Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 58: Frohes Neues ------------------------ Wie betäubt sah Jean dem glückselig strahlenden Jungen hinterher, der aus dem Bett sprang, als hätte Jean ihn nicht in der Nacht gegen seinen Willen an sich gepresst und festgehalten. So festgehalten, dass Knox nicht hatte auf die Toilette gehen können. Er schluckte mühevoll, während er nur langsam begriff, was er eigentlich getan hatte und was für ein Monster er war. Obwohl er es selbst nicht ertrug, gegen seinen Willen berührt zu werden, presste er den schlafenden Jungen an sich, hielt ihn so, dass es für ihn kein Entkommen gab. Und das Schlimmste war, dass es ihm auch noch gefallen hatte, so aufzuwachen. Bevor er mit Schrecken erkannt hatte, was er hier tat, hatte er gut geschlafen. Mehr noch. Er war entspannt gewesen, gelöst, in Sicherheit. Das gleiche Gefühl, das er hatte, als er Barnie im Schlaf umarmt hatte. Er hatte sich gut gefühlt, aufgehoben in der Sicherheit der Wärme und Nähe eines anderen Lebewesens. Es hatte ihm gefallen. Und einem Teil in ihm gefiel es immer noch, obwohl er das Undenkbare getan hatte. Jean sah auf seine zitternden Hände. Sein Instinkt riet ihm zur Flucht, weg aus dem Bett, von von hier, weg von seiner Schande. Doch wo sollte er hin? Hier ins Haus? Etwa in den Keller? Nein. Das wäre lächerlich. Weg in die Wildnis? Was würde das lösen? Nichts würde das lösen. Also musste er hier ausharren, bis Knox wiederkam und ihm unter die Augen trat. Der Moment kam schneller als gedacht und starr bohrten sich Jeans Augen in die weiße, bequeme Decke des viel zu bequemen Bettes. Er ballte die Hände zu Fäusten und hörte, wie der andere Junge verharrte. „Jean?“, fragte Knox schließlich und der Konflikt wurde unvermeidbar, so ergab sich Jean seinem Schicksal und sah hoch, direkt in die blauen, unsicheren Augen auf dem viel zu entspannten Gesicht. Viel zu gerötet war es von der Freude, die Jean vor Minuten auf dem braungebrannten Gesicht gesehen hatte. „Warum bist du so fröhlich?“, verließ es wie ein Fluch seine Lippen und er bereute die Worte beinahe sofort. In jedem Moment mehr, als er sah, dass Knox‘ Freude einer Verunsicherung wich, die alleine er hervorgerufen hatte – mal wieder. Jean holte tief Luft, als er das vorsichtige Schweigen des anderen Jungen nicht mehr ertrug. Er nahm allen Mut zusammen, um die Worte hervor zu pressen, die ihm auf der Zunge brannten. „Ich meine… ich habe ich gegen deinen Willen und ohne dein Einverständnis angefasst. Ich habe dich an mich gepresst, ohne, dass du das wolltest und ich habe dich daran gehindert, auf die Toilette zu gehen. Wieso kannst du so da stehen und lächeln?“, strömte es verständnislos heraus ohne dass Jean die Worte filtern konnte. Aus der Verwirrung wurde Erkenntnis und Jean ahnte Schlimmes. Sehr viel Schlimmes, denn Knox trat einen Schritt nach vorne. Wie betäubt starrte Jean zu ihm hoch. „Darf ich mich setzen?“, fragte der blonde Junge und Jean folgte tumb seinem Fingerzeig in Richtung Bettkante. Er nickte, auch wenn er nicht verstand, warum Knox das wollte. Die Nähe zu ihm, dem Selbstsüchtigen, dem Zwingenden, suchte. „Ich fand es schön, wie du mich gehalten hast.“ Ein Satz, der alle Gedanken in Jean zum Erliegen brachte, die gerade durch seinen Kopf tobten. Wie er ihn gehalten hatte, nicht dass er ihn gehalten hatte. Er stellte die Handlung noch nicht einmal in Frage. „Ich…habe dich fest an mich gepresst“, hakte Jean ungläubig nach und Knox nickte. „Ich habe dich nicht gefragt.“ „Das ist richtig. Aber weder du noch ich waren wach.“ War es so einfach, eine unerlaubte Berührung zu vergeben? „Du hast nicht zugestimmt.“ Die blauen Augen maßen ihn aufmerksam, mit viel zu viel Wissen, als dass es Jean wirklich angenehm war. „Ich stimme nachträglich zu, mit dem Wissen, dass ich schon vorher zugestimmt hätte, Jean. Ich habe nichts dagegen, dass du mich umarmst oder dass du mich an dich presst. Wirklich nicht.“ „Aber ich habe dich davon abgehalten, zur Toilette zu gehen.“ „Nein, meine Blase hat sich einen ungünstigen und ätzenden Zeitpunkt ausgesucht, mich zu stören, wie ich gemütlich in deinen Armen gelegen habe“, erwiderte er und Jean runzelte ungläubig die Stirn. „Du musst mich nicht in Schutz nehmen“, grollte er und Knox schüttelte den Kopf. Das Lächeln verschwand zugunsten von Ernsthaftigkeit und für elendig lange Momente schwieg er. Als Knox dann auch noch den Blick auf die Bettdecke senkte und seine Finger mit eben jener spielten, um Zeit zu gewinnen, ahnte Jean Böses. Vielleicht hätte er doch hinaus in den Schnee fliehen sollen, unvernünftig und kopflos. Besser als das, was nun kommen mochte, war das sicherlich auf jeden Fall. Knox atmete tief durch und sah hoch, auf seinen Lippen ein schiefes Lächeln voller Trauer, das Jean einen Schauer über den Rücken jagte. „Wenn meine Blase mich nicht aus dem Bett gezerrt hätte, wäre ich liegen geblieben und hätte deine Umarmung und deine Nähe genossen, bis du aufgewacht wärst“, sagte er vorsichtig und Jean konnte sekundenlang nichts mit den Worten anfangen. Knox fand es schön. Er wäre liegen geblieben. Beide Tatsachen schwirrten in Jeans Gedanken und kreisten umeinander, bis sie irgendwie Sinn ergaben. Was sie nicht taten. Sie brachten Jean aber zu der Frage, ob er es gewollt hatte und ja, das hatte er. Auch jetzt noch war sein schlechtes Gewissen durchtränkt von dem Gefühl, es wieder zu wollen, weil es sich so angenehm angefühlt hatte. Aber mehr noch. Es war eine Vorstufe zu der körperlichen Nähe, die die Männer in dem Video geteilt hatten und je länger Jean darüber nachdachte, umso mehr verwob sich dieser Gedanke mit den Erinnerungen an seine Erregung, als er Knox in dem Club hatte tanzen sehen. Das, was vorher ein Gedankenspiel war, entwickelte sich hier zu einem handfesten Gedanken. Zur Möglichkeit einer Empfindung. „Du bist erschrocken darüber.“ Es war weniger eine Frage als eine Aussage und Jean fand nicht die Kraft um sie zu verneinen. Er war erschrocken darüber, aber nicht über das, was Knox meinte. Er war erschrocken über die Finalität, mit der er sich bewusst wurde, dass er, selbstsüchtig wie er war, den Jungen vor ihm berühren wollte. Mehr als nur einmal. „Jean?“ Er empfand Lust. Hatte sie empfunden und wollte sie wieder empfinden. Er wollte sie mit dem Jungen empfinden, der vor ihm saß und ihn besorgt ansah. Knox streckte seine Hand nach ihm aus, vorsichtig und langsam, immer darauf bedacht, ihm Zeit zum Reagieren zu geben. Jean reagierte tatsächlich und fing die Hand ab, hielt sie sacht mit seiner eigenen fest. „Du verstehst nicht“, kamen Worte über seine Lippen, die er so nicht geplant hatte. Sie waren roh und ungeschliffen und Jean fragte sich, in welches Unglück sie ihn führen würden. Er erlebte und fühlte das zum ersten Mal. Er kannte weder die Spielregeln noch die Grenzen oder das, was man besser nicht sagte. Er war sich sicher, dass es zu einer Katastrophe führen würde, doch Jean konnte nicht anders. „Was verstehe ich nicht?“, hakte der Junge nach, der die letzten Monate immer um ihn herum gewesen war. Der ihn aufgerichtet hatte, nachdem er am Boden gewesen war. Er lebte, weil es neben Alvarez‘ wütenden Worten vorrangig der Gedanke an Knox gewesen war, der ihn davon abgehalten hatte, sich umzubringen. Knox widersprach all dem, was er jemals über Kapitäne von Exy-Mannschaften gelernt hatte. Er widersprach all der Dunkelheit, die ihn gefangen gehalten hatte und die nun langsam, aber stetig dem Licht wich. Jean blieb dabei, dass Renee seine Seele gehörte. Er hatte sie ihr geschenkt. Doch Knox…Knox gehörten seine Gefühle. Nur sein Körper war rein und alleine sein eigener. „Diese Berührungen…sie sind nicht das Einzige“, begann er, wusste jedoch nicht weiter. Angestrengt fixierte er sich auf die Hand in seiner. Schwielen hatten sie. „Sondern?“ „Du verstehst das nicht“, wiederholte Jean und Knox legte den Kopf schief, war er mehr hörte als sah. „Ich möchte dich nicht berühren“, begann er und sah rechtzeitig auf, um Zeuge falscher Erkenntnis in den blauen Augen seines Kapitäns zu werden, dicht gefolgt von Bedauern und dem Versuch, Jean seine Hand zu entziehen. „Entsch…“, begann Knox und Jean grollte. Das hatte er doch gar nicht so sagen wollen, wieso konnte er sich plötzlich nicht mehr ausdrücken? Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass er so etwas überhaupt aussprechen musste. Das erste Mal, dass er sich freiwillig dem Thema Sexualität zuwandte und das auch noch nicht einmal mit sicherem Ausgang. Mit der Gefahr, dass es fürchterlich schief ging, dass seine Erlebnisse ihn unfähig machten, einem anderen Jungen so nahe zu sein. Oder vielleicht hatte Knox auch einfach kein Interesse, weil er beschädigt war. Weil er nicht so war wie normale Menschen, ohne Trauma. Jean griff fester zu und hielt die schwieligen Finger davon ab, sich ihm zu entziehen. Nächster Versuch also. Er atmete tief ein. „Ich möchte dich nicht nur so berühren“, schob er hinterher, seine Stimme vor Hast und Schnelligkeit undeutlicher denn je. Der Akzent seiner Muttersprache kam stärker durch, wie immer, wenn er emotional war. Verwirrt öffnete Knox den Mund, doch Jean war schneller. Wenn er jetzt nicht sagte, was unter der Oberfläche seiner Haut schlummerte, dann würde er es nie sagen. Ungünstiger Zeitpunkt hin oder her. „Ich möchte dich so berühren, wie der Reporter dich berührt hat“, platzte es aus Jean heraus. „Zumindest glaube ich das, denn ich fühle mich in deiner Nähe wohl und als du dich das letzte Mal auf der Tanzfläche bewegt hast, hat es sich auch noch anders angefühlt als sonst. Und die Männer in dem Video, da habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn…ich meine…“ Jean verstummte, als er sah, dass er Unsinn erzählte und dass diese Tatsache frei und offen auf Knox‘ Gesicht stand. „Und auch wenn der Reporter und auch mein…mein Vater meinen, dass du es wollen würdest, so kann ich verstehen, wenn dem nicht so ist. Ich meine, ich bin schließlich nicht das, was du dir vorstellst und ich weiß auch gar nicht, was genau ich will und was man braucht für…also dafür“, fuhr er dennoch fort mit den Unsinnigkeiten. „Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich in der Lage bin, die Dinge zu tun, die die Männer in dem Video getan haben oder die der Reporter getan hat und vielleicht möchtest du diese Dinge auch gar nicht mit mir tun, weil ich unerfahren bin und schwierig und weil ich Dinge getan habe, die dich verletzen.“ So, jetzt sollte er wirklich den Mund halten. Es kam nur noch Mist heraus, der die Situation noch vertrackter werden ließ, als sie es jetzt schon war. Peinlich berührt löste Jean sich von Knox Hand, doch dieses Mal war es der blonde Junge, der seine Finger nicht gehen ließ und sie einfing. „Hey.“ Jean ignorierte das Wort, so gut er konnte und sah an Knox vorbei auf das Bett. Sie beide trugen noch ihre Schlafsachen und die Tatsache, dass es Jean jetzt erst bewusst wurde, wie nah sie sich darüber hinaus waren, zeigte ihm, wieviel Vertrauen er auch schon unterbewusst zu Knox hatte. Mal sehen, ob der andere Junge überhaupt noch Vertrauen zu ihm hatte, nachdem sie über dieses Chaos hier gesprochen hatten. „Hey.“ Eindringlicher, störrischer, ganz Knox eben. Jean stählte sich und sah auf, suchte den Weg in die blauen Augen und das, wie er jetzt erkannte, feuerrote Gesicht. Knox war unruhig, wie immer, wenn er aufgeregt war und die Finger seiner freien Hand bewegten sich unablässig. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass Knox irgendetwas sagte. Ganz im Gegenteil. Analysierend huschten seine Augen hin und her und schienen Jeans Gesicht zu vermessen. Auf Ehrlichkeit? Vermutlich. „Jean…“ Das war sein Name. Aber der Unterton machte es ganz und gar nicht gut. Die Ernsthaftigkeit dort war beängstigend. Die Augen hörten auf sich zu bewegen und fixierten ihn ohne Unterlass. „Ich möchte das auch.“ Vier einfache Worte, die bei näherer Betrachtung alles andere als das waren. Was wollte Knox auch? Worauf bezog sich das? Auf alles, was er gesagt hatte? Jean runzelte die Stirn. „Was meinst du?“, hakte er rau nach und Knox versuchte sich an einem Lächeln, die Wangen immer noch feuerrot und die Augen strahlend. „Dir nahe sein. Und näher als nahe sein.“ Blinzelnd versuchte Jean die Worte zu verstehen. Er glaubte, sich verhört zu haben. Oder etwas falsch verstanden zu haben. Das war doch nicht so einfach. Es konnte nicht so einfach sein. Ein verwirrter Laut verließ seine Lippen und er biss sich auf eben jene. „Das kann nicht sein“, entschied er dann und Knox legte den Kopf schief. „Warum nicht?“, fragte er viel zu sanft. „Weil es nicht geht.“ „Warum sollte es das nicht?“ Jean zog abrupt seine Hand zurück und verschränkte unwohl die Arme vor sich. Er zog auch seine Beine zu sich und grub seine Zehen in das Laken unter ihm. „Warum sollte es so einfach sein?“, stellte er die Gegenfrage. „Ich weiß doch noch nicht einmal, ob ich es kann. Ich bin beschädigt, in allem, was ich tue.“ Nur zu vorhersehbarer Unmut huschte über Knox‘ Gesicht. „Du bist nicht beschädigt, Jean. Dir wurde Gewalt angetan, körperliche und geistige Gewalt.“ „Nenn es, wie du es willst, es führt dazu, dass ich niemals so sein werde wie der Reporter.“ Knox hob bedeutungsschwanger die Augenbrauen. „Allan. Und natürlich bist du nicht wie er. Du bist dein eigener Mensch. Mit all deinen Facetten, die dich einzigartig machen.“ Worte, die Jean zwar verstand, die er aber nicht verarbeiten konnte. Hilflos wandte er den Blick ab. „Du redest dir das schön“, grimmte er dann, doch Knox schüttelte nur den Kopf. „Ich rede mir gar nichts schön, Jean. Ich habe dich über die letzten Monate über kennengelernt und viel Zeit mit dir verbracht. Ich habe in dir einen wunderbaren Freund gefunden und mehr als das. Ich möchte dir auch nahe sein. Und wenn du es nicht kannst, dann ist das auch in Ordnung.“ „Es wird dich verletzen!“ „Nein, das wird es nicht.“ „Was, wenn ich körperliche Intimität doch nicht ertragen kann?“ „Dann erträgst du sie nicht. Das ist okay.“ „Was, wenn ich auch normale Nähe nicht möchte?“ „Dann ist das auch okay.“ Jean fand es alles andere als okay. „Ich weiß nicht, wie das ist…freiwillige Intimität. Ich mache sicher viele Dinge falsch.“ „Du machst sie nicht falsch, du machst sie anders und entscheidest dann, ob dir das gefällt.“ Verzweifelt grollte Jean über die Sturheit des Jungen, der anscheinend nicht wusste, was gut für ihn war. „Wieso willst du dich mit mir abgeben? Ich bin ein fürchterlicher Mensch“, versuchte er beinahe schon bitter, die Wahrheit aus Knox herauszupressen, doch er scheiterte an dem viel zu begeisterten Gesicht. „Weil du ein wunderbarer Mensch bist, bissigen Humor und ein großes Herz hast, was du sehr gut unter Tonnen an Kritik zu verstecken weißt. Weil du alles Glück der Welt verdient hast und ich gerne Teil dieses Glücks sein möchte. Ich möchte gerne in deiner Nähe sein und deine Nähe spüren, wenn du es erlaubst und dich wohl damit fühlst. Hinzukommt, dass du wirklich wirklich attraktiv bist, unverschämterweise so. Mir fallen viele Gründe ein, warum, Jean, aber unterm Strich kann man sagen, dass ich schon ein bisschen verliebt in dich bin.“ Wie ein Donnerschlag verhallten Knox‘ Worte zwischen ihnen und Jean starrte in das Gesicht, die erschrockenen Augen, die offenen Lippen, die gerade vermutlich Dinge ausgeplaudert hatten, die so noch nie laut gesagt worden waren. Er wurde geliebt und alleine das Wissen darum war beinahe augenblicklich zuviel für Jean. Panik schoss in ihm hoch und ließ ihn ungelenk aus dem Bett stolpern. Instinktiv suchte er die Flucht, die ihm die Situation bot, und schneller, als er es wirklich begreifen konnte, war er auf dem Flur. Erst, als die Tür ins Schloss fiel und ihn von Knox trennte, wurde sich Jean bewusst, dass es eigentlich genau das genaue Gegenteil von dem war, was er eigentlich wollte und brauchte. Und was Knox brauchte, nachdem er ihm das gesagt hatte, dieses intime Geständnis von Emotionen, die so angreifbar machten. Unwirsch drehte Jean sich wieder um und riss die Tür auf, sah sich mit weiten, erschrockenen, aber auch traurigen Augen konfrontiert. Natürlich, er hatte es mal wieder geschafft und war nun wieder derjenige, der Knox verletzt hatte. Bestimmt schloss Jean die Tür hinter sich und kam zum Bett zurück. Etwas steif setzte er sich neben Knox, näher als gerade, aber immer noch weit genug, damit etwas Abstand zwischen ihnen war. „Siehst du, es geht schon los. Ich habe dich schon wieder traurig gemacht, nur weil mich Dinge erschrecken“, murmelte er und biss sich auf die Unterlippe. „Es ist okay“, versuchte sich Knox an einem wackligen Lächeln und Jean grollte. „Das sagt Josten auch immer und es ist genauso gelogen wie deine Worte jetzt.“ Ertappt zog Knox den Kopf zwischen die Schultern und die Beine zu sich, bettete sein Kinn auf die Knie. Aufmerksam und viel zu einfühlsam wurde Jean gemustert. „Du bist nicht beschädigt oder anders als andere Menschen, Jean. Du bist einfach ein toller Mensch und ich würde mich freuen, dir nahe zu sein. Aber wenn das nicht geht, dann ist es auch in Ordnung, wirklich.“ „Ich habe Angst“, gestand Jean ein. „Davor, es nicht richtig zu machen, vor meinen Erinnerungen und vor den Gefühlen, die so ganz anders sind als all das, was ich bisher gefühlt habe. Ich habe Angst vor dem Wort Liebe. Es ist so gewichtig, so neu. Es macht Dinge mit mir, die ich vorher nicht kannte.“ Knox hob seinen Kopf und nickte bedächtig. „Möchtest du darüber sprechen?“ Wollte er? Jean wusste es nicht wirklich. Alleine das Konzept Liebe war für eine lange Zeit undenkbar gewesen. Er hatte das Wort verachtet und es negativ unterlegt. Liebe zur Gewalt. Liebe zur Folter. Liebe zur Perversion und Liebe für das Leid anderer. Doch nichts davon traf auf den Jungen zu, der neben ihm saß, größer und stärker, als es Riko jemals gewesen war und doch auf eine ganz offene Art verletzlich. Knox gab offen zu, dass er in ihn verliebt war und das erschreckte Jean, weil er nicht wusste, wie sich das anfühlte. So wie jetzt? War es der Wunsch, Knox nahe zu sein, auch nachdem nicht mehr hier waren am College? War es die verbindliche Sicherheit, die er in der Gegenwart des anderen Menschen verspürte? War es die Lust, die er verspürt hatte, als er das Video der beiden Männer gesehen und sich vorgestellt hatte, wie es war, das mit Knox zu tun? Jean wollte all diese Fragen stellen, doch er traute sich nicht. Noch nicht. Er schüttelte den Kopf und es war okay. Knox akzeptierte das. „Ich weiß nicht, ob ich lieben kann“, sagte Jean schlussendlich ehrlich, doch auch das traf nicht auf Ablehnung. Im Gegenteil. Knox musterte ihn mit einem sanften Lächeln voller Offenheit. Er sagte nichts und unsicher schwieg Jean, da er mit noch mehr Fragen zurückblieb als vorher. Er wusste nicht, wie er weitermachen sollte, was nun als nächstes kam oder was von ihm erwartet wurde. Das hier war, so erkannte Jean mit erschreckender Klarheit, die Welt ohne Netz und doppeltem Boden. Das hier war um Längen unbekannter als seine Ankunft in Los Angeles vor ein paar Monaten. In diesem Schweigen krochen Knox‘ Finger zu ihm, langsam, klar erkennbar. Jean beobachtete wie sie sich unweit von ihm auf das Bett legten, mit der Handinnenfläche nach oben. Es war ein Angebot, ein Versprechen, es war der erste Schritt zu etwas, das Jean nie für möglich gehalten hatte und das doch so einfach war. Er schluckte schwer und seine eigenen, verräterischen Finger zuckten, als sie wie ein Magnet von der dort liegenden Hand angezogen wurden. Ja, er wollte Nähe. Knox‘ Nähe. Die Nähe des Jungen, nicht des Kapitäns. Er wollte vergessen, was geschehen war und die schlechten Erinnerungen mit guten verdrängen, soweit es ihm möglich war. Jeans Finger strichen hauchzart über die Haut der Handinnenfläche und fuhren die Linien dort nach. Fragend sah er hoch und erkannte keine Ablehnung auf dem glücklich strahlenden Gesicht des blonden Jungen, auch nicht, als er jeden einzelnen der Finger nachfuhr. Liebe… er wusste nicht, was genau es war, aber war es wichtig im Angesicht dessen, was er bereit war zu tun? „Würdest du mich irgendwann noch einmal so wie beim Aufwachen in den Arm nehmen?“, fragte Knox schließlich leise und Jean dachte auf dieser Frage herum. Warum nicht? Er hatte sich wohl gefühlt, er hatte keine Angst gehabt. Es war sicherlich keine Unmöglichkeit. „Wann?“, fragte er und Knox zuckte verlegen mit den Schultern. „Jetzt?“ Jean seufzte innerlich und nickte. Er konnte diesem Jungen den Wunsch nicht abschlagen. Er wollte es auch gar nicht, insbesondere, weil Knox über das ganze Gesicht strahlte und weil sich eine Wärme in seiner Brust ausbreitete, die mehr als angenehm war. Und weil er es selbst auch wollte. Ohne zu zögern legte der blonde Junge sich hin und robbte nach oben zum Kopfende. Jean folgte langsamer, dafür mit klopfendem Herzen und legte sich vorsichtig neben ihn, erst einmal darauf bedacht, Abstand zu halten. „Soll ich auch den Arm um dich legen?“, fragte er, weil er nichts ohne Knox‘ Einverständnis machen wollte und der blonde Junge nickte. Vorsichtig bettete Jean seinen Arm auf den vor ihm liegenden Körper. „Darf ich näher an dich herankommen?“, fragte Knox und anstelle einer Antwort rückte Jean entschlossen näher. Vorsichtig presste er erst seine Brust an Knox‘ Rücken, dann folgte auch der Rest seiner Vorderseite, bis sie ihre Ausgangsposition hatten, Körper an Körper, noch nicht einmal getrennt durch eine Decke. Menschliche Nähe, die nur noch übertroffen konnte von Nacktheit. Jean schluckte trocken und versuchte das Chaos seiner Gedanken und Gefühle zu ordnen. Was dachte er darüber? Es war ungewohnt, aber doch nicht schlimm. Er mochte es und nahm es nicht als Gefahr wahr. Knox roch gut und die Atmung des anderen Jungen gab ihm einen Rhythmus vor, der ihn mit jeder Sekunde beruhigte. Das Wohlbefinden seines Aufwachens stellte sich wieder ein und Jean fragte sich, ob es nach all den Umarmungen und dem Hände Halten unausweichlich gewesen war, dass sie nun auch das hier teilten? Schon als er das erste Mal keine Abneigung gegen Knox‘ Berührung verspürt hatte, sondern vorsichtiges Vertrauen in den Anderen geschöpft hatte. Dass er nun den energiegeladenen Körper des Strikers an sich gepresst hielt, war ein Gefühl sondergleichen. Jean konnte spüren, wie sich Knox‘ Muskeln zwischen ihnen bewegten, er spürte jede kleinste Bewegung und das verursachte ihm eine Gänsehaut, die nichts mit Angst zu tun hatte. Es war ein Gefühl, das er so noch nie gespürt hatte. Eine Macht…die nicht zerstörerisch war. Eine Verantwortung, dem Jungen vor ihm nicht wehzutun. „Ist das okay für dich oder sollen wir uns wieder lösen?“, fragte eben jener sacht und Jean schnaubte in die blonden Haare, die seine Nase kitzelten. „Es ist okay…und schön.“ Knox gab einen zufriedenen Laut von sich und verschränkte vorsichtig ihre Finger miteinander. „Dann können wir ja jetzt weiterschlafen.“ Jean grollte. „Es ist beinahe schon Mittag.“ „Es ist gerade mal halb neun“, hielt Knox entsetzt dagegen und Jean rollte mit den Augen. „Schon halb neun, Knox.“ „Wir haben Urlaub. Außerdem sind die Anderen garantiert noch nicht wach.“ „Also genug Zeit für Ausdauertraining.“ Ein Laut irgendwo zwischen Verzweiflung und Resignation entkam Knox und Jeans Lippen zogen sich zu einem Lächeln nach oben. Es war schön so. Wirklich schön. „Was für ein Video meinst du eigentlich?“, fragte Knox schließlich und Jean hob die Augenbrauen. Stimmt, in seinem Gestammel hatte er Renees Video erwähnt. Wie auch seinen Vater und den Reporter. „Renee hat es mir geschickt. Das und ein paar andere. Frauen mit Männern, Frauen mit Frauen, Männern mit Männern, alles zusammen…damit ich herausfinden kann, was mir gefällt. Und das Video der beiden Männer hat mir gut gefallen“, gab Jean leise zu, fast schon schüchtern. Noch viel mehr als seine Worte an Knox war das ein Eingeständnis seiner Vorlieben, das in Evermore gefürchtete Konsequenzen gehabt hätte. Es hätte ihm weitere Demütigungen eingebracht. Die Angst davor war auch jetzt da, tief in ihm eingebrannt, und kurz flammte sie auf. Doch Jean gelang es, sie zurück zu drücken und sich bewusst zu werden, dass der blonde Junge vor ihm niemals zu handeln würde. „Oh.“ Fragend sah Jean auf den blonden Schopf. „Oh?“, echote er und Knox lachte verlegen. „Also ein Porno?“ Jean blinzelte und runzelte die Stirn. War es das? Ein Porno? „Sie haben Sex“, erläuterte er schulternzuckend und Knox räusperte sich verlegen. „In verschiedenen Positionen.“ „Das ist so ziemlich genau die Definition eines Pornos, ja.“ Nachdenklich brummte Jean. „Ich könnte ihn dir zeigen.“ Knox musste sich ein wenig verrenken, um ihn anzusehen und Jean war verzaubert von den geröteten Wangen. „Gerne, aber bitte nicht jetzt. Ein Porno wäre…zuviel für mich heute Morgen“, erwiderte er ehrlich und Jean verstand, was Knox ihm damit sagen wollte. Schließlich war auch er davon erregt gewesen und soweit war Jean noch nicht, dass er mit der Lust des anderen Jungen zwanglos und spontan umgehen konnte. Jean brummte und ein anderes Thema kam ihm in den Sinn. „Wirst du es dem Rest des Teams sagen? Das hier?“, fragte er vorsichtig und Knox lächelte. „Nur, wenn du es auch willst, Jean. Wir beide entscheiden darüber.“ Er überlegte. Wollte er es zum jetzigen Zeitpunkt? Nein. Denn so sehr er sein Team auch…nicht hasste…so sehr wusste er, dass diese es gut meinenden Menschen ihn nicht in Ruhe lassen würden. Außerdem wusste er auch noch gar nicht, ob er diese neue, intime Situation, die ihn unsicher machte, mit ihnen teilen wollte. „Ich möchte es erst einmal nicht“, entschied er und es war vollkommen in Ordnung für den Jungen, der vor ihm lag und dessen körperliche Wärme auf Jean überging, auch wenn das physikalisch überhaupt keinen Sinn machte. Knox bestätigte ihm das, mit Worten, Gesten und alleine mit dem Wissen, dass er Jean niemals Schmerzen zufügen oder ihn demütigen würde. ~~**~~ Jeremy lächelte, als Jean schlussendlich ins Bad ging, um sich zu duschen. Er lächelte, als sie zum Frühstück nach unten gingen, in angemessenem Abstand, denn Jean fühlte sich noch unsicher damit, ihre Verbindung vor dem Team preiszugeben. Er lächelte während des Frühstücks und auf dem anschließenden Weg zu ihrem traditionellen Hügel, auf dem sie Schlitten fahren würden, während er den dick eingepackten Jean mit Mütze, Schal und Handschuhen dabei beobachtete, wie er mit Val scherzte und Ajeet unmissverständlich zu verstehen gab, dass ein Schneeball in seinem Gesicht keine gute Wahl wäre. Jeremy konnte nicht anders, all das Glück, das in ihm seine Kreise zog, musste irgendwie raus. Es suchte sich erbarmungslos seinen Weg. Er war dem fast hilflos ausgeliefert… nicht, dass er etwas dagegen hatte. Verstohlen warf Jeremy einen Blick auf Jean, während dieser mit Laila vor ihnen lief, scheinbar mühelos den Hügel hinauf, den sie gerade mit den Schlitten erklommen. Dieses Mal war ihr ganzes Team mit dabei und stapfte laut lachend und scherzend durch den Schnee. Ihre Tradition, das alljährliche Schlittenrennen, dessen zwei Sieger einen Abend Essen und Weggehen vom restlichen Team gesponsert bekamen. Jeremy grinste. Er schäumte schier über vor Endorphinen. Immer und immer wieder ließ er sich ihr Gespräch durch den Kopf gehen, die ehrlichen Worte, die sowohl seine als auch Jeans Lippen verlassen hatten. Hätte Jeremy gedacht, dass Jean ebenfalls etwas für ihn fühlte? Nein. Hätte er gedacht, dass seine ehrlichen und unbedachten Worte auf Zustimmung und nicht, wie für Schrecksekunden befürchtet, auf Ablehnung stießen? Nicht wirklich. Und doch hatte Jean stockend und unsicher Worte herausgepresst, die in all ihrer Unglaublichkeit erst einmal keinen Sinn für Jeremy ergeben hatten und sie sich erst spät zu etwas ungeheuerlich Schönem zusammenfügten. Jean wollte ihm nahe sein. Er wollte ihm nahe sein. Näher als nah. Jean hatte ihn umarmt, er hatte ihn mit Worten beschenkt, die Jeremy niemals für möglich gehalten hätte. Und trotz aller Wenns und Abers, die zwischen ihnen schwebten, trotz all der Unsicherheit und Angst, die er auch hatte, etwas falsch zu machen und das Zarte zu zerstören, was sie hatten, wollte er sich ins Ungewisse stürzen und Jean ein gutes Beispiel sein. Er wollte ihm wunderbare Erinnerungen bereiten. Natürlich war sich Jeremy der immensen Verantwortung bewusst, die er dabei trug. Er war der erste Junge, der Jean nahe sein durfte und der ihm nicht wehtat. Er war der Erste, der mit Jean intime Nähe teilen würde, wenn dieser es zuließ. Die Verantwortung war immens und Jeremy war in gleichen Teilen erschrocken und vollkommen erstaunt über dieses gewaltige Vertrauen. Und natürlich schrie alles in Jeremy nach Jeans Nähe. Er würde den anderen Jungen gerne halten, ihn umarmen, ihm nahe sein. Er würde ihm gerne sagen, dass er wunderschön war, dass er gut roch, dass die Kraft in seinen Armen so wunderbar war. Doch all das ließ Jeremy unter der Oberfläche seiner Gefühle für Jean schlummern, denn er ahnte instinktiv, dass es noch nicht die richtige Zeit dafür sein würde. Wenn sie es denn jemals war. Nichts wollte Jeremy weniger als Jean mit seinen Emotionen zu verschrecken. „…rde an Jeremy Knox, Kapitän der Trojans, achtfacher Gewinner des Kayleigh-Day-Spirt-Awards, ewiger Verlierer unserer Schlittenrennen…“ Jeremy schreckte aus seinen Gedanken hoch, gerade rechtzeitig um mitzuerleben, wie Alvarez ihm gegen den Oberarm boxen wollte. Grollend wich Jeremy ihr aus und schubste sie in Richtung Wegesrand. Sie lachte und krallte sich an ihm fest, die Drohung, ihn mit in den Abgrund zu reißen, immanent. „Was willst du, Vizekapitän des drittbesten Teams der Liga?“, grollte er mit klopfendem Herzen und Alvarez schnaubte. „Wissen, was gestern Nacht passiert ist.“ Jeremy runzelte die Stirn. „Was soll passiert sein?“ „Du grinst wie das letzte Honigkuchenpferd. Hattet ihr Sex?“ Jeremys Kopf schoss in einer solchen Geschwindigkeit herum, dass es in seinem Nacken knirschte. Wild sah er sich um ob jemand ihnen zugehört hatte, doch Alvarez‘ Frage war in dem allgemeinen Lärm ihres Teams untergegangen. „Was?“, zischte er. „Du lässt Mr. Tall-Dark-Sexy-and-Glowing heute nicht aus deinen Augen. Er sieht ständig zu dir. Ihr verhaltet euch komischer als sonst. Glaubst du, ich wäre blind? Los, gib mir Informationen.“ Jeremy versuchte, sich von dem Kraken an seinem Arm loszumachen – mit wenig Erfolg. Alvarez krallte sich erbarmungslos an ihm fest. „Es ist alles okay!“, sagte er und das war nicht gelogen. Es war okay, mehr als das. Vielmehr als das. „Captain Nichtssagend hat Ausgang, oder wie? Natürlich ist alles okay, das sehe ich auch. Also…habt ihr gev…“ Weiter kam sie nicht, als Jeremy ihr den Mund zuhielt. „Ruhe jetzt“, grollte er unerfreut. „Frag das nicht, zumindest nicht so laut. Und nein, haben wir nicht.“ Vielsagend hob Alvarez die Augenbrauen und deutete mit ihren Augen in Richtung Jean, der sich – des Tumults bewusst – zu ihnen beiden herumdrehte. Alvarez winkte und Jean sah fragend zu Jeremy. „Dieser Teufel hier möchte wissen, ob wir letzte Nacht gut geschlafen haben“, soufflierte Jeremy mit einem ironischen Unterton und Jean bohrte seinen durchdringenden Blick in Alvarez‘ viel zu neugierige Augen. „Es war okay“, antwortete Jean unbewegt, ausdruckslos beinahe und für einen Moment nahm Jeremy das sehr ernst. Doch bevor enttäuschte Verwirrung in ihm Fuß fassen konnte, hörte er den ironischen Unterton in der staubtrockenen Stimme und lachte. Alvarez befreite sich von ihm und stemmte die Hände in die Hüften. „Du verbirgst etwas, Franzose!“, behauptete sie und Jean zuckte nonchalant mit den Schultern. „Wundert dich das?“, stellte er die ironische Gegenfrage und ein zischender Laut entkam seiner Mitbacklinerin. „Ich werde dich gleich so was von nass machen, Moreau, das glaubst du doch wohl!“ Jean hob nur die Augenbrauen und Jeremy dachte unwillkürlich an das Geständnis des anderen Jungen, dass er noch nie einen Schneeengel und noch nie eine Schlittenfahrt gemacht hatte. Auch das hier wäre sein erstes Mal und Jeremy würde alles dafür tun, dass es eine gute und tolle Erfahrung wurde. Wie gut, dass Jean noch nicht ahnte, wie oft sie im Schnee landen würden. Sie gingen weiter und erreichten schließlich die Hügelkuppe, von der aus es einen wunderbaren Blick in das schneebedeckte Tal mit den benachbarten Wäldern gab. Jeremy seufzte und sein Brustkorb wurde beinahe vor überschäumendem Glück gesprengt. Liebevoll strich er über den Holzschlitten an seiner Seite. Er räusperte sich und drehte sich zu den Trojans. „So Leute, ihr kennt den Drill. Wir grooven uns erst einmal ein, machen ein paar Durchgänge zur Probe. Dann wird es ernst und wir machen unser berühmt-berüchtigtes Rennen, das ich natürlich dieses Jahr gewinnen werde!“ Das Lachen seines Teams war wohlverdient und Jeremy grinste. Einzig Jean maß ihn verwirrt. „Laila sagte, dass man zu zweit auf einem Schlitten sitzt“, sagte er kritisch und Jeremy nickte. „Mit wem sitzt du auf diesem Gerät?“ Jeremy grinste. „Mit dir natürlich!“ Jean schnaubte. „Und was, wenn ich gewinnen will?“ Für einen Moment herrschte Stille, dann lachte Ajeet als Erster laut auf, gefolgt vom Rest der überraschten Trojans. „Oh mein Gott, habe ich da Humor gehört?“, fragte Val mit gespielter Empörung und stemmte die Hände in die Hüften. Jean rollte mit den Augen und vergrub seine Hände in den Taschen seines Wintermantels. „Träum weiter.“ „Von dir und deinem Humor? Immer!“ „Geh weg, unheimliches Weib.“ „Geh du doch weg, Mr. ich-bin-mit-der-Bande-verheiratet.“ Dass Jean die Bande des Exyfeldes sehr häufig und gerne in seine Pässe miteinbezog, wussten sie mittlerweile alle. Dass er es mit einer beneidenswerten Präzision tat, ebenfalls. Insbesondere Val war das genaue Gegenteil und sie konnte mit der Bande auch nach Jahren nicht wirklich etwas anfangen. Das war ein stetiger Quell des Spotts zwischen den Beiden. „Schlitten?“, mischte Jeremy sich in die aufkommende Diskussion ein, die er auf Jeans Gesicht sah und deutete neben sich. Eingehend maß Jean ihn, als hätte er das hölzerne Gestell nicht schon auf dem Weg hierhin gesehen. „Soll ich beim ersten Mal vorne sitzen und du hältst dich fest? Oder willst du ganz alleine fahren?“, fragte er und Jean schüttelte langsam den Kopf „Nein, ich möchte zunächst nicht alleine fahren. Wo hält man sich fest?“, fragte er und Jeremy deutete auf die hinteren Streben. „Entweder dort oder an dem vorne Sitzenden.“ Jean hob vielsagend die Augenbraue. „Ich nehme an, Letzteres ist sicherer?“ „Ja natürlich“, behauptete Jeremy zwinkernd und er liebte den Moment, genau wissend, dass er mit Jean scherzen konnte ohne dass dieser aus Unwissen vor der Ironie, die dahinter stand, Angst hatte. Jeans hellgraue Augen sagten ihm genau das und Jeremy stieg lieber auf den Schlitten, bevor er sich noch in eben jenen verlor oder bevor er unter dieser äußerst kritischen Musterung im Boden versank. Weitaus langsamer als er stieg Jean hinter ihm auf und näherte sich ihm beinahe scheu. Links und rechts keilten seine Schenkel Jeremy ein und leicht lehnte er sich zurück. „Ist das okay?“, fragte er leise über den Lärm von Ellie und Ajeet hinweg, die zusammen auf einem Schlitten als Erste den Berg hinuntersausten und innerhalb kürzester Zeit an beachtlicher Geschwindigkeit gewannen. Jean sah ihnen für einen Augenblick nach und nickte dann stumm. „Ich habe aber noch keinen Halt.“ Es war die verklausulierte Bitte um Erlaubnis erkannte Jeremy und deutete auf seine Körpermitte. „Am Besten legst du deine Arme um meine Körpermitte und hältst dich fest.“ Ganz so überzeugt war Jean nicht davon, aber er folgte seinem Vorschlag. Eng hielt er ihn an sich und Jeremy nutzte ihr Gewicht, um den Schlitten etwas nach vorne zu schieben, bis an die Hügelkante. „Bereit?“, fragte er schließlich und Jean brummte. „Fährst du so Schlitten, wie du Auto fährst?“, fragte er zweifelnd und Jeremy schnaubte. „Schlimmer“, erwiderte er mit unheilvollem Unterton. „Vertraust du mir?“, schob er herausfordernd nach und Jean gab einen Laut irgendwo zwischen Verzweiflung und Bejahung von sich. „Habe ich eine Wahl?“ „Jederzeit, Jean Moreau. Jederzeit!“ Eben jener seufzte tief und nickte dann. Fröhlich nahm Jeremy das zur Kenntnis und schob sie beide über die Kante um unter lautem Quietschen loszufahren. Während Jeremy vor Glück lachte, klammerte Jean sich überrascht und eng an ihn, als sie den Hügel hinuntersausten. Gezischtes Französisch verließ seine Lippen und verlor sich im Fahrtwind, bevor Jeremy auch nur eines der Worte ausmachen konnte, die er bereits unter Jeans strenger Anleitung gelernt hatte. „Alles wird gut!“, rief er gegen den Wind an und der Junge hinter ihm grollte, während sie Fahrt aufnahmen und der Schlitten immer schneller wurde, je mehr sie sich dem Ende näherten. Dem Ton der Worte nach zu urteilen war er gerade der schlimmste Schlittenfahrer, den die Welt aufzubieten hatte. Damit konnte Jeremy leben, insbesondere jetzt, da er sie nach dem Rausch der Geschwindigkeit geschickt langsam ausrollen ließ und mit seinen Füßen schließlich bei Ellie und Ajeet bremste, die mit glücklich strahlenden Gesichtern auf sie warteten. Jena selbst brauchte etwas, um sich von Jeremy zu lösen, auch als sie schon lange standen. Als er es schlussendlich tat, nutzte Jeremy den entstandenen Freiraum, um sich glücklich grinsend umzudrehen. Das gerötete, ein wenig erschrockene, aber auch schon in Ansätzen begeisterte Gesicht des Backliners, das ihn in einer hinreißenden Mischung aus Empörung und Begeisterung anstarrte, war Jeremy die beste Belohnung, die er in der letzten Zeit für seine exorbitanten Schlittenfahrkünste erhalten hatte. Wer brauchte da schon ein Abendessen? Jeremy liebte diesen Ausdruck, stellte er fest und er kicherte. „War gut?“ Jeans Stolz rang mit einer ehrlichen Antwort, das sah Jeremy. Unwirsch verzog der andere Junge seine Lippen und noch viel unwirscher verschränkte er die Arme. „Das nächste Mal sitze ich vorne“, grimmte er schließlich, ganz zu Jeremys, Ellies und Ajeets Freude. ~~**~~ „Lieber Jean…“ Misstrauisch sah eben jener von seinem Handy auf, mit dem er sich in der Nähe des Kamins auf die in die Jahre gekommene Couch zurückgezogen hatte. Knox war währenddessen mit Ricardo, Stephen, Niam und Logan in die Sauna gegangen und Jean hatte bis zu diesem Zeitpunkt gedacht, er könne die Zeit nutzen um mit Renee zu chatten. Er musste dringend mit ihr über das sprechen, was gestern passiert war, denn er brauchte ihre Versicherung, dass es das Richtige war, was er tat. Instinktiv wandte er sich nicht an Andrew, da er befürchtete, dass dieser Knox erneut bedrohen würde. Vielleicht irrte er sich auch, aber er wollte kein Risiko eingehen. Gestern Morgen hatten sie über ungeheuerliche Dinge gesprochen, über Unwahrscheinlichkeiten, die mit einem Mal so wahrscheinlich waren, dass es Jean schauderte. Er hatte die Möglichkeit, sich fortzuentwickeln. Er hatte die Möglichkeit, neue Dinge zu erleben neue Gefühle zu haben und neue Wagnisse einzugehen. Das war erschreckend und wunderbar zugleich und er kam nicht umhin, den Jungen, der ihm all diese Möglichkeiten eröffnet hatte, mit seiner Aufmerksamkeit und seinen Blicken zu verfolgen. Ihn aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, aus einem nun erlaubten Blickwinkel. Gestern waren sie sich auf dem Schlitten nahe gewesen, Jean eng an Knox gepresst. Dass sich Knox von hinten eng an ihn presste, war nicht möglich gewesen, das hatten sie gemeinsam herausgefunden. Und es war okay gewesen, dass er es nicht konnte. Sie hatten beide eine andere Lösung gefunden. Wieder und wieder hatte Jean sich mit oder ohne Knox den Hügel hinuntergestürzt und mehr als einmal war der Schlitten von der Bahn abgekommen und hatte sie beide kullernd den Hügel hinuntergeschickt und mit Schnee bepudert. Das schlussendliche Rennen hatten eine zufrieden strahlende Yara und ein überschwänglich glücklicher Niam gewonnen, knapp vor Ajeet und Ellie. Knox und er… waren nicht ganz Letzte, aber knapp und Jean war erstaunt gewesen, wie sehr ihn das fuchste. Vollkommen durchgefroren war er schlussendlich wieder in ihrem Haus angekommen und hatte lange geduscht. Entsprechend müde war er früh ins Bett gegangen und hatte dieses Mal die Kissen zwischen seiner und Knox‘ Seite weggelassen. Am nächsten Morgen war er zwar nicht an Knox gepresst aufgewacht, dennoch waren sie sich nahe gewesen, einander zugewandt und Jean hatte die erste Stunde des Tages damit verbracht, den blonden Jungen eingehend dabei zu beobachten, wie er im Schlaf murmelnd seine Lippen bewegte und seine Augen hinter geschlossenen Lidern hin- und herhuschten. Es war der letzte Tag des Jahres und Jean hatte jeden Gedanken an das Jahr, das hinter ihm lag, unterdrückt. Den Morgen und den ganzen Tag über. Lieber hatte er sich auf Knox konzentriert, dessen Verhalten planbar, verlässlich und wunderbar war. Dass nun Laila, Alvarez, Ajeet und Fahima sich zu ihm setzten, war weniger geplant und ihre aufmerksamen Gesichter, die allesamt auf ihn gerichtet waren, lösten in ihm eine latente Unruhe aus. „Die Antwort ist nein“, richtete er an Alvarez, die ihn bösartig angrinste und konzentrierte sich auf Fahima, deren liebevolles Lächeln ihm tausendmal mehr Beruhigung war. „Wir würden dir gerne etwas geben“, erläuterte sie und er hob die Augenbraue. Langsam ließ er das Handy sinken, steckte es in die Tasche sah sich misstrauisch um. „Okay?“, hakte er nach und Ajeet verschränkte mit einem verschämten Grinsen die massiven Hände ineinander. „Du hast uns so wunderbare Weihnachtsgeschenke gemacht, Jean.“ „Sehr persönliche Geschenke“, stimmte Laila mit ein und Jean senkte verlegen den Blick. Ja, er hatte ihnen Geschenke gemacht, aber er hatte nicht mit einer Reaktion gerechnet. Bisher hatte er bis auf Dankesnachrichten auch keine erhalten und das war in Ordnung für ihn gewesen. Dass die Vier nun vor ihm standen, machte ihn unsicher. „Und deswegen haben wir uns gedacht, dass wir uns dafür revanchieren.“ Jean konnte nichts Böses in Ajeets Stimme und Gesicht entdecken, also wartete er unruhig ab, was noch kommen würde. Der regenbogenfarbene Umschlag, den Alvarez ihm abrupt entgegenstreckte, hatte er jedenfalls nicht erwartet und er zuckte entsprechend nervös zusammen. „Was ist das?“, fragte er unwirsch und starrte auf die bunten Farben. „Mach es auf, dann weißt du es.“ So einfach war es. Jean grollte und nahm unter den wachsamen Augenpaaren seiner vier Teammitglieder den Umschlag entgegen und öffnete ihn vorsichtig. Er zog behutsam eine Karte heraus und klappte sie auf. Dabei klappte sich ein kleines, ziseliertes Schloss auf, das ihm latent bekannt vorkam. Jedes der Worte, das er las, verstand er, nur machten sie in ihrer Gesamtheit keinen Sinn. Es war ein Gutschein, soweit, so gut. „Was ist das Disney's Contemporary Resort?“, hakte er vorsichtig nach und Fahima lächelte. „Es ist ein Hotel in der Nähe des Disneyland in Orlando, Florida.“ Überrascht sah Jean hoch. In Frankreich gab es auch ein Disneyland. Das hatte er damals mit seinem Vater besucht und war wie verzaubert gewesen. Dass es auch hier in Amerika eins gab, war ihm neu und es erweckte Gefühle in ihm, die er nicht wirklich einordnen konnte und die ihm eine weitere Form der Wärme bereiteten. „Dort steht ein Wochenende?“, stellte er fragend in den Raum und Ajeet nickte. „Für dich und eine Begleitung deiner Wahl.“ „Mit Parkeintritt für euch beide…“, ergänzte Fahima. „…damit du auch ein Stück Frankreich hier in Amerika hast“, schloss Laila und Jean schluckte schwer. Die klaren Erinnerungen an das Disneyland in Frankreich, die er verloren geglaubt hatte, schlichen sich in sein Denken und seine Hände zitterten ohne sein Zutun. Dieser Gutschein löste eine Sehnsucht in ihm aus, die er unterschätzt hatte, gemischt mit unendlicher Dankbarkeit für das erhaltene Geschenk. „Vielen Dank“, murmelte er und sah auf den Umschlag. Sacht fuhr er über das, wie er nun erkannte, Disneyschloss. „Es ist wundervoll.“ Vier Paar Lippen zogen sich um die Wette nach oben und Jean fand nicht die Kraft zu grollen oder seine schützenden Wälle nach oben zu ziehen. Disneyland…ein Ort mit so vielen Erinnerungen, ein Ort der Unbeschwertheit und des Glückes, der ihn damals hatte glauben lassen, dass die Welt niemals böse sein konnte. Damals hatte er an Märchen geglaubt und an das Gute, das stetig obsiegen würde. „Vielen Dank“, wiederholte er leise und sah hoch, als Fahima zu ihm kam. „Okay?“, fragte sie und Jean nickte zögernd. Sacht schloss sie ihn in ihre Arme und strich ihm über den Rücken. „Gefällt es dir wirklich?“, hakte Ajeet besorgt nach und Jean bemerkte, dass es tatsächlich Tränen waren, die in seinen Augen standen. „Es weckt Erinnerungen“, presste er hervor, ehrlicher als sonst, und überrascht nahm er zur Kenntnis, dass jeder von ihnen Verständnis hatte. „Dann kannst du an eurem nächsten freien Wochenende einen Menschen deiner Wahl, also Jeremy, einpacken, und mit ihm ins magische Wunderland fahren“, grinste Alvarez und Jean grollte nun doch. Bestimmt löste er sich von Fahima und verschränkte die Arme. „Wer weiß, vielleicht nehme ich auch dich mit?“ Sein Vizekapitän lachte. „Win win für mich. Wer war nochmal Jeremy?“ Jean rollte herzhaft und voller Inbrunst mit den Augen, die Tränen aus ihnen wegblinzelnd. ~~**~~ „Hat jeder ein Glas?“ Die Anwesenden bejahten dies ekstatisch, nur Jean folgte dem ruhiger und sah auf sein Glas Orangensaft. Kein Alkohol, immer noch nicht. Er wurde nicht wirklich warm mit dem beißenden Geschmack. „Wunderkerze?“ Auch die hatte er und fragte sich, wann er das letzte Mal ein solches Stäbchen in den Händen gehalten hatte. Sein Vater hatte früher die Jahreswende damit eingeläutet und als er alt genug gewesen war, hatte Jean auch eine solche Wunderkerze halten dürfen. Wie erwachsen er sich damals doch vorgekommen war. Er sah zu Knox, der sich gerade auf einen der Holzstämme draußen gestellt hatte und ohne viel Mühe auf dem runden Holz balancierte. Es waren nur noch ein paar Minuten, bis die Jahre wechselten und anscheinend war es gute, alte Tradition seiner Mannschaft, diese Zeit nach einer Party drinnen schlussendlich draußen mit Lagerfeuer, Marshmallows und guten Geschichten über die Vergangenheit zu verbringen, die schlussendlich in dem Ritual des Anstoßens und der Wunderkerzen mündeten. „Trojans!“, rief er und die Mannschaft antwortete unisono mit ihrem kehligen Kampfschrei. „Wieder ist ein Jahr vorbei und wir stehen hier, im Schnee und im Angesicht des neuen Jahres!“ Begeisterung schlug ihm entgegen und Jean konnte ein gewisses Kribbeln in seiner Bauchgegend nicht verneinen, auch wenn er weit davon entfernt war, wie Ellie zu jubeln. „Wir sind ein Team, eine Mannschaft, wir sind Freunde und manchmal auch mehr als das. Wir schätzen einander und wir lieben uns.“ „Wuppwupp!“, johlte Alvarez und ein paar Trojans klatschten pfeifend. „Die bisherige Saison war großartig und die kommenden Spiele werden wir mit der gleichen Energie und dem gleichen, fairen, sportlichen Engagement gewinnen, wie wir die letzten auch gewonnen haben!“ Jean hoffte es. Er hoffte nicht, dass die Ravens in Los Angeles siegreich sein würden. „Nach diesem ereignisreichen und wundervollen Jahr werden wir voller Tatendrang ins Neue starten und verdammt nochmal den Pokal mit nach Hause nehmen!“ Zum Ende hin war Knox immer lauter geworden und das Team klatschte und grölte frenetisch. „Wir stehen in Freundschaft und Loyalität zusammen! Wir stehen für Respekt und Sportsgeist! Wir stehen für Fairness und einen Sport, der sich nicht durch Gewalt gegen die gegnerische Mannschaft definiert!“ Die Trojans jubelten und Jean schluckte gegen den allzu großen Kloß in seinem Hals an. All das, was die letzten Jahre seines Seins bestimmt hatte, all das, was er bei den Ravens gelernt hatte, stand diametral der Philosophie der Trojans entgegen. Vieles von dem, was in ihn geprügelt worden war, konnte er auch jetzt nicht ablegen und er war somit immer ein dunkler Fleck in den hellen Trojans. Es gab auch jetzt noch Tage, wo er voller Zorn über ihre Art zu spielen war. Voller Wut über das Gute, was sie auf das Spielfeld brachten. Und dennoch… Sie waren Rollenvorbilder, wie es sein sollte, nicht, wie es gut für einen Sieg war. Und doch war Jean ein Teil von ihnen. Er war ein Trojan und in diesem Moment wurde ihm das mit erschreckender Klarheit bewusst. Er trug rot und gelb, er trug die Nummer sieben. Er war Starting Backliner der USC Trojans in Los Angeles. Jeans Gedanken schweiften zum Beginn des Jahres. Er hatte nicht gewusst, dass Silvester war, denn in Evermore war es ein Tag wie jeder andere gewesen. Das einzige Anzeichen war Riko gewesen, wie er sich abfällig über die mit Sicherheit siegreiche Saison lustig gemacht hatte. Wie immer hatte Jean seine Gewalt ertragen, seine Launen. Er hatte in der dunklen Stille sein Handy hervorgeholt und es gewagt, Renee Nachrichten zu schreiben. Dann irgendwann nach ein paar Monaten, nach unzähligen Tagen, war die Katastrophe passiert… Jean schluckte und schob beinahe schon panisch alle Erinnerungen daran zurück in die Untiefen seines Traumas. Er wollte dem Jahreswechsel nicht mit schlechten Gefühlen beiwohnen. „…jeder die Wunderkerze?“ Jean blinzelte und sah sich erschrocken um. Sein Team hob die schwarzen Stäbchen empor und stellte sich in kleinen Grüppchen zusammen. Jeweils einer hatte ein Feuerzeug dabei und hielt es an die gekreuzten Stäbchen. „Komm zu uns, Monsieur France“, holte Val ihn zu ihnen und Jean stellte sich neben sie. „Kerze!“ Gehorsam hielt er auch seine Kerze hoch und wohnte erstaunt bei, wie erst Knox von neunundzwanzig hinunterzählte und der Rest des Teams dann bei zehn einstimmte. Bei null angekommen, jubelten sie, als hätten sie die Meisterschaft gewonnen und die Trojans mit den Feuerzeugen zündeten die Wunderkerzen an, die ihre kleinen Leuchtfunken in die Dunkelheit sprühten und sie alle in einem flackernden Licht erhellten. „Frohes neues Jahr!“ „Frohes Neues!“ „Wuppwupp, alles Gute für’s neue Jahr!“ Diese und ähnliche Wünsche machten die Runde und die Trojans umarmten sich gegenseitig überschwänglich. Auch Ajeet, der mit seiner Familie bereits im November Silvester gefeiert hatte, ganz traditionell. Fahima, die Silvester eigentlich gar nicht feierte. Ebenso wenig wie Yara, deren Eltern aus Iran stammten. Oder Niam, mit seinen jüdischen Wurzeln. Sie alle freuten sich für ihr Team und wurden ebenfalls für ihre Gebräuche respektiert. Ebenso wie Jean. Seinen Wunsch auf wenig körperliche Berührungen akzeptierten restlos alle Trojans und berührten ihn am Arm oder an der Schulter, sie lächelten ihn an und stießen ihre Gläser an seins. Als es ihm dennoch zuviel wurde, stellte er sich etwas abseits in eine dunkle Ecke außerhalb des heimelig duftenden und laut knisternden Lagerfeuers und beobachtete das Treiben seines Teams, wie er es bereits desöfteren auf einer Party beobachtet hatte. „Jean.“ Er drehte sich nach rechts und entdeckte Knox, der vor ihm stand, vibrierend vor überschüssiger Energie und voller positiver Emotionen. Der Junge strahlte über das ganze Gesicht und für einen Moment hatte Jean das Gefühl, dass er ihm in die Arme springen wollte. Zumindest machte Knox alle Anstalten dazu und kam nur knapp vor Jean zum Stehen. Er reckte den Kopf in die Höhe und grinste Jean an. „Knox…“, erwiderte er langsam und sein Blick fing sich an den geöffneten Lippen und den geröteten Wangen. Es juckte Jean in den Fingern, Knox zu berühren, die Energie in ihm zu spüren und ihn in seine Arme zu schließen. „Frohes neues Jahr, Jean. Frohes, frohes, frohes neues Jahr!“, wisperte sein Kapitän und Jean stellte fest, dass es unmöglich war, das in ihm ausbrechende Lächeln zu unterdrücken. „Mögen all deine Wünsche wahr werden und mögest du das beste neue Jahr erleben, was du jemals hattest.“ Jean war unfähig, etwas darauf zu erwidern, also schloss er Knox so ungestüm in die Arme, wie er ihn schon mehrfach umarmt hatte. Stürmisch, etwas zu stark, beinahe schon so, als würde er ihn verschlingen wollen. „Danke. Danke für alles, Jeremy Knox, Captain Sunshine“, wisperte Jean ihm dankbar ins Ohr und fasste sich ein Herz. Im Schutz der Dunkelheit umfasste er das Gesicht des anderen Jungen und holte sich Mut in den blauen, strahlenden Augen, die ihn geweitet anstarrten. Vielleicht, aber nur ganz vielleicht war es die ausgelassene Stimmung seines Teams, die auch ihn angesteckt hatte, denn anders konnte Jean es sich nicht erklären, warum er den plötzlichen Drang verspürte, nicht nur Knox‘ Gesicht zu umfassen. Nein. Er wollte auch das, was er schon tausendfach in Los Angeles gesehen hatte. Kurz schweifte sein Blick über das Team, das ihnen keine Bedeutung beimaß, nur um dann umso intensiver zu dem Jungen zurück zu kehren, der vor ihm stand und nickte. Ganz sacht, unaufdringlich, bejahend und zustimmend. Er gab sein Einverständnis für Jeans Vorhaben, etwas noch nie Dagewesenes zu erhaschen. Knox‘ Lippen teilten sich und wenn Jean sich genau konzentrierte, konnte er den Atem seines Gegenübers dahinfliehen hören. Die letzte Hürde, die er nehmen musste, war seine eigene und diese überwand Jean nun, als er die Distanz zwischen ihnen schloss und seine Lippen auf die des blonden Jungen legte. Er selbst schauderte und atmete zittrig ein ob des irrsinnigen, nie dagewesenen Gefühls voller Emotionen. Wie weich diese nie stillstehenden Lippen doch waren. Wie nachgiebig und anschmiegsam sie sich an seinen anfühlten. Knox atmete mit einem abgebrochenen Schluchzen aus und gab einen Laut von sich, den Jean auch schon in dem Video gehört hatte. Nur dass es aus seinem Mund viel viel besser klang. Fragend löste Jean sich von den unerwartet weichen Lippen und nun war es ein Laut des Protestes, dicht gefolgt von einem Gurren, das er in dieser Art so noch nie gehört hatte. Sacht strich er über das Gesicht und die Haare, fuhr mit seinen Augen wie mit seinen Fingern die Konturen des Jungen nach, der mehr als nur ein Freund für ihn war. Huh. Das war es also, was man Anziehung nannte. Das Ziehen in seinem Unterleib, das Begehren tief in seiner Magengegend, welches bis zu seinem Herzen abstrahlte. Die watteartige Wärme in seinem Kopf, gepaart mit einer konträren Hyperfokussierung. „Nochmal“, wisperte Jean und es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Bejaht wurde sie dennoch und nun war es Knox, der die Initiative ergriff und seine Lippen hauchzart auf Jeans legte und damit so viele Dinge besiegelte, die Jean allesamt nicht benennen konnte. Und es auch gar nicht wollte. ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)