren und nicht Folter und Vergewaltigung. Bestimmt schob er sich den Mundschutz zwischen die Lippen und sah an ihrem Trainer hoch, der ihn dunkel maß. „Pass auf dich auf, Junge“, grimmte Rhemann und Jeremy nickte. Sein Name wurde aufgerufen und er sprintete los, erreichte seine Position und riss unter tosendem Applaus ihrer Fans den Schläger nach oben, grüßte sie kämpferisch. Mit Stolz sah er, wie der Rest seiner Mannschaft folgte und mit Sprechchören und Applaus empfangen wurden, der die Buhrufe der gegnerischen Fans mit Leichtigkeit überdeckte. Er nickte Jean zu, dessen Hände sich um den Schläger gekrallt hatten und widmete seine ruhiger werdende Konzentration auf das gegnerische Team, die nun ebenfalls Aufstellung nahmen. Williams und Reacher waren die Striker, Johnson Offensive Dealer, Jenkins und Engle Backliner. Im Tor stand McMillian und Jeremy kam nicht umhin, über die Horroraufstellung zu schnauben. Die Ravens hatten das brutalste Team zusammengestellt, das sie hatten finden können. Der Signalton ertönte und die Ravens begonnen das Spiel. Mit tödlicher Präzision gab McMillian auf und brachte den Ball beinahe bis in ihre Hälfte. Adrenalin schoss in Jeremy hoch, als die Striker der Ravens vorschossen und ihr erster Vorstoß an Al und Jean zerschellte, die ihnen alles entgegensetzen, was sie aufzubieten hatten. Während Fahima und er sich in Bewegung setzten, um ihren gegnerischen Schatten zu entkommen, holte sich Alvarez den Ball und schleuderte ihn mit aller Macht gegen die Bande in seine Richtung. Jeremy fing ihn, während er mit voller Wucht gescheckt wurde und Johnsons Schläger ihm mit der Wucht des Blocks fast den Arm brach. Jean hatte sie auf dieses Manöver sehr eindrücklich vorbereitet und so schleuderte Jeremy den Ball zurück zu Logan, der ihn zu Jean spielte. Jean wurde ihn los und passte ihn zurück an Fahima, die weit genug nach vorne sprintete um einen Schuss auf das Tor zu wagen. Vergeblich, denn McMillian hielt eisern und Fahima wurde durch Engle gegen die Bande gequetscht. Ein Check am Rande der Legalität, was den Spieler eine schlechtgelaunte Ermahnung von diNunzio einbrachte. Sie bekamen den Ball und wagten einen zweiten Vorstoß auf das gegnerische Tor, der mit erhöhter Brutalität geblockt wurde. Jeremy war nicht in der Lage dazu, sich freizulaufen, ganz zu schweigen von Jean und Alvarez, die anscheinend die Hauptziele des Ravenhasses zu sein schienen. Mehr als einmal landete Jean auf dem Boden, ließ sich zusammen mit dem angreifenden Ravensstriker fallen und federte den Stoß ab. Laila blockte kunstfertig jeden Schuss auf ihr Tor und kassierte dafür mehr als einmal einen zufällig in sie hineinschlitternden Raven. Von Minute zu Minute wurden die Ravens verbissener, brutaler und gewaltbereiter, insbesondere dann, als Fahima das erste Tor für die Trojans machte. Es schien, als sei dadurch ein Damm gebrochen und sie wurden mit einer Welle der Gewalt und der Rücksichtslosigkeit überschwemmt, die mit taktischem Können nichts mehr zu tun hatte. Hier ging es nur um Demoralisierung und Vernichtung innerhalb gültiger Spielregeln, damit so jede rote Karte vernichtet werden konnte. Jeremy war schweißnass und schweratmend, als er erkannte, wie sich Jeans eigene Art zu spielen veränderte. Er wusste nicht genau, wann es passiert war, doch Jeremy hatte den Eindruck, als stünde ein fremder Mensch mit ihm auf dem Spielfeld, als sie ihren nächsten Spielzug machten. Nach seiner Ankunft in L.A. hatte Jean die Spielweise der Trojans nach und nach adaptiert und in seine Bewegungen mit einfließen lassen. Diese ausgewogene Art des Spiels sah er nun nicht mehr und Jean legte nunmehr eine zerstörerische Arroganz und Überlegenheit an den Tag, die Jeremy schaudern ließ. Insbesondere Williams gewann bei ihm keinen Boden und verlor jeden Ballkontakt. Einen Check erwiderte Jean mit kontrollierter, aber roher Gegengewalt, die im Rahmen alles Zulässigen war, jedoch vor Arroganz nur so triefte. Als sich Jean mit seinem Wonder Woman-Move, wie sie seine schlitternde Vorwärtsbewegung auf dem rechten Knie liebevoll getauft hatten, den Ball sicherte und ihn mit aller Macht nach vorne in die gegnerische Hälfte spielte, war Jeremy schon längst da und holte ihn sich mit seinem Schläger von der Bande. Das Publikum toste, als er sich von Jenkins‘ brutalem Block befreien konnte und mit voller Wucht auf das Tor zielte, das hinter dem Ravens Torhüter rot aufleuchte. Jeremy schrie und riss den Schläger in die Höhe. Seine Mannschaft feierte und sie zementierten damit den Zorn und der Hass der Ravens auf sein Team, die ihnen den Rest der ersten 45 Minuten die Hölle auf Erden bereiteten. Fahima musste wegen eines verstauchten Knöchels vom Spielfeld geholt werden, für das Williams eine gelbe Karte kassierte. Laila bekam einen Schlag in den Rücken, der sie für Sekunden zu Boden schickte. Rhemann tauschte sie nach und nach alle aus, ersetzte sie durch Trojans, die nicht grün und blau geprügelt waren und doch brachte es nichts. Zur Halbzeit lagen sie mit zwei Punkten im Rückstand. Zwei unverdiente Tore für die brutalten Arschlöcher, fluchte Jeremy stumm, als sie in die Kabine humpelten. ~~**~~ Zu sagen, dass Jeans gesamter Körper schmerzte, war die Untertreibung des Jahres. Die Ravens ließen keine Gelegenheit aus, um sich an ihm zu rächen und ihn mit ihren Checks zu Boden zu prügeln. Jeremy, Fahima, Laila, Alvarez, Logan, Ajeet, Val und Ellie ging es da nicht besser. Cilian hielt sich missgelaunt einen Eisbeutel an sein rechtes Auge, das trotz Helm einen Schlägertreffer abbekommen hatte. Abini und Fahima hatten ihre Knöchel hochgelegt und würden für den Rest des Spiels nicht mehr einsetzbar sein. „Was für Arschlöcher“, grollte Logan und Jean konnte ihm nur beipflichten. Das hatte auch nichts mehr mit der Erziehung durch den Herrn zu tun. Das hier war Tollwut, das war Hass in ein Spiel gepresst. Das hier war Zerstörung, die mit Sport nichts mehr zu tun hatte. Den Ravens fehlte jedwede Disziplin und Finesse, ihr spielerisches Können nur darauf gerichtet, dass sie gewannen und das um jeden Preis. Rhemann kam zu ihnen in die Kabine und musterte sie alle kritisch. „Wie schlimm ist es?“, fragte er in die Runde und es war Jeremy, schweißnass und mit einem beginnenden Hämatom an seinem Kiefergelenk, der grinste, der grimmig nickte. „Eine Halbzeit haben wir überlebt. Die zweite packen wir auch noch.“ Kritisch runzelte ihr Coach die Stirn und schnaufte schließlich. Ihre Teamärztin neben ihm hielt sich mit ihrer Missbilligung ebenfalls nicht zurück und sah streng in die Runde. „Wir werden nicht um jeden Preis gewinnen“, knurrte Rhemann und Alvarez lachte und zuckte zusammen, als sie damit ihre aufgesprungene Lippe belastete. „Und ob wir das Ding jetzt gewinnen werden. Ich werde diese Bastarde in den Staub treten, Coach und ich bin mir sicher, dass Moreau hier auch noch Reserven hat, oder?“ Ernst und entschlossen nickte Jean und Rhemann maß ihn dunkel. „Hast du wirklich noch welche?“ „Ja, Coach.“ „Ich habe das Gefühl, dass sie dich zerfleischen werden, wenn du da nochmal rausgehst.“ Jean spürte das Lächeln auf seinen geschwollenen Lippen mehr, als dass er sich wirklich bewusst dafür entschieden hatte. Er wusste sehr wohl, wie es aussehen mochte, kalt und Ravenslike, gnadenlos, denn genauso fühlte er sich. Es brachte nichts, seiner alten Mannschaft ausschließlich mit den Regeln der Trojans entgegen zu treten. Es gab für ihn nur eine Sprache, die die Ravens verstanden. Die Sprache des Stärkeren. „Hyänen jagen im Rudel um ihre Beute zu zerfleischen. Das da draußen ist aber kein Rudel. Sie haben keine Einheit, sondern lediglich ihre Brutalität. Sollen sie es versuchen, ich…wir haben etwas Anderes. Technik und Teamgeist“, sagte er dunkel und sah in die Runde. Stille folgte seinen Worten und fast machte Jean sich darauf gefasst, das Falsche gesagt zu haben als jemand klatschte. Aus einer Person wurden viele und bald johlte und grölte die ganze Kabine und skandierten lauthals seinen letzten Satz. Rhemann wiederum nickte ihm schweigend zu und berührte ihn langsam und vorsichtig an der Schulter. „Du packst das, Moreau. Du bist stark. Aber wenn es nicht mehr geht, hole ich dich aus dieser Hölle, Sieg hin oder her.“ Für einen Augenblick schwieg Jean. „Danke…Coach“, murmelte er dann und der ältere Mann nickte. „Okay, dann raus mit euch.“ Sie verließen die Kabine und Jean lauschte auf den Pfiff, mit dem die zweite Halbzeit begann. 45 Minuten noch, die sie durchstehen und gewinnen mussten, denn nichts Anderes würde Jean akzeptieren. Sie durften nicht damit durchkommen, nicht mit ihrer bodenlosen Gewalt. Er setzte alles daran, ihnen das Leben zur Hölle zu machen und ihnen jeden einzelnen Ball abzujagen, damit sie nicht zu Ajeet durchkamen. Das wurde ihm mit Hass vergolten und eines ums andere Mal blieb Jean nichts übrig, als die Gewalt unbeantwortet zu lassen. Nicht jedoch jetzt, als Williams mit ihm nach einem Check zu Boden ging und auf ihm lag. Mit einem lüsternen Grinsen starrte er auf Jean hinunter. „Gewöhn dich schonmal dran, Bückstück. Dich kriege ich dann, wenn du es am Wenigsten erwartest und schiebe dir meinen Schwanz bis zum Anschlag in deinen Verräterarsch“, wisperte er leise genug um für die nahestehenden Schiedsrichter unhörbar zu sein und hielt Jean für einen Moment unten und rieb sich an ihm. Ekel wallte in Jean hoch und er bäumte sich auf, warf Williams von sich herunter, kam dabei behände auf eines seiner aufgeschürften Knie. Mit eiskaltem Zorn starrte er den Ravenskapitän an und bleckte die Zähne. „Du wirst niemals Hand an mich legen und wenn doch, dann bereust du jede einzelne Sekunde daran“, grollte er laut genug für diNunzio, der sie nun erreichte und bereits im Laufen die gelbe Karte zog und sie mit einem bestimmenden, schrillen Pfeifen in die Höhe hielt. Und den Kapitän der Ravens damit vom Feld schickte, der bereits in der ersten Halbzeit eine gelbe Karte kassiert hatte. Jean grinste wild in das hasserfüllte Gesicht des widerlichen Arschlochs und drehte sich weg. Er wusste, dass jeder Ersatz nicht derart brutal wäre wie Williams selbst und das nutzte er nun. Er schlug die Ravens in ihrem eigenen Spiel der Arroganz und Demoralisierung. Die Pässe, die er an Jeremy und Ricardo verteilte, waren auf den Punkt genau und über die Bande abgemessen. Jean nutzte jede Lücke, die sich ihm bot, jeden Block, den er durchführen konnte. Er passte zu Elena, um die Ravens auszupowern, Elena wieder zu ihm zurück, und schlussendlich zu ihren Strikern, die die zwei verlorenen Punkte unter Applaus und Getöse der Trojanfans innerhalb von Minuten aufholten. Es schien, als sei damit der Bann gebrochen, denn trotz allen Hasses, der ihnen entgegengebracht wurde, liefen sie sich immer öfter frei, waren immer öfter ohne Deckung und gelangten in gefährliche Nähe des gegnerischen Tores. Sowohl Ricardo als auch Jeremy standen im Abseits, als Ajeet Jean zupasste und er die zehn Schritte, die ihm zur Verfügung standen, beinahe bereits ausgereizt hatte. Sorgfältig balancierte Jean den Ball in seinem flacheren Netz und verschaffte sich in Sekundenbruchteilen einen Überblick über die Lage. Er blieb stehen, drehte sich zur Seite und deutete an, wieder über die Bande zu spielen, worauf sowohl die Ravensabwehr als auch der Torhüter reagierten. Doch Jean täuschte den Schuss nur an und änderte im letzten Moment den Bewegungswinkel. Die Lücke, die er nutzen konnte, befand sich direkt vor ihm und schenkte ihm nun freie Bahn, als er den Ball direkt in Richtung Tor schickte, in einem Akt der rohen Kraft und Gewalt, befeuert durch beinahe in Jahrzehnt an Gewalt und Folter, an Erniedrigung und Wegschauen. Sie wurde befeuert durch seinen Hass auf jeden einzelnen Raven und jede einzelne Sekunde Angst, die er jemals in Anwesenheit des Teams gehabt hatte. Er schrie all das hinaus, was sich mit diesem Wurf löste und mit dem Ball brutal gegen die Torwand der Ravens donnerte. Es leuchtete rot auf und das ganze Stadion war für einen Moment in absolutes Schweigen getaucht. Das umso tosenderem Applaus und frenetischem Geschrei wich. Über das Spielfeld hinweg suchte er den Blick seines Kapitäns, der wild mit dem Kopf nickte und die Arme in die Höhe riss. Er jubelte ihm zu, ebenso wie der Rest des Teams und es war ein wunderbares Gefühl. Es berauschendes Gefühl der Wiedergutmachung mit sich selbst. Der Rache an den Ravens. Als der Schiedsrichter schließlich zum Weiterspielen pfiff, war kein Halten mehr. Sie ließen die verbliebenen Ravens keinen Zentimeter mehr an Boden gewinnen, im Gegenteil. Stück für Stück eroberten sie das komplette Feld und dominierten das Spiel. Sie gaben den Takt vor, das Spiel, die Tore, sie zerstörten mit Teamgeist und Fairness den dunklen Nexus der gegnerischen Mannschaft und damit auch Jeans Angst vor ihnen. Und vor Evermore. Ja, das hier war ein Krieg. Es war eine Schlacht und diese Schlacht war schon gewonnen noch bevor sie offiziell beendet war. Als der Abpfiff erklang, führten sie mit vier Punkten. Vier vollen Punkten. Erst jetzt wurde sich Jean bewusst, dass er eine volle Hälfte gespielt hatte und dass der Coach ihn nicht ausgewechselt hatte, in dem Wissen, dass er es gebraucht hatte. Jean keuchte, atmete schwer und erst jetzt kam er dazu, sein dahinfliegendes Herz zu bemerken, seinen über und über schmerzenden Körper, seine schreienden Muskeln. Er stand als Sieger auf dem Feld, das er als halbtotes Opfer verlassen hatte. Blinzelnd sah er sich um und hörte den Jubel. Er sah den Applaus und die von ihren Sitzen springenden Fans der Trojans. Er sah seine Mannschaft, wie sie jubelten und schrien. Er sah die Foxes, die es seiner Mannschaft gleichtaten und nichts, aber auch gar nichts, was er sah, konnte an das heranreichen, war er in sich fühlte. Den Triumph. Die Freude. Die Ekstase. Die Erleichterung. Und dennoch war er eins mit seiner Mannschaft und den Menschen, die ihn die letzten Monate vor dem Tod bewahrt hatten. Er war eins mit den fröhlichen Menschen aus Los Angeles, mit der Sonnenscheinmannschaft, die so chaotisch gewesen war in ihrer Art zu trainieren. Die ihn so überschüttet hatten mit Freundlichkeit und Freundschaft, obwohl er ein Fremdkörper gewesen war. War, denn jetzt gehörte er zu ihnen, er war ein Teil von ihnen. Er war ein Trojan, mit Leib und Seele. Jean sah sich um und würde mit einem Mal hochgehoben. Mehr erstaunt als ängstlich starrte er auf diejenige hinunter, die das vollbrachte und blickte in Valentines grinsendes Gesicht, das ihn anstrahlte. Dreimal wurde er herumgewirbelt, bevor sie ihn absetzte und er inmitten seiner feiernden und lachenden und weinenden Mannschaft stand, durchmischt mit den Foxes, die mit ihrem Trainer auf das Feld gelaufen waren und ihren Sieg feierten, der Jean noch nie so süß vorgekommen war. Kein einziger Sieg mit den Ravens war so gewesen, so berauschend und elektrisierend. Jeremy hatte sich den Helm bereits vom Kopf gerissen und Jean tat es ihm nun gleich, löste seinen Mundschutz wie auch seinen schweißgebadeten Schopf von dem Polster des Schutzes und starrte seinem Kapitän in die Augen, der unweit von ihm stand und wartete. Es bedurfte nur eines minimalen Nickens und Jeremy sprintete auf ihn zu und zog ihn in eine enge, glückliche, leidenschaftliche Umarmung. Jean verspürte ein überschäumendes Kribbeln in seinem Magen, das, wie er nun erkannte, viel mehr war als das, was er bisher zu fühlen vermochte. Es war keine Leidenschaft, sondern viel mehr. Viel, viel mehr. Es war das, was Jean niemals zuvor in dieser Intensität gefühlt hatte, was aber schon seit längerer Zeit dagewesen war. Sachte, unterschwellig, nun ein Sturm an Emotionen, der ihn komplett erfüllte. Er hatte ein Wort dafür, wagte aber noch nicht, es zu denken und sich damit eindeutig und endgültig einzugestehen, was es war. So schloss er seinen Kapitän lediglich fest und unnachgiebig in seine Arme und sog dessen Präsenz in sich auf wie die Luft, die er zum Atmen brauchte. „Du hast es geschafft, Jean Moreau, du hast es wirklich geschafft“, murmelte Jeremy und Stolz erfüllte Jean. „Wir haben es geschafft“, erwiderte er und löste sich gerade soweit von Jeremy, dass er ihm in die Augen sehen konnte. „Du hast mich hierhin gebracht, du und dieses verdammte Team“, murrte er liebevoll und Jeremy lachte schallend. „Gern geschehen!“ Jean schnaubte amüsiert und sein Blick fiel auf Day, der unweit von ihm stand und in dessen Augen Stolz stand. Viel zu viel Stolz, als dass es Jean unberührt ließ. Wieviel entspannender war es da, in Andrews neutrales Gesicht zu schauen, das dem ganzen Treiben wenig erfreut zusah. Oder Neil, in dessen Augen Genugtuung und Schadenfreude in Richtung Ravens, aber auch Freude und Stolz in Richtung Trojans stand. Jeremy drehte sich in seinen Armen um und warf Jean einen fragenden Blick zu. Jean seufzte, nickte und Jeremy verstand ebenso nonverbal. Sacht löste er sich von Jean und war mit einem Satz bei Kevin, den er ohne viel Federlesens ansprang, schweißgebadet, wie er war. „Siehst du, siehst du, SIEHST DU! Wir haben es geschafft, die Trojans haben es geschafft, wir haben sie gepackt! Endlich!“, sagte er laut genug für den Rest des Teams und Kevin umarmte ihn so leidenschaftlich und eng, dass sich ein Stich an etwas, das Jean mittlerweile als Eifersucht klassifizieren konnte, in seiner Brust ausbreitete. Das Schlimme war…er wusste gerade nicht, auf wen. „Ja, das habt ihr und euer Spiel war großartig. Präzise Pässe, ein harmonisches Team, kluge Spielideen und Disziplin, wie ich sie in meiner eigenen Mannschaft schmerzlich vermisse. Allerdings hättet ihr…“ Bevor Day weitersprechen konnte, hielt Jeremy ihm mit einem tadelnden Laut den Mund zu. „Ruhe. Nicht jetzt, Kevin Day. Später darf die Kritik kommen.“ Das, was sonst für Empörung oder arrogante Zurückweisung gesorgt hätte, führte nun dazu, dass Day errötete. Jean rollte mit den Augen. Die Beiden… Day löste Jeremy von sich und setzte ihn vorsichtig ab. Vorsichtig kam er zu ihm, gerade so als würde er ein Minenfeld betreten. Jean hielt ebenso achtsam inne und stumm musterten sie sich. „Du warst sehr gut. Unaufhaltsam, technisch ausgereift, in Hochform. Dein Spiel war erstklassig“, sagte Day schließlich und Jean zögerte. Ein euphorisches, verräterisches Lächeln wollte seine Lippen nach oben ziehen, doch er kämpfte dagegen an, auch wenn der Widerstand gegen Day noch mehr bröckelte als gestern Abend. „Danke“, erwiderte er neutral und krampfte seine Hand um den Schläger, auf den er sich mehr stützen musste, als er es wirklich zugeben wollte. „Du hast es geschafft und bist gegen sie angetreten, selbst nachdem…“ Day schluckte und Jean schnaubte leise. „Was wollten sie denn noch mehr tun als das, was sie damals schon getan haben? Ein Video davon zu sehen… macht es das Geschehene schlimmer? Nein.“ „Du bist stark, Jean. Du bist hierhin gefahren, an diesen Ort. Du hast sie in ihrem eigenen Spiel besiegt und dich nicht unterkriegen lassen.“ Vorsichtig streckte Day seine vormals gebrochene Hand nach ihm aus und sie schwebte wie ein Friedensangebot unkommentiert zwischen ihnen. Jean wusste, dass er jederzeit gehen und damit eben jenes Angebot ausschlagen konnte. Er ahnte, dass es vielleicht das Richtige war, wenn er nicht noch einmal enttäuscht werden wollte, doch die unvernünftige Seite in ihm, die auch schon Neil nicht zurückgewiesen hatte, sagte da etwas Anderes zu. Zögernd und auf der Hut schlug Jean ein und einen kurzen Moment lang berührten sie sich, der Händedruck fest und versichernd, sich fest in die Augen schauend. Die Welt schrumpfte sich auf sie beide zusammen, nichts war für einen Moment mehr wichtig in ihrem nonverbalen Umgang mit der Vergangenheit. Dann holte zumindest Jean ein leise quietschendes Geräusch aus ihrer Blase und er sah in die zwillingshaft grinsenden Gesichter Neils und Jeremys, die sie beide musterten. Jean hob die Augenbraue und löste sich entschlossen von Day, der ebenfalls einen Schritt zurücktrat. Die offensichtliche Enttäuschung darüber geschah den Beiden recht und Jean wandte sich zu Andrew, der ihn mit einem lakonischen Augenrollen begrüßte. „Junkies“, sagte er und Jean stimmte ihm nickend zu. „Danke“, sagte er schlicht und meinte damit alles, was der andere Junge jemals für ihn getan hatte, obwohl er es nicht hatte tun müssen. Für alles, was ihn am Leben gehalten hatte. Jean lächelte und Andrew wandte sich mit einem Grollen ab. Natürlich. Jean ließ dem anderen Jungen den Moment seiner eigenen Emotionalität und sah zu Renee, die still in all diesem Trubel stand. Sie maß ihn und er sah Stolz in ihren Augen. „Du hast es geschafft“, sagte sie ruhig und Jean nickte. „Dank dir.“ Sie kam zu ihm und hauchte sacht einen Kuss auf seine Wange. „Wärest du nicht so stark gewesen, dann hätte ich keinen Erfolg gehabt“, zwinkerte sie und gemeinsam genossen sie einen Moment der Erinnerungen und des Verstehens. Einen Moment all dessen, was passiert war. Der Lärm ihrer Zuschauertribüne, die sie immer noch frenetisch feierte und deren rechte Seite ein Lied anstimmte, das Jean nur zu bekannt vorkam, forderte schlussendlich seine Aufmerksamkeit. Blinzelnd hörte er zu und erstaunt weiteten sich seine Augen, als er begriff, was sie sangen und welches Lied ihre Stimmen nach und nach durch das ganze Stadion trieben. Wie von selbst setzte er sich in Bewegung in ging an den Rand der Absperrung, sah mit großen Augen zur Tribüne hoch, in der sie das Lied sagen, was Fahima und Logan auch schon schief gesungen hatten. Das Lied über Stärke, über nicht gebrochen werden, über Krieger, darüber, dass niemand Angst davor haben musste, gesehen zu werden und dass jeder, egal ob geschlagen oder missbraucht, er selbst war und Liebe verdiente. Als Jeans Augen auf Favio zum Ruhen kamen, zwinkerte dieser und winkte ihm knapp zu, im stummen Verständnis, was es für Jean bedeutete, dieses Lied hier und jetzt zu hören. Jean nickte zurück und hob seinen Schläger, in eben jener kriegerischen Sicherheit, die dieses Lied in ihm erweckte. Er löste damit Jubel aus, der ihn im ersten Moment erschreckte. Jubel, der sich auf ihn richtete. Jubel, der von allen Seiten kam, von vorne und von hinten, wo sich klatschend sein Team näherte und sich neben ihn stellte. Sie alle wurden schließlich gefeiert, besungen, motiviert und Jean spürte ein solch überschäumendes Glücksgefühl, dass es ihm schier schwerfiel zu atmen. Jetzt, in diesem Moment, wusste er, dass es sich gelohnt hatte, zu überleben und dass es sich immer wieder lohnen würde, weiter zu leben. ~~**~~ „Mr. Moreau, Mr. Moreau, Frage zu Ihrem Spiel am heutigen Tag! Wie war es für Sie, gegen Ihre alte Mannschaft anzutreten?“ Jean richtete seinen vielmals praktizierten, ausdruckslosen Blick in Richtung des Reporters, der die unsinnige Frage gestellt hatte. Natürlich war es von ihm erwünscht, dass er an der Pressekonferenz teilnahm. Er…der die Mannschaft gewechselt hatte. Der nun gegen seine alte Mannschaft gewonnen hatte. Als wäre es nur sein Verdienst gewesen. „Gut, wir haben schließlich gewonnen“, erwiderte er mit bitterernstem Gesicht und neben ihm schnaubte Rhemann amüsiert. Jeremy lächelte unterdessen sein professionelles Lächeln und ließ sich nichts anmerken. Unter dem Tisch jedoch presste sein Knie sich versichernd gegen Jeans, was dank des großen Werbeplakates durch die anwesenden Presseleute nicht gesehen wurde. „Wie ist es für Sie, auf der anderen Seite dieser spielerischen Naturgewalt zu stehen?“ Nein, die vorherige Frage war nicht dumm. Diese hier war dumm. „Mein Team hat in diesem Spiel seinen Sportsgeist bewahrt und sich der Herausforderung der spielerischen Eigenheiten der Ravens gestellt“, erwiderte er neutral, doch mit einem warnenden Unterton. Die Ravens waren eine Naturgewalt gewesen…zerstörerisch und ohne Gewissen. Ohne Ordnung. Ein Abklatsch ihrer Kunstfertigkeit und Jean glaubte nicht, dass sie noch einmal ein Bein auf den Boden bekommen würden. „Eigenheiten wie zum Beispiel das Video noch vor Beginn des Spiels, das von noch Unbekannten in das System des Spielfeldes geschleust wurde?“ Wo Jeans Gesicht vorher neutral gewesen war, wurde es nun von Sekunde zu Sekunde dunkler. Er schwieg beharrlich und starrte dem Reporter in das erwartungsvolle Gesicht. Anscheinend schwang noch eine andere Frage mit, die er bisher nicht gehört hatte. „Ist es echt?“, elaborierte der Mann mit eindeutigem Interesse. Jean blinzelte. Was für eine ekelhafte, direkte Frage. Was für eine widerliche, sensationsgierige Frage. Einen Moment lang erwog Jean, sie ehrlich zu beantworten. Er war versucht zu sagen, dass er vergewaltigt worden war. Dass dies die dritte von fünf Vergewaltigungen in seinem Leben war, die sein sadistischer, verstorbener Kapitän befohlen hatte, um Days Schwärmerei von Jeremy zu bestrafen. Er war versucht, den Namen zu nennen und ihnen allen hier zu sagen, wie widerlich ihre Fragen waren. „Ich weiß nicht, welche Bedeutung diese Frage für das vergangene Spiel haben sollte“, knurrte Rhemann und Jean war versucht, es dabei zu belassen. Es wäre besser, würde weniger Aufruhr erzeugen. Dennoch öffneten sich seine Lippen und sprachen Gedanken aus, die er noch nicht einmal vorformuliert hatte. „Dieses Video zeigt den mangelnden Sportsgeist, der in der letzten Saison bereits zu schlimmen Situationen geführt hat. Ich bin mir sicher, dass sowohl der Verband eine solche Beschmutzung unseres Sportes nicht unbeantwortet lassen wird“, sagte er und lächelte kalt. Jean bezweifelte, dass die Moriyamas einen solchen Faux-pas durchgehen lassen würden. Nicht, nachdem der neue Lord soviel Wert auf bigotte Ehre legte. Wie Rhemann es ihm nach ihrem Spiel erzählt hatte, setzte der Verband bereits Himmel und Hölle in Bewegung, um es aus allen Kanälen zu entfernen und rechtliche Schritte gegen den Ersteller des Videos einzuleiten. Jean hoffte, dass es keine Kreise zog, doch er wusste gleichzeitig auch, wie unendlich groß das Internet war. Er hoffte nur, dass sein Vater und Louis es nicht zu sehen bekamen und dachte an die Videonachricht, die er von beiden vor seinem Spiel bekommen hatte. In der sie ihm Glück und Erfolg gewünscht und geschrieben hatten, dass sie jede einzelne Minute des Spiels verfolgen würden, obwohl sie nicht bei ihm sein konnten. Jean dachte daran, was es in Louis und seinem Vater auslösen würde, das zu sehen. Er dachte an Jeremys Erschütterung auf dem Spielfeld und er wünschte den Ravens jeden Ärger, den sie bekommen würden. Jede unbarmherzige Strafe, die sie erhalten würden. ~~**~~ Jean ließ das warme Wasser der Hoteldusche über seine schmerzenden Gliedmaßen laufen und wagte es, für einen Moment die Augen zu schließen. Sie waren wieder in ihrem Hotel in Huntington und die Entfernung zu Evermore war weit genug, dass Jean sich in Ansätzen sicher fühlte. Sicher genug, um seinen Körper zu entspannen und seine Gedanken durch sein Hirn ziehen zu lassen. Das Spiel ließ ihn noch nicht los, nichts davon. Und nun, wo eiskalte Wut und Euphorie verschwunden waren, wurde ihm bewusst, wie perfide die Demütigung war, die das Video in ihm ausgelöst hatte. Jeder hatte gesehen, wie er vergewaltigt wurde. Jeder in diesem Stadion hatte ihn gesehen, wie er auf seinen Knien vergewaltigt wurde, nur mit dem Shirt seines jetzigen Kapitäns bekleidet. Dessen nicht genug, hatten sie Jeremys Gesicht über das von Griffiths gelegt. Wie es für Jeremy sein musste, das zu sehen, konnte Jean sich nicht ausmalen und das machte es gleich noch schlimmer, hatte er nun nicht nur sein Trauma, das die Ravens aus den Untiefen seiner Erinnerung gezerrt hatten, sondern auch Jeremys schlechtes Gewissen, das ihm so deutlich auf dem Spielfeld heute ins Gesicht geschrieben gestanden hatte. Und nur, weil Jean ihm völlig unnötig grausam davon erzählt hatte. Er öffnete die Augen und stellte die Dusche ab. Seufzend trat er heraus und trocknete sich ab. Mit dem Rücken zum Spiegel verharrte er, in sich selbst lauschend. Er…lebte. Er hatte keine gebrochenen Knochen. Bis auf die Brutalität der Ravens hatte er keine Wunden an seinem Körper. Er war entkommen, frei, er sah den Himmel, die untergehende Sonne, nachher würde er die Sterne sehen. Jean zog seine Boxershorts an und erstarrte, als er aus dem Schlafzimmer ein gequältes Aufstöhnen hörte. „Au!“ Alarmiert öffnete Jean die Tür und sah seinen Kapitän in einer seiner engen, schwarzen Unterhosen, die er so gerne trug und die alles Mögliche betonten, wie er sich eines seiner Hämatome mit einer schmerzstillenden Creme einrieb, sich Jeans Anwesenheit noch nicht bewusst. Eines der unzähligen Hämatome, verbesserte Jean sich. Knox sah aus, als wäre er verprügelt worden und war er nicht genau auch das? Die Ravens hatten ihre kollektive Wut an ihm ausgelassen. Mit Sport hatte das nichts mehr zu tun. Jeremy hob den Arm und zuckte vor Schmerz zusammen, als er erneut versuchte, seinen Rücken zu erreichen. „Benötigst du Hilfe?“, fragte Jean und Jeremy fuhr herum und verzog den Mund vor Schmerz ob der Geste. Langsam atmete er aus und nickte dann mit einem schiefen Lächeln. „Wenn du magst, sehr gerne.“ Jean ließ seine Augen über den beinahe nackten Körper des Jungen vor sich streifen und machte eine Bestandsaufnahme der Verletzungen. Er legte seine Hand auf Jeremys und entzog diesem sacht die Creme. „Dreh dich um“, murmelte Jean leise, vertraut und ohne zu zögern gehorchte Jeremy, im vollen Vertrauen darauf, dass er nicht verletzt wurde. Sein Rücken sah schlimm aus und er würde noch Wochen hiernach die Hämatome tragen. So wie nach ihren alten Spielen auch. Jean kamen die Worte von Jeremys Vater in den Sinn, die Warnung, die er erhalten hatte. Er verstand warum. Deutlicher als jemals zuvor. Wie von selbst beugte er sich zu Jeremy hinunter und hauchte einen Kuss auf das warme, geschundene Fleisch, was dem Jungen ein erschrockenes Einatmen entlockte. Abrupt löste Jean sich von Jeremy. „Ich habe dir wehgetan“, sagte er, nicht ganz eine Frage, doch zu seiner Verwirrung schüttelte Jeremy den Kopf. „Nein, es fühlt sich sehr gut an. Ich war nur überrascht.“ Er drehte den Kopf seitlich und warf einen Blick über seine Schulter, der sich sehr tief in Jeans Gefühlswelt bohrte. „Also war es okay?“ „Mehr als das. Es ist schön.“ Jean brummte und widmete sich wieder seiner Aufgabe. Hämatom um Hämatom ging er ab, küsste die weiche, warme, gespannte Haut, bevor er die schmerzstillende Creme auftrug. Mit dem ganzen Rücken verfuhr er so, Zentimeter um Zentimeter Haut erkundete er, während Jeremy ganz still stand, nur leise, zufriedene Geräusche von sich gebend, die den Raum zwischen ihnen füllten. Langsam kam er um Jeremy herum, der ihn mit aufmerksamer Ruhe beobachtete, die Haltung entspannt. Jean schluckte und seine Hand krampfte sich leicht um die Tube. Dies war soviel intimer und für einen Moment lang wusste Jean nicht, ob er das konnte. Doch ein Blick auf den dunklen Schatten an Jeremys Kinn genügte, damit er sicher sein konnte. Ein Blick in das schüchterne Gesicht seines Kapitäns, der soviel mehr war, als es der Titel ihm einflüsterte, reichte. Sacht umfasste er die andere, unversehrte Seite des Kinns und hauchte einen Kuss auf den Knochen der geschundenen, während Jeremys warmer Atem seine Nase streifte. Sacht verstrich er die Creme dort und wanderte dann hinunter zum Schlüsselbein, von dort aus zu den Oberarmen und dem Bauch, die ruhige Atmung seines plötzlich so stummen Gegenübers als Anhaltspunkt für seinen eigenen Herzschlag nutzend, der sich mit jeder Sekunde mehr beruhigte. Jean sah schweigend zu Jeremys Oberschenkeln, die trotz Protektoren grün und blau waren. Im Stehen wäre es ihm nicht möglich, sich um sie und auch die Waden zu kümmern, im Knien aber sehr wohl. Er hielt inne. Riko hatte ihn unzählige Male dazu gezwungen, vor ihm zu knien. Er hatte die Demütigung solange zur Unterdrückung genutzt, bis Jean nichts mehr dabei empfunden hatte, auf die Knie zu gehen. Die Erinnerung daran war jedoch noch da und so zögerte er, es für Knox zu tun. Für Jeremy, verbesserte er sich. Einem Menschen, der so gut war, dass es beinahe schon unwirklich schien. Jeremy würde es niemals ausnutzen, wenn er ihm gegenüber Schwäche oder Schutzlosigkeit zeigte. Und so sank er auf die Knie, wie er es schon hunderte Male getan hatte und musste für einen Augenblick innehalten, als die Erinnerungen zu harsch wurden. Seine Knie schmerzten und ihm wurde bewusst, dass er seine Kniescheiben lange nicht mehr belastet hatte. Zusätzlich zu seinen eigenen, schmerzhaften Hämatomen machte es das zu einer nicht ganz angenehmen Erfahrung, doch Jean wollte zu Ende bringen, was er angefangen hatte. Nicht, dass Jeremy das zuließ. Abrupt zuckte der Junge zusammen und bewegte sich so hastig, dass Jean instinktiv in Erwartung eines Schlages zurückwich. Doch nichts geschah außer dass Jeremy sich mit schmerzerfülltem Gesicht vor ihm niederließ und dessen übereifrige Hände so schnell nach ihm griffen, dass Jean nicht wirklich Zeit zum Reagieren und Realisieren hatte. „Ich fühle mich nicht wohl damit, wenn du vor mir kniest. Das ist…nicht gleichberechtigt. Das ist…es erinnert mich an damals, in der Küche, wo du…“, brabbelte er und Jean hörte über das Rauschen seines schnell schlagenden Herzens aufmerksam zu. Die Antwort beruhigte ihn und gleichzeitig wunderte sie ihn nicht so sehr wie noch vor Monaten. Ein Fortschritt, mochte man meinen. Jean sah auf ihrer beider verbundenen Hände und atmete tief aus. „Für dich mache ich es.“ Nicht gerne, nicht ohne zu zögern, aber er tat es. Doch das fand keine Zustimmung in den blauen Augen seines Kapitäns. „Außerdem komme ich so besser an deine Oberschenkel, Schienbeine und Waden.“ Jeremy verzog kritisch die Lippen und starrte auf seine geschundenen Beine. Kurz huschte sein Blick über Jeans ebenfalls halbnackte Gestalt und über die Narben, die seinen ganzen Körper entstellten. Er zeigte sie Jeremy nicht zum ersten Mal, doch immer wieder war Jean deswegen unsicher. „Die sind nicht so wichtig“, murmelte Jeremy und Jean begriff erst verspätet, dass er nicht die Narben meinte, sondern seine eigenen Verletzungen. „Doch“, grollte Jean. „Sie haben dir wehgetan.“ „Uns allen“, korrigierte Jeremy und seufzte. „Darf ich das auch bei dir machen?“ Jean sah fragend hoch und erkannte, dass Jeremy seine eigenen Hämatome ebenfalls versorgen wollte. Unsicher verharrte er. Das würde Körperkontakt bedeuten. Engeren Körperkontakt als bisher und das, wo er nicht viel Kleidung trug. Er wusste, dass Jeremy das nicht ausnutzen würde und ein bisschen neugierig war er schon, wie es sich anfühlen würde. Jean war sich nicht sicher, ob die Neugier seine Angst überwog, aber er war bereit, das auszuprobieren, stellte er nun mit Überraschung fest. „Okay“, presste er schließlich hervor und verharrte in Erwartung von Jeremys nächsten Handlungen, die zunächst daraus bestanden, seine Hände mit zwei hauchzarten Küssen zu versehen. „Nur wenn du möchtest.“ Jean nickte schweigend und nach einem weiteren, prüfenden Blick löste sich Jeremy sanft von ihm. Er griff zu der Tube und Jean ließ sie ohne Protest gehen, die Augen aufmerksam auf den blonden Jungen gerichtet. „Darf ich auch küssen?“ Beinahe schon kindlich mutete die Frage an, auch wenn sie versichernde Zuversicht in Jean kreierte. „Ja.“ Jeremy nickte und beugte sich zu ihm. Langsam und jederzeit nachvollziehbar näherte er sich Jean und hauchte ihm einen Kuss auf das Schlüsselbein, das, so wusste er, blau und grün geschlagen war. Jean hielt den Atem an, weil es sich so anders als alles andere anfühlte, was er je in seinem Leben hatte fühlen dürfen. „Okay?“, hakte Jeremy nach und Jean nickte mit großen, runden Augen. Sehr okay. Das Lächeln des blonden Jungen vor ihm war ihm Labsal, als er sich auf jede andere Berührung einließ, den Eindrücken und Emotionen hilflos ausgeliefert, die Jeremy in ihm hervorrief, während er sich um jedes Hämatom kümmerte. Als er mit seiner Vorderseite fertig war, nutzte Jean die Gelegenheit und zog ihn behutsam in seine Arme, presste den nackten Körper seines Kapitäns eng und vorsichtig an seinen eigenen. Es war etwas umständlich, wie sie hier saßen, doch als Jeremy sich aus seiner überraschten Starre löste und sich in seine Umarmung schmiegte, spürte Jean das, was bisher nur in der Luft zwischen ihnen beiden gehangen hatte. Haut an Haut. Pure, reine Intimität, körperlich und geistig. Willkommen und freiwillig. Jean schloss seine Augen und sog Jeremys Geruch ein, die sonderbare, aber dennoch bekannte und beruhigende Mischung aus seinem Duschgel, dem klinischen Geruch der Salbe und seinem Shampoo. Er erkannte, dass er das öfter wollte… diese Nähe. Dieses Beisammensein. Diese Intimität. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)