Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 60: Die Folgen der Stille --------------------------------- „Coach?“ Der größere Mann neben ihm brummte fragend und Jean rückte sich etwas an der Tür zurecht, an der er lehnte. Er traute es sich nicht, sich richtig in den Beifahrersitz zu setzen, da er seinem Coach dann zu nahe gewesen wäre und selbst diese paar Zentimeter wichtig waren, damit er sich nicht bedroht fühlte. Zumindest nicht ganz so bedroht. Rhemann hatte es mit einem kurzen Blick zur Kenntnis genommen und sich auf der Fahrt nach Hause Mühe gegeben, Jean nicht durch schnelle, hastige Bewegungen oder Flüche zu verschrecken. Letzteres gelang ihm nur bedingt, weil er, wie Jean zu einem ersten Schrecken festgestellt hatte, ein grundsätzlich wütender Autofahrer war, der alles und jeden verfluchte. Zu langsam, zu schnell, zu weit rechts, zu weit links. Grundsätzlich im Weg. Als Jean das erste Mal in Erwartung eines Schlages zusammengezuckt war, hatte er seine Lautstärke und seine Flüche etwas gemindert. Nichtsdestotrotz blieben sie und Jean lauschte den kreativen Beleidigungen, merkte sich ein paar für die Zeit, wo er seinen eigenen Wagen fahren würde. Jean spielte mit den viel zu großen Ärmeln der Jacke, in der er steckte. In die Rhemann ihn gesteckt hatte, als das Zittern nicht mehr aufgehört hatte. Die warme Heizung blies ihm zusätzlich dazu ins Gesicht und langsam wurde ihm tatsächlich warm und sein Körper kam zur Ruhe. Von seinem Herzen konnte er das nicht sagen und er atmete tief aus. „Ich bin wütend“, sagte er in die entstandene Stille. „Und ich bin enttäuscht. Von ihm. Ich möchte ihm vertrauen, aber…“ Er stockte. „Was mache ich, wenn ich ihm gleich gegenüberstehe?“ Rhemann brummte und schwieg für eine Weile. Dass er auf der Frage herumdachte, sah Jean und deswegen erkannte er auch den Moment, in dem sein Coach eine Lösung fand. „Dann redest du. Und er auch. Ihr redet miteinander über das, was passiert ist und findet eine Lösung für euer zukünftiges Zusammensein. Offen und ehrlich.“ Jean dachte darauf herum und runzelte schließlich die Stirn. „Ist das so einfach?“ „Naja, einfach sicherlich nicht. Das erfordert viel Ehrlichkeit von seiner Seite und viel Vertrauen von deiner.“ Als Jean unsicher schwieg, schnaufte Rhemann. „Ihr Beiden mögt euch, ihr seid unzertrennlich, das sehe ich. Die Frage, die du dir deswegen vielleicht auch stellen solltest, ist, ob du ihn wirklich für diese Dummheit aus deinem Leben ausschließen möchtest.“ Die Möglichkeit als solche erschreckte Jean mehr als er bis gerade eben geahnt hatte. Wollte er, dass der blonde Junge, den er so sehr zu schätzen gelernt hatte, nicht mehr in seinem Leben war? Nein, das sicherlich nicht. Aber… Ja, das Aber war es, was ihm das Denken erschwerte. Anscheinend erreichten sie Rhemanns Haus, denn anders konnte Jean sich die Einfahrt, in der sie hielten, nicht erklären, in der bereits Knox‘ Wagen stand. Überrascht sah er an der Fassade hoch und staunte nicht schlecht ob der schieren Größe des Ganzen. Es war vollkommen anders als das Haus der Knoxes oder das Haus der Krankenschwester. Größer, luxuriöser. „Ja, man verdient schon genug als Trainer einer Collegemannschaft, insbesondere dann, wenn die bessere Hälfte bei einer der größeren Kanzleien in L.A. arbeitet“, sagte Rhemann, als er anscheinend seinen Blick bemerkt hatte und Jean räusperte sich. Ausgiebig schaute er sich den Vorgarten an. „Es ist ein schönes Haus.“ Der ältere Mann hob seine Augenbrauen. „Das Dach ist schön.“ Rhemann räusperte sich vernehmlich. „Komplimentierst du als nächstes die Büsche um Zeit zu schinden, Junge?“, brummte er lakonisch und Jean zuckte ertappt zusammen. Verdächtige Wärme kroch über seine Wangen und er presste die Lippen aufeinander. Rhemann zwinkerte nachsichtig. „Er beißt nicht.“ Unglücklich schwieg Jean. Das wusste er und das war nicht das Problem. Ganz und gar nicht. Aber er wusste nicht, wie er selbst reagieren würde. Würde er wieder wütend werden? Wie würde es jetzt zwischen ihnen sein? „Ich weiß nicht, wie es werden wird“, veräußerte er seine Gedanken und Rhemann lächelte. „Das weiß man nie, bis man es ausprobiert hat.“ Jean bezweifelte, dass das eine gute Lebensweisheit war und atmete tief aus. „Wollen wir?“, fragte Rhemann und musterte ihn abwartend. Wieder war die Wahl seine eigene und er wurde nicht gezwungen und wieder war er schwerer als wenn Jean einfach nur Befehlen folgen würde. Wer hätte gedacht, dass die Bandbreite von Emotionen so erheblich war? Anstelle einer Antwort schnallte er sich ab und öffnete die Tür. Es war noch früh am Morgen und das Haus schien noch zu schlafen, so wie Los Angeles noch zu schlafen schien. Jean zog die Jacke seines Coaches enger um sich, als er mit einem Mal fröstelte. „Willst du erst einmal duschen?“, fragte Rhemann und Jean schüttelte nach einem Moment des Überlegens den Kopf. Er fühlte sich zwar dreckig und durchgefroren, aber er konnte sich im Haus seines Coaches nicht ausziehen. Alleine die Vorstellung, dass er in dem Haus seines Trainers nackt war, verursachte ihm eine Gänsehaut des Unwohlseins. „Alles klar, dann auf in die Höhle des Löwen.“ Zögernd folgte Jean seinem Coach und trat vorsichtig über die Schwelle des Hauses. Er hielt sich länger als nötig damit auf, sich seine Schuhe von den eisigen Füßen zu streifen und kam dann zu dem älteren Mann, der mit verschränkten Armen im Türdurchgang stand. Er folgte der Blickrichtung und sah, wie Knox in dem ausladenden Wohnzimmer auf der Couch lag, Eva fest in dem Griff seiner Hand vor sich gepresst. Sein Kapitän selbst schlief tief und fest, seinen Hoodie bespeichelnd. Auch wenn er wusste, dass er das Gespräch nur aufschob und Knox nicht eine Ewigkeit lang schlafen würde, so war Jean doch ausgesprochen erleichtert. Rhemann schnaufte. „Komm, zeig mir, wie man richtigen Kaffee macht. Vielleicht ist die Couchkartoffel bis dahin wach. Ach ja…und hier.“ Ohne Umschweife warf Rhemann ihm mit vielsagend erhobener Augenbraue sein Handy zu, was Jean ungelenk auffing und in die Tasche der Jacke steckte. Schweigend folgte er dem anderen Mann in die ebenso luxuriöse wie ausladende Küche. ~~**~~ Jeremy wurde mit Kopfschmerzen und einem trockenen Mund wach, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, während seines angespannten Wartens auf eine Rückmeldung ihres Coaches überhaupt eingeschlafen zu sein. Aber anscheinend war dem so und er fand sich nun auf der bequemen und ausladenden Couch wieder. Es war Tag, allerdings wohl noch früh am Morgen und aus der Küche drangen Geräusche zu ihm, die darauf schließen ließen, dass Mrs. Rhemann bereits aufgestanden war. Ächzend setzte Jeremy sich auf und stellte Eva sacht beiseite. Er rieb sich über die eingeschlafenen Arme und ließ seine Gedanken zum fürchterlichen, letzten Tag und er vergangenen Nacht gleiten. Jean war verschwunden und Jeremy hatte vor Panik nicht mehr klar denken können, in der Annahme, dass Jean in seiner Angst verschwunden war und sich etwas angetan hatte. Dass ihr Coach den Chef des LAPD kannte, hatte die Sache marginal besser gemacht, aber es hatte ihm Hoffnung gegeben. Schreckliche Hoffnung auf eine schnelle Nachricht. Und tatsächlich. Die Suche per Kamera war erfolgreich gewesen und Rhemann war schließlich aufgebrochen. Auf dem Weg dorthin hatte er Jeremy auf dem Laufenden gehalten und die Nachricht, dass er Jean gefunden hatte, hatte Jeremy wieder atmen lassen. Er erhob sich und steckte Eva in die Kapuze seines Hoodies. Er hatte sie mitgenommen, denn schließlich hatte sie Jean schon einmal davon abgebracht, sich umzubringen. Ein Glücksbringer wie auch eine Möglichkeit miteinander zu kommunzieren. Langsam ging er durch das Wohnzimmer und blieb am Durchgang zur Küche stehen, als er sah, dass es nicht Mrs. Rhemann war, die in der Küche werkelte, sondern sein Coach und Jean, dick eingepackt in Rhemanns Lieblingsjacke. Erleichterung durchflutete Jeremy und seine Sicht verschwamm. Jean war da. Er war hier. Er hatte sich bereiterklärt, hierhin zu kommen. Er war am Leben. Am Leben. Er hatte sich nicht umgebracht oder war für immer weggelaufen. „Sieben Löffel Kaffee also?“, fragte ihr Coach und Jean nickte stumm. „Gut, irgendwie dachte ich, da gehören fünfzehn rein.“ „Das ist viel“, erwiderte der andere Junge leise und Jeremy hörte deutlich das zuviel aus seinen Worten heraus, ohne, dass Jean auch nur einen Ton darüber verlor. Rhemann lachte gutmütig und schob seine Hände in die Hosentaschen seiner verwaschenen Jeans. „Also war er furchtbar?“, fragte Rhemann offensichtlich augenzwinkernd und Jean zog seine Schultern hoch. „Nein, das nicht.“ „Nur untrinkbar also?“ Der Moment, in dem Jean erkannte, dass Rhemann ihn aufzog, und seine Lippen sich für den Bruchteil einer Minute unwillig verzogen, war für Jeremy ein wunderbarer Moment. Er gab einen Laut von sich, der ihm sowohl Rhemanns als auch Jeans Aufmerksamkeit einbrachte. Jeremy erstarrte und hielt den Atem an, als Jeans Augen ihn ein paar Sekunden sezierten, bevor der andere Junge sich abrupt wegdrehte. Rhemann hob die Augenbraue und nickte. „Ich lass‘ euch beiden dann mal alleine, Jungs.“ Jean sah auf, als wolle er ihren Coach davon abhalten und wenn Jeremy sich die zuckenden Finger ansah, dann wurde dieser Verdacht noch bestärkt. Beinahe schon hilflos sah er Rhemann hinterher, wie er mit einem Winken die Treppe in die erste Etage nahm. Jeremy sah genau die Anspannung, die sich Jeans Nacken hochfraß, während er sich wieder zur Anrichte drehte und anscheinend darauf wartete, dass die Kaffeemaschine fertig wurde. Da sie noch nicht einmal einen Tropfen Kaffee in die Glaskanne gespuckt hatte, würde das eine lange Zeit sein. Jeremy schluckte und kämpfte mit seinen Worten. Er schob seine Hände in die Ärmel seines Hoodies und sah von Jean zur Anrichte und von dort aus irgendwohin in dieser viel zu aufgeräumten Küche, aus dem Fenster in die Weite hinein. Er sah Vögel in den Bäumen, die ihm als Ablenkung dienten, bevor er sich dem Unvermeidlichen stellte: seiner Schuld, die zwischen ihnen stand wie eine unüberwindliche Mauer aus Schweigen. Jean ignorierte ihn ohne ihn zu ignorieren, so absurd es auch klang. Jean war sich bewusst, dass er hier war und er schenkte ihm doch keine Aufmerksamkeit. Aus Zorn oder gar Hass? Wieviel hatte er mit seinem Schweigen zerstört, was Jean erst zart zu ihm aufgebaut hatte? Als die Stille zum Zerreißen gespannt war, räusperte Jeremy sich verzweifelt und nahm Eva aus seiner Kapuze, schließlich war sie schon immer eine Verbindung gewesen. Er trat einen Schritt nach vorne, die Hand mit ihr zögerlich ausgestreckt, ein Geschenk, ein Friedensangebot. „Jean“, wisperte er und der andere Junge zuckte so gewaltig zusammen, dass Jeremy es beinahe schon körperlich spürte. „Bitte sieh mich an.“ Jede Sekunde, die verstrich, hatte Jeremy das Gefühl, es weniger zu verdienen, dass Jean ihn ansah, ihn und dann – mit Ablehnung - Eva. Jede Sekunde Stille war ein Gramm Schuld, das sich weiter und weiter aufhäufte. Jeremy schluckte und stellte sie vorsichtig auf die Küchenanrichte, als er merkte, dass der andere Junge sie nicht nehmen würde. „Jean, bitte. Sag irgendetwas. Mach irgendetwas. Schrei mich an, seit wütend, enttäuscht, zornig. Sag mir, dass ich ein Idiot war…“ Jeremy verstummte und sackte in sich zusammen, als immer noch keine Reaktion kam. Umso größer war aber der Schock, als Jean zu ihm herumfuhr, die grauen Augen hell vor Wut, die Fäuste so angespannt als würde er ihn schlagen wollen. Er öffnete die Lippen, um etwas zu sagen und klappte sie nutzlos wieder zu. In seinem Gesicht arbeitete es, ausdrucksstark wie selten zuvor. Jeremy hob an, etwas zu sagen und Jean gab einen beinahe unmenschlichen Laut von sich. „Du hast mich angelogen“, presste er hervor, der erste Satz von vielen schmerzhaften. Der Anfang von etwas, das Jeremy nicht vorhersehen konnte. „Du hast mir verschwiegen, über Wochen, dass wir dort spielen. Du hast es gewusst und mich im Dunkeln gelassen.“ Jean hielt inne und Jeremy senkte den Kopf. Schuld dominierte seine Gefühlswelt, erdrückende, schwere Schuld, die ihm die Fähigkeit zum Sprechen nahm. Das war schon ironisch, denn jetzt, wo er jede Möglichkeit und jede Pflicht hatte zu sprechen, konnte er es nicht. Er, der immer zuviel sagte. „Du hast mich als nicht gleichwertig angesehen, als schwach und zu traumatisiert um mit der Wahrheit fertig zu werden. Du hast für mich entschieden, was meine Realität ist und mich kontrolliert. Mich und meine Gefühle. So wie…“ Jean stockte und er musste auch nicht weitersprechen. So wie Riko. Wie sein verstorbener Kapitän. Er hatte sich wie Riko verhalten. Je mehr er darüber nachdachte, desto verzweifelter wurde Jeremy. Das hatte er alles nicht so gewollt. Er hatte doch nur gewollt, dass es Jean nicht schlecht ging. Seine Absichten waren nicht schlecht gewesen und doch war er der schlechteste Mensch, den es gab. Stimmte es, was Jean sagte? Dass er ihn als schwach wahrgenommen hatte? Niemals, würde Jeremy sofort sagen. Niemals sah er Jean als schwach an. Aber was war mit seinem Unterbewusstsein? Seit Jean hier war, hatte er sich dem Schutz des anderen Jungen verschrieben. Er hatte sich Jeans Glück verschrieben, so sehr, dass er außer Acht gelassen hatte, dem anderen Jungen zuzugestehen, auch unglücklich zu sein. Er war bevormundend gewesen und fürchterlich. Er hatte Jean hintergangen, obwohl dieser ihm mit seinem Körper vertraut hatte. Nachdem was sein verstorbener Kapitän ihm angetan hatte, ein unglaublicher Vertrauensbeweis, den Jeremy mit Füßen getreten hatte, kurz nachdem sie sich geküsst hatten. Jeremy traute sich nicht, hochzusehen und den Zorn und den Hass in Jeans Augen zu sehen, so berechtigt beides auch war. „Meine Eltern…“, begann Jean und seine Stimme brach. Jeremys Kopf schoss hoch und er begegnete Schmerz in Reinform. Purem, reinen Schmerz und Verzweiflung. „…was glaubst du, haben sie mir gesagt, bevor sie mich nach Evermore verschifft haben? Was glaubst du, haben sie mir gesagt, bevor sie mich einfach dagelassen haben? Nichts haben sie mir gesagt. Nichts. Sie haben mich im Dunkeln gelassen. Genau wie du.“ Jede Silbe zog Jeremy den Boden unter den Füßen weg. Mit jeder Silbe wurde seine Schuld größer und steigerte sich ins Unermessliche. Nicht nur, dass er wie Riko gehandelt hatte, nein, er hatte Jean auch in das Trauma des Verlassen Werdens hineingestoßen. Er hatte unwissentlich das getan, was auch seine Eltern ihm angetan hatten. Jeremy ballte seine Hände zu Fäusten und senkte den Blick. War es überhaupt möglich, dass Jean ihm jemals vergab? Nein, vermutlich nicht. Er sah auf ihrer beider Füße und seine Sicht verschwamm. Er konnte den Vorwürfen nichts entgegensetzen und das war das Schlimmste. Jean hatte Recht. Mit allem, was er sagte. „Ich habe gedacht, dass ich etwas falsch gemacht habe. Dass ihr mich deswegen dort lassen wollt. Dass ich etwas nicht getan habe oder falsch getan habe. Oder dass ich dir nicht richtig zu Gefallen war und dass du mich deswegen loswerden möchtest. Ich habe gedacht, dass ihr abwartet, bis ich glücklich bin um mir dann alles zu nehmen. Jedes Licht, was ich jemals hier gesehen habe.“ Die Tränen fielen, bevor Jeremy auch nur in der Lage war, ein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns hervorzupressen. Er weinte um den Schmerz, den er Jean zugefügt hatte. Er weinte um das, was er zerstört hatte. Es war unfassbar, welches Leid er Jean mit seinem dummen Schweigen zugefügt hatte. „Wie soll ich dir denn jetzt noch vertrauen?“, schloss Jean mit einer solchen unterschwelligen Verzweiflung, dass Jeremy schier übel davon wurde. Er sah hoch und da standen nur hilflose Wut und Enttäuschung in den grauen Augen, die ihn schier zu durchbohren und nach einer Antwort zu suchen schienen, die Jeremy nicht geben konnte. Er grub seine Zähne in seine Unterlippe und schwieg. Lange Zeit schwieg er, auf der Suche nach den richtigen Worten. „Ich wollte dir nie wehtun“, presste er schließlich ungelenk hervor. „Niemals. Ich wollte dir eine schöne Weihnachtszeit und ein schönes Silvester bereiten. Ich wollte auf den richtigen Moment warten, es dir zu sagen, weil ich Angst hatte, dass es dich zurückwirft. Du hast Recht, ich habe für dich entschieden und es war nicht in Ordnung. Es war ein Fehler und schlimm. Ich habe dich nicht informiert und so für dich etwas entschieden, was ich nie hätte entscheiden sollen. Das tut mir so leid. Ich werde das nie wieder machen, Jean, denn ich möchte, dass du mir vertraust. Ich möchte nicht, dass du dich unsicher in meiner Gegenwart fühlst oder dass du glaubst, dass ich lüge. Ich will dich nicht anlügen, nie wieder. Ich möchte dir nie wieder etwas verschweigen.“ Angesichts Jeans eisernem Schweigen fiel es Jeremy schwer, weiter zu sprechen, doch er nahm all seinen Mut zusammen, den er aufbringen konnte. „Ich würde dich nie in Evermore lassen, Jean. Ich würde dich immer mitnehmen und mit allem verteidigen, was ich habe. Ich möchte dich nicht verlieren oder deine Nähe oder das Vertrauen, das du mir schenkst.“ Jeans Augen schweiften über Eva und Jeremy schluckte. Wie damals schon in der Wüste war sie eine Art Friedensangebot, eine Erinnerung an das, was sie schon hatten. Doch jetzt starrte Jean das Kuscheltier einfach nur an, blind und bewegungslos und was, wenn nicht das, zeigte, wie wenig er dazu geneigt war, Jeremys Worte anzunehmen. Der Backliner wandte den Kopf zur Seite und gab einen undefinierbaren Laut des Unbills von sich. „Ich bin so wütend auf dich. So enttäuscht“, presste er hervor, rau und leise. „Und ich weiß nicht, wie das weggehen soll.“ Worte, die wie Munition in Jeremy einschlugen. Jede Einzelne fügte ihm Schmerzen zu und er verfluchte sich innerlich tausendmal für das, was er getan hatte. „Lass es mich wieder gut machen“, erwiderte er schließlich kraftlos und zum Teil auch mutlos. Er würde nie wieder lügen, doch wie sollte er das einem Jungen verdeutlichen, der für den Großteil seines Lebens belogen und misshandelt worden war? Als Jeans Augen sich in seine bohrten, wusste Jeremy, dass er verloren hatte, denn da stand nur Zögern und Ablehnung. „Ich…“, begann Jean und wandte sich dann ruckartig ab. „Ich muss an die frische Luft. Alleine“, schob er nach, als Jeremy Anstalten machte, ihn zu fragen, ob er mitkommen sollte. So nickte er. „Ich bin hier, wenn du zurückkehrst.“ Oder falls. Vielleicht rief Jean auch jemanden an, der ihn abholte, um nicht mit ihm nach Hause fahren zu müssen. Kaum, dass er die Terrassentür zum Garten hörte, sackte Jeremy an der Küchenanrichte zusammen und setzte sich auf den warmen Boden. Er zog die Knie an seinen Körper und bettete seine Stirn auf sie. ~~**~~ Jean kam bis zum Ende des Gartens, bevor er sich zwang stehen zu bleiben um nicht noch einmal wegzulaufen. Dieses Mal war es jedoch keine Angst, die ihn antrieb, sondern das Gefühlschaos, das in ihm und um ihn herum tobte. Sein Kapitän weinte und zeigte ein Verhalten, das Jean nur marginal kannte: Bedauern für etwas, das getan worden war. Sein Vater hatte etwas Ähnliches geäußert und schon dort hatte Jean nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte. Bei Knox wusste er es noch viel weniger. Gerade bei Knox nicht, denn hier standen noch ganz andere Gefühle im Raum, die an Jean zerrten und es ihm unmöglich machten, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte alles, was er gesagt hatte, auch so gemeint. Es war aus seinem Innersten gekommen. Doch wie er damit umgehen sollte, das war Jean ein Mysterium. Seine Wut flüsterte ihm ein, sich von Knox zu entfernen, seine Enttäuschung, Knox nie wieder zu vertrauen. Die Zuneigung, die er empfand, dass er den anderen Jungen nicht von sich stoßen konnte. Nicht, wenn ihm dessen Nähe soviel bedeutete. Aber konnte Jean sich wirklich noch darauf einlassen? Jean wusste es nicht und seine Gedanken erlaubten ihm kein Urteil, so griff er zu dem, was ihm in der Vergangenheit die meiste Ruhe gebracht hatte. Blind fand seine Hand das Smartphone in der Tasche von Rhemanns Jacke und zog es hervor. Ebenso blind wählte er Andrews Nummer und hoffte darauf, dass der andere Junge abnehmen würde. Er ließ es lange klingeln und erst, nachdem er schon auflegen wollte, nahm Andrew ab und ging sofort in den Videochat. Überrascht hob Jean die Augenbrauen, als er sah, wie unordentlich die Haare des Torhüters waren. Die linke Seite seines Gesichtes war in der Art schlafender Menschen zerknautscht, die vor kurzem erst aufgestanden waren. Knox sah regelmäßig so aus und Jean war immer wieder erstaunt gewesen, wie unterschiedlich schnell sich diese Falten glätteten. „Gib mir einen Grund…“, schnarrte Andrew und Jean sah Mordlust in den sonst so ausdruckslosen Augen. Mordlust und Reste des Schlafes, aus dem er den anderen Jungen anscheinend gerissen hatte. Hilflos starrte Jean auf das Gesicht, das ihm aus unerfindlichen Gründen Ruhe vermittelte. Es war unhöflich, das wusste er, aber er war in diesem Moment zu nichts Anderem fähig. Andrew hätte sicherlich eine Antwort auf seine Fragen, doch wie formulierte er sie? „Hat Josten dich schon einmal angelogen?“, presste er schließlich ungelenk hervor und Andrew starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Vielleicht war dem auch so, wenn er schon die nicht-existente Beziehung der Beiden hinterfragte und Vergleiche zu seiner eigenen zog. Seiner eigenen, nicht-existenten Beziehung, weil er eben nicht wusste, wie man eine solche führte. „Dein Ernst?“, rollte Andrew schließlich mit den Augen und strich sich seine Haare zurück. „Fragst du gleich auch noch, ob der Himmel blau ist?“ Jean runzelte die Stirn. „Nein. Was hat ein blauer Himmel damit zu tun? Es geht um Josten.“ Er wusste nicht, was er so Amüsantes gesagt haben sollte, aber Andrew für einen Moment derart belustigt zu sehen, brachte Zweifel in ihm auf. War das wieder einer dieser Insider-Scherze, die er nicht verstand? „Gibt es Ärger im Paradies oder warum erachtest du es für notwendig, mit deinem gerade wiedergefundenen Leben zu spielen und mich zu wecken?“ Irritiert sah Jean auf sein Handy. „Es ist halb acht.“ Andrew brummte in schleppender Zustimmung der Uhrzeit und Jean musterte ihn unerfreut. Als ob er die ungesunden und nachlässigen Schlafgewohnheiten dieses Chaotenteams kannte. Den Einzigen, den er beim Schlafen beobachtet hatte, war Josten selbst gewesen und das waren andere Umstände gewesen. Keine Vergleichbaren. „Es ist scheißegal-wieviel-Uhr-Zeit und kurz vor ich-leg-gleich-auf“, drohte Andrew zynisch und Jean atmete tief durch, schluckte seinen Nachsatz über ungesunde Schlafrhythmen. Er wäre schließlich auch so bigott wie gefährlich wie unangebracht, da er genau wusste, wie sehr Andrew auch mit Alpträumen zu kämpfen hatte. Jean wandte den Blick ab und knirschte mit den Zähnen. „Knox hat mich angelogen“, stieß er schließlich hervor und die andere Seite der Leitung blieb stumm. „Oder nein…er hat mir etwas verschwiegen.“ „Dass du in deine herzallerliebste Heimat zurückkehrst.“ Jeans Augen kamen ruckartig zum Bildschirm zurück und er grollte. „Es ist nicht meine Heimat“, zischte er und Andrew lächelte ironisch. „Wollte nur mal nachhören, ob sich an deinen Reiseplänen etwas geändert hat.“ „Fick dich, Minyard“, entwich es Jean instinktiv und frustriert. „Kein Bedarf und auch nicht das Thema. Also er hat es dir verschwiegen.“ „Hat Josten das mit dir auch gemacht?“, hielt Jean dagegen und er musste wissen, ob die Beiden auch etwas Ähnliches durchgemacht hatten. Schließlich waren sie nun unzertrennlich. „Du meinst, ob mich der Junge mit falschen Kontaktlinsen, falscher Haarfarbe, falschem Namen und falscher Geschichte belogen hat?“ Ausdruckslos starrte Andrew ihm entgegen und Jean erkannte die Wahrheit in eben jener. Die lakonische, durchaus aber auch frustrierte Wahrheit. Oh. War Frust auch der Grund gewesen, aus dem Andrew Josten unter Drogen gesetzt hatte? Neben Vorsicht und einem Beschützerinstinkt in Bezug auf seine Familie und Kevin, den er gut zu verstecken wusste? Jean hütete sich davor, diese Frage zu stellen. „Hast du ihm das vergeben?“ Andrew hob die Augenbrauen. „Er hatte Gründe“, erwiderte er schließlich indifferent und Jean konnte sich mehr als gut vorstellen, welche Gründe es gewesen waren. Nur zu gut hatte er die kurz aufflammende, hilflose Verzweiflung unter dem unnützen Widerstand in Jostens Augen gesehen, als er ihm die Haare gefärbt hatte. Der schmale Körper hatte selbst ohne Rikos Einwirkungen genug Narben gehabt, um einen Ausblick darauf zu geben, was ihn erwarten würde, wenn sein Vater ihn wieder in die Finger bekam. „Wenn jemand Gründe hat, kann man dann vergeben?“, stellte er die eher grundsätzliche Frage, während Andrew mit ihm anscheinend zu einer seiner Sitzsäcke ging und sich darauf fallen ließ. „Kommt drauf an. Welchen Grund hatte Sonnescheinchen?“ Jean verzog das Gesicht ob des fürchterlichen Spitznamens und seufzte schließlich. „Er sagte, dass er mich schützen wollte. Er habe mir ein schönes Weihnachten und Silvester schenken wollen.“ Andrew würgte. „Ekelhaft, aber wenig überraschend.“ „Was soll das heißen?“ „Captain Gut-Gemeint kennt seit deiner Ankunft im Gummibärenbandenland anscheinend nur ein Ziel, nämlich dich glücklich zu machen. Dass er die die frohe Botschaft eures Spiels in Evermore da nicht überbringt, liegt auf der Hand, so dumm es auch ist.“ Stürmisch runzelte Jean die Stirn, als er die Selbstverständlichkeit von Andrews Antwort in sich wirken ließ. War es tatsächlich so logisch gewesen? So vorhersehbar? „Wie kann ich sicher sein, dass er mich zukünftig nicht auch anlügt?“, fragte er schließlich sein eigentliches Problem. Andrew schwieg lange genug, dass Jean glaubte, sein Handy wäre eingefroren und zuckte dann mit den Schultern. „Hast du ihn damit konfrontiert?“ Jean nickte. „Wie hat er reagiert?“ „Er hat geweint und mir versprochen, dass es nie wieder vorkommen wird.“ Der blonde Junge rollte erneut mit den Augen und schüttelte den Kopf. „Kannst du erkennen, wenn er dich anlügt oder dir etwas verschweigt?“ Jean überlegte. Als es um seine Eifersucht auf Fahima gegangen war, hatte Jean ein subtiles Gefühl des Falschseins gehabt, das er nicht ganz hatte greifen können. Eine Ahnung, dass etwas falsch war, auch wenn er nicht genau gewusst hatte, was. Ansonsten waren die Regungen des anderen Jungen ehrlich gewesen. „In Ansätzen, ja. Bei manchen Sachen. Hier nicht.“ „Das ist ein Anfang und gleichzeitig ein Lernprozess.“ „Du vertraust Josten, sehr sogar“, sagte Jean. „Wie ist das möglich?“ Andrew schnaubte dunkel amüsiert. „Indem ich weiß, dass er mir nicht schaden will. Weißt du das bei Knox?“ „Ja.“ Noch bevor Jean irgendwie über die Antwort nachdenken konnte, hatten seine Lippen schon ein einzelnes, richtungsweisendes Wort hervorgepresst. Ja, er konnte das mit Sicherheit sagen, denn nichts, aber wirklich gar nichts in Knox‘ Verhalten deutete darauf hin, dass er ihm etwas Böses wollte. Es war erstaunlich, wieviel Ungesagtes auf Andrews Gesicht stehen konnte. „Wiegt sein Verschweigen seine restlichen Taten auf?“ Konnte man das gegeneinander aufwiegen? Jean wusste es nicht, aber es brachte ihn dazu, über all das Gute nachzudenken, das Knox ihm getan hatte. Von Anfang bis jetzt war es nur Gutes gewesen und selbst jetzt bereute der andere Junge sein Verschweigen. „Er hat mir sonst nur Gutes getan“, gestand Jean schließlich ein. Bevor Andrew etwas erwidern konnte, öffnete sich bei ihm anscheinend eine Tür und seine Aufmerksamkeit wich für einen Moment vom Bildschirm zu dem Neuankömmling. Im Hintergrund hörte Jean Gemurmel. „Das Findelkind“, erwiderte Andrew zu Jeans Unbill und keine zehn Sekunden später wackelte das Video und Jostens verschwitzter Kopf schob sich in das Bild, der ihn in seiner üblichen Herausforderung angrinste. Jean bleckte die Zähne über soviel unnötigen Frohsinn. „Jean!“ „Josten.“ „Bereit für’s Spiel am Ende des Monats?“ Jean grollte abgrundtief böse und war sehr versucht, einfach aufzulegen. „Warst du es, das erste Mal, nachdem Riko dich hat gehen lassen?“, hielt er dagegen und Josten lachte, auch wenn daran nichts Fröhliches war. „Nein. Ich hatte eine Panikattacke auf dem Spielfeld. Aber Andrew hat mir geholfen.“ Er sah zur Seite und im Hintergrund hörte Jean ein eindeutiges Geräusch des Missfallens. Wie offen und frei Josten über die Folgen seines Aufenthaltes in Evermore sprach. Jean schluckte schwer. Es schien, als wäre wie sonst auch Konfrontation das, was dem anderen Jungen dabei half, mit den Erinnerungen fertig zu werden und sie klein werden zu lassen. Jean brummte nichtssagend und gestattete sich einen längeren Blick auf Josten. Er sah glücklich aus, ruhiger und entspannter. Wie selbstverständlich lebte er mit Andrew zusammen und das obwohl er ihn angelogen hatte, wohl mehrfach. In vielen wichtigen Dingen, so auch in seiner Identität und darin, welche Gefahr das für Andrew bedeuten könnte. Konnte er das dann mit Knox nicht auch? Zusammenleben und irgendwann wieder vertrauen? Er vertraute ihm doch jetzt schon mit seinem Leben. „Wie geht’s dir damit?“ Eine simple Frage und doch so schwierig zu beantworten. Jean wandte sich von den stechend-blauen Augen ab und hin zum Garten. Es war immer noch kühl und er spürte, wie die Kälte zurück in seine Knochen kroch. Doch das war nebensächlich und eine offensichtliche Hinhaltetaktik „Ich habe Angst“, gestand er schließlich ein und Josten nickte in seinem Augenwinkel bestätigend. „Lähmt sie dich?“ Jean zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Day hat es erst vor zwei Tagen gesagt.“ Und so lange hatte er nicht geschlafen. Er befürchtete jedoch, dass es so sein würde. Nach den letzten Stunden, nach all der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit würden seine Gedanken sicherlich nicht zufrieden sein mit dem, was er an Versicherungen erhalten hatte. „Wenn, sag Bescheid.“ Amüsiert schnaubte Jean. „Zu welchem Zweck?“ „Dann komme ich vorbei und treibe sie dir aus“, grinste Josten und Jean rollte mit den Augen. Da war absurd. Zwischen ihnen lagen mehrere Stunden und außerdem hatten die Foxes sich ebenfalls für das Ende der Saison vorzubereiten. Dumm wäre das und nachlässig. All das teilte Jean ihm mit, solange, bis Rhemann ihn hereinrief, weil es Frühstück gab und er erkannte, dass er wirklich Hunger hatte. „Ich muss gehen, der Coach ruft“, sagte er und Josten grinste. „Wir sehen uns“, erwiderte er und irgendwie klang es wie eine Drohung. Jean schnaufte, beendete das Gespräch und steckte sein Telefon in die Tasche. Langsam kam er zurück zum Haus und folgte den Gerüchen nach Essen aus der Küche, die ihm das Wasser im Mund zusammenliefen ließen. Zunichte gemacht wurde das durch den elenden Anblick seines Kapitäns, der eingesunken am Tisch saß und angestrengt auf die Tischplatte starrte, anscheinend in dem festen Vorsatz, seine Anwesenheit zu ignorieren. Aus Schmerz und Scham, wusste Jean, denn er hatte wohl gesehen, wie weh seine Worte Knox getan hatten. Er selbst musste für einen Moment innehalten und tief durchatmen. Andrew war auch immer noch mit Neil zusammen. Obwohl dieser gelogen hatte. Aber er hatte Gründe dafür gehabt. Wie Knox auch. Jean wusste nicht, wie man das wirklich machte, also konzentrierte er sich auf das, was er schon kannte. Eva war seit Beginn eine Art zu kommunizieren gewesen. Sie war etwas, das sie beide verbunden hatte. Auch wenn Jean Knox noch nicht verbal entgegentreten konnte, so war er doch in der Lage, sie mit steifen Fingern von der Anrichte zu nehmen, auf der sie stand und sie mit zum Tisch zu bringen. Zögernd kam er zum Tisch und stellte Eva neben Knox, der wie verbrannt zusammenzuckte und abrupt zu ihm hochsah. Groß und ungläubig waren sie, die blauen, rotumränderten Augen. Es zerbrach Jean das Herz, Knox so zu sehen, das spürte er nun ganz klar und deutlich. Er wollte nicht, dass es so zwischen ihnen war, aber er wollte auch keine Lügen mehr. „Setz dich, Junge“, sagte ihr Coach und Jean ließ sich an dem zweiten der drei gedeckten Plätze an dem runden Küchentisch wieder. Erst als Rhemann ebenfalls Platz nahm und den Korb mit den Toasts herumgab, fasste Jean sich ein Herz um das zu tun, was er noch niemals vorher gewagt hatte. Er forderte etwas ein, in Anwesenheit seines Kapitäns und seines Trainers. „Ich möchte alles wissen. Jedes Detail“, sagte er mit vor Unsicherheit zitternder Stimme, doch auch diese wurde gehört. ~~**~~ Jean kämpfte einen Moment lang gegen den Schwindel an, der sein klares Denken gerade fest im Griff hielt, und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er stützte sich an dem malträtierten Boxsack ab und atmete ein paar Mal tief durch, die bittere Galle schluckend, die ihm im Rachen stand. Er konnte von Glück reden, dass niemand seines Teams bei ihm war. Vier Tage, nachdem er durch halb Los Angeles gelaufen war um doch nicht zu fliehen, hatte er zusammengerechnet keine vier Stunden Schlaf bekommen, weil jede Minute Schlaf eine Minute Alptraum bedeutete. Es schien, als würden sich seine schlechten Erinnerungen gegenseitig überbieten wollen und so waren seine Tages- und Nachtstunden davon geprägt, was ihm Riko und sein ehemaliges Team angetan hatten. Die lärmenden Studenten auf dem Campus waren mit Leichtigkeit die Ravens in ihrem Gemeinschaftsraum, während sie ihn mit Waterboarding folterten. Stephens Geruch brachte ihn zurück in sein Bett in Evermore, mit seinem Gesicht in die Matratze gepresst, während ein schwerer Körper auf ihm lag und eine dunkle Stimme in sein Ohr stöhnte. Alvarez leichter Schlag auf seine Schulter brachte ihn zurück zu seinem Herrn, der seine Unzulänglichkeit wieder und wieder bestraft hatte. Das halbe Team hatte gewusst, dass er für die Dauer einer Nacht verschwunden gewesen war und entsprechend groß war die Sorge um ihn gewesen. Unangenehme Gänsehaut, die beinahe schon an Schüttelfrost grenzte, hatte ihn befallen, als er am nächsten Tag wieder Teil der Trojans war und sie ihn mit ihrer sonnigen Zuneigung überschüttet hatten. Er hatte ihre Anwesenheit und Nähe nicht ertragen und sich wie besessen in die Drills geflüchtet. Statt der trauten Zweisamkeit ihres Apartments hatte Jean heute wie auch vor zwei Tagen im Anschluss das Fitnessstudio im Sportlerbereich aufgesucht und sich weiter gequält, in der Hoffnung, dass die Einsamkeit und die körperliche Erschöpfung ihm irgendwann Ruhe verschaffen würden. Knox‘ besorgte Frage, ob er ihn begleiten solle, hatte Jean entschieden verneint und die Tortur des Alleineseins der Tortur der sanften Nähe und emotionalen Zuneigung vorgezogen, auch wenn er vor dem Fitnessstudio für Minuten seine Panik hatte niederkämpfen müssen und sich absolut unwohl fühlte. Er sah die konstante Sorge in den Augen seines Kapitäns, der ihm subtil und sanft seine Hilfe anbot. Vier Tage, nachdem sie über alles gesprochen hatten und Knox und er in ihr Apartment zurückgekehrt waren, waren die Dinge noch…vorsichtig. Zurückhaltend und distanzierter als vorher. Knox war vor allen Dingen vorsichtiger und versuchte es Jean so recht zu machen wie möglich. Sie sprachen miteinander, Knox sorgte sich um ihn und Jean ignorierte Letzteres. Wen er dahingehend nicht ignorieren konnte, war Brian. Brian hatte ihm neue Denkansätze gegeben und ihm Möglichkeiten aufgezeigt, mit Knox‘ Verhalten, seinen daraus resultierenden Gedanken und auch mit seinem Kapitän umzugehen. Jean hatte nur weder die Kraft noch die Ruhe um diesen Gedanken die nötige Objektivität zu schenken und so hatte er sich dazu entschieden, zu funktionieren. Wie zu Beginn seines Hierseins. Bis sie gegen seine alte Mannschaft spielen würden. Bis dieses drohende Schafott vorbei war. Falls, wie er in dunklen Momenten dachte. „Jean, genug für heute!“, riss Shirley ihn aus seinen Gedanken und er sah mit verschwommenem Blick wieder hoch. Das war keine gute Idee, wahrlich nicht. „Ich kann noch eine Runde“, keuchte er trotzdem und richtete sich stur auf. Sein Körper war sturer und der Schwindel ließ ihn die Augen schließen, was Shirley mühelos auf seine Fährte brachte, die wie ein Bluthund Schwäche erschnüffelte und es auf den Tod nicht ausstehen konnte, wenn jemand Raubbau mit seinem Körper betrieb. „Nein, kannst du nicht. Du bist vollkommen fertig und kurz davor umzukippen. Was soll das, das hier ist kein Folterkeller.“ Abrupt öffnete Jean seine Augen und starrte sie an, einen Moment lang in der irrational aufflammenden Angst gefangen, dass sie dort weitermachen würde, wo die Ravens aufgehört hatten. Doch das war nur ein Spruch gewesen, ein Ausdruck, der hier das komplette Gegenteil bedeutete. Trotzdem sickerte die Angst in ihn ein und krallte sich fest. „Wir spielen Ende des Monats gegen meine alte Mannschaft. Ich habe keine guten Erinnerungen an sie“, gab er zu und Shirley schnaufte. Sie stemmte die Hände in die Hüften und hob herausfordernd das Kinn. „Und du glaubst, dass wenn du dich bei mir auspowerst, das vergessen kannst, was passieren wird?“ „Auch, ja.“ Sie grollte. „Ich bin keine Therapeutin, Jean, das habe ich dir bereits bei unserem ersten Zusammentreffen gesagt.“ Jean schüttelte den Kopf. „Ich wollte mich wirklich nur auspowern, das ist alles.“ „Du bist kurz davor, mit deinem Kopf auf dem Betonboden aufzuschlagen. Das ist eine Stufe darüber.“ „Ich bin noch nicht am Ende.“ Streng musterte sie ihn und er zog unweigerlich den Kopf ein. „Das sehe ich, du sturer Bock. Aber es reicht jetzt. Hast du außerdem mal auf die Uhrzeit geschaut? Es ist elf Uhr abends. Du brauchst Schlaf.“ Wenn es denn so einfach wäre. Jean ließ seine behandschuhten Fäuste sinken und löste den Klettverschluss mit den Zähnen. Er klemmte erst den einen, dann den anderen Handschuh zwischen seine Oberschenkel und zog sie sich von den Händen. Mit zitternden Fingern fischte er nach dem Handtuch, das er sich bereitgelegt hatte. „Komm, geh duschen und mach dich fertig. Ich bringe dich zu eurem Wohnheim, sonst bleibst du auf dem Weg dahin noch auf irgendeiner Parkbank sitzen.“ Das war keine so unwahrscheinliche Möglichkeit und so folgte Jean ihren Worten. Sie brachte ihn zu seinem Wohnheim und wartete sogar, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor sie wegfuhr. Sture Frau. Sobald sie außer Sichtweite war, blieb Jean einen Moment lang stehen und kämpfte sich dann die Treppe hoch. Erschöpft schloss er ihre Wohnungstür auf und streifte seine Schuhe ab, ließ seine Tasche im Eingang stehen. Er sah, dass noch Licht brannte und kam vorsichtig ins Wohnzimmer. Knox war auf der Couch beim Film schauen eingeschlafen, das Handy vergessen in seiner Hand. Sein Kapitän hatte auf ihn gewartet. Jeremy, verbesserte Jean sich, denn er wollte jetzt, in diesem beinahe schon intimen Augenblick, keine Distanz zu dem schlafenden Jungen aufbauen. Nicht mehr, als er in den vergangenen vier Tagen errichtet hatte. Er hatte nicht gewusst, wie er wieder zu ihrem leichten Umgang zurückkehren sollte, also hatte er das hier in Kauf genommen: eine Distanz, die ihm nicht wirklich schmeckte. Er wollte nicht, dass es anders war als vor Silvester. Er wollte das, was sie an Silvester geteilt hatten, immer noch. Und es war ja möglich, er sah es ja an den beiden Idioten aus South Carolina. Gefühle, Emotionen, Erinnerungen… alles war da und alles war ein Teil des Chaos, das in ihm tobte. Auch wenn die Wut auf dessen Handeln zwischenzeitlich immer noch aufflammte, so wusste er doch mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er den blonden Jungen nicht missen wollte. Und dass er dessen Berührungen und dessen Nähe vermisste, so wenig er sie auch in den vergangenen Tagen hätte tolerieren können. Jean hielt inne. Der Gedanke war so abstrus wie er logisch schien. Sein Innerstes sehnte sich nach der Güte und der Nähe des schlafenden Jungen. So wenig er auch wusste, wie er es verbalisieren sollte, wenn der andere Junge wach war, so sicher war sich Jean nun, als er zu Jeremy kam und sich neben ihm auf den Boden niederließ. Er sah in das entspannte Gesicht und hob seine Hand um die blonden Strähnen nach hinten zu streichen, hielt jedoch Zentimeter vor Jeremys Haaren inne und erstarrte in der Bewegung. Er wollte den anderen Jungen berühren. Er wollte anknüpfen an das, was gewesen war. Er hoffte, dass er es konnte und das nicht eine unsichtbare Barriere zwischen ihm und dem Normalen war. Jeremy regte sich langsam und schlug schneller, als es Jean lieb war, seine Augen auf. Verwirrt suchten sie sich für einen Moment ihre Umgebung, dann blieben sie an Jean hängen und Jeremy zuckte zusammen. „Jean, oh…sorry, ich bin im Weg…einen Augenblick, ich…“ Anscheinend stand etwas auf Jeans Gesicht, dass seinen Kapitän zum Schweigen brachte und so genau wollte er gar nicht wissen, was. Vielleicht war es nun sein brachial schlechtes Gewissen, dass er Knox soweit gebracht hatte sich bei ihm für nichts zu entschuldigen. Dafür, dass er geschlafen hatte. Jean seufzte. Jeremy hatte das die vergangenen Tage oft getan und sich dafür entschuldigt, im Weg zu sein, nicht schnell genug zu sein, den Ball nicht direkt auf Jeans Bedürfnisse gepasst zu haben, zu langsam beim Duschen zu sein… all das, was keiner Entschuldigung bedurfte. Ruckartig legte Jean seine Hand auf Jeremys Wange und sah, wie groß die blauen Augen wurden. Abgehackt atmete sein Kapitän ein und hielt die Luft an, während er Jean fixierte und Jean sich fragte, wie er von dieser instinktiven Berührung nun weitermachen sollte. „Es gibt nichts, wofür du dich noch entschuldigen müsstest, Jeremy.“ Selbst für Jean waren die Worte mit einem viel zu schweren Akzent unterlegt und beinahe augenblicklich brachte das Freude in Jeremys blaue Augen. Er selbst ertappte sich dabei, wie ein aufkommendes, müdes Lächeln seine Lippen verzog. „Du hast geschlafen.“ Das war neutraler Grund, eine Feststellung, während die Haut unter seinen Fingern sich so weich anfühlte. So vertraut und vermisst. Jeremy nickte und gähnte. Jean spürte die Muskeln unter seinen Fingern und wie sie sich bewegten. „Ich habe auf dich gewartet oder darauf, dass du anrufst, damit ich dich abholen kann“, erwiderte er schließlich verschämt und schon wieder hatte Jean das dringende Bedürfnis, eben jene Scham auszulöschen. „Shirley hat mich gebracht. Ich hätte mich bei dir melden sollen“, hielt er dagegen und Jeremys Hand legte sich vorsichtig und zögernd auf seine. Es schien, als würde er etwas sagen wollen, das er im letzten Augenblick dann doch schluckte und Jean damit beinahe fast wahnsinnig machte. Er wollte nicht, dass Knox ihm etwas verschwieg oder dass er uncharakteristisch stumm blieb. „Was ist es?“, fragte er und Jeremy lächelte liebevoll. „Deine Nähe und Berührung sind schön. Ich freue mich sehr darüber.“ Das war nicht das, was Jean erwartet hatte und nach all der Anspannung der letzten vier Tage reichten diesen beiden Sätze um einen Knoten platzen zu lassen, der Jean im festen Griff gehabt hatte. Er sackte schier in sich zusammen und verspürte den überschwemmenden Drang, Jeremy komplett in seine Arme zu schließen. So wie an dem Morgen, an dem sie aufgewacht waren. „Ich…möchte dir nicht fern sein. Nicht jetzt, nicht auf Dauer“, presste Jean hervor, in dem immer noch ungewohnten Gefühl, auch hier seine Bedürfnisse zu vokalisieren, und Knox nickte wie selbstverständlich. „Wir könnten dem Abhilfe schaffen und uns zusammen auf diese Couch quetschen?“, schlug er vor und Jean schnaubte in einer Mischung aus Verzweiflung, Belustigung und Erschöpfung. „Wo finde ich denn dort noch Platz?“, fragte er mit sachtem Spott und Knox robbte sich zur Kante. „Hinter mir?“, fragte er vorsichtig und Jean warf einen Blick auf den beengten Raum der durchgesessenen Couch. Sie wäre sich sehr nahe, so nahe, wie im Bett. Sie hätten Kontakt und er würde den Jungen wieder in seinen Armen halten. Jean glaubte, dass das kein Problem werden würde, nicht heute, auch wenn er diese Nacht nicht schlafen können würde und morgen mit Magenschmerzen und immer größer werdenden Konzentrationsproblemen trainieren würde. Doch jetzt brauchte er eine kurze Zeit der Normalität. Er brummte und schraubte seinen schmerzenden Körper in die Höhe, um umständlich hinter Jeremy zu klettern, der dem Ganzen mit sorgsamer Aufmerksamkeit beiwohnte und dessen Glück beinahe schon greifbar war. „Ist das okay?“, fragte der blonde Junge, nachdem Jean sich hinter ihn gequetscht hatte und er nickte stumm. Das Kribbeln des ersten Körperkontaktes war vermutlich etwas, an das er sich nie gewöhnen würde, dicht gefolgt von einer Schwemme an Furcht, die Jean aktiv bekämpfen musste um zu der Wärme durchzudringen, die ihn mit Knox‘ Gegenwart und Wärme erfüllte. Als seine Atmung sich beruhigte und er vorsichtig den Arm um Jeremy legte, fühlte er zum ersten Mal seit vier Tagen so etwas wie Ruhe. Er glich seinen Atemrhythmus dem des anderen Jungen an und ließ dessen Herzschlag seinen eigenen bestimmen. Jean schloss die Augen und vergrub seine Nase in Jeremys blonde Haare. „Ich möchte nicht, dass du dich für Dinge entschuldigst, die keiner Entschuldigung bedürfen“, murmelte er schließlich und Jeremy seufzte. „Ich muss mich noch tausendmal bei dir für das entschuldigen, was ich getan habe“, erwiderte er und Jean kam nicht umhin, erneut einen Vergleich zwischen Jeremy und Riko zu ziehen. Ersterer hatte ihm etwas verschwiegen und schämte und entschuldigte sich dafür, als hätte er etwas viel Schlimmeres getan. Letzterer hatte etwas viel Schlimmeres getan und niemals war auch nur ein Wort des Bedauerns über seine Lippen gekommen, eben weil es kein Bedauern gegeben hatte. „Du bist das Licht“, sagte Jean scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen und doch so passend. Es machte aber für Jeremy vermutlich keinen Sinn, das wusste er, aber er musste das äußern, bevor er keine Kraft und keinen Mut mehr dazu fand. „Du bist mein Licht“, spezifizierte Jean noch viel scheuer und ein erfreutes Brummen verließ den vor ihm liegenden Jungen, der ihn enger an sich heranzog. „Und du bist meine Gewitterwolke.“ Das…war nicht das, womit er als Antwort gerechnet hatte. Jean hob die Augenbrauen und grollte. Jeremy lachte leise und legte seinen Arm auf Jeans. „Genau das. Das ist der Donner und die Blitze kommen dann auch bald.“ Der Kuss, den Jean schüchtern auf den blonden Hinterkopf presste, löste ein Schaudern in dem Jungen vor ihm aus und Jeremy ruckelte sich enger an ihn. „Bleiben wir ein bisschen so?“, fragte Jean und Knox nickte enthusiastisch. Seine Haare kitzelten Jean in der Nase, doch er wollte keine seiner Hände dafür opfern, sich die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. „Wir bleiben so lange so, wie du es möchtest.“ Wie lange wollte er das? Jean konnte es nicht sagen, dafür kannte er sich selbst zu wenig. Er glaubte jedoch, dass er es länger aushielt. Zumindest heute Abend. Unterm Strich bekam er nicht viel Schlaf die Nacht, vielleicht nur zwei Stunden, doch das war in Ordnung im Angesicht von Knox, der sich im eigenen, tiefen Schlummer seine Hand gegriffen und sie nicht mehr losgelassen hatte mit beiden Händen. Der, rege wie er war, im Schlaf sprach…oder vielmehr zählte. Auf Französisch, wie Jean es ihm beigebracht hatte. Es war das, was er die letzten vier Tage vermisst hatte und das, woraus er nun Kraft zog. Die Nähe, die Wärme, die Zuneigung. All das, was Evermore ihm versagt hatte, fand er hier vor, im Moment gepresst in den muskulösen Körper eines Jungen, der in Jean so viele unterschiedliche Gefühle weckte, dass es beinahe schon wehtat. Auch verstand er nun, warum Andrew Neil vergeben hatte, dass er ihn belogen und ihm etwas verschwiegen hatte. ~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. 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