Force of Nature von Cocos ================================================================================ Kapitel 53: Krieger des Lichts ------------------------------ „Ich bin schuld?“ Drei Worte, die Jeremy einen Schauer über den Rücken jagten. Jean fragte ruhig nach, immer noch so fürchterlich emotionslos und Jeremy schloss für einen Moment die Augen. Dass das nicht klug war, wenn er Jeans Reaktionen im Auge behalten wollte, wurde ihm Sekunden später bewusst und er riss sie wieder auf. Bestimmt und energisch schüttelte er den Kopf. „Nein, das bist du nicht Jean.“ „Doch.“ Überrascht hob Jeremy die Augenbrauen. „Nein, Jean, warum…“ „Er hat eure Beziehung beendet, weil ich ihn gewürgt und ihn aus dir herausgezogen habe“, sagte Jean in einer brutalen Ehrlichkeit, die Jeremy mit den Zähnen knirschen ließ. „Weil ich ihn traumatisiert habe.“ „Nein, Jean, du…“ „Das habe ich getan“, bekräftigte Jean und Jeremy hörte fassungslose Pein in der rauen Stimme seines Backliners. „Nur weil ich unüberlegt gehandelt habe. Weil ich nicht nachgedacht habe.“ „Du hattest deine Gründe für dein Handeln, Jean. Bitte.“ „Mein Grund ist, dass ich unerfahren und dumm bin“, schnarrte sein Gegenüber und Jeremy schluckte schwer. Seine Hand kroch über den Tisch und blieb neben Jeans liegen. Vorsichtig tippte er mit seinem Zeigefinger auf Jeans Fingerknöchel. „Dein Grund ist, dass du traumatisiert worden bist. Du hast es nicht aus böser Absicht getan.“ Jean schwieg für einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. „Nur dass ich dich wieder einmal damit verletze und dir etwas Böses tue. Ich habe den Reporter von dir weggetrieben, der dir viel Gutes getan hat. Mit dem du intimen Spaß hattest. Ich habe dir also schon wieder Dinge angetan, die schlimm sind“, spie er mit soviel Selbsthass aus, dass Jeremy nicht anders konnte als zu grollen. Dass das Jean erschreckte, war nur logisch und Jeremy tat seine Reaktion leid, sobald sie seinen Mund verlassen hatte. „Nein Jean, du bist nicht schuld“, erklärte er hastig sein Grollen. „Bitte mach dir deswegen keine Vorwürfe. Wirklich. Du bist nicht schuld. In keinem Fall. Ich werde dir das auch niemals vorwerfen. Niemals, Jean, niemals! Und deswegen möchte ich auch nicht, dass du dir deswegen Vorwürfe machst. Bitte.“ Jeremy flehte mit großen Augen und tippte Jean erneut auf den Fingerknöchel. Einmal, zweimal, solange, bis Jeans Augen von ihrem intensiven Starren auf seinen Finger auswichen. Jeremy tippte weiter und Jean hob die Augenbraue. „Gib nicht dir die Schuld. Bitte. Jean, bitte. Ich möchte nicht, dass du das tust. Niemand kann etwas dafür. Wirklich niemand.“ Jeans Zeigefinger legte sich auf seinen und drückte ihn sanft, aber unnachgiebig auf Jeans Knöchel und hielt ihn dort. Eine Warnung oder ein Versprechen, Jeremy wusste es nicht. „Warum verteidigst du mich?“, fragte Jean schließlich schlicht und Jeremy lächelte so sanft er konnte. „Weil du es verdient hast.“ Jean starrte ihn an, als hätte er seinen Verstand verloren und schnaufte dann, so wie er es in letzter Zeit öfter tat, kurz nachdem er diesen Laut für sich entdeckt hatte. Wenn man Jeremy fragte, was er davon hielt, so wäre seine Antwort ein begeistertes Nicken. Nicht nur, dass er diesen Laut sehr gerne mochte, nein, er war auch froh, dass Jean etwas hatte, das er für sich selbst entdeckt hatte und weiter nutzte. „Nein, habe ich nicht. Ich war brutal, sowohl zu dir als auch zu dem Reporter.“ „Hast du es mit Absicht getan?“, hielt Knox simpel dagegen und es brauchte etwas, bis Jean unmerklich den Kopf schüttelte. In den grauen Augen stand etwas, das Jeremy schwerlich beziffern konnte. „Ich habe viele Dinge nicht mit Absicht getan. Aber verletzt haben sie trotzdem“, murmelte er und Jeremy seufzte. Er nahm seine zweite Hand und legte sie über ihrer beider verbundenen. „Bereust du es?“ „Ja“, erwiderte Jean rau und Jeremy legte den Kopf schief. „Das ist alles, worauf es ankommt. Das macht dich zu einem guten Menschen.“ Jean brummte etwas auf Französisch, halb liebevoll, halb schlecht gelaunt und Jeremy beschloss, den anderen Jungen heute Abend nach ein paar Vokabeln zu fragen, wenn sie im Bett lagen. Um sie beide auf andere Gedanken zu bringen. ~~**~~ Mit jeder Minute, die sich seine Vorlesung dem Ende näherte, wurde Jean nervöser und nervöser. Er konnte noch nicht einmal sagen, was ihnen der Dozent in der letzten halben Stunde erzählt hatte, so laut war das Rauschen in seinen Ohren. Alleine bei dem Gedanken daran, was er im Begriff war zu tun, schlug sein Herz schneller, während jahrelange Indoktrinierung ihn anschrie, dass er nicht tun konnte, was er beabsichtigte zu tun. Das Ende der Vorlesung kam schneller, als es ihm lieb war und er packte mit zitternden Händen seine Sachen zusammen. Er stopfte sie in einen Rucksack und warf einen nervösen Blick in Richtung Ausgang. Was, wenn seine kleine Lüge aufflog? Würde er dann ein zweites Mal den Mut dazu aufbringen, sich bewusst zu entfernen und niemanden bei sich zu haben auf dem Weg, der nun vor ihm lag? Wie es schien, musste er sich diese Gedanken nicht machen, denn Val hatte seinen Worten vertraut, dass Knox ihn abholte. Sie vertraute ihm und er hatte das missbraucht. Hoffentlich flog diese Lüge nicht auf. Jean hatte jetzt schon ein schlechtes Gewissen deswegen und einen Moment lang konnte er sich keinen Zentimeter von der Stelle bewegen. Er war alleine, niemand war bei ihm und das war falsch. Falsch, falsch, falsch. Verboten und unter Strafe gestellt. Panik schnürte ihm die Kehle zu, doch Jean hatte eine Mission und die gedachte er auszuführen. Er gestattete sich ebenso wie bei Exy auch keine Schwäche, denn es war wichtig, was er tat. Das Handy in seiner Hand zitterte und er schaltete die Navigationsapp ein, die ihn über den Campus lotsen würde. Jean schulterte den Rucksack und verließ den Hörsaal, die Augen ausschließlich auf das Gerät gerichtet, das ihm mit ruhiger Stimme mitteilte, wo er hinzugehen hatte. Schritt um Schritt kämpfte er sich gleichermaßen durch Studenten wie auch durch seine Angst, die ihn anschrie, dass er zurückgehen und auf sein Team warten solle. Schritt um Schritt, zehn quälende und schmerzende Minuten lang, die Jean wie eine Ewigkeit vorkamen. Ihm war übel und er hatte solche Bauchschmerzen, als hätte ihn Riko mit der Faust in den Magen geschlagen. Sein schnell schlagendes Herz rauschte in seinen Ohren und ihm lief kalter Schweiß den Rücken hinunter. Seine Gedanken verweigerten ihm ihren rationalen Dienst und Jean wurde sich bewusst, dass es überhaupt keine gute Idee gewesen war. Die richtige, aber keine gute. Wahrlich nicht. Als er vor der Tür des Campusmagazins stand, zögerte er keine Sekunde, denn wenn er das tun würde, würde er nicht hineingehen und dann wäre all das umsonst gewesen. Jean drückte die Klinke hinunter, öffnete die Tür und trat hinein. Er schloss die Tür hinter sich und drehte sich um. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass soviel hätte schief gehen können. Die Tür hätte zu sein können. Der Reporter hätte nicht da sein können, es hätten viele andere Leute mit im Raum sein können… viele potenzielle Dinge hätten passieren können, die Jean in seiner Entschlossenheit nicht beachtet hatte. In seiner übereilten Dummheit, den Reporter heimzusuchen um mit ihm über Knox zu sprechen. Doch nichts davon war eingetroffen und so sah er nun in die erschrockenen Augen des Reporters. Allan, berichtigte Knox‘ Stimme in seinen Gedanken automatisch und Jean schluckte. Alles, was er sich nach seinem Gespräch mit Knox vorgenommen hatte, war einen Moment lang wie weggewischt, komplett aus seinem Gedächtnis gelöscht. Da war nur die aufkommende Angst und Panik, die er ihm Gesicht des Reporters sah und die der seinen so sehr ähnelten, dass es Jean mehr als alles andere im Hier und Jetzt ankerte. Er machte dem anderen Jungen Angst, so wie ihm Dinge Angst machten, die ihn traumatisiert hatten. Jean wusste, dass er den Reporter beruhigen sollte – irgendwie – doch er konnte sich nicht rühren, jetzt, wo er hier drinstand. „Was willst du hier?“ Die Frage war furchtsam und zittrig und Jean sah, wie eine der beiden Hände in Richtung Handy tastete. Zweifelsohne um Hilfe zu holen, weil der Reporter glaubte, dass er ihm wehtun wollte. „Reden…“, presste Jean hervor. „Ich möchte reden. Mit dir. Über ihn. Also Knox, meine ich. Über das, was passiert ist.“ Seine Augen zuckten in die am Weitesten entfernte Ecke des Raumes und mit seiner zittrigen, linken Hand deutete er dorthin. „Ich kann mich auch dorthin setzen, wenn es dich beruhigt. Du…du musst keine Hilfe holen. Ich werde dir nichts tun, ich möchte nur reden. Bitte.“ Angespannt starrte er auf das abgewetzte Parkett des Raumes, das schon so viele Studenten gesehen hatte. Er zählte die Kerben, in der Hoffnung, dass die Stille nicht bedeutete, dass der Reporter jemanden anschrieb um ihn hier heraus zu holen, bevor er nicht gesagt hatte, was er sagen wollte. „Kann ich dich davon abhalten, ohne dass du mich angreifst?“, fragte eben jener und Jean sah auf. Tatsächlich hatte er seine linke Hand um das Telefon gekrampft, aber es sah nicht so aus, als hätte er jemandem Bescheid gesagt. „Ich werde das nicht tun. Nicht mehr“, berichtigte Jean sich, als der Reporter schnaubte. „Also gut. Dann mach, was du für richtig hältst.“ Jean zögerte und warf einen Blick über die chaotischen Tische, die überall im Raum standen und die Pinnwand, auf der anscheinend die neueste Ausgabe konzipiert wurde. Er sah Laptops und Drucker, Bilder noch und nöcher. Langsam setzte er sich in Bewegung, parallel zu dem Reporter, der sich an seinen Platz unweit der Tür begab. Das war okay, Jean verstand das. Er fühlte sich so ebenfalls am Wohlsten. Dass damit wieder Schweigen einherging, war Jean mehr als unrecht, schließlich war er nicht gut darin, Gespräche zu beginnen. Vielleicht sollte er sich zuerst setzen. Jean beschloss, dass das ein guter Start war und ließ sich auf den Stuhl nieder, der noch unbequemer war als er aussah. Der Reporter maß ihn aufmerksam und durchdringend. „Du hast deine und Knox‘ Beziehung wegen mir beendet“, stellte Jean in den Raum und der andere Junge schüttelte den Kopf. „Wir hatten nie eine Beziehung.“ Jean seufzte. „Dann eben euer…Beisammensein. Ineinandersein, was auch immer. Eure Intimität.“ Schweigen antwortete ihm. „Ich wollte das nicht. Dir wehtun, meine ich. Und ich möchte nicht, dass Knox aufgrund meines Tuns unglücklich ist.“ „Zu spät.“ Zwei Worte, die in ihrer Finalität alles andere als beruhigend waren. Allan, erinnerte Jean sich bewusst an den Namen, verschränkte die Arme und rieb sich unwohl über die Oberarme. „Knox sagte, dass du ihn nicht mehr sehen möchtest, weil ich dich verletzt und gewürgt habe. Dass du nur noch mich und meine Taten siehst.“ „Das ist korrekt“, erwiderte Allan unwohl und ballte unruhig seine Hände zu Fäusten. „Ich kann nicht mehr rückgängig machen, was ich dir angetan habe, aber…Knox ist unglücklich. Er leidet. Er sagte, dass du Dinge zu ihm gesagt hättest…“ Allan zuckte so gewaltig zusammen, als hätte Jean ihn geschlagen. Nun war es weniger Angst, denn eher Schuld, die er auf dem Gesicht des Reporters sah. „Ich war gemein zu ihm“, bestätigte er und Jean runzelte die Stirn. „Warum?“ Verzweifelt ballte Allan die Hände zu Fäusten. „Weil… weil…ich weiß nicht. Es ist so hervorgesprudelt. Ich bin nicht gut in derlei Dingen und ich schlafe seit Wochen nicht gut und habe Angst… ich habe ihm gesagt, dass wir nie etwas Wirkliches hatten und das stimmt gar nicht. Natürlich hatten wir etwas Wirkliches, ich mag ihn ja auch gerne und ich respektiere ihn. Er war so getroffen davon, so traurig und ich…“ „Er hat geweint deswegen. Sehr lange.“ Allan sah zur Seite und schwieg. „Kann ich etwas tun, damit du zu eurer Intimität zurückkehrst?“, stellte Jean die Frage, die ihm unter den Nägeln brannte, seit er seinen Kapitän getröstet hatte. Allan schüttelte den Kopf. „Nein. Ich…ich kann mich ihm nicht mehr hingeben. Nicht jetzt. Vielleicht irgendwann, wenn ich verarbeitet habe, was du getan hast, aber im Moment tut es mir weh, ihn zu sehen. Es macht mir Angst.“ Es wäre besser gewesen, wenn der Reporter rein aus Böswilligkeit mit Knox Schluss gemacht hätte. So war es nur nachvollziehbar und Jean spürte die Hoffnungslosigkeit seines Unterfangens. Das, was ihn aber mehr als erschreckte wie auch verwirrte, war die aufkommende Zufriedenheit in sich selbst, die seine eigene Angst und seine eigene Panik schlich. Es war, als hätte sich ein Knoten gelöst, als der Reporter ein Zusammenkommen verneint hatte. Jean war nicht traurig darüber, sondern erleichtert. Er schauderte. Wie konnte er über Knox‘ Unglück so erleichtert sein? Jean runzelte die Stirn. Nein, darüber war er nicht froh, stellte er fest, sondern über die Tatsache, dass es nun den Reporter nicht mehr gab. Unwirsch schürzte er die Lippen. „Ich wollte dir niemals Angst machen“, wiederholte er. „Und wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen, was geschehen ist.“ Allan nickte stumm und in den weiten, braunen Augen des Reporters sah Jean so etwas wie aufkommende Ruhe. Die Fäuste waren nicht mehr ganz so angespannt und wenn er sich nicht recht täuschte, dann waren die Schultern ebenfalls nicht so starr vor Angst. Das Telefon in seinem Rucksack klingelte abrupt und Jean zuckte zusammen, als er den Ton erkannte, den Alvarez ihm für Knox eingestellt hatte. Er gab sich beste Mühe, das Klingeln zu ignorieren, auch wenn sein Herz raste. „Bitte sprich mit ihm. Sag ihm, dass es nicht wertlos war, was ihr hattet“, sagte er, während der Puls in seinen Ohren rauschte. Knox wusste, dass er nicht da war. Sein Kapitän hatte von seiner Lüge erfahren. Jean wusste, dass der blonde Junge ihm nichts tun würde. Er wusste, dass keine Strafe folgen würde und dennoch hatte er brachiale Angst, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. „Jean, ich…“ „Bitte, Allan. Er würde sich freuen“, presste Jean hervor und fühlte das Klingeln seines Handys wie ein schweres Gewicht auf sich lasten. Der Reporter maß ihn und das, was Jean in dem aufmerksamen Blick erkannte, schmeckte ihm nicht. Ganz und gar nicht. „Du bist nicht nur hier, weil du dein Handeln wieder gut machen möchtest“, sagte er schließlich und es war keinesfalls eine Frage. Jean runzelte verwirrt die Stirn. „Weswegen denn sonst?“ „Du bist hier, weil du Jer nicht unglücklich sehen willst.“ „Selbstverständlich nicht. Er ist mein Kapitän.“ Es dauerte etwas, doch dann lächelte Allan. „Er ist mehr als das.“ Irritiert starrte Jean auf das Lächeln, das viel zu sanft und viel zu wissend war. Es verwirrte ihn mehr als die Worte als solche. „Wie meinst du das?“, fragte er und Allan legte den Kopf schief. „Denkst du, ich wüsste nicht, wie du ihn ansiehst?“ Jean blinzelte. „Wie ich ihn ansehe?“, echote er ahnungslos und Allan hob die Augenbraue. „So als wäre er dein Lebensmittelpunkt“, führte er aus und Jean atmete erleichtert aus. „Nun, das ist er. Er ist mein Kapitän und mein Mitbewohner. Die Zeit, die ich ohne ihn verbringe, ist weitaus geringer als die, die ich mit ihm verbringe.“ Anscheinend hatte er nicht das Richtige gesagt, so wie der Reporter ihn nun musterte. „Er ist mehr als das“, wiederholte er und wieder war es keine Frage. Irritiert brummte Jean und Allan rollte mit den Augen. „Das, was ich in deinen Augen sehe, ist Zuneigung über Freundschaft hinaus. Er ist dein Lebensmittelpunkt, weil du mehr für ihn empfindest als Freundschaft.“ Weil er…was? Zuerst war Jean wie eingefroren. Er konnte sich weder bewegen noch einen klaren Gedanken fassen – zumindest bis die Worte mit einem Mal in ihm Gehör fanden. Vehement schüttelte Jean den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Wie kommst du darauf? Das…das ist falsch…er…er ist mein Kapitän, ich…nein…“, widersprach er nervös und zog sich auf das zurück, was er auch Renee gesagt hatte. Knox war sein Kapitän und damit kein potentieller Partner. Aber das würde Allan nicht verstehen. Auch Renee hatte es nicht verstanden. Zumal er doch gar nicht wusste, was Liebe war. Wie sollte er erkennen, dass das, was er für Knox fühlte, auch wirklich in diese Kategorie fiel? Und gehörte zu Liebe nicht auch Begehren? Fand er seinen Kapitän attraktiv, wenn er morgens mit chaotischen Haaren und Sabberspuren im Gesicht ins Bad strauchelte? Sein Handy klingelte erneut und wieder war es Knox. Dieses Mal öffnete Jean hastig seinen Rucksack und suche nach dem Smartphone. Er hielt es Allan entgegen, auch wenn dieser zu weit weg war um es anzunehmen ohne näher zu kommen. „Er ist es. Sprich mit ihm“, lenkte er von den verwirrenden und erschreckenden Worten ab und sah mit Befriedigung, wie der Reporter nun zusammenzuckte. „Jetzt?“ Jean nickte. „Ja, jetzt. Je eher ihr miteinander sprecht, desto eher hört Knox auf, sich selbst Vorwürfe zu machen, dass alles, was er tut, nicht gut ist und dass er nie etwas Wirkliches mit dir hatte.“ Fünfmal klingelte es, dann kam Allan vorsichtig zu ihm und nahm ihm sein Telefon ab. Jean fühlte sich unwohl dabei, immer noch. Auch wenn der Gedanke, dass der Reporter sein Telefon einbehalten würde, absurd war, so war er doch da. Allan nahm ab und presste sich das Telefon ans Ohr. Es war absurd, aber diese einfache Geste beruhigte Jeans Angst mehr als alles Andere. „Nein... nein, Jer, ich bin es, Allan. Nein, das ist Jeans Telefon. Er ist hier, bei mir in der Redaktion. Nein, ihm geht es gut. Nein, wir haben uns nicht geschlagen. Ja, er ist noch hier.“ Der Reporter zögerte und hörte zu, was Knox dazu zu sagen hatte. „Ja, komm vorbei. Ich würde gerne mit dir reden.“ Knox sagte noch etwas und der Reporter brummte zustimmend. Er legte auf und gab Jean sein Telefon zurück, entfernte sich danach beinahe augenblicklich von ihm. „Er ist in zehn Minuten hier.“ Jean nickte zögernd. „Danke…dass du mit ihm sprichst.“ Allan musterte ihn nachdenklich und ging dann zu seinem Schreibtisch zurück. Er schob Blätter hin und her, die vorher bereits geordnet waren, wenn man Jean fragte. Er war nervös und aufgeregt, fahrig beinahe. Jean konnte es ihm nachfühlen. „Ich hoffe, dass du ihn nie wieder verletzt“, sagte Allan schließlich und Jean schluckte schwer. „Das werde ich nicht mehr tun.“ „Gut.“ „Brian, also der Collegetherapeut…er hilft mir bei dem, was passiert ist. Er hilft mir zu verstehen und zu verarbeiten.“ Allan nickte und ließ sich auf seinen Stuhl nieder. Schweigend starrte er der Tür – seiner neuen Angst – entgegen und endlos langen Minuten warteten sie auf die Ankunft von Knox, der fast schon mit Gewalt durch die Tür stolperte und dessen Augen wild den Raum absuchten, bevor sie auf ihm zum Liegen kamen. „Jean.“ Die unbändige Erleichterung, die die Silber seines Namens charakterisierte, schmerzte ihn. Die Frage, die sich damit einhertrug, ebenso, denn Knox hatte gleichzeitig auch Angst, dass er dem Reporter etwas getan hatte. Aufgrund seines Handelns in der Vergangenheit sicherlich berechtigt, aber… „Knox“, nickte er entsprechend ruhig und erhob sich. Mit dem Blick auf Allan kam er langsam zu seinem Kapitän, der ihn mit großen Augen musterte. „Ich lasse euch beiden alleine.“ „Aber…Jean, was…?“ Ungebeten kamen ihm Allans Worte ins Gedächtnis. Er liebte Knox? Das war ein Ding der Unmöglichkeit und dennoch wurden seine Wangen so verdächtig heiß, dass er wegsehen musste. „Ich lasse euch beiden alleine und warte draußen“, lenkte er vom Thema ab und ging an seinem Kapitän vorbei in den belebten Flur des Verwaltungsgebäudes. Er fixierte die Stuhlreihe dort und sah Val, die ihn mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen musterte. Jean schluckte und kam zu ihr. Er sagte nichts und schließlich grollte sie. „Hör mal zu, Pinocchio, noch so einen Stunt, der unseren Kapitän an den Rand der Verzweiflung treibt und ich mache dich dem Erdboden gleich, ist das klar?“ Er wusste, dass diese Drohung eher im übertragenen Sinn zu sehen war und dass sie diese nicht wahrmachen würde, doch ihr Ton ließ ihn schaudern. Enttäuscht und wütend war er, aber auch erleichtert. „Und anlügen wirst du mich auch nie wieder, kapiert?“ Schweigend nickte er. Was blieb ihm denn auch anderes übrig? Sie hatte ja Recht. ~~**~~ Unsicher sah Jeremy Jean hinterher und wartete darauf, dass dieser die Tür schloss und damit den Lärm des geschäftigen Colleges hinter sich ließ. Die eintretende Stille war allerdings umso drückender und im ersten Moment wusste Jeremy nicht wirklich, was er sagen sollte. „Wir haben nur geredet“, nahm Allan ihm die brennendste aller Fragen ab und Jeremy sah zögernd zu ihm hoch. „Es ist weiter nichts passiert. Er wollte mit mir über dich sprechen. Er hat gefragt, was er tun könne, damit wir unsere Intimität wieder erlangen.“ Jeremy blinzelte. „Ist…war es okay für dich, dass er hierhergekommen ist?“, fragte Jeremy leise und Allan schüttelte den Kopf. „Ich habe nach wie vor Angst vor ihm. Aber wir haben geredet.“ „Können wir auch reden?“, fragte Jeremy zögernd und zu seiner großen Erleichterung nickte Allan. „Ich habe dumme Dinge gesagt, Jer. Ich wollte dich nicht verletzen und ich wollte schon gar nicht sagen, dass das, was wir hatten bedeutungslos und nichtig war. Deine Gegenwart ist eine Bereicherung und du bist ein wundervoller Mensch voller positiver Energie und Lebensfreude. Jede Minute mit dir war eine schöne Minute und ich werde sicherlich irgendwann auch mit einem Lächeln daran zurückdenken und ich werde sie sicherlich auch vermissen. Es tut mir leid, dass ich dich so sehr verletzt habe und dass ich derart dumme Worte gesagt habe, Jer. Bitte entschuldige.“ Trotz der Distanz zwischen ihnen, trotz dem großen und chaotischen Raum, taten Jeremy diese Worte unerwartet gut. Er schluckte, einmal, zweimal, dreimal, bevor seine Kehle nicht mehr ganz so zugeschnürt war und er spürte, wie sich der Knoten löste, der die letzten Tage über seine Brust verkrampft hatte. Er spürte, wie er freier atmen konnte. Beruhigter. „Du hast alles Glück auf der Welt verdient, Jer, und ich hoffe, dass du es findest. Aber ich weiß auch, dass ich dir das auf lange Sicht nie hätte geben können. Du brauchst einen Partner, der an deiner Seite steht und nur dort. Der dich liebt und dir eine feste Partnerschaft bietet.“ Jeremy schwieg, denn er wusste, dass Allan Recht hatte. Sie hatten das Thema besprochen, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Jeremy suchte langfristig nach etwas Festem, konnte sich aber auch vorübergehend gut auf etwas Unverbindliches einlassen. Auf Dauer würde ihn das aber nicht glücklich machen. So traurig er über den Verlust von Allans Nähe auch war, so sehr wusste er, dass es früher oder später zwangsläufig dazu gekommen wäre. Das schmälerte seine Trauer nur unwesentlich, aber es gab ihr etwas weniger Hoffnungsloses. „Jer, du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben. Die Erinnerungen an die Dinge, die wir gemeinsam getan haben, wird immer dort sein. Ich brauche aber Zeit dafür und für die Verarbeitung all dessen.“ Jeremy lächelte vorsichtig. „Also werden wir uns irgendwann wiedersehen? Also wirst du mich nicht für immer ignorieren?“ Allan seufzte und kam tatsächlich näher. Vorsichtig, als hätte er Angst davor und Jeremy sah, wie die Halsschlagader pochte. Er kam so nahe, dass er Jeremy in die Arme schließen konnte und vorsichtig schlang er seine Arme um ihn. Jeremy erwiderte die Umarmung und konnte nicht verhindern, dass es Tränen der Trauer und Erleichterung waren, die seine Wangen hinunterflossen. „Nein, das werde ich nicht. Irgendwann wird es wieder anders sein, du wunderbarer, einzigartiger, faszinierender Mann.“ Jeremy schniefte und Allan hauchte ihm einen Kuss auf die Haare. „Und in der Zwischenzeit schnappst du dir den Jungen, den du wirklich willst“, wisperte Allan mit einem minimalen Lächeln und löste sich von ihm. Jeremy musste nicht fragen, wen er meinte. Er musste es weder bejahen noch verneinen. Auch deswegen verabschiedeten sie sich. Doch es war kein Abschied für immer, das wusste Jeremy nun. „Ich werde es versuchen, wenn er auch will“, erwiderte er und wischte sich die Tränen von den Wangen. Allan nickte in Richtung Tür und Jeremy drehte sich um. Mit der Hand auf der Klinke verharrte er. „Ich hoffe, dass es dir bald wieder gut geht.“ Allan lächelte und das Lächeln war voller Trauer. So sehr es Jeremy auch schmerzte, so entschlossen verließ er nun die Redaktion und wurde von einer Welle lärmender und lachender Studenten überrollt, die den Weg zwischen ihm, Val und Jean blockierten. Ungeduldig wartete er, bis der Strom vorbei war und wechselte dann behände die Seite. Val starrte ihm fragend in die Augen, während Jean ihn musterte, als ob er einen Schlag befürchtete. Jeremy seufzte und winkte sacht auf Hüfthöhe, um zu zeigen, dass er nicht wütend war oder dass er sonst etwas Böses wollte. Er hatte damit begonnen, als er festgestellt hatte, dass es für Jean ein leicht zu erkennendes Zeichen der Entspannung war. So auch jetzt. Der Backliner atmete unbewusst tief durch und Jeremy lächelte sanft. „Wollen wir?“ ~~**~~ Jean legte sich ins rücklings auf die Matratze und bettete seinen Kopf auf das Kissen. Solange Knox noch im Bad war, konnte er die Augen schließen und die Erschöpfung des Tages über sich hinwegwaschen lassen. Sein Kapitän und er hatten noch keine Zeit gehabt, über all das zu sprechen, was passiert war. Von der Redaktion des Reporters aus waren sie zur nächsten Vorlesung und von dort aus zum Training, zur Taktikbesprechung, ins Fitnessstudio und nun waren sie zurück. Zuhause, wisperte es tief in ihm, auch wenn er sich immer noch scheute, den Gedanken zuzulassen. Jean hatte lediglich kurz gefragt, ob Knox wütend auf ihn wäre und das hatte dieser verneint. Darüber hinaus hatten sie noch über nichts gesprochen, dabei schlummerten ungewöhnlich viele Worte unter der eisernen Selbstbeherrschung seiner sonstigen Schweigsamkeit. Jean hörte, wie Knox seine elektrische Zahnbürste ausmachte und seinen Mund ausspülte. Er öffnete seine Augen, in dem Wissen, dass sein Kapitän innerhalb der nächsten Minute aus dem Bad kommen würde, nach dem immer gleich ablaufenden Geräuschpegel. Macht der Gewohnheit, hatte Knox seine Abendrituale genannt und Jean ließ sich von der Vorhersehbarkeit des Ganzen einlullen. Der Schrecken des alleine unterwegs Seins war schlimmer und nachwirkender als er es zunächst angenommen hatte und Jean fühlte sich wund, unruhig und unausgeglichen. Man sollte meinen, dass er stolz auf sich sein konnte, dass er es geschafft hatte, alleine von einem Punkt zum anderen zu gehen, doch weit gefehlt. Den ganzen Tag über suchte er die Sicherheit seines Teams um das Gefühl des Alleinseins auszugleichen und war Knox nach dem Training nicht von der Seite gewichen. Nun, wo Jean in der Sicherheit ihrer Wohnung war, geisterten die Worte des Reporters wieder durch seine Gedanken und wechselten sich mit einer allumfassenden Erschöpfung ab, die ihn im Griff hatte, seit er die Redaktion verlassen hatte. Die Kombination aus beidem ließ ihn nicht klar denken und somit auch keine klaren Fragen formulieren, die er Knox stellen konnte. Die Tür zum Bad öffnete sich und Jean drehte den Kopf in Richtung des blonden Jungen. Knox trug seinen langen Schlafanzug mit den kleinen Weihnachtsmännern, ein Geschenk von Alvarez. Von wem auch sonst fragte Jean sich und notierte sich innerlich die Frage, was sein Team sich zu diesem Feiertag schenken würde. Knox legte sich in sein Bett und vergrub sich unter der Decke, bevor er sich Jean zuwandte und der Schein seiner Nachttischleuchte den anderen Jungen beleuchtete. „Hi“, grüßte der Junge ihn lächelnd und Jean drehte sich ebenfalls auf die Seite. „Geht’s dir gut?“, fragte Knox, als hätte Jean ihn heute nicht angelogen, ihm wieder Sorgen bereitet und als wäre er nicht hinter seinem Rücken zu dem Reporter gegangen. „Es tut mir leid“, erwiderte Jean deswegen schlicht und Knox runzelte die Stirn. „Was?“ „Das Gespräch. Die Sorgen. Alles“, fasste er seine Gedanken zusammen und Knox schüttelte den Kopf. „Du hast heute etwas Wundervolles getan, Jean.“ Na so würde er es garantiert nicht ausdrücken. „Ich habe dich belogen und dir Sorgen bereitet“, wiederholte er, doch das stieß auf wenig Zustimmung. „Und du warst alleine unterwegs, hast den Mut aufgebracht, zu Allan zu gehen und hast ihn dazu gebracht, mit mir zu reden.“ Jean kannte den Ton, diesen absolut störrischen, sturen, nicht einlenkenden Ton. Es machte keinen Sinn, dagegen an zu argumentieren, selbst wenn er genügend gute Argumente gehabt hätte. So begnügte er sich damit, seine Lippen zu schürzen und seinen Kapitän dunkel anzustarren. „Das Gespräch mit Allan hat mir soviel gegeben. Der Abschied von ihm ebenso. Es hat soviel Schmerz gelindert und das ist alleine dir zu verdanken.“ „Schmerz, den ich überhaupt erst hervorgerufen habe.“ „Schmerz, den du tausendfach wieder gut gemacht hast.“ Jean brummte und spürte der Wärme in seiner Brust nach, die wirklich gar nichts mit seinem Schlafanzug oder seine Decke zu tun hatte. Auch wenn er sich das wünschte. Lebensmittelpunkt. Mehr als Freunde. Welcher Gedanke wäre schlimmer für Jean? Der, das Bett mit dem anderen Jungen zu teilen oder nach seinem Abschluss ohne den Jungen weiterleben zu müssen? Ganz alleine, ohne diese blauen Augen, die ihm soviel Licht gaben. Er beschloss, Andrew zu fragen, wann und woran er erkannt hatte, dass er Josten liebte. „Hey, Jean?“ Er brummte. „Du hast etwas Tolles vollbracht und ich bin sehr stolz. Ich freue mich für dich.“ Wider Willen wurden nun auch Jeans Wangen warm. Er vergrub zumindest die Hälfte seines Gesichtes in sein Kissen und musterte das Sinnbild von Gemütlichkeit auf der anderen Seite des Raumes. „Es fühlt sich schlimm an, dass ich alleine dorthin gegangen bin“, gestand er murrend ein. „Immer noch.“ „Es war erst das zweite Mal. Habe Geduld mit dir selbst.“ Die hatte Jean sicherlich nicht. Und er hatte schon gar keine Gnade mit seinem Ich. „Ich bin nicht normal“, fällte er das kritische Urteil über sich und Knox lächelte. „Das stimmt, du bist ein außerordentlicher und außergewöhnlicher Mensch.“ Dass sein Kapitän den Sinn seiner Worte auch immer ins Gute verdrehen musste. Jean blinzelte, nicht wirklich in der Lage, etwas darauf zu erwidern. Auf die Worte. Auf das Gefühl in seinem Inneren. Verlegen schnaufte er. ~~**~~ „Bist du dir sicher, dass das wirklich eine gute Idee ist?“, fragte Jean zweifelnd und drehte sich zu Alvarez, die ihre Jacke aus dem Kofferraum ihres Wagens holte. Eine leichte Winterjacke, so wie Jean sie auch trug. Ihre Trojanjacken, mit ihren Namen auf der Rückseite. Das, was in Evermore immer Uniformität bedeutet hatte, war hier unterlegt mit Stolz und Zugehörigkeitsgefühl. Eine reine Freiwilligkeit. Eine Freiwilligkeit, die Jean über seinem neuen, blauen Rollkragenpullover aus Wolle trug, den er zusammen mit Fahima gekauft hatte. Er hatte ihn gewählt, weil er dem Blau von Renees Kleid so ähnlich war und hatte sich den anderen Farben zugewandt, die er in Alimas Geschäft gefunden hatte. Es war nicht viel, aber das, was Fahima ihm gezeigt hatte, war ausreichend gewesen. So hatte er nun noch einen roten und einen flaschengrünen Pullover und drei Paar Jeans, die Jean in ihrer Steifheit noch immer unheimlich waren. Oder Schuhe, die keine Sportschuhe waren, sondern dicke Winterstiefel. Und gefütterte Sneaker. Eine dicke Winterjacke für ihren Urlaub an Silvester. Sein Kapitän war jetzt schon so dick eingepackt, mit seinem dicken, langen, um sich geschlungenen Schal, der dessen untere Gesichtshälfte beinahe gänzlich bedeckte. Und wenn Jean es richtig sah, steckte der andere Junge sich gerade Handschuhe in seine Jackentaschen. Handschuhe. „Unser Sonnenschein hier wird frieren, das kann ich dir sagen, aber glaub mir, das ist es wert.“ Zweifelnd sah Jean auf den blonden, wie immer am Ende des Tages unordentlichen Schopf. „Und vergiss bloß die Punkte auf der Liste nicht“, zischte Alvarez und winkte Knox, als dieser sich zu ihnen umdrehte. Jean und Laila maßen Alvarez und Jean schnaubte. „Als würde es nicht reichen, dass ich irgendeinen künstlich angelegten Garten im Dunkeln mit euch besuche“, rollte er mit den Augen und Laila schnappt empört nach Luft. „Jean Moreau, das ist nicht irgendein Garten“, sagte sie mit der Strenge, die sie auch bei Alvarez an den Tag legte, wenn diese über die Stränge schlug und Jean zog unwillkürlich die Schultern hoch. „Das ist der Garten.“ Damit konnte er überhaupt nichts anfangen, ebenso wenig mit Alvarez‘ mysteriöser wie knapper Aussage, dass sie im Dunkeln einen Garten besichtigen würden. Der Sinn dessen erschloss sich Jean überhaupt nicht, schließlich sah man im Dunkeln die Pflanzen doch nicht, aber anscheinend störte das hier niemanden. Laila und Alvarez waren aufgeregt, Knox hingegen war die Fahrt über in Gedanken versunken gewesen und er hatte nach einer Möglichkeit gesucht, seinen Kapitän zum Reden zu bringen. Mit wenig Erfolg, denn Jean wusste nicht wirklich, wie man Smalltalk hielt und konnte auch nur eine begrenzte Anzahl an Fragen über nichtige Dinge stellen, ohne dass es auffällig oder merkwürdig wurde. Knox ging es besser als vor seinem Gespräch mit dem Reporter, aber dennoch nicht gut. Auch wenn Jean es niemals zugeben würde, so vermisste er das morgendliche Tanzen und Singen im Bad und in der Küche. Er vermisste den leicht von der Hand gehenden Smalltalk, der die Stille zwischen ihnen füllte. Umso erleichterter war er deswegen um Momente wie diesen, in denen sie nicht alleine waren. Alvarez und Laila füllten die Stille und Jean konnte sich ein wenig entspannen. Gemeinsam gingen sie vom Parkplatz aus zum Eingang des Gartens. „Garten der Ruhe“, übersetzte Alvarez ihnen den spanischen Titel und Jean sah sich verstohlen um. Er erkannte, dass sie nicht in völliger Dunkelheit über die Wege laufen würden und staunte nicht schlecht über die farbigen Lichter, die die Bäume und Sträucher in einem unwirklichen Glanz erstrahlen ließen, so als würden sie sich direkt in einem Märchen befinden. Aus unsichtbaren Boxen erklang dezente Musik, die er so noch nie gehört hatte. Sie passte zu dem unwirklichen Eindruck, den die Pflanzen machten. „Hier entlang“, strahlte Laila und deutete auf den Rundweg. Anderthalb Stunden stand dort, aber Jean war sich sicher, dass sie auch schneller sein würden. Schließlich war er nur ungefähr zwei Kilometer lang. Die lief Jean in weitaus weniger als einer halben Stunde. Sein Kapitän schauderte neben ihm und vergrub sich tiefer in seinen Schal. „Ist dir jetzt schon kalt?“, fragte Jean ungläubig und ein Murren drang hinter dem roten Ungetüm hervor, das verdächtig nach einem Ja klang. Sie konnten von Glück reden, dass es nicht regnete, befand Jean mit einem Blick auf die Wehrsonne und die blauen Augen, die kurz zu ihm huschten. „Möchtest du auch meine Jacke haben?“, fragte Jean schließlich. Er würde dann zwar frieren, doch das war nichts Neues für ihn. Das und es war zeitlich begrenzt. Wenn es damit Knox besser ging, warum sollte er ihm dann nicht seine Jacke geben? „Nein“, murrte der blonde Junge und Jean hob die Augenbraue. „So kalt ist mir nicht.“ „Noch nicht“, warf Alvarez ein und Knox boxte ihr gegen den Oberarm. Jean rollte mit den Augen und ging neben Laila staunend in den Garten hinein. Die Platten des geschwungenen Weges, auf dem sie gingen, waren beleuchtet und immer, wenn sie auf die nächste traten, lösten sie eine andere Farbe aus. Leise Töne trugen sich zu ihm und Jean schaute auf die Bäume, die mit verschiedenen Strahlern angeleuchtet waren und ein Dach aus Blau und Grün bildeten. In ihren hohen Ästen hingen ebenfalls bunte Kugeln und tauchten die beiden Mädchen und Knox in ein unwirkliches Licht. „Ist es nicht wunderschön?“, murmelte Laila neben ihm und Jean nickte verzaubert, bevor er seine allzu kindliche Reaktion auf dieses Schauspiel unterdrücken konnte. Selbst Knox tauchte aus seiner Schweigsamkeit auf und ließ sich von Alvarez mitziehen, um jeden einzelnen Baum auf ihrem Weg zu begutachten und recht erfolglos zu fachsimpeln, um was es sich dabei handeln konnte. „Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt“, sagte er und machte nebenher ein Foto von der Explosion aus Lila, Grün, Blau und Pink um sie herum. „Es ist wie in einem Märchen“, erläuterte er seine Gedanken und Laila nickte. „Der Garten ist zu jeder Jahreszeit schön und einen Besuch wert, aber kurz vor Weihnachten ist er ganz besonders hübsch.“ Sie gingen weiter und Nebelmaschinen tauchten den nun blauen Wald in unwirkliche Stille, nur durchbrochen von ihren Schuhen, die auf dem Kies knirschten. „Glaubst du, dass diese Liste Knox helfen wird?“, fragte er, als sein Kapitän und sein Vizekapitän außer Hörweite waren und Laila nickte. „Auch wenn es jetzt nicht so scheint, er wird sich wieder fangen. Mit genug Ablenkung und Versicherung, dass es Menschen gibt, die ihn lieben, wird das wieder.“ Sie war zuversichtlich und Jean glaubte ihr. Vorsichtig rempelte sie ihn an. „Und was ist mit dir?“ Fragend sah er ihr in die Augen und schob seine Hände in die Taschen seiner Jeans. „Was soll mit mir sein?“ „Bist du glücklich?“ Jean schluckte. Wie sollte er diese Frage so einfach beantworten? „Es ginge schlimmer“, sagte er das, was ihm zuerst einfiel und Laila schnaubte. Der Anflug eines Lächelns huschte über Jeans Gesicht. „Ich bin froh, noch hier zu sein“, erläuterte er und sie nickte so sanft, dass es beinahe wehtat. „Ich bin auch froh, dass du noch hier bist, selbst wenn du deine dollen fünf Kritikminuten hast.“ „Das sind mehr als fünf Minuten, je nach Kritik“, widersprach er und Laila lachte. „Das Leben hier ist…lebenswert“, sagte Jean schließlich und seufzte. „Nicht einfach, aber lebenswert.“ „Magst du die Trojans denn?“ So unschuldig die Frage gestellt war und so simpel, wie sie schien…sie war es nicht. Ganz und gar nicht. „Ich denke schon“, erwiderte er schließlich und sie hakte sich langsam bei ihm ein, so seicht, dass er sich dem jederzeit entziehen konnte. „Du passt gut hierher.“ Jean schnaubte. „Es ist viel zu sonnig.“ „Ja ja, Mr. Gewitterwolke, wenn das das einzige Problem ist…“ War es nicht und eigentlich war es auch gar kein Problem. Aber es war das Einfachste aller seiner Probleme und es charakterisierte die Trojans mehr als er es wirklich wahrhaben wollte. Sie gingen weiter und erreichten einen kleinen See, auf dem sich eine kleine Hütte befand, die anscheinend nur aus bunten Glasscheiben bestand. Das dunkle Blau der Bäume spiegelte sich in dem stillen See, nur durchbrochen von vereinzelten, pinken Sprenkeln. „Schau mal, das Feenhaus“, sagte Laila an seiner Seite und Jean erkannte Knox und Alvarez in dem Haus. Er nahm sein Handy und machte ein Foto von den Beiden, wie sie ihre Köpfe zusammengesteckt hatten und unter dem bunten Dach tuschelten, während sich die Hütte im Wasser spiegelte. „Sie könnten Seelenverwandte sein“, seufzte Laila und Jean sah Liebe auf ihrem Gesicht. Für beide. „Sie haben den gleichen Unsinn im Kopf“, sagte er und rollte er mit den Augen. „Sage ich ja.“ Langsam kamen sie über den Steg zur Hütte und Jean fixierte sich mit Bedacht auf das bunte Haus und nicht auf das Wasser im See unter ihnen. Die Bewegung auf dem Steg ließ das Wasser an das künstliche Ufer des Teiches plätschern und auch hier konzentrierte sich Jean auf die Unterschiede zu Rikos Folter. Das und auf Knox‘ Gesichtsausdruck sowie dessen minimalen Lächeln, das hundertmal besser als der ernste Gesichtsausdruck der letzten Tage war. Es gefiel Jean und ungebeten kamen ihm die Worte des Reporters in den Sinn. Wieder einmal. „Wunderschön“, murmelte ihr Kapitän und Jean war sich nicht sicher, was er meinte. „Wollen wir ein Selfie machen?“ Ein Selfie bedeutete auf diesem beengten Raum, dass sie die Köpfe zusammenstecken mussten. Undenkbar war das noch vor ein paar Monaten gewesen. Nun? Jean platzierte sich hinter den blonden Jungen und zwischen den Mädchen und ließ zu, dass Knox eine ganze Reihe an Selfies machte. Sicherlich fand das eine oder andere seinen Weg in den Trojanchat oder auf Knox‘ Pinnwand in ihrem Zimmer, die so voll mit Leben war. So sehr Jean es am Anfang auch vermieden hatte, einen Blick dorthin zu werfen, so oft studierte er alle diese Bilder nun, wenn sein Kapitän gerade nicht mit im Raum war. Auf dem Weg hatte er auch schon festgestellt, dass er selbst dort schon hing. Mehrfach. Jean seufzte innerlich, während sie weitergingen und unter einem Himmel von großen, weißen Sternen auf geometrische Figuren zusteuerten, die mit ihren kleinen, ziselierten Mustern wunderschöne Schattenspiele auf den Boden warfen. Er warf hin und wieder einen prüfenden Blick zu Knox, dessen Gesicht halb in seiner Schalkonstruktion verschwunden war und der mit seiner Winterjacke aussah wie eines dieser lustigen, runden Werbemännchen auf den Plakaten in Los Angeles. Seine Augen waren groß und rund und auf seinem Gesicht stand eine Art stummer Begeisterung, die Jean bei näherem Hinsehen sehr mochte. „Die kann man drehen“, sagte er staunend und während Jean noch seinem Fingerzeig folgte, war sein Kapitän schon mitten zwischen den Figuren und drehte eine der doppelspitzigen Pyramiden. Alvarez lachte und gemeinsam tobten sie durch die Figuren und die Muster, die dadurch auf sie selbst und auf den Boden geworfen wurden. Knox lachte und Jean erkannte, dass er zum ersten Mal, seit der Reporter ihr Zusammensein beendet hatte, wieder unbeschwert und fröhlich war. Er lächelte und sah aus dem Augenwinkel, wie Laila ihr Handy auf ihn gerichtet hatte. Mit erhobener Augenbraue drehte er sich zu ihr und sie zuckte grinsend mit den Schultern. „Du sahst so glücklich aus gerade. Das muss ich für die Nachwelt festhalten.“ Jean runzelte kritisch die Stirn. War er das wirklich? Glücklich? „Ich freue mich für Knox, dass er wieder lachen kann“, gab er den wahren Grund seines vermeintlichen Glücks preis und Laila strahlte ihn an, als sei die Sonne aufgegangen. „Siehst du, die Liste macht also Sinn.“ Jean nickte langsam. „Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es klug ist, Händchen zu halten, so schnell, wie Knox weg ist.“ „Händchen halten?“, fragte Laila und Jean nickte. „Punkt neun der Liste. Alvarez sagte, dass ich große Hände hätte, die dafür geeignet wären.“ Mit viel Selbstbeherrschung starrte Jean nicht auf eben jene, sondern konzentrierte sich auf Laila. Diese schwieg für einen Moment und Jean konnte ihren Gesichtsausdruck nicht wirklich deuten, der sich dann in einem Lächeln ergoss. „Ich denke, das bekommst du schon hin. Ansonsten lässt du dich einfach von ihm mitziehen.“ Jean grollte. „Ich bin schwerer als er.“ „Dafür hat er die Kraft eines übermütigen Welpen. Wenn er will.“ Jean dachte an Barnie und dessen massiven Körper und unbändige Kraft. Ja, er konnte sich durchaus vorstellen, dass Knox das ebenfalls hinbekam. Sie wanderten weiter und Jean ließ sich ein wenig zurückfallen, um die Pflanzen und Bäume zu betrachten. Es war ein wenig wie damals im Disneyland, magisch und fantasievoll. Jean hatte gedacht, dass er solche Welten hinter sich gelassen hatte, doch weiter gefehlt. Umgeben von den Geräuschen, der Musik und umhüllt von Licht wanderten seine Gedanken in die Welt von Feen und Gnomen und Geistern und er erinnerte sich mit plötzlicher Klarheit an all die Geschichten, die er als Kind damals gesponnen hatte. Auf ihren Reisen, in ihrem Haus, in ihrem Garten. Geschichten über verborgene Welten und geheime Wesen, die nie jemand zu Gesicht bekam. Als er ein Kind gewesen war, hatte er sich von ihnen umgeben gefühlt. In Evermore waren sie gestorben, einer nach dem anderen, und nun? Sicherlich war der Glauben daran kindisch, aber für einen kleinen Moment war Jean bereit, diesen Glauben wieder anzunehmen und seine Umgebung füllte sich mit Wesen und Geschichten, zaghaft erst, dann immer reichhaltiger. In seinen Gedanken wurden Alvarez und Laila zu Ritterinnen, gut gerüstet und bewaffnet, dieser Garten wurde zu einem Königreich in einem unbenannten Land, in dem es kein Leid gab. Knox war der Hauptmann der Garde und er… Jean blieb nachdenklich stehen und legte eine Hand auf den Stamm einer mächtigen, alten Eiche. Ja, wer war er? Der geflohene Abtrünnige eines bösen Königreiches, ein Kämpfer oder Entdecker vielleicht. Ein Dämon oder Teufel, der auf die gute Seite gezogen wurde. Ein Wesen, das befreit worden war aus seiner Knechtschaft und nun dem Hauptmann der Garde seine Loyalität geschworen hatte. Geflohen in ein Königreich im Einklang mit der Natur und der Magie. „Jean, schau mal!“, rief eben jener Hauptmann und er wurde aus seinem Tagtraum gerissen. Langsam drehte Jean sich um, unwillig beinahe und folgte Knox‘ aufgeregter Zeigerichtung. Er kam näher und blieb neben seinem Kapitän stehen, der fasziniert auf das Feld voller künstlicher Tulpen starrte, die mit einem sanften Pulsieren ihre Farbe wechselten. Sachtes Gelb-Orange beleuchtete Knox‘ Gesicht und die weiten, staunenden Augen. „Ist das schön“, murmelte der blonde Junge und Jean konnte ihm nur beipflichten. Das Farbenspiel der Blumen wurde hervorragend untermalt von einer sanften Musik, die Jean soviel Ruhe vermittelte, wie er sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Wie von selbst schob sich seine Hand in die seines Kapitäns und sacht verschränkte Jean ihrer beider Finger ineinander. Knox sah überrascht zu ihm hoch und Jean warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, die Augenbraue wissend erhoben. Wenn es auf der Liste stand und Knox half, warum dann nicht hier und jetzt? Er sah das begeisterte Lächeln aus dem Augenwinkel und Knox legte nach einem kurzen Moment seinen Kopf auf Jeans Schulter ab, den Blick nach vorne gerichtet. Gemeinsam verfolgten sie das Farbenspiel des Blumenmeers, schweigend und in Eintracht. Jean erlaubte sich, die Gegenwart und Nähe seines Kapitäns zu genießen. Er erlaubte sich, die Wärme des anderen Jungen zu spüren und nun durch seine Haare gekitzelt zu werden, als er seinen Kopf an Knox‘ lehnte. ~~**~~ Laila sah zu, wie Sara begeistert ein Foto nach dem anderen von den beiden Jungen machte, die unweit von ihnen standen, Hand in Hand, die Köpfe vertraut aneinandergelehnt. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke und wartete, bis der Teufel in Menschengestalt fertig war, die beiden Jungen für die Ewigkeit, den Trojanchat und vermutlich auch den Foxeschat festzuhalten. „Du hast die Liste frisiert. Es gibt keinen Punkt namens Händchenhalten“, murmelte sie schließlich, als Sara ihr Handy senkte und wurde mit einem breiten Lächeln beschenkt, das ihr eigentlich alles mitteilte, was sie wissen musste. „Richtig“, bestätigte Sara unnötigerweise und drehte sich zu ihr. „Sehen wir es als kleine Starthilfe für zwei blinde Trottel, die so sehr zueinander hingezogen werden, dass man aufpassen muss, nicht in ihr Gravitationsfeld zu kommen.“ „Vielleicht möchten sie es langsam angehen?“, gab Laila zu bedenken und Sara schnaubte. „Wie langsam denn? Ihre Zeit auf der Erde ist endlich. Von jetzt an bleiben ihnen nur noch achtzig Jahre.“ „Jean ist erst seit ein paar Monaten hier. Jer kennt ihn ebenfalls erst seit ein paar Monaten näher.“ „Das hat dem da aber keinen Abbruch getan“, deutete Sara auf die beiden Jungen, die Seite an Seite standen, ihre beiden Hände verschränkt, Knox neben Moreau, in ihren beiden College-Exy-Jacken, die Nummer eins neben Nummer sieben, einer kleiner und blond, der andere groß und braunhaarig. Laila erinnerte sich an Jeans zaghafte und sachte Fragen bezüglich ihrer Sexualität. Sie ahnte, warum die Beiden so lange brauchten und warum sie die Spannung zu hochhielten. Jeremy tat gut, es langsam angehen zu lassen, denn nur so konnte er Jean den Raum und die Zeit geben, sich über seine eigene Orientierung bewusst zu werden. Dass er Erfolg damit hatte, war deutlich sichtbar und das nicht nur, weil das Miststück ihrer Freundin die Liste getürkt und sie um ein paar unwesentliche Punkte erweitert hatte. „Du weißt, dass Jer dich Runden um Runden um Runden laufen lassen wird, wenn das herauskommt?“, hakte Laila nach und Sara grinste. „Falls, du Liebe meines Lebens, falls…“ Vielsagend hob Laila die Augenbraue und ließ sich nur zu bereitwillig von dem zärtlichen Kuss ablenken. ~~~~~~~~~~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)